»Melancholia« - Wege zur psychoanalytischen Interpretation des Films 9783666461255, 9783525461259, 9783647461250


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»Melancholia« - Wege zur psychoanalytischen Interpretation des Films
 9783666461255, 9783525461259, 9783647461250

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»Melancholia« – Wege zur psychoanalytischen Interpretation des Films herausgegeben von Ralf Zwiebel und Dirk Blothner Mit 24 Abbildungen

Band 34

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Herausgegeben von Susann Heenen-Wolff, Brüssel, und Jörg Wiesse, Nürnberg. Band 29: Trauma und Wissenschaft herausgegeben von André Karger Band 30: Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen? herausgegeben von André Karger Band 31: Das Motiv der Kästchenwahl: Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur herausgegeben von Insa Härtel und Olaf Knellessen Band 32: Kino zwischen Tag und Traum Psychoanalytische Zugänge zu »Black Swan« herausgegeben von Dirk Blothner und Ralf Zwiebel Band 33: Orte des Denkens – mediale Räume Psychoanalytische Erkundungen herausgegeben von Insa Härtel, Lars Church-Lippmann, Christine Kirchhoff, Anna Tuschling und Sonja Witte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46125-9 ISBN 978-3-647-46125-0 (E-Book) Alle Abbildungen © Concorde Home Entertainment © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ralf Zwiebel Über psychoanalytische Arbeits­modelle – Eine kurze Einführung in die filmpsychoanalytische Diskussion von Melancholia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Marcus Stiglegger Verführung zum Untergang – Melancholia als seduktives Konstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Gerhard Schneider Das Container-Contained-Modell als Zugang zu Lars von Triers Melancholia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Andreas Hamburger und Katharina Leube-Sonnleitner Wie im Kino. Zur Filmanalyse in der Gruppe – Methodologie der psychoanalytischen Film­interpretation anhand von Lars von Triers Melancholia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Dirk Blothner Zur Methode der wirkungs­analytischen Filminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Inhalt

Gerhard Bliersbach Lars von Triers Spiel mit dem Anti-Kino . . . . . . . . . . . 131 Salek Kutschinski Wie habe ich mich Melancholia angenähert? – Rückblick auf eine persönliche Rezeptionsgeschichte . . 146 Gerhard Bliersbach und Dirk Blothner Transkription der Diskussion des Arbeitskreises Filmpsychoanalyse am 19. Januar 2013 in Mannheim . . . . . 155 Ralf Zwiebel Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge . . . . . . . . . . . . . . 168 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

4 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Vorwort

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ie gehen Psychoanalytiker vor, wenn sie sich mit einem Film beschäftigen? Wie entstehen psychoanalytische Filminterpretationen? Diese Fragen haben sich aus dem wachsenden Interesse entwickelt, das dem Film seit vielen Jahren von der Psychoanalyse entgegengebracht wird, und sie vereinen einen Kreis von Filmpsychoanalytikern, die darüber miteinander im Gespräch sind. In diesem Buch werden zum ersten Mal ihre Arbeitsmodelle ausführlich dargestellt, diskutiert und voneinander abgegrenzt. Die zusammengestellten Beiträge sind aus einer Klausurtagung entstanden, die im Januar 2013 in Mannheim stattfand. Es kamen dreizehn Psychoanalytiker und Filmwissenschaftler zusammen, um ihren Umgang mit Melancholia, dem viel diskutierten Werk von Lars von Trier, darzustellen und zu erörtern. Da die Diskussion fruchtbar verlief, konstituierte sich aus ihren Teilnehmern am Ende der Tagung der »Arbeitskreis Filmpsychoanalyse«. Er beschloss, die begonnenen Gespräche – insbesondere auch mit der Filmwissenschaft – weiterzuführen. Ziel des Arbeitskreises ist es, der sich in großer Geschwindigkeit ausbreitenden Filmpsychoanalyse einen Rahmen zu bieten, in dem ihre methodischen Grundlagen reflektiert und entwickelt werden können. Der Beitrag »Über psychoanalytische Arbeitsmodelle – Eine kurze Einführung in die filmpsychoanalytische Diskussion von Melancholia« von Ralf Zwiebel bietet eine grund5 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Vorwort

legende Reflexion des psychoanalytischen Umgangs mit Filmen, auf die der Autor am Ende des Buchs noch einmal zusammenfassend zurückkommt. In den weiteren Beiträgen stellen ein Filmwissenschaftler und fünf Psychoanalytiker ihre Sicht auf Melancholia dar und explizieren dabei zugleich ihre persönlichen Arbeitsmodelle. Die Reihenfolge der einzelnen Arbeiten sucht das Spannungsverhältnis von deutendem Zugriff auf der einen und mitbewegendem Erleben auf der anderen Seite abzubilden. Ansätze, die sich mehr von gegebenen Konzepten leiten lassen, machen den Anfang und Untersuchungen, die nah am unmittelbaren Erleben bleiben, schließen die Reihe ab. In der Mitte findet man Beiträge, die sich eher zwischen den beiden Seiten bewegen. Im Anschluss daran präsentieren Gerhard Bliersbach und Dirk Blothner das Protokoll einer zweistündigen Diskussion auf der oben erwähnten Klausurtagung, bei dessen Lektüre die Leser die einzelnen Positionen in einem lebendigen Gespräch wiederfinden können. Die Herausgeber möchten mit diesem Buch den Grundstein legen für eine fundierte Reflexion des psychoanalytischen Zugangs zum Film und hoffen, damit auch mit anderen interessierten Kollegen und Filmwissenschaftlern in Austausch zu kommen. Ralf Zwiebel und Dirk Blothner

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Ralf Zwiebel

Über psychoanalytische Arbeits­ modelle – Eine kurze Einführung in die filmpsychoanalytische Diskussion von Melancholia

Wer braucht die Filmpsychoanalyse?

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enn der Psychoanalytiker über Filme – einzelne Spielfilme, Filme eines Regisseurs oder aus einer bestimmten geschichtlichen Epoche – schreibt oder mit einem Publikum diskutiert, spricht man heute gern von »Filmpsychoanalyse«. Diese kann man in den größeren Rahmen einer psychoanalytischen Ästhetik oder Kunstpsychoanalyse einordnen, die Literatur, bildende Kunst, Theater und Musik aus einer psychoanalytischen Perspektive untersucht und diskutiert. Die dabei aufgeworfenen kritischen Fragen nach dem methodischen Zugang und Selbstverständnis gelten auch für die Filmpsychoanalyse (Reiche, 2011; Angeloch, 2013). Diese lassen sich in folgender Kernaussage für den Psychoanalytiker verdichten: »Das Kunstwerk braucht uns nicht; aber wir brauchen das Kunstwerk« (Reiche, 2011, S. 306). In Variation dieser Behauptung, die es im weiteren Verlauf dieser einführenden Überlegungen allerdings zu überdenken gilt, könnte man auch fragen: »Braucht« man ein weiteres Buch über Filmpsychoanalyse? Um nicht von vornherein am »Brauchen« hängen zu bleiben, sei dieser zentrale Punkt affirmativ auf ein »Wozu?« eingegrenzt: Die zunehmenden filmpsychoanalytischen Aktivitäten in Form von Publika7 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

tionen, öffentlichen Filmdiskussionen und Dialogen zwischen Filmwissenschaftlern, Künstlern, Regisseuren und Psychoanalytikern auf Konferenzen signalisieren zumindest ein wachsendes Interesse, das allerdings immer wieder mit einem grundlegenden Problem konfrontiert, das in diesem Beitrag und den folgenden Beiträgen weiter erforscht werden soll. Das Problem nämlich, was die Spezifität des filmpsychoanalytischen Zugangs – etwa im Gegensatz zum durchschnittlichen Zuschauererleben oder dem Zugang des Filmwissenschaftlers – ausmacht. Diese grundlegende Frage möchte ich zugespitzt so formulieren: Können das Filmerleben und das Filmverständnis des Zuschauers (sei er Laie oder Spezialist) durch den psychoanalytischen Kommentar vertieft, erhellt, ja verlebendigt werden?

Die Verlebendigung des Filmerlebens Die »Verlebendigung« dient hier also als ein erstes, zentrales Stichwort, da dies einen gemeinsamen Bereich der psychoanalytischen Situation und der ästhetischen Erfahrung in grundlegender Weise berührt. Am Beispiel der Traumerfahrung lässt sich dies kurz veranschaulichen: Wenn man mit Moser und von Zeppelin den geträumten, den erinnerten und den erzählten Traum unterscheidet und dabei diesen Transformationsprozess von den präsentischen Bildern des unmittelbaren Traumerlebens und seiner Umsetzung in einen inneren und gesprochenen Text im Auge hat, so kann dieser unvermeidliche Umwandlungsprozess die analytische Beziehung und Erfahrung vertiefen, verlebendigen, aber auch verhindern, verdecken oder sogar »abtöten« (Moser u. von Zeppelin, 1996). Vergleicht man dieses Traumschicksal mit der unmittelbaren, der erinnerten und der erzählten Filmerfahrung, so kann man hier etwas Vergleichbares beobachten. Robert Bresson hat in seinem berühmten und oft zitierten Ausspruch die8 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

sen kreativen Transformationsprozess als einen Prozess des Lebendigwerdens und Abtötens für den Künstler, aber auch für den Zuschauer angedeutet: »Mein Film wird ein erstes Mal geboren in meinem Kopf, stirbt auf Papier, wird wiedererweckt durch die lebenden Personen und die wirklichen Gegenstände, die ich verwende, die getötet werden auf Filmmaterial, aber die, in eine bestimmte Ordnung gebracht und auf eine Leinwand projiziert, wieder aufleben wie Blumen im Wasser« (Bresson, 2007, S. 22 f.). In Anlehnung an dieses Zitat könnte man ein zentrales methodisches Problem der Filmpsychoanalyse formulieren: Die unmittelbare, präsentische Filmerfahrung wird durch einen Reflexions- und Erinnerungsprozess des Zuschauers unweigerlich ein Stück »getötet« – die präsentischen Filmbilder werden zu Erinnerungen, Gedanken und Worte als gesprochener oder geschriebener Text; diese unmittelbare Filmerfahrung und ihre Umwandlung in einen »Text« können aber »wieder aufleben wie Blumen im Wasser«, wenn dieser die ursprüngliche Filmerfahrung wieder »auferstehen« lässt. Diese »Wiederauferstehung« wäre dann wohl am ehesten als eine durch emotionale Einsicht der Filmerfahrung hervorgerufene Veränderung der Sicht auf die Welt und das eigene Selbst des Zuschauers zu verstehen: »Ein Film, ein Buch, eine Fernsehserie ist nichts, wenn darin nicht auch die Forderung steckt, das eigene Leben zu überprüfen« (Seidl, 2011). Hier sei nicht zwischen »überprüfen« und »verändern« unterschieden, sondern die selbstreflexive Bewegung besonders betont. Bieri beschreibt den Zusammenhang von Bildung und kultureller Identität, wobei er zwischen »Kultur als Gekanntes und Gelebtes« unterscheidet. Bezogen auf die Filmerfahrung würde man von einem Aneignungsprozess sprechen, der aus dem gekannten Film einen »gelebten« oder »lebendigen« Film macht, der damit Relevanz für mein eigenes Leben gewinnt. Dies wäre eine andere Beschreibung der »Verlebendigung« (Bieri, 2011). Aber welches sind die Voraussetzungen, damit diese Art der »Verlebendigung« möglich wird, und welche Rolle spielt 9 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

dabei der psychoanalytische Kommentator? Denken wir ihn oder sie hier nicht als eine Art »Hebamme«, die einen Geburtsvorgang ästhetischer Art erleichtert oder sogar ermöglicht? Und was unterscheidet den Psychoanalytiker von einem anderen Dialogpartner, sei dieser ein Freund, ein Filmkritiker, ein Filmwissenschaftler oder ein Künstler?

Die Priorität der psychoanalytischen Methode Will man den Psychoanalytiker nicht in einer esoterisch anmutenden Weise zu einem »Priester des Unbewussten« stilisieren – nicht wenige erliegen manchmal dieser Versuchung –, sondern seine spezifische Erfahrung darin begründet sehen, dass er als »Hüter der analytischen Situation« eine Fähigkeit entwickelt, diese in ihrer einzigartigen »Beziehung zum Unbekannten« (Laplanche, 2004) zu generieren, aufrechtzuerhalten und schließlich auch zu beenden, so lassen sich die spezifischen Zugänge und die Kompetenzen des Analytikers präzisieren. Dabei wird in der Regel zuerst auf Freuds Definitionen zurückgegriffen, die verstreut in seinem umfangreichen Werk immer wieder auftauchen, wenn er beschreibt, wie der Psychoanalytiker sich selbst und seine Tätigkeit zu verstehen habe und vor allem, wann diese seine Tätigkeit als eine psychoanalytische aufzufassen sei: die Psychoanalyse als Untersuchungsmethode unbewusster Prozesse, als Behandlungsmethode für Neurosen, als allgemeine Psychologie mit genau dieser Priorität des Methodischen (Freud, 1923), als Umgang mit Übertragung und Widerstand (Freud, 1914), als Forscher und Heiler (Freud, 1926) oder noch genereller als Metapsychologe. Letzteres impliziert eine interkontextuelle Betrachtung der seelischen Vorgänge in der analytischen Situation nach den Dimensionen des Bewusstseins bzw. Unbewussten, des innerseelischen Kräfteverhältnisses, der Konflikthaftigkeit, der Struktur der Persönlichkeit, der Genese und der Intersubjektivität (Müller-Pozzi, 2011). 10 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

Mehr als früher wird aber heute anerkannt, dass der Analytiker in und durch seine konkrete klinische Arbeit diese relativ abstrakte Theorie durch einen Aneignungsprozess individualisieren wird. Mit anderen Worten: Er entwickelt eine »private Theorie« (Sandler, 1983) oder ein individualisiertes Arbeitsmodell (Will, 2008), das als eine angeeignete Legierung von offizieller Theorie, klinischer und persönlicher Erfahrung durch den individuellen Psychoanalytiker zu verstehen ist (wie wird die Problematik des Patienten konzeptualisiert, wie der mögliche Veränderungsprozess, wie der eigene Beitrag zur analytischen Beziehung etc.). Tuckett (2007) stellt dazu die denkbar einfache Frage: Was ist der Unterschied zwischen einer alltäglichen und einer analytischen Gesprächssituation? Und antwortet ebenso grundlegend: die Entwicklung eben jenes Arbeitsmodells durch den Psychoanalytiker, in dem die expliziten und impliziten Grundannahmen des seelischen Geschehens mehr oder weniger wirksam reflektiert werden. Dieses Arbeitsmodell ist als ein Erklärungsmodell anzusehen, das »basale, häufig durchaus beobachtbare soziale Interaktionsmuster, denen implizite Annahmen zugrunde liegen, erklären hilft. Es stützt sich auf die […] Annahme, dass die meisten Dinge, die von außen sinnlos erscheinen, sehr wohl einen Sinn ergeben, wenn man sie von innen her sieht« (Tuckett, 2007, S. 1052). Das »abwartende Zuhören« des Analytikers, das von außen betrachtet durchaus befremdlich erscheinen mag, wird verständlich, wenn man die psychoanalytischen Grundannahmen der neurotischen Genese, der Veränderungsmöglichkeiten, der Bedeutung unbewusster Prozesse etc. in Betracht zieht. Als veranschaulichende Metapher für die Entwicklung und Aktivierung eines Arbeitsmodells könnte man an das Bild einer Brille denken: Im Alltag verhält sich der durchschnittliche Mensch wie ein naiver Realist, der sich selbst und die Dinge der Welt seiner Wahrnehmung entsprechend erlebt und bewertet (mit all den Komplikationen, die dies verursacht, da die Existenz und Wirkung der »Brille« unerkannt bleiben); die 11 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

Aktivierung eines Arbeitsmodells ist wie das Bewusstwerden der unvermeidlichen »Brille«, die den Analytiker als relativierenden Pluralisten hervortreten lässt, da verschiedene Sichtweisen je nach Struktur und Einstellung der »Brille« realisiert werden. Die Einrichtung der »working parties« der European Psychoanalytic Federation (EPF ), in denen die konkrete Arbeitsweise einzelner Psychoanalytiker genau untersucht wird und über die Tuckett detailliert berichtet (Tuckett, 2007; 2011), kann man als eine Erforschung der individuellen professionellen »Brillen« in einem kollegialen Diskurs verstehen; dies ist wie eine Klärung der Kohärenz, Wirksamkeit und Evidenz der eigenen Arbeitsmodelle der beteiligten Psychoanalytiker zu betrachten. Für die hier interessierende Frage nach der Besonderheit der psychoanalytischen Filmdeutung würde man nach dieser Vorstellung weniger von den allgemeinen Freud’schen Abstraktionen ausgehen, sondern nach dem Arbeitsmodell des jeweiligen klinischen Psychoanalytikers fragen, das er für seinen analytischen Zugang zum Film entsprechend modifizieren wird, da die analytische Situation und die des Kinos nur begrenzt vergleichbar ist. Es wird also um die Frage gehen, wie sich das individuelle Arbeitsmodell des klinischen Analytikers auf seine filmpsychoanalytische Methode auswirken wird.

Kurzer Vergleich zwischen klinischem und filmpsychoanalytischem Arbeitsmodell Es sind vor allem zwei Aspekte bei der Modifikation der jeweiligen Arbeitsmodelle von der Klinik zum Kino zu bedenken: zum einen die Unterschiede und Ähnlichkeiten im Setting der analytischen Sitzung und des Kinos und zum anderen die Erkenntnis, dass jeder Analytiker ein individualisiertes Arbeitsmodell entwickelt, das allerdings auch noch weiter differenziert werden kann (nämlich generell, spezifisch für jeden einzelnen Patienten und aktuell für jede neue Sitzung). 12 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

Ist die analytische Situation grundsätzlich und in einem ganz konkreten Sinne bipersonal zu verstehen, so gilt dies nur im übertragenen Sinn für die Kinosituation; Schneider hat diese Form der Begegnung mit einem Film als Ganzes als »Quasi-­ Person« beschrieben: »[…] der Unterschied besteht in der Art der Konzeptualisierung des Anderen als Objekt oder als Gegenüber der Beschäftigung« (Schneider, 2008, S. 21). Bliersbach versteht das Kinoerlebnis als einen seelischen Bewegungsprozess des Zuschauers, den er mit einer »Reise« oder einem »Besuch« vergleicht (Bliersbach, 2012). Als weiterer, wesentlicher Unterschied ist die Modalität der Wahrnehmung zu beachten, die sich in der analytischen Beziehung primär auf das Hören im Sinne der »talking cure«, im Kino auf das Sehen und Schauen fokussiert. Die oft zu schnelle Konstruktion eines filmischen Narrativs – analog der Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Analysanden – reflektiert die ungenügende Beachtung dieser zentralen Differenz. Des Weiteren gilt für die Modifikation des klinischen Arbeitsmodells bei der Beschäftigung mit einem Film, dass der Filmpsychoanalytiker jeden Film seinem individualisierten Arbeitsmodell entsprechend auf seine spezifische Weise erleben und interpretieren wird. Dies bedeutet aber auch, dass das filmpsychoanalytische Arbeitsmodell nicht nur von Film zu Film, sondern auch bei mehrfachem Sehen desselben Films variieren kann – dies entspricht dem Prozessgeschehen in der analytischen Arbeit. Daraus folgt allerdings keine Beliebigkeit, sondern die Notwendigkeit, das eigene methodische Verständnis und das interpretative Vorgehen zu erläutern und auf Kohärenz, Evidenz und Überprüfbarkeit zu achten. Aus diesen nur angedeuteten Überlegungen ergibt sich die Frage, ob nicht jeder filmpsychoanalytische Kommentar (in welchem Rahmen auch immer) einen jedenfalls kurzen Hinweis auf das eigene filmpsychoanalytische Arbeitsmodell (generell und für den kommentierten Film) enthalten sollte, um die Prämissen des Zugangs für den Leser oder Zuhörer zugänglich zu machen. Dies ist bislang keineswegs die Regel; 13 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

dieses Buch stellt eine Fortsetzung erster Ansätze in dieser Richtung dar (Zwiebel u. Mahler-Bungers, 2007; Blothner u. Zwiebel, 2012).

Bemerkungen über das eigene klinische Arbeitsmodell Es ist hier also unvermeidlich, einige knappe Bemerkungen über das eigene klinische Arbeitsmodell zu machen, um die Modifikation und Transformation zum filmpsychoanalytischen Arbeitsmodell sichtbar zu machen. Dieses individuelle Arbeitsmodell fokussiert die innere Arbeitsweise des Psychoanalytikers in der Sitzung, die sich als bipersonal, bipolar und bifokal verdichtend charakterisieren lässt (Zwiebel, 2007a; 2013). Mit bipersonal ist die grundlegende analytische Beziehung angesprochen (Analysand und Analytiker bringen als analytisches Paar gemeinsam die analytische Situation hervor); mit bipolar ist die grundlegende Haltung des Analytikers thematisiert (als ein spannungsvolles Oszillieren zwischen einem »persönlichen Pol« und einem »technischen Pol«, wie sich dies beispielsweise in der Haltung der teilnehmenden Beobachtung ausdrückt); und mit bifokal ist eine spezifische Wahrnehmungseinstellung angesprochen (in der die auftauchenden klinischen Phänomene sowohl aus einer zentrifugalen »Fernsicht« als auch einer zentripetalen »Nahsicht« und ihrem Wechselspiel untersucht werden). Diese Differenzierung ist allerdings künstlich und berührt unterschiedliche Abstraktionen, wodurch ein im Grunde einheitlicher Prozess gedanklich getrennt wird. Sehr klar bringt Poland meine persönliche Auffassung über diese analytische Arbeitsweise zum Ausdruck: »Ich schlage vor, dass es die disziplinierte Verwendung des eigenen Selbst des Analytikers ist, die im Grunde als Medium für die emotionale Selbsterkundung des Pat. dient, wodurch sich klinische Psychoanalyse von anderen Therapieformen unterscheidet« (Poland, 2012, S. 9). Die kontinuierliche Einübung in diese innere Arbeits14 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

weise ist als »disziplinierte Verwendung des Selbst« des Analytikers zu verstehen – man könnte auch von der »disziplinierten Selbstreflexion« sprechen (siehe die Diskussion in diesem Band) –, die aber ganz in den Dienst des Analysanden im Sinne einer Förderung der analytischen Beziehung gestellt wird. Die Bedeutung der »disziplinierten Verwendung des eigenen Selbst« ergibt sich vor allem daraus, dass es in der Psychoanalyse um die Beziehung zum Unbekannten, zum Unbewussten geht, in das auch der Analytiker unvermeidlich eingelassen ist. Man könnte auch von einer Einübung in das Nichtwissen und Nichtverstehen sprechen, das eine erhebliche Toleranz für Ungewissheit zur Voraussetzung hat. Am Beispiel der Bifokalität lässt sich knapp erläutern, wie der Analytiker zur Generierung der analytischen Situation beiträgt: Das eigene Erleben in der analytischen Begegnung (die »Nahsicht«) wird ebenso beachtet wie das Wahrnehmen und Erleben des Analysanden (die »Fernsicht«); das eigene Erleben wird durch die Beachtung des Nichtwissens, Nichtverstehens, der Brüche und Widersprüche (als Ausdruck des »Unbekannten«) im Vergleich zum Erleben des Anderen zum »Medium für die emotionale Selbsterkundung« des Analysanden, wie dies Poland ausgedrückt hat. Abstrakter formuliert spricht man von Gegenübertragungsanalyse, die für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit wesentlich ist.

Das modifizierte filmpsychoanalytische Arbeitsmodell Was bedeutet dies nun für die Annäherung des Analytikers an einen Film und für die Vermittlung seiner Erfahrung an einen Zuschauer, bei dem der Film »wie Blumen im Wasser wieder aufleben« kann? Wie kann man also die vergangene Filmerfahrung »wässern«, eine Art »Erweckungsvorgang« auch im Sinne einer Nachträglichkeit ermöglichen und was sind dazu mögliche Komponenten? Wenn man davon ausgeht, dass bei 15 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

aller Berücksichtigung der Unterschiede zwischen der klinischen Situation und des Kinos der Filmpsychoanalytiker sein modifiziertes Arbeitsmodell auf die filmspezifische Situation anwendet – also auch hier die bipersonale, bipolare und bifokale innere Arbeitsweise zur Wirkung kommen lässt –, dann lassen sich folgende Kontexte näher beschreiben: In der bipersonalen Einstellung geht es um die Auffassung eines Dialogs zwischen Film, Filmen, Filmkünstler und dem Psychoanalytiker, wobei man wie schon angesprochen von einem »Quasi-Dialog« sprechen müsste, denn es ist fast immer ein fiktiver Dialog im Gegensatz zum realen Gespräch zwischen Analytiker und Analysand. Als Filmpsychoanalytiker begebe ich mich dabei in einen meist inneren Dialog mit dem Regisseur, seinem Werk, den Protagonisten und dem Film als Ganzem (der Regisseur als »Kollege« oder als »Visu-Psychoanalytiker«, wie dies Schneider, 2008, formuliert hat). Ich begebe mich dabei noch spezifischer formuliert in einen Dialog zwischen seiner und meiner »Theorie« (über zentrale menschliche Thematiken und den darin zum Ausdruck kommenden Alltagsmodellen), seiner und meiner Veränderungstheorie (wie sind Veränderungen von Menschen möglich, auch außerhalb therapeutischer Modelle) und in einen selbstreflexiven Dialog, etwa in der Auffassung vom Film als ungeträumten Traum des Analytikers oder Zuschauers. Der Regisseur »träumt« mit seinem Film die ungeträumten Träume des Zuschauers, in dem er Bilder für das bislang Unbekannte und Unaussprechliche findet. In eindrücklicher Weise beschreibt dies P. Roth unter dem Motto des »Stimmenbrunnens«: Modifiziert für die Filmpsychoanalyse könnte man von dem Finden der Stimmen des eigenen Unbewussten sprechen, der Stimme, die uns von außen begegnet (zum Beispiel in Form des Films), und das Finden der eigenen Stimme, in dem das Äußere (der Film) mit dem Inneren (des Zuschauers) verbunden wird (Roth, 2012; Zwiebel, 2008). Den erwähnten Beziehungsaspekt zwischen dem Filmpsychoanalytiker und einem spezifischen Film als »Quasi-Per16 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

son« beschreibt ein vergleichbares Vorgehen wie mit einem Patienten, nämlich die intensivere »Beziehung« mit einem Film, seinen Protagonisten und seiner Thematik, und zwar durch häufiges Sehen, Nachdenken, Schreiben und Diskutieren (Schneider, 2008). Der einzelne Film bekommt damit eine besondere emotionale Besetzung, die im günstigen Fall auch dem Leser oder dem Filmzuschauer vermittelt werden kann, der dann Zugang zu seinen nichtgeträumten Träumen, seiner eigenen ihm bislang unbekannten »Stimme« gewinnt. Die bipolare Einstellung beschreibt die spezifische Haltung des Filmpsychoanalytikers beim Betrachten und Nachbetrachten eines Films. Schaut er wirklich anders als der gewöhnliche Zuschauer? Sicherlich nicht immer. Aber man kann vermuten, dass er aufgrund seiner klinischen Erfahrungen besondere Antennen oder Rezeptoren entwickelt hat, die bei bestimmten Filmerfahrungen aktiviert werden. Bei einer Aktivierung der teilnehmenden Beobachtung – ein oszillierender Spiralprozess zwischen naivem Schauen und einem methodisch-technischen Vorgehen (siehe den Beitrag von Blothner in diesem Band) – fängt er dann an, auch seine eigenen Reaktionen stärker zu berücksichtigen und sie in Verbindung mit den Bildern und der Thematik des Films, aber auch seiner eigenen Person und seiner Geschichte zu bringen. Vermutlich hat er dann eine besondere Sensibilität für Brüche, Widersprüche, Unverständliches, auftauchende Fragen, Verwirrendes im Film, die einen Deutungswunsch dem Träumen vergleichbar auslöst. Hier ist der Analytiker dann plötzlich in ganz vertrautem Gebiet, denn dies erlebt er alltäglich in seiner Arbeit mit seinen Analysanden: Vieles bleibt auch dort erst einmal unverständlich, auch die mitgeteilten Erzählungen, Assoziationen, Bilder und Träume seines Analysanden. Die so wesentliche Tugend des Analytikers, die man als Geduld und eine »forschende Grundhaltung« (Leuzinger-Bohleber, 2007) beschreiben kann, kann sich an dieser Stelle der Filmerfahrung gegenüber voll entfalten. Der fast unbegrenzte Bedeutungsüberschuss eines Films ist hier durchaus mit dem 17 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

einer analytischen Sitzung vergleichbar: Im Grunde kann man diesem nur durch eine besondere Toleranz für Ungewissheit, Nichtverstehen und einer Abstinenz gegenüber voreiligen Deutungen (die sogenannte »wilde Analyse«) begegnen. Wird also diese spezifische Kompetenz des Analytikers durch einen Film geweckt – und das muss allerdings keineswegs die Regel sein –, dann entwickelt sich gerade durch den beschriebenen Bedeutungsüberschuss und die aufgeworfenen Fragen ein Deutungswunsch, der, so eine weitere Hypothese, zur Entstehung oder auch Entdeckung einer zentralen Deutungsphantasie des Filmpsychoanalytikers führt. Diese kann man als Ausdruck der latenten Interpretationsmuster verstehen, mit denen Menschen generell die Welt, ihr Selbst und die kontinuierlichen Lebenserfahrungen einordnen – und dies im speziellen Fall des Filmpsychoanalytikers geformt durch sein psychoanalytisches Vokabular. Die intensivere Beschäftigung mit einem spezifischen Film kann man dann als die Ausarbeitung dieser zentralen Deutungsphantasie auffassen, die nicht selten in ein schriftliches oder mündliches Deutungsopus mündet. Auf diese Weise macht sich der Filmpsychoanalytiker immer wieder seine »Brille« bewusst, mit der er die Welt und sich selbst betrachtet: Er überwindet damit ein Stück weit den naiven Realismus des normalen Filmzuschauers. Lässt der Filmpsychoanalytiker diesen gleichsam »normalen« Zuschauer an diesem Prozess nachvollziehbar teilnehmen, dann kann so etwas wie eine »Erweckung« oder eine »Wässerung« der Filmerfahrung, eine Verlebendigung, beim Zuschauer entstehen, etwa auch in der Form, dass der Zuschauer in Kontakt mit seinen eigenen latenten Interpretationsmustern kommt, einen Zugang zu seiner eigenen »Brille« oder seiner eigenen »Stimme« des Unbewussten bekommt und erst dann auch seine Filmerfahrung kritisch hinterfragen und modifizieren kann. Die bifokale Einstellung betont die spezifische Wahrnehmungseinstellung des Filmpsychoanalytikers, die ich in einer Wechselbeziehung zwischen der zentrifugalen, distanzieren18 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

den »Fernsicht« und der zentripetalen, identifizierenden »Nahsicht« sehe. Zur »Fernsicht« gehört danach die genauere Betrachtung der formalen Aspekte des Films (der Duktus und die Gestaltung der Filmsequenzen, die Gestaltung der Narration, die Beziehung von Bild und Dialog, die Farbgestaltung, Musik etc.), der historische bzw. zeitliche Hintergrund, die Analyse der Psychodynamik der Protagonisten (vielleicht sogar vergleichbar einer psychoanalytischen Krankengeschichte), die Beachtung des thematischen Hintergrundes (am Beispiel eines Filmes wie »Black Swan« von Darren Aronofsky beispielsweise die Thematisierung von Metamorphose und Perfektion), die spezifische Beachtung und Einordnung des jeweiligen Genres (etwa das Subgenre »Psychoanalyse im Film«) oder auch Beachtung der Stilmittel eines jeweiligen Regisseurs oder einer bestimmten Filmepoche (Besonderheiten des Stummfilms oder Filme einer bestimmten zeitlichen Epoche, siehe Bliersbachs Untersuchung des deutschen Nachkriegsfilms, geplant 2014). Unter der »Nahsicht« könnte man die identifizierende Bewegung verstehen, in der man sich beispielsweise empathisch den Bildern, der Thematik oder der Hauptfigur des Films annähert. Hier entdeckt der Filmzuschauer sich selbst, seine eigenen Konflikte, seine Lebensgeschichte in der Thematik oder in den Filmfiguren, etwa in einem Film wie Hitchcocks »Vertigo«, wenn man Scotties Höhenangst bei sich selbst erlebt, also den »Scottie« in sich selbst entdeckt; oder die Thematik der Katastrophe in Melancholia in den eigenen Ängsten vor kosmischen, relationalen oder professionellen Katastrophen entdeckt. Diese identifizierende »Nahsicht« führt also zu einer Selbsterfahrung, die aber durch den notwendigen Rückbezug zur »Fernsicht« nicht naiv bleibt – diese Naivität entspräche der »normalen« Filmerfahrung, bei der die unbewusste Identifizierung zwar vom Filmemacher intendiert ist, aber vom Zuschauer in der Regel nicht vertiefend reflektiert wird –, sondern gerade durch die distanzierende »Fernsicht« im günstigen Fall durch die emotionale Einsicht (dieser 19 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

Film hat etwas mit meinem Leben zu tun) zu einer durchaus auch nachträglichen »Verlebendigung« der Filmerfahrung führen kann. Es ist, als ob man sich nicht nur der grundsätzlichen »Brille« der Selbst- und Welterfahrung bewusst wird, sondern auch der Art dieser Brille, die einer bifokalen Gleitsichtbrille gleicht, mit der man in die Ferne, aber auch in die Nähe abwechselnd schauen kann. Die schon erwähnte Arbeit von Roth erscheint mir selbst durchdrungen von diesem »bifokalen Blick«, etwa wenn er beschreibt, wie er mit seinem Auto durch das ihm fremde Los Angeles fährt, dabei auf der Audiokassette eine Geschichte von Johan Peter Hebel hört und dies in Verbindung mit den realen, aktuellen Dingen zu bringen versucht: »Ich werde reden vom Wunsch, das Ferne nah zu bringen, von einer Sehnsucht mithin, der Einsicht auch, im Fernen immer wieder auch das Allernächste zu finden […]. Ich habe mir das fremde Land durchs Eigenste, Nächste angeeignet« (Roth, 2012, S. 11). Für den Film bedeutet dies, in dem zunächst Fremden das Vertraute, das Eigene zu entdecken und sich dies anzueignen im Sinne einer Verlebendigung mittels Erinnerung, emotionalem Erleben und Entdeckung der eigenen, vorher unbewussten Bilder. Bei der Beschäftigung mit einem Film wie We Need to Talk About Kevin (GB, 2012), bei der es sich um den Versuch einer Mutter handelt, den Amoklauf ihres Sohnes (ein School Shooting) zu begreifen und zu verarbeiten, ginge es also nicht nur allgemein um dieses gesellschaftliche Phänomen, die Frage von Verantwortung bei der Elternschaft, der möglichen Zunahme von Gewalt etc., sondern um die ganz persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Elternschaft. Gerade dieses Beispiel macht aber noch einmal deutlich, dass jeder Filmzuschauer und auch der Filmpsychoanalytiker spezifische Rezeptoren als Ausdruck seiner eigenen Geschichte und Persönlichkeit hat, mit denen er sich auf einen Film einlassen oder auch nicht einlassen wird.

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Über psychoanalytische Arbeits­modelle

Das Spezifische des filmpsychoanalytischen Zugangs Gerade am Beispiel der bifokalen Wahrnehmungseinstellung des Filmpsychoanalytikers kann man das Spezifische und das Besondere – auch im Vergleich etwa zu filmkritischen oder filmwissenschaftlichen Arbeiten – noch einmal stärker herausarbeiten. Die Vorgehensweise der Filmwissenschaftlicher ist sehr viel stärker zentrifugal betont, während der zentripetale Pol eher implizit bleibt. Es ist also gerade diese bipersonale, bipolare und bifokale Modalität des Zugangs zu einem Film oder dem Filmwerk eines Filmkünstlers, in der man das Spezifische des filmpsychoanalytischen Kommentars erkennen kann. Blothner beschreibt dies in seinem Vokabular in der Form zweier Polaritäten von »naivem Schauen« und »methodisch-technischem Vorgehen« auf der einen Seite und »persönlichem Berührtsein« und »theoretischem Durchdringen« auf der anderen Seite, die sich in ihrer Mitte als das »Ganze« des Filmerlebens und seiner Verlebendigung realisieren (siehe den Beitrag von Blothner in diesem Band). Blothner hat dies am Beispiel von No Country for Old Men der Coen-Brüder exemplarisch gezeigt. Mittels der Erforschung unterschiedlicher Zuschauererfahrungen dieses Films mit Hilfe direkter Befragung zeichnet er drei Wirkungsmuster dieses Films nach, die sich auf die Erfahrung und Verarbeitung von Gewalt beziehen: Überwältigtwerden, Erkennen der eigenen Gewaltbereitschaft und der abstandnehmende, reflektierende Umgang mit der Gewalt. Die eigene Filmerfahrung dieses Films wird durch diesen Kommentar nachträglich vertieft und dann »verlebendigt«, wenn die »Nahsicht« aktiviert werden kann (Blothner, 2010). Ein anderes Beispiel ist die horizontale Betrachtung von Filmwerken eines Künstlers wie etwa die Arbeit von MahlerBungers über Polanski oder Schneiders Arbeit über das narzisstische Universum in Hitchcocks berühmten Filmen Vertigo, North by North West, Psycho und Birds (Mahler-Bungers, 2004; Schneider, 2014). Hier wird ein latenter Subtext für den Leser 21 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

und Zuschauer sichtbar und erlebbar gemacht, der allerdings auch das Spezifische der erwähnten Deutungsphantasie des Interpreten erkennen lässt: Während Schneider den Einbruch in das narzisstische Universum der Protagonisten für diese Filme herausstellt, habe ich selbst beispielsweise als latenten Subtext im gesamten Werk von Hitchcock auf die Angstthematik fokussiert, die als agoraphob-klaustrophobes Dilemma zu beschreiben wäre (Zwiebel, 2007b). Aber überzeugen diese Überlegungen auch die Filmkünstler, die Filmkritiker, die Filmwissenschaftler und die Zuschauer? Damit komme ich noch einmal auf die eingangs gestellten Fragen zurück. Am wenigsten braucht wohl der Filmkünstler den Psychoanalytiker, es sei denn, der Film handelt selbst von der Psychoanalyse oder der Psychotherapie (zum Beispiel In Treatment oder Morettis Das Zimmer meines Sohnes) oder der Filmautor interessiere sich für psychoanalytische Fragen aus persönlichen Gründen (wie etwa bei Bernardo Bertolucci oder Woody Allen). Wenn aber erkannt wird, dass auch der kreative Künstler ähnlich wie ein Psychoanalytiker arbeitet, nämlich mit der »disziplinierten Verwendung seines Selbst«, in diesem Fall aber nicht im Dienste eines realen Analysanden, sondern im Dienste des Kunstwerkes und vielleicht noch weitergehend im Dienste aller Menschen, dann könnte sein Interesse an einem Dialog durchaus geweckt werden. Und wieso sollte er sich nicht dafür interessieren, wie sein Werk von seinen Zuschauern aufgenommen wird? Sehr viel mehr braucht wohl der Psychoanalytiker den Film, etwa zur Überprüfung und Erweiterung seiner Theorien, weil er Filmkünstler und sich – vielleicht zu unbescheiden – als Kollegen betrachtet, die in und mit unterschiedlichen Medien und aus einer anderen Perspektive mit den gleichen menschlichen Fragen befasst sind. Den größten Gewinn mag wohl der durchschnittliche Zuschauer von einem psychoanalytischen Kommentar haben, wird er doch durch die disziplinierte Selbstreflexion des Analytikers angeregt, die Bedeutung des Filmerlebnisses für sein eigenes Leben 22 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Über psychoanalytische Arbeits­modelle

zu überdenken, sich seiner »Brille« bewusst zu werden und die bislang unbekannte Stimme des Unbewussten zu entdecken. Und die Filmwissenschaftler? Sie verwenden oft die psychoanalytische Theorie, aber ohne sich selbst als Person in ihren Prozess der Auseinandersetzung mit dem Film einzubringen. Eine Filmtheorie wie die von Elsaesser und Hagener (2007), in der der Zuschauerkörper in der Beziehung zum Film als Leitlinie für die Theoriebildung konzipiert wird, stellt aber einen Schritt zur Einbeziehung der zentripetalen »Nahsicht« dar. Als letztes bleibt die Frage, ob diese Fokussierung des hier vorgeschlagenen filmpsychoanalytischen Arbeitsmodells auf die Funktion der Verlebendigung für den Zuschauer nicht eine zu große Einengung darstellt. Es betont womöglich zu stark einen quasi-therapeutischen Anspruch und unterschätzt damit den wissenschaftlichen, philosophischen oder auch nur spielerischen Aspekt der Beschäftigung mit dem Film. Mir scheint aber, dass das hier vorgeschlagene Arbeitsmodell diese Spielräume bewahrt, gerade wenn man das eigene Arbeitsmodell immer wieder an jedem neuen Film überprüft und in Frage stellt.

