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German Pages 200 [164] Year 2020
Peter B. Schumann Handbuch des brasilianischen Films
Peter B. Schumann
Handbuch des brasilianischen Films
Vervuert
Vom 2. bis 20. März 1988 fanden im Kulturzentrum Gasteig und im Neuen Arena die „Lateinamerikanischen Filmtage: Brasilien" statt. Das vorliegende Buch entstand als Begleitpublikation zu dieser vom Centro Cultural Latinoamericano (Siegrid Kroeber, Sohela Emami) als Mitglied des Vereins „Filmstadt M ü n c h e n " und dem Fachbereich Literatur, Film, Medien (Dr. Michael Farin, Sibylle Bauer, Pauline Spaeth) ausgerichteten Veranstaltungsreihe des Kulturreferates der Landeshauptstadt München und wurde von diesem mitfinanziert
ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schumann, Peter B.: H a n d b u c h des brasilianischen Films : [Begleitpubl. zur Veranstaltungsreihe vom 2. — 20. März 1988 im Kulturzentrum Gasteig u. im Neuen Arena „Lateinamerikan. Filmtage: Brasilien"] / Peter B. S c h u m a n n . - F r a n k f u r t / M : Vervuert, 1988 ISBN 3-89354-025-3
© Vervuert Verlagsgesellschaft, F r a n k f u r t / M 1988 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Konrad Satz: AbSatz, Hoya/Weser Druck: Caro-Druck, F r a n k f u r t Printed in West Germany
Inhalt Vorwort Dr. Jürgen Kolbe
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Vorbemerkung von Peter B. Schumann
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Geschichte des brasilianischen Films
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Lexikon der Filme
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Lexikon der Regisseure
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Bibliografie
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Register
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Como era gostoso o meu francés
Brasilien, fünftgrößtes Land der Erde, Land unermeßlicher Regenwälder und deshalb „Lunge der Welt"; 130 Millionen Einwohner, vorwiegend katholisch; reich an Bodenschätzen und agrarischen Anbaugebieten, aber bei den westlichen Industrienationen durch eine forcierte Industrialisierung hochverschuldet und mit einer zu großen Teilen unterernährten Bevölkerung; über 20 Jahre Militärdiktatur (1964—1984); „Theologie der Befreiung" und seit wenigen Jahren „Neue Republik". Dies sind Stichworte zu einem Land, das hier wegen des Amazonas, der riesigen Sumpfgebiete, der ethnischen Minderheiten (nur noch etwa 200 000 Indianer), der Bilder von überquellenden Städten (zwei Drittel der Bevölkerung leben dort), aber auch wegen des Bossanova, des Carnevals in Rio, des Samba und seiner Filmkunst berühmt ist. Die Regisseure des brasilianischen Kinos haben Filmgeschichte geschrieben: Glauber Rocha, Nelson Pereira dos Santos, Héctor Babenco, Carlos Diegues, viele andere. Durch sie wurde Brasilien zum bedeutendsten Filmland Südamerikas. Aber auch das KommerzKino, ob als „Porno-Chanchadas" oder als Politthriller, wird dort erfolgreich produziert. Das vorliegende Handbuch, entstanden als Begleitpublikation zur in der Bundesrepublik bisher umfassendsten Retrospektive des brasilianischen Films, gibt über die wichtigsten Vertreter des brasilianischen Kinos und deren Filme Auskunft. Es wirft Schlaglichter auf die unvergleichliche Filmkunst eines faszinierenden Landes.
Dr. Jürgen Kolbe Kulturreferent der Landeshauptstadt München
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Os herdeiros
Vorbemerkung Als ich 1965 einen ersten Aufsatz über das Cinema Novo, das Neue Kino Brasiliens, für die Zeitschrift ,Film' schrieb, war es außerordentlich schwierig, mich über die Entwicklung der brasilianischen Kinematografie zu informieren. Inzwischen gibt es eine Fülle von Literatur, die höchst unterschiedliche Aspekte des Filmschaffens im größten Land Lateinamerikas behandelt. Und es gibt ein umfassendes Buch, das schönste dazu: Le Cinéma Brésilien von Paulo Antonio Paranagua, das auch für diese Arbeit eine unerläßliche Quelle war. Dieses Handbuch des brasilianischen Films knüpft ganz bewußt an das Handbuch an, das ich 1982 über das lateinamerikanische Kino veröffentlicht habe. Das filmhistorische Kapitel ist überarbeitet und beträchtlich erweitert worden und bietet nun auch einen Überblick über die Tendenzen und Probleme der 80er Jahre. Es ist also auf dem neusten Stand. Ein abgewogenes Urteil über die letzte Produktion ist dabei allerdings nicht möglich, deshalb habe ich mich fast ausnahmslos auf Hinweise zu den Filmen der letzten beiden Jahre beschränkt. Das Lexikon der Filme und der Regisseure orientiert sich am Programm der großen Münchner Retrospektive, das wiederum zum Teil von der Verfügbarkeit untertitelter Kopien bestimmt wurde. So weit deutsche Filmtitel angegeben sind, beziehen sich diese auf Filme, die in der Bundesrepublik aufgeführt oder sogar verliehen wurden. Im historischen Kapitel sind diese Titel kursiv gesetzt, alle anderen sind reine Übersetzungen. Die ausführliche Bibliografie erschließt vor allem die deutsch-sprachige Literatur zum brasilianischen Kino, enthält allerdings keine Kritiken. Außerdem sind die wichtigsten Veröffentlichungen brasilianischer Autoren verzeichnet, hier besonders die Buchpublikationen. Der Index umfaßt vor allem die im historischen Teil und im Lexikon der Filme erwähnten Namen der Regisseure und wichtiger Künstler und Autoren sowie die Originalfilmtitel und die Titel der in der Bundesrepublik aufgeführten Filme. In den 60er Jahren hätte ich an ein solches Handbuch des brasilianischen Films noch nicht einmal im Traum gedacht. Ich hoffe, daß es den interessierten Leser mit seinen Informationen weiterhilft. Und ich wünschte mir, daß es neugierig macht, die vielfaltigste Kinematografie Lateinamerikas noch gründlicher zu entdecken. Berlin, im Februar 1988
Peter B. Schumann
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Geschichte des brasilianischen Films
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Ein Feuer, ein Hahnenkampf, die Ankunft eines Zuges, Militärfanfaren, ein Strand, ein Akrobat, ein Sketch und eine,intime' Szene waren die ersten filmischen,Sensationen', die die Brasilianer am 8. Juli 1896 in Rio de Janeiro zu sehen bekamen — sieben Jahre nach der Verkündung der Republik und der Einfuhrung der Elektrizität. Am 31. Juli 1897 eröffnete ein Italiener, Paschoal Segreto, ebenfalls in Rio und ebenfalls mit französischen Filmen, das erste stationäre Kino. (Säo Paulo, die andere Metropole, erlebte erst 1907 dieses glückliche Ereignis.) Und wieder ein Jahr später, am 19. Juni 1898, filmte sein Bruder AfTonso Segreto bei seiner Rückkehr von einer Europa-Reise die Bucht von Guanabara und den Hafen von Rio: So begann ein Italiener an Bord eines französischen Dampfers die brasilianische Filmproduktion. Die Gebrüder Segreto blieben in diesen ersten Jahren die wichtigsten Filmhändler und -Produzenten. Sie verfugten bald auch über ein eigenes Kopierwerk, mit dessen Hilfe sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden die neuesten Attraktionen auf die Leinwand bringen konnten. Außer ihren Aktivitäten gab es nur sporadische Versuche von wenigen anderen, in der sich sehr schleppend entwickelnden Branche Fuß zu fassen. In anderen Landesteilen fand der Film nur geringe Verbreitung: eine Folge der allgemeinen Unterentwicklung, vor allem des Mangels an elektrischem Strom.
Die ,goldene Epoche' des ersten Aufschwungs (1907—1911) Der Bau eines neuen Elektrizitätswerks in Rio de Janeiro bewirkte 1907 einen ersten Aufschwung. Innerhalb von wenigen Monaten wurden 18 neue Filmtheater eröffnet. Zwischen 1909 und 1910 schnellte die Produktion auf über zweihundert Filme, die meisten waren allerdings nicht länger als eine Rolle. 1908 drehte Julio Ferrez eine einaktige Komödie: Nhö A nastäcio chegou de viagem — den ersten brasilianischen Film mit einer Spielhandlung. Os estranguladores von dem Portugiesen Antonio Leal wurde im selben Jahr der erste große Kinoerfolg und das Vorbild für das erste brasilianische Filmgenre: die Darstellung einer authentischen Mordgeschichte, auch sie noch nicht länger als eine Dreiviertelstunde. Gleichzeitig realisierten Alberto Botelho und der Spanier Francisco Serrador O crime da mala, den ersten in Säo Paulo hergestellten Spielfilm, ebenfalls ein kommerzieller Erfolg. Neben Melodramen, Gesellschaftskomödien und Historienstücken (vor allem über die Geschichte Portugals) wurden Musikfilme nach europäischen Operetten und brasilianischen Karnevalsthemen sehr beliebt, wie A viüva alegre (Die lustige Witwe) von Francisco 13
Serrador, der diese Mode 1909 initiierte. Den fehlenden Ton ersetzten Schallplatten und bevorzugt Sänger hinter der Leinwand. Zum Kassenschlager mit mehr als tausend Vorführungen wurde 1910 Paz e amor von Alberto Botelho, eine Filmoperette mit sozialkritischen Ansätzen. Der Aufschwung war kurz und das Geschäft meist in Händen von Ausländern. Denn die Brasilianer hielten die Filmtechnik für etwas Kompliziertes und zwar alle Bereiche, vom Drehen über das Kopieren bis zum Vorführen. „Ihre technische Unfähigkeit war traditionell", schrieb Paulo Emilio Salles Gomes, „und stammte aus einer Zeit, als die Handarbeit Pflicht der Sklaven oder den Ausländern vorbehalten war. Erst später lernten Brasilianer, die aus dem neuen Metier des Pressefotografen kamen, die Kamera zu handhaben." 1
Marginale Existenzen (1912-1922) Mit der fortschreitenden Entwicklung des Stummfilms in Europa und den Vereinigten Staaten drängten immer mehr ausländische Produkte auf den brasilianischen Markt. Der handwerklichen Perfektion des italienischen, französischen und dänischen Kinos, das am meisten Anklang fand, hatten die Brasilianer wenig entgegenzusetzen. Kulturell waren sie Europa noch zu sehr verbunden, um etwas Unverwechselbares zu schaffen, und filmisch waren sie in jeder Beziehung zu unterentwickelt, um den Konkurrenzkampf aufnehmen zu können. Der Geschmack des Publikums orientierte sich an dem ausländischen Angebot, das kurz nach der Premiere in Europa bereits in den Kinos von Rio und Säo Paulo zu sehen war. Der Dokumentarfilm, der bis dahin mit jährlich über hundert Beiträgen die Produktion dominiert hatte, wurde immer mehr vom Spielfilm verdrängt und erreichte 1916 mit neun Arbeiten einen Tiefpunkt. Aber auch die Spielfilm-Produktion verkümmerte zusehends, brachte es 1914 nur noch auf einen Beitrag und erholte sich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wieder (Höhepunkt: 22/1917). Immerhin: in einem Land, in dem es noch keine Buchindustrie gab, faßte die Filmindustrie langsam Fuß. Kriminalfilme fanden weiterhin ein interessiertes Publikum. Daneben versuchte sich Vittorio Capellaro an der Verfilmung von literarischen Stoffen der brasilianischen Romantik wie 0 Guarani (1916) und Iracema (1919), denen auch patriotische Untertöne nicht fremd waren. José Medina, spanischer Abstammung, erprobte in Exemplo regenerador{ 1919) eine neue Methode rationeller Filmproduktion auf der Basis eines minutiösen Drehbuchs, was ihn rasch zum wichtigsten Regisseur in Säo Paulo machte. In Rio de Janeiro, dem anderen Filmzentrum Brasiliens, wurde Luis de Barros mit erfolgreichen Dramen wie Perdida (1916) und Alma sertaneja (1919) bekannt. (Seine Karriere reicht bis in die siebziger Jahre, aber für die brasilianische Kinematografie entscheidend sind seine Beiträge bis in die zwanziger Jahre. Insgesamt brachte er mehr als hundert Filme hervor.) 14
Ein Italiener, Gilberto Rossi, und ein Paulistaner, Antonio Campos, der Pionier des Kinos in Säo Paulo, konkurrierten auf dem Gebiet des ,Aktualitäten-Films', einer Art Wochenschau, die aber oft nur monatlich erschien. Die Rossi Actualidades (seit 1919) konnten sich gegen die Sol eSombra (seit 1922) durchsetzen, denn sie erhielten bald Subventionen von der Stadt Säo Paulo. Die brasilianische Filmproduktion fristete in jenen Jahren eine marginale Existenz am Rand der die Kinos beherrschenden ausländischen Erzeugnisse.