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23 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Über psychoanalytische Arbeits­modelle der: Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome (S. 19–38). Gießen: Psychosozial-Verlag. Schneider, G. (2014). Tetralogie mit Vorabend – Hitchcocks visupsychoanalytische Untersuchung des narzisstischen Universums. Im Druck. Seidl, C. (2011). Nachruf auf M. Althen. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 5. 2011. Zugriff am 11. 02. 2014 unter http://www.faz. net/aktuell/feuilleton/kino/zum-tode-von-michael-althen-liebling-ich-bin-im-kino-1640336.html Tuckett, D. (2007). Wie können Fälle in der Psychoanalyse verglichen und diskutiert werden. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 61 (9–10), 1042–1071. Tuckett, D. (2011). Inside and outside the window: Some fundamental elements in the theory of psychoanalytic technique. The International Journal of Psychoanalysis, 92 (6), 1367–1390. Will, H. (2008). Über die Position eines Analytikers, der keiner Schule entstammt. Psyche  – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 62 (1), 289–309. Zwiebel, R. (2007a). Von der Angst Psychoanalytiker zu sein. Stuttgart: Klett-Cotta. Zwiebel, R. (2007b). Zwischen Abgrund und Falle. Filmpsychoanalytische Anmerkungen zu Alfred Hitchcock. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 61 (1), 65–73. Zwiebel, R. (2008). Der letzte Traum. Filmpsychoanalytische Überlegungen zu Stay. In: P. Laszig, G. Schneider (Hrsg.), Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome (S. 207–234). Gießen: Psychosozial-Verlag. Zwiebel, R. (2013). Was macht einen guten Psychoanalytiker aus? Stuttgart: Klett-Cotta. Zwiebel, R., Mahler-Bungers, A. (2007). Projektion und Wirklichkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Marcus Stiglegger

Verführung zum Untergang – Melancholia als seduktives Konstrukt Filmmaking is not about what we see – [that’s] a very misconceived notion, it’s about what we don’t see. Nicholas Winding Refn (in: Kiang, 2013)

Lars von Triers Einladung zum Untergang

D

er Endzeitfilm Melancholia liefert einen eindrücklichen filmischen Beweis für Lars von Triers Gespür, einen Film exakt zwischen der persönlichen Exzentrik des europäischen Autorenfilms und der exaltierten Melodramatik des Hollywoodkinos anzulegen und so weltweite Aufmerksamkeit zu generieren. Melancholia ist verführerisch – eine Verführung zum Untergang, eine Verführung zur Einfühlung in emotionale Verfassungen angesichts einer eigentlich zermürbenden Erkenntnis: dass der Mensch schon immer allein war im Universum und dass keine Hilfe zu erwarten ist, wenn die Erde schließlich mit dem vergleichsweise gigantischen Planeten Melancholia verschmilzt und kein Leben übrig lässt. So finster diese Aussicht erscheinen mag, so still sich der Film diesem von Richard Wagners »Tristan«-Akkord untermalten Ende mitunter nähert, so lustvoll scheint er den Zuschauer zu diesem Ereignis einzuladen. Verführung ist stets ein vom eigentlichen Wege Abbringen – die ursprünglichen Überzeugungen aufzugeben zuguns26 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Verführung zum Untergang

ten einer anderen, neuen Position, die man möglicherweise zunächst abgelehnt hat, die man für »abwegig« hielt. Insofern ist das performative Spiel, das sich zwischen Lichtspiel und Zuschauer abspielt, per se ein Spiel der Verführung, die Entfesselung seduktiver Strategien. Dieser Beitrag möchte sich Lars von Triers Film aus dieser Perspektive nähern, Melancholia als seduktives Konstrukt erschließen und letztlich dessen Verführung zum Untergang verdeutlichen. Um diese Perspektive einzunehmen, sind einige Anmerkungen zur Seduktionstheorie des Films notwendig, einer neueren Strömung der Filmtheorie, die den analytischen Blick für bislang verdrängte oder übersehene Aspekte des Mediums öffnen könnte. Die Seduktionstheorie definiert das Medium Film in einem weiteren Sinne als Medium der Verführung. Der Begriff »seduction« taucht erstmals bei Dianne Hunter in »Theory and seduction« (1989) und Patrick Fuery in »New developments in film theory« (2000) im Kontext der Filmtheorie auf und wurde von mir differenziert in dem Buch »Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film« (2006) betrachtet. Dieser Ansatz geht von zwei Prämissen aus, die als elementare Eigenschaften des narrativen Kinos begriffen werden können: Erstens ist Film selbst Verführung; einen Film zu sehen bedeutet, von ihm verführt zu werden. Das impliziert die Bereitschaft des (angenommenen) Zuschauers, die Verführung anzunehmen, sich verführen zu lassen. Zweitens bleibt Film immer ein phantomhaftes Medium, ein temporäres »Lichtspiel« auf der Leinwand oder dem Bildschirm, das sich einem materiellen Zugriff in letzter Instanz entzieht. Diese Phantomhaftigkeit garantiert die Effektivität der Verführung, denn eine Erfüllung des Versprechens wird immer ausbleiben.

Film als Herausforderung Der aus den philosophischen Schriften von Jean Baudrillard abgeleitete Begriff der Seduktion (franz. séduction) bezeichnet 27 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Marcus Stiglegger

Verführung in einem grundsätzlichen Sinne als Manipulation oder Suggestion, die in diesem Fall der Filmzuschauer erfährt. Entwickelt hat Baudrillard sein Modell der »séduction« unter anderem in »L’échange symbolique et la mort« (1976) und »De la séduction« (1979), wo er mediale Kommunikationsprozesse als ein seduktives (verführerisches) Spiel beschreibt: »Der gut gemachte Spielfilm will wie eine psychotische Halluzination eine Vision erzeugen, in der innen und außen sich vermischen. Er will in den Zuschauer eintauchen, so wie dieser in ihn eintauchen soll« ( Jacke, 2013, S. 131). Für das Medium Film lässt sich die Seduktion auf drei Stufen nachweisen (vgl. Stiglegger, 2012, S. 87–89): In einem ersten Schritt verführt der Film zu sich selbst, um letztlich das Interesse des potenziellen Zuschauers zu wecken. Auf dieser Ebene, die auch den Trailer, die Promotion und Aspekte wie Besetzung, Budget und Genre umfasst, werden die Erwartung und das Begehren des Zuschauers stimuliert. Auf der zweiten Ebene der Seduktion kann der Film eine spezifische Aussage propagieren. Das gilt sowohl für den expliziten ideologischen Propagandafilm wie auch für Filme mit leicht durchschaubaren polaren Erzählmustern, die sich in eindeutigen Zuweisungsstrukturen erschöpfen. Zahlreiche kommerzielle Hollywoodproduktionen arbeiten mit der Favorisierung einer spezifischen Aussage, die dem Zuschauer nahegelegt wird, und avisieren eine Verführung auf der zweiten Ebene. Die erst durch eine seduktionstheoretisch fundierte Analyse eruierbare dritte Ebene der Seduktion verdeutlicht, wie der Film zu einem zunächst verdeckten Ziel verführt, das auf der Metaebene verborgen liegt. Hier werden subtile Aspekte wie spezifische Begehrensstrukturen deutlich, die Schlüsse auf ideologische Subtexte des Werkes zulassen. Während die beiden ersten Ebenen der Seduktion recht leicht erkennbar sind, stellt die dritte Ebene die tatsächliche Herausforderung an den Zuschauer dar, denn das Ziel der Seduktion – wie der Verführung allgemein – ist es, diesen 28 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Verführung zum Untergang

gegen seine vermeintlich gefestigte Position vom vertrauten Weg abzubringen. Die filmischen Mittel und Ebenen der Seduktion im Film liegen dabei erstens auf der Ebene der Performanz: Bewegung, Körper, Sinnlichkeit, also Sexualität, Kampf, Choreografie. Zweitens sind sie im Bereich der Narration zu finden, als epische Erzählung oder verdeckte Mythologie. Und drittens liegen sie auf der ethischen Ebene, etwa indem der Zuschauer einem Ambivalenz-Erlebnis ausgesetzt wird: Die Hausforderung, das »Undenkbare« zu denken. Mittel dieser seduktionstheoretischen Feinanalyse ist die dichte Beschreibung des filmischen Zeichensystems, die durch hermeneutische Neubetrachtung jeweils verfeinert wird. Ziel ist es, die seduktiven Strukturen, die in der Inszenierung angelegt und verdeckt wurden, offenzulegen. Der Vorzug der Seduktionstheorie ist es, eine nichtnormative Betrachtung unterschiedlichster Filme zu begünstigen, den Erkenntnisgewinn zu maximieren und so an einer Überwindung des etablierten Kanondenkens zu arbeiten. Nationale Herkunft des Werkes, Entstehungsepoche oder generische Eigenarten stellen nur noch beachtenswerte Nebenaspekte dar, während die Analyse dem spezifischen Werk gewidmet ist und sich an dessen selbst gesetzten Intentionen orientiert. So ist mit dem dreistufigen Seduktionsmodell auch ein Gewinn für die Analyse marginalisierter generischer Filme (Genretheorie, porn studies, cinematic body theory) verknüpft. Allerdings lassen sich auch aus der Seduktionstheorie keine allgemeingültigen Schlüsse im Sinne einer Rezeptionstheorie ziehen, wohl aber bezüglich der Erforschung von schwer oder nicht intellektualisierbaren filmischen Phänomenen: im Bereich extremer Affekte wie Lust, Ekel, Angst und Grauen oder mythischen Atavismen im menschlichen Denken. Die Seduktionstheorie ist vor allem hilfreich bei der Untersuchung eines performativen Kinos, wie es sich in der letzten Dekade in zwei Varianten ausgeprägt hat: als kommerzielles Eventkino einerseits (etwa im 3-D-Bereich) oder andererseits als radikaler Schritt hin zu 29 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Marcus Stiglegger

einem cinéma pur, wie es bereits in den 1930er Jahren gefordert wurde.1

Begegnungen mit einem Anderen: Aspekte und Begriffe der Seduktionstheorie In »L’être et le néant« (1943) fasst Jean-Paul Sartre den engen Zusammenhang zwischen der Selbstdefinition und der Verteilung von Machtverhältnissen mittels des Blicks zusammen: »Wenn wir von der ersten Enthüllung des Anderen als Blick ausgehen, müssen wir anerkennen, dass wir unser unerfassbares Für-andere-Sein in Form eines Besessenwerdens erfahren. Ich werde vom Anderen besessen; der Blick des Andern gestaltet meinen Körper in seiner Nacktheit, lässt ihn entstehen, skulptiert ihn, erzeugt ihn, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werde« (Sartre, 1943/1997, S. 638). Der Blick – so Sartre – steht also zwischen dem Subjekt und dem Anderen, ist zugleich aber das Mittel, sich seines Gegenübers zu bemächtigen. Grundsätzlich ist Film ein Medium, dessen Blickrichtung zunächst einseitig zu verlaufen scheint: vom Auge des Zuschauers auf das Lichtspiel, das sich auf der Leinwand spiegelt. Die projizierten Bilder verleihen dem Zuschauer die Illusion der Macht über die dargestellten Objekte. Das Dargestellte ist »auf die Leinwand gebannt«. Doch zugleich erscheint das filmische Bild als »das Andere«, das einen Blick auf den Betrachter zurückwirft. Das kann als kalkulierter Teil der Inszenierung erfolgen – quasi metafilmisch – oder ganz grundsätzlich kommen: indem der Film die Erwartung des Publikums affirmiert oder bricht. Letzteres sind genau jene Mechanismen, deren sich Lars von Trier von jeher bedient. 1 Auch auf Computerspiele lassen sich diese Thesen anwenden, wie unter anderem im Kontext des Forschungsprojekts »Emotional Gaming« von Jörg von Brincken und Horst Konietzny an der Ludwig-Maximilians-Universität München erprobt.

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Verführung zum Untergang

Im Moment des Bewusstwerdens einer solchen Affirmation/ Brechung kann das filmische Bild selbst als ein solches Anderes beschrieben werden. Dieses filmische Bild als das Andere reflektiert so gesehen den Betrachterblick, »wirft« ihn zurück, und übt seinerseits eine Macht auf den Betrachter aus. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, erzeugt das filmische Bild im Moment des Gewahrwerdens Vertrautheit und Abgrenzung zugleich – es bestätigt die Erwartung, definiert das Subjekt und es grenzt sich – ewig flüchtig und unfassbar – vom Betrachter ab. Diese Überlegung sei Laura Mulveys (1998) These vom primär männlichen Blick des Kinos vorangestellt. Blick erweist sich so als Macht und Unterwerfung zugleich.2 Der aktive Blick will die Macht über das erblickte Objekt gewinnen, sich selbst dagegen als Subjekt identifizieren. Die Erfahrung des Angeblicktwerdens dagegen gerät unversehens zur Unterwerfung unter den Blick. Ein wesentlicher Begriff in Sigmund Freuds klassischem Modell der Psychoanalyse ist der Wunsch: Mit ihm bezeichnet er ein unwillkürliches, inneres Verlangen, das aus den existenziellen Bedürfnissen der Kindheit schöpft. Jacques Lacan hat Freuds Begriff des Wunsches mit dem französischen désir übersetzt, das wiederum auch Begehren heißt und in mehrfacher Hinsicht ein differenzierterer Begriff als Wunsch ist. Der Wunsch erscheint sehr zielgerichtet und singulär, das Begehren umfasst jedoch auch eine kontinuierliche Kraft, eine Motivation. Nach dem Literaturwissenschaftler Vladimir Biti beschwöre das Begehren auch Hegels Begriff der Begierde, werde dadurch abstrakter und theoretisch fruchtbarer (Biti, 2001, S. 99). Im Sinne Lacans bleibt das Begehren immer unbewusst und wird zur Motivation von Handlung und Bewegung des Körpers. Lacan siedelt das Begehren zwischen dem 2 Sartre (1943/1997) definiert die »Haltung gegenüber anderen« grundsätzlich über die Hilfskonstruktion von Masochismus und Sadismus, von ritualisierten Machtkonstruktionen also, ein Modell, auf das wir später noch zu sprechen kommen.

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Marcus Stiglegger

Streben nach Befriedigung und dem Verlangen nach Liebe an: Es sei »die Differenz, welche entsteht, wenn das Erstere vom Letzteren subtrahiert werde« (Lacan, 1964, zit. nach Biti, 2001, S. 99). Es geht also nicht primär um einen biologischen Instinkt, sondern um ein artikuliertes Verlangen, das nach Erwiderung giert. Begehren will anerkannt und erwidert werden, es ist letztlich »das Begehren nach dem Begehren des Anderen« (Lacan, 1964, zit. nach Biti, 2001, S. 99). Dieser Prozess ähnelt dem oben beschriebenen seduktiven Modell: Verführt kann nur werden, wer verführt werden will; Verführen kann nur, wer letztlich selbst verführt ist. Hier spiegelt sich also genau jenes Wechselverhältnis zwischen Film und Zuschauer, der Wunsch, vom Film verführt zu werden. Gerade jene Momente werden vom potenziellen Publikum als besonders verstörend empfunden, wenn der Film erstens die Erfüllung des Begehrens – und damit dessen Anerkennung – inszenatorisch verweigert und zweitens der Film einen Blick auf den Betrachter zurückwirft – von ihm also ebenfalls etwas zu fordern scheint. Solchen Blicken begegnen wir unter anderem in den Filmen von Stanley Kubrick: in 2001 – A Space Odyssey (2001 – Odyssee im Weltraum, 1968), A Clockwork Orange (Uhrwerk Orange, 1970) oder The Shining (Shining, 1980). In dieser Lücke zwischen Film und Betrachter spielt sich jener komplexe Prozess ab, den wir im Folgenden als Seduktion begreifen: Er umfasst weit mehr als das rein Suggestive einer Inszenierung; die Seduktion ist das Ergebnis einer wechselseitigen »Arbeit« zwischen Medium und Rezipient, dessen Begehren mitunter zum Spielfeld der seduktiven Strategien filmischer Inszenierung gerät. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Begehren des Verbotenen zu. Das Spiel mit Erfüllung und Verweigerung einer Erfüllung des (Zuschauer-)Begehrens öffnet der filmischen Inszenierung eine Vielzahl von Möglichkeiten. Aus dieser Perspektive betrachtet verwundert es kaum, dass zahlreiche Filme das Betrachterinteresse durch die Thematisierung oder Inszenierung von Grenzüberschreitungen und Tabu32 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Verführung zum Untergang

brüchen sichern. Oft ist ein solcher Tabubruch der Schlüsselmoment des filmischen Dramas, oft zwingen diese Filme den Zuschauer geradezu, sich mit einem gesellschaftlich und kulturell verankerten Tabu auseinanderzusetzen. Dabei ist allerdings die kulturelle Relativität von Tabus zu beachten: Die Übertragung des ethnologischen Begriffes Tabu auf die »Neurosen« der westlichen Gesellschaft geht auf Sigmund Freud zurück, der in »Totem und Tabu« (1913/1956) vier Punkte der Gemeinsamkeit nennt: »1. In der Unmotiviertheit der Gebote, 2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nötigung, 3.  in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungsgefahr durch das Verbotene, 4. in der Verursachung von zeremoniösen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen« (Freud, 1913/1956, S. 36). Das Tabu hat oder braucht keine rationale Begründung (»Unmotiviertheit«), es ist somit in gewisser Weise willkürlich. Betrachtet man Tabus der westlichen Industriegesellschaft, so haftet diesen dagegen meist eine bestimmte rationale Erklärung an, die als Begründung für die »innere Nötigung«, das Tabu zu achten, herhalten muss.3 Im Bruch des Tabus liegt allerdings zugleich der Reiz: die Überschreitung der Tabugrenze zu begehren, um das verbotene Andere zu erlangen. Deutlich ist dabei die »Ansteckung« durch das Tabu bzw. den Tabubruch: Wer das Tabu bricht, wird selbst zur tabuisierten Person. Solche Mechanismen greifen in der westlichen Gesellschaft vor allem an der Schnittstelle von Politik und Moral. Es haben sich gesellschaftliche Rituale und Verhaltensweisen etabliert (»Gebote«), wie mit einer bestimmten Thematik zu 3 Ehebruch ist zum Beispiel vor allem in Gesellschaften ein Tabu, deren Integrität vordergründig auf der Institution einer funktionierenden Ehe aufbaut. Das mit dem Ehebruch verbundene Fehlverhalten unterläuft dann die auf dieser Integrität basierende Machtstruktur und stellt sie infrage. Die spezielle Ausprägung dieser Machtstruktur lässt sich auf eine bestimmte, rational nachvollziehbare Basis zurückführen, ist aber letztlich willkürlich. Ebenso könnte die Macht auf einem anderen Modell basieren.

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verfahren ist. Der seduktive Aspekt des Tabu-Modells wird in einem späteren Satz von Freud deutlich: »Der Mensch, der ein Tabu übertreten hat, wird selbst tabu, weil er die gefährliche Eignung hat, andere zu versuchen, dass sie seinem Beispiel folgen. Er erweckt Neid; warum sollte ihm gestattet sein, was anderen verboten ist? Er ist also wirklich ansteckend, insofern jedes Beispiel zur Nachahmung ansteckt, und darum muss er selbst gemieden werden« (Freud, 1913/1956, S. 40). Der Tabubruch, die Grenzüberschreitung (Transgression) ist daher selbst seduktiv.

Film als Seduktions-Apparat(us) Seit Ende der 1960er Jahre wird das Verhältnis von Filmbzw. Vorführtechnik und Zuschauer als Apparat (Apparatus) verstanden. Hierbei wird der kinematografische Apparat nicht nur als Projektionsmedium interpretiert, sondern auch als ideologischer Vermittlungsmechanismus. Voraussetzung dabei ist die Annahme, dass dem Zuschauer kontinuierlich das Wissen um die Künstlichkeit und Konstruiertheit des kinematografischen Produktes entzogen wird. Die Kamera kann dabei bereits als »ideologisches Werkzeug« begriffen werden. Besonders nach den Ausführungen von Jean Baudry wird dabei der Zuschauer selbst zum Subjekt der Filmvorführung, indem sich sein Blick mit dem von der Kamera bestimmten Fluchtpunkt auf der Leinwand kreuzt. »Der Zuschauer identifiziert sich dabei weniger mit dem Gesehenen als mit der Instanz des Sehens. Unterstützt wird dies durch die Position des Projektors, der sich hinter dem Kopf des Zuschauers befindet und somit die Technik aus seinem Blickfeld verbannt. Das Zuschauer-Subjekt wird somit als Produkt des kinematographischen A[pparates] begriffen« (Böhnke, zit. nach Schanze, 2002, S. 10). Hier kann die Ich-konstituierende Funktion des Spiegelstadiums nach Lacan (1973) hinzugedacht werden, das den 34 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Zuschauer das Geschehen auf der Leinwand als »Realität« empfinden lassen möchte (und lässt). Das Spiegelstadium ist insofern interessant, da dort der Säugling angesichts seines Spiegelbildes erstmals seine Körperteile als zusammengehörig betrachtet, sich also eine neue Ordnung der Wahrnehmung etabliert. Ähnliches leistet der Film durch die selektierte Präsentation einer vorgedachten Ordnung. Das Kino kann als Re-Konstruktion des Lacan’schen Modells gesehen werden. Der Zuschauer – so die Annahme – regrediere dabei so weit in seiner rein aufs Sehen reduzierten Passivität, dass er für den Moment der Filmrezeption den Unterschied zwischen Repräsentation und Realität vergesse. Es kommt dem Medium wiederum zugute, dass es über eine so fragile Materialität verfügt, sich förmlich im Rahmen seiner Präsenz entzieht. Noel Carroll weist in seinem Aufsatz »Jean-Louis Baudry and ›The Apparatus‹« (1988) darauf hin, dass Baudry selbst einen Unterschied zwischen dem angenommenen Realitätseindruck von Filmen (»impression of reality«) und der realen Alltagserfahrung der Rezipienten machte: »Baudry does not contend that the impression of reality caused by cinema is equivalent to our everyday encounters with the world; cinema is not a replication of our ordinary impressions of reality. Rather cinema is said to deliver an impression of reality that is more-than-real. That is, less paradoxically stated, Baudry wishes to deploy psychoanalysis to explain cinema’s intense effect on spectators; he wants to analyze the peculiarly charged relationship we have with the screen when we attend movies« (Carroll, zit. nach Braudy u. Cohen, 1999, S. 778). Von besonderem Interesse ist hier also weniger die Frage, ob in der Filmrezeption tatsächlich jene Konvergenz von Repräsentation und Realität in der Wahrnehmung des Zuschauers eintritt, als vielmehr die Annahme, dass das Medium offenbar grundsätzliche Übereinstimmungen mit dem menschlichen (Unter-)Bewusstsein aufweist, das auch bereit ist, »more-than-real representations« als »Realität« zu begreifen. 35 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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»Melancholia« als seduktives filmisches Konstrukt Lars von Trier ist sich der oben geschilderten Eigenschaften des Mediums voll bewusst, was sich in seinem vorangehenden Œuvre etwa im Einsatz von Hypnose innerhalb der Inszenierung ausdrückte (Element of Crime, Epidemic, Europa). Er interpretierte das Medium ganz direkt als Apparatus der Hypnose, einer – wenn man so will – radikalen Form der Vereinnahmung, Suggestion, Manipulation – und somit: Verführung bzw. Seduktion. Auf diese Weise arbeitet er nicht gegen das, sondern vor allem mit dem Zuschauerbewusstsein. Auf der Binnenebene der Filme geht es ihm meist um eine Konfrontation mit dem verfemten Anderen, sei es in der Einfühlung mit einem Serienmörder (Element of Crime), mit den WerwolfKommandos der Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg (Europa) oder die sich selbst Opfernde in Breaking the Waves. Bereits bei der Diskussion des Vorgängerfilms Antichrist gab von Trier bereitwillig Auskunft über seine Probleme mit Depressionen und seine Therapie, deren Teil und Abschluss die Dreharbeiten zu Antichrist gewesen seien. Melancholia beschwört bereits in seinem mehrdeutigen Titel den Zustand der Melancholie, der tiefgreifenden Traurigkeit oder Schwermut, die allerdings nicht mit dem Krankheitsbild der Depression verwechselt werden darf. Bereits im Titel legt der Regisseur hier Spuren, die eine Vielzahl von Zugängen ermöglichen.

Abbildung 1: Beschwörung von Schwermut und Traurigkeit

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Verführung zum Untergang

Betrachten wir nun den Film Melancholia im Lichte der Seduktionstheorie. Im Sinne des seduktionstheoretischen Ansatzes lässt sich der Film auf besagten drei Ebenen betrachten. Auf der ersten Ebene der Seduktion (Verführung des Films zu sich selbst) hat er einiges zu bieten: Wie bereits zuvor verbreitete sich noch vor Filmstart die Nachricht, von Trier konfrontiere sein renommiertes Schauspielerensemble (Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourgh, Kiefer Sutherland, John Hurt, Charlotte Rampling und andere) rückhaltlos mit psychologischen Grenzsituationen (Depression, Ehebruch, Katastrophe). Auch das nackte Bad im Mondlicht von HollywoodStar Dunst garantierte internationale Aufmerksamkeit. Nicht nur der Film versprach – wie von Triers vorherige Arbeiten – Tabubrüche und Grenzüberschreitungen, auch der Regisseur erzeugte in der Pressekonferenz bei den Filmfestspielen in Cannes einen werbewirksamen Skandal, als er sich durch einen Nazi-Vergleich kurzfristig selbst von den Festivalweihen disqualifizierte. Dem Film schadete das nicht, denn er bot spektakuläre Tableaus in Extremzeitlupe, faszinierende Spezialeffekte und elegischen Richard-Wagner-Pathos mit dem berühmten »Tristan«-Akkord als Leitmotiv. Auf der Handlungsebene funktioniert dieser düstere Endzeitfilm zweifellos als Beispiel für ein spezifisches Subgenre des Science-Fiction-Films, dem auch andere renommierte Werke zugerechnet werden können: Von Trier bezog sich im Audiokommentar des Films etwa explizit auf Andrej Tarkowskijs Stanislaw-Lem-Adaption Soljaris (1972). Melancholia gelingt auf der erste Ebene der Seduktion als starbesetztes, generisches Arthaus-Kino, das mit einem großen Aufwand beworben und platziert werden konnte – und im Rahmen seiner Möglichkeiten als anspruchsvoller Nischenfilm einen erstaunlichen kommerziellen Erfolg verzeichnete (der sich auch im Heimmediensektor fortsetzte). Auf einer zweiten Ebene verführt Melancholia zu einer klar formulierten und identifizierbaren Aussage, die sich in der Diegese des Films wiederfindet: in seiner Inszenierung, seinen 37 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Abbildung 2: Solche Bilder garantieren internationale Aufmerksamkeit

Dialogen. Diese Ebene ist für den geneigten und medienkompetenten Zuschauer klar interpretierbar, denn Hinweise und Bezüge werden von der Inszenierung gezielt gestreut. So bietet Melancholia in seinem ersten Viertel deutliche Kritik an einer heuchlerischen Gesellschaft der Reichen und Privilegierten, deren Masken während des Hochzeitsfestes nach und nach fallen, unter anderem durch den Zynismus der Mutter, dargestellt von Charlotte Rampling. Dies dient der Entlarvung einer Oberflächlichkeit der privilegierten Oberschicht, deren Reichtum nicht vor dem Untergang schützt. Die Machtlosigkeit des rationalistischen wissenschaftsgläubigen Ehemannes (Kiefer Sutherland), der dennoch Vorräte bunkert und sich letztlich durch Suizid entzieht, steht für diesen Umstand. Dagegen steht das Urvertrauen des Kindes, das im letzten Moment des Films – als die Katastrophe einsetzt – seine Angst zu überwinden scheint und sich in die Hände der »magischen Tante Stahlbrecher« (Dunst) begibt, während seine Mutter (Gainsbourgh) aus dem rituellen Zirkel ausbricht und wie ihr Mann resigniert angesichts des Unabwendbaren. Melancholia gibt mit seinem Titel zudem eine weitere Spur vor, der es leicht scheint zu folgen: Von Triers Film gilt als filmisches Porträt einer seelischen Erkrankung, der Depression, die von Kirsten Dunsts Charakter Besitz ergreift und sie in die absolute Antriebslosigkeit und Lebensunfähig38 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Verführung zum Untergang

Abbildung 3: Den Gedanken des endgültigen Untergangs annehmen

keit treibt. Diese Grunddisposition gibt der Schauspielerin zweifellos die Chance zu einer intensiven Darstellung. Die titelgebende Melancholie (eigentlich ein Stadium des Weltschmerzes) wird hier zum Synonym dieser deutlich krankhaften Depression. Und doch sind diese einfachen Zugänge zu Melancholia letztlich seduktive Fallen, Holzwege, auf die der interessierte Zuschauer gelockt wird, die jedoch nie zu einem konventionellen Schluss geführt werden – vielmehr ist die Krankheit in diesem Film der Schlüssel zu einer Verführung auf höherer Ebene. Die dritte Ebene der Seduktion ist jene der verdeckten Verführung, deren Strukturen erst in einer weitergehenden Betrachtung deutlich werden. Auf dieser Ebene lassen sich auch die Begehrensappelle der Inszenierung herausarbeiten. Der Film weckt im Prozess der Seduktion schleichend das Interesse an anderen Themen, als sich zunächst abzeichnen. Schicht für Schicht durchdringt er und entfernt sich von der Gesellschaftskritik, von dem Depressionsporträt – von der sozialpsychologischen Komponente ganz grundsätzlich – und öffnet den Blick letztlich auf eine Idee, die bei zahlreichen Rezensenten einen Abwehrreflex auslöste: Melancholia bietet die Herausforderung zum mythischen Denken, zur Überwindung rationaler Verlässlichkeiten, die sich als Konstante der westlichen Welt etabliert haben. Melancholia verführt dazu, 39 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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den Gedanken des endgültigen Untergangs anzunehmen. Wie das Kind im Film lernen wir, der depressiven jungen Frau zu vertrauen, und begeben uns am Ende in die magische Hütte (eine improvisierte Gerüstkonstruktion aus Ästen), die im Grunde nur eines vermittelt: die entweltlichte Hingabe an den Untergang. Und so ist auch die Verführung zum mythischen Denken, die ein offensichtlich zyklisch konstruierter mythischer Film wie Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (1979) noch teilweise einlöste, in Melancholia ebenso ein Holzweg, zumindest wenn man das Medium als ein anthropozentrisches betrachtet: Zu den tragisch-pathetischen Klängen von Richard Wagner verschmilzt die Erde mit dem vielfach größeren Planeten Melancholia und beginnt eine neue Existenz als Teil dieser neuen Welt – allerdings ohne Menschen. Insofern verführt Melancholia tatsächlich zu einem unerwarteten Schluss: Von Triers Werk ist einer der radikalsten posthumanen Filme, die sich vorstellen lassen, denn er bringt uns dazu, die Menschheit selbst zu verabschieden, die Welt zu vergessen, wie wir sie kennen. Denn Melancholia (dem Planeten) gehört die Zukunft …

Abbildung 4: Dem Planeten Melancholia gehört die Zukunft

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Verführung zum Untergang

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Gerhard Schneider

Das Container-Contained-Modell als Zugang zu Lars von Triers Melancholia Erste Eindrücke von »Melancholia« und Hintergrund meiner Rezeption

I

ch habe den Film zum ersten Mal anlässlich der von Dirk Blothner in seiner Einleitung zu diesem Band erwähnten Arbeitssitzung gesehen. Lars von Trier kannte ich von einigen seiner Filme, die ich interessant bis eindrucksvoll (Dogville), aber auch die Grenze zum Kitsch berührend (Breaking the Waves), quälend (Dogville, Antichrist) und allein schon physisch anstrengend zu sehen fand (Handkamera). Das Weltende-Thema von Melancholia war mir noch aus den Besprechungen im Zusammenhang mit den Filmfestspielen 2011 in Cannes bekannt, ebenso hatte ich noch die Hinweise auf die Bildgewalt des Films »im Hinterkopf«. Zu meinem allgemeinen Rezeptionshintergrund gehörte auch, dass mich seit einiger Zeit im Rahmen der psychoanalytischen Beschäftigung mit Filmen die kulturpsychoanalytische Perspektive besonders interessiert. Meiner Selbsteinschätzung nach bin ich in den Film in einer afokalen Grundhaltung gegangen. Er wurde abends in einer öffentlichen Vorstellung im Cinema Quadrat (Mannheim) gezeigt, einem kleinen Kino mit knapp 90 (sehr bequemen) Sitzplätzen, einer Umgebung, die, auch wenn die Leinwand im Vergleich zu den großen Kinopalästen notgedrungen deutlich kleiner ist, durch ihre in der Tat höhlenartige Atmo43 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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sphäre und das physisch dichte Am-/Im-Film-Sein dieser dezentriert-entspannten, im Sinne des Sich-Öffnens für primärvorgangshafte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsanteile regressiven Haltung entgegenkommt. Ich skizziere im Nachfolgenden einige Eindrücke dieses ersten Sehens, soweit sie mir noch zugänglich sind, die zu meinem Interpretationsansatz geführt haben. Da ich auf kein unmittelbar nach dem Film geschriebenes »Rezeptionsprotokoll« zurückgreifen kann, sind meine Eindrücke mit Beschreibungs- und Reflexionssplittern verbunden, die von diesem Ansatz her stammen. Die darin gelegene Zirkularität ist insofern unproblematisch, als ich nicht den Anspruch erhebe, meinen Ansatz als zwangsläufige Konsequenz aus meinen Ersteindrücken darstellen zu wollen. Er ist vielmehr eine Möglichkeit, im Sinne eines »selected fact« (Bion, 1992) für mich signifikante Teile des Filmmaterials zu organisieren. Der Anfang des Films (Prolog) war bildintensiv und verwirrend zugleich. In extremer Zeitlupe gedrehte Handlungssegmente folgten aufeinander, alle hatten ihre Zeit, Zusammenhänge schienen nicht notwendig zu existieren, daher die Verwirrung, die sich bald aber durch die Intensität und Ruhe der fast standbildhaft wirkenden Teilsequenzen legte und sich sozusagen in das jeweilige gedehnte Jetzt auflöste. Ein urlange nicht gehörter, ruhig-langsamer Song der Gruppe »Emerson, Lake & Palmer« mit ein paar Textfragmenten »A man with white horses […] oh, what a lucky man he was« ging mir durch den Kopf; der Grundton der Bilder dunkel, ein Bild Brueghels »Die Heimkehr der Jäger«, das langsam in Brand gerät und in Asche zerfällt, die Ouvertüre aus Richard Wagners »Tristan und Isolde«. Das letzte Bild des Prologs zeigt zwei dunkel leuchtende Planeten, der kleinere fliegt langsam auf den größeren zu, bohrt sich in ihn hinein – eine Katastrophe, die zugleich wie eine geschlechtliche Verschmelzung wirkt und, warum auch immer, in meinem Erleben eine Art aufnehmenden, befriedenden Abschluss dieses Teils darstellte. 44 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Das Container-Contained-Modell

»Justine«, der erste Teil nach dem Prolog, führt in eine ganz andere Welt. Wir befinden uns auf einem kultiviertreichen Landgut, wo in großem Stil Justines Hochzeitsfest stattfindet. Wie ihr Schwager John, der Mann ihrer Schwester Claire, diese immer wieder einmal wissen lässt, hat es ihn eine enorme Summe Geld gekostet. Weil die weiße HochzeitsStretch-Limousine für den engen Zufahrtsweg überdimensioniert ist und stecken bleibt, kommt das Brautpaar zu Fuß zwei Stunden zu spät an. Es entsteht so von Beginn an eine spannungsgeladene Atmosphäre, Zeitrahmen und Planung können nicht, je länger es dauert, umso weniger, eingehalten werden. Justine erscheint wie eingesperrt in ein ihr gegenüber negatives Personenquadrat aus ihrem Schwager, der ihr vorhält, dass sie das von ihm bezahlte Fest ruiniert, ihrem Chef, der sie zwar befördert, gleichzeitig ihr aber penetrant auf den Fersen ist, um die erwartete durchschlagende kreative Werbeidee von ihr zu hören, ihrer gehässigen Mutter, die ihr quasi alles Schlechte wünscht, und ihrem von der Mutter geschiedenen, selbstverliebt-unbezogenen, geckenhaften Vater, der sich zwei silberne Löffel in die Brusttasche seines Anzugs steckt. Der hilflos-jungenhaft wirkende Bräutigam Michael, ihre durchaus liebevoll und sorgend auf sie bezogene Schwester und deren kleiner Sohn, für den sie die starke Tante Stahlbrecher ist, bilden keinen zureichenden Schutz für sie. Es ist zu spüren, dass das Fest, das als solches ja Teil des rituellen Übergangs in einen neuen Lebensabschnitt sein soll, unter dem Druck der ihm ökonomisch aufgebürdeten Perfektionsansprüche und der Beziehungsspannungen als Rahmen brechen und in einem Desaster enden wird. Es wirkt wie ein Unheilszeichen, dass Justine am Himmel den neuen Planeten Melancholia sieht, über den sie ihr Schwager informiert – früher waren Kometen Vorboten des Unheils. Die Musik Wagners wie auch Bildmotive lassen bisweilen die Stimmung des ersten Teils anklingen. Innerlich gequält erlebte ich Ausbruchsversuche Justines nach draußen: Sie verlässt das Fest, schläft nebenbei mit einem 45 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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auf sie, das heißt die von ihr erwartete Werbeidee, angesetzten Angestellten ihres Chefs, später beleidigt sie den Chef in einer Weise, die den Bruch mit ihm bedeutet. Gleichsam komplementär versucht sie sich im Haus im Zimmer ihres kleinen Neffen wie in eine Schutzhöhle zurückzuziehen. Dasselbe bei ihrer Mutter, die sie aber nicht tröstet, sondern sie in einer solchen Weise kalt aus dem Zimmer wirft, dass es mir ins Herz schnitt. Und auch ihr Vater ist völlig unbereit und unfähig, sich ihr emotional zuzuwenden und ihr einen Halt zu geben. Das, was im Sinne des Übergangsritus der Höhepunkt des Fests für das Paar sein soll, scheitert: Justine kann und will nicht mit ihrem Bräutigam schlafen – das Zentrum des Fests stellt sich als Negation dessen heraus, wozu es gefeiert wird. Justine hat Michael innerlich verlassen oder hat ihn verloren, er verlässt sie, und beide wissen, dass es keine andere Lösung gibt.

Abbildung 5: Die Kälte der Mutter schneidet ins Herz

Im Morgengrauen verlassen alle Gäste das Landgut, mir war, als sei ein schwer erträglicher Spuk vorbei. Wir hören dabei noch, dass niemand die Rätselfrage bei der Begrüßung zum Fest richtig beantwortet hat, wie viele Bohnen in der mit Bohnen gefüllten Flasche seien. Das letzte Bild dieses Teils zeigt Justine und Claire beim morgendlichen Ausritt. Justines Pferd scheut vor einer Brücke, wieder ist die »Tristan«-Musik zu hören, und am Himmel hat sich der neue Planet vor den rötlichen Stern Antares im Sternbild Skorpion geschoben. 46 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Der zweite Teil Claire steht ganz im Zeichen des sich der Erde nähernden Planeten Melancholia. Claires Angst ist, dass er die Erde treffen und sie zerstören wird. Ihr Mann, dem das Landgut gehört, auf dem zuvor das Hochzeitsfest stattfand, anscheinend Kunstliebhaber, wie seine Bibliothek mit einer Reihe von aufgeschlagenen Kunstbüchern mit suprematistischen Bildern Kasimir Malewitschs nahelegt, und Hobbyastronom mit einem veritablen Teleskop, beruhigt sie, dass die Wissenschaft erklärt habe, Melancholia werde nicht mit der Erde kollidieren, und in der Tat führt dessen Bahn zunächst an der Erde vorbei. Dann zeigt ein Diagramm, dass die Bahn des Planeten zurückgebogen wird und die Kollision mit der Erde, das Ende der Welt unausweichlich ist. Diesem finalen Big Bang entzieht sich Claires Mann durch Suizid. Noch in der ersten Phase der Annäherung von Melancholia ist die schwer depressive Justine in einem desolaten regredierten Zustand, in dem sie wie ein kleines Kind unfähig ist, sich um sich zu kümmern, von Claire aufgenommen worden. Dank deren Fürsorge erholt sie sich, wobei für sie schon vor dem Vorbeiflug Melancholias klar ist, dass tatsächlich der Weltuntergang bevorsteht. In einer mich sehr berührenden Weise vollzieht sich dann eine Art Umkehr. Während Claire von ihrer Verzweiflung überwältigt wird, kann Justine die Ängste ihres kleinen Neffen, der die Entfernung und dann die Wiederannäherung Melancholias mitbekommt, aufnehmen und sie symbolisch transformieren. Sie baut mit ihm eine »magische Höhle«, in der sie geschützt seien. Im Schlussbild sieht man die beiden Schwestern und den Jungen, Justine und er ruhig mit geschlossenen Augen, Claire weinend und verzweifelt, in dieser skelettartigen Höhle aus Holzstangen sitzen, bis Melancholia die Erde trifft, akustisch begleitet von einem anschwellenden grollenden Geräusch, bevor sich alles im Schweigen in ein hellgraues Schlussbild auflöst, das noch einige Sekunden zu sehen ist. Auf der Ebene der Filmrealität habe ich Justines Verhalten ihrem Neffen gegenüber psychoanalytisch als Contai47 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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ning verstanden, mit dem sie seine unerträglichen Hilflosigkeitsgefühle in ein kreatives Handeln transformieren konnte. Natürlich kann die magische Höhle niemanden physisch vor dem Tod retten, und doch ist dieses, Justines Phantasie entspringende Projekt mehr als eine bloße Illusion: Es rettet das Kind – und bewahrt auch Justine selbst – vor der psychischen Vernichtung durch das drohende Nichts, an dessen Rand sich Claire befindet. Die nachfolgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, diese Idee für eine psychoanalytische Interpretation des ganzen Films zu nutzen, wobei ich dabei auch die kulturpsychoanalytische Perspektive ins Spiel bringen möchte. Ich beginne dazu mit einer methodischen Vorbemerkung zur interpretativen Konzeptualisierung von Filmen, stelle sodann eine mögliche kulturpsychoanalytische Konzeptualisierung im Rahmen der Filmpsychoanalyse dar und begründe, dass die primär individualpsychoanalytisch verstandene Konzeption des Container-Contained-Modells auch filmpsychoanalytisch verwendbar ist. Auf diesem Boden entwickle ich meine Interpretation von Melancholia, ergänzt um eine Schlussbemerkung zu Lars von Trier.1

Methodische Vorbemerkung Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (vgl. Schneider, 2008a; 2014), liegt psychoanalytischen Filminterpretationen eine Konzeptualisierung des Films zugrunde, eine bestimmte Perspektive, die oft implizit bleibt, in der der Film gesehen und in der über ihn nachgedacht wird. Eine damit verbundene Unterscheidung ist die, ob man in irgendeiner Form den Filmals-Ganzen zum Thema macht oder ob man sich primär auf etwas in oder an dem Film bezieht, das interpretiert werden soll. 1 In den drei nachfolgenden rahmentheoretischen Abschnitten greife ich auf eigene frühere Arbeiten zurück. Wörtliche Zitate daraus weise ich aus Lesbarkeitsgründen nicht aus.

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Das Container-Contained-Modell

Ein Beispiel für eine Konzeptualisierung der letzteren Art ist der klinisch-personbezogene Ansatz, in der das klinische Paradigma der Psychoanalyse genutzt wird, um die psychische Logik einer Figur und ihre psychische Entwicklung zu rekonstruieren. Eine den Film als Ganzen ins Auge fassende Konzeptualisierung wäre die, in der es um den Versuch der Rekonstruktion der dem Film zugrundeliegenden »Opus-Phantasie« des Regisseurs geht. Hierunter versteht der Literaturwissenschaftler Peter von Matt »eine bestimmte Art von Metaphantasie«, »die sich um die Gestalt des fertigen Produkts dreht« und die »nichts anderes zum Inhalt hat als das fertige Werk, das Opus« (1979, S. 200; vgl. Zwiebel, 2012, S. 126 f.). Ein anderes Beispiel ist der kulturpsychoanalytische Ansatz, einen Film als soziokulturelles Symptom zu interpretieren. Die Wahl einer Konzeptualisierung entsteht im Kraftfeld der Begegnung des Interpreten mit einem Film. Dessen idealtypische Pole sind zum einen das vorgängige Erkenntnisinteresse des Interpreten, das er an den Film heranträgt, zum anderen – analog zur Begegnung mit einem Patienten – das Sichbestimmen-Lassen durch den je spezifischen Film. Was die konkrete Vorgehensweise betrifft, so lässt sich das Strukturprinzip des klinischen psychoanalytischen Arbeitens, das sich zwischen dem Pol der assoziativ-gleichschwebenden, afokalen Grundhaltung und dem Pol des fokussierendzielgerichteten, interpretativen fokalen Bestimmens bewegt (vgl. Schneider, 2003; Klüwer, 2006), mutatis mutandis auf das filmpsychoanalytische Arbeiten übertragen. Die afokale Grundhaltung hat ihren systematischen Ort im Erst­ erleben des Film-als-Ganzen und kann im weiteren Verlauf der Beschäftigung mit ihm zum Beispiel mit Bezug auf einzelne Szenen immer wieder zum Zweck der Generierung von kognitiv-emotionalen Erlebensdaten eingenommen werden, die der weiteren interpretativen Verarbeitung bedürfen. Diese vollzieht sich in der konkreten Bezugnahme auf das phänomenal und objektivierbar Gegebene des Films und bildet den 49 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Kern der fokalen Arbeit, die dementsprechend bottom-up von der Filmoberfläche ausgeht. Psychoanalytische Konzepte und Theorien stellen einen Resonanzraum dar, in dem auf der Grundlage der Oberflächenbefunde eine psychoanalytische Interpretation formuliert wird.

Die kulturpsychoanalytische Perspektive In der kulturpsychoanalytischen Konzeptualisierung, so wie ich sie hier verstehe, wird ein Film als Symptom eines soziokulturellen Feldes verstanden, dessen psychoanalytische Reflexion voroder unbewusste Konflikte und Phantasien und, allgemeiner, unbewusste Befindlichkeitsaspekte dieses Feldes zu beleuchten vermag (vgl. Schneider, 2008a; 2008b; 2014). Symptome sind in diesem Zusammenhang ganz allgemein Zeichen für etwas, nicht Krankheitszeichen im engeren Sinne. Filmtheoretisch gesehen schließt diese Konzeptualisierung an die sozialpsychologische Betrachtungsweise Siegfried Kracauers (1947/1958) an, nach der Filme »ein Spiegelbild nicht so sehr von ausgesprochenen Überzeugungen und Glaubenssätzen, als von bestimmten seelischen Veranlagungen [sind] – jenen tiefen Schichten einer Kollektivgesinnung, die mehr oder minder unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen« (1947/1958, S. 8). Dabei ging es Kracauer »nicht um den Nachweis vermeintlich ›zeitloser‹ nationaler Charaktereigenschaften […], sondern um die seelischen Anlagen eines Volkes zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte« (S. 8 f.). Die Bestimmung oder Eingrenzung des Analyseobjekts als Volk oder Nation ist in diesem Zusammenhang nicht zwingend. Man kann auch, ausgehend von den Oberflächenphänomenen eines Films, Aspekte der inhärenten (psycho-)dynamischen Logik eines kapitalistisch organisierten Systems analysieren, was in Zeiten einer globalisierten Weltgesellschaft von Bedeutung ist (Schneider, 2008b, S. 13; vgl. 50 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Laszig u. Schneider, 2008). Von weiterführendem Interesse ist, dass solche Filmpsychoanalysen Bausteine für eine phänomenfundierte, anschlussfähige allgemeine Kulturpsychoanalyse als psychoanalytische Reflexion der gegenwärtigen soziokulturellen conditio humana liefern können. Ich verweise dafür unter anderem auf die Analysen von Tom Tykwers Lola rennt (1998), Sam Mendes’ American Beauty (1999), Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999), Nico Hofmanns Solo für Klarinette (1998) (vgl. Schneider 2008b, S. 12 f.) sowie Darren Aronofskys Black Swan (Schneider, 2012a).

Das Container-Contained-Modell und seine filmpsychoanalytische Relevanz Das von Wilfred R. Bion (1959/1990) aus der klinischen psychoanalytischen Erfahrung heraus entwickelte ContainerContained-Modell (C-C-M) dient dazu, die Entwicklung der kindlichen Psyche in der Interaktion mit dem frühen zentralen Bezugsobjekt, traditionell der Mutter, zu beschreiben (vgl. Schneider, 2009; 2013; Härtel u. Knellessen, 2012). Danach liegen die Anfänge des psychischen Funktionierens im Sinne einer Verarbeitung von inneren emotionalen Zuständlichkeiten im Außen, in einer fremden Psyche. Das geschieht so, dass der Säugling seine unverdauten Zustände durch projektive Identifizierung in ihr unterbringt (contained) und sie das Aufgenommene verarbeitet (container). Diese modifizierten und erträglich gemachten Zustände kann der Säugling introjektiv wieder in sich zurücknehmen. Im Laufe solcher ProjektionsReintrojektionszyklen wird vom Kind der Entgiftungsprozess, der aus dem für es selbst zunächst nicht Verdaubaren einen durch den Verarbeitungsprozess der Mutter verdaubar-erträglichen emotionalen Zustand macht, verinnerlicht, sodass im Säugling selbst ein entsprechender psychischer Verarbeitungsapparat entsteht. Dabei sind auch negative, destruktiv wirkende Container oder Minus-Container bzw. negative 51 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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oder Minus-Container-Contained-Beziehungen möglich (vgl. Sandler, 2005, S. 160–174; Grotstein, 2007, S. 151–167). Die Bedeutung des C-C-M geht über den entwicklungspsychoanalytischen und klinisch-psychoanalytischen Bereich hinaus. Einige Beispiele sollen das für den kunst- und kulturpsychoanalytischen Bereich belegen (vgl. Schneider, 2009): ȤȤ Wort und Bedeutung (Bion, 1970, S. 93 f., S. 106): Ein Wort beinhaltet (contains) eine Bedeutung, wie »ohnmächtige Wut« die damit bezeichnete spezifische Affektlage. Auch die Umkehrung ist möglich, das heißt, etwas, das als abgrenzbare Zuständlichkeit emotional bedeutungshaften Charakter hat, kann ein Wort in sich bergen (contain), das entdeckbar ist, aber nicht notwendig entdeckt wird, etwa eine ästhetische Erfahrung wie »Ausgewogenheit«. Dabei ist die C-C-Beziehung als spannungsvoll zu verstehen: Ein als Container verwendetes Wort für eine emotionale Erfahrung kann durch sein Eigengewicht, das es zum Beispiel durch seine Konnotationen hat, die Erfahrung selbst so überlagern, dass es sich gleichsam an deren Stelle setzt, und umgekehrt kann wie im Fall eines Stotterers die emotionale Erfahrung so heftig sein, dass die Worte zerfallen und die Erfahrung nicht in sich zu halten vermögen. ȤȤ Theorie, soziokultureller Diskurs und Erfahrung: Die gerade formulierte dynamische Enthaltenseinsbeziehung gilt auch für das Verhältnis von Erfahrungen und ihren Organisationsformen, wie sie zum Beispiel der soziokulturelle Diskurs, Theorien, Konzepte, Überzeugungssysteme und so weiter darstellen. ȤȤ Soziokulturelle Institutionen und Erfahrung: Das Gleiche gilt für gesellschaftliche Institutionen wie Übergangsriten (zum Beispiel Heirat, Statuswechsel), Feier- und Trauerrituale zum Umgang mit basalen Emotionen (zum Beispiel Tod) oder sonstigen, die individuelle Ebene überschreitenden, kollektiv bedeutsamen Markierungen des sozialen Lebens (zum Beispiel Machtwechsel). 52 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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ȤȤ Kunst und künstlerischer Schaffensprozess: Im Rahmen der Analyse von Malewitschs Bild »Schwarzes Quadrat« (1915) habe ich mich des C-C-M für ein allgemeines Modell des künstlerischen Schaffensprozesses bedient (vgl. Schneider, 2001, S. 1273–1283). Dabei verstehe ich unter Kunst die Gesamtheit der Mittel, Techniken, Stile, Materialien, theoretischen wie praktischen Überlegungen, die dem Künstler aufgrund seiner Ausbildung und Entwicklung materialiter wie psychisch in Form eines künstlerischen Zweckund Verwendungswissens zur Verfügung stehen. Dieses psychisch-materiale Zur-Verfügung-Stehen von Kunst hat eine quasi mütterliche Container-Funktion in der Hinsicht, dass es den unstrukturiert-magmatischen Rohstoff einer potenziell schöpferischen, spannungsvollen psychischen Zuständlichkeit (das Contained) in ein strukturiertes Kommunikat zu transformieren erlaubt. Dabei ist die Kunst als Container nicht einfach als in sich passiv, vom aktiven Künstler nur zugreifend verwendet vorzustellen, sondern fungiert durch die in ihr historisch wie individuell gewachsenen Erfahrungsstrukturen selbst ihrerseits aktiv. Man kann sich also das Verhältnis zwischen Kunst als internalisiertem Verwendungswissen mit Bezug auf die externen Kunstmittel und den Künstler als Subjekt eines prä-kreativen Spannungszustands im Sinne des C-C-M vorstellen. Ein Nutzen dieser Vorstellung ist, dass sie die Subjektivität des Künstlers und die Objektivität seines Werks zusammenzudenken ermöglicht. Zudem kann man mit ihr künstlerische Entwicklungswege und Innovationen als destru-kreative Transformationsprozesse bisheriger KunstContainer rekonstruieren. Die vorangehenden Überlegungen zeigen zum einen, dass ganz allgemein das C-C-M im Bereich der Kultur-, Kunstund damit auch der Filmpsychoanalyse Verwendung finden kann. Zum anderen geben sie Hinweise auf unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten. So kann das C-C-M auf 53 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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der Individualebene zum Verständnis einzelner Personen oder von Beziehungskonstellationen genützt werden. Kulturpsychoanalytisch ist die Analyse von möglicherweise im Film thematisierten soziokulturellen Institutionen wie Familie, Fest, Kunst, Sport in ihrer Funktion oder Miss-Funktion als Container (Minus-Container) von besonderem Interesse. Als Beispiel kann ich hier auf Pier Paolo Pasolinis Film Teorema (1968) verweisen, in der die wichtigen soziokulturellen Container Familie, Kunst und Kirche als den Eros vergiftende Minus-Container vorgeführt werden (Schneider, 2012b). Spätere Hollywood-Filme wie Clint Eastwoods Million Dollar Baby (2004) oder Darren Aronofskys The Wrestler (2008) dekonstruieren das institutionelle Scheitern des amerikanischen Traums, über den Sport als Individuum anerkannt, als jemand Besonderes gesehen zu werden – vielmehr erweist sich der Sport als zerstörender Minus-Container (vgl. Schneider, 2013, S. 23 ff.). Darüber hinaus kann nach dem Gesagten zum Beispiel danach gefragt werden, ob der Film-als-Ganzes eine (Minus-) Container-Funktion hat und worin sie gegebenenfalls besteht. Ferner kann in der für Malewitsch beschriebenen Weise schaffens- oder innovationsbezogen in der Containerperspektive die Frage nach der Entstehung oder dem Stellenwert eines Films gestellt werden.

Das Container-Contained-Modell als Zugang zu »Melancholia« – Meine Interpretation als Versuch eines Selbst-Containing Ich knüpfe in meiner Interpretation an die eingangs beschriebenen ersten Eindrücke und inneren Erfahrungen mit dem Film an. Insgesamt standen nach dem ersten Sehen eine Reihe von Fragen im Raum, zum Beispiel warum sich Claires Mann John (Kiefer Sutherland) im Hinblick auf sein Kind Leo (Cameron Spurr) und seine Frau (Charlotte Gains­bourg) 54 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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so abrupt aus jeder Verantwortung davonstiehlt und sich umbringt, als er mit der Unausweichlichkeit des Weltendes konfrontiert ist. Warum es gerade der depressiven Justine (Kirsten Dunst) gelingt, das Kind innerlich zu schützen. Warum die Hochzeit so unausweichlich und, so scheint es zumindest zunächst einmal, so grundlos scheitert, denn es ist nichts von einem latenten konflikthaften Zerwürfnis zwischen Justine und Michael (Alexander Skarsgård) zu sehen, das aufbräche. Warum wir, so sehr sie auch atmosphärisch passt, Wagners Ouvertüre aus »Tristan und Isolde« hören, einer Oper, in der Tod und (Paar-)Liebe, also trennender Tod und vereinigender Eros zusammengebracht sind. Berührt und getroffen von Aspekten des Filmgeschehens, beeindruckt und aufgewühlt, die leibhaft fühlbar werdende Präsenz des absoluten Endes im Film, also des (auch eigenen) Todes, dazu eine Reihe unklarer Fragen und Einfälle – ein Zustand, den ich durchaus mit Verwirrung benennen könnte. Das könnte einer Intention von Triers entsprechen, der sagte, »er wolle Filme machen, aus denen der Betrachter verwirrt herausgeht«, um sich dann allerdings »einen Tag später zu fragen: ›Was war denn das für ein Mist?‹« (Schmidt, 2011). Psychoanalytisch gesprochen würde ich diese affektive Distanzierung eine Evakuation, eine Ausstoßung nennen, einen psychischen Vorgang also, um einen quälenden Frustrationszustand loszuwerden. In dieser Erwartung oder Aufforderung zur Ausstoßung bin ich von Trier nicht gefolgt, und zwar nicht nur, weil am nächsten Tag die Diskussion des Films in der Arbeitsgruppe anstand, sondern weil mich der Film innerlich in Beschlag genommen hatte, sodass mir diese Form der inneren »Entsorgung« unmöglich war. Gerade umgekehrt, der Film, so wie ich ihn aufgenommen und was er dabei in mir ausgelöst hatte, verlangte eine Art »Ver-sorgung« im Sinne einer analytischen »Zu-wendung«, und zwar in den beiden Formen der afokalen, ungerichteten Aufmerksamkeit als einer Spielart der Reverie wie in Form des fokalen filmpsychoanalytischen 55 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Nachdenkens mit dem Ziel eines Verstehens und der interpretativen Aufklärung und Auflösung der primären rezeptiven Verwirrung. Diesem Interpretationsprozess, zu dem natürlich das Wieder-Sehen des Films und die weitergehende Beschäftigung mit ihm gehörte, deren aktueller Skandierungspunkt (vgl. Schneider, 2000) die hier vorgelegte Arbeit ist, verstehe ich als eine Form des Containing, also als eine filmpsychoanalytische Realisierung des C-C-M.

Der Film: Justine Im Hinblick auf Justine als Zentralfigur des Films ist das C-C-M in mehrfacher Weise verwendbar. Im ersten Teil des Films ist zu sehen, was man als eine Art Kollaps ihrer Welt verstehen kann. Das Projekt des gemeinsamen Lebens mit Michael scheitert; sie selbst zerstört ihr berufliches Zuhause; sie erlebt eine, psychisch gesehen, grausame Zurückweisung durch die Eltern, an die sie sich emotional auf der Suche nach einer Containing-Beziehung für ihre Ängste, Verzweiflung und Gefühle der Hilflosigkeit sich selbst und ihren Zuständen gegenüber wendet. Ihre Mutter Gaby (Charlotte Rampling) reagiert mit einem: »Jetzt raus mit dir!«, als Justine in deren Schlafzimmer von ihrer Angst spricht (»Ich habe Angst«) – drastischer kann man ein Nicht-Containing, verbunden mit einem Hass auf das eigene Kind, filmreal nicht artikulieren. Ihren Vater Dexter ( John Hurt) bittet sie nach der Trennung von Michael, nach Abschluss des Festes im Haus zu bleiben, um dann am frühen Morgen noch einmal seine die ganze Zeit spürbare Gleichgültigkeit zu erleben, als sie zu ihm gehen möchte und feststellen muss, dass er mit den anderen aufbricht und das Haus verlässt. Man kann diese, wie es scheint aus Hass und Gleichgültigkeit resultierende Containing-Verweigerung der Eltern, als Abwendung der Primärobjekte und als Verlust eines guten inneren Objekts, verbunden mit dem Auftauchen eines 56 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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(selbst-)zerstörerischen inneren Objekts verstehen, was im Äußeren in den selbstzerstörerischen Handlungen der Festnacht und danach in Justines depressivem Zusammenbruch manifest wird. Psychischer Mikrokosmos und Makrokosmos scheinen einander zu entsprechen. In dieser Nacht sieht Justine zum ersten Mal durch das Fernrohr ihres Schwagers den neuen Planeten Melancholia, noch einmal beim Ausritt mit Claire, als ihr Pferd an einer kleinen Brücke scheut und nicht dazu zu bewegen ist, die Brücke zu überqueren. Claire schaut zum Himmel und meint: »Antares ist nicht zu sehen«, Melancholia steht vor ihm. Antares, Hauptstern im Tierkreiszeichen des Skorpions, hat seinen Namen wegen seiner rötlichen Farbe, die der des Planeten Mars ähnlich ist: Er ist das Gegenstück des Mars (Mars = Ares, der griechische Kriegsgott), wobei Mars zugleich astrologisch ein dem Zeichen Skorpion zugeordneter Planet ist. Der Planet Melancholia, der genau an der Stelle des Hauptsterns Antares des Skorpions steht, kann also als Repräsentant dieses Tierkreiszeichens aufgefasst werden, das astrologisch mit seelischer Spannung, Intensität, Heftigkeit, auch Umsturzbereitschaft und Gewalt verbunden ist (vgl. Ring, 1969, S. 208–226) – Mars ist der römische Kriegsgott und sein griechischer Gegenpart Ares ist der antiken Etymologie nach der »Schädiger« (Andresen et al., 1965/1994, S. 290, Sp. 2). Im Blick auf das Himmelszeichen, das von Spannung, Unruhe bis hin zu Gewalt spricht, scheut also das Pferd, es trägt Justine nicht über die Brücke hinweg auf die andere Seite. Um die alte Metapher von Pferd (Es) und Reiter (Ich) aufzunehmen: Die Triebkräfte weigern sich, das Ich weiterzutragen, wie es in der nachfolgenden schweren Depression Justines Wirklichkeit wird. Die schwere Depression, in der wir Justine erleben, nachdem Claire sie einige Zeit später auf das Landgut zurückholt, wird also in der filmzeitlichen Folge nicht unmittelbar mit dem Fest verknüpft, sondern mit dem Gewahrwerden Melancho57 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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lias als makrokosmischem astronomischem Ereignis. Versteht man die astronomisch-astrologische Konstellation als projektiven symbolischen Ausdruck für Justines inneren Zustand, so kann man die Szene als Gewahrwerden des oben angedeuteten psychischen Prozesses sehen, der den erneuten Ausbruch der Depression artikuliert. In dieser Hinsicht kann man wie Andreas Kilb (2011) das ganze Geschehen bis zur finalen Auslöschung als projektive Symbolisierung der Depression sehen: »Justines Trauer [sic!] gebiert einen Planeten, der die Welt vernichtet«. Ich möchte dieser Projektions- eine Projektions-Reintrojektions-These gegenüberstellen, die den eingangs angesprochenen transformativen Containing-Prozess, den der Regisseur meines Erachtens in Szene setzt, verständlich macht. Dank der liebevollen, fürsorglich-haltenden und durchaus mütterlichen Zuwendung Claires kommt Justine allmählich aus ihrem desolaten, körperlich bis hin zur Abhängigkeit regredierten Zustand heraus, dessen depressiver Charakter unverkennbar ist, zum Beispiel schmeckt ihr ihr früheres Lieblingsessen Hackbraten »nach Asche«. Parallel zu dieser Erholung wird Melancholia am Himmel größer, wobei zunächst aber eintrifft, was Claires Mann John sagt, der das Ganze als spektakuläres Ereignis betrachtet, es in seinem Teleskop verfolgt und beruhigend die Prognosen der Wissenschaftler verkündet, Melancholia werde an der Erde vorbeifliegen. Wieder also eine, jetzt aber positive Spiegelung von Makrokosmos und Mikrokosmos: Auf einen Zustand schlimmer Bedrohung (Annäherung des Planeten, Depression) folgt die Rettung (Vorbeiflug, die symptomatische Wiederherstellung Justines). Andererseits vollzieht sich in Justine so etwas wie eine melancholische Radikalisierung, sie identifiziert sich mit Melancholia, in dessen fahlblauem Licht sie eines Nachts, noch in der Vorbeiflugphase, sich gleichsam badet, »als wollte sie sich wie der antike Endymion mit ihm vermählen« (Kilb, 2011). Endymion ist eine Figur der griechischen Mythologie, geliebt von der Mondgöttin Selene, der von Zeus »ewige Jugend und ewigen Schlaf, in dem er von 58 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Selene besucht wird«, geschenkt bekommt – der Mondschein fällt auf ihn – und dabei fünfzig Töchter mit ihr zeugt (Andresen et al., 1965/1994, S. 811, Sp. 1).

Abbildung 6: Justines Identifizierung mit Melancholia

In einem Gespräch mit Claire sagt Justine ihr die Zerstörung der Erde voraus, von der sie wisse, und kommentiert das mit: »Die Erde ist schlecht. Wir brauchen nicht um sie zu trauern. Wir sind allein«, wobei Claire, die positive Prognose der Wissenschaft vor Augen, ihr vorhält, sie habe »immer das Schlimmste vor Augen«. Wie sich bald darauf herausstellt, ist es aber nicht die ihrem Namen alle Ehre machende helle, lebenszugewandte Claire, die ihr Kind vor dem Unerträglichen beschützen kann, der letzten Aufgabe, die vor dem unausweichlichen absoluten Ende bleibt, sondern es ist die mit Melancholia, dem makrokosmischen Repräsentanten der Zerstörung, vor der es keinen Schutz gibt, identifizierte nachtblaudunkle Justine, die das vermag. Eine solche nichtdestruktive melancholische Identifizierung als Vorstellung des Regisseurs ist dann denkbar, wenn Melancholia (auch) als makrokosmische Realität im Sinne der Repräsentation einer tatsächlichen, der Welt innewohnenden Zerstörungsdynamik begriffen wird, als Vorstellung einer Apokalypse, die, alltagsreal genommen, angesichts vieler Entwicklungen nicht einfach als absurd abgetan werden kann. Was als melancholische Identifizierung gezeigt 59 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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wird, ist dann nichts anderes als das innere Zulassen einer tödlichen Wahrheit – oder anders: wird für Justine zur inneren Repräsentanz einer unausweichlich auf die finale Katastrophe hin sich entwickelnden Welt, die im makrokosmischen Geschehen der Kollision mit einem Planeten – in der Realität könnte das ein Asteroid sein – sich konkretisiert. Meine oben formulierte Gegenthese zur Projektion ließe sich dann so formulieren: »Die Welt gebiert einen Planeten, der sie vernichtet. In Justines hellsichtiger Melancholie wird das erkannt, und sie kann sich der inneren Vernichtung widersetzen.« Indem Justine die Unausweichlichkeit ihrer Vernichtung als Spiegelung der Selbst-Vernichtung der Welt annimmt und verarbeitet, insofern also contained, kann sie wieder handeln und im Außen das leisten, was sie für sich geleistet hat: die Angst des Kindes vor der Vernichtung containen, wozu Claire nicht fähig ist.

Wissenschaft – Claire, John, das Kind Leo Als sich Melancholia zum ersten Mal der Erde annähert, bastelt sich der Junge eine in ihrem Durchmesser verstellbare, kreisförmige Drahtschlinge, durch die er den Umfang der am Himmel sichtbaren Planetenscheibe abbilden kann. Als er nach einiger Zeit wieder durch die auf den Planeten eingestellte Schlinge schaut, sieht er, dass diese sie bei weitem nicht mehr ausfüllt, das heißt der Planet hat sich beruhigenderweise von der Erde entfernt. Leo hat also als ein kleiner Wissenschaftler eine einfache Apparatur zur Beobachtung der Natur entwickelt, die in nuce die soziokulturelle Funktion der Naturwissenschaft klar macht: Sie bringt Ordnung in das Naturgeschehen, ermöglicht Prognosen und macht so, in der Regel selbst im negativen Fall, Kontrolle möglich, bestehe diese gegebenenfalls auch »nur« in einer präventiven Schadensbegrenzung, etwa bei der Vorhersage von Naturkatastrophen. 60 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Genau das aber kehrt sich im Film in apokalyptischer Weise um: Das wissenschaftlich gesicherte Wissen wird zur Quelle einer nicht mehr kontrollierbaren Angst. Bei Claire wird das spürbar, als sie Melancholia mit seiner Apparatur beobachtet und feststellt, dass die Planetenscheibe weit über den Drahtkreis der letzten Messung hinausreicht: Melancholia kehrt zurück und wird, wie wir als Zuschauer aus dem entsprechenden Diagramm Dance of Death wissen, mit der Erde kollidieren. Wie bereits beschrieben, sind es nicht die Eltern, die dem Kind helfen, damit umzugehen, es ist Justine, die mit dem Projekt der magischen Höhle ein transformatives Containing seiner Todesangst ermöglicht.

Abbildung 7: Das Instrument der Wissenschaft wird zur Quelle von Angst

Im Gegensatz zu Justine wendet sich sein Vater John, der ihn in der ersten Annäherungsphase mit dem astronomischen Geschehen vertraut gemacht hat, an die Wissenschaft als Container für seine Unwissenheit (und die damit verbundene potenzielle Angst), über ihn auch Leos Mutter Claire, die sich von John beruhigen lassen möchte, obwohl ihre untergründigen Zweifel bleiben, denn sie deckt sich quasi für alle Fälle für einen Suizid mit Schlaftabletten ein. Diese Funktion kollabiert, als schließlich wissenschaftlich wahr, bewiesen wird, dass die Bahn Melancholias sich auf die Erdbahn zurückwendet und es zu einer finalen Kollision kommen wird. Die wis61 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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senschaftliche Wahrheit des bevorstehenden Endes der Welt ist für John unerträglich. Er bringt sich mit den von Claire gekauften Schlaftabletten um, sie findet seinen zusammengekauerten Leichnam im Pferdestall – vielleicht kann man interpretieren, als habe er bei der animalischen Wärme der nicht denkenden und ihrer selbst nicht bewussten Tiere eine imaginäre Geborgenheit gesucht. Auch Claires Verzweiflung macht sie, wie ich skizziert habe, unfähig, ihrem Sohn gegenüber eine Containing-Funktion einzunehmen. Angesichts des von ihr selbst vorhergesagten Weltendes versagt also für John die Wissenschaft. Genauer gesagt, sie versagt als Halt und Container bei seiner Suche nach Sicherheit, die sie ihm vermitteln soll, im Gegenteil: Ihre Wahrheit erweist sich als vernichtend, wie es schon in Claires prophylaktischem Tablettenkauf anklang. Meine These ist, dass der Regisseur damit etwas ins Bild setzt, das man kulturpsychoanalytisch als Versagen oder besser: Zerbrechen eines zentralen soziokulturellen Containers bezeichnen kann, denn nach der bei Leos Herstellung einer einfachen Messapparatur skizzierten Primärfunktion von Wissenschaft ist diese ja die rationale Institution schlechthin zur Bindung der Angst, die aus der menschlichen Hilflosigkeit und der drohenden Überwältigung des Menschen durch die Natur resultiert. In dieser Funktion hat sie zunächst in der Einheit mit der Philosophie den Mythos abgelöst und hat sich dann in der Neuzeit in der klassischen Trias MathematikAstronomie-Physik von der Philosophie getrennt. Als »unser Gott Logos«, wie es Sigmund Freud (1927, S. 378) gegen die »Illusion« der Religion auf den Punkt gebracht hat, hat die neuzeitliche Wissenschaft/wissenschaftliche Rationalität den früheren soziokulturellen Zentralcontainer Religion desavouiert und sich an seine Stelle gesetzt. Als einen solchen soziokulturellen Container kann man nach den früheren Ausführungen auch die Kunst verstehen, wobei ihr transformatives Potenzial nicht nur für den Künstler, sondern auch die Rezipienten gegeben ist. Die Container62 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Konzeption von Kunst kann als eine Weiterentwicklung der von Freud konstatierten palliativen (1932, S. 173) und »Ersatzbefriedigung[s]«-Funktion (z. B. 1930, S. 433) aufgefasst werden (vgl. Schneider, 1999, S. 23 ff.). Aufgrund der Art seiner Kunstbibliothek und der aktiven Präsentation von Bildwerken in allem Anschein nach sehr guten Reproduktionen aus einer ganzen Reihe geöffneter großformatiger Kunstbände wie in einer Art Bildergalerie lässt sich vermuten, dass John auch Kunstliebhaber ist und ihm der Umgang mit Kunst lebenspraktisch wichtig sein könnte. Die obige These zur Wissenschaft aufnehmend hieße das: Auch die Kunst funktioniert in der existenziellen Endsituation für ihn nicht mehr als helfender Container. Nimmt man hinzu, dass der Film auch das Zerbrechen der Container Hochzeit/Fest dargestellt hat, so kann man den Film im Hinblick auf die handelnden Personen und das soziokulturelle Feld, in dem sie stehen, so verstehen, dass er in differenzierter und vielfältiger Weise das Nichtfunktionieren zentraler personaler wie soziokultureller Containing-Beziehungen in Szene setzt.

Kunst – Suprematismus, Dogma Nun ist Melancholia selbst ein Werk der Kunst, sodass sich die Frage nach dem Containing über die bisher behandelte Ebene der Protagonisten hinaus auch mit Bezug auf den Film-alsGanzen stellt. Die oben angesprochene Bildergalerie besteht im zweiten Teil des Films »Claire« aus einer Reihe von suprematistischen Werken Malewitschs (vgl. Schneider, 2001). Atmosphärisch passt das während der ersten Annäherung Melancholias zunächst zur leicht euphorischen Gestimmtheit von John, den die Annäherung als »das erstaunlichste Ereignis«, das man sich vorstellen könne, fasziniert; denn der Suprematismus evoziert Gefühle eines unbestimmten freien Schwebens, 63 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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das weg von der einengenden gegenständlichen Bestimmtheit des Vertrauten in das Gefühl einer freien kosmischen Weite führen will. Dies entspricht historisch dem Aufbruchsgefühl Malewitschs, der mit dem Suprematismus seine neue, die bisherige Kunst hinter sich lassende und sie überwindende Form gefunden zu haben meinte, wie es schon in der Bezeichnung Suprematismus von suprématie = Überlegenheit, Herrschaft, Oberhoheit (S. 1274) zum Ausdruck kommt. Ihrer emotionalen Qualität nach sind also diese Bilder keine Endzeit-Bilder, sie werden, wenn man so will, durch das weitere Geschehen, »den Lauf der Dinge« im Film gleichsam widerlegt.

Abbildung 8: Ein Verhalten, das aus dem Rahmen fällt

Das verweist zurück auf die zunächst unverständliche Szene auf dem Fest im ersten Teil »Justine«, in der der Vater sich zwei silberne Löffel in die Brusttasche seines Anzugs steckt, ein Verhalten, das so sehr aus dem Rahmen fällt, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht, und noch einmal dadurch unterstrichen wird, dass er diese Geste wiederholt. 1914 in seiner futuristischen Zeit trat Malewitsch mit einem Holzlöffel am Rockaufschlag auf, was Aufbruch und Befreiung symbolisierte: »Wenn der leibeigene Bauer sein Schicksal ändern wollte, dann hatte er nur eine Möglichkeit dazu: Flucht zu den freien Kosakenansiedlungen. Auf den […] langen Weg nahm er meist nichts anderes mit als einen Holzlöffel. So wurde der 64 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Löffel zum Symbol für den Weg eines Menschen, der alles Vergangene hinter sich lässt und auf der Suche nach der Freiheit ins Unbekannte aufbricht« (Lamacˇ, 1978, S. 31). Durch die Geste des lächerlichen Vaters wird diese ursprüngliche Befreiungsgeste folglich karikiert. Angesichts des apokalyptischen Endes – vielleicht auch: durch dieses Ende – wird also die Befreiungsgeste und die mit ihr verbundene Kunstrichtung des Suprematismus angegriffen, wenn nicht gar negiert. Das nun lässt sich unmittelbar auf den Regisseur selbst und seine künstlerische Entwicklung beziehen. Sieht man Melancholia als Ganzes und als Kunstwerk Film, so gehört zum Signifikat-Repertoire des Fests auch das Fest in Thomas Vinterbergs Film Das Fest (1998), der damals für Lars von Trier ein Aufbruchsfilm war: »Man kann diese mit schwankender Handkamera gefilmten Szenen nicht anschauen, ohne an Thomas Vinterbergs Familiendrama ›Das Fest‹ zu denken, mit dem […] die von Vinterberg und von Trier aus der Taufe gehobene ›Dogma‹-Bewegung begann« (Kilb, 2011). In Analogie zu dem, was ich im Hinblick auf die Karikatur der Malewitsch-Geste gesagt habe, sieht Kilb im Melancholia-Fest eine massive Absage an Dogma: »Die üppigen Dekors, das gleißende Kunstlicht, die Salonmusik und die internationale Besetzung […] wirken wie eine enthemmte Parodie auf den Purismus des ›Fests‹.« Überträgt man die weiter oben mit Bezug auf Malewitsch formulierten Überlegungen zur Kunst als Container, dann lässt sich also auch für den Regisseur von Trier von einem destru-kreativen Prozess der Transformation eines alten (Dogma) in einen neuen Container sprechen, die Elemente des Alten bewahrt (Handkamera), in der zitierten Weise ihn aber auch zurücklässt (Negation des Purismus). Dieser Prozess ist notwendig von Aggressionen begleitet (»enthemmte Parodie«), beinhaltet als deren andere Seite zugleich Trauer um den damit verbundenen Verlust: »Seit Jahren schon leisten Lars von Triers Filme Trauerarbeit um den großen Aufbruch […]; aber in ›Melancholia‹ ist seine Wehmut über die 65 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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gescheiterte Revolte zu beißendem Zynismus gereift« (Kilb, 2011).2

Heimat/Heimatlosigkeit, Apokalypse – »Melancholia« als Container Ein notwendig mit Verlust, Zerstörung und Trauer verbundenes neues Anfangen – das schließt die Rückkehr in die vertraute Heimat aus, selbst wenn der Wunsch dazu vorhanden ist. Vielleicht erschließt sich so die Bedeutung der zweiten wesentlichen Referenz auf die bildende Kunst, das Bild »Heimkehr der Jäger« (1565) (auch: »Die Jäger im Schnee«) von Pieter Brueghel dem Älteren. Es zeigt einige Jäger im Winter, die von der Jagd zurückkehren, oberhalb ihres Städtchens, in dessen Häusern man sie sich bald wieder in der Wärme ihres Zuhauses vorstellen kann. Eine solche Rückkehr aus der Kälte gibt es im Film nicht: Im Prolog sehen wir das Bild in Zeitlupe langsam verbrennen und zu Asche zerfallen. Ihr Lieblingsessen, sagt im zweiten Teil die schwer depressive Justine, schmecke »nach Asche«, also nach Heimatlosigkeit. Es gibt für sie keine Rückkehr in die Geborgenheit eines früheren Zuhauses, eines schützenden Einst.3 Hört man Heimat nicht einfach als Äquivalent für ein passiv-rezeptiv getöntes Zugehörigkeitsgefühl, sondern fasst den Begriff als Ausdruck für eine umfassende Organisation – dies im Sinne von (passiver) Struktur und (aktiver) Strukturierung – der Erfahrungen des In-der-Welt-Seins auf, dann ist Heimat-Losigkeit der Verlust eines umfassenden primären Con2 Es wäre interessant, der Frage nach einer eventuellen Parallele zur Wende Malewitschs vom Suprematismus zu einer Form von (suprematistischem) Realismus in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nachzugehen, was aber hier nicht geleistet werden kann. 3 Brueghels Bild spielt auch in Andrej Tarkowskijs Film Soljaris (1972) eine wichtige Rolle. Einer möglichen Verbindung zwischen den Filmen kann ich hier nicht nachgehen.

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tainers, psychoanalytisch formuliert, die Katastrophe des Verlusts des mütterlichen Primärobjekts. Im Film entspricht dem die Apokalypse, der Untergang, die Zerstörung der Erde, unser aller Mutter. Dies kann, wie ich oben ausgeführt habe, einerseits mikrokosmisch projektiv als Externalisierung der Depression Justines verstanden werden, andererseits makrokosmisch aber auch als Annahme einer der Welt zum Beispiel durch das kollektive Verhalten der Menschheit objektiv innewohnenden Zerstörungsdynamik. Wahrscheinlich nicht ablösbar davon ist die judäo-christliche eschatologische Phantasie des Endes der Welt, wie sie in der apokalyptischen Vision des Johannesevangeliums formuliert ist. Meines Erachtens gibt der Film einen (in)direkten Hinweis auf diese Ebene. Als Entrée zum Fest hatte jeder Gast die Zahl der Bohnen zu schätzen, die sich in einer Flasche befanden. Des Rätsels Lösung wurde beim Abschied gegeben, die Anzahl ist 678. In der »Offenbarung des Johannes« heißt es zum »Tier aus dem Land«: »Hier braucht es Weisheit; wer Verstand besitzt, möge die Zahl des Tieres berechnen, es ist eine Menschenzahl; sie heißt: Sechshundertsechsundsechzig« (Off b, 13, 18; vgl. Die Heilige Schrift, 1958, S. 1524). Es wäre plakativ gewesen, die Zahl Sechshundertsechsundsechzig direkt zu nennen. Es gibt aber zwei aufschlussreiche Hinweise darauf, dass sie in 678 »versteckt« bzw. damit verbunden ist: 678 hat in der Ziffernfolge eine ähnlich einfache Ordnung wie 666, statt Repetition die repetitive Zunahme um eins, und es ist als Summe zerlegbar in 678 = 666 + 6 + 6. Andererseits ist dieser Zahlenbezug auch »schräg«, genauso wie es die Unterbringung der Referenz auf die Apokalypse im Bohnenrätsel ist. Ich verstehe die Anspielung deswegen wie oben im Hinblick auf Malewitsch zugleich als Karikatur. Auch hier wird die Phantasie eines Aufbruchs desavouiert: Das Ende ist das Ende ist das Ende, und nicht das Kommen des Gottesreichs. Das Zentrum des Films ist nach dem Gesagten der Prozess einer absoluten Zerstörung, der Tod von allem. Dies wird 67 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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am Ende des Films, beim Immer-größer-Werden Melancholias auch akustisch über ein sich steigerndes dunkles Grollen audiovisuell spürbar werdend, in der Auslöschung des gegenständlichen Filmbilds in ein gräuliches Nicht(s)-Bild sinnlich präsent. In diesem absoluten Ende liegt die innere Verbindung zu »Tristan und Isolde«, in deren Zentrum ebenfalls der Tod steht, genauer: der Liebes-Tod. Wagner gelingt es, in seiner Musik die Verbindung des Gegensätzlichen, von Eros und Tod, Vereinigung und Auflösung zu kom-ponieren, eine Einheit werden zu lassen. Das Analoge gelingt von Trier in Melancholia: das Zusammen, die Kom-position des Gegensatzes von absoluter Zerstörung und nichtillusionärer Generativität als Schaffung von Ordnung und Sinn audiovisuell präsent werden zu lassen. Ich habe das pars pro toto auf der Ebene der Filmerzählung an der Darstellung des Zerbrechens bzw. der Nichtexistenz elementarer individueller wie soziokultureller Container einerseits und der Schaffung eines Containers durch Justine andererseits gezeigt, trotz, ja sogar aus ihrer Depression heraus: das Projekt der magischen Höhle. Anders formuliert, dem Regisseur gelingt es, mit seinem Film einen Container für ein apokalyptisches Geschehen zu schaffen. Er selbst baut eine magische Höhle, in die der Zuschauer seine Untergangsängste und -phantasien zu projizieren vermag, und zwar nicht, um sie evakuativ einfach loszuwerden, sondern um sie in einer verdaubaren Weise in einem audiovisuellen präsentativen symbolischen Raum fühlreflexiv artikuliert zu finden. Der kleine Junge also potenziell auch der Zuschauer? Gelänge es dem Zuschauer, für diesen Teil von sich, das Angstkind in ihm, einen Justine-Container zu entwickeln – woraus auch immer, die Psychoanalyse und die Kunst könnten zu wesentlichen Elementen dabei werden –, dann ließe sich das Leben im Schatten des eigenen Todes als unvermeidlichem absolutem Ende leben.