Erwachen eines neuen Bewußtseins (1922—1933) Die zwanziger Jahre sind geprägt vom Entstehen eines neuen Bewußtseins, der Entdeckung der eigenen Kultur, der eigenen Identität. Das Gefühl, kulturell von Europa abhängig zu sein und nichts als eine Imitationskunst hervorzubringen, wich einem Rezeptionsprozeß, den der Schriftsteller Oswald de Andrade ,antropofagia' nannte, kritische Einverleibung' oder Verwandlung europäischer Einflüsse in ein neues, eigenständiges Ganzes. Die Woche der modernen Kunst 1922 in Säo Paulo war erster Ausdruck dieser ,Modernismo' genannten Richtung. Viele, die heute zu den bedeutendsten Künstlern und Schriftstellern Brasiliens zählen, traten damals in Erscheinung: Dichter wie Carlos Drummond de Andrade und Jorge de Lima, Maler wie Candido Portinari und Di Cavalcanti, Romanciers wie Mario de Andrade (,Macunaima') und Graciliano Ramos (,Säo Bernardo'). Das neue kulturelle Bewußtsein schlug sich auch im Spielfilm nieder, dessen Produktion gerade an einem neuen Tiefpunkt angelangt war (3/1922). Die US-Verleiher, die bereits 1916 mit der Paramount Fuß gefaßt hatten, verdarben mit ihren Dumping-Preisen den Markt für die einheimischen Beiträge, die es aufgrund ihrer mangelnden Qualität ohnehin schwer hatten. Da die Zentren Rio und Säo Paulo nichts Konkurrenzfähiges lieferten, gingen einige junge Leute in der,Provinz' daran, Filme zu machen. So entstanden die sogenannten Regionalen Zyklen' in Pouso Alegre, Belo Horizonte, Cataguases, Porto Alegre, Campinas und im Mato Grosso. Der größte Zyklus wurde im Nordosten, im Staat Pernambuco und vor allem in seiner Hauptstadt Recife entwickelt: 13 Filme in 8 Jahren, an denen ca. 30 junge Filmemacher beteiligt waren. Die Produktionsbedingungen waren meist abenteuerlich, denn im Innern des Riesenlandes waren die technischen Voraussetzungen, aber auch die ökonomischen Möglichkeiten noch geringer. Ein einziger Film des Pernambuco-Zyklus wurde z.B. auch im Süden kommerziell verliehen: Aitare da praia (1925) von Gentil Roiz. Die Landschaft begann eine zunehmende Rolle zu spielen, ländliche Typen bevölkerten bekannte Genres wie das Melodrama, und die Cangaceiros, die ,Banditen' des Sertäo, hielten Einzug z.B. in Filho sem mäe (1925) von Tancredo Seabra. 15
Die bleibende Erscheinung der regionalen Zyklen wurde ein junger Mann, der 1925 zum erstenmal eine Kamera in die Hand genommen hatte: Humberto Mauro, bald ein professioneller Regisseur, der als erster ein regelmäßiges Gehalt bezog. Mit Na primera da vida begann er 1926 ein Filmschaffen, das sich durch seine subtile Beobachtung der Wirklichkeit, sorgfaltige Darstellung alltäglicher Ereignisse und ein Gespür für soziale Probleme von der übrigen Produktion abhob, die auch im Dokumentarischen oft nur das Spektakuläre suchte. Er hatte angesichts der fehlenden Mittel und Möglichkeiten einen „nationalen Imperativ" für sich geschaffen: „Wenn du keinen Hund hast, dann jag' mit einer Katze." Konsequent wie keiner vor ihm und wie später erst wieder die Regisseure des Cinema Novo suchte er nach einem authentischen Ausdruck des brasilianischen Kinos. Ihm gelang 1933 ein erstes Meisterwerk: Ganga bruta (Roher Stein). Ein Stoff für ein Melodrama: Ein Ingenieur bringt in der Hochzeitsnacht seine Braut um, wird durch die Aussage eines Freundes vom Mordverdacht freigesprochen, verbindet sich mit einer anderen Frau und traktiert diese ebenso wie die ermordete. Aber Mauro machte daraus eine psychologische Studie: „Expressionistisch in den ersten fünf Minuten (der Hochzeitsnacht und dem Mord), realistisch-dokumentarisch in der zweiten Sequenz (die Freiheit des Mörders und sein Spaziergang), entwickelt er sich zum Western (Krach an der Bar im besten Stil eines John Ford), dann wächst er mit der Kraft des klassischen russischen Kinos (die Besessenheit der Frau, mit erotischen freudschen Anspielungen in der metaphorischen Montage des Stahlwerks); während der Film im Disput zwischen dem Bräutigam und dem verbrecherischen Ehemann noch an den deutschen Expressionismus erinnert, ist der Schluß in der Stimmung eines Abenteuerfilms gehalten. Aber diese Dissonanzen machen Ganga bruta nicht zu einem hybriden Film: Alle diese Visionen bilden eine einzige filmische Bewegung, im Sinn eines konstanten lyrischen Schwungs, der das Wesen von Mauros Regie ausmacht." 2 So schwärmte Glauber Rocha, der dreißig Jahre später beginnen sollte, als der radikalste Erneuerer den Weg Humberto Mauros fortzusetzen. Kurz vor Mauro hatte ein Einzelgänger einen anderen Geniestreich vollendet: Mario Peixoto in Limite (Grenze, 1929). Er handelt von zwei Frauen und einem Mann, drei zerstörten Leben, man könnte auch sagen vom Unglück der Menschen. Eine kontinuierliche Handlung gibt es nicht, sondern eine Vielzahl von Themen, Situationen, Beziehungen, die kunstvoll miteinander verbunden sind und ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Bild menschlichen Schicksals entwerfen. Ästhetisch steht der Film der französischen Avantgarde und Eisenstein nahe, deren Stilelemente Peixoto und sein hervorragender Kameramann Edgar Brazil, der auch für Mauro arbeitete, meisterhaft verwendet haben. Limite fallt völlig aus dem Rahmen lateinamerikanischen Kinos und hat auch wenig mit brasilianischer Wirklichkeit zu tun, ganz anders als Ganga bruta. Es blieb der erste und einzige Film des damals noch nicht zwanzigjährigen Mario Peixoto. Mit diesen beiden Meisterwerken erreichte der brasilianische Stummfilm einen einsamen Höhepunkt zu einer Zeit, als man bereits Tonfilme in Brasilien drehte. 17
Tonfilm - Chanchada - Kollaps (1933-1948) Die Versuche, das stumme Bild nicht nur musikalisch zu untermalen, sondern eine Synchronität zwischen Film und Musik herzustellen, gehen bis in die zehner und frühen zwanziger Jahre zurück. Es gelang zum erstenmal in dem Kurzfilm O bem te vi (1927), in dem das Titellied synchron gesungen wurde. Den ersten tönenden Spielfilm drehte Luis de Barros: Acabaram-se os otarios (1929), ein musikalisches Lustspiel. Doch der Erfolg eines Nordamerikaners, Wallace Downeys Cousas nossas (1931 — der Titel ist bemerkenswert: Unsere Angelegenheiten), mußte die Brasilianer überzeugen, daß es sich durchaus lohnte, in die neue Technik zu investieren. Adhemar Gonzaga, der Ende der zwanziger Jahre die Firma Cinédia gegründet hatte und in seinen Studios eine industrielle Produktion im Stil Hollywoods aufziehen wollte, führte sie ein und erprobte sie in A voi do carnaval (1933), den er zusammen mit Humberto Mauro herstellte. Ein neues Genre war geboren: der brasilianische Musikfilm, eine Mischung aus dem Hollywood-Musical der frühen Jahre und der musikalischen Posse, bald,chanchada' genannt, was man mit Klamotte übersetzen könnte, weil der Witz hauptsächlich auf diesem Niveau angesiedelt war. Der Titel des ersten Films, 'Die Stimme des Karnevals', wies den folgenden das dramaturgische Schnittmuster: Im Mittelpunkt standen die neuesten Karneval-Schlager, vorgetragen von bekannten Radiosängern oder Revue-Theater-Größen sowie den Stars der Zeit wie Carmen und Aurora Miranda, meistens nur mit einer dürftigen Handlung verbunden. Der berühmteste Film war Alo, alo Camaval (1937) von Gonzaga. Die Chanchada hauchte der ausgezehrten Produktion wieder etwas Leben ein. Das war auch dringend nötig, denn mit dem Aufkommen des Tonfilms und der Zunahme der auf den Markt drängenden Ware aus Hollywood hatten viele kleine Firmen den Mut verloren. Immer weniger Spielfilme wurden hergestellt: 1941 nur noch vier und im Durchschnitt bis Ende der vierziger Jahre jährlich nur neun. Hätte es die Chanchada nicht gegeben, wäre die brasilianische Kinematografie am Ende gewesen. So aber überlebte sie dank dieses Unterhaltungsgenres, der einzigen Waffe gegen die ausländische Konkurrenz. In Rio de Janeiro wagte es der Toningenieur Moacyr Fenelon sogar, ein neues Studio zu etablieren, die Atlantida, die bald die Produktion des Amüsierkinos monopolisieren sollte und es 1949 auf 21 Spielfilme brachte. Hier machten Komiker wie Oscarito und Grande Otelo Karriere, Finsterlinge wie José Lewgoy und Schönlinge wie Cyll Farney und Anselmo Duarte, der sich später in den sechziger Jahren als ernsthafter Regisseur erweisen sollte. Die Chanchadas — es sollen bis Ende der fünfziger Jahre, als der Erfolg nachließ, über 250 Filme herausgekommen sein—waren Kino für die Massen, das auf vorhandene Bedürfnisse nach humorig-musikalischer Unterhaltung reagierte und sein Publikum von den sozialen Problemen und den Folgen der Diktatur des Getülio Vargas (1930 — 1945) ablenkte. Es war bei aller Imitation westlicher Muster des Musicals und des Lustspiels ein spezifisch brasilianisches Genres mit derart lokaler Ausprägung, daß es — anders als der argentinische Tango18