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Schlussbemerkung zu Lars von Trier Könnte nicht das gerade Gesagte auch auf von Trier selbst bezogen werden? Dass er selbst an einer ausgeprägten Depression leidet, »hat er in zahlreichen Interviews offenbart« (Kilb, 2011), man vergleiche etwa sein Interview mit Nils Thorsen (2011) auf der Melancholia-Webseite. Nach dem Erscheinen von Antichrist (2009) sagte er, er habe »mit diesem Film […] seine Depressionen bekämpft« (Pilarczyk, 2011). Mit »›Melancholia‹ thematisiert er die Krankheit an sich«, wobei er »seiner Hauptdarstellerin zu Beginn der Dreharbeiten [sagte]«, sie »müsse zum Teil ihn selbst spielen«. Dann könnte der Bau der magischen Höhle Melancholia wie beschrieben zumindest temporär eine erneute (zeitweise) Rettung für von Trier (gewesen) sein.

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Wie im Kino. Zur Filmanalyse in der Gruppe – Methodologie der psychoanalytischen Film­ interpretation anhand von Lars von Triers Melancholia1

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as tun wir, wenn wir als Psychoanalytiker Filme interpretieren? Wir greifen das Angebot eines Kunstwerks auf, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und zwar – wenn wir dieses Angebot als Psychoanalytiker aufgreifen – aus der Sicht unserer psychoanalytischen Haltung, das heißt, wir suchen eine neue und überraschende Begegnung mit dem Kunstwerk, die etwas Unbewusstes bewusst macht. Wir nennen diese Sicht mit einem neuerdings gern bestrittenen (vgl. Reiche, 2000; 2011a; 2011b; zur Diskussion Hamburger, 2013a) Terminus »hermeneutisch« – verstanden als eher leichtfüßiger, »gleichschwebender« Zugang, der in der unmittelbaren Begegnung mit dem Material bereit ist, das Aufbrechen scheinbarer Selbstverständlichkeiten am eigenen Leib zu erleben und zu reflektieren. Gerade im Gebiet der Filmanalyse steht die Psychoanalyse derzeit vor der Herausforderung eines neuen Verständ1 Wir danken der Münchner Filmgruppe (zusammen mit den Autoren: Matthias Baumgart, Eva Friedrich, Salek Kutschinski, Mathias Lohmer, Irmgard Nagel, Vivian Pramataroff-Hamburger, Heidi Spanl, Corinna Wernz) und dem Publikum des Münchner Filmmuseums für Einfälle und Diskussionen.

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nisses philosophischer Hermeneutik. Unter dem Titel der »Dekonstruktion« werden psychoanalytische Konzepte gern als Ausgangspunkt einer hinterfragenden Lektüre »gegen den Strich« genutzt, um medialen Gegenständen überraschende Einsichten oder doch mindestens Ansichten abzugewinnen (vgl. Abraham u. Torok, 1976/1979).2 Strukturalistische und feministische Ansätze der Filmwissenschaft (Metz, 1972; 1975; Baudry, 1994; Mulvey, 2009a; 2009b; 2006) haben die klinisch orientierte Filmpsychoanalyse seit den späten 1960er Jahren vor entscheidende Herausforderungen gestellt. Daraus ist ein Diskurs entstanden, der mehr im Feld der Kultur- und Medienwissenschaften als im genuinen Bereich der Psychoanalyse geführt worden ist. Psychoanalytische Begriffe werden gern mit Rekurs auf Freud und Lacan, ohne Berücksichtigung neuerer Entwicklungen in der Psychoanalyse zur Anwendung gebracht, sodass man als Psychoanalytiker gelegentlich den Eindruck gewinnt, es tue wieder einmal Not, Freud »gegen seine Anhänger zu verteidigen« und darauf zu verweisen, dass Psychoanalyse ohne die leibliche Präsenz des analytischen Prozesses nicht simuliert werden kann. Psychoanalyse bezeichnet nicht nur einen intellektuellen Diskurs, sondern auch eine emanzipatorische Praxis.

Hermeneutik und psychoanalytische Interpretation Die filmpsychoanalytische Tradition reicht bis in die 1950er Jahre zurück, hat jedoch seit der Verfügbarkeit von DVDs erheblichen Auftrieb gewonnen. In einer Überblicksarbeit beschreibt Glenn Gabbard (2001) sieben Aspekte, die Psychoanalytiker in Filmen untersuchen: kulturelle Mythen, die Subjektivität des Filmemachers, menschliche Entwicklungskrisen, 2 Hamburger (2013a, S. 166 ff.) gibt eine Übersicht der Analyseansätze und setzt sich mit einigen dekonstruktivistischen Ansätzen auseinander.

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die Anwendung von Freuds Theorie der Traumarbeit auf den Film, die Zuschauerreaktion, die Verarbeitung psychoanalytischer Konstrukte im Film und schließlich die Analyse von Filmfiguren. Manche dieser Ansätze dürfen durchaus noch als zeitgemäß gelten, etwa die Explikation zugrundeliegender kultureller Mythen: Sie entspricht der Auffassung, dass Filme letztlich kulturelle Symptome darstellen – Parfen Laszig und Gerhard Schneider haben 2008 diesem Gedanken einen Band zur Filmpsychoanalyse gewidmet. Auch die Subjektivität des Filmemachers als Forschungsansatz spielt noch eine Rolle. Nicht mehr im Sinne eines veralteten psychopathographischen Ansatzes, sondern sie reflektiert das starke Interesse am Film als Produkt eines (virtuellen?) Autors und seine Position in dessen Werk, vor allem im cinéma auteur. Ralf Zwiebel hat mit seiner »interkontextuellen« Methode zum Beispiel am Œuvre von Hitchcock quer über die einzelnen Filme hinweg eine regelhafte Inszenierung des »Abgrunds« nachgewiesen (Zwiebel, 2007). Aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive kann freilich gefragt werden, ob Hitchcocks persönliche Konstante, die sich durch seine Filme zieht, wirklich der Gegenstand ist, um den es geht – oder ob eben doch die Rezeptionsgemeinschaft der Zuschauer, das Publikum es ist, das sich diesen Regisseur als stellvertretenden Exponenten »hält«, der ihm das Imaginationsbedürfnis des Abgrunds erfüllen kann. In dieser Perspektive wäre auch die Subjektivität des Filmemachers ein »kulturelles Symptom«. Der heute bedeutendste Ansatz aus Gabbards Liste ist freilich die Analyse der Zuschauerreaktion, auf die wir im Folgenden ausführlicher eingehen werden. Ein methodologisches Grundelement übernimmt die psychoanalytische Interpretation von Filmen aus der klinischen Praxis der Psychoanalyse, jener »ungewöhnlichen Gesprächssituation« (Argelander, 1970), ein Gespräch, in dem es nicht um die bewusste Mitteilung geht, vielmehr um dahinter verborgene, unbewusste Momente, die sich durch die Weise der Übermittlung kundgeben. 74 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Der Analytiker achtet darauf, welche Szene das Gesagte hervorruft, welche Gefühle beim Patienten und beim Analytiker aufkommen. Er verbindet diese Figuren mit seinem Wissen um die Symptome und um die Lebensgeschichte des Patienten und bemerkt die sich aus dieser Verbindung ergebenden neuen, überraschenden Zusammenhänge. Überraschend sollten sie sein, sonst wären sie nicht der gesuchte unbewusste Sinn. Dieses stets wache Begleiten unterscheidet die analytische Haltung radikal von der Haltung des Alltagsdialogs. Den Einblick in dieses begleitende Reflektieren, den wir mitteilen, nennen wir Deutung.

Klinische und interdisziplinäre Dialoge Neben dem klinischen Erfahrungsraum gibt es eine zweite Ebene der Verfertigung psychoanalytischer Interpretationen. Es ist die Extrapolation der Erfahrung in den klinischen Diskurs (in dem dann etwa Behandlungstechnik und Psychopathologie verhandelt werden), und über diesen vermittelt in die kulturellen Diskurse der Wissenschaft und der Kunst. Beide Ebenen sind notwendig getrennt und ebenso notwendig miteinander verflochten. Freud hat dies das »Junktim zwischen Heilen und Forschen« genannt. In dieser Vermittlung steht die Psychoanalyse im Dialog mit Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften, aber auch den Kulturwissenschaften. Wesentlich ist, dass die beiden Ebenen nicht auseinanderreißen. Abschottungsbewegungen innerhalb des psychoanalytischen Diskurses wie die Medizinalisierung auf der klinischen und die Verabsolutierung psychoanalytischer Kategorien auf der kulturtheoretischen Seite mögen zwar die Kohäsion der Subgruppen fördern und die Anerkennung durch die jeweils benachbarten Wissenschaften erleichtern. Aber wenn der Kontakt zwischen Kulturtheorie und der klinischen Situation abreißt, so kappt das den Nerv der Psychoanalyse. Als Hei75 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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lungsverfahren steht Psychoanalyse nah beim Subjekt. Sie will eben nicht das Besondere der gelebten Geschichte unter eine allgemeine Psychopathologie subsumieren, sondern es gegen das Allgemeine geltend machen und ihm eine Stimme verleihen (vgl. dazu auch Zwiebel, 2013). Auch als Kulturtheorie lebt die Psychoanalyse aus dem Blickwinkel des empirischen, leidenden Subjekts, mit dem sie es im Behandlungszimmer zu tun hat. Dort wird die Einführung eines einzelnen Menschen in die Zivilisation rekonstruiert, und erst aus dieser kleinschrittigen, individuellen Aufdeckungsarbeit gewinnt die Psychoanalyse das Instrumentarium, den zivilisatorischen Prozess konzeptuell zu beschreiben. Verlässt sie diesen erkenntnisleitenden Blick, so verliert sie mit ihm auch ihren archimedischen Punkt und unterscheidet sich systematisch nicht mehr von einem Bündel anderer Diskurse, selbst wenn sie den Namen einer Psychoanalyse noch im Schilde führt.

Der Film und das psychoanalytische Unternehmen Wir betreten den Kinoraum, um dort auf einer vor und nach der Vorstellung leeren, weißen Leinwand Lichtpunkte zu besichtigen und aus den Lautsprechern Töne und Geräusche zu hören. Diese Lichtpunkte, Töne und Geräusche sind so angeordnet und miteinander synchronisiert, dass der Zuschauer sich (in der Regel) leicht der Illusion überlässt, Zeuge einer Handlung zu sein.3 Tatsächlich ist er das nicht, und das weiß er. Alle Handlungen, die im Verlauf der Produktion des Films tatsächlich stattgefunden haben 3 Auf die Einzelheiten der Filmästhetik, -narrativik und -technik kann hier nicht eingegangen werden. Schon die Aufzählung der wichtigen Überblickswerke aus Film- und Medienwissenschaft würde zu weit führen. Stellvertretend genannt seien Elsässer und Hagener (2007), Engell (2010), Faulstich (2002), Hickethier (2007), Kuchenbuch (2005), Bordwell (2001), Steinmetz (2005), Rabenalt (2011).

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mögen, um von Kameras und Mikrofonen aufgezeichnet und als Rohmaterial für die spätere Produktion des Films verwendet zu werden, liegen zum Zeitpunkt der Filmrezeption lange zurück und sie waren niemals so, wie wir sie im Film sehen. Schon der Begriff »Aufnahme« etwa suggeriert, dass die Kamera passiv sei. Das ist sie, was schon seit Méliès klar wurde, beileibe nicht. Sie schneidet ein Rechteck aus dem gegebenen Raum und macht es zu einer Fläche. Sie akzentuiert durch Nutzung von räumlichen und Lichtarrangements, sie schwenkt, fährt, zoomt, stellt Bildebenen scharf und andere unscharf. Das Bild unterliegt einer präzisen und hoch bewussten Regie. Wir sind im Kino nicht, wie wir glauben, Augenzeuge eines Geschehens, sondern wir sind Geführte, man könnte auch sagen: Genasführte. Die Illusion der Zeugenschaft ist freilich einer der wirksamsten Hebel in der Filmkunst, und wenn ein Film – abgesehen von dem absichtlich eingesetzten Stilmittel des Illusionsbruchs – es nicht vermag, diese Illusion zu erzeugen, funktioniert er nicht. Jurij Lotman beschrieb schon vor vierzig Jahren die Dialektik der vermeintlichen Zeugenschaft in seinem Klassiker zur »Semiotik des Films«. Er stellte fest, dass der Film den Zuschauer zum vermeintlichen Augenzeugen macht, dass er aber, um ein Kunstwerk zu werden, diese quasidokumentarische Macht erst überwinden muss. »Jede neue technische Errungenschaft [muss], ehe sie ein Faktum der Kunst werden kann, vom technischen Automatismus befreit werden« (Lotman, 1977, S. 27).

Gattungsspezifische Rezeption Kunstgattungen unterscheiden sich unter anderem durch unterschiedliche Rezeptionssituationen. Ganz allgemein fordert das Kunstwerk zur Hingabe auf (Hamburger, 1996). Selbst wenn es – gar kein so seltener Fall – kein Publikum 77 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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findet, so ist es doch immer darauf ausgerichtet. Denn Kunst ereignet sich in der Rezeption, im performativen Akt der ästhetischen Erfahrung (vgl. Hamburger, 1996; Warning, 1994; Mahler-Bungers, 2013). Wie aber genau diese Aufforderung aussieht, welche Rezeptionssituation das Werk evoziert, ist schon durch seine Gattungszugehörigkeit weitgehend determiniert. Kennzeichnend für die dramatischen Gattungen ist: Der Rezipient ist nicht allein.4 Dennoch ist hier eine wichtige Differenz festzuhalten: Im Theater ist der Zuschauer Teil einer räumlichen Kohärenz mit dem Geschehen der Bühne. Anders im Film. Auch hier ist der Zuschauer nicht allein, wenn auch in anderer Weise zusammen als im Theater. Ins Kino gehen wir als kollektiv Einsame, angeschlossen an einen »Beeinflussungsapparat« (Tausk, 1919), einen Ablauf, den wir nicht steuern können, nicht einmal wenn wir Eier werfen.5 Freilich ist auch im Film die Gruppenrezeption von Bedeutung. Affektäußerungen sind ansteckend, die Reaktion der anderen dringt in die narzisstische Glocke des an die Bild4 In der Regel wird in der Dramenästhetik nur »der« Zuschauer diskutiert. Klotz (1998) geht dagegen vom Gruppencharakter aus. Theaterstücke ereignen sich immer vor einer Vielzahl von Menschen. Sie haben ihren Ursprung – älter als Literatur – im Fest. Auch Hegel weist darauf hin, das Publikum habe »das Recht zum Beifall wie zum Mißfallen, da ihm in gegenwärtiger Gesamtheit ein Werk vorgeführt wird, das es an diesem Orte, zu dieser Zeit mit lebendiger Teilnahme genießen soll. Ein solches Publikum nun, wie es sich als Kollektivum zum Richterspruche versammelt, ist höchst gemischter Art; verschieden an Bildung, Interessen, Gewohnheiten des Geschmacks« (Hegel, 1835/1970, S. 496). Zur Diskussion vgl. Hamburger (2001). 5 Die Dominanz dieses Mechanismus hat die Theoretiker der Frankfurter Schule zu ihrer pessimistischen Einschätzung der Filmkunst veranlasst. Der Mechanismus der technischen Reproduktion dient dem »Massenbetrug« eines kulturindustriellen Apparats, der »alles mit Ähnlichkeit schlägt« (Horkheimer u. Adorno, 1947/2006, S. 144). Das technisch reproduzierte Kunstwerk verliert seine Aura und verkommt zum Konsumgut.

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maschine angeschlossenen Sitznachbarn ein. Ein einsamer Lacher fällt auf. Wie im Theater, so zielt auch im Film die szenische Präsentation auf eine szenische Teilnahme im Hier und Jetzt der Rezeption. Nur wenn und soweit diese Analogie greift, funktioniert die Aufführung. Diese szenische Kongruenzforderung führt dazu, dass zahlreiche Spielfilme formale Anspielungen auf das Sehen oder Betrachten enthalten. Sie holen damit das Filmpublikum an der Stelle ab, wo es in diesem Moment tatsächlich ist: im Kino (wir werden darauf zurückkommen).

Zeitstruktur und Spannungsdramaturgie Diese gattungsspezifischen Rezeptionssituationen unterscheiden sich vor allem auch in der Zeitdimension. Kunstwerke hinsichtlich ihrer Temporalität zu betrachten, ist eine bewusste Entscheidung; denkbar ist diese Perspektive grundsätzlich immer. Man kann die Zeitregie jeder Kunstgattung bestimmen, von der Skulptur (vgl. Lessing, 1766/1974) über das Epos bis zur Symphonie. Musik, Theater und Film sind allerdings für eine solche Betrachtung besonders prädestiniert. Die letzteren, die die Zeitlichkeit mit der szenischen Räumlichkeit verbinden, präsentieren Szenen in dramaturgischer Anordnung, und das heißt in einer raffinierten zeitlichen Abfolge. Erst die sukzessive Aktualisierung semantischer Netze schafft einen dramatischen Bogen. Die Zeit bildet die vierte Dimension des aktualisierten szenischen Raums. Hier allerdings geht der Film deutlich weiter als das Theater. Gerade aus der raumzeitlichen Entkopplung von Akteur und Publikum, aus der maschinellen Darbietung leiten sich für den Film formale Möglichkeiten der Zeitgestaltung ab, die dem Theater verschlossen sind (vgl. Engell, 2010). So kann etwa an Soljaris (UdSSR , 1972) schlüssig gezeigt werden, dass 79 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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die Aussage des Regisseurs Andrej Tarkowskij, Filmen sei »Bildhauerei aus Zeit« (Tarkowskij, 2012, S. 180) durchgängig zutrifft. Eine Analyse auf der Ebene von Charakter und Plot reicht nicht aus. Die eigentliche Erzählung des Films entfaltet sich auf der Ebene der Zeitdramaturgie (Hamburger, 2012; Hamburger u. Wernz, im Druck). Es gibt kein anderes Medium, dessen Blickregie so zwingend wirkt wie der Film. Das in die Illusion der scheinbaren Bewegung des Objekts eingefangene Auge wird unwiderstehlich in eine festgelegte Sequenz gezogen. Es erfordert bei den meisten Filmen bewusste Willensanstrengung, im Tableau der Leinwand einen nicht von der Kamera vorgegebenen Fokussierungspunkt aufzusuchen. Sich gar der temporalen Sequenzierung der flüchtigen Bilder zu entziehen, ist aus technischen Gründen nicht möglich. Das gelöschte, vom nächsten überschriebene Filmbild noch einmal zu sehen, erfordert einen tiefen Eingriff in das Werk: Wir müssten es anhalten und zurücklaufen lassen. Wir müssten es in seinem wesentlichen Duktus zerstören. Kino ist zerschnittene Zeit (vgl. Deleuze, 1997). Im Kinoraum wird durch einen optischen Trick die Illusion realer Bewegung vermittelt. 24 Bilder pro Sekunde genügen, um diese Illusion herzustellen. Weil dies so ist, hat aber auch das Kino synthetische Möglichkeiten, die dem Theater verschlossen sind. Es kann die Zeit dehnen, beschleunigen, ja ihren Lauf umkehren. Es kann unmögliche Bewegungen und Bilder simulieren und hat das spielfreudig von Anfang an getan, wie etwa die Zeitsprünge in den Stopptricks von Méliès zeigen, aber auch subtile Effekte, etwa die Zeitumkehr, wenn Chaplin in einem seiner Outtakes aus Behind the Screen (USA , 1916) das Einschlagen einer messerscharfen Axt nur Zentimeter vor seinem Fuß dadurch (gefahrlos) bewerkstelligt, dass er die ganze Einstellung rückwärts dreht (Brownlow u. Gill, 1983). Die Montage selbst arbeitet mit Zeitsprüngen, die etwa im Continuity-Schnitt bewusst nicht wahrgenommen werden. Sie erzeugt im Zuschauer eine virtuelle Zeitwelt, der wir uns 80 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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erstaunlich willig überlassen. Die oft genannte, wenn auch zu hinterfragende Analogie von Traum und Film (vgl. dazu z. B. Koch, 2002; I. Schneider, 2002; Rost, 2006; Brütsch, 2009) rührt daher, dass das Zusammengesetzte der Filmzeit, das subjektiv dennoch streckenweise als bruchlos empfunden wird, der heterogenen Bildfolge des Traums zu ähneln scheint. Vielleicht kann man die Verbindung noch deutlicher darin sehen, dass der zeitlich organisierte, von Schnitten und Handlungssprüngen gekennzeichnete komplexe Stimulus Film den Zuschauer in einen traumanalogen Zustand versetzt; dass also der Film dessen Fähigkeit zum Träumen benützt, um ihn in einen – allerdings von außen gesteuerten – Traumzustand zu versetzen. Diese unmittelbar ergreifende Charakteristik teilt der Film mit der anderen großen Zeitkunst, der Musik. Auf dieses Charakteristikum der Zeitkunst spielt Kino selbst immer wieder an – häufiger übrigens als das Theater. Die Uhr ist vielleicht das zentrale Filmrequisit.

Gleichschwebende Aufmerksamkeit. Psychoanalytisch Sehen Unter den hier grob umrissenen Voraussetzungen lässt sich die Frage nach einem angemessenen psychoanalytischen Zugang zum Filmkunstwerk erneut stellen. Wie bereits angedeutet, kann man Filme, ihre Helden und Hersteller leider nicht analysieren. Sie kommen ganz einfach nicht in die Praxis. Sie assoziieren nicht, reagieren nicht auf Deutungen, entwickeln nicht die Spur einer Übertragung. Es ist das alte Problem der wilden Psychoanalyse kultureller Artefakte, das schon Adorno mit der spitzen Bemerkung von der »Banausie feinsinniger Ärzte« aufs Korn genommen (Adorno, 1970, S. 19) hat; Mahler-Bungers (2013) spricht sogar vom »Missbrauch«. Alfred Lorenzer hat 1986 eine gültige Lösung des Interpretationsproblems vorgelegt; eine methodische Position, die leider lange Zeit in der internationalen Psychoanalyse zu wenig Beachtung gefunden hat. 81 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Lorenzer 1986: Kulturanalyse Lorenzer (1986) zeigt, dass die Szene zwischen Analytiker und Patient doch eine ganz andere ist als die zwischen Analytiker und Text. Das Ziel bei der Analyse kultureller Artefakte ist nicht deren Veränderung, sondern vielmehr ist umgekehrt das Ziel des Kunstwerks die Veränderung des Betrachters (das gilt auch für Kunstwerke, die sich dieser Erwartung verweigern: Sie wollen die Erwartung in Frage stellen).6 Schneider (in diesem Band) spricht in diesem Zusammenhang vergleichbar von der Container-Funktion, die das Kunstwerk für den Zuschauer bieten kann, der sich darauf einlässt. In der therapeutischen Psychoanalyse ist der Patient im Zentrum, weil es so vereinbart ist. Es soll um ihn gehen. Die Veränderung seines Leidens ist das therapeutische Ziel, die Rekonstruktion der verdrängten Szene, aus der es folgt, das vereinbarte Mittel. Beide konzentrieren sich auf dessen Erschließung. Anders liegen die Dinge im Fall der psychoanalytischen Interpretation von Literatur und Kunst. Hier kommt zwar das zu interpretierende Material vom Text, doch ist dessen Veränderung nicht das Ziel; vielmehr die Veränderung des Lesers. Text und Leser konzentrieren sich darauf, die verdrängte Szene im Unbewussten des Lesers ausfindig zu machen. Dieser steuert auch Einfälle bei, ebenso wie der Text, der ja als assoziativer Strom sich präsentiert, wobei Form und Stilmittel ebenso dazugehören wie die semantische Mitteilungsebene. Kunstwerke sind also keine Patienten, sondern sie sind Analytiker. Sie präsentieren Deutungen in Form von Szenen und werden dafür bezahlt. Zuschauer bezahlen also letztlich dafür, sich den vom Film bereitgestellten idealtypischen Szenarien regressiv zu überlassen.

6 Dieser Abschnitt folgt früheren Ausführungen, vor allem aus Hamburger (1996).

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Abbildung 9: Kunst- und Kitschanteile werden gleichzeitig angeboten

Wenn diese Deutung den Zuschauer nicht nur unterhält, sondern auch verändert, indem sie Verhaltenskontingenzen benennbar oder bildhaft-präsentativ symbolisierbar macht, bewegt sie sich in Richtung Kunst; wenn sie lediglich die Klischees bedient und verfestigt, um Kitsch. Jeder reale Film kann dabei auf verschiedenen Ebenen funktionieren, sodassKitsch- bzw. Kunstanteile gleichzeitig angeboten sein können. Wir können in Lars von Triers Melancholia genau diese Mischung studieren. So kann ein heterogenes Publikum sich ganz unterschiedliche Erfahrungen aus ein- und demselben Film holen.

Szenisches Verstehen Nun treten die Filme, mit denen wir uns aus psychoanalytischer Sicht befassen, in der Regel mit Kunstanspruch an den Zuschauer heran. Bewusst und gezielt bricht der Kunstfilm Alltagserwartungen und Klischees, fordert den Zuschauer zum Umdenken heraus oder stellt sein Empfinden, seine Klischees infrage und postuliert dadurch auch eine Position in der Filmtradition, auf die er sich bezieht. Wahrscheinlich muss ein Kunstwerk, um nachhaltig wirken zu können, im Kern mit dem Selbstverständnis einer Generation zu tun 83 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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haben, mit der Frage, die sie an das Leben hat. Vielleicht ließe sich weiter schließen, dass manche Werke in der Rezeptionsgeschichte einfach deshalb so lange wirksam bleiben, weil diese Frage noch nicht beantwortet ist. Die tiefenhermeneutische Kulturanalyse nach Lorenzer (1986) geht davon aus, dass im Kunstwerk etwas wie eine Formulierung oder Imagination einer unbewussten, drängenden Frage des Publikums an sich selbst enthalten ist. Im Kontext der klinischen Erkenntnisbegründung hat Alfred Lorenzer (1970) zeitgleich mit Hermann Argelander (1970) das Modell des szenischen Verstehens konzipiert. Es beschreibt eine Stufenfolge von logischem, psychologischem und szenischem Verstehen. Liest man dieses Modell auf die Anwendung in der Kulturanalyse hin, so ergeben sich drei Schritte: (1) die Aufnahme des Werks, (2) die Rekonstruktion seiner Wirkungsabsicht, (3) die wesentlich auf die Analyse der Form und der Rezeption gestützte szenische Rekonstruktion (vgl. Stigleggers dritte Ebene der Seduktion, in diesem Band). Diese drei Schritte ähneln formal den von Adorno in der »Ästhetischen Theorie« dargestellten drei Schichten der ästhetischen Erfahrung: (1) unmittelbare, begriffslose Erfahrung, (2) Nachvollzug der Intention des Kunstwerks, (3) Wahrheit des Kunstwerks (Adorno, 1970, S. 519 ff.). Auch der Versuch einer Filmpsychoanalyse zielt über das Nachvollziehen der Intention hinaus auf den Wahrheitskern des Werkes. Wir verstehen das Kunstwerk als Deutungsprozess, als verändernde, aufdeckende Interpretation einer unbegriffenen Frage, die wir als Zuschauer an uns selbst stellen und deren Beantwortung wir unbewusst vom Werk erhoffen. Wie dieses Verfahren in der Praxis unserer filmanalytischen Arbeit umgesetzt wird, wollen wir im nächsten Abschnitt darstellen und mit unserer Erarbeitung einer Interpretation von Melancholia veranschaulichen.

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Filmanalyse in der Gruppe. Das Beispiel »Melancholia« In der Münchner Arbeitsgruppe Film und Psychoanalyse,7 die seit 2007 in einer Zusammenarbeit der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München mit dem Münchner Filmmuseum öffentliche Filmbesprechungen zu Themen wie Helden, Geschwister, Rache, Beziehungen, Komik und anderem veranstaltet, haben wir einen Deutungsstil entwickelt, der in manchen Punkten mit den oben ausgeführten methodischen Annahmen konform geht – allerdings nicht immer. Die Gruppe besteht aus Individuen mit persönlichen Vorlieben und Schwerpunktsetzungen. Dennoch beschäftigen uns methodische Fragen immer wieder auch in den einzelnen Filmanalysen. Es mag daher angehen, unsere Praxis des filmanalytischen Prozesses anhand der Stufen des Lorenzer-Modells in die folgenden Schritte zu unterteilen, um diese methodischen Berührungs- und Unterscheidungspunkte deutlich zu machen.

Der filmanalytische Prozess Auswahl des Films Der Analytiker wählt den Film, den er analysieren will, weil er von ihm angesprochen ist. Man könnte auch sagen: Der Film hat den Analytiker gewählt. Er hat ihm eine Frage gestellt, die ihn nicht loslässt. Die Frage freilich geht vom Analytiker aus. Der Film ist bloß die Einladung, sich damit zu befassen. Man könnte sagen: Er stellt dem Analytiker einen analytischen Raum bereit. In der Praxis der Filmgruppe erfolgt schon die halbjährliche Auswahl der zu besprechenden Filme in einem Gruppenverfahren. Nachdem ein übergreifendes Thema gefun7

Nähere Informationen siehe www.psychoanalyse-film.eu

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den ist8 – auch dies oftmals schon ein Ringen –, schlagen die Gruppenmitglieder passsende Filme vor. Die Vorschläge stammen aus dem Repertoire ihres Filmgedächtnisses und werden oft leidenschaftlich angepriesen. Aus Dutzenden von Vorschlägen muss die Gruppe schließlich eine Auswahl von vier bis sechs Filmen treffen, die bearbeitet und öffentlich diskutiert werden sollen. Auswahl der Moderatoren Im Anschluss an die Filmauswahl werden die Moderatoren für die einzelnen Filme festgelegt, meist ein bis zwei Mitglieder der Filmgruppe; oft sind dies solche, die den Film zur Bearbeitung vorgeschlagen haben. Sie besorgen die Dokumentation der Gruppendiskussion (Tonband oder Notizen) und bestimmen nach dem Prinzip »Dealer’s Choice« auch die Verfahrensweise der Gruppenarbeit. Manche Gruppenmitglieder bevorzugen einen genussbetonten (siehe den Beitrag von Kutschinski in diesem Band), andere einen arbeitsorientierten Rahmen in der Gruppendiskussion. Die Moderatoren sind auch diejenigen, die die Interpretation nach der Gruppensitzung konsolidieren und den Film in der Öffentlichkeit vorstellen. Sicherung der affektiven Erinnerungsspur und der subjektiven Wahrnehmung Der Film wird nun noch einmal angeschaut, naiv, und die dabei aufgetretenen Beobachtungen und emotionalen Reaktionen werden gesichert. Der Analytiker lässt den Film erneut in sich eindringen und achtet dabei darauf, welche der ihm aus seiner introspektiven Erfahrung geläufigen Stimmungen, Gefühle, Konflikte angesprochen werden. Er wird dabei oft auf Wahrnehmungen stoßen, die nicht dem Mainstream der 8 Bisher haben wir Themen behandelt wie »Familienverhältnisse«, »Leidenschaften«, »Wirklichkeiten«, »Helden«, »Perversion«, »Blindheit«, »Lustspiele«, »Rache« (vgl. www.psychoanalyse-film.eu).

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Publikumsrezeption entsprechen. Entsprechend seinem spezifischen Blickwinkel fallen ihm oft scheinbare Ungereimtheiten, Widersprüche, Brüche besonders ins Auge. Ohne gleich zu einer »Deutung« kommen zu wollen, sammelt und sichert er diese Eindrücke, lässt sie in seinem inneren Raum schwingen. Freud hat dieses Verfahren die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« genannt. Je nach Verfahrensweise der Gruppenmitglieder kann diese vorbereitende Arbeit mit dem Film bereits die Form vielfacher, intensiver Sichtungen und Analysen annehmen, ein »Durcharbeiten«, wie unten ausführlicher beschrieben. Bearbeitung in der Gruppe Danach bringen wir den Film in die Gruppe. Auch hier überlassen wir uns zunächst der Situation und der Illusion, lassen uns affizieren, identifizieren uns mit Figuren, indem wir mitleiden, mithassen, lachen, weinen – Kino eben. Die unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungen mehrerer Filmanalytiker werden miteinander verglichen und in einer dokumentierten gruppendynamischen Sitzung konsentiert – gruppendynamisch ist diese Arbeit, weil auch die in der Diskussion auftretende Stimmung, die »Szene« als Informationsquelle mitgenutzt wird. So werden in unserer Filmgruppe bei der Analyse lebhafte Kontroversen oder bedrücktes Schweigen, ödipale Konkurrenz oder narzisstische Selbstbespiegelung um sich greifen – wir lassen das laufen und fragen uns dann wieder, welche unbewussten Themen der Film in unserer Gruppe angestoßen hat. Die Analyse dieser emotionalen Bewegung kann die Hypothesen der Analytiker unterstützen. Wir beginnen nun zu verstehen, welche unbewussten Reaktionen seiner Zuschauer der Film durch seine Handlung und Bildsprache aufruft und ihnen filmische Symbole zuordnet, indem er sie inszeniert. Bevor wir als Gruppe klinisch tätiger Psychoanalytiker einen Film mit Publikum öffentlich zeigen und besprechen, setzen wir uns deshalb zunächst der »unbewussten Botschaft« 87 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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(Zwiebel, 2007) des Films in einem analytischen Gruppenprozess aus. Dem Film gelingt es oft, uns wirklich in seine Welt zu ziehen und unser analytisches Vorwissen in Schach zu halten, aber die rezeptive Haltung, die gleichschwebende Aufmerksamkeit, nach Wilfred Bion (1970, Kap. 3 und 4) »without memory and desire«, sind nützlich beim Etwas-Erleben. Insofern ist tatsächlich, wie vielfach beschrieben, die Filmerfahrung dem Vorgehen in der analytischen Sitzung nicht unähnlich: erst als ganze Person mit möglichst offener Wahrnehmung, mit der je eigenen Biografie, Persönlichkeit, den eigenen Fähigkeiten und Grenzen etwas mit dem Patienten erleben und dann, unter Einbezug von Wissen, Selbstreflexion und Rezeption des analytischen Prozesses, darüber nachdenken. Versuch und Irrtum eingeschlossen. Gerhard Schneider (2008) spricht vom Film als einer »Quasi-Person« und meint damit, dass der Film als Ganzes, über die einzelnen Protagonisten hinaus, dem Zuschauer begegnet, und zwar vornehmlich vermittelt durch seine Form. In diesem Sinne wird der Film bei der Besprechung in der psychoanalytischen Gruppe auch als Quasi-Gruppenmitglied aufgenommen (vgl. dazu auch Zwiebel, 2013). Wie ein Gruppenmitglied bringt er Themen und Konflikte in die Dynamik der Gruppe ein und löst bewusste und unbewusste Reaktionen aus. Wir sammeln unsere Assoziationen, versuchen unsere Übertragung auf das Gesehene zu formulieren und mitzuteilen, uns selbst also in Beziehung zum Film zu setzen, ähnlich wie erst die Traumerzählung in der Analyse den Traum zu dem werden lässt, was er enthüllen kann, und die Beziehung beider Protagonisten zueinander verändert. Mit dieser Arbeitsweise wird das Kinoerlebnis nochmals variiert und erweitert. Denn auch im Kino schon wird der Film in einer Gruppensituation wahrgenommen, verändert die Anwesenheit anderer und deren wahrnehmbare Rezeption, seien es Lachen, besonders hohe oder geringe Aufmerksamkeit, Unruhe etc., die Wahrnehmung und fügt den Gefühlen, die der Film an sich auslöst, weitere hinzu. Empfindungen 88 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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wie etwa Ärger, Belustigung, Überlegenheit, Gemeinsamkeit, Dankbarkeit und Ähnliches werden durch die Anwesenheit anderer beeinflusst. Ob ich eine potenziell erregende Sexszene in einem vollen Kinosaal zwischen Unbekannten, allein zu Hause, neben meinem Sohn oder meiner Tochter oder eben in der analytischen Gruppe anschaue, wird das mögliche Maß der Erregung verändern. Die Erlebniswelt des Quasi-Gruppenmitglieds Film verändert zunächst die eigene Stimmung und anschließend erfährt diese durch die Beiträge der anderen gewichtige Modifikationen, Akzentuierungen, manchmal Polarisierungen. Wir tragen ja schon im Kino als Zuschauer aktiv zum Filmerlebnis bei, indem unsere eigenen Sinnzusammenhänge die Sprünge, Wendungen, Intentionen des Films zusammenfügen, ergänzen, annehmen oder auch nicht. Ein zweiter ähnlicher Prozess kann beim Gruppengespräch in Gang kommen, wenn im Gruppenprozess als Verzahnung von unterschiedlichen Assoziations- und Gedankenketten, die oft gegeneinander »geschnitten« werden, aus Einfällen, Erinnerungen, Wissen, Interaktionen, Auseinandersetzungen und individuell hervorgehobenen Film-Gedächtnisspuren, etwas der Montagetechnik des Films Ähnliches entsteht. Der Schnitt bringt Szenen, die in völlig anderen Zusammenhängen gedreht wurden, Schauspieler, die nicht gemeinsam anwesend waren, Eindrücke, Lichtverhältnisse, Schauplätze artifiziell zusammen; wir dagegen verfertigen aus unseren zunächst möglichst unzensierten Einfällen einen unabsichtlichen und gerade dadurch aufschlussreichen Prozess, ein Mosaik. Wenn wir der Montagetechnik des Films durch das Entdecken von »Anschlussfehlern« auf die Schliche kommen, wirkt die Freude darüber oft erstaunlich, vielleicht weil wir kurz aus der perfekten Illusionsmaschine geholt werden und uns unliebsamer Gefühle scheinbar überlegen entledigen können. Ähnlich wirken die Brüche im Gruppendiskurs aufdeckend und können als Hinweis auf unbewusste Szenen reflektiert werden (Beispiele dafür werden im Folgenden erwähnt). 89 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Betrachten wir weiter die Metapher des Films als »Quasi-­ Gruppenmitglied«: Ein Mitglied, das den Gruppenprozess nicht aktiv bereichert, würde diesen normalerweise empfindlich stören – im Fall des Films wirken dem die Vielschichtigkeit des Mediums, die sowohl visuellen, auditiven, erregenden, also vegetativen, geistigen wie seelischen, bewussten und unbewussten Komponenten der Wahrnehmung, entgegen. Wir merken dies daran, dass einzelne Szenen nicht nur unterschiedlich gesehen, erinnert oder interpretiert, sondern manchmal von Einzelnen sogar ganz übersehen werden. Der Film kann sich nicht wehren, nichts erklären oder klarstellen. Hier spricht also das Kunstwerk, das unabhängig wurde von seinen Ursprüngen, direkt zu uns. Und hier liegt auch die Verbindung unserer Vorgehensweise mit der Forderung R. Reiches (2011a; 2011b), von der Oberfläche des Kunstwerks auszugehen, es zunächst einmal zu beschreiben, ihm mit Respekt zu begegnen, ohne sich seiner zu bemächtigen. »Wenn ein psychoanalytischer Prozess zu sich selbst findet, kommen Inhalt und Form tendenziell zur Deckung« schreibt Reiche (Reiche, 2011a, S. 294) und beschreibt damit fast poetisch unsere Befriedigung, wenn ein Gruppengespräch es vermochte, dem Film, gemessen an unseren eigenen Ansprüchen, gerecht zu werden. Was nicht immer der Fall ist. Zur Rezeption in der Gruppe gehört auch die Einfühlung in Filmfiguren. Sie ist Teil der Erfassung der Intention des Kunstwerks, denn jede künstlerisch angelegte Filmfigur beruht auf einer »Back Story« und einer Charakteranlage, einem psychologischen Profil, das Autoren, Regisseure und Schauspieler entwickeln bzw. umsetzen. Der eigentlich psychoanalytische Prozess in der Filmgruppendiskussion kommt zustande, wenn es uns gelingt, zwischen der Hingabe an den Film (und an die Diskussion) und einer analytischen Position zu »oszillieren« (Lorenzer, 1970). Dieses »Oszillieren« entspricht der reflexiven, introspektiven analytischen Haltung (derselben, mit dem wir auf unsere Gegen90 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Abbildung 10: Zur Rezeption gehört die Einfühlung in Filmfiguren

übertragung9 in der analytischen Situation achten). Zwiebel (2013) spricht in diesem Zusammenhang von »Bipolarität«. Wir sichern unsere Übertragungsreaktion auf den Film, um sie durcharbeiten und benennen zu können. Diese Reflexion auf die Analyse der Zuschauerübertragung ermöglicht erst eine ebenso entschlossen subjektive wie diskursiv verallgemeinerbare Lektüre more psychoanalytico. Die Nutzung der Gruppe als Reflexionsraum ähnelt dem Konzept der psychoanalytischen Balintgruppe. Ähnlich hat dies König (2001, S. 5) für die soziologische Kulturanalyse beschrieben. Nach ihm »setzt die Tiefenhermeneutik auf Gruppeninterpretationen, in denen die Teilnehmer beispielsweise einen zu analysierenden Text auf das eigene Erleben wirken lassen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich auch das Interagieren in der Gruppe in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet. […] die Seminarteilnehmer […] übernehmen nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv die Rollen, die ihnen der Text zuspielt« (König, 2001). 9 Für eine eingehendere Diskussion des Übertragungs-/Gegenübertragungsbegriffs im Zusammenhang der Analyse literarischer Texte vgl. Hamburger (1996). Neuerdings dazu auch Mahler-Bungers (2013).

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Psychoanalytisches Durcharbeiten Der nun folgende Arbeitsschritt erfolgt nach der Gruppensitzung und betrifft die Moderatoren. Vorbereitet durch die Beiträge der Gruppe, werden die idiosynkratrischen Reaktionen an Filmdetails verankert. Dadurch erst wird es möglich zu unterscheiden, ob diese Reaktion als typisch betrachtet werden kann. Ein erster Schritt zu dieser Objektivierung der subjektiven Reaktion besteht in der Charakterisierung der Rezeptionssituation. Dann spielen wir andere mögliche Reaktionen durch, wobei zu berücksichtigen ist, dass Anspielungen auf Kontexte des Erscheinungsjahres heute vielleicht nicht mehr unmittelbar verständlich sind. Wir werden also ein Stück auch rezeptionshistorisch klären müssen, was der Film seinerzeit seinen Zuschauern gesagt haben kann, und davon abheben, was er uns heute noch sagt. Es könnte ja sein, dass die unbewussten Interaktionsformen, die der Film deutend und symbolisierend benennt, indem er sie ins Bild setzt, heute gar nicht mehr verhaltensdeterminierend wären. – Vielleicht regt uns Buñuels Le charme discret de la bourgeoisie heute nicht mehr so auf und an wie 1972, weil wir frei davon sind, sexuelle Freiheit und Genuss für lebensgefährlich zu halten. Dann liefe das emanzipatorische Deutungsunternehmen des Films ins Leere; das »rührend Altmodische« überholter Befreiungsversuche überlagerte die Rezeption, wie bei der Betrachtung von pornografischen Fotos der 1920er Jahre. Es könnte sich aber auch ganz anders verhalten. Unsere Abwehr könnte so gewitzt und verhärtet sein, dass wir für Buñuels Deutungen im Jahre 2008 nicht mehr erreichbar sind. Weitere Schritte, insbesondere unter Beachtung der Form, vermitteln die subjektiven Sinnfiguren an das Material des Kunstwerks zurück. Dies erfolgt in einem rekursiven Rezeptionsvorgang. In vielfach wiederholter Betrachtung werden die Elemente des Werkes identifiziert, die die Reaktion ausgelöst oder angestoßen haben können. Vieles davon können wir selbst bemerken, für vieles brauchen wir die Hilfe der 92 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Filmwissenschaft und der kognitiven Filmpsychologie mit ihren ausgefeilten Instrumentarien der Beschreibung filmischer Kunsttechniken und Rezeptionsprozesse. Je nach individueller Methode, sich dem Filmkunstwerk anzunähern, werden nun Sekundärliteratur herangezogen, Übersichten geschrieben, Sequenz- und Einstellungsprotokolle erstellt (ähnlich dem von Blothner in diesem Band skizzierten Verfahren). Ein wichtiges Element dieser Arbeit mit dem Film bildet, begünstigt durch die Verfügbarkeit von Filmen auf digitalen Speichermedien (DVD), das wiederholte Aufsuchen von Stellen, die in der Gruppen- und Einzelbearbeitung bedeutsam wurden, zur Mikroanalyse des Films durch das Herausgreifen signifikanter Stills. Dieses Aufsuchen von Bildern wird als voyeuristisch-erregender Suchprozess erlebt und von manchen Mitgliedern als spezifischer Arbeitsstil kultiviert.10 In den Momentaufnahmen der Stills steckt ja eine Information, die in der flüchtigen Betrachtung des laufenden Films zwar vermittelt wird, aber unbewusst bleibt, ähnlich einer tachistoskopischen Darbietung in psychologischen Experimenten zur unterschwelligen Wahrnehmung. Einzelbilder aus der Zeit zu nehmen, festzuhalten und in ihrer Komposition zu betrachten, gewährt also einen Zugang zum »Unbewussten« des Films in dem Sinne, dass die unterschwellig wirksame, ästhetische Botschaft verdeutlicht und expliziert werden kann. Auch die Einordnung in die Filmgeschichte, die Identifizierung von Zitaten und Verweisen ist ein Geschäft, ohne das die Objektivierung der erfahrenen Sinngestalt im Film selbst nicht gelingen kann; auch hier ist interdisziplinäre Kompetenz unabdingbar. Teil der Interpretationsarbeit ist dann noch einmal die Auswertung der Gruppendiskussion, ihrer szenischen Dynamik einschließlich der Identifizierungen mit Filmcharakteren und mit dem Film als »Quasi-Gruppenmitglied«. Beide sind 10

Diesen Hinweis verdanken wir Matthias Baumgart.

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Bestandteil der Filmrezeption und können im Versuchslabor der Filmgruppendiskussion studiert werden (Beispiele dafür werden im Folgenden erwähnt). Der Versuch einer psychologischen Erfassung des »Innenlebens« von Filmfiguren ist fester Bestandteil der Filmrezeption, auf die der Film durchaus auch spekuliert. Das professionelle psychoanalytische Publikum ist dafür besonders erreichbar. In der Nachbereitung wird dieses Einfühlungsbedürfnis noch einmal reflektiert. Hier zeigt sich manchmal deutlich, wie holzschnittartig oder gar inkonsistent Charaktere aufgebaut sind, ohne dass dies ihre Wirkung beeinträchtigen müsste. Öffentliche Vorführung und Diskussion Schließlich wird der Film von den Moderatoren einem Publikum vorgeführt und diskutiert. In der Regel ( je nach »Dealer’s Choice«) umfasst die Vorstellung eine kurze Einführung zum Film und zum Regisseur und nach der Vorführung eine Filmdiskussion, die sowohl auf die spontanen Wahrnehmungsberichte des Publikums als auch die auf der Gruppendiskussion und der anschießenden Durcharbeitung beruhenden eigenen Hypothesen Bezug nimmt. Dieser letzte Akt unserer Arbeit mit dem Film ist ebenfalls ein essenzieller Bestandteil der Methode, denn er unterstreicht erneut die Rezeptionssituation als die eigentliche Quelle der psychoanalytischen Interpretation. Wenn Psychoanalytiker ins Kino gehen, suchen sie in der Regel dort dasselbe wie jeder andere Kinogänger: Sie wollen lachen, weinen, bewegt werden, Angst haben und damit fertig werden, mitleiden, erleichtert, beschwingt oder erschüttert wieder auftauchen aus einer anderen Welt als ihrer eigenen und dabei etwas mehr verstehen von sich selbst, von den Menschen und der Welt, manchmal sogar, wie wir unten bei Melancholia zeigen werden, vom Universum und dem Ende all dessen, was wir uns vorstellen können, kurz, eine emotionale, in diesem Fall vielleicht sogar religiöse Erfahrung machen. Kaum eine andere Kunstform vermag diese Vielfalt an seelischem Erleben bei so vielen 94 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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unterschiedlichen Individuen auszulösen. Im Film erleben wir das Bekannte und Unbekannte gleichzeitig, wir verstehen vieles sofort oder glauben, es zu verstehen, und anderes nie, werden dadurch angezogen, verwirrt, lebendig. Einige Filmkünstler sind sich dessen nicht nur bewusst, sondern streben diesen Effekt an, andere distanzieren sich radikal davon. So schrieb A. Tarkowskij in Abgrenzung zur Filmtheorie und -praxis seines Landsmanns S. Eisenstein, dessen »MontageDiktat […] nimmt seinem Zuschauer das größte Privileg, das ihm das Kino aufgrund der ihm eigenen Rezeptionsweise im Unterschied zu Literatur und Philosophie bieten kann – die Möglichkeit nämlich, das, was sich auf der Leinwand ereignet, als eigenes Leben zu empfinden, eine zeitlich fixierte Erfahrung als eine eigene, zutiefst persönliche Erfahrung zu übernehmen, das eigene Leben zu dem auf der Leinwand Gezeigten in Beziehung zu setzen« (Tarkowskij, 2012). Und oft wollen wir uns über diese Erfahrung austauschen. Nicht immer. Aber die öffentlichen Filmvorführungen mit Psychoanalytikern zeigen dieses intensive, gleichwohl oft schüchterne Interesse, gepaart mit der unklaren Sorge, hier könne womöglich gleich das eigene Innere ungeschützt in Erscheinung treten. Oft bemerken wir ja auch sonst nach dem Kinoerlebnis ein diffuses Gefühl der Verwirrung, ungewohnter und gefährlicher Offenheit für Bekenntnisse, vielleicht weil wir aus einer Welt der multiplen Sinneseindrücke wieder in die des Denkens und Sprechens zurückkommen.

Zugänge zu »Melancholia« Bei Melancholia verlief der beschriebene Prozess als Oszillation zwischen Abscheu und Ehrfurcht, unerwartetem BerührtSein und Distanzierungsbedürfnis, Intellektualisierung und völligem Eintauchen in die Filmwelt. Mitteilungen eigener, intimer biografischer Gedächtnisspuren oder Phantasien wechselten sich ab mit allgemeinen, philosophisch-poli95 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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tischen oder kulturkritischen Anmerkungen, vergleichbar primär- und sekundärprozesshaftem Denken, man könnte auch sagen Spaltungsprozessen, Gut oder Schlecht. Ein Verlauf, der wahrscheinlich für viele Filme von Triers charakteristisch wäre. Unmittelbar nach der Vorführung dominierte Abwehr, zum Teil sogar Hass.11 Es fielen Äußerungen wie: »Ich möchte nicht das Depressive mit der immer gleichen Musik vorgeführt kriegen, ich möchte nicht, dass der Planet ›Melancholia‹ heißt, weil ich das bescheuert finde, ich möchte keinen Flirt mit dem Planeten im Mondenschein … ich habe schon verstanden!« – »Das ist keine Kunst, das ist Kitsch« – »Pseudotiefsinn, Mystizismus« – »überhöhte, ja faschistoide Ästhetisierung« – »Überstrapazierung der extradiegetischen Musik, das ›Tristan‹-Motiv wird unerträglich« – »eitel, von Filmzitaten überhäuft« – »natürlich, nur Wagner ist großartig genug für von Triers Bedeutungsschwere« – »es wird mir eingehämmert, wieder und wieder, fühle mich manipuliert, werde wütend« – »die platte Botschaft eines Planeten namens ›Melancholia‹« – »die wohlfeile Anklage gegen die beziehungslosen ›68er-Eltern‹« – »die simple Symbolik versinkender oder vor Brücken scheuender Pferde« – »oder von einer von Schlingpflanzen festgehaltenen Braut …« – »Depression ist gleich Spinnengewebe ist gleich Sumpf« – »nur Stereotype, der blöde Chef, der unsichere Bräutigam, der reiche, aber unbrauchbare Gatte« etc. Wer den Film zum zweiten Mal sah, hatte meist diese erste Abwehr hinter sich und es öffnete sich ein breiter Raum genau dafür: »Die Personen sind nur Typen, in die sich einzufühlen sinnlos ist. Ich habe den Film beim ersten Mal Sehen intensiv gehasst, das ging mir heute nicht so, vielleicht, weil ich inzwi11 Mitglieder der Gruppe Film und Psychoanalyse der Münchner Akademie für Psychoanalyse, von denen die obigen Zitate stammen: Matthias Baumgart, Eva Friedrich, Andreas Hamburger, Katharina Leube-Sonnleitner, Irmgard Nagel, Vivian PramataroffHamburger, Heidi Spanl, Corinna Wernz.

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schen ›Dogville‹ gesehen hatte, da gibt es keine Psychologie, die Figuren sind holzschnittartig, man unterstellt ihnen keine Motive. Dadurch hab ich verstanden, es geht hier nicht um Depression, das ist eher wie eine Maske, darum fängt der Film auch so nervtötend an … Es geht um die wirklich entsetzliche Tatsache, dass wir allein im Weltall sind, dass es keinen Gott gibt und dass wir sinnlos sterben. Das ist es, das ist ja die Realität, dass etwas Dunkles, Unbekanntes auf uns zukommt und wir machen Hochzeitsfeste oder veranstalten Filmgruppen oder was wir sonst so wichtig finden … ich wurde sehr traurig und dachte, was machen wir hier eigentlich. Das hat mir noch selten ein Film so zu spüren gegeben mit diesem Planeten, der durch die Leinwand auf uns zukommt, der ist ja unsere Zukunft …«

Abbildung 11: Die entsetzliche Tatsache, dass wir allein im Weltall sind

Die Anfangsübertragung kippte fast ins Gegenteil, der Überwältigung durch die Bilder wollte man sich aussetzen und hingeben und keinen Widerstand mehr leisten, eine innige Verständigungsebene wurde spürbar. Existentialismus. Religion oder der Verlust derselben. Frauen erlebten »einen Film über die Weiblichkeit, eine Zerstörung der Frau in ihrem Kern, ich habe mich tief verletzt gefühlt. Eine Frau, die nicht mehr Mutter werden wird, und eine, die mit ihrem Kind sterben muss. Die Frau wird 97 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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vernichtet, die Mutter Erde ist schlecht. Der Planet sieht aus wie ein unheilvolles Mammografie-Bild, die Brust nährt nicht, sondern zerstört. Die Mutter hält ihr Kind in den Armen wie eine Pieta, aber sie kann es nicht retten, nicht einmal beruhigen, die Depression scheint die einzig angemessene Haltung gegenüber unserer Existenz zu sein.« Es wurde wieder die Wut spürbar auf von Trier, der immer wieder in seinen Filmen die Frauen opfert, zu Passionsfiguren macht. Sein Mitleid mit den Schwestern in diesem Film kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der mütterliche Planet Unheil bringt, die weibliche Sexualität unergründlich und gefährlich erscheint, zerstört werden muss. Denn ihre Erotik lebt die Frau allein aus beim morbiden, untergangssüchtigen Baden im fahlen Planetenschein oder dem lustvollen Pinkeln auf den sauber gepflegten Golfplatzrasen. Sex mit dem Mann scheitert, einmal als Vergewaltigung des schwachen Chef-Adlaten und einmal als Verweigerung. Der Mann hat nichts zu melden im weiblichen Universum. Er entsorgt sich selbst »wie eine Figur auf dem Schachbrett und dann geht das Spiel halt ohne ihn weiter«. Damit wendete sich die Diskussion zum Männerbild in Melancholia: Musste der Vater im Film sich suizidieren, weil er »den Verlust seiner Ehre gegenüber seinem Sohn, dem er versprochen hatte, alles werde gutgehen, nicht verkraften konnte« oder weil er einfach »die Angst nicht mehr aushalten konnte, während eine Mutter eben bei ihrem Kind bleiben muss, egal wie viel Angst sie hat«? An dieser Stelle bemerkte die Gruppe, dass wir zurückgeworfen waren in den Versuch, uns einzufühlen, die Filmfiguren als reale Subjekte misszuverstehen, während wir doch in Wirklichkeit über unsere eigene Angst vor dem Versagen, vor der Leere und dem Verlust von Religion und Sinn sprachen. Dieser Punkt markierte einen neuen Wendepunkt der Rezeption zum Aufwachen aus der tranceartigen, intimen Hingabe an existenzielle Fragen, die der Gruppenprozess im Zusammenspiel mit dem Film erzeugt hatte. Der Intel98 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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lekt, die Polarisierung, die Kognition und das Wissen waren zurück. Es ging um: ȤȤ Fragen zu von Triers Psyche, den Schauspielern und der Vermarktung des Films, ȤȤ Übersetzungen der Bildsprache in psychoanalytische Begrifflichkeiten (das Pferd und das Golfmobil als Symbole schaffen es nicht über die Brücke, die den Übergang zum Unbewussten darstellt, dort ist der wilde Wald, das heißt die brodelnden Triebe, im Gegensatz zur gezähmten Natur des Golfplatzes und der klaren Renaissance-Architektur des Schlosses), ȤȤ filmhistorische Kenntnisse (das Breughel-Bild aus dem Vorspann ist dasselbe wie in Tarkowskijs Soljaris), ȤȤ Freude, sich zu erinnern, zu verständigen und einzuordnen (»die hilflose Wissenschaft, überall nutzlose Computer und Teleskope, die entscheidenden Informationen gibt ein gebogener Draht, den einzigen Trost eine Art Tipi aus drei Ästen. Diese Höhle ist natürlich das Kino«).

Abbildung 12: Dasselbe Bild wie in Tarkowskijs Soljaris

Das Ich hatte also wieder die Deutungshoheit erobert. Unsere Kritikfähigkeit und Kenntnisse standen uns wieder zur Verfügung und halfen uns, die Phase der tiefen Beunruhigung, uns unvorhergesehen so ungeschützt mit der Endlichkeit (und möglichen Sinnlosigkeit) unserer irdischen Existenz konfrontiert zu sehen und Gefühlen von Hilflosigkeit, Ohnmacht 99 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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und Angst (»Väter helfen nichts mehr, wenn so große Planeten kommen«) zu überwinden. Wir waren wieder ein wenig mehr Herr im eigenen Haus. Mit der Erleichterung und dem Wiedergewinnen eines Gefühls der Sicherheit und Identität fielen wir ein wenig zurück in für überwunden gehaltenes »wildes Analysieren« von Filmfiguren, von denen wir selbstverständlich wissen, dass sie keine Patienten mit Biografien und Persönlichkeitsstrukturen sind, auch liegt der Film nicht auf der Couch, sondern, wie oben ausgeführt, ist es der Film, der uns analysiert. Wir müssen durch die »Figurenanalyse« durch. Wenn wir die Protagonisten begreifen wollen, fühlen wir uns wieder auf scheinbar sicherem Terrain, sind wir wieder die ganz normalen Kinogänger, vor allem wenn der Film verstört hat. Wir müssen um unsere professionelle Haltung des Nichtwissens und Nichtverstehens ringen (wie etwa der Drehbuchautor und Regisseur die Background-Story brauchen, um den Schauspieler etwas intuitiv begreifen zu lassen, von dem explizit nichts im Film zu sehen sein wird), um die Figurenanalyse zu überwinden. In den öffentlichen Filmvorführungen ist immer das Bedürfnis der Kinogänger spürbar, sich selbst durch den Film ein wenig besser zu verstehen, vielleicht sogar zu verändern, eigene Annahmen, Thesen und Überzeugungen zu überprüfen und mehr Sicherheit zu gewinnen. Wir Psychoanalytiker haben dabei vielleicht eine ähnliche Aufgabe wie in der klinischen Situation: nach einem kurzen theoretischen Input ein etwaiges spontanes Mitteilungsbedürfnis zurückzuhalten und unsere eigene Innenwelt als Erkenntnisinstrument zu nutzen, um ins Gespräch zu kommen. Die Hypothesen, die sich aus der spontanen, emotionalen Reaktion in Kombination mit theoretischem Konzeptwissen ergeben, müssen an den Bildern, der Machart, der Technik des Films überprüft werden, ähnlich wie unsere Deutungen an der Reaktion des Patienten. In für uns überzeugender Weise hat Gerhard Schneider (in diesem Band) dies anhand von intertextuellen Bezügen in Melancholia dargelegt. 100 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Anzuerkennen bleibt, dass trotz aller unserer Bildbeweise weiterhin jeder seinen eigenen Film sehen wird, der als Kunstwerk fast alle Sinne, in jedem Fall aber Ich, Es und Über-Ich anspricht, und dass unsere Filmrezeption zutiefst von eigenen unbewussten Konflikten, Hoffnungen, Phantasien, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, Beziehungsinternalisierungen und Körpererfahrungen geprägt ist (vgl. auch Zwiebel, in der Einleitung zu diesem Band). So lösten sich auch bei der Diskussion um Melancholia keineswegs alle Widersprüche in der Gruppe auf, entscheidend waren die Art der Verständigung darüber und die Erkenntnis, dass der Film tatsächlich unterschiedliche Wahrheiten sicht- und fühlbar macht, wofür auch jeweils filmische Belege zu finden waren.

Was also tun Psychoanalytiker im Kino? Psychoanalytiker haben sich mit Kunstwerken nicht immer so reflexiv auseinandergesetzt wie in der hier vorgestellten, auf den Arbeiten von Lorenzer (1986), König (1986) und anderen basierenden Methode. Traditionell stand die Autorenanalyse im Vordergrund, das psychopathographische Verfahren, das umstandslos vom Kunstwerk auf die Persönlichkeit und die Konflikte seines Schöpfers schloss. Diese Methode verbietet sich, wie oben dargestellt, im Fall der Filmkunst von selbst – ist doch ein personaler »Schöpfer« oder »Autor« kaum noch auszumachen. Nach Reiche (2000) indessen hat sich die tiefenhermeneutische Reflexion nicht weit genug von diesem Fehlschluss entfernt. Sie begehe, »denselben systematischen Missbrauch mit der psychoanalytischen Methode, den sie an der psychobiographischen Methode kritisiert«, indem sie »die je meinige Gefühlsantwort auf das Werk […] in den Mittelpunkt gestellt und als Gegenübertragung deklariert« (Reiche, 2000, S. 30). Reiche wäre zuzustimmen, wenn der Rekurs auf Gegenübertragung nur ein Trick, ein Umweg zum deutenden Zugriff wäre, der zwar nicht auf das Unbewusste des 101 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Autors, jedoch durchaus auf ein hypothetisches Unbewusstes des Werks abzielte. Wenn er dazu benützt würde, sich an der Deutung, die das Werk seinem Publikum und damit auch seinem Analytiker anbietet, nicht mehr abzuarbeiten. Zuzustimmen ist ihm demnach bei zahlreichen Filmanalysen, die zwar die »Gegen«übertragung auf das Werk beschreiben, sie jedoch selbst schon für seine Deutung halten (vgl. Hamburger, 2013b). Um dem vermeintlichen Paradigmenfehler einer tiefenhermeneutischen Gegenübertragungsanalyse zu entgehen, empfiehlt Reiche (2011a, S. 308) ein aus der Kunstwissenschaft abgeleitetes vierstufiges Verfahren, bestehend aus (1) einer rekonstruktiven Beschreibung und Erfassung der Gestalt des Werks, (2) die Erfassung des Bildes als Gesamtheit, und zwar unter (3) Gleichbehandlung aller Bildelemente, die schließlich zur (4) Deutung des Werks durch systematische Verknüpfung der Oberflächenelemente führt. Wie an anderer Stelle (Hamburger, 2013a) gezeigt wurde, ist diese an der kunstwissenschaftlichen Bildinterpretation entwickelte formalisierte Abfolge kompatibel mit dem tiefenhermeneutischen Prozess, wenn man akzeptiert, dass analytisches Arbeiten immer eine Verwicklung darstellt. Der Analytiker trifft immer eine unbewusste Auswahl – aus dem Text des Patienten, aus dem Angebot des Kulturmarkts, aus der überdeterminierten Fülle des Werks. Er erfasst, das ist seine Aufgabe, die unbewussten Tendenzen seines Auswählens in statu nascendi. Auch in der Kulturanalyse kann der Analytiker als prototypischer Vertreter des »impliziten Lesers« nicht davon absehen, dass seine Lektüre eine persönliche ist. Wenn Psychoanalyse sich so, wie sie eben interpretiert, dem Film aussetzt, sich also ihrerseits mit der Deutung konfrontiert, die der Film seinen Zuschauern präsentiert, initiiert sie einen kollegialen Diskurs. Sie initiiert ihn aktiv, denn der Film sucht ihn nicht von sich aus – wenn er den psychoanalytischen Diskurs sucht, dann um ihn zu unterlaufen. Wenn Psychoanalytiker im Film präsentiert werden, dann gern als komische oder diabolische, gelegentlich auch als gütige Figu102 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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ren (vgl. Herb, 2012). Als Interpreten sind sie dem Gegenstand Film nur gewachsen, wenn und soweit sie dieser Vereinnahmung entgehen, einen archimedischen Punkt finden, von dem aus sie ihre Deutung fundieren können. Sie müssen der kinematografischen Illusion zwar erliegen, sonst machen sie keine reflektierbare Erfahrung, zugleich aber auch entgehen, sonst bleiben sie im Filmraum gefangen. Ähnlich der Filmwissenschaft müssen sie das Handwerk der filmischen Präsentation durchdringen, im Unterschied zu dieser nicht aus ästhetischem und historischem Interesse, sondern um das, was materiell auf die Leinwand projiziert wird, mit der eigenen, »outrierten« Deutungsfigur (Lorenzer, 1985) in Beziehung zu setzen. Fruchtbar ist, dazu mit allen zusammenzuarbeiten, die von jenem obskuren Objekt der Erkenntnisbegierde etwas wissen – den Filmwissenschaftlern –, und dabei doch nicht den Eigensinn zu verlieren, der dieses psychoanalytische Häuflein seit nun einem guten Jahrhundert auszeichnet. Ralf Zwiebel schrieb 2008 im Zusammenhang mit Film und Traum, bzw. Filmsehnsucht oder auch Filmsucht (Leuschner, 2007), dass für manche Menschen ein spezifischer Film zu einer Art Ersatztraum werden kann. Er sieht dies vor allem bei Personen mit einer (von Bion, 1962, und Ogden, 2003, beschriebenen) Schwierigkeit oder Unfähigkeit, ihre emotionalen Erfahrungen selbst zu träumen. Besonders zutreffend erscheint dies bei Filmen, die tabuisierte oder von Angst besetzte Bereiche berühren; bei Zwiebel (2008) wird Stay von M. Forster besprochen, hier Melancholia. Sie werden zu einer Art Phantasieraum für nichtträumbare Träume des Zuschauers, und damit wird das Filmerlebnis eine »viewing cure«, nicht unähnlich der Katharsis des griechischen Theaters. In der Tat glich die Stimmung in unserer Filmgruppe vorübergehend einer träumerischen, wohl nur im Als-ob-Modus möglichen Annäherung an letzte Fragen, wurde immer wieder mit dem Film und der verwendeten Technik in Verbindung gebracht (»dieses quälende Immer-wieder-Anfangen, 103 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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nach beruhigenden Alltags-Intervallen. Es kommt wieder die Musik, dann der größer werdende Planet, so als hätte ein kurzer Schlaf oder Traum die Bedrohung kurz bannen können. Wie wenn ich schwer erkrankt wäre oder jemand gestorben ist und morgens nach dem Aufwachen fällt es mir wieder mit tödlichem Erschrecken ein – es gibt leider kein: ›Es war nur ein Traum‹, der Film treibt es unerbittlich weiter …«). Die Filmanalyse ähnelt auch insofern der klinischen Psychoanalyse, als eine vorgängige Festlegung auf eine Methode oder eine Metapsychologie den lebendigen Prozess eher einengt als befruchtet. M. Zeul beschrieb schon 2007 die Heterogenität des psychoanalytischen Herangehens an Filme als Sonderform der auf Kunstinterpretation angewandten Psychoanalyse bei verschiedenen Autoren. Dies zeigt sich regelmäßig auch in unserer Gruppenarbeit – und ähnelt hierin der klinischen Arbeit: Der Analytiker zieht, wenn er seinen Patienten und sich selbst in Beziehung zu seinem Patienten verstehen will, Versatzstücke der ihm vertrauten Theorien heran. Je nach klinischer Situation, je nach Übertragungsgeschehen, je nach der momentanen Erträglichkeit für sich selbst und das eigene seelische Überleben dienen sie zur Erklärung, zur Beruhigung, zur Anregung, zur Rechtfertigung etc. (siehe auch R. Zwiebel in der Einleitung zu diesem Band). So wird es wohl auch bei der Filmpsychoanalyse bleiben: Wir können die Methodenvielfalt nicht aufheben oder überwinden, wir brauchen sie, um uns dem jeweiligen Film zu nähern, und wenden sie – nicht immer so konsequent, wie wir möchten –, in der jeweiligen »klinischen« ist gleich Kinosituation an. Manchmal bringen wir uns selbst damit wieder ins Gleichgewicht. Psychoanalytiker sind, wie wenige andere Menschen, in ihrer täglichen Arbeit mit den Lebensgeschichten anderer Menschen konfrontiert, erleben mit großer Intensität die Vielfalt menschlichen Erlebens und Ausdrucksformen fremder Kreativität. Ist es nun verwunderlich oder gerade das Gegenteil, dass sie noch mehr äußere und innere Bilder über fiktive Biografien und Charaktere aufsaugen wollen, indem sie 104 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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sich, wie wir, so intensiv mit dem Kino beschäftigen? Oder die Affirmation einer Klarheit: Für eine gedeihliche Arbeit sollten wir unser eigenes Leben nicht zu kurz kommen lassen.

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Dirk Blothner

Zur Methode der wirkungs­ analytischen Filminterpretation

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ls Psychoanalytiker sind wir es gewohnt, unsere eigenen Impulse und Gefühle gegenüber dem Fall für dessen Verständnis zu nutzen. Wenn wir uns mit Filmen beschäftigen, ist uns diese Haltung allerdings noch nicht ähnlich selbstverständlich geworden. Die meisten psychoanalytischen Filminterpretationen machen den Film zum Gegenstand, ohne der Frage nachzugehen, was er während der Vorstellung mit seinen Zuschauern anstellt und was sie während der Vorstellung mit ihm machen. Psychoanalytische Filminterpretationen sind in der Regel auf die Figuren der Handlung gerichtet und nicht auf die Wirkungsprozesse, die sich zwischen Film und Zuschauer aufbauen und entwickeln. Im Folgenden möchte ich darstellen, wie ich vorgehe, um diese filmisch-seelischen Wirkungsprozesse herauszuarbeiten. In dem gegebenen Kontext geht es mir weniger um eine empirisch-wissenschaftliche Ausprägung der Filmwirkungsanalyse, welche die Durchführung von mehreren Interviews mit den Rezipienten erfordert. Es geht mir hier um die FilmInterpretation, bei der das Erleben des Psychoanalytikers die Führung übernimmt. Wenn man so will, ist es eine Wirkungsanalyse des Films auf der Basis einer Versuchsperson, die der Psychoanalytiker selbst ist. Damit sind – und das muss von vorneherein klargestellt werden – gewisse Festlegungen und auch blinde Flecke unvermeidlich, denen bei einer wissenschaftlich-empirischen Untersuchung auf der Grundlage von 110 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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mehreren Versuchspersonen entgegen gearbeitet wird. Wie untersuche ich als Psychoanalytiker also Melancholia? Was kann ich auf der Grundlage meines Vorgehens über den Film von Lars von Trier sagen?

Vorbemerkungen In der Einleitung zu diesem Buch stellt Ralf Zwiebel in Anspielung auf Robert Bresson die Frage, wie die Filmpsychoanalyse das Filmerlebnis »verlebendigen« kann. Er plädiert für ein Arbeitsmodell, das durch polare Verhältnisse bestimmt ist und insgesamt auf die psychoanalytische Aneignung des Films im Rahmen eines Entwicklungsprozesses hinausläuft. Als einen bedeutsamen Ausgangspunkt des Verlebendigungsprozesses stellt Zwiebel ein erstes, »naives Sehen« des Films heraus. Hiermit beginnt auch die wirkungsanalytische Untersuchung des Films. Wenn ich mich an meinen unmittelbaren Eindruck von Melancholia erinnere, kommen mir verschiedene Dinge in den Sinn. Vor allem die Nachwirkung. Sie bestand in einer körperlich spürbaren Erschütterung. Sie machte sich in einem wackeligen Gang mit weichen Knien bemerkbar. Das abendliche Treiben der Stadt hatte unter dem unmittelbaren Eindruck des Films eine unwirkliche Qualität. Eine Verwunderung mischte sich in meine Wahrnehmung: Wie kann das Leben so selbstverständlich weitergehen, wenn ich doch gerade noch mit einer derart beeindruckenden Unverrückbarkeit der Vernichtung konfrontiert war? Natürlich war das nicht alles, was von dem Film zurückblieb. Ich hatte seine sehnsüchtigen Stimmungen nicht vergessen, nicht die Tendenz des Films, sich an der Grenze zum Kitsch zu bewegen, aber auch nicht seine kraftvollen, ja anarchischen Momente. Mir war auch deutlich in Erinnerung, dass er sich in drei voneinander unterschiedenen Teilen dargeboten hatte: eine betörende Reihe von zerdehnten Szenerien, ja fast Standbil111 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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dern im Prolog, die zugleich schmerzhafte und nachvollziehbare Demontage einer protzigen Hochzeitsfeier und schließlich die bis zur Angst lähmenden, letzten Tage der Erde. Die Story erzählte von zwei Schwestern, von denen sich die eine (Claire) im zweiten und die andere ( Justine) im dritten Teil zu behaupten weiß. Das stellte sich mir dar wie zwei gegeneinander laufende Kurven von Selbstbehaupten und Scheitern. Ein zutiefst erschütternder, aber auch aufrüttelnder Film. Bin ich von einem Film derartig beeindruckt, stellt sich der Wunsch ein, den Herstellungsprozess seiner Nachwirkung genauer zu untersuchen. Woraus ist sie hervorgegangen? Wie hat sie sich entwickelt? Im Folgenden will ich auf diese Fragen mit ein paar interpretierenden Strichen antworten. Denn vor allem möchte ich in diesem Rahmen mein methodisches Vorgehen darstellen. Vorher will ich jedoch vier Vorannahmen ansprechen, die meine Interpretation theoretisch-methodisch ausrichten.

Vorannahmen Erstens ist für mich das Filmerlebnis keine Aneinanderreihung von Einzelheiten wie »Gefühle«, »Gedanken« oder »Assoziationen«. Es fällt auch nicht mit den vermeintlichen Erlebnissen, Absichten und Konflikten der Filmprotagonisten, etwa vermittelt durch den Mechanismus der Identifizierung, zusammen. Man erfährt den Film als einen sehr viel breiter angelegten, durchgängigen Sinnzusammenhang. Von der ersten bis zur letzten Szene erstreckt sich eine das Erleben vereinheitlichende Gestalt. Sie bildet sich zwischen nachträglich isolierbaren Einzelheiten wie Figur, Schauplatz, Musik oder Schnitt. Wie eine durch sie hindurchgehende Schräge weist sie ihnen einen Platz im Ganzen zu. Zweitens drängt beim Ansehen von Filmen sehr viel mehr an und sucht nach Ausdruck, als sich fassen lässt. Eine Art Doppelleben entfaltet sich. Da gibt es den sichtbaren und hör112 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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baren Film, die Wirkungsqualitäten, die man unmittelbar mitbekommt. Aber es deuten sich in ihnen mehr und andere Wirkungen an, die man nur in Anzeichen verspürt. Man gerät in Erregung, in Spannungen und Erwartungen, ohne genau angeben zu können, warum. Man entwickelt körperliche Reaktionen wie Schwitzen, Beschleunigung des Atems, Gänsehaut und kann die Gründe dafür nicht angeben. Ohne, dass man es will, kommen einem Tränen, die man mehr oder weniger verstohlen wegzuwischen sucht. All diese Anzeichen machen den Filmpsychoanalytiker darauf aufmerksam, dass beim Filmerleben ein weitgehend unbewusster Betrieb in Tätigkeit ist. Er findet in den Abschnitten und Wendungen des äußeren Plots zwar einen Ausdruck, entzieht sich als Ganzes aber zunächst einmal der Erkenntnis. Dass hier soviel mehr mitwirkt, als wir wissen, ist die Grundlage für die starke Fesselung, die wir beim Filmerleben beobachten. Wir werden von etwas ergriffen, was wir in seiner komplexen Ausdehnung nicht fassen können. Drittens ist für mich das Filmerleben durchgängig in Fluss. Es hat einen charakteristischen Auftakt, nimmt den Faden eines Themas auf, entfaltet es zu universalen Grundkonflikten. Es führt in Steigerungen, Umschwünge, Krisen hinein und auf eine ungefähre Lösung zu. Die gespannte Erwartung des Anfangs ergänzt sich in einer mal beglückenden und mal – wie bei Melancholia – erschütternden Abrundung. Eins geht nachvollziehbar oder auch in Brüchen aus dem anderen hervor. Am Ende ist nichts so, wie es sich am Anfang darstellte. Selbst dann nicht, wenn sich die Bilder des Anfangs und des Endes – wie das manchmal der Fall ist – ähneln. Eine Welt im Kleinen hat sich völlig gewandelt. Diese Entwicklung des Filmerlebens (Salber, 1960/1977) verlangt der psychoanalytischen Filminterpretation einen ungewohnten methodischen Aufwand ab. Das Filmerlebnis mit einem Konstrukt zusammenzufassen, geht leicht von der Hand. Aber eine seelische Zweistundenentwicklung zu rekonstruieren, erfordert ein Umdenken und einen großen Aufwand. Nur selten wird er bislang auf sich genommen. 113 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Meine vierte Vorannahme setzt die ersten drei (Sinnzusammenhang, unbewusster Betrieb, Entwicklung) zu einem Gesamtbild zusammen. Sie behauptet, dass der Kern des Filmerlebnisses nicht die Figuren, Protagonisten oder die Assoziationen und Gefühle des Betrachters sind. Vielmehr handelt es sich um eine apersonale Gestalt, die sich zwischen Film und Zuschauer herausbildet. Goethe definierte Gestalt als einen sinnlich erfahrbaren, in sich geschlossenen »Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens« (Goethe, 1817/1967, S. 9). So verstehe ich Film wirkungsanalytisch als eine komplexe, teils bewusste, teils unbewusste Figuration, die während der Vorstellung Züge eines eigenständigen Wesens annimmt, das sich entfalten, zergliedern, entwickeln und abrunden will. So ähnlich wie sich ein Traum als eine Bildentwicklung entfaltet oder eine Kultur, so bilden sich beim Filmesehen Figurationen aus, die uns teils in Besitz nehmen, die wir zum Teil gestalten. Sie sind das eigentliche »Subjekt« des Geschehens. Um die Entwicklung des Filmerlebens zu unterstreichen, spreche ich von einer Drehfiguration oder einfacher einer Drehfigur. Dieser Begriff berücksichtigt die Beobachtung, dass es bei den meisten Filmwerken zu einer bedeutsamen Wandlung der Ausgangslage kommt. Als interpretierender Filmpsychoanalytiker verstehe ich mich als jemanden, der mit geeigneten methodischen Schritten, diese filmisch-seelischen Drehfiguren im anschaulichen Material des Films und in den Anzeichen des eigenen Filmerlebens aufzuspüren sucht. Filmanalyse und Selbstbeobachtung greifen hier ineinander. Letztlich geht das Konzept der Drehfigur auf Wilhelm Salber zurück. Aber einen wichtigen Anhaltspunkt findet sich dafür schon in der Analyse des Moses von Michelangelo, mit der Sigmund Freud einen, in seinem Werk einzigartigen, Zugang zur Kunst gefunden hatte (Freud, 1914). Schließlich bestärkt mich der Ansatz von Gilles Deleuze (1983/1997), den Film nicht von den Figuren her aufzuschlüsseln, sondern ihn als eine Figuration bzw. eine apersonale Bildbewegung (»images-­ mouvement«) zu sehen, in dieser Auffassung. 114 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Will man das als unbewusste Drehfigur konzipierte Film­ erleben einer Untersuchung unterziehen, braucht man methodische Schritte, die auf diese Konzeption abgestimmt sind. Die Methode muss ein Ganzes im Blick halten und doch seine Einzelschritte verfolgen können. Sie muss die lebendigen Phänomene aufgreifen und doch die Verbindung zur Theorie halten können. Sie muss die Anzeichen für den unbewusst wirksamen Betrieb festhalten und auslegen können. Das Vorgehen muss dazu in der Lage sein, einen Gegenstand beschreibend nachzubilden, der – obwohl er eine zeitliche Ausdehnung von nur zwei Stunden hat – doch ungemein komplex und kunstvoll konstruiert ist. Wie kann nun ein solches Vorgehen konkret aussehen?