film oder die mexikanischen Melodramen (,rancheras'), die etwa gleichzeitig den lateinamerikanischen Markt füllten — keine Verbreitung auf dem übrigen Kontinent fand. Ein weiteres Hindernis war die portugiesische Sprache. Neben der ansteigenden Welle eskapistischer Produkte konnte nur weniges von größerer Bedeutung gedeihen. Humberto Mauro drehte Favela de meus amores (1935), den ersten Musikfilm, der die elenden Siedlungen an den grünen Hügeln Rios zeigte. Danach machte er zahllose Dokumentarfilme für das Erziehungsfilm-Institut. Carmen Santos, die 1933 eine eigene Produktionsfirma ins Leben gerufen hatte, gelang es nach vielen Anläufen, Inconfldencia mineira (1948) zu drehen — den ersten von einer Frau gestalteten brasilianischen Film. Auch die erste Produktion der Atlantida, Moleque tiäo von José Carlos Burle (1935), fiel aus dem Rahmen, denn sie behandelte erstmals ein Rassenproblem, wofür der Regisseur ungewöhnliche Ausdrucksformen gefunden hatte. In dieser Etappe der Krise und der Chanchadas begann der Staat seine protektionistische Filmpolitik, die bis heute andauert, besonders in den siebziger Jahren Erfolg zeitigte und Brasilien schließlich zum größten Filmproduzenten Lateinamerikas machte. Das wesentliche Instrument dieser Politik ist ein Gesetz, das dem einheimischen Film eine Marktlücke schafft, denn es schreibt vor, daß in jedem Kino soundsoviele Tage lang einheimische Filme gezeigt werden müssen. 1939, als das Gesetz erstmals wirksam wurde, beschränkte es sich noch auf 1 Film pro Kino und pro Jahr, was dann auf 8 erweitert wurde, bis man endlich diese leicht manipulierbare Vorschrift durch eine konkrete Tageregelung ersetzte: von 42 im Jahr 1959 auf 140 im Jahr 1981. Kein anderes Land in Lateinamerika hat seinem nationalen Filmschaffen eine so große Marktlücke oder besser gesagt -bresche geöffnet.
Vera Cruz: beispiellose Entfremdung (1949—1953) In Säo Paulo, der Kapitale des Geldes, war die Handelsbourgeoisie für kulturelle Aktivitäten stets besonders aufgeschlossen gewesen. Immerhin war hier in den zwanziger Jahren der Modernismo ausgerufen worden, und die Kunstbiennale hatte weltweiten Ruf. Die Paulista rümpften die Nase über die Chanchadas der Cariocas, der Leute in Rio. Und ein begüterter italienischer Immigrant, Franco Zampari, mobilisierte Mittel und Leute, um qualitätsvolle Filme von internationalem technischen Standard herzustellen. 1949 wurde die Firma Vera Cruz gegründet, ausgestattet mit einem beispiellos üppigen Budget, mit Studios modernster Technik. Aus dem Ausland wurden Fachleute geholt, die diese Apparate bedienen konnten, in deren Kamera- und Regiekünste man mehr Vertrauen setzte als in die einheimischer Talente wie Humberto Mauro oder Adhemar Gonzaga. Als Leiter des ganzen Unternehmens wurde schließlich Alberto Cavalcanti berufen, ein Brasilianer, der sich als Avantgardist in Frankreich und dann als Verfechter der englischen Dokumentarfilmschule hervorgetan hatte. 19
Von den 18 Spielfilmen der kurzen Existenz der Vera Cruz wurden 2 allgemein als Erfolg empfunden: Sinha moga (1953) von Tom Payne war ein historisches Melodrama nach Hollywood-Manier, und 0 cangaceiro (1953), immerhin von dem brasilianischen Regisseur Lima Barreto, spulte einen alten FilmstofF(die Banditen des Sertäo) im Westernstil ab. In Cannes erhielt er dafür einen Preis für den besten Abenteuerfilm. Mit der Wirklichkeit des Nordostens hatte er freilich schon deshalb nichts zu tun, weil er im Süden, im Staat Säo Paulo, gedreht worden war. Es stimmt also nicht einmal die Kulisse. Auch sonst stimmte nichts bei der Vera Cruz. Die Verantwortlichen hatten zwar in die Produktion investiert, aber darüber die Frage des Verleihs vernachlässigt. So flössen die Millionenprofite von 0 cangaceiro, des ersten brasilianischen Welterfolgs, in die Taschen der Konkurrenz, der ,Columbia Pictures'. Ende 1953 ging die Vera Cruz in Konkurs und damit ein Experiment zuende, das zu einer Entfremdung ohne Beispiel in der brasilianischen Filmkultur geführt hatte.
Versuche der Erneuerung (1953—1959) Der Fehlschlag der Vera Cruz, die eigentlich als erster groß angelegter Versuch der Erneuerung des brasilianischen Kinos konzipiert worden war, hatte keine weiterreichenden Folgen. Die Atlantida setzte die Fabrikation ihrer bekannten Chanchadas fort, bis Ende der fünfziger Jahre das sich ausbreitende Fernsehen dieses Genre als eigene Domäne entdeckte. Die Produktion stabilisierte sich insgesamt und brachte im Durchschnitt der fünfziger Jahre etwa 30 Filme heraus — ein Rekord, der sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigern sollte. Die Brasilianer begannen immer öfter, über ihre Kinematografie nachzudenken: auf zwei Kongressen 1952 und 1953; in Filmclubs, die an den Universitäten entstanden oder von der katholischen Kirche gefördert wurden; in Kinematheken, die sich den beiden großen Museen der Modernen Kunst in Säo Paulo (1952) und in Rio (1957) angliederten. Das alles geschah in einem Klima des nationalen Aufbruchs: Die Brasilianer entdeckten die Zukunft und ihr Präsident Kubitschek entwarf die Vision eines neuen Brasiliens und einer neuen Metropole, die er mitten in der Steppe aus der Erde stampfen ließ — Brasilia, diese Monument gewordene Hoffnung. Humberto Mauro kehrte nach Cataguases zurück, fing noch einmal dort an, wo er Jahrzehnte zuvor seine ersten Filme gemacht hatte, und komponierte das ,Lied der Sehnsucht' C0 canto da saudade, 1953), einen schönen, nostalgischen Film im Stil der Regionalen Zyklen'. Alex Viany, ein junger Kritiker, der wenig später mit J n t r o d u f ä o ao cinema brasileiro' die erste umfassende Filmgeschichte Brasiliens schreiben sollte, versuchte in Agulha no palheiro (1953), populäre Elemente der Chanchadas mit sozialkritischen Intentionen zu verbinden. 20
Dabei assistierte ihm Nelson Pereira dos Santos, der kurz darauf einen eigenen Spielfilm fertigstellte: Rio, quarenta graus (Rio, bei vierzig Grad; 1955), ein Episodenfilm vom Leben in einer Favela. Aus der Sicht der Armen werden Möglichkeiten ihres Schicksals dargestellt und mit der Situation der Mittelschicht und der Reichen verglichen. Es war der erste Teil eines Porträts der sozialen Verhältnisse Rio de Janeiros. Der zweite, Rio zona norte (RioNord, 1957), handelte von den Armenvierteln im Norden, und der dritte sollte in Rio-Süd spielen, wo die Mittelschicht wohnt, aber dazu reichte das Geld nicht mehr. Diese neorealistischen Beiträge von Pereira dos Santos gehören zu den wenigen kritischen Bestandsaufnahmen der brasilianischen Kinematografie der ersten Jahrzehnte. In Säo Paulo begann Walter Hugo Khoury mit 0 gigante da pedra (1953) eine Laufbahn, weit entfernt von den Trivialitäten der Chanchadas. Aber die von modischen Filmrichtungen beeinflußte Darstellung existentieller Ängste und sexueller Obsessionen zielte auf ein universelles Kino und ignorierte den spezifisch brasilianischen Weg, den andere junge Regisseure mit dem nun entstehenden Cinema Novo einschlugen.