Psychologische Beschreibung Zunächst einmal habe ich mir angewöhnt, nach dem ersten Sehen des Films im Kino meinen Eindruck schriftlich festzuhalten. Später helfen mir diese Aufzeichnungen, zum Kern des Films zurückzukommen, wenn ich mich in der Vielfalt der Einzelaspekte verloren habe. Manchmal bleiben sie als ein früher Arbeitsschritt liegen und werden nicht mehr aufgegriffen. Meistens jedoch übernimmt diese erste Version die Funktion eines Vorentwurfs, den ich in seiner Tiefe erst verstehen werde, wenn die Untersuchung weiter fortgeschritten ist. Ich spreche bewusst von Version, weil ich der Auffassung bin, dass sich das konkrete Filmerleben nur in mehreren, auseinander hervorgehenden Wendungen aneignen lässt. Ein direkter Zugriff – etwa in Form einer intuitiven Deutung – greift bei diesem komplexen Gebilde daneben. Nachdem ich den ersten Eindruck festgehalten habe, sehe ich mir den Film ein zweites Mal an und notiere weitere Beobachtungen. An dieser Stelle der Untersuchung gehen meine Notizen bereits in eine methodische Beschreibung von Erlebenszusammenhängen über. Ganz anders, als sie häufig verstanden wird, richtet sich diese Beschreibung auf seelische 115 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Wirkungsprozesse in Zusammenhang mit anschaulich gegebenen Filmszenen und nicht etwa auf eine Nacherzählung des Plots oder ein Herausheben von filmtheoretischen Kategorien. Seelische Prozesse äußern sich nur in Wirkungen, sie sind nicht direkt beobachtbar. Die Beschreibung sucht die auf sie verweisenden Anzeichen in nachvollziehbare Prozesse und Zusammenhänge zu übersetzen. Dabei lässt sie sich von einer expliziten Theorie von den Grundkategorien und Grundbewegungen der Psyche leiten. Es handelt sich also ausdrücklich um eine »psychologische Beschreibung« (Salber, 1969). Und als solche ist sie ein unverzichtbarer methodischer Zwischenschritt einer »verstehenden Psychologie« (Dilthey, 1894/1957), zu der ich auch die Psychoanalyse zähle. Die Beschreibung von Erlebenszusammenhängen ist etwas, was ich nur gegen einen Widerstand durchbringen kann. Wenn ich die Zügel locker lasse, rutsche ich automatisch in eine Nacherzählung der Story oder in Mutmaßungen über das Erleben der Figuren. Es kommt bei der wirkungsanalytischen Filminterpretation darauf an, diesen vorwissenschaftlichen Umgang mit dem Film immer wieder zu überwinden und den Film konsequent als einen Wirkungszusammenhang zu sehen. So verlangt die psychologische Beschreibung ein hohes Maß an »disziplinierter Selbstreflexion« (siehe hierzu die Einleitung zum Buch von R. Zwiebel und die Diskussionsrunde zu diesem Punkt). Oft versuche ich, die schwer zu fassenden Keimformen meines Erlebens aufzuspüren, indem ich das Nacheinander der Sequenzen, den Aufbau des Films aus der Erinnerung reproduziere. So entziehe ich mich der unmittelbaren Fesselung und ich kann mich auf die mit den Wendungen des Films verbundenen Wirkungsqualitäten besser einstellen. Ich bin dann allerdings immer wieder darüber erstaunt, wie wenig mir die genaue Aufeinanderfolge der Szenen verfügbar ist. In der Erinnerung kommt es unweigerlich zu Vertauschungen, Verwechslungen und Auslassungen. Da hilft dann nur die Anfertigung eines Sequenzprotokolls (Hickethier, 1993, S. 38 f.) weiter, über das ich die Möglich116 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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keit erhalte, aus einer gewissen Distanz heraus, das Ganze zu überblicken. Denn liegt der Aufbau des Films schriftlich in Form einer Tabelle vor, lässt sich an deren Leitfaden – Stück für Stück erinnernd – rekonstruieren, welche Wirkungsqualitäten in welcher Abfolge aufkommen, wie sie sich wandeln und vermischen, welche bedeutsamen Drehpunkte entstehen etc. Liegt mir der Film auf einem Datenträger vor, sehe ich ihn mir noch einige Male an, um meine Beschreibung zu korrigieren und zu ergänzen. Bei dieser Sichtung vor dem Bildschirm kommt es regelmäßig vor, dass ich das Abspielen der DVD unterbreche und mir zwischen den Szenen Notizen zu meinem Erleben mache. Ich halte dies für angebracht, weil andernfalls es kaum möglich ist, feinere, diffus verspürte Anzeichen für Wirkungsprozesse festzuhalten. Sie sind flüchtig und rückwirkend schwer zu erinnern, weil die Fesselung durch den Film sie ins Unbemerkte verdrängt. Wenn ich aber den einbindenden Fluss unterbreche und kleinere Abschnitte von Wirkungsprozessen beschreibe, erschließt sich mir schließlich – Stück für Stück – das Ganze der gesuchten, unbewussten Figuration. Die Drehfigur, die ich mit meinem Vorgehen aufspüren will, gibt sich nicht leicht zu erkennen. Sie weiß sich gut zu verstecken und zu tarnen, ja sie scheint mir manche Hand Sand in die Augen zu werfen. Man muss diesem Widerstand mit viel methodischem Aufwand entgegentreten. Über die Beschreibung meines Erlebens beim Ansehen von Melancholia wurde ich schon bald auf ein Gefühl der Sympathie für Justine (Kirsten Dunst) aufmerksam. Im zweiten Teil versucht sie immer wieder, sich auf die von ihrer Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) organisierte Hochzeitsfeier, auf ihren jungenhaft und doch steif wirkenden Bräutigam und überhaupt auf das gesellschaftliche Spiel der Braut in anspruchsvollem Ambiente einzulassen. »Sympathie« übersetzte ich mir als einen Hinweis darauf, dass ich in dieser Richtung eine Perspektive sah. Die steten Anläufe zur Selbstüberwindung rührten mich und etwas in mir drängte offenbar darauf, das Paar zusammen und den Hochzeitstag zu einem 117 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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guten Abschluss zu bringen. Doch ich merkte auch, dass diese Gestaltungsrichtung Begrenzungen und Rückschläge hinnehmen musste. Nicht nur das egozentrische Verhalten der Eltern der frisch Vermählten gab mir manchen Anlass dazu. Auch der von Lars von Trier gewählte protzig-kitschige Schauplatz (Schloss Tjolöholm am Kungsbackafjord in Schweden) trug dazu bei, solchen Erwartungen entgegenzuwirken. Meine Sympathie erhielt neue Nahrung und wandelte sich zugleich in einen als kraftvoll erlebten Moment, als Justine gelangweilt ihre überkandidelte Hochzeitsfeier verlässt, auf einem Green des hauseigenen Golfplatzes das weiße Kleid hebt, sich hinhockt und mit sehnsüchtigem Blick in den Sternenhimmel deutlich hörbar Wasser lässt. Bei mir bildete sich ein Gefühl von anarchischer Freude. Was für ein wunderbar banaler Akt im überkultivierten Ambiente! Was für eine Befreiung! Ein ähnliches Gefühl verspürte ich, als Justine etwas später ihrem offenbar vierundzwanzig Stunden am Tag als Unternehmer denkenden Arbeitgeber Jack, der dreist versucht, der Werbetexterin auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier einen Slogan zu entlocken, entschieden die Meinung sagt. Das waren lebendige Stöße gegen eine als hohl und aufgesetzt empfundene Gute-Laune-Maschine. Ich wurde also durch die Beschreibung von Wirkungsqualitäten darauf aufmerksam, welch eine gesellschafts- oder kulturkritische Wucht in dem Film steckt. Ich nahm mir vor, diese Wirkungen bei meiner Interpretation zu berücksichtigen. An dieser Stelle konnte ich mir ihren Stellenwert für das Ganze noch nicht deutlich machen, aber ich wusste schon, dass sie nur wenig zu einer depressiven Störung passen wollten, wie es Titel, Hintergrundinformationen zu Lars von Trier und manche Szene mit Kirsten Dunst als Thema des Films vielleicht nahelegten. In diesem Rahmen ist es nicht möglich, die komplette Beschreibung des mit Melancholia gegebenen Erlebensverlaufes anzuführen. Ich möchte aber, um ein einigermaßen zusammenhängendes Bild zu vermitteln, noch ein paar Beobachtungen zum dritten Teil des Films festhalten. Dieser hat einen 118 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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völlig anderen Charakter als die ersten beiden Teile. Stück für Stück und verbunden mit dem Gefühl zunehmender Bedrohung baut sich hier die Befürchtung einer globalen Vernichtung auf: Untergang der Erde. Ich bemerkte, wie ich in der Bedrängnis Angebote der Handlung aufgriff, eine solch harte Konsequenz zu verleugnen. Wenn zum Beispiel der bedrohliche Planet nach dem ersten Nahekommen wieder kleiner wird, atmete ich erleichtert auf. Das war die eine Seite des Erlebens. Auf der anderen Seite konnte ich bei mir wiederholt Ansätze der Rührung und der Bewunderung feststellen, wenn ich beobachtete, wie sich Justine in dieser Situation verhielt. Je näher das Ende kam, desto sicherer wusste sie, was zu tun ist und wie sie sich der Situation stellen möchte. So wurde sie im dritten Teil für mich zu einem Haltepunkt. Ich wurde darauf aufmerksam, wie deutlich und klar die Aufgaben hervortraten, die es unter dem Eindruck der Vernichtung anzugehen galt: Haltung bewahren, Schwächere schützen, zusammenhalten, trösten und halten. Ich schämte mich für den einzigen Mann der Familie, der sich – nachdem er vorher mit seinen wissenschaftlichen Berechnungen Souveränität demonstriert hatte – mit einer Giftpille aus der Affäre zog. Aber ich fragte mich auch, wie ich mich wohl in seiner Situation verhalten würde. Und ich versuchte, mich innerlich auf den noch unvorstellbaren Moment vorzubereiten, nahm mir zum Beispiel vor, die Augen nicht zu verschließen. Ich wollte »den Untergang« bewusst erleben. So kann sich bei einem Film das Ganze drehen. Hatte ich im zweiten Teil noch mit Genugtuung mitvollzogen, wie Justine die aufgesetzte Fassade der Hochzeitsgesellschaft mit ihrem Verhalten attackiert, hat sich nun – im dritten Teil – die aktiv betriebene in eine passive erlittene Zerstörung verwandelt. Ich musste sie bis zum bitteren Ende durchstehen. Die Anhaltspunkte für die menschliche Fähigkeit, auch die Momente der totalen Zerstörung zu durchformen, waren in dieser Situation zwar ein Trost, aber sie konnten die schreckliche Vernichtung nicht aufhalten. 119 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Formulierung einer Fragestellung Ein unverzichtbarer Abschnitt meines Vorgehens bei der Filminterpretation besteht in der Formulierung einer Fragestellung. Im Grunde dient der ganze bisher beschriebene Aufwand nur dazu, einen Aspekt der Theorie in den Phänomenen zu entdecken, der die Interpretation auszurichten versteht. Gingen die Beschreibungen einzelner Szenen, das Bemühen, mir ein gefühltes Bild vom Filmerleben zu erarbeiten, bisher in verschiedene Richtungen, verfolgte ich mal die eine, mal die andere Spur, so drängt alles nun darauf, den roten Faden meiner Filminterpretation zu finden. Worum dreht sich der Film im Ganzen? Welcher Grundkonflikt (Erikson, Mentzos), welches Urphänomen (Goethe) oder welcher Mythos finden in Melancholia eine Behandlung? Ohne eine entschieden formulierte Fragestellung geht die Interpretation über die Sammlung geistreicher Apercus und Einfälle nicht hinaus. Nur mit einer Fragestellung als Zwischenschritt lassen sich die Ausdrucksbildungen der beim Filmerleben wirksamen, unbewussten Prozesse in eine explizite Rekonstruktion überführen. Diese Formulierung der Fragestellung sehe ich nicht als einen willkürlichen Akt, der allein durch meine persönlichen Interessen determiniert ist, wie es zum Beispiel A. Hamburger in der Diskussionsrunde andeutet. Ich würde die Entscheidung über die Fragestellung auch nicht ähnlich frühzeitig treffen, wie es G. Schneider (in diesem Band) darlegt. Für mich ist sie ein methodischer Zwischenschritt, der aus der genauen Beschreibung der mit dem gesamten Film verbundenen Wirkungsqualitäten erwächst und dazu dient, Phänomene und Theorie aufeinander zuzuführen. Melancholia gehört zu jenen Filmen, die eine Vereinheitlichung ihrer Phänomene unter eine Fragestellung nur schwer zulassen. Das liegt vor allem an seinen inhaltlich und formal sehr unterschiedlichen drei Teilen. Der erste ist ein Bilderbuch, lässt wie eine Ouvertüre Themen des Films in getragenen Tönen anklingen. Der zweite Teil konzentriert sich 120 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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auf die Hochzeitsfeier und den Morgen danach. Er hat den Charakter einer Tragödie mit komischen Zügen. Den dritten Teil kann man als Sciencefiction-Film klassifizieren, aber als einen, der den Untergang der Erde im Rahmen eines intimen, familiären Kammerspiels behandelt. Während ich den Film das erste Mal sah, störte ich mich jedoch nicht an der Heterogenität seiner Teile. Ich hatte das Gefühl, dennoch in ein sinnvolles Ganzes eingebunden zu sein. Worin fand mein Filmerleben seinen roten Faden? Welcher universale, seelische Komplex hält die voneinander abgesetzten Teile zusammen? Nachdem ich mir diese Fragen immer und immer wieder gestellt, dabei mehrere aufkommende Hypothesen mit meinem Erleben des Films abgeglichen und wieder verworfen habe, bin ich zu der These gekommen, Melancholia thematisiere die Tendenz menschlicher Kultivierungsformen, den Kontakt zu den einfachen und banalen Grundtatsachen des Lebens zu verlieren. Als Psychoanalytiker beobachten wir täglich, mit wie viel Aufwand und Kunstfertigkeit die Menschen sich über die Kernfragen des Lebens hinwegtäuschen. Das Lustprinzip, das man in Wirklichkeit als ein Unlustvermeidungsprinzip sehen muss, bringt sie dazu, immer neue Lebensformen auszubilden, die das Angehen und Hinnehmen von unverrückbaren Aufgaben des Lebens umkreisen. Künstlichkeit, Täuschung, Demonstration des Gegenteils, Verschiebung und Intellektualisierung sind mit dem seelisch-kulturellen Leben unlösbar verbunden und schaffen ein abgehobenes, zur Autonomie neigendes, kompliziertes Gewebe, das die banalen Dinge des Lebens mehr und mehr überwuchert. Man kann in diesem Gewebe auch eine Verkehrung der Kultivierung von direkten Lebensäußerungen sehen, eine zur Abstraktion und Formalisierung neigende Überkultivierung mit Tendenz zum Auskuppeln aus dem Getriebe der Lebensaufgaben. Solche Lebensformen sind mit Spaltungen, mit Leidensformen, aber auch mit einer Sehnsucht nach Neuordnung und Revolte verbunden. So sehr sie sich erhalten wollen, bringen sie doch auch einen Wunsch nach ihrer Zerstörung hervor. 121 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Abbildung 13: Abstrakte wird mit gegenständlicher Kunst vertauscht

Im Prolog ist von den banalen Grundtätigkeiten des Lebens kaum etwas zu erkennen. Die stark ästhetisierten Bilder entfalten eine süchtig machende Schönheit, in der die tragenden Lebensprozesse vielleicht als ferner Klang spürbar werden, nicht aber als strukturierte Erfahrung. Sie offenbaren sich ebenso wenig im gekünstelten Überfluss der Hochzeitsparty. Diese hat zwar eine komplizierte Form und verspricht damit ein gewisses Maß an Lebenskompetenz, aber es wird auch spürbar, auf welch instabilen Füßen sie steht. Überall sind Fassaden, Untiefen, Brüche spürbar. So wie Kunst in Kitsch umkippen kann, so kann auch der Alltag in barocken Formen erstarren und den erdenden Kontakt zu den banalen Anhaltspunkten des Lebens verlieren. Die Figur Justines ist – wie oben bereits erwähnt – ein Anhaltspunkt, sich auf die Suche nach authentischen Haltepunkten zu machen. Wenn sie aus einer spontanen Eingebung heraus im Arbeitszimmer des Hausherrn die dort ausgebreiteten Abbildungen abstrakter mit denen gegenständlicher Kunst vertauscht, bringt sich darin – für mein Empfinden – eine Suche nach den Grundqualitäten des Lebens zum Ausdruck. Sie vertragen sich nun mal nicht mit Formalisierung und Abstraktion. Sie leben nur in Darstellungsformen weiter, denen der dramatische, manchmal auch verrückte Lebensbetrieb anzusehen ist. Aber erst im dritten Teil, wenn das Filmerleben mehr und mehr unter 122 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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den Druck der unverrückbaren Vernichtung des Ganzen gerät, geben sich die tragenden Grundvorgänge des Lebens konturiert zu erkennen. Dann geht es um das nackte Überleben und die Frage, wie die letzten Stunden und Minuten des Lebens gestaltet werden können.

Rekonstruktion einer Drehfigur Mit der Formulierung der Fragestellung könnte sich meine Interpretation zufriedengeben. Sie entspricht einer psychoanalytischen Deutung des Films im Ganzen. Der Untersuchungsgang der Wirkungsanalyse ist damit allerdings noch nicht abgeschlossen. Er führt mich noch einmal zurück zu den Phänomenen. Denn es gilt noch herauszustellen, auf welche einzigartige Weise der Film das Problem der Überkultivierung behandelt. Wie schafft er es, dieses universale Thema zu einer bewegenden Erfahrung auszugestalten? Wie oben angekündigt, will ich die Fragen beantworten, indem ich nun die Drehfigur (vierte Vorannahme) heraushebe, die sich zwischen Film und Zuschauer ausbildet. Über drei beispielartige Szenen möchte ich sie im Ganzen entfalten. Die weiße Stretch-Limousine könnte den Auftakt des Ganzen repräsentieren. Sie wirkt überdimensioniert und sperrig auf den engen, kurvigen Waldwegen, die zum Schloss

Abbildung 14: Zu sperrig für den Weg des Lebens?

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führen. Sie protzt mit Größe und dem Versprechen eines glänzenden Auftritts. Sie demonstriert das Hochzeitsglück mehr, als sie es in gelebten Augenblicken spürbar werden lässt. So wirft die Szene auf das Unternehmen Hochzeitsfeier von Anfang an einen Schatten. Denn dem aufmerksamen Blick zeigt sich gerade in seiner Demonstration das Glück als behindert. Es wird sich schnell herausstellen: Es existiert gar nicht. Im zweiten Teil des Films brechen die Anläufe zur liebenden Vereinigung immer wieder ab. Das kann man als schmerzhaft erleben, aber auch als Bestätigung des eigenen Bildes von dem Zustand der Hochzeitsgesellschaft, ja der zeitgenössischen Alltagskultur überhaupt mit ihren Auftritten, ihrer Demonstration von Kultiviertheit, stetig guter Laune und Erfolg.

Abbildung 15: Sehnsucht nach Neubeginn

Damit komme ich zur ersten Wendung der Drehfigur. Über die romantische Musik Richard Wagners, die wiederholten Blicke Justines in das All, kommt eine Sehnsucht nach Neubeginn auf. Sie wird genährt von einem heimlichen Wunsch, den Ballast der Überkultivierung abzuschütteln. Die Demaskierung, die das Bild der Hochzeitsgesellschaft durch das Verhalten der Gäste, und die anarchischen Stöße, die sie durch die konsequente Verweigerung Justines erfährt, bieten sich als weitere Angriffspunkte für diese Revolte an. Obwohl es im Prolog angekündigt wurde, macht man sich hier allerdings 124 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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nicht klar, dass sich in der Welt des Films im selben Zuge die »kosmische Ordnung« verschiebt und sich das Ende der Erde überhaupt anbahnt. Die Ansätze zur Kulturrevolte erhalten eine Verstärkung von noch ungeahntem Ausmaß.

Abbildung 16: Grundtätigkeiten gestalten den Augenblick der Zerstörung

Mit dem letzten Bild vollziehe ich einen großen Schritt zum Ende des dritten Teils. Der Film hat schließlich spürbar gemacht: Man kann sich des sperrig gewordenen, irgendwie falschen Ganzen zwar zu entledigen suchen, aber man hat diese Entledigung trotzdem zu durchleiden und zu durchformen. Wir kommen aus dem Bedingungsgefüge der Wirklichkeit nicht heraus. Wenn wir wollen, dass das Ganze untergeht, müssen wir seine Zerstörung auch aushalten und durchstehen. Ehe man sich versieht, dreht sich der Wunsch nach Neubeginn in die Erfahrung einer unausweichlichen Katastrophe. Aber das Wunder des Films besteht darin: Unter höchster Belastung geben sich die Fundamente des Lebens zu erkennen. Die drohende Vernichtung des Ganzen bringt ein Spektrum an einfachen Tätigkeiten heraus. Es geht um das wohnlich machen von Wirklichkeit, und zwar so lange, wie es sie gibt. Bis zur letzten Minute. Es geht um das Ausbilden banaler Tätigkeiten wie Sorgen, Halten, Täuschen, Fliehen, Glauben, Anleiten und Aushalten. Doch in dem Moment, wo wir das vielleicht mit unserem Herzen verstehen, macht der Film 125 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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mit seinem niederschmetternden Ende auch diese Erkenntnis zunichte. Es ist alles nicht von Dauer! Derart vollzieht sich die Entwicklung des Films von der Kunst über die Künstlichkeit zum banalen Kern der Lebensvorgänge. Nicht in Ästhetisierung und Abstraktion, nicht im Überfluss, nicht in einer durch Auftritte geprägten Kultur erfahren wir, was das Leben im Innersten zusammenhält. Nur in der Not, bzw. unter der Bedrohung durch die Realität des Todes, rückt der Wert seines banalen Kerns heraus. Melancholia betreibt so etwas wie die Skelettierung der überkompliziert gewordenen, barocken Alltagskultur in Richtung auf einfache Grundvorgänge des Lebens. Worringer (1907/1987) stellte die These auf, die Kunst habe der Menschheit in ihren ersten Ausprägungen der Angstbewältigung gedient. Indem die frühen Kulturen Kunst produzierten, suchten sie das erschreckende Chaos der Wirklichkeit zu kultivieren. Von hier aus gesehen verfolgt Melancholia eine umgekehrte Richtung. Der Film beteiligt an einer erstaunlichen Rückverwandlung von Kunst in Angst und Sorge. Das Grimm’sche Märchen »Frau Holle« erzählt von zwei Töchtern. Die eine wird von der Mutter bevorzugt, die andere muss alle möglichen Dienste tun. Aus Angst vor der Mutter springt sie in einen Brunnen, gerät in ein Land, in dem sie die ihr gestellten Aufgaben sofort angeht. Sie wird mit einem Goldregen bedacht. Aus Neid springt die faule Tochter ebenfalls in den Brunnen, geht die Dinge aber nicht an. Sie wird mit einem Pechregen überschüttet. Dieses Märchen möchte ich heranziehen, um das Filmerlebnis im Ganzen mit einem mythischen Bild auszulegen und seine universale Bedeutung herauszustellen: Wir leben in einer unüberschaubaren Wirkungswelt. Wir wissen nicht sicher, was unser Leben zu tragen versteht. Sind es die kunstvollen Kultivierungsformen, die uns dem Leiden zu entheben scheinen? Sind es die banalen Aufgaben des Lebens, die uns erden und ausrichten? Worauf immer wir uns einlassen, wir können nicht absehen, was sich lohnt, denn das hängt von dem jeweils gegebenen Kontext ab. 126 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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So begeben wir uns mit besten Absichten und Wünschen in die hochkultivierte Zelebration des Liebesglücks und geraten doch in eine Verkehrung: Pech-Marie! Umgekehrt können wir uns der nackten Vernichtung aussetzen und stoßen dabei auf das Beste, was das menschliche Leben zu bieten hat: Gold-Marie! Und wenn wir beginnen, diesem Haltepunkt zu vertrauen, bedeutet auch das auf Dauer keinen Schutz: Ein zweites Mal Pech-Marie! Das Vertrackte ist: Wir wissen vorher nicht, wo wir rauskommen oder was herauskommt. Immer wieder müssen wir den Sprung in den Brunnen wagen, um es herauszufinden. Ich denke, dass der Film dieses schwer zu ertragende und zu akzeptierende Dilemma der menschlichen Wirklichkeit auf bewegende Weise zuspitzt. Mich zumindest hat er damit tief erschüttert und zu Tränen gerührt. Wenn ich den hier beschriebenen Aufwand überblicke, kommen mir Zweifel an dessen Verhältnismäßigkeit. Filmkritiker – das habe ich mir sagen lassen – formulieren ihre Interpretation nicht selten an einem Abend. Und sind dabei durchaus überzeugend! Eine Untersuchung, wie die hier vorgestellte, kann mich – je nach Komplexität und Stil des Films – durchaus einige Wochen beschäftigen. Das kommt mir ziemlich lang vor, aber ich könnte es nicht anders bewerkstelligen. Denn jeder bewegende Film ist nun mal eine komplizierte Wirkungswelt für sich. Ihr gilt mein Interesse, sie ist Gegenstand meiner interpretierenden Rekonstruktion. Aber sie gibt ihr Funktionieren nun einmal nicht einfach preis. Wir haben es mit unbewussten Zusammenhängen zu tun, die sich in schwer zu beschreibenden Wirkungen zum Ausdruck bringen. Aus diesen Gründen halte ich die lange Reifungszeit psychoanalytischer Filminterpretationen für angebracht. Gut, man kann Melancholia heranziehen und an einigen Szenen mit der Protagonistin Justine deren seelische Störung behandeln. Doch wird man damit dem Film im Ganzen gerecht? Ich denke nicht. Neben aller Unruhe und Anstrengung, die solch lange und immer wieder Irrwege einschlagende Filmuntersuchun127 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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gen mit sich bringen, machen sie mir auch durchaus Spaß. Ich erlebe es als erregend, wenn ich beginne und noch keine konkrete Vorstellung über das Ergebnis habe. Was wird mir der Film mitteilen? Wohin wird er mich führen? Ich erlebe es als bereichernd, wenn ich das Gefühl habe, die Untersuchung findet endlich ihre Abrundung: Das Ganze hat ein Gesicht bekommen. Und was der Film mir auf diese Weise über die Wirklichkeit des Seelischen mitteilen kann, geht mir noch lange Zeit nach, markiert manchmal einen Wendepunkt in meiner Entwicklung als Psychoanalytiker. So erlebe ich mich bei meinen Filmanalysen weniger als ein Wissender und mehr als ein Lernender. Anders ausgedrückt möchte ich mein Vorgehen mit dem eines Handwerkers vergleichen, der sein Wissen und sein Können in den Dienst einer zum Gebrauch bestimmten Sache stellt (Blothner, 2013). Die Methode, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe, kann man als eine Entwicklungsmethode bezeichnen. Sie geht davon aus, dass sich ein Film – wie schon gesagt – nicht über direkte Zugriffe, sondern nur über eine Aufeinanderfolge von mehreren Bearbeitungsversionen untersuchen lässt. Ausgangspunkt ist immer die Beschreibung des Erlebens. Sie hält die mit dem Film unmittelbar verbundenen Wirkungsqualitäten fest und geht ihren Gestaltungen nach. Dabei stößt sie unvermeidbar auf Entwicklungsprozesse, denn der Film realisiert sich nur in ihnen. Die Beschreibung ist dabei nicht ohne Theorie, sondern bringt die beobachtbaren Phänomene und die niedergelegten Konzepte der Psychoanalyse über einen Austausch zusammen. Mit welchem Konzept lassen sich die Phänomene fassen? Welche Verlebendigung einer bestehenden Theorie legen sie nahe? Auf diese Weise läuft die Beschreibung auf die Formulierung einer Fragestellung zu. Diese gibt der Interpretation ihre theoretische Ausrichtung und regt in einem nochmaligen Rekurs zu den beobachtbaren Tatsachen die Rekonstruktion einer das Filmerleben strukturierenden Figuration – meist in Form einer Drehfigur – an. Der ganze Untersuchungsprozess hat die 128 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Zur Methode der wirkungs­analytischen Filminterpretation

Form einer Spiralbewegung. Er sucht das lebendige Ganze des Films, vor allem auch seine Werdeform zu erhalten, zu zergliedern und arbeitet es in mehreren, aufeinanderfolgenden Versionen heraus. Aus der Bewegung des Austauschs ergibt sich, dass Theorie und Methode bei der Filmwirkungsanalyse eine enge Verbindung eingehen. Ich sehe es als eine noch zu leistende Aufgabe an, im Rahmen der Psychoanalyse zu einer Theorie des Films zu gelangen, die der wirkungsanalytischen Interpretation von Filmen einen methodischen Rahmen geben kann. Die in den 1970er Jahren und später veröffentlichten Arbeiten zur psychoanalytischen Filmtheorie (Metz, 1975; Baudry, 1975/1994) hatten die äußere Kinosituation zu ihrem Gegenstand erhoben und eignen sich daher nicht als Leitfaden für eine inhaltliche Interpretation von Filmen. Ihnen gegenüber steht heute eine unübersehbare Zahl von psychoanalytischen Filminterpretationen, die zu diesen Theorien keinen Bezug haben. Wer Filme interpretiert, scheint sich nicht ein Bild seines Funktionierens machen zu wollen, und wer sich früher mit dem Sehen von Filmen theoretisch beschäftigte, sah sich nur selten veranlasst, eine konkrete Interpretation vorzulegen. Von all dem hier beschriebenen, methodischen Aufwand ist an einer schließlich dargelegten oder vorgetragenen psychoanalytischen Filminterpretation nichts zu erkennen. Er ist im Hintergrund wirksam und stellt sicher, dass die Fallstricke der »wilden Filmpsychoanalyse« vermieden werden. Das methodische Vorgehen bringt sich nur in der Plausibilität und der Überzeugungskraft einer Interpretation zum Ausdruck – und in ihrer Fähigkeit, den Film zu verlebendigen.

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Literatur Baudry, J.-L. (1975/1994). Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 48 (11), 1047–1074. Blothner, D. (2013). Psychologie als Handwerk – Ins-Werk-Setzen als Maßstab. anders, 15, 12–17. Deleuze, G. (1983/1997). Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dilthey, W. (1894/1957). Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In W. Dilthey (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 5 (S. 139–240). Stuttgart: Teubner. Freud, S. (1914). Der Moses des Michelangelo. GW Bd. X (S. 142–201). Frankfurt a. M.: Fischer. Goethe, J. W. (1817/1967). Schriften zur Botanik und Wissenschaftslehre. Nördlingen: Beck. Hickethier, K. (1993). Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart u. Weimar: Metzler. Metz, C. (1975). Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 48 (11), 1004–1046. Salber, W. (1960/1977). Zur Psychologie des Filmerlebens. In W. Salber (Hrsg.), Wirkungsanalyse des Films (S. 39–94). Köln: König. Salber, W. (1969). Strukturen der Verhaltens- und Erlebensbeschreibung. In M. Thiel (Hrsg.), Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden (7. Lieferung). Methoden der Psychologie und Pädagogik (S. 3–52). München: Oldenbourg. Worringer, W. (1907/1987). Abstraktion und Einfühlung (14. Aufl.). München u. Zürich: Piper.

130 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Lars von Triers Spiel mit dem Anti-Kino

Explikation der Erlebensbewegungen der ersten Minuten

D

as erste Bild ist: Schwarzfilm. Getragene Streichmusik, die zur Dunkelheit passt. Ein paar Sekunden lang. So wird der Kinogänger hingehalten und eingestimmt auf eine Überraschung. In Alan J. Pakulas Watergate-Film All The President’s Men ( USA , 1976) war das erste Bild eine grellweiße Leinwand, die zu einem Blatt Papier wurde, als ein Buchstabe buchstäblich darauf geknallt wurde: Journalismus als Abrechnung mit den politischen Schurken. Hier, bei Lars von Trier, folgt die wie einen Sonnenaufgang ankündigende Überblendung, die aber im abgedunkelten Licht Kirsten Dunst, die Protagonistin des Films, präsentiert: mit halb offenen Augenlidern und strähnigen Haaren; unverwandt schaut sie in die Kamera und damit auf uns. Die Augenlider bewegen sich in einer sehr verzögerten Zeitlupe – langsamer, als wir das Zeitlupentempo gewohnt sind. Bläser übernehmen das Thema der Streicher und kommentieren: dass hinter ihrem Kopf Vögel ebenfalls verlangsamt herunterfallen; sie sehen teilweise wie (für den Bräter) vorbereitet aus, wie man sie beim Händler kaufen kann. Ein seltsamer Beginn; ich befinde mich in einer Welt, die offenbar aus den Fugen geraten ist. Der Filmemacher Lars von Trier will es mir nicht einfach machen. Ich ärgere mich; verfremdete Kinobilder stoßen mich ab; ich bin nicht in einer art performance, 131 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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sage ich mir, sondern im Kino; ich wünsche und erwarte einen Kinofilm.

Abbildung 17: Fallende Vögel wie für den Bräter vorbereitet

Schnitt: das zweite Bild. Ein von kegelförmig getrimmten Bäumen flankierter, rechtwinkliger, sorgfältig geschnittener Rasen, an beiden Längsseiten von einer Natursteinmauer begrenzt – Größe: ein schmales Fußballfeld – an den Querseiten von einer Sonnenuhr (vorn) und von einer kleinen Mauer (hinten) begrenzt mit einem Blick aufs Wasser, wobei nicht zu sehen ist, ob das Wasser zu einem See oder zu einem Meer gehört. Getragene Streichmusik. Der Traum eines Grundstücks. Etwas stimmt nicht. Eine tote Stille. Die Bäume und die Uhr haben zwei Schatten, die in einem rechten Winkel zueinander stehen. Das Licht stimmt nicht. Die Sonnenuhr zeigt eine doppelte Zeit an: knapp 14.00 Uhr und 16.00 Uhr. Es ist schwer auszumachen. Nach der Sonnenuhr ist es Nachmittag. Aber das Licht ist künstlich – fahl, grau, das Sonnenlicht, das die Schatten implizieren, ist verschwunden. Dieses Licht, vermute ich, ist Resultat der Nachbearbeitung am Rechner; die Schattenverdopplung auch. Langsame, schwere Bläsermusik. In der Mitte des Rasens eine winzige Figur, die nicht zu erkennen ist. Ich bin fasziniert und irritiert; ich weiß nicht, in welcher Art von Kinowirklichkeit ich bin. Kinolicht, das mir nicht gefällt. Schnitt: das dritte Bild. Ich sehe das sehr bekannte Bild einer Schneelandschaft – ein Tal, in das ein Ort platziert ist –, 132 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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links der Hügel mit Häusern, von dem aus zwei, drei Männer mit Lanzen zügig hinunterzustapfen beginnen, von Hunden begleitet; graues, angedunkeltes Licht, offenbar ein Nachmittag, es scheint sehr kalt zu sein. Flötenmusik, die ich als Ankündigung eines Unheils lese, bewegt die Zeit. Der Name des Künstlers fällt mir nicht ein, ich rate: »Brueghel«, aber der Einfall hilft mir nicht; ich bin zu unruhig, um nachzudenken; ein Ärger breitet sich buchstäblich in mir aus. Blätter fallen vor dem Bild herunter oder aus dem Bild heraus. Allerdings scheinen sie zu brennen und sich an den Rändern aufzurollen. Fallen, resümiere ich mit Anstrengung, ist eine Bewegung der ersten und dieser dritten Einstellung. Das Orchester mit seiner wuchtigen Musik drängt sich auf. Ein Planet – offenbar die Erde, allerdings mit einer filzigen Oberfläche – nähert sich der Kamera – und damit uns. Rechts von ihm im Hintergrund ein hell leuchtender Stern in weiter Entfernung. Er verschwindet hinter dem Planeten. Ganz langsam, wie bei einem Sonnenuntergang, aber in horizontaler Bewegung kann man sehen, wie das Licht abnimmt und die Dunkelheit einsetzt. Was jetzt? Ein Bild von Kubrick’scher Schönheit. Eine Frau schleppt offenbar ihren Jungen über den Rasen eines Golfplatzes auf die Kamera zu; sie kommt uns entgegen. Ganz weit im Hintergrund des Bildes ist das Wasser zu sehen. Wieder in (enorm verlangsamter) Zeitlupe. Ihre Bewegungen kosten viel Kraft; denn sie hat, so will uns das Bild suggerieren, in dem Rasen tiefe Fußspuren hinterlassen, die diesen Teil des Golfplatzes unbespielbar machen. Sie hebt einen Fuß und setzt ihn in die offenbar präparierte, tiefe Spur; mehr ist nicht zu erkennen. Was soll die Fahne, die ein im Golfsport nicht existierendes 19. Loch markiert? Spott über den ramponierten Rasen und damit über den angedeuteten ramponierten Reichtum? Oder die besondere Realität eines Alptraums? Wieder ist das Licht künstlich in dem Sinne, dass offenbar eine andere (innere) Wirklichkeit markiert wird. Die Mutter ist in Not: Sie scheint vor etwas zu fliehen. Ihr Mund ist wie 133 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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zu einem Schrei weit geöffnet; aber ich kann keinen Schrei hören. So stumm ließ Alfred Hitchcock Lydia Brenner ( Jessica Tandy) in seinem Film Die Vögel (USA , 1963) schockiert davonrennen, nachdem sie den von Vögeln getöteten Bauern Sam Fawcett entdeckt hatte. Hitchcock hatte Edvard Munchs »Schrei« in ein handfestes Kino-Narrativ platziert. Wes Craven platzierte den »Schrei« auf eine Maske, mit der sich der grausame Protagonist in dem Film Scream (USA , 1996) verbarg – einer Art parodistischen Horrorfilms. Wo ist der Filmemacher Lars von Trier?, rätsele ich.

Abbildung 18: Der Mund weit geöffnet, aber kein Schrei zu hören

Ein Pferd fällt ohne Reiter langsam auf die Seite. Pechschwarz glänzend wie mit Schuhcreme eingerieben sieht das Pferd in der (wieder) sehr künstlichen Beleuchtung sehr seltsam aus. Das Kippen des Pferdes wird in einer unnatürlichen Bewegung zerdehnt zu einer Szene der Lähmung und Ausweglosigkeit, wie sie Robert Musil in seinem Text »Fliegenpapier« (Musil, 1913/1978) beschrieb. Als würde dem Pferd der Kampf ums Überleben genommen. Was kommt auf mich zu? Dann folgt das Bild einer ungewöhnlichen Szene: in der Bildmitte ein Schloss, am Himmel leuchten drei Planeten wie drei Monde, im Vordergrund ein riesiger Rasen, auf dem links Kirsten Dunst in einer Art Hochzeitskleid steht, in der Mitte ein Junge im Anzug – vielleicht derselbe Junge, der kurz zuvor von der Mutter am 19. Loch vorbeigetragen wurde – 134 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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und rechts eine Frau im Abendkleid, die seine Mutter sein könnte. Ein Tableau wie aus einem Gruselfilm; die vertrauten monströsen Protagonisten müssten in ihren weiten, schwarzen Mänteln gleich auftauchen. Der Filmemacher spielt und verblüfft. Mein Ärger dominiert; ich weiß nicht, wohin ich geraten bin. Kinoarbeiten werden zitiert, verfremdet, auf den Kopf gestellt, aber ich komme nicht mit. Kirsten Dunst zieht, wieder im Hochzeitskleid, mit großer Anstrengung, als würde ihr ein kräftiger Wind ins Gesicht blasen, ein mächtiges Gestrüpp hinter sich her: die Frau als Zugpferd. Zwei gleich große Planeten scheinen sich wie Brüste ohne Warzen zu berühren; aber sie schieben sich aneinander vorbei. Das dunkle Bild eines Erkers mit dem Blick auf eine draußen auf dem Rasen stehende Schale, in der ein großes Feuer brennt. Dann liegt Kirsten Dunst, bekleidet mit einem Hochzeitskleid, im Wasser und schaut in die Kamera; sie hält in Brusthöhe einen Strauß Schneeglöckchen, während sie sich langsam nach unten bewegt, als würde sie aus dem Bild rutschen. Die Bildaufsicht kenne ich aus Sam Mendes’ Film American Beauty (USA , 1999): Dort lag die junge, begehrte Frau (Mena Suvari) in einem Meer von Rosen, herbeiphantasiert von Lester Burnham (Kevin Spacey). Ein Junge schnitzt an einem Ast und schaut aus dem Bild heraus, als würde er etwas Grauenvolles wahrnehmen. Was wie eine Abendszene gefilmt ist, ist kein Abend; in dem Wald, aus dem der Junge trat, sind die Birken einzeln beleuchtet – der Wald ist kein Wald, sondern soll als ein arrangierter Ort des Schreckens durchgehen; ein kräftiger Wind bewegt die Zweige der Sträucher und die Blätter der Bäume. Ein kleiner Planet, sehen wir in der folgenden Szene, schlägt in einen großen Planeten ein, wobei das Verbum Einschlagen den Vorgang nicht beschreibt: Es handelt sich um ein langsames Eindringen und gleichzeitiges Aufnehmen des kleinen von dem großen Planeten. Die Leinwand wird wieder schwarz. Womit ich nicht (mehr) gerechnet hatte, folgt: der Vorspann – »Lars von Trier« in der ersten, Melancholia in der zweiten Zeile in Großbuchsta135 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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ben, die aus einem Kohleuntergrund herausgekratzt wurden. Ich bin erleichtert. Fängt jetzt der Kinofilm an?

Subjektivität als Erfassungsinstrument Den Beginn eines Kinofilms verstehe ich als die einladende, imaginierte Antwort des Filmemachers auf das Warten des Kinogängers oder der Kinogängerin. Das Warten vor der Leinwand ist das Produkt einer weitreichenden kulturellen wie psychosozialen Evolution: Das Kino ist im 20. Jahrhundert zu dem zentralen künstlerischen Medium der Verständigung über unsere erfahrene, erträumte und phantasierte Existenz geworden (Knellessen u. Reiche, 2007); es inszeniert, transzendiert und modifiziert unseren Alltag; die Herstellung seiner Narrative ist äußerst künstlich, ihre Präsentation wirkt aber (im Allgemeinen) natürlich oder vertraut; es imaginiert und strukturiert unsere Blickbewegungen; es gestattet Beziehungserfahrungen. Es ist als ein Bildermedium auch die Kunst der Beschreibung des Lichts. Zwei Bedeutungen hat das Wort Kino in unserem Sprachgebrauch. Zum einen bezeichnet es den imaginativen Raum dieser Kulturform: das Erleben und das Beschäftigen mit den Spielfilmen und deren Personal (vor und nach der Vorführung). Je nach Lebensentwurf und Lebenserfahrung ist es (mehr oder weniger) in uns eingedrungen oder wir haben es in uns aufgenommen als Lebensform und Lebenshaltung (Eco, 1985); es gestattet eine eigene, persönliche Welt- und Selbsterfahrung und lebt von dem Vergnügen an narrativer Kunst. Zum anderen bezeichnet das Kino den Ort dieses Raums: die Filmtheater oder Abspielstätten. Dort bin ich regelmäßiger Gast seit dem Zeitpunkt meiner Einschulung. Inzwischen sind einige Dekaden vergangen und ich bin ein psychoanalytisch orientierter und suchender Kinogänger geworden. Heute erwarte ich von einem Kinofilm die Belebung meiner Selbsterfahrung, eine Selbsterweiterung und Welterfah136 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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rung. Reise, Besuch und Begegnung sind die orientierenden Metaphern für meine Auseinandersetzung mit einem Film. Mit der Reise verbinde ich die Erlebensbewegungen, mit dem Besuch und der Begegnung die Erfahrungen der Beziehungen zu den Protagonisten der Leinwand, wobei der Besuch die ersten und die Begegnung die späteren Beziehungserfahrungen meint im Kontext der eigenen Positionierung zu den Protagonisten, die gewissermaßen von der Platzanweisung des Filmemachers abhängt, der wie ein Gastgeber seinen Gast in eine spezifische Situation der Beziehungsnähe oder Beziehungsferne zu den Leinwandfiguren konstelliert (Zwiebel, 2007). Die filmischen Narrative sind komplex – direkt und indirekt – adressiert; sie gestatten einen indirekten Dialog. Je nach Zeitpunkt des Erlebens oder der Auswertung des Erlebens – kann man ihn erspüren, erschließen oder rekonstruieren. Ein gelungener Kinodialog hat die Erfahrung und das Gefühl eines lebendigen Kontakts zur Folge: Das Paradox, vom Narrativ angesprochen und gleichzeitig ausgeschlossen zu sein, mildert sich in einer Bewegung des Auflebens im intermediären Raum des Erlebens eines Spielfilms (Winnicott, 1985). Künstlerische Narrative sind (mehr oder weniger) stark verdichtete Werke geschichteter und codierter Kontexte. Man muss, wenn man der psychoanalytischen Orientierung folgt, die die Subjektivität als Instrument der Erfassung einsetzt, die eigene Erlebensbewegung nachträglich beschreiben und auswerten. Die Beschreibung und die Auswertung dienen dem Auflockern der verdichteten Oberfläche der Erlebensbewegungen eines Narrativs: Sie nehmen die Textur eines Films auf, drängen sich mit ihrer Subjektivität in dessen Textur und arbeiten dabei die Bewegungen und das Muster des filmischen Narrativs heraus. Dieser Auswertungs- und Bearbeitungsprozess subjektiver Wahrnehmungen ist aus dem Alltag wie aus der psychotherapeutischen Praxis vertraut. Im Alltag wie in der klinischen Praxis werden die Wahrnehmungen einer impliziten oder expliziten Überprüfung unterzogen; im alltäglichen Kontext 137 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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eher im Dienst der impliziten Selbstvergewisserung und der Bestätigung, im klinischen Kontext eher der expliziten Selbststärkung und der Differenzierung/Trennung; im Kontext der Filmanalyse der expliziten Differenzierung, Vertiefung und Bereicherung. Ralf Zwiebel hat mittels drei Polaritäten die Dimensionen psychoanalytischer Erkenntnisbewegungen systematisiert; mit ihnen hat er die von Sigmund Freud formulierte Arbeitshaltung der sogenannten gleichschwebenden Aufmerksamkeit entfaltet, die sich von zügigen kognitiven Festlegungen (möglichst) freihält und (möglichst) spät dafür entscheidet (Zwiebel, 2013). Wobei nach meinem Verständnis die gleichschwebende Aufmerksamkeit auch eine Art dekonstruktiver Tätigkeit impliziert: als die gewissermaßen mikroskopische Fähigkeit, sich in ein verdichtetes Narrativ einzuhören (und einzusehen), um es gegen den sprichwörtlichen Strich auf seine Subtexte hin zu lesen (Reiche, 2011). Zentraler Begriff meiner Erkenntnisbewegung ist die Beschäftigung und die Identifikation der Platzanweisung im filmischen Narrativ, der ich ausgesetzt wurde; zwei Fragen werden damit zu beantworten gesucht: 1. Wo bin ich hineingeraten? 2. Was musste ich erfahren?

Die Auswertung der Erlebensbewegung als Verfahren der Dekonstruktion des filmischen Narrativs Nach dem Vorspann mit dem Zwischentitel »Part I Justine« die erste Sequenz: Eine limo – so nennen die Nordamerikaner die langgezogenen, unförmigen, schwarz oder weiß lackierten Limousinen für die besonderen Anlässe öffentlichen Glanzes – steckt in einem schmalen Weg, der von Felsbrocken begrenzt wird, an einer Kurve fest. Wir sehen den Wagen von oben: Er steckt nicht nur fest, sondern er scheint auch auf der Leinwand zu hängen. Im Fond sitzen Justine (Kirsten Dunst) im Hochzeitskleid und Michael (Alexander Skarsgård) im Frack: das Hochzeitspaar. Sie wundern sich über den Fahrer, der mehr rückwärts als vorwärts fährt. Sie sind beunru138 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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higt. Michael erkundigt sich mehrmals beim Chauffeur; er spricht ihn – ein wenig ängstlich, unterwürfig – mit Sir an. Er gibt ihm Ratschläge. Später gibt er es auf und folgt Justine, die ihr Vergnügen daran findet, dass der Chauffeur sich festgefahren hat. Sie lächelt und scherzt. Sie küsst Michael. Fahrerwechsel. Michael übernimmt das Steuer, bewegt den Wagen offenbar durch die Enge, die schwierige Situation ist überstanden. Justine übernimmt, aufgekratzt, jetzt möchte sie ihre Fähigkeit zu rangieren auch ausprobieren; obwohl sie die Bedienung nicht kennt – versehentlich setzt sie die Scheibenwischer in Bewegung –, beginnt sie zu fahren. Der Fahrer hat vorher daraufhin gewiesen, dass das weiße Ungetüm nicht sein Wagen sei; er ist besorgt. Michael signalisiert Justine den Abstand zu den Steinen. Aber sie gibt sich keine Mühe und stößt gegen einen Felsen. Sie hat ihr Vergnügen. Ich empöre mich über die Haltung Was-kostet-die-Welt und ärgere mich über Michael, der in ihr Vergnügen einstimmt und Justine folgt wie ein braver Junge. Schnitt: Szenenwechsel. Justine und Michael erreichen den Ort ihrer Hochzeitsfeier – ein mehr als stattliches Herrenhaus; in der Auffahrt sind die schweren Limousinen geparkt; das Heck eines Rolls Royce ist zu erkennen. Wie sie die lange Limousine herausbugsiert haben, erfahren wir nicht. Wir sind bei sehr wohlhabenden Leuten. Justine und Michael sind um über zwei Stunden verspätet, erfahren sie von Claire (Charlotte Gainsbourg), Justines Schwester; die Feier hat bereits die Mitte des Programms erreicht; die vielen Gäste haben geduldig gewartet. Claire flüstert ihren Vorwurf; sie fühlt sich offenbar den Gästen verpflichtet. Das scheint Justine und Michael nichts auszumachen, registriere ich besorgt und amüsiert. Claire dringt auf Justine ein, sie solle heute Abend keine Szene machen; eine ganze Woche habe sie mit der langweiligen Organisation ihrer Feier verbracht, klagt sie. John, Justines Schwager (Kiefer Sutherland), ist empört; er habe die Party – mit dem teuersten Planer (Udo Kier) auf dem ganzen Planeten, sagt er – finanziert, weil sie sich die gewünscht hätte, 139 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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und jetzt sei sie zu spät. Justine und Michael entschuldigen ihre Verspätung mit einem Bericht der holprigen Fahrmanöver und mit einem mehrfachen Sorry ohne Bedauern, wie ich finde. Justine wechselt plötzlich den Kontext und schaut in den Himmel – anders als Melanie Daniels (Tippi Hedren) in Alfred Hitchcocks Die Vögel, die – nach ihrer Verletzung durch eine Möwe – sich wunderte, dass eine Möwe trotz der hellen Nacht gegen die Tür des Hauses der Lehrerin Anne Heywood (Suzanne Pleshette) geflogen war. Justine hat eine Frage an John. Er antwortet und nennt den roten Planeten, nach dem sie gefragt hatte: »Antares, the main star in the scorpion constellation«, antwortet er mit dem Stolz eines Kenners.

Abbildung 19: Plötzlicher Wechsel des Kontextes

Die Erlebensbewegungen sind für eine Erörterung des Kerns und des Musters des Narrativs ausreichend beschrieben. Lars von Triers erste Bilder schlossen den Dialog mit dem Kinogänger aus; sie verwirrten, labilisierten und initiierten meine vergebliche Suchbewegung nach einem tragfähigen Sinn. Die Welt schien aus den Fugen geraten zu sein; die Regeln der Gravität waren ausgesetzt; enorm verlangsamte Zeitlupen kontrastierten mit den vertrauten narrativen Kinostrategien im Zeitraffer. Das Licht wirkte tot; die Bewegungslosigkeit der Bilder oder die Bewegungslähmung der Protagonisten signalisierten ein tiefes Erschrecken; die Wirklichkeit des Films war unklar. Ich sah mich einer fremden, unzugängli140 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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chen Wirklichkeit ausgesetzt; ich fühlte mich ausgeschlossen, aber hineingezogen; ich fröstelte. Ich ärgerte mich. Lars von Triers Film war mir unangenehm. Die ersten Bilder der Exposition (nach dem kurzen Vorspann) nahmen mich dagegen ein: Tageslicht; eine vertraute Szene: das Problem der Fahrzeugbeherrschung in schwieriger Situation. Ich kenne das Problem als Traumtext: wenn ich meinen Wagen nicht oder nur mit größter Anstrengung abbremsen kann. Aber die Not des Umgangs mit der Angst vor dem Autofahren als die Angst vor der Frage der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und die Not des Neids, aus einem solchen Fahrzeug ausgeschlossen zu sein, erwiesen sich als irrelevant: Wie ein missglückter Traumtext wurde die Szene abgebrochen. Stattdessen kam die gravierende Differenz des Paares hinsichtlich Affektregulation, Realitätskontakt, Bezogenheit, Bindung, Qualität der intimen Kommunikation sowie der Schichtdifferenz in den Blick: Dieses Hochzeitspaar, ahnte ich, wird kein Paar bleiben. Am Ort der Hochzeitsfeier angekommen, applaudierte die Gesellschaft der Gäste. Aber die freundlich quittierte Ankunft des Paares war auch Routine. Ich war auf einem Fest gelandet, bei dem ich kein Gast sein wollte. Die Freundlichkeit verdeckte nur kurz die Verachtung, die Verwahrlosung, die gegenseitige Unerreichbarkeit und die Beziehungsleere. Nur Claire und John waren in ihrem Interesse, die aufwändige Hochzeitsfeier über die Runden zu bringen, aufeinander bezogen. Ich fühlte mich als Beobachter des Prozesses der Dekompensation des Paares, das die Hochzeitsgäste nicht aushielt und die Hochzeitsfeier nicht überstand, zwar in dessen Nähe, aber zugleich auf einem entfernten Barhocker platziert; mir war regelrecht kalt geworden. Beziehungsabbrüche – Verweigerungen, Kränkungen – kennzeichneten die Bewegungen der Protagonisten. Mit der ersten Szene nach dem Vorspann – dem erfolglosen Rangieren der Limousine – lieferte Lars von Trier den Entwurf für das Thema und die Gestalt des Narrativs: die Lähmung des 141 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Abbildung 20: »Dieses Hochzeitspaar, ahnte ich, wird kein Paar bleiben.«

vertrauten (Kino-)Erzählens. Der zentrale Affekt und das Muster der Interaktionen waren ein Hass-erfülltes, gegenseitiges Wüten: Claires und Justines Mutter (Charlotte Rampling) wütete in ihrer tiefen Verbitterung über ihre gescheiterte Ehe; der Vater ( John Hurt) wütete in seiner tiefen Verachtung gegen seine geschiedene Frau und gegen die Konvention der Hochzeit; Justines Chef, Inhaber einer Werbeagentur, wütete mit seinen Kränkungen gegen seine Abhängigkeit von Justines Kreativität; Claire wütete gegen ihre Schwester, weil sie die Konvention der Feier mit ihrer Verweigerung unterläuft; Justine wütete mit ihrem depressiven Rückzug gegen die Verpflichtung ihrer gerade legalisierten Bindung; John wütete über seine Schwiegermutter, deren Gepäck er vor der Eingangstür auf den Kiesweg warf, und später über seine Schwägerin, die seinen Einsatz nicht honorierte – aber zumindest in der Lage war, die Markierung eines Golfkurses zu benennen: achtzehn Löcher. Die Hochzeitsgesellschaft ging – in ihrem Hass erschöpft – auseinander. Zurück blieben Justine, Claire, John, Leo und little father ( Jesper Christensen). Schließlich ritten die beiden Schwestern aus. Wir folgten ihnen – offenbar in einem Hubschrauber. Es war nebelig. Die Pferde scheuten. Justine schaute in den Himmel und vermisste Antares. Die Leinwand war schwarz. Das erste Kapitel Justine war beendet. Das zweite Kapitel Claire folgte. 142 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Lars von Triers Spiel mit dem Anti-Kino

Intertextuelle Rekonstruktion der Subtexte Die beiden Teile von Melancholia wirken wie zwei Filme. Der erste Film erzählte die Destruktion einer Hochzeitsgesellschaft anhand der gescheiterten Beziehungen, der Beziehungsabbrüche und Beziehungsverweigerungen. In ihm breitete sich der zerstörerische depressive Sog aus, in den Justine geriet und mit dem sie gewissermaßen den Filmtitel repräsentierte. Die Erlebensbewegung war geprägt von meinem Widerwillen, Ärger und meiner Gegenwehr gegen meine Anwesenheit in dieser Hochzeitsgesellschaft. Der erste Film steht in der Tradition der Filmarbeiten, in denen das Gefüge einer Abendgesellschaft zerlegt wird – angefangen mit Luis Buñuels Film El ángel exterminador (Der Würgeengel; Mexico, 1962), der den Prozess der Desintegration einer großbürgerlichen Gruppe, die das Haus des Gastgebers nicht zu verlassen imstande war (bis ein Gast nach Tagen die rettende Idee hatte), als eine Parabel auf die psychosoziale Verfassung einer Gesellschaft beschrieb. Der zweite Film steht in der Tradition sogenannter Katastrophenfilme, in denen häufig die Katastrophe sich als nicht so katastrophal erweist. Hier breitete sich Claires zunehmende Angst vor dem sich nähernden Planeten Melancholia aus; während sich Justines Verfassung in einer Art ambivalenter Form von Resignation und Erleichterung balancierte. Lars von Triers Erzählform erinnerte (von Anfang an) an Alfred Hitchcocks Arbeit Die Vögel: Der Blick in den Himmel (um Ausschau nach den Möwen oder Krähen zu halten) wurde von ihm besetzt. Als Claire mit dem Prüfdraht die Größe des herannahenden Planeten Melancholia realisierte, verkörperte sie ein ähnliches Entsetzen wie Melanie Daniels, die vor der Schule im kalifornischen Bodega Bay auf Cathy Brenner (Veronika Cartwright) wartete und eine Zigarette rauchte, während sich in ihrem Rücken von ihr unbemerkt ein Schwarm Krähen auf dem Klettergestell versammelte – bis sie den Flug einer Krähe bis zu dem Gestell verfolgte und die schwarze, krächzende Bedrohung entdeckte. Allerdings 143 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Gerhard Bliersbach

war ich nicht so schockiert wie damals bei den Vögeln – in Lars von Triers Erzählung hatte ich mich schon längst abgefunden mit dem Ereignis der Katastrophe: Als ein Kinogänger ohne Hoffnung verfolgte ich die Protagonisten mit der Frage, wie sie sich einstellen auf das Ende ihres Lebens und auf die damit verbundene ungeheure Einsamkeit – eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Johns schneller, stummer Selbstmord überraschte mich; mit Claires Verzweiflung ging ich mit; Justine und Leon blieben mir fremd in ihrem Versuch eines magischen Spiels. Natürlich gehören beide Filmteile zusammen. Sie ergänzen sich und legen sich aus. Lars von Triers Film verstehe ich von seinem Ende her. Das Narrativ der Katastrophe zerstört auch die Erzählperspektive des Films – und damit den Filmemacher Lars von Trier. Das aber wollte er sicherlich nicht erzählen; sondern – vermutlich – dass die Katastrophe der Depression ihn zu zerstören drohte in seiner Kreativität als Filmemacher. Beide Filmteile erzählen einen Subtext: den Hass der Depression, den Donald Winnicott als ihren Kern verstand, und die tiefe Angst vor der eigenen Zerstörung. So verstanden, hat Lars von Trier von der Unerträglichkeit seiner depressiven Verfassung mit dem Text des Weltuntergangs erzählt, den er seinem Publikum zumutete, sich selbst aber ausnahm. Er begann sein (antikapitalistisch codiertes) Narrativ mit dem unhappy ending einer Hochzeit (womit er die vielen Hochzeiten Hollywoods auf den Kopf stellte) und endete mit dem sehr eigenen, persönlichen happy ending, mich mit den Scherben meiner Kinopassion ins Tageslicht zu entlassen. Zum Glück, muss ich sagen, versorgen die DVDs den Kinogänger mit dem Bonusmaterial – mit dem sie allerdings dem Filmemacher und dem Kino in den Rücken fallen –, was im Fall von Lars von Trier bedeutete, dem Filmemacher von Melancholia zuhören zu können, der seine eigene Arbeit nicht recht schätzen konnte, sich abfällig über sie äußerte und als whole kitsch bezeichnete. Das war, muss man vermuten, ironisch wie ernst gemeint. Ich würde dazu sagen: Spielen mit kunstgewerblichem Anti-Kino. 144 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Lars von Triers Spiel mit dem Anti-Kino

Literatur Eco, U. (1985). Über Gott und die Welt. München. Hanser. Knellessen, O., Reiche, R. (2007). Kreuzungen. Eine Analyse von 21 Grams anhand formaler Elemente. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 61 (12), 1211–1225. Musil, R. (1913/1978). Das Fliegenpapier. Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek: Rowohlt. Reiche, R. (2011). Mutterseelenallein/No. 2. Das Tabu der Schönheit in Kunst und Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Stroemfeld. Winnicott, D. W. (1985). Playing and reality. London: Penguin. Zwiebel, R. (2007). Zwischen Abgrund und Falle. Filmpsychoanalytische Anmerkungen zu Alfred Hitchcock. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 61 (1), 65–73. Zwiebel, R. (2013). Was macht einen guten Psychoanalytiker aus? Grundelemente professioneller Psychotherapie. Stuttgart: KlettCotta.

145 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Salek Kutschinski

Wie habe ich mich Melancholia angenähert? – Rückblick auf eine persönliche Rezeptionsgeschichte In meinem Beitrag soll es nicht um ideale psychoanalytische Herangehensweisen an Filme gehen. Mich hat bei der ursprünglichen Vorgabe für unsere Tagung beschäftigt, wie ich mich realiter einem Film wie Melancholia annähere. Wie komme ich wirklich zu meinen Urteilen und sind diese psychoanalytisch begründet? Dazu wähle ich einen retrospektiven Ansatz, indem ich zu rekonstruieren versuche, wie ich vor zwei Jahren über den Film nachgedacht habe, als noch keine Aufgabenstellung mit ihm verbunden gewesen ist. Ich hoffe, damit naturalistischere Einblicke zu ermöglichen und einen Effekt zu vermeiden, der im klinischen Zusammenhang bekannt ist, nämlich dass eine Therapiestunde anders verläuft, wenn man schon weiß, dass sie auch für eine Kasuistik herhalten soll. Die vorzustellenden filmanalytischen Reflexionen sind damals also nicht mit der Absicht erfolgt, eine bestimmte These zu belegen. Der zeitliche Abstand von über zwei Jahren, als ich mich mit Melancholia auseinandergesetzt hatte, ist zwar groß, doch, weil ich recht zeitnah in einer intensiven und leidenschaftlich geführten kontroversen Diskussion involviert war. Wohlbemerkt gehörte außerdem zu meiner Ausgangslage, dass mir nicht für eine spätere Präsentation vorgegeben war, Melancholia zu sehen. Es ist ein Unterschied, sich einen Film selbst lustvoll aussuchen zu können; mir erleichtert es eine verspieltere Annäherung ans Sujet; in diesem Fall heißt das, ich konnte im Anfang noch nicht wis146 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Wie habe ich mich Melancholia angenähert?

sen, wie mein Ansatz aussehen würde. Im Folgenden möchte ich ihn retrospektiv zu skizzieren versuchen.

Abbildung 21: Erschütternde Kenntnisnahme der Weltzerstörung

In der Anfangsphase des Films, nach einer mit Opernmusik durchtränkten Zeitlupeneinleitung, durchsetzt von hochromantischen Assoziationsketten, geschieht etwas Unfassbares, nämlich der Weltuntergang, die Beleidigung der Gefühle in allem, was einem lieb und teuer ist. Das Ende von Geschichte überhaupt, erzählbar eigentlich nur aus einer Gottesperspektive. Nach dieser erschütternden Szene, der emotionalen Kenntnisnahme der Weltzerstörung, war ich mal mehr, mal weniger interessiert am sozialen Plot einer Hochzeitsfeier. Unvermeidlich begann ich mir aber Fragen zu stellen und wollte auch in manch banalem Kontext wissen, wie die Geschichte weitergeht, als ob dies im Detail angesichts des bevorstehenden Weltuntergangs noch irgendeine Rolle spielen würde. Irgendwann fiel mir also auf, dass ich den unweigerlich kommenden Tod vergessen hatte, obwohl er mir kurz zuvor so überdeutlich vorgeführt worden war. Ich schließe also auf ein interpretationswürdiges Phänomen, dass der Filmanfang psychologisch für mich weggerückt ist. Und durch eine solche Auseinandersetzung mit dem Film wird für mich ganz konkret erfahrbar, wie ich mein eigenes Sterbenmüssen verdränge, und zwar unabhängig davon, wie der Regisseur selbst seinen Film interpretieren mag, der ohne147 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Salek Kutschinski

hin für sein Werk keine Deutungshoheit besitzt. Mit dieser Erfahrung habe ich etwas Wichtiges von diesem Film lernen können, indem ich einer Selbstanalyse unterziehe, was ich an emotionalen Reaktionen und spontanen freien Einfällen bemerkt habe. Letztere mussten nicht unbedingt zeitnah zur Kinoaufführung entstehen, denn ein freier Einfall kommt natürlich, wann er will.

Abbildung 22: Die kleine Erde, aufgenommen vom größeren Planeten

Selbstbeobachtung als Mittel der Selbsterkenntnis gehört fundamental zur Psychoanalyse, doch ist sie nicht spezifisch psychoanalytisch. Hinsichtlich meines eigenen introspektiven Zugangs zum Film Melancholia mache ich als psychoanalytisch die Haltung geltend, mit der ich gleichschwebend auf Einfälle achte.1 Sie wirkt Neigungen entgegen, mich zu allzu überkonstruierten Ideen2 zu versteigen, und ist für mich, wie in der Psychoanalyse, die Via regia zu tieferen Erkenntnissen. Dabei bleibe ich nicht auf meine eigenen Einfälle beschränkt. So hatte ich mir beispielsweise gedacht, für einen apokalyptischen Zusammenstoß würde ja vollauf genügen, wenn der 1 Das Registrieren solcher Einfälle erlaubt die produktive Verknüpfung von dekonstruktivistischen Gedankenverbindungen, worauf auch Ralf Zwiebel in diesem Band hinweist. 2 Vgl. hierzu Dirk Blothners Kritik einer »wilden Filmpsychoanalyse« (in diesem Band).

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Wie habe ich mich Melancholia angenähert?

Planet Melancholia nur ein Viertel der Größe der Erde hätte. Melancholia ist aber viel größer, und das Bild wirkt auch entsprechend beeindruckend. Die zu uns gehörige Erde ist etwas Kleines, das aufgebrochen und vom größeren Planeten aufgenommen, quasi verschlungen wird, der übrigens auch ein blauer ist, und diese erkennbare Verwandtschaft passt zu einer anderen verwertbaren Assoziation, der einer Mutter. Die Filmkritikerin Martina Knoben (2011) hatte dagegen in ihrer Zeitungsrezension die Assoziation einer Eizelle (für den Planeten Melancholia), die gerade mit einem frisch aufgenommenen Spermium (der Erde) verschmilzt. Das kann ich nachvollziehen, es war aber nicht meine Assoziation. Da sie mich aber anspricht, nehme ich diese Assoziation in mich auf, weil sie durch Überzeugungskraft nachträglich zu meiner eigenen wird, vermutlich auch gefördert über die Mutterassoziation als gemeinsamer Nenner.

Abbildung 23: Eine surreale Szenerie mit mehreren Monden

Als weiteres Beispiel für den selbstanalytisch orientierten Zugangsmodus, den ich identifizieren konnte, möchte ich folgende Beobachtung anführen: Die ersten etwa sieben Filmminuten bis zur Apokalypse fühlten sich hochromantisch, schwülstig und todessehnsüchtig an. Gleichzeitig waren auffällig ästhetisierende Stilmittel wahrzunehmen, wie eine bedeutungsschwangere Zeitlupe, ein unheimliches Licht und eine surreale Szenerie mit mehreren Monden (wie man zuerst 149 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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glaubt), die ein hohes oder vielleicht sogar überhöhtes Bedeutungserleben ergeben. Hierzu trägt auch eine Fülle von Assoziationsangeboten zu Themen aus der Malerei und Literatur bei (man sieht ein Bild von Breughel, erkennt Shakespeares ertrunkene Ophelia und vieles mehr), und nicht zuletzt die Liebestod-Musik aus Wagners Oper »Tristan und Isolde«. Weder emotional noch intellektuell war es mir möglich, einer Liebestod-Assoziation zu entkommen. Indem ich dies registriere, vertieft sich die Erfahrung, wie ich zum Gefangenen einer fatalen Liebessehnsucht gemacht werde. Von dieser Erzeugung eines überhöhten Bedeutungserlebens ist das Stilmittel der symbolischen Überfrachtung abzugrenzen, mit welchem der Regisseur eine ironische Distanz einnimmt3. So beispielsweise, wenn er Justine nach ihrer Golfplatz-Sexszene mit dem ihr unbekannten Tim auf die Party zu ihrem Bräutigam zurückkehren und die Musik beiläufig ausgerechnet »Strangers in the Night« spielen lässt.4 Oder wenn Justine ihr Pferd mit dem biblischen Namen des Urvaters Abraham über den es absurderweise wohl etwas angehenden Sachverhalt aufklärt: »Michael is my husband now«, mit Betonung auf »Michael«, dem Gegenspieler zum nun entthronten Abraham, wie um den geliebten und verachteten Vater zu kastrieren. Das Verständnis für die innewohnende Ironie entsteht durch einen anderen Modus als den zuletzt beschriebenen, nämlich einen mehr kognitiv und intellektueller gesteuerten. Ihn möchte ich anhand eines weiteren Beispiels erläutern. 3 Während unserer Tagung entstand eine lebhafte Kontroverse, ob Melancholia Ironie enthält oder entbehrt. Eine Annäherung der unterschiedlichen Positionen entstand dabei kaum. Dies könnte als Indiz gesehen werden, dass der Regisseur seine Distanzierung noch steigert, indem er sich nicht klar zur Ironie bekennt, was wiederum eine höhere Ironiestufe bedeuten würde. 4 Erst im Schreibprozess fällt mir ein, dass Justine vom diegetisch aufspielenden Hochzeitsorchester mit einem ihre Aktion bestätigenden antimoralischen Applaus musikalisch begrüßt wird, der ironisch die Funktion eines antiken griechischen Chors einnimmt.

150 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Wie habe ich mich Melancholia angenähert?

Abbildung 24: Wie eine Kastration des geliebten und verachteten Vaters

Es mag überraschen, dass ich hierfür ausgerechnet die verwendete Filmmusik wählen möchte – steht Musik doch gerade für Emotionales in ihrer unmittelbaren Wirkungskraft. Es spielt aber auch eine Rolle, dass wir in Melancholia eine ganz bestimmte und sehr bekannte Musik identifizieren können, nämlich Auszüge aus Wagners Oper »Tristan und Isolde«. Sie wirkt also nicht nur unmittelbar auf musikalische Weise, sondern auch durch vorbestehende Kenntnis eines musikhistorischen Kontextes. In der Filmmusik ist der sogenannte »Tristan«-Akkord enthalten, der folgenreichste Akkord der Musikgeschichte. Durch seine harmonische Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit, die ihn musiktheoretisch nicht mehr im klassischen Sinne funktionell analysieren ließ, wirkte und wirkt er rätselhaft und steht gleichzeitig für etwas vollkommen Neues. Die Musik ist damals kompositorisch an das Ende der Harmonik gekommen, indem die chromatischen Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft waren. Dies hat in den folgenden Jahrzehnten zu einem Zusammenbruch der alten Bezüge von harmonischer Schwerkraft geführt, noch vor der Zwölftonmusik, und mündete noch vor deren Entstehung in Schönbergs sogenannte »Freie Atonalität«. Mit diesem kleinen Exkurs in die Musikgeschichte möchte ich illustrieren, wie interpretatorische Schlussfolgerungen gezogen werden können, indem filmäußerliche Informations151 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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quellen benutzt werden. Demnach leite ich durch eine nichtpsychoanalytische Analyse ab, dass auch auf der formalen Ebene eine Korrespondenz besteht zu vieldeutiger Überladung (durch Wagners Ausschöpfung der traditionellen Harmonik), Schwere, Todessehnsucht und gleichzeitig auch zu einem Streben nach Befreiung (hin zur Freien Atonalität). All diese auf Wissensbestände zurückgreifenden Schlussfolgerungen haben ein Substrat ergeben, über das ich dann wieder psychoanalytisch nachdenken konnte. Natürlich ist nur stark vereinfacht und schematisch wiederzugeben, was mental in Wirklichkeit viel schneller und komplexer abläuft. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, habe ich mir an dieser Stelle Gedanken zur Figurenanalyse gemacht, unter anderem, warum sich Justines Stimmung, anders als die ihrer Schwester, zunehmend bessert, je näher der Untergang rückt. Hier denke ich an das bekannte klinische Phänomen, das sich viele depressive Menschen bei schönem Wetter schlechter fühlen und bei schlechtem Wetter besser. Als Begründung ist häufig zu eruieren, dass Neid auf das Sich-freuen-Können der Gesunden eine Rolle spielt und dass gutes Wetter als belastende Aufforderung, es sich doch auch gefälligst gut gehen zu lassen, erlebt wird. Schlechtes Wetter scheint hier entlastend zu wirken, man verpasst sozusagen nichts, was andere genießen können. Unter Zuhilfenahme der obigen Überlegungen zur todessehnsüchtigen Musik und zur Freien Atonalität ließe sich folgern, dass sich Justine nach einer Befreiung von der Lebenslast sehnt und in der Aussicht, gleichzeitig mit allen anderen unterzugehen, sich mit der Gemeinschaft verbundener fühlen kann und auflebt. Ihre Liebessehnsucht wird dadurch ambivalenzfreier, und die sadistischen Todeswünsche von Justine, die ihren literarischen Namen sicher nicht zufällig trägt, lassen sich im Sinne einer angstabwehrenden sogenannten Reaktionsbildung ausleben. Sie entfaltet sogar außergewöhnliche gemeinnützige Kompetenz in ihren Sterbensvorbereitungen, als hätte sie die Worte der durch Suizid verstorbenen 152 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Wie habe ich mich Melancholia angenähert?

Dichterin Sylvia Plath (1965) im Sinn: »Dying is an art like everything else – I do it exceptionally well.« Ich hätte an dieser Stelle im Film auch überlegen können, was er uns bezüglich der Pathogenität von Geschwisterbeziehungen lehren kann (was ich nicht getan habe). Einer psychoanalytischen Grundhaltung eher entsprechend dürfte indes mein fehlendes Bedürfnis nach einem raschen und umfassenden Bedeutungsverständnis sein. Einem Film wie Melancholia glaube ich damit gerechter werden zu können, als wenn ich ihn in seiner Vieldeutigkeit unbedingt gleich interpretieren müsste. Die wie in der psychoanalytischen Situation vorhandene Ambiguitätstoleranz erschwert zwar gerade nicht den Diskurs, aber die Formulierung verbindlicher interpretatorischer Aussagen. Das Besprechen selbst mag die Bedeutung dessen »kleiner« machen, worüber man spricht, es sei denn, wie David Lynch es einmal treffend gesagt hat, man wäre ein Dichter (Blanchot, 1997), doch teile ich mich, wie viele Filmpsychoanalytiker, nun einmal so gern mit. Die Liebe zum Medium schafft das Bedürfnis nach tieferem Verständnis, das auch im kollegialen Austausch gefördert werden soll, wobei Filmpsychoanalyse mir auch beste Rechtfertigungsgründe bietet, mich in der Freizeit mit dem zu beschäftigen, was ich ohnehin tun würde: mit Film. Die Mitgliedschaft in der Münchner psychoanalytischen Filmarbeitsgruppe ist trotz des erfreulichen regressionsfördernden Umstands, dass unsere internen Besprechungen meist bei guten Speisen und Getränken stattfinden, zur Begrenzung von regressiven Tendenzen ebenso geeignet wie die damit verbundene Aufgabe, Filme öffentlich zu präsentieren und zu diskutieren.5 Die Freude daran muss ich betonen, weil sie als Motivationsstifterin vermutlich nicht von meinem filmpsychoanalytischen Zugang zu trennen ist und auch nicht 5 Zur hohen Ergiebigkeit des Gruppenprozesses in der filmpsychoanalytischen Arbeit siehe auch Hamburger und Leube-Sonnleitner (in diesem Band).

153 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Salek Kutschinski

von der kritischen Frage, ob die Rechtfertigung für Filmpsychoanalyse vielleicht hauptsächlich darin zu sehen ist, dass sie so viele Ideen produzieren kann. Ein solcher genereller Vorwurf ist ja auch der Filmanalyse selbst vom französischen Filmtheoretiker Raymond Bellour (1985) gemacht worden, der dies als »trügerische Fülle des Analyseaktes selbst« bezeichnet hat. Diese könnte in der Tat das Ergebnis eines übermäßigen Regredierens ohne zeitig synthetisierende Disziplin sein. Ein gewisses Ausmaß an Regression ist aber, wie in der klinischen Psychoanalyse, unverzichtbar, um in der oben beschriebenen Weise erweiternde Erkenntnisprozesse in Gang zu bringen. Sie verbindet sich zwanglos mit dem regressiven Zustand, der im Kino eintritt, wenn die Lichter ausgehen.

Literatur Bellour, R. (1985/2006). Die Analyse in Flammen. Ist die Filmanalyse am Ende? In A. Ehmann, H. Farocki (Hrsg.), Kino wie noch nie (S. 33–37). Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Blanchot, R. (1997). Circulus Vitiosus. Spurensuche auf David Lynchs Lost Highway mit Slavoj Zizek. Cinetext vom 02. 05. 1997. Zugriff am 02. 01. 2013 unter http://cinetext.philo.at/magazine/circvit.html Knoben, M. (2011). Geil, der Weltuntergang ist da! Süddeutsche Zeitung vom 05. 10. 2011. Zugriff am 07. 02. 2014 unter http://www. sueddeutsche.de/kultur/neuer-film-von-lars-von-trier-schoensterweltuntergang-des-planeten-1.1155320 Plath, S. (1965). Lady Lazarus. In T. Hughes (Ed.), Ariel. Poems by Syl­v ia Plath. London: Faber & Faber.

154 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Transkription der Diskussion des Arbeitskreises Filmpsychoanalyse am 19. Januar 2013 in Mannheim

A

uf der im Vorwort angesprochenen ersten Klausurtagung des Arbeitskreises Filmpsychoanalyse führten die Teilnehmer am Nachmittag des 19. Januar 2013 eine Diskussion zu Arbeitsmodellen in der Filmpsychoanalyse. Das von Ralf Zwiebel geleitete Gespräch geben wir hier in seinen wesentlichen Passagen wieder. Zwiebel: Wie sollen wir starten in unserer Diskussion? Hamburger: Ich hätte einen Vorschlag. Wir treffen uns ja hier aus einem Professionalisierungsbedürfnis des Feldes; wir könnten daher in einem ersten Schritt fragen: Wie kommen wir zu fruchtbaren Hypothesen? Die zweite Frage wäre: Wie können wir unsere Hypothesen validieren oder überprüfen? Leube-Sonnleitner: Ich bin skeptisch, ob es gelingen kann, eine Systematik aus der Methodenvielfalt zu destillieren. Zwiebel: In der Psychoanalyse ist es ja auch so: Wir kommen weg von einer an Schulen gebundenen Theorie und Praxis. Wir unterscheiden die offizielle Ebene und die praktische – also die Art und Weise, wie jeder einzelne Analytiker arbeitet. Das Besondere ist, dass ein Bewusstsein entsteht für unsere Arbeitsmodelle und dass eine Ebene geschaffen wird, auf der man sich darüber austauscht, wie man sich dem Phänomen nähert. 155 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Stiglegger: Als Filmwissenschaftler möchte ich hinzufügen, dass es nicht die Filmwissenschaft, sondern unterschiedliche Ansätze gibt: Es gibt den semiotischen und den hermeneutischen Ansatz, wenn es um die Begegnung mit dem Film geht. Der semiotische Ansatz versucht das Zeichensystem möglichst neutral zu fassen, während der hermeneutische eigentlich so ähnlich vorgeht, wie Sie als Filmpsychoanalytiker vorgehen. Aber selten wurde ganz nah an der Bildkomposition argumentiert. Das heißt, es werden keine filmwissenschaftlichen Fachbegriffe eingesetzt wie innere und äußere Rahmung, Kadrierung, mise en scène, Einstellungsgrößen (die bestimmte Funktionen haben), Strategien der Kamerabewegung, Gebrauch der Handkamera. Solche Analysen müssen am Anfang stehen oder spätestens kommen, wenn man ein gewichtiges Argument vorbringt. Es sollte mit diesen Begriffen untermauert werden. Will man die Komplexität der filmischen Inszenierung begreifen, muss man sich dieser Begriffe bedienen, das heißt, das ist eine Systematisierung, die dem dann übergeordnet ist – genauso wie ein psychoanalytisches Konzept oder eine Fragestellung. Hamburger: Meine Lösung dieses Problems ist der Dialog. Ich denke, dass wir als Psychoanalytiker selbst keine Filmwissenschaftler sein können – wir können nur im Dialog bestehen. Das heißt, wir müssen Ihre Kategorien im Dialog mit einbeziehen. Man könnte zum Beispiel ableiten: Wenn das Werk nicht einbezogen wird, ist die Deutung willkürlich. Für unsere klinische Praxis wissen wir, wann wir eine Deutung für hinreichend validiert halten. Das berühmteste Modell ist das Menninger-Dreieck. Es besagt, dass wir eine Übereinstimmung von Symptom und Genese gemäß des Geschehens von Übertragung-Gegenübertragung finden müssen. Das wäre eine ausreichende Validierung. Wir müssten sehen, inwieweit wir dieses Vorgehen auf die Filmpsychoanalyse transponieren können. Dann würde uns ausmachen: Wir arbeiten systematisch mit unseren eigenen Erfahrungen 156 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Transkription der Diskussion des Arbeitskreises Filmpsychoanalyse