Cinema Novo - Neues Kino (1960-1969) Die Voraussetzungen waren günstig. Der Prozeß der nationalen Bewußtwerdung erreichte 1960 mit der Einweihung Brasilias einen Höhepunkt und äußerte sich auch als Besinnung auf die eigene Kulturtradition. Intellektuelle und Künstler entdeckten das Volk und machten es zum Gegenstand ihrer Arbeiten. Das ,Teatro de Arena' in Säo Paulo brachte die Probleme der Arbeiter auf die Bühne: Eies näo usam black-tie (Sie tragen keinen Frack), ein Stück von Gianfrancesco Guarnieri, das zwanzig Jahre später Leon Hirszman als Vorlage zu einem ungewöhnlichen Spielfilm gleichen Titels dienen sollte. Die Politiker diskutierten längst überfallige Reformen (Landwirtschaft, Alfabetisierung); die Landarbeiter des Nordostens forderten ihre Rechte; die Studenten radikalisierten sich angesichts des Siegs der cubanischen Revolution; die Cineasten ließen sich vom neuen Kino Frankreichs beeindrucken. Joäo Gilberto erfand den ,bossa nova', die neue Musik. Der Nationale Studentenverband (UNE) bildete ein ,Centro Populär de Cultura' (CPC), ein Volkszentrum der Kultur, mit dem Ziel, die Kunst stärker mit der Wirklichkeit zu verbinden, vor allem mit der Wirklichkeit des Volkes. Hier war die Keimzelle des neuen Kinos, des Cinema Novo. Niemand dachte an die,Eroberung der Leinwand', an eine ökonomische Konkurrenz mit den ausländischen ,Leinwand-Beherrschern'. Das Cinema Novo sollte vielmehr Schluß machen mit der „falschen Interpretation der Wirklichkeit", wie Rocha das später formulierte. 3 Aus der Arbeit in den Filmclubs ergaben sich erste unbeholfene Versuche, aus den Diskussionen im CPC erste kurze Dokumentarfilme über die Kulturtradition und dann der erste sozialkritische Beitrag: Arraial do cabo (1960), in dem Paulo Cesar Saraceni das Ein21
dringen der Industrie in eine archaische Fischersiedlung beschrieb. 1962 kratzte das CPC sämtliche Geldmittel zusammen, damit fünf Cineasten ihre ersten Kurzspielfilme herstellen konnten, die dann zu dem Episodenfilm Cinco vezes favela zusammengefaßt wurden. Leon Hirszman, Carlos Diegues, Joaquim Pedro de Andrade, Marcos Farias und Miguel Borges griffen hier das Thema von Pereira dos Santos auf und beschrieben die Misere in den Favelas von Rio. Damit war eine erste Linie markiert, auf der sich viele der künftigen Filme des Cinema Novo bewegen sollten: der Darstellung des Elends in den Großstädten bzw. im Sertäo, dem riesigen Notstandsgebiet im Nordosten. 1965 hat Glauber Rocha mit seiner,Ästhetik des Hungers' das theoretische Manifest des Cinema Novo formuliert. Darin heißt es: „Der Hunger des Lateinamerikaners ist nicht nur ein alarmierendes Symptom der sozialen Armut, sondern das Wesen unserer Gesellschaft. Wir können unsere Kultur als eine Kultur des Hungers definieren. Darin liegt die tragische Originalität des Cinema Novo gegenüber dem Filmschaffen der ganzen Welt: Unsere Originalität ist unser Hunger, von dem unser größtes Elend kommt. (...) Der authentische kulturelle Ausdruck des Hungers ist die Gewalt. Die Bettelei, die als Tradition ihren Ursprung im erlösenden und kolonisierenden Mitleid hat, ist die Ursache der sozialen Stagnation, der politischen Mystifikation und der kulturellen Verlogenheit. Denn ein Hungernder reagiert normalerweise mit Gewalt, was nichts mit Primitivität zu tun hat. Die Ästhetik der Gewalt ist revolutionär, nicht primitiv. In dieser Phase wird selbst der Kolonialherr auf den Kolonisierten aufmerksam. Trotzdem wird diese Gewalt nicht von Haß, sondern von Liebe diktiert (...), einer Liebe der Tat, der Veränderung." 4 In Barravento (1962), seinem ersten Spielfilm, begnügte sich Rocha nicht mit der rein deskriptiven Schilderung der Misere wie manche vor ihm und viele danach, sondern stellte eine konkrete Situation der Ausbeutung von bahianischen Fischern dar, ihre Abhängigkeit vom Großhändler, dem Besitzer des Netzes, und wies eindringlich daraufhin, wie sie diese Situation bewältigen, d.h. verdrängen, wie mystizistische Kulte Fatalismus bewirken. Die Lösung, die er anzubieten hat, wird zwar etwas simpel entwickelt, ist aber schlüssig und eigentlich revolutionär: Man darf nicht auf die Götter hoffen, sondern muß sich die Produktionsmittel beschaffen. Während Rocha seinen Filmstil in originären Elementen der brasilianischen Kultur fand, blieb Ruy Guerra in seinem Erstling Os cafajestes (DieSkrupellosen, 1962) noch den europäischen Vorbildern verhaftet, die er jahrelang in Frankreich studiert hatte. Anders als seine Kollegen porträtierte er die Bourgeoisie von Copacabana, das Milieu der Langeweile, in dem Erpressung und Vergewaltigung, Sex and Crime herrschen. Dieser etwas spekulative Film wurde zu einem der wenigen kommerziellen Erfolge des Cinema Novo. Porto das Caixas (1962) von Paulo César Saraceni ist oberflächlich die Geschichte einer jungen Frau, die der Tristesse ihrer Ehe mit einem älteren Mann entfliehen will und ihn mithilfe ihres Liebhabers umbringt. Man kann sie aber auch als eine politische Parabel begrei22
fen: einen Appell zur gewaltsamen Beseitigung des Alten. Ganga Zumba (1963) von Carlos Diegues, ebenfalls ein erster Spielfilm, war zugleich der erste Beitrag des Cinema Novo mit einem historischen Sujet. Doch es ging Diegues nicht nur um die Rekonstruktion von Geschichte und die Wiederherstellung von Geschichtsbewußtsein, sondern um eine andere Form der Sozialkritik: Die entrechteten Sklaven des 18. Jahrhunderts stehen stellvertretend für die Elenden in der Favela oder im Sertäo. Die Darstellung der Selbstbefreiung des jungen Ganga Zumba sollte dazu anregen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Diese Filme sind nur wenige Beispiele für die Vielfalt an Themen, Stilen und Talenten, die bereits am Anfang des Cinema Novo stehen. Ihnen gemeinsam ist die Gewalt, mit der Unterdrücker geköpft, Peiniger gemordet, Menschen vergewaltigt werden. Nur radikale Lösungen finden die jungen Regisseure angesichts der Not im Land. Sie resignieren nicht, sondern setzen Alarmzeichen, um zu mobilisieren.
Der Sertäo — Ort der Revolte Was in 0 cangaceiro 1953 nur verfälschte Kulisse für eine Western-Imitation und also nur Beispiel der Entfremdung war, wird zehn Jahre später zum Gegenstand sozialer Analyse und zum Ort der Revolte in den ersten Meisterwerken des Cinema Novo: der Sertäo. Inzwischen war Brasilien auch politisch in Bewegung geraten. Die Landarbeiter ließen sich nicht länger mit populistischen Versprechungen abspeisen, sondern organisierten sich in ,Bauernligen', besetzten Güter und forderten ihre Rechte „per Gesetz oder mit Gewalt". In dieser Zeit drehten Rocha, Guerra und Pereira dos Santos ihre Filme. Vidas secas (Nach Eden ist es weit, wörtlich: Karges Leben, 1963) von Nelson Pereira dos Santos ist die Beschreibung eines Zustands: Fabiano, der Viehtreiber, zieht Arbeit suchend mit seiner Familie durch die von der Sonne ausgebrannte Steppe. Er findet einen Job, die Familie kann sich das Nötigste leisten. Er wandert ins Gefängnis, weil er sich gegen den Betrug eines Polizisten wehrt; wird befreit; wird um seinen Lohn betrogen; verliert seinen Job; zieht mit der Familie weiter durch den Sertäo. Das wird linear, fast dokumentarisch erzählt, die Tradition des Neorealismus ist unverkennbar. Die Story ist einfach, aber die Bilder sind von höchster Intensität und vermitteln die Realität so eindringlich, daß sie der alarmierenden Signale nicht bedürfen. Ganz anders geht Ruy Guerra in Osfuzis (Die Gewehre, 1963) vor. An den Anfang stellt er zwar ebenfalls einen Situationsbericht: Hunger im Sertäo; die Menschen graben die letzten Wurzeln aus; trotzdem verkauft ein Händler seine Waren nicht, sondern läßt sie von Soldaten schützen; Kinder sterben vor Entkräftung. Aber diese bloße Zustandsschilderung genügt Guerra nicht, denn die Situation ist extrem und verlangt nach einer Lösung. Er läßt einen, der von außen kam, einen Lastwagenfahrer, rebellieren. Doch seine Auflehnung ist 23
zum Scheitern verurteilt, denn sie bleibt individuell: der Zorn des Volks richtet sich nicht gegen den Händler und nicht gegen die Gewehre, sondern nur gegen den Ochsen, den sie am Anfang ah Regenbringer verehrten und am Schluß zerfleischen, immerhin eine Erkenntnis. Guerra hat das nicht mit der gleichen formalen Strenge erzählt, die Pereira dos Santos auszeichnet, sondern poetischer und ausschweifender. Er lenkt vom Kern der Kritik ab, wenn er sich auf das Schicksal der Soldaten und eine Liebesgeschichte einläßt. In Glauber Rochas Deus e o diabo na terra do sol (Gott und Teufel im Land der Sonne, 1964) steht die Revolee am Beginn der Geschichte: Manuel, der Viehtreiber, erschlägt den Großgrundbesitzer, als der ihn ausbeuten will. Danach bleibt kein Raum mehr für detaillierte Beschreibungen, sondern nur noch für die Darstellung exemplarischer Verhaltensweisen. Manuel durchleidet Stationen der Entfremdung, in denen nach Rocha das Volk gefangen ist. Er schließt sich einem Wanderprediger an, verfällt dem Mystizismus, bis ihn seine Frau erlöst; schließt sich den Cangaceiros an, bis ihn Antonio das Mortes befreit; irrt weiter, unbelehrt, bewußtlos, durch die Wüste, auf der Suche nach neuer Hoffnung. Rocha bricht am radikalsten mit der Erzählkonvention, treibt das ästhetische Experiment am weitesten, wenn er disparate Formen und Stilelemente zu einer neuen Einheit verbindet. Gerade aus den Brüchen und Gegensätzen gewinnen seine Filme ihre besondere Dialektik und Schönheit. Diese drei Beiträge scheinen radikal, und als Kunstwerke sind sie es auch. Doch politisch sind sie keineswegs so revolutionär, wie ihr Gestus vermuten läßt, denn sie zeigen ein fatalistisches Volk und individuelle Rebellion zu einer Zeit, als bereits politische Alternativen existieren: etwa die Bewegung der Landarbeiterligen, die 1963 bis 1964 das AgrarreformProgramm der Regierung Goulart durch Massenaktionen zu radikalisieren versuchte. Hier offenbart sich eine Schwäche des Cinema Novo und des nationalpopulistischen Konzepts des studentischen Kulturzentrums: seine Abgehobenheit von den Bewegungen an der Basis und seine elitäre Haltung als Avantgarde des Volkes, das in den Filmen ohne Bewußtsein erscheint, während es sich in der Wirklichkeit organisiert und kämpft.
Die Stadt — Schauplatz der Krise Der Militärputsch von 1964, der relativ zurückhaltend verlief und ein relativ gemäßigtes Regime ans Ruder brachte, leitete einen Prozeß kritischer Reflexion unter der Linken ein, die sich nun mit sich selbst, ihren eigenen Widersprüchen und den Illusionen der Bourgeoisie zu beschäftigen begann. Die Filmemacher kehrten aus dem Sertäo in die Stadt zurück und entwarfen immer deprimierendere Bilder. Die ,Ästhetik des Hungers' wich einer ,Ästhetik der Krise'. Paulo César Saraceni, damals noch ein Verfechter des,imperfekten Kinos', stellte in den Mittelpunkt seiner Herausforderung' (O desafio, 1965) einen Intellektuellen, der an seinem 25
Terra em franse
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politischen Scheitern verzweifelt, dem auch die Beziehung zu einer Frau aus der Industriebourgeoisie mißlingt und der resignierend „eine Zeit des Kampfs, eine Zeit ohne Sonne" ankündigt. Andere Filmemacher, wie Leon Hirszman in A falecida (Die Tote, 1965) und Luiz Sergio Person in Säo Paulo, Sociedade Anonima (1965), durchleuchten die Mittelklasse, aus der die meisten stammen und finden eine apathische Gesellschaft, die anfallig für faschistische Einflüsse ist, frustrierte Intellektuelle in einer Atmosphäre der Depression, eine Klasse ,in Trance', an der die Elenden, die mit Hoffnung aus dem Sertäo in die Stadt kommen, zerbrechen — Carlos Diegues hat sie in A grande cidade (Die große Stadt, 1966) eindringlich vorgeführt. Auch die Herrschaftsmechanismen werden auseinandergenommen. Es bleibt nichts als der desolate Zustand dieser immobilen Klasse, als Korruption (Cara a cara von Julio Bressane, 1967), Unterdrückung (A vidaprovisoriavon Mauricio Gomes Leite, 1968), die radikale Negation des Systems, die Gustavo Dahl in 0 bravo guerreiro {Der tapfere Kämpfer, 1968) konsequent mit dem Selbstmord seiner Hauptfigur symbolisiert. Wo bleibt die Perspektive? Angesichts der fehlenden Alternative innerhalb des politischen Systems und des ständig wachsenden Terrors durch das Militärregime, hatte sich ein Teil der Linken in der Stadtguerrilla organisiert. Doch das Fehlschlagen dieses Kampfes war allmählich abzusehen. Er hatte für viele Intellektuelle auch eher eine kathartische als eine politische Funktion: Gewalt gegen das System aus individueller Frustration. Den Guerrilla-Mythos brachte Nelson Pereira dos Santos in Fome de amor (Hunger nach Liebe, 1968) auf eine einprägsame Metapher: der Revolutionär ist Opfer eines Attentats geworden, dadurch blind und taubstumm, und wer ihm näherkommt, wie jene junge Frau, die ihn liebt, verstummt ebenfalls, verliert den Kontakt zur Wirklichkeit. Den gesamten Problemkreis erfaßte Glauber Rocha in Terra em transe (Land in Trance, 1967), dem wichtigsten Film des Cinema Novo und sein bedeutendstes Werk. Paulo, ein dichtender Intellektueller, schwankt zwischen den politischen Extremen. Zuerst verschreibt er sich Diaz, bis er dessen pseudoreligiösen Faschismus durchschaut. Dann schlägt er sich auf die Seite von Vieira, dem populistischen Reformer, der das Land vom Elend befreien will. Doch in Wirklichkeit liebt er Sara, die Kommunistin, die für Vieira arbeitet. Paulo muß erkennen, daß es dem Populisten wie dem Faschisten nur um Macht, nicht um Veränderung geht. Beide betrügen und unterdrücken das Volk. Enttäuscht und verzweifelt macht sich Paulo auf seinen eigenen Weg als Revolutionär, auf dem ihm auch Sara nicht mehr zu folgen vermag. Er wird angeschossen und stirbt einen einsamen Tod, die Waffe emporgestreckt — Signal für andere, sie zu ergreifen. Der Film mit diesem furiosen Schluß stieß damals auf ein geteiltes Echo. Erst später, Mitte der siebziger Jahre, als er wieder gezeigt werden durfte, fand er bei einer jungen Generation von Cineasten den Anklang, den er verdiente. Denn Rocha hatte sich und die Intellektuellen scharf porträtiert, ihre Schwächen bloßgelegt, die Verlogenheit ihres Engage27
ments, das für sie oft nur Mittel künstlerischer Selbstdarstellung war, ihre Verachtung für das Volk, aber auch dessen Gleichmut, dessen Verführbarkeit, das Interessenspiel der Mächtigen, das nur der Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs diente, die Unmoral der Politiker. Niemals zuvor hatte ein brasilianischer Film ein derart komplexes Bild gesellschaftlicher Zusammenhänge entworfen, und kein anderer brasilianischer Regisseur hat seither mit gleicher Ehrlichkeit und Leidenschaft sich selbst als Künstler und Intellektueller infrage gestellt und in seiner Widersprüchlichkeit abgebildet. Dieser Paulo, der mit Rechts und Links spielt und eine Kommunistin liebt, hat viel von Glauber Rocha, der früh vom Sozialismus schwärmte und später mit den herrschenden Generälen sympathisierte. Er ist nie ästhetische Kompromisse eingegangen wie fast alle anderen Berühmten des Cinema Novo, hat nie einer modischen Tendenz nachgegeben, sondern von Film zu Film andere Möglichkeiten erprobt. Sein Stil ist auf keinen Nenner zu bringen, in Terra em transe schon gar nicht: eine kunstvolle Mischung aus dialektisch aufeinander bezogenen divergierenden Elementen, realistischen bis dokumentarischen, phantastischen bis surrealistischen, theatralischen bis opernhaften, poetischen, literarischen, mythologischen. Dazu braucht er nicht in eine fremde Kultur zu greifen, sondern nur in die eigene, um aus dem irritierenden Wuchern heterogener Formen jene Symbiose zu schaffen, die er selbst einmal ,Tropikalismus' nannte.
Tropikalismus — Metaphern-Kino Der wachsende Terror des Militärregimes und immer häufigere Eingriffe der Zensur zwangen die Filmemacher gegen Ende der sechziger Jahre dazu, die Wirklichkeit in weniger eindeutige Bilder zu verpacken, Metaphern zu suchen, die verständlich und doch unangreifbar waren. Walter Lima jr. z.B. versteckte in Brasil ano 2000(1969) seine Kritik am Konformismus der Mittelschicht in einem Zukunftsspiel voller Symbolik. Azyllo muito louco (Das Irrenhaus, 1970) von Nelson Pereira dos Santos ist eine Parabel auf die Unterdrückung des Volkes. Ruy Guerra beschrieb in Os deusesy os mortos (Die Götter und die Toten, 1970) die um ein halbes Jahrhundert zurückverlegte Situation von Ausbeutung und Abhängigkeit im Nordosten. Macunaima (1970), die Verfilmung des gleichnamigen Romans durch Joaquim Pedro de Andrade, war eine metaphorische, pikareske Darstellung gesellschaftlicher Realitäten und zugleich eine Karikatur brasilianischer Mentalität. Auch Carlos Diegues verlegte in Os herdeiros {Die Erben der Macht, 1969) die politischen Machtverhältnisse, die er ähnlich wie seine Kollegen zwei Jahre früher kritisierte, zurück in die Geschichte der dreißiger bis fünfziger Jahre. Und selbst Glauber Rocha, der noch einmal in den Sertäo zurückkehrte, um O dragäo da maldade contra o santo guerreiro (Antonio das Mortes, 1969) zu drehen, geriet dieser Film zum allzu stilisierten Bild von einem 28
Antonio das Mortes, der nicht mehr im Sold der Besitzenden steht, sondern die Partei der Armen ergreift und die Unterdrücker beseitigt, so wie St. Georg, der heilige Krieger, in einem Mysterienspiel den Drachen der Bosheit erschlägt. Als tropikalistisch wurde dieses Metaphern-Kino bezeichnet, seiner üppigen Bilderflut wegen, seiner Verquickung von Mystik und Legende, von Kult und Ritus, seiner Musikalität aus barocken und populären Rhythmen, seiner bizarren und surrealistischen Elemente, wegen seiner expressiven Bildhaftigkeit und visionären Kraft. Mit diesen Filmen endet um 1969 das Cinema Novo, denn das Militärregime entpuppte sich mit dem Erlaß des institutionellen Akts Nr. 5' vom 13. Dezember 1968 als eine jener ,harten' Diktaturen, in denen Menschen und ihre Rechte nichts gelten. Rund zehn Jahre hatte das Neue Kino Brasiliens existiert und die Kino-Landschaft gründlich verändert. Wo es früher nur vereinzelte Versuche gab, hatte sich eine Bewegung formiert, hatten etwa 30 Regisseure in diesem Jahrzehnt rund 50 Spielfilme (insgesamt wurden 362 aufgeführt) und ein gutes Hundert Dokumentarfilme hervorgebracht. Führende Dokumentaristen: Thomaz Farkas, Geraldo Sarno, Sergio Müniz, Paulo Gil Soares, Eduardo Escorel. Es war eine in sich widersprüchliche Bewegung, die nur eines einte: der Wille, ein Kino zu machen, das die Wirklichkeit reflektierte, analysierte, kritisierte, ein Kino der authentischen Sprache, ein in jeder Beziehung unabhängiges Kino. Der kommerzielle Erfolg, die Breitenwirkung freilich, blieb ihm versagt. (Die Ausnahme: Macunaima, der immerhin 200 000 Zuschauer anzog.) Das Cinema Novo war für die Kinowelt identisch mit dem Kino Brasiliens, was ihm im eigenen Land eine gewisse Narrenfreiheit und Kreditwürdigkeit gab. Es war zusammen mit dem Bossa Nova der bedeutendste Kulturexportartikel der sechziger Jahre. Ein kultureller Faktor, ein Stück Gegenkultur, die zum erstenmal das Medium Film benützte, um über die wirklichen Verhältnisse des Riesenlandes zu informieren. Eine Kinobewegung, die sich auch ästhetisch weitgehend von fremden Vorbildern befreien konnte und für das neue Kino Lateinamerikas entscheidende Initialfunktion besitzen sollte. Und es blieb auch noch zu einer Zeit Medium der Opposition, als deren Organisationen vom Faschismus bereits zerschlagen waren.