als Zuschauer, also der Introspektion. Denn darin sind wir geschult. Schneider: Was wir doch brauchen, ist ein Sehenkönnen. Natürlich sind wir keine Filmwissenschaftler, trotzdem wollen aber auch wir etwas Sinnvolles zum Film sagen. Und ich glaube, dass wir in unserer Wahrnehmung das Differenzierende an den filmwissenschaftlichen Begriffen in uns aufnehmen sollten. Kutschinski: Ich habe eine eher basale Frage: Ich bin gar nicht so sicher, an wen sich die Filmpsychoanalyse richtet. Wer will von wem verstanden werden, wer will davon profitieren? Zwiebel: Es gibt mindestens zwei Adressaten: die Psychoanalytiker selbst und ein Teil des Publikums. Eine andere Frage aber ist, ob die Filmwissenschaft überhaupt an uns Interesse hat. Stiglegger: Man muss sagen, dass psychoanalytische Filminterpretationen nicht groß wahrgenommen werden in der Filmwissenschaft. Und doch: Die Filmwissenschaft arbeitet noch immer mit klassisch-psychoanalytischer Begrifflichkeit. Blothner: Ein weiterer Adressat ist für mich die Öffentlichkeit überhaupt. Eine Öffentlichkeit, die prinzipiell dazu neigt, die Wirkungsformen des Unbewussten zu verleugnen. Ist der Film nicht eine hervorragende Möglichkeit, mit den Menschen über das Unbewusste ins Gespräch zu kommen? Das Unbewusste im Leben der Menschen, aber auch in der Gesellschaft? Wir könnten es doch schaffen, den Menschen mit unseren Methoden über Filme das Unbewusste aufzuschließen oder – wie Ralf Zwiebel mit Bresson sagt – das Filmerlebnis zu »verlebendigen«. Das ist meine Überzeugung: Der Film kann Zusammenhänge verdeutlichen, die sich anders kaum in den Blick nehmen lassen. So geht es mir jedenfalls. 157 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Mancher Film bringt mich wirklich zum Staunen. Wenn ich mich mit einem Film beschäftige, dann gehe ich bereichert daraus hervor; ich lerne etwas über die Wirklichkeit, in der ich lebe. Ich meine, mit dieser Haltung sollten wir auch an die Öffentlichkeit herangehen. Schneider: Ich möchte zwei Adressaten für mich benennen. Ein Adressat bin ich selbst. Der zweite Adressat ist mir noch wichtiger: André Malraux hat einmal diesen wunderschönen Ausdruck gewählt vom imaginären Museum – dem Ort der Wissenschaft und der Bilder. Ich möchte sagen: Ich schreibe auch für die imaginäre Bibliothek, in der das Buch des Menschen steht, an dem weiter geschrieben werden kann. Zwiebel: Ein wenig klingt das wie der Trost des Schreibenden. Aber vielleicht denken wir doch zu sehr an uns und an unsere Kollegen und machen uns weniger Mühe und Gedanken in Hinblick auf das Publikum. Müssen wir uns nicht fragen: Wo steht eigentlich der durchschnittliche Zuschauer? Was können wir ihm vermitteln? Leube-Sonnleitner: Es besteht ein großer Widerspruch zwischen dem Status der Psychoanalyse – sie wird ja eher marginalisiert – und dem Status des Films, der ein Massenphänomen ist. Den Film in den Fokus zu nehmen als ein weiteres Medium des Diskurses, ist eine glänzende Gelegenheit, weil viele Menschen gern Filme sehen und sich davon berühren lassen. In Melancholia geht es ja um existenzielle, um religiöse Fragen, zum Beispiel um die Sterblichkeit und die Begrenztheit unserer Existenz. Das sind Fragen, mit denen wir uns im Gespräch mit unseren Patienten tagtäglich beschäftigen. Walker: Aber wollen die Menschen auch hören, was wir zu sagen haben? Unsere Zuhörerschaft wird immer kleiner – wir sind einfach weit, weit hinterher. Wer heute in die Schule geht – in die Grundschule, Mittel- und Oberschule –, ist gar 158 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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nicht mehr vertraut mit dem, was unsere eigene bildungsbürgerliche Erfahrung uns bedeutet. Etwas anderes wird heute gelernt. Sowohl vom Inhalt her wie von der Art zu lernen. Ich denke, wir müssen uns mehr damit beschäftigen. Wir vertreten einen ganz wichtigen Wert – die Tradition einer WeltSicht und Welt-Auslegung. Aber die Frage ist: Wie können wir sie transportieren und weitergeben? Ich befürchte, dass wir sie nur einer sehr kleinen Gruppe weitergeben können – einem ganz kleinen Ausschnitt der Öffentlichkeit. Blothner: Die Psychoanalyse sollte aufstören oder zumindest zum Staunen bringen. Auch dadurch, dass sie nicht dem in der Öffentlichkeit diskutierten Mainstream folgt. Sie sollte auf eindrückliche Weise unbewusste Prozesse herausstellen. Das ist ihr Können, ihr Gegenstand – und nicht die immer gleiche »Soße« der gängigen Talkshows. Wenn wir das tun, müssen wir wohl auch ein bisschen Einsamkeit in Kauf nehmen. Aber zumindest werden wir dann bemerkt und auch respektiert. Und vielleicht gelingt es uns damit auch, die Herzen der jungen Leute aufzuschließen. Hamburger: Das könnte wirklich eine interessante Sache werden. Denn wir wollen nicht nur irgendwie gehört werden. Wir wollen Unbewusstes bewusst machen. Und das Unbewusste, um das es geht, ist immer das eigene, nicht im Film, sondern in mir. Wir lernen über viele Jahre, uns intensiv und genau zu beobachten. Dieses Können bringen Filmwissenschaftler in der Regel nicht mit. Den Punkt habe ich vorhin schon angeboten. Auch deswegen denke ich, dass es notwendig ist, interdisziplinäre Diskurse einzubauen. Das halte ich für ein Qualitätskriterium. Im Diskurs finden wir die gute psychoanalytische Filminterpretation. Zwiebel: Ich möchte diesen Punkt mit dem Adressaten unserer Analysen verbinden. Der klinische Psychoanalytiker ist der Experte für disziplinierte Selbstreflexion. Meine Frage 159 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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ist: Enthalten unsere Vorträge oder unsere Publikationen tatsächlich etwas von dieser »disziplinierten Selbstreflexion« oder eben nicht? Hamburger: Das wäre für mich ein Transparenzkriterium. Das gehört in manchen Formen der Wissenschaftstheorie zu den Gütekriterien. Blothner: Das ist ein interessanter Punkt, den ich gern präzisieren würde: Was ist Selbstreflexion? Ist es beim Verstehen des Films nicht so, dass ich mein Selbst zurücknehmen muss? Bei mir jedenfalls ist das so: Ich muss mich immer wieder auf den Film einlassen; ich merke immer wieder, dass ich dazu neige, vorschnelle Schlüsse zu ziehen, Deutungen zu geben nach gewohnten Kategorien. Mein Selbst kommt mir also in die Quere bei der Analyse von Filmen. Es ist so viel schwieriger, an dem Material dranzubleiben, so lange es geht und das Unwägbare und Unfassbare auszuhalten, als sein Selbst von den Zügeln zu lassen und irgendwelche vertraute Kategorien ins Spiel zu bringen. Also: Ich erlebe es nicht als Selbstreflexion, sondern als eine mühevolle Erschließung eines fremden Gegenstandes, bei der ich mich zurücknehmen muss. Zwiebel: Ich finde sehr wichtig, dass wir wirklich genauer überlegen, was wir unter »disziplinierter Selbstreflexion« verstehen. Ich würde nämlich glauben, dass ein wesentlicher Aspekt der Selbstreflexion die Selbst-Rücknahme im Dienst der Erkenntnis des Patienten oder des Prozesses oder des Films ist. Kutschinski: Die Selbst-Rücknahme bedeutet doch zu beobachten, wie das Werk auf mich wirkt, das heißt, die subjektive Komponente ist im Fokus, um top-down Ableitungen zu vermeiden. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich mir eine Filmszene überlege – ich denke an einen Western. Ich habe einen Reiter, der durch eine Landschaft reitet, durch Berge, die quer 160 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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in der Landschaft stehen. Man könnte jetzt schließen: Das bedeutet einen geschlossenen Raum. Aber man könnte auch schauen: Wie wirkt die Szene auf mich? Ich könnte auf diese Weise zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, aber das wäre über die subjektive Komponente, indem ich diesen Wirkmechanismus zulasse und dann schaue, ob eine Korrespondenz besteht zu der filmtheoretischen Annahme, dass eine solche Komposition, ein solcher Bildausschnitt einen klaustrophobischen Zustand erzeugt. Hamburger: Gängigerweise versucht man ja zunächst, den Film in einen Text zu verwandeln, um mit dem Text dann arbeiten zu können. Ich möchte jetzt einmal die Position einnehmen und sagen: Ein Analytiker macht es genauso nicht. Warum? Weil er gleichschwebend aufmerksam an die Gegenstände herangeht und sich ein völlig willkürliches Herausgreifen von Einzelelementen gestattet. Das ist unsere Arbeitsweise. Wir lassen das zu. Wir behaupten nicht, dass das jetzt das wesentliche Element im Film ist. Wir sagen nur: Meine Subjektivität verleitet mich dazu, diesen Gegenstand – weil er mich so brennend interessiert – zu fokussieren. Natürlich komme ich dann irgendwann wieder zurück zum gesamten Film. Eine Analogie aus unserer Arbeit: Freud war der Auffassung, eine Traumdeutung sollte sich dadurch validieren, dass man irgendwann sämtliche Elemente des Traums unter die Deutung subsumieren kann. Das macht von uns keiner mehr, über mehrere Sitzungen einen einzigen Traum zu deuten. Aber manchmal eben doch. Man kommt vielleicht nach Jahren auf den Traum zurück und findet dann, dass da was war, was noch nicht erschlossen ist. Es gibt Filmanalytiker und Literaturanalytiker, die jahrelang mit einem Film oder einem Text arbeiten, bis sie das Gefühl haben, sie sind durch. Und jeder von uns, der schreibt, weiß, dass man hunderte von Stunden an einem Aufsatz sitzen kann, bis man das Gefühl hat, man ist durch. Da hätten wir dieses Rekursive, das Durcharbeiten, bis sich die Gestalt des Textes schließt. 161 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Aber das gerade angesprochene »Rauspicken« hat trotzdem seine Berechtigung. Zwiebel: Diese Überlegungen zur disziplinierten Selbstreflexion könnten wirklich ein Angelpunkt sein. Die Frage wäre: Wie verstehen wir das eigentlich? In der klinischen Psychoanalyse haben wir diese Diskussion auch. Tuckett macht das beispielsweise in seinen »working parties«. Oder wenn Psychoanalytiker schriftliche Stundenprotokolle minutiös in Gruppen analysieren. Das ist analog zu dem Vorgehen einen Film anzusehen, ein Protokoll anzulegen und es minutiös durchzugehen. Es gibt dazu eine Gegenposition, die besagt: Das habe mit Psychoanalyse gar nichts mehr zu tun, die entscheidende Methode sei die freie Assoziation. Blothner: Ich würde die Beschreibung als ein zentrales methodisches Vorgehen sehen. Sie ist für mich als Psychoanalytiker allerdings etwas anderes als das, was die Filmwissenschaft macht. Sie ist keine Protokollierung oder Nacherzählung der Geschichte, sondern sie oszilliert zwischen der Entwicklung des Filmwerkes und des Filmerlebens hin und her. Sie verfolgt deren Verschränkung von der ersten bis zur letzten Szene. Eine solche Beschreibung ist konzeptgeleitet. Sie unterstellt zum Beispiel, dass das Filmerleben ein sinnvoller Zusammenhang ist. Schneider: Vielleicht müssen wir ja zunächst unterscheiden: die analytische Grundhaltung, die kontrollierte Selbstreflexion und die freie Assoziation – man könnte auch hinzunehmen: das Achten auf die eigenen Gegenübertragungen. Das wäre die Grundhaltung, die man explizieren müsste. Das Zweite ist: Was ist das Material, von dem wir ausgehen? Nach der bisherigen Diskussion haben wir zwei Materialebenen: den ersten Eindruck, das unschuldige Sehen; das zweite wäre dann – in Analogie zum Traum – der Text, der den erlebten Film (nachträglich) erzählt. Was könnte dieser Text sein? Ein 162 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Storyboard, ein Szenenprotokoll, ein Protokoll, wie es Reimut Reiche herstellt? Die dritte wichtige Frage ist: Auf welches Konzept, welche Theorie beziehe ich mich? Wenn ich an meine Beschäftigung mit den Hitchcock-Filmen denke, tauchte irgendwann das Thema des Narzissmus und des Einbruchs auf. Und das hat dann das Weitere organisiert. Von da an ist man natürlich nicht mehr in einem offenen Raum – der Raum engt sich ein und man artikuliert eine bestimmte These für diese bestimmte Übersetzung. Zwiebel: Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Mosers Konzeption vom Traum verweisen: Der geträumte Traum ist eigentlich unzugänglich, denn was wir vom Traum nur haben, ist der erinnerte Traum. Und dann kommt noch der erzählte Traum. Also wir haben einen Transformationsprozess, der mit hochgradigen Verlusten verbunden ist: in der Umformung vom unmittelbaren Traumerleben bis zum erzählten Traum. Die Analogie zum Film wäre die Frage: Ist nicht das unmittelbare Sehen des Films eigentlich unzugänglich? Und alles, was wir tun, ist gleichsam, den Film zu erinnern und zu erzählen und ihn dabei von Anfang an zu verfremden und zu verfälschen. Das würde bedeuten: Auf das Protokoll kann man nicht verzichten, weil der Zustand der unmittelbaren Verfügbarkeit der Filmerfahrung nicht gegeben ist. Blothner: Ich glaube, bezogen auf unsere Analysen kann man es auch positiv sagen: Wir gewinnen etwas in den verschiedenen Versionen unserer Untersuchung. Für mich handelt es sich um einen Austauschprozess, der sich zwischen der Fiktion des unmittelbaren Erlebens auf der einen und der Fiktion einer Theorie, die alles zu überblicken vermag, auf der anderen Seite entwickelt. Wenn es klappt, führt dieser Prozess schließlich zu einer Interpretation, von der wir das Gefühl haben: Sie greift tatsächlich etwas auf! Ich würde gar nicht sagen: Wir verlieren. Wir gewinnen immerhin ein ungefähres Bild vom Film und seinen Wirkungen in diesem Austauschprozess. 163 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Mahler-Bungers: Eine Transformation ist die Doppelbewegung des Verlustes und des Neugewinns. Blothner: Übrigens erlebe ich die Untersuchung eines Films auch immer als einen Prozess des Durchleidens. Mir geht es schlecht, wenn ich noch keinen Anhaltspunkt gefunden habe; mir kann es tagelang schlecht gehen, wenn ich kein Licht sehe. Und ich vermute, dass es Herrn Schneider ähnlich schlecht ging, bis sich seine Hitchcock-Analyse um Narzissmus und Einbruch organisierte. Ich glaube, das gehört dazu. Ich sehe das nicht als einen Mangel oder als ein falsches Vorgehen. Das ist der wissenschaftliche Prozess einer verstehenden Psychologie. Darin unterscheiden wir uns von anderen Wissenschaften, die sich gern die Exaktheit auf die Fahnen schreiben. Das Leiden gehört zu unserer Methode. Leube-Sonnleitner: Ob man ein Protokoll braucht oder nicht, entscheidet sich auch über den Verwendungszweck einer Filmanalyse: An wen richtet sie sich, in welchem Rahmen findet sie statt? Zum Beispiel halte ich es für wichtig, einzelne Szenen in Erinnerung zu rufen, wenn man vor einem öffentlichen Publikum spricht. Was haben wir gerade gesehen? Wie habe ich’s gesehen? Sodass der andere sagen kann, so habe er es gesehen. Ich kenne einen Musiker, der eine Sinfonie absolut hört, also weiß, ob die zweite Oboe wirklich b oder a gespielt hat, und trotzdem den Gesamteindruck des Werks aufnehmen kann. Das ist also möglich. Auch deshalb würde ich gern mehr von der filmwissenschaftlichen Seite wissen: Wie kommt ein Eindruck zustande? Gibt es eine Einheit von Form und Inhalt? Ich würde gern unterscheiden: Ist das, was ich erlebe, von meinen Vorannahmen bestimmt? Und kann ich mir zum Beispiel durch die Kenntnis der Filmsprache Aspekte des Films erschließen, von denen ich noch nichts wusste? Bär: Ich denke auch, es kommt darauf an, wofür man das Protokoll braucht. Als Beleg braucht man das Protokoll sicherlich 164 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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nicht. Da reicht es, wenn man den Sekundentakt des Films auf der DVD notiert. Auf der anderen Seite kann natürlich das akribische Protokoll von Bild, Ton, Dialog die Wahrnehmung schärfen: als disziplinierende Methodik. Dann können auch die Gestaltungsmittel – Elemente des Tons, der Kadrierung oder der Kameraführung – so beschrieben werden, dass man sagt: Die Hochzeitsgesellschaft in Melancholia wird so dargestellt, dass es Sprünge gibt, dass man irritiert wird, dass man aufgewühlt wird durch die Kamerabewegung. Für die Erfassung der Struktur eines Films ist es immer sehr hilfreich, wenn man versucht, die Konstruktion wie eine architektonische Zeichnung nachzuvollziehen. Wenn man die einmal erfasst hat, weiß man, wie die Statik des Hauses funktioniert. Und so weiß man vielleicht auch, wie die Führung des Films funktioniert oder die lenkenden Mittel eingesetzt werden – also bei Hitchcock der McGuffin oder seine Technik des Suspense. Zwiebel: Ich denke, dass wir jetzt einen Punkt erreicht haben, wo wir am Beispiel von Melancholia durchdeklinieren könnten, ob eine Filminterpretation die in der Diskussion angesprochenen Punkte erfüllt oder nicht (Grundhaltung – disziplinierte Selbstreflexion – Bezug zum Material). Wobei ich immer noch denke: Unsere Selbstreflexion im Dienste des Patienten müsste man im Falle der Filminterpretation vielleicht übersetzen als die disziplinierte Selbstreflexion im Dienste des Zuschauers. Walker: Ich würde gern noch weiter in einen Dialog mit den Filmwissenschaftlern treten. Und zwar haben wir ja anscheinend einen ähnlichen Ausgangspunkt in unseren Versuchen, einen Film zu verstehen, ihn methodisch aufzubereiten und zu vermitteln. Den Film können wir ja nie wirklich ganz erfassen. Er ist uns nur im Nacherzählen zugänglich, im Nacherzählen und Wieder-Nacherzählen auf dem Hintergrund einer Grundhaltung der gleichschwebenden Aufmerksam165 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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keit. Und ich denke, das Nacherzählen hat ja nur dort eine Bedeutung, wenn ich einen Zuhörer habe. In zwei Richtungen sehe ich den Zuhörer: Einmal in mir selbst – ich kann mir zuhören – und zum anderen habe ich einen anderen, der mir zuhört. Wir wissen vom analytischen Arbeiten, dass das Zuhören die entscheidende Variable für einen Veränderungsprozess ist. Das Zuhören und häufig gar nicht die Deutung. Das wäre für mich eine Frage an Herrn Stiglegger: Ist das für Sie auch ein methodischer Zugang? Ich habe Sie so verstanden, dass Sie sich den Film immer und immer wieder anschauen, um eine Facette nach der anderen herauszuarbeiten, und sich dabei fragen, wie Sie diese konzeptualisieren können. Stiglegger: Die Filmanalyse selbst ist ja eigentlich mehr ein Werkzeug. Auch das Protokollieren ist für mich ein reines Werkzeug, das würde ich nie veröffentlichen. Ich habe noch nie ein Filmprotokoll veröffentlicht; das bringe ich auch meinen Studenten bei, das will ich in ihren Arbeiten nicht sehen. Die dichte Beschreibung ist quasi die Kombination aus einer Beschreibung filmischer Mittel, zum Beispiel Plot-Elemente und andere Aspekte, die wichtig erscheinen. Das ist bereits eine subjektive Entscheidung. In der Ethnologie, aus der wir den Begriff der dichten Beschreibung entliehen haben, ist das durchaus akzeptiert. Das ist eine Vereinfachung und vielleicht auch eine Kanalisierung des Interesses – was wiederum die Basis für die Entscheidung ist, welche Stellen eines Spielfilms mir wichtig erscheinen, um zu einer bestimmten These zu kommen. Über diese These würde ich dann einen Vortrag halten – nicht über irgendetwas anderes; ich würde nicht über den Film an sich einen Vortrag halten wollen. Walker: Ich finde es sehr interessant, dass Sie damit genau das gleiche sagen, was vorher Herr Hamburger zum Ausdruck gebracht hat: Sehr selektiv greifen wir etwas heraus und halten darüber einen Vortrag. 166 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Leube-Sonnleitner: Es scheinen nicht alle Kollegen das Bewusstsein zu haben, dass die Subjektivität bei einer Filmanalyse eine große Rolle spielt. Stiglegger: Das Gegenmodell wäre ein strukturalistisches Filmprotokoll. Da werden 80 Prozent protokolliert und neutral beschrieben als Vorarbeit für das Erkennen von Strukturen. Schneider: Ich habe einen Vorschlag: Wir müssten mal eine Konferenz à la Tuckett machen – in der Weise, dass wir uns ein weiteres Mal verabreden und anhand eines Films einen psychoanalytischen mit einem filmwissenschaftlichen Zugang vergleichen. Damit wir im Feld das erleben, was wir heute als Grundstrukturen erarbeitet haben, und auf diese Weise weiterkommen. Zwiebel: Ich denke, damit können wir diese Diskussion abschließen.

167 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

I

n der Einleitung zu unserem Buch hatten wir nach der Notwendigkeit eines weiteren Buchs über Filmpsychoanalyse gefragt. Dabei ging es vor allem um die Frage nach der Spezifität des filmpsychoanalytischen Ansatzes, der uns bislang nicht ausreichend geklärt scheint. Es liegt natürlich am Leser, wie er selbst diese aufgeworfenen Fragen nach der Lektüre der Beiträge beantworten wird, aber auch die Autoren selbst befinden sich ja in einem dialogischen Prozess miteinander, der hoffentlich eine gewisse klärende Weiterentwicklung aufweist. Es sei daran erinnert, dass es sich hier um den dritten Anlauf handelt, diesen Dialog unter Filmpsychoanalytikern in der Beschäftigung mit einem einzigen Film zu initiieren und weiterzuentwickeln (Zwiebel u. Mahler-Bungers, 2007; Blothner u. Zwiebel, 2012). Allein die Auswahl des jeweiligen Films – Polanskis Der Mieter, Aronofskys Black Swan und jetzt von Triers Melancholia – drückt das klinische Interesse des Filmpsychoanalytikers aus, handelt es sich doch in allen drei Filmen auch um einen psychopathologischen Zustand des Protagonisten. Allerdings wird vor allem in den Kommentaren zu Melancholia deutlich, dass der Fokus auf den psychopathologischen Zustand der Depression einen wesentlichen Kern dieses Films nicht zu erfassen vermag; hierin sind sich alle Autoren einig. Aber die Auswahl eines Films, um darüber zu sprechen, ihn einem Publikum vorzustellen oder darüber zu schreiben, weist nicht 168 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

nur auf den Film, sondern vor allem auf den Filmpsychoanalytiker selbst, worauf Hamburger und Leube-Sonnleitner hinweisen (der Film hat den Analytiker gewählt, schreiben sie). Es muss also, so könnte man postulieren, ähnlich wie in der analytischen Beziehung so etwas wie eine »Passung« geben oder ein »Alignement«, wie dies Buchholz und Gödde kürzlich beschrieben haben: eine unbewusste, emotionale Resonanz zwischen Film und Filmpsychoanalytiker (Buchholz u. Gödde, 2013), wodurch, wie in der Einleitung vermutet, der Deutungswunsch und die Deutungsphantasie des Zuschauers aktiviert werden. Dass dies alles kein beiläufiger Vorgang ist, zeigt sich wohl am deutlichsten in der intensiven Beschäftigung mit dem erwählten Film: Wie Blothner selbstkritisch vermerkt, ist der Filmkritiker oft gezwungen und nicht selten auch in der Lage, in ganz kurzer Zeit einen kompetenten Filmkommentar zu schreiben, während der Filmpsychoanalytiker oft in einen langen, intensiven Prozess der Auseinandersetzung eintritt, der nicht selten monatelang andauern kann, bis das Deutungsopus das Licht der Welt erblickt. Dies erinnert natürlich auch an die Intensität und Dauer analytischer Beziehungen. Ist dies nicht vielleicht auch ein bislang zu wenig betrachtetes Spezifikum filmpsychoanalytischer Ansätze, nämlich die intensive Auslotung der Tiefendimension eines einzigen Films in allen seinen interkontextuellen Dimensionen, die nicht selten zu Reich-Ranickis berühmten Schlusssatz nach Bertolt Brecht aus dem legendären »Literarischen Quartett« führt: »Und so sehen wir betroffen/Der Vorhang zu und alle Fragen offen«? Überhaupt die Zeit! Auf das Phänomen der Temporalität weisen Hamburger und Leube-Sonnleitner ganz besonders hin: Sie sprechen vom Film und der Musik als der Zeitkunst (S. 79 ff.). Versteht man Kunst generell als einen Versuch, die Flüchtigkeit des Daseins sowohl auszudrücken als auch die damit verbundenen Affekte zu binden und zu verarbeiten – G. Schneider spricht mit Bion von »containen« –, so kann man die Tätigkeit des Filmpsychoanalytikers als eine Ver169 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

doppelung im Sinne einer kreativen Nacharbeit der künstlerischen Produktivität auffassen. In der intensiven Auseinandersetzung mit dem Film – der, daran sei nochmals erinnert, lediglich als flüchtige, präsente Filmerfahrung zugänglich ist, auch wenn die DVD eine andere Illusion nährt – wird der Versuch unternommen, der Flüchtigkeit der Filmerfahrung etwas entgegenzusetzen. Werden die laufenden Filmbilder in einen Text verwandelt, dann entsteht durch das Festhalten eine Form von relativer Dauer, die allerdings sowohl defensive als auch integrative Momente haben kann. In dem ersten Fall überwiegt die Affektabwehr (der Filmtext wird selbst zu einem Minus-Container in dem Sinne, dass die Filmerfahrung durch eine Art furor interpretandi »abgetötet« wird – der Film wird zu einem »container« für die Theorien des Psychoanalytikers), in dem zweiten Fall gelingt eine Affektintegration, in dem die durch die dargestellte und erlebte Flüchtigkeit der Filmerfahrung (und damit des Lebens überhaupt) und die damit ausgelösten katastrophischen Ängste beim Zuschauer gebunden werden: bebildert, in Worte gefasst, Verbindungen herstellend etc., kurz: eine Verlebendigung, wie dies in der Einleitung formuliert wurde. Dass diese kreative Doppelung bei einem Film wie Melancholia gelingen kann, zeigt besonders eindringlich die Arbeit von G. Schneider, wenn dieser zu dem überzeugenden Schlusspunkt kommt: »[…] dem Regisseur gelingt es, mit seinem Film einen Container für ein apokalyptisches Geschehen zu schaffen. Er selbst baut eine magische Höhle, in die der Zuschauer seine Untergangsängste und -phantasien zu projizieren vermag, und zwar nicht, um sie evakuativ einfach loszuwerden, sondern um sie in einer verdaubaren Weise in einem audiovisuellen präsentativen symbolischen Raum fühlreflexiv artikuliert zu finden« (S. 68). In ganz anderen, eher beiläufigen Bemerkungen schildert S. Kutschinski einen ähnlichen Zusammenhang: Der zu Beginn des Films gezeigte Untergang wird von ihm während des Schauens »vergessen«, was er später als ein interpretationswürdiges Phänomen ver170 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

steht: »Und durch solche Auseinandersetzung mit dem Film wird für mich ganz konkret erfahrbar, wie ich mein eigenes Sterbenmüssen verdränge« (S. 147). Bei der Lektüre dieses Buchs bekommt man wohl eine Idee von den Voraussetzungen für einen solchen gelingenden kreativen Verdoppelungsprozess. Dann sprechen die Filmpsychoanalytiker mit »ihrer eigenen Stimme« (Gabbard u. Ogden, 2009; Bieri, 2011), wie man diesen Beiträgen entnehmen kann. Aber was heißt das genau? Was bedeutet es, wenn man am Text den Autor, aber auch den Film erkennen und wiedererkennen kann? Es ist die hochspezifische Legierung zwischen einem vorgefundenen Vokabular (zum Beispiel die Schriften der erwähnten Meister wie Argelander, Lorenzer, Adorno, Freud, Salber etc.) und einem modifizierten, persönlichen Vokabular, das den Autor als eigenständig und einmalig erkennen lässt: Blothner entwickelt den Gedanken einer »Drehfigur«, Hamburger und Leube-Sonnleitner sprechen davon, dass Kunstwerke keine Patienten sind, sondern dass sie Analytiker sind (S. 82) und G. Bliersbach vertieft sich in die anfänglichen Bilder des Film und stellt überraschende Querverbindungen zu anderen Filmen her. Dieses Vokabular, diese eigene Stimme, entsteht in der Auseinandersetzung mit Filmen generell und dem jeweiligen Film. Entscheidend wird die Frage sein, wie selektiv diese Vokabulare sind und ob sie einen Dialog unter den Filmpsychoanalytikern und mit anderen Zuschauern (Laien und Experten) ermöglichen oder eher verhindern. Denn dies ist ja ein besonderes Anliegen unserer Arbeit, inwieweit es nämlich möglich ist, die flüchtige Filmerfahrung aus den Fallen einer solipsistischen »mentalen Masturbation« zu befreien und lebendige Verbindungen zum Film und zu den Zuschauern herzustellen. Verstehen und/oder Missverstehen wäre hier ein möglicher, allgemeiner Nenner; diese Dynamik lässt sich fast immer in den öffentlichen Filmdiskussionen beobachten, wobei das vertiefende, verlebendigende Verstehen mancher glücklicher 171 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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Umstände bedarf. Freud spricht im Zusammenhang der Fehlleistungen und Fehlhandlungen von einer »Psychopathologie des Alltaglebens« (Freud, 1904), eine Bezeichnung, die auch auf das alltägliche und fachliche Verstehen und Missverstehen bezogen und erweitert werden kann. Dies ist für die Frage der Psychotherapie und Psychoanalyse zentral, aber auch für die Filmpsychoanalyse wichtig: das MiteinanderSprechen, das Sich-Verständigen, das In-Beziehung-Treten im kulturellen Dialog zeigt danach die nämlichen »Störungen«, wie dies Freud für die Fehlleistungen beschrieben hat. Auch hier zeigt schon die Alltagserfahrung, dass die sprachliche Verständigung immer ein »halbes Gelingen« und ein »halbes Scheitern« bedeutet. Aus psychoanalytischer Sicht hängt dies mit der Verfasstheit des Sprechenden (Schreibenden) und des Hörenden (Lesenden) zusammen, dass er nämlich nur begrenzt weiß, was er wirklich sagt und was er hört; dies lässt sich zurückführen auf eine grundlegend fehlende Transparenz des Menschen für sich selbst und andere. Die zentrale Annahme dabei ist, dass Sprechen und Zuhören immer auch an innere, unbewusste Bereiche – vor allem Konflikte – oder implizite Beziehungsstrukturen rühren oder auslösen wird, und zwar je mehr sie lebens- und beziehungsrelevante Themen berühren. Aus philosophischer Sicht könnte man aber noch weiter gehen: Wenn Sprache nicht die Welt abbildet, die Welt selbst nicht spricht und es auch keine Wahrheit dort draußen gibt, sondern der Mensch die Sprache (ein Vokabular) entwickelt und mit ihr Wahrheit bestimmt oder festlegt, dass Sprachen eher gemacht als gefunden und dass Wahrheit die Eigenschaft sprachlicher Gebilde und Sätze ist und man daher von der Kontingenz der Sprache reden muss, dann kann man wie R. Rorty zu folgender Aussage kommen: »Davidsons Quint­ essenz ist, dass ›alles, was zwei Leute brauchen, um einander beim Sprechen zu verstehen, in der Fähigkeit besteht, sich in vorläufigen Theorien von Äußerung zu Äußerung einander anzunähern‹« (Rorty, 2012, S. 39). Das Miteinander-­ 172 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

Sprechen und das Sich-Verständigen ist damit ein Austausch von »vorläufigen Theorien«, der von Versuch und Irrtum geprägt ist und immer nur eine Annäherung an die Verständigung darstellt. Das Anerkennen dieser fundamentalen Einsicht charakterisiert für R. Rorty die ironische Einstellung zur Welt (Rorty, 2012). Wenn man weiterhin die Entwicklung der Sprache als einen komplexen Prozess der Aneignung berücksichtigt, die von einem »Nachplappern« in der frühen Kindheit (als Prozess der Gewöhnung und Konditionierung), über das bewusste Erlernen einer Sprache, der Entwicklung eines Verständnisses der eigenen Sprache, der Vergleich mit fremden Sprachen und schließlich die Entwicklung einer eigenen Stimme im Rahmen der gewählten Sprache zu beschreiben wäre (Bieri, 2011), dann wird deutlich, wie sehr das Verstehen nicht nur mit dem Spannungsfeld von Bewusstem und Unbewusstem, sondern auch mit der Natur der Sprache selbst und ihrer Entwicklung verbunden ist. Im Grunde könnte man dann auch sagen, dass jeder sprachliche Austausch – und dies gilt für den Alltag ebenso wie für den kulturellen Dialog – mit einer Übersetzungstätigkeit verglichen werden kann, in dem es um die mehr oder weniger privaten Bedeutungen von Wörtern und Begriffen der Sprecher und Hörer geht. Dies lässt sich beispielsweise an einem Begriff wie »Wirkungsanalyse«, den Blothner in seinem Beitrag als zentral ansieht, verdeutlichen: Es ist ein eigener, quasi persönlicher Begriff, der einen weiten Bedeutungshof hat und von Blothner detailliert in den einzelnen Schritten am Beispiel von Melancholia dargestellt wird. Der Begriff erscheint wenig selektiv, also offen und auch vorläufig. Ein anderes Vokabular würde wohl von einem »ästhetischen Erleben« (Gumbrecht, 2004) oder von einer »ästhetischen Erfahrung« (Adorno, zitiert bei Hamburger und Leube-Sonnleitner, S. 84) sprechen, bei Gumbrecht mit dem oszillierenden Spannungsfeld von Präsenz- und Sinneffekten und bei Adorno mit den drei Schichten der unmittelbaren begriffslosen Erfahrung, dem Nachvollzug der Intention des Kunst173 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

werkes und der Wahrheit des Kunstwerkes. Nur im weiterführenden Dialog ließe sich klären, ob etwa der Begriff der »Wirkungsanalyse« auch auf das Vorgehen von Schneiders Interpretation von Melancholia noch zutrifft. Die Beiträge in diesem Buch zeigen nämlich, dass es in allen Deutungsansätzen zentral um das »ästhetische Erleben« oder die »ästhetische Erfahrung« des Filmpsychoanalytikers geht, dass aber die Gewichtungen zwischen Präsenz- und Sinneffekten (im Sinne des hermeneutischen Zugriffs) sehr unterschiedlich sind. Man könnte vielleicht als eine zentrale Differenz der unterschiedlichen Ansätze vermuten, dass sich die Autoren dadurch unterscheiden, wie lange sie im unmittelbaren Erleben (Präsenzeffekt) zu bleiben versuchen und wann sie einen deutenden Zugriff (Sinneffekt) machen, wobei auch dieser noch sich an dem Grad der Abstraktion unterscheiden lässt: Schneider führt relativ bald das ContainerContained-Modell ein (eine Vorannahme, die bereits von ihm an anderen Arbeiten exemplifiziert wurde), Blothner bleibt länger im Konkreten und einer aus den Filmbildern abgeleiteten Fragestellung, die dann schließlich in der zentralen Deutungsfigur kulminiert: »[…] bin ich zu der These gekommen, Melancholia thematisiere die Tendenz menschlicher Kultivierungsformen, den Kontakt zu den einfachen und banalen Grundtatsachen des Lebens zu verlieren« (S. 121). Und S. Kutschinski verweigert konsequent den interpretativen Schritt: »Einer psychoanalytischen Grundhaltung eher entsprechend dürfte indes mein fehlendes Bedürfnis nach einem raschen und umfassenden Bedeutungsverständnis sein. Einem Film wie Melancholia glaube ich damit gerechter werden zu können, als wenn ich ihn in seiner Vieldeutigkeit unbedingt gleich interpretieren müsste« (S. 153). Es wäre dies also eine hilfreiche, weiterführende Fragestellung, inwieweit sich die Autoren in dem oszillierenden, bipolaren Spannungsfeld von Präsenz und Reflexion verorten lassen, ohne aber damit eine Wertung zu verbinden. Es könnte aber sein, dass diese Verortung sehr mit der Offenheit und Toleranz 174 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

für das Nichtwissen in Verbindung steht: Für viele Filmpsychoanalytiker sind ja gerade solche Filme von Interesse, die mehr Fragen als Antworten aufwerfen und die den Zuschauer beispielsweise mit einem rätselhaften Ende entlassen. Als ein weiteres Beispiel für den kommunikativen Austausch über die verschiedenen Vokabulare erwähne ich noch einmal das von Schneider eingeführte Container-Contained-Modell (C-C-M), das nicht nur klinisch, sondern auch sprachlich, kulturell und sozial verstanden wird – gerade im Zusammenhang mit apokalyptischen Ängsten. In einem Kommentar zum Film Stay von M. Forster, den man als einen langen Sterbenstraum deuten kann und der damit eine thematische Verbindung zu Melancholia hat, habe ich selbst die Frage aufgeworfen, ob der Filmkünstler generell die ungeträumten Träume des Zuschauers träumt und dieser spezifische Film gleichsam den Zuschauer in Kontakt bringt mit seinen eigenen verdrängten Sterbens- und Todesvorstellungen (Zwiebel, 2008). Der Zusammenhang zwischen dem C-C-M und der Unfähigkeit zum Träumen ist relativ offensichtlich (auch in der Theorie von Bion), wobei ein Unterschied in der räumlichen und in der funktionellen Metapher zu sehen ist: Man könnte sagen, die Funktionen des Träumens in diesem erweiterten Sinne von Bion erschaffen einen mentalen Raum, in dem ansonsten unerträgliche Affekte gebunden und toleriert werden können. Es ist eindrucksvoll, wie die unterschiedlichen Filmbilder (Melancholia und Stay in diesem Fall) aber genau diese zwar verbundenen, aber auch unterschiedlichen Metaphern generieren: Das Traumähnliche von Stay legt offenbar sehr viel mehr die Traumanalogie nahe als ein Film wie Melancholia. Hier käme es also darauf an, ob die Filmpsychoanalytiker auch im Sinne von Rortys Verständnis der Ironie ihre Deutungen als »vorläufige Theorien« begreifen können, über die sie sich aber im Gespräch miteinander austauschen und annähern können. Dies führt noch einmal zu den Vorannahmen der Filmpsychoanalytiker, die in allen Arbeiten klarer als üblich dar175 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ralf Zwiebel

gestellt werden. Sie kann man als Manifestation der filmpsychoanalytischen Arbeitsmodelle verstehen, in denen bestimmte explizite (und teilweise implizite) Grundannahmen über Kunst, Film, Deutung, Psychoanalyse etc. zum Ausdruck kommen. Bei allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten (Filmerleben als Reise und Besuch – Bliersbach, Bedeutung der Hingabe – Hamburger und Leube-Sonnleitner, Filme als kulturelle Symptome – Schneider und Hamburger und Leube-Sonnleitner, Filme als Verführung – Stigl­ egger) fällt jedoch in allen filmpsychoanalytischen Arbeiten die Grundannahme einer »disziplinierten Verwendung des eigenen Selbst« besonders auf, eine Überlegung, die auch in der Zusammenfassung der Diskussionen der Autoren ausdrücklich erwähnt wird. Vielleicht kann man noch nicht einmal behaupten, dass diese disziplinierte Selbstreflexion ausschließlich psychoanalytisch begründet ist, aber sie wird vom klinischen Psychoanalytiker in seiner alltäglichen klinischen Praxis besonders eingeübt und kultiviert. Es ist damit aber keine wilde »Gegenübertragungsanalyse« gemeint, sondern eben eine disziplinierte Verwendung des eigenen Erlebens: »diszipliniert« heißt dann, den Quellen des Erlebens in den verschiedenen Kontexten – in der Einleitung sprach ich von der Bifokalität der Nah- und Fernsicht – genauer nachzugehen. Dies bedeutet aber vor allem auch, das Filmerleben wirklich zuzulassen (sich hinzugeben), eine Form der Regression zu ermöglichen, aber immer mit einer beobachtenden und fokussierenden Bewegung verbunden; man könnte auch sagen, dass der etwas umstrittene Begriff der teilnehmenden Beobachtung nach wie vor eine treffende Beschreibung ist. Es wäre reizvoll, an dieser Stelle genauer auf die Arbeiten von Gumbrecht über das »ästhetische Erleben« einzugehen, das aber den Rahmen dieses abschließenden Textes sprengen würde: Hier sei in der Beschreibung des »ästhetischen Erlebens« – übrigens in der Unterscheidung zur »ästhetischen Erfahrung«, die nach Gumbrecht bereits mehr durchdacht ist – nur die Betonung von »Momenten der Intensität« 176 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge

erwähnt, die den Rezipienten aus der Alltagswelt zu befreien vermögen, die einen Rahmen benötigen (für den Film die spezifische Kinosituation), die eine Sehnsucht nach Präsenz ausdrücken im Gegensatz zur Sinndimension des Alltags – etwa wenn Gumbrecht schreibt: »Für uns ist es überaus schwierig – wenn nicht gar unmöglich – das ›Deuten‹ zu unterlassen, und keinen Versuch zu machen, jenem Blitz oder dem grellen kalifornischen Sonnenschein Sinn zuzuschreiben« (Gumbrecht, 2004, S. 127) – und die genauere Analyse der Präsenzphänomene. Dies wäre also eine weiterführende Aufgabe, diese sehr interessanten Überlegungen für die Filmpsychoanalyse nutzbar zu machen. Die Überlegungen von Stiglegger und die Beschreibung der Seduktionstheorie des Films macht unmittelbar verständlich, warum diese Beziehung zwischen Präsenz- und Sinneffekten gerade für den Film so außerordentlich wichtig ist, wird doch der Zuschauer durch die Bilder, die narrative Struktur und die Musik in einen Sog hineingezogen, der aber das ganze Spannungsfeld von Präsenz und Sinn auffaltet: Es wird ja geradezu der »Moment der Intensität« gesucht oder manipulativ hervorgerufen bei gleichzeitiger Aktivierung des Interpretierens etwa im Sinne der Rekonstruktion der Filmgeschichte oder der Handlungen der Protagonisten. Die Beiträge von S. Kutschinski und G. Bliersbach (»Heute erwarte ich von einem Kinofilm die Belebung meiner Selbsterfahrung, eine Selbsterweiterung und Welterfahrung«, S. 136) auf der einen Seite und der Beitrag von G. Schneider auf der anderen könnte man in diesem Sinne fast als Antipoden verstehen: einerseits das Festhalten an der Präsenz der Filmerfahrung, andererseits ein starker interpretativer Ansatz einer komplexen Filmdeutung. Stigleggers Arbeit, leider der einzige Beitrag eines Filmwissenschaftlers in diesem Band, zeigt aber – wenn auch vielleicht nicht repräsentativ – eine andere Fokussierung als die filmpsychoanalytischen Arbeiten: Er geht von einer theoretischen Prämisse aus und dekliniert gleichsam diese generell 177 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

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und am Film Melancholia durch, allerdings auch mit einem Aufzeigen eines Subtextes dieses Films, der durch den Bezug zur Seduktionstheorie erkennbar wird: »›Melancholia‹ bietet die Herausforderung zum mythischen Denken, zur Überwindung rationaler Verlässlichkeit, die sich als Konstante der westlichen Welt etabliert haben. Melancholia verführt dazu, den Gedanken des endgültigen Untergangs anzunehmen« (S. 40). Sein Beitrag nährt die Hoffnung, dass es in der Tat einen fruchtbaren Dialog zwischen Filmwissenschaft und Filmpsychoanalyse geben kann, auch wenn dies gegenwärtig nur begrenzt realisiert ist. Dies wird dann vielleicht besser gelingen, wenn die Filmpsychoanalytiker den wesentlichen Teil ihrer Kompetenz, nämlich die disziplinierte Selbstreflexion, stärker einbringen und für das Filmerleben stärken (Blothners Wirkungsanalyse) und nicht mit dem primär theoretischen Zugang der Filmwissenschaft zu konkurrieren versuchen.

Literatur Bieri, P. (2011). Wie wollen wir leben? St. Pölten: Residenz-Verlag. Blothner, D., Zwiebel, R. (2012). Kino zwischen Tag und Traum. Psychoanalytische Zugänge zu »Black Swan«. Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Buchholz, M. B., Gödde, G. (2013). Balance, Rhythmus, Resonanz. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 67 (9), 844–880. Freud, S. (1904). Zur Psychopathologie des Alltagslebens. GW Bd. IV. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. Gabbard, G. O., Ogden, T. H. (2009). On becoming a psychoanalyst. The International Journal of Psychoanalysis, 90 (2), 311–327. Gumbrecht, H. U. (2004). Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rorty, R. (2012). Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zwiebel, R. (2008). Der letzte Traum. Filmpsychoanalytische Überlegungen zu Stay. In P. Laszig, G. Schneider (Hrsg.), Film und

178 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Ein kurzer Rückblick auf die Beiträge Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome (S. 207–234). Gießen: Psychosozial-Verlag. Zwiebel, R., Mahler-Bungers, A. (2007). Projektion und Wirklichkeit. Die unbewusste Botschaft des Films. Göttingen: Vanden­ hoeck &Ruprecht.

179 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250

Die Autoren

Dr. Peter Bär ist Rechtsanwalt in Mannheim. Gerhard Bliersbach ist Autor und Psychotherapeut in Hückelhoven. Prof. Dr. Dirk Blothner ist niedergelassener Psychoanalytiker und apl. Professor an der Universität zu Köln. Prof. Dr. Andreas Hamburger, Psychoanalytiker, ist Professor an der International Psychoanalytic University Berlin und niedergelassener Psychoanalytiker in München. Dr. Salek Kutschinski, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychiatrie, ist niedergelassener Psychoanalytiker in München. Katharina Leube-Sonnleitner ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychoanalytikerin in München. Dr. Gerhard Schneider ist niedergelassener Psychoanalytiker in Mannheim. PD Dr. Marcus Stiglegger ist Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Mainz. Dr. Christoph E. Walker ist niedergelassener Psychoanalytiker in Ammerbuch und Vorsitzender der DPV. Prof. Dr. Ralf Zwiebel, Psychoanalytiker, war ehemals Professor für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel.

180 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525461259 — ISBN E-Book: 9783647461250