Effizienz ohne Innovation: Kino unter der Diktatur der siebziger Jahre Die Militärs prägten nicht nur durch den Terror das Kino der siebziger Jahre, sondern auch durch die Gründung eines vom Staat kontrollierten Filmmonopols: die EMBRAFILME, das „Brasilianische Filmunternehmen", wie es mit Understatement hieß, obwohl es bald eine beherrschende Rolle spielen sollte. Was die Cinema-Novo-Leute jahrelang gefordert hatten, wurde 1969 etabliert: eine Institution, die Produktion, Verleih und Filmkultur stimulierte. Der Erfolg ihrer Politik läßt sich in eindrucksvollen Zahlen beschreiben. 30
Die Produktion stieg von 74 Spielfilmen 1970 (ein Rekordjahr) auf 102 Filme 1980 (ein neuer Rekord), das macht einen Jahresdurchschnitt von rund 80 Produktionen (in den sechziger Jahren 36), den nur noch Mexico erreicht. Die EMBRAFILME co-produzierte davon etwa 15 Prozent. Der Marktanteil des brasilianischen Films, gemessen am Umsatz, erhöhte sich in diesem Zeitraum von 13,8 Prozent (1971) auf 29,2 Prozent (1978), d.h. er verdoppelte sich. Gleichzeitig sank der ausländische Anteil um 15,4 Prozent auf 70,8 Prozent. In Publikumszahlen ausgedrückt: 1978 sahen mehr als doppelt so viele Zuschauer brasilianische Filme als 1971 (ein Plus von 120 Prozent). Das einheimische Kino verfügte schließlich über rund ein Drittel des Marktes. Auch das schaffte keine andere Kinematografie des Subkontinents. Auf der Liste der 20 erfolgreichsten Filme der siebziger Jahre rangierten 4 Brasilianer: auf Platz zwei bereits Dona Flor e seus dois maridos (Dona Flor und ihre beiden Ehemänner, 1976) von Bruno Barreto mit 10,7 Millionen Zuschauern — der absolute Hit der brasilianischen Filmgeschichte. Der weiße Hai brachte es allerdings auf 12,8 Millionen. Die anderen einheimischen Produktionen erreichten zwischen 5 und 6,3 Millionen; insgesamt 20 Filme fanden mehr als 2,8 Millionen Zuschauer — Zahlen, von denen die Cinema-Novo-Leute nur träumen konnten. Unter den Erfolgreichen ist bis jetzt auch lediglich einer von ihnen: Carlos Diegues mit Xica da Silva (Die Mätresse, 1976), die bis 1981 über 3 Millionen Brasilianer sahen, und Bye bye, Brasil (1980), der bereits im Premierenjahr fast 2 Millionen Zuschauer fand und sogar in westdeutschen Programmkinos ein Erfolgt war.5
Das schmutzige Kino: udigrudi Anfang der siebziger Jahre hätte das niemand erwartet. Damals reagierten viele mit Flucht und Verzweiflung auf den institutionalisierten' Terror. Doch gerade das Gefühl der politischen Ohnmacht, des Ausgeliefertseins an die Gewaltherrschaft, die nun begann, Nationalismus zu predigen und der Nation wieder Sitte und Moral verschrieb, während sie die Wirtschaft an das internationale Kapital auslieferte, trieb viele junge Intellektuelle dazu, sich filmisch zu artikulieren. Etwa 30 Erstlingsfilme entstanden allein 1970, Beiträge ohne Chance auf einen normalen Verleih, marginale Filme, die nur unter der Hand, vielleicht in Filmclubs und Kinematheken gezeigt werden konnten. Julio Bressane proklamierte „das schmutzige Kino", denn diese Arbeiten waren fast ohne Geld, mit beschränkten technischen Mitteln und eigentlich wie am Anfang des Cinema Novo „mit einer Kamera in der Hand und einer Idee im Kopf gemacht, „imperfekt", unzulänglich, auf 16 mm, verschrammt, fleckig, unscharf, fehlbelichtet, mit enervierender Tonkulisse, mit verzerrtem Originalton oder ohne jeden Ton, mit scheppernder Musik: Lärm als Ton, mit langen, sich wiederholenden Einstellungen, ekelhaft fotografiert, anödend, einschläfernd — kurz:udigrudi, wie diese Spezies des Underground-Films bald hieß. 31
Das schmutzige Kino zerstörte bewußt alle bürgerlichen Normen und Werte, all das, was das Regime täglich als das Erstrebenswerte propagierte: die „schöne, heile Welt Brasiliens", in der die Sonne nie untergeht. Denn für die Filmemacher sah diese Wirklichkeit anders aus. Im Schatten der „heilen Welt" fanden die Menschenjagden statt: die Verfolgung der Langhaarigen, der Anders-Seienden und Anders-Denkenden, der wirklichen und der vermeintlichen politischen Gegner. Im Schatten des Zuckerhuts und der gezuckerten Propaganda wurden auf der ,Insel der Blumen' und in den Kerkern der Polizei und der Militärs Menschen zu Tode gequält, nicht nur Guerrilleros, auch Priester, Nonnen, kleine Kinder. Die dies als politisches Mittel duldete—die herrschende, die bürgerliche Klasse—sollte zerschlagen werden, wenn nicht praktisch, dann wenigstens filmisch: Macht kaputt, was euch kaputtmacht. Rogerio Sganzerla initiierte diese Richtung 1969 mit Bandido da luz vermelha und beeinflußte damit eine ganze Reihe von Filmemachern, allen voran Julio Bressane, der sich gleichzeitig an zwei Filme machte: 0 anjo nasceu und Matou afamiliaefoiao cinema (Tötete die Familie und ging ins Kino), aber auch Andrea Tonacci, Joäo Silverio Trevisan, Neville d'Almeida, Geraldo Veloso, Joäo Batista de Andrade, Ozualdo Candeias — um nur jene zu nennen, die auch später noch in Erscheinung traten. In den Filmen dieser Regisseure wurden keine Geschichten mehr erzählt, keine komplizierten Handlungsabläufe entwickelt. Hier wurde vielleicht noch eine Szene gestaltet, aber meist nur die Kamera auf ein Objekt gehalten und losgefilmt. Man setzte sich hin, redete, filmte, notierte filmisch. Film diente nicht mehr der Kommunikation, sondern der Aufzeichnung, dem Fixieren von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen. Wem und wo sollte man sich auch mitteilen? Es waren private, hermetische Filme, die lediglich jene interessierten — und meist auch nur von jenen verstanden wurden — die sie gemacht hatten. Ästhetik schien unwichtig, auch unnötig oder besser: sinnlos. Denn es ging nicht um Kunst, jedenfalls meist nicht, sondern einfach um das filmische Abreagieren der eigenen Ohnmacht, der Frustration angesichts der als ausweglos empfundenen Situation. Das schmutzige Kino erschöpfte sich bald im bloßen Schrei. Zwei Filme blieben als politische Dokumente: 0 jardim das espumas (Der Garten der Schäume, 1970) von Luiz Rosemberg Filho und Na boca da noite {Im Abgrund der Nacht, 1970) von Walter Lima jr. Beide gehören auch zum Metaphern-Kino, denn es sind Verschlüsselungen der Wirklichkeit. Der,Garten der Schäume' z.B. ist eine Insel des Glücks, eine Spielwiese für Intellektuelle. Aber in einem faschistischen System gibt es keine Freiräume: der Terror zerstört das Idyll. Rosemberg nervt mit den Sirenen der Unterdrücker, den Schreien der Opfer, den Tönen der Gewalt. Er quält mit langen qual-vollen Einstellungen. Der Zuschauer soll mit-leiden, damit er endlich mit-denkt. Es gibt keinen brasilianischen Film, der mit solcher Leidenschaftlichkeit und Verbissenheit einen sinnlichen Eindruck von der „Folterkammer Brasilien" vermittelt. Na boca da noite basiert auf einem Theaterstück, dessen konventionelle Struktur Walter 32
Lima durch Einschübe zerbrochen hat, die seine wochenlange Inhaftierung im Frühjahr 1970 reflektieren: vergitterte Fenster, Menschen hinter Zäunen, Blaulicht — Brasilien hinter Gittern. Er hat seine Erfahrung nicht in spektakuläre Bilder von Folterungen oder Verhaftungen gepackt, sondern die fremde, durchaus sozialkritische Geschichte benützt und sie mit neuen Bildelementen durchsetzt. Auf diese Weise vermittelt er mehr Anschauung von der Wirklichkeit Brasiliens als viele der esoterischen Experimente des schmutzigen Kinos.
Porno-Chanchadas Eine besonders typische Ausprägung der Militärdiktatur der siebziger Jahre sind die ,Porno-Chanchadas'. Sie sind die kommerzielle Reaktion auf das vom Regime verordnete Propagandagetöse („Gott ist Brasilianer") und die Hervorkehrung jener hehren Werte, die angeblich zu nationaler Größe und Stärke führen (Glaube, Familie, Moral). Also wurde ein Genre reaktiviert, das in den dreißiger bis fünfziger Jahren seine Blüte erlebt hatte, aber nie ganz verschwunden war: das platte Lustspiel und die musikalische Klamotte, die nun, mit erotischen Ingredienzien versetzt, zum Lust-Stück wurde und das spekulative Etikett ,Porno-Chanchadas' erhielten. Natürlich hatten sie nichts mit Pornografie zu tun, dafür sorgte schon die strikte Zensur. Pornografisch, unanständig, schamlos waren eher die sozialen Verhältnisse, die die besseren Beispiele unter ihnen schilderten, die Beziehungen, die ihre Helden pflegten, denn sie widersprachen dem offiziellen Appell von der Solidargemeinschaft aller Brasilianer. Es waren kaputte Typen, die Müßiggang demonstrierten und nichts von Arbeit und Anstrengung hielten, die sich nur für sich interessierten, um mancherlei Spiele zu treiben, unter denen das des Bäumchen-wechsle-dich das beliebteste war, wo Geld und Potenz regierten, der schiere Egoismus und die pure Sexualität. Sie waren aber nicht nur ein Reflex auf die militärischen Moralapostel, sondern entsprachen auch dem weltweiten Trend, die Schranken der Freizügigkeit zu beseitigen. Das war angesichts des offiziell gewünschten Puritanismus natürlich schwierig. Aber die meisten Spezialisten für Porno-Chanchadas dürfte sowieso nur eines interessiert haben: die Kasse, die sie sich besonders in den Jahren 1974—76 füllten, bis allmählich eine vorsichtige abertura', eine Öffnung des Systems eintrat. Einige Namen seien ihrer ökonomischen Potenz wegen genannt: Roberto Mauro, Roberto Machado, Tony Vieira, Alberto Pieralisi, Victor de Mello, Paulo Rovai, Ody Fraga.
Polit-Thriller Mit der politischen Öffnung unter General Geisel in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kam ein weiteres Genre auf: der Polit-Thriller. Ähnlich den Schriftstellern begannen auch einige Regisseure damit, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Während aber die Lite33
Helena Ignez in Julio Bressanes ,Cara a cara' (Von Angesicht zu Angesicht, 1968), Szene, die von der Zensur geschnitten wurde
Vera Fischer in ,Amor extranho amor' (1985) von Walter Hugo Khoury, seit den 60er Jahren Spezialist Jür sexuelle Obsessionen
Sonia Braga und Paulo Cesar Pere irò in Arnoldo Jabors Erfolgsfilm ,Eu te amo' (Ich liebe dich, 1981)
,Mulher objeto' (Frau als Objekt, 1984) von Silvio de Abreu, Softporno der 80er Jahre
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raten bald keine Schwierigkeiten mehr mit der Zensur hatten, über die Verfolgungen und Folterungen, das Klima der Unterdrückung, über politische Morde und selbst über die Guerrilla schreiben konnten, da die Verbreitung ihrer Bücher auf den kleinen Zirkel der Interessierten beschränkt blieb, mußten die Filmemacher auf Nebenschauplätze ausweichen, um nicht die Gefahr eines Verbots zu riskieren. Also beschäftigten sich Reginaldo Farias in Barra pesada (1977) und der argentinische Emigrant Héctor Babenco in Lucio Flavio, o passageiro da agonía (1977) mit den Todesschwadronen, die seit den sechziger Jahren die Bevölkerung terrorisieren, Menschen massakrieren und sowohl Linke wie auch Kriminelle morden, eine illegale „Selbsthilfeorganisation der Polizei", wie manche meinen. Ihre Grausamkeiten konnten blutig ausgemalt werden, denn mit ihnen wollten selbst die Militärs offiziell nichts zu tun haben. Tatsächlich waren sie nur eine Metapher für die Methoden des Regimes, die sich von denen der Todesschwadronen kaum unterschieden. Joäo Batista de Andrade verkleidete in Doramundo (1978) den Schrecken der Gegenwart in historische Bilder von Gewalt und anonymer Bedrohung aus den dreißiger Jahren der Vargas-Diktatur. Und Babenco machte in Pixote — a lei do maisfraco (1980) eine staatliche Erziehungsanstalt für verwahrloste Jugendliche zum Spiegelbild allgemeiner politischer Verhältnisse, auf die nur noch mit blinder Emotion, mit Brutalität reagiert werden kann. Die Zensur blieb auch gegenüber dem Übermaß der Gewaltdarstellung gelassen, denn das Regime sah sich nirgends direkt getroffen. Das änderte sich, als Roberto Farias (Unterhaltungsfilm-Regisseur und erfolgreicher Präsident der Embrafilme) Pra frente, Brasil (1982) vorlegte. Er schilderte hier das fiktive Schicksal eines einfachen Bürgers, der 1970 infolge einer Verwechslung unter dem Verdacht der Subversion verhaftet und grausam gefoltert wird. Obwohl Farias nur eine Studie über „die Angst, in einer Diktatur zu leben" machen wollte, fühlten sich die Militär^ „verleumdet, beleidigt, diffamiert" und sperrten ihn monatelang für jegliche Vorführung — das erste Verbot aus politischen Motiven seit Jahren.
Aufarbeitung der Geschichte Die Beschäftigung mit der Geschichte wird in den siebziger Jahren zu einem zentralen Thema. Nelson Pereira dos Santos hat sie 1971 mit Como era gostoso o meu francés (Wie war er so schmackhaft, mein kleiner Franzose) eingeleitet. Geschichte als Ausweg, um der Zensur zu entgehen. Als sorgfältige Rekonstruktion des Lebens der Indianer im Moment der Kolonisierung im 16. Jahrhundert. Und als ironische Umkehrung offizieller Geschichtsschreibung: Wer sind die Barbaren — die Kolonisatoren, die mit ihren „heiligen Werten" die Indianer massakrieren, oder die Indianer, zu deren Kultur es gehört, die Gegner aufzufressen? So beispielhaft wie dieser sind Pereira dos Santos auch seine beiden anderen historischen Filme gelungen. In Tenda dos milagros (Basar der Wunder, 1977) verbindet er höchst 35
Tenda dos
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milagros
geschickt Geschichte und Gegenwart: das Bahia der Jahrhundertwende und die allmähliche Kristallisierung der brasilianischen Kultur mit ihren Deformationen durch die Kulturindustrie von heute. Die Arbeit ist auch eine gelungene Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jorge Amado. Jahre später greift er erneut auf eine berühmte literarische Vorlage zurück, auf die, Erinnerungen an das Gefängnis', Memörias do carcere (1984), von Graciliano Ramos. Das Werk ist nicht nur die kongeniale Darstellung eines zentralen Stücks der Lebensgeschichte von einem der bedeutendsten Schriftsteller Brasiliens, seines politischen Denkens und einflußreichen Schaffens. Es ist auch eine exemplarische Parabel auf die gerade vergangene Diktatur, denn Ramos litt in den dreißiger Jahren unter ganz ähnlichen Verfolgungen militärischer Terrorpolitik. Diese Filme sind Marksteine in der recht wechselvollen Karriere des ,Stammvaters' des neuen Kinos. Und es sind historische Gegenwelten, Antworten auf den Versuch der Militärs, die Geschichte in ihrem Sinn umzuschreiben. Independencia ou morte (1972) von Carlos Coimbra, Unabhängigkeit oder Tod' hieß im Jahr der 150. Wiederkehr der Autonomie das Paradestück, das an den Patriotismus appellierte und von rund drei Millionen Zuschauern gesehen wurde. Ihm folgten weitere ähnlich gestrickte Visionen offizieller Geschichtsschreibung. Joaquim Pedro de Andrade gelang es im selben Jahr mit Os inconfidentes, das verzerrte Bild zurechtzurücken und die humanistischen Ideen des Freiheitskämpfers Tiradentes darzustellen und sie zu einem politischen Projekt der brasilianischen Linken zu vergegenwärtigen. Ein anderer Großer der Cinema-Novo-Zeit, Carlos Diegues, verfolgte mit Xica da Silva (Die Mätresse, 1976) eine alte Idee: „Wir müssen jetzt politische und populäre Filme hervorbringen, Filme mit Sinn für Humor, voller Hoffnung und fähig, die ursprüngliche Kultur des Volkes und seine politische Absicht darzustellen". Was er erreichte, ist ein kunstvolles Spektakel über eine Mythengestalt des 18. Jahrhunderts, eine Negersklavin mit magischen und erotischen Kräften. Diegues wollte jedoch nicht nur ein verdrängtes Kapitel der Geschichte sorgfaltig rekonstruieren, sondern auf die ursprüngliche Vitalität des Volkes verweisen, die es nun für den Emanzipationsprozeß zu mobilisieren galt. Der Film wurde zu einem überragenden Publikumserfolg. Nach einem wenig aufwendigen, aber außerordentlich eindringlichen Beitrag über das Kleinbürgermilieu (Chuvas de veräo, 1977) ließ Diegues Bye, bye, Brasil(1980) folgen, ein Road-Movie über die Kulturindustrie, das den Einfluß der US-amerikanischen Massenkultur am Beispiel eines schäbigen Zirkusunternehmens vorführt — eine Parabel auf das heutige Brasilien, voll polemischer Anspielungen und satirischer Seitenhiebe. 1984 griff Carlos Diegues in Quilombo wieder auf die Geschichte zurück und zwar auf das Thema seines ersten Spielfilms Ganga Zumbavon 1963: den Freiheitskampf der Sklaven im 17. Jahrhundert. Zwanzig Jahre persönliche Erfahrung und Entwicklung des brasilianischen Kinos liegen zwischen beiden Werken. Dem einen sieht man die Spuren des Lernprozesses 37
an, der andere ist geprägt von der vollkommenen Beherrschung des Handwerks. Der frühe Diegues interessiert sich nicht so sehr für das Historische, auch sind seine finanziellen Mittel bescheiden, er benützt die Geschichte, um die Gegenwart zu erklären. Den späten Diegues scheint nur das Geschichtliche zu interessieren, seine vollkommene Rekonstruktion, denn nun verfügt er über die filmischen wie die ökonomischen Mittel. Er versinkt sozusagen im historischen Spektakel. Zu den herausragenden Historienfilmen der siebziger Jahre zählt auch Coronel Delmiro Gouveia (1977) von Geraldo Sarno. Er hatte bis dahin zahlreiche Dokumentarfilme über den Nordosten gedreht und zusammen mit Sergio Múniz und Thomaz Farkas die Misere und die kulturelle Tradition des Sertäo festgehalten: Viramundo (1964), Viva Cariri (1970), Casa grandey senzala (1974) u.a. Sein Spielfilm ist die konsequente Fortsetzung dieser Arbeit auf der Ebene der widerstrebenden Wirtschaftsinteressen im Nordosten. An einem verbürgten Fall zeigt er, wie industrieller Fortschritt durch lokale politische Intrige und ausländischen Einfluß (den des englischen Imperialismus um die Jahrhundertwende) zunichte gemacht wird. Ein weiteres Thema geschichtlicher Darstellung ist die vielfältige Einwanderung. Der deutsch-stämmige Silvio Back z.B. forschte im Süden Brasiliens, dem Siedlungsgebiet deutscher Einwanderer, nach faschistischen Überbleibens. In Aleluia, Gretchen (1976) beschreibt er eine deutsche Emigrantenfamilie, ihre Eingewöhnungsschwierigkeiten Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre, und wie sich ein Teil von ihnen zu einer Art fünfter Kolonne entwickelt und Terror verbreitet. Ihre Spuren lassen sich bis in die Gegenwart verfolgen. Ein wichtiger Film, dessen Bedeutung allerdings unter der klischeehaften Darstellung des Nazismus leidet. In den achtziger Jahren hat sich Silvio Back vom Spielfilm zurückgezogen und eine Reihe außerordentlich sorgfältiger Dokumentarfilme der Rekonstruktion brasilianischer Geschichte wie República Guaraní (1981) oder Guerra do Brasil (1987) gemacht. Jorge Bodanzky und Wolf Gauer gingen ebenfalls in den Süden, wohin 1825 analphabetische Kleinbauern aus dem Hunsrück geflohen waren, um den Folgen der Restauration in Deutschland zu entgehen. Os Mucker {Jakobine, 1978), der Kampf der Mucker um Freiheit und Gerechtigkeit, die sie sehr eigenwillig auslegten, ist eine etwas hermetische Parabel über Fanatismus und Gewalt. Tizuka Yamasaki hat sich in Gaijin, caminhos da liberdade (Gaijin, Straße der Freiheit, 1979) der japanischen Einwanderer angenommen, die um die Jahrhundertwende nach Brasilien kamen und zunächst wie Sklaven auf den Plantagen behandelt wurden, bevor sie sich organisierten. Den Prozeß ihrer Bewußtwerdung schildert sie in ihrem sorgfältig gemachten Erstling. Ihr folgender Film Parahyba mulher macho (1983) über eine emanzipierte Frau der dreißiger Jahre gerät ihr allerdings sehr spekulativ.
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Sorge um die Indianer Nelson Pereira dos Santos hat mit Como era gostoso o meufrances 1971 nicht nur dem historischen Film Auftrieb gegeben, sondern auch an die Indianer erinnert, die am meisten verachtete, unterdrückte, verelendete und vom Aussterben bedrohte Minderheit Brasiliens. Mit der zunehmenden Erschließung des Amazonas-Gebietes rückte ihr Schicksal allmählich wieder ins Bewußtsein. Gustavo Dahl hat in Uirä — um indio em busca de deus{Uirä, der Indianer; 1973) den Konflikt des Zusammentreffens der indianischen Kultur und der sogenannten Zivilisation mit sparsamen, differenzierten Mitteln beschrieben. Seine Perspektive ist pessimistisch: es gibt kein Überleben. Diese Haltung teilt Zelito Viana, während der sechziger Jahre Produzent der RochaFilme, in seinem langen Dokumentarfilm Terra dos indios (Land der Indios, 1979) nicht. Er läßt sie selbst zu Wort kommen, schildert ihre Lebensverhältnisse, die Verfolgung durch kaltblütige Geschäftemacher, die Ausbeutung ihres Landes durch die Regierung, ihren Widerstand gegen die kulturelle Unterdrückung und ihren Willen, sich zu behaupten und in einer veränderten Welt zu assimilieren. Kein anderer brasilianischer Film hat die Thematik so komplex und authentisch behandelt. 1985 greift er das Thema noch einmal mit den Mitteln des Spielfilms in A vaete — a semente da vinganga auf, erreicht aber nicht die gleiche Überzeugungskraft. Vor diesem Problem stehen auch andere wie Oswaldo Caldeira mit Ajuricaba (1977) oder Fabio Barreto mit India, afilha do soI (1982). Die Authentizität der indianischen Kultur tritt in einen unlösbaren Konflikt mit der fiktiven Aktion. Ein Randthema dieser Problematik behandeln Jorge Bodanzky und Orlando Senna in Iracema (1974), einem eindrucksvollen semidokumentarischen Spielfilm, in dem sie den Abstieg eines brasilianischen Mädchens zur Prostituierten nachzeichneten, das hier stellvertretend für die Masse der Rechtlosen steht, denen der Wirtschaftsboom und die rücksichtslose Erschließung des Amazonas-Beckens neues Leid und Elend gebracht haben.
Auseinandersetzung mit dem Arbeiter Nur wenige Filmemacher bemühten sich in den siebziger Jahren um eine offene Sprache, verließen den selbst gewählten, aber auch durch die Zensur bedingten Zirkel des Metaphern-Kinos. Einer der ersten war Ruy Guerra, der 1977 endlich nach Jahren ungewollter filmischer Untätigkeit zusammen mit Nelson Xavier einen neuen Beitrag fertigstellen konnte: A queda (Der Sturz). Er ist die Fortsetzung von Os fuzis (1963): die Soldaten, die damals den rebellierenden Lastwagenfahrer erschossen, leben nun als Bauarbeiter in der Stadt. Einer stürzt zu Tode, weil die Sicherheitsvorschriften von der Firma nicht eingehalten 39
wurden. Der andere will den Fall aufklären und gerät in ein System der Vertuschung und Korruption in der Bauindustrie, dem er nur mit Mühe widersteht. Ein weitgehend improvisierter, experimenteller, fast dokumentarischer Spielfilm, keiner der perfekten, aber einer der aufregenden. Noch eindeutiger war die Sprache in den Dokumentarfilmen über die Metallarbeiterstreiks 1979 in Säo Paulo, die Joäo Batista de Andrade und Renato Tapajós machten, zwei Regisseure, die sich bereits jahrelang mit der sozialen Situation der marginalisierten Bevölkerung beschäftigt hatten: Tapajós zum erstenmal 1968 in Vila da barca, dann wieder ab 1976 in Fin de semana und Acídente de trabalho — dazwischen war er fünf Jahre wegen Widerstand gegen die Diktatur inhaftiert; Batista bereits 1967 in Libertade de impresa, einem Appell für die Pressefreiheit, bis er sich nach seinem Umweg über das ,schmutzige Kino' 1973 der sozialen Reportage zuwandte. Die Gewerkschaften riefen die beiden, um die größte Streikbewegung in Säo Paulo und im Industriegebiet von Säo Bernardo festzuhalten. Batista drehte zunächst Grevel, mit dem er die Manifestationen der Metallarbeiter im März 1979 dokumentierte, kurz darauf Trabaihadores: Presente!, ein ebenfalls halbstündiger Dokumentarfilm über die offiziellen, von den Arbeitern boykottierten 1. Mai-Feiern. Tapajós machte A greve de margo, mit dem er „eine größere Bindung zwischen der Gewerkschaftsleitung und der Basis erreichen" wollte und den er während der wochenlangen Verhandlungen zwischen Unternehmern und Arbeitern bis zu viermal täglich bei den Arbeiterversammlungen zeigte, „um die Stimmung zu unterstützen". Analytischer gingen Sergio Toledo und Roberto Gervitz in ihrem langen Dokumentarfilm Bragos cruzados, maquinas paradas {Verschränkte Arme, stillstehende Maschinen; 1979) vor. Die beiden jungen Filmemacher zeigten nun die Zusammenhänge der Streikaktionen, die Hintergründe und besonders eindringlich die Praktiken der Abwiegelung und Beschwichtigung durch die offiziellen Gewerkschaften, auf deren faschistische Wurzeln in der Vergangenheit sie ebenfalls hinwiesen. Ihre Sympathie galt den solidarischen Aktionen der Arbeiter und ihrem Kampf um eine neue Gewerkschaftsführung aus den Reihen der Opposition. Die Gewerkschaften der Metallarbeiter unterstützten auch andere Projekte, um sie innerhalb der Bildungsarbeit einzusetzen: Sobre a origem das riquezas (1979), ein kurzer didaktischer Film des Deutsch-Brasilianers Peter Overbeck über die Geschichte des Reichtums; O pó nosso de cada dia (1980) von Herval Pina Ribeiro über das Problem der Silikose in der Keramik-Industrie; Primeiro Conclat (1981) von Adrian Cooper über den ersten ,Kongreß der Arbeiterklassen'; Tribunal Bertha Lutz (1982) von Joäo Batista de Andrade über ein Tribunal gegen die Diskriminierung der Frauenarbeit; sowie die Filme von Renato Tapajós Trabalhadoras metalúrgicas über den ersten Kongreß der Metallarbeiterinnen, A luta do povo über die Ermordung des Arbeiters Santo Dias da Silva und Teatro Operário über die Arbeit einer Theatergruppe der Metallarbeiter. Zwei einstündige Dokumentarfilme setzten diese schmale Tradition des brasilianischen Arbeiterfilms fort: Linha de montagem (Montageband, 1982) mit dem Renato Tapajós den 41
Fortgang des Arbeitskampfs nach 1979 darstellt und besonders die Bedeutung des Arbeiterführers Lula unterstreicht, und Santos e Jesus Metalúrgicos (1983) von Claudio Kahns, in dem der Filmemacher die Morde an zwei Arbeitern rekapituliert, die Opfer von Arbeitskämpfen wurden, und die Rolle der katholischen Kirche bei der Aufklärung untersucht. Beide Beiträge sind wichtige Dokumente, erreichen aber nicht die formale Geschlossenheit von Bragos cruzados, maquinas paradas. Noch ein Kurzfilm sei erwähnt, der aus diesem Kontext des Gewerkschaftskinos fällt und doch einer der besten lateinamerikanischen Arbeiterfilme ist: Chapeleiros (1983) von Adrian Cooper. Er beschreibt mit eindringlichen Bildern unter Verzicht aufjeglichen Kommentar die Arbeitssituation in einer Hutfabrik: das schwere Handwerk, die unerträgliche Hitze, der enervierende Lärm, der mangelnde Schutz. Arbeitsbedingungen wie am Beginn des Industriezeitalters und doch ein Arbeitsplatz in einem Land der Massenarbeitslosigkeit. In diesen Zusammenhang der politisch offensiven Arbeiten gehören auch zwei weitere Spielfilme. In O hörnern que virou suco (Der ausgequetschte Mensch, 1980) versucht Joäo Batista de Andrade seine Erfahrungen als Dokumentarist und Spielfilm-Regisseur zu verschmelzen. Die Geschichte ist ungewöhnlich. Ein Mann aus dem Nordosten kommt wie so viele nach Säo Paulo, weil er glaubt, hier besser leben zu können. Er bietet Gedichte feil: ,literatura de cordel', auf selbst gedruckten Blättern, die mit einer Schnur festgehalten werden. Er verkauft sich und seine Identität und gerät dabei in das Räderwerk einer Mordgeschichte, denn er wird mit einem anderen Nordestino verwechselt, der gerade seinen Boß umgebracht hat, wird verfolgt und steigt nun die soziale Stufenleiter hinunter, ist eine Zeitlang Gelegenheitsarbeiter ohne Papiere und wird schließlich selbst straffällig, noch immer auf der Suche nach dem Kollegen, der ihm gleicht. So bitter die Stationen seines Schicksals sind und so realistisch sie Batista de Andrade festgehalten hat, so wenig gleicht die Figur den fatalistischen Elendsgestalten vieler Dokumentär- und Spielfilme. Dieser Dichter aus dem Volk läßt sich nämlich nicht unterkriegen, sondern wehrt sich mit Ironie und Aggressivität, den Bestandteilen der Volkspoesie. Seine Suche nach der Identität führt vom anarchischen Kampf zum Bewußtsein, bleibt aber individualistisch — eine weit verbreitete Schwäche in der brasilianischen Arbeiterklasse. Ein böser und optimistischer Film, in dem nicht jeder Einfall aufgeht, der aber zu den innovativen Versuchen zählt, von denen es nicht viele gibt. Leon Hirszman, einer der begabtesten Regisseure des Cinema Novo, der nur wenige, aber stets außerordentliche Filme gemacht hat, bleibt in Eies näo usam black-tie (Sie tragen keinen Frack, 1981) dichter an den Ereignissen der paulistaner Arbeitskämpfe, die er zunächst in einem langen, unvollendeten Dokumentarfilm ABC da greve (Streik-ABC) festhielt. Gleichzeitig hatte er die Idee, das berühmte Theaterstück von Gianfrancesco Guarnieri aus dem Jahr 1958, das die Militärs von 1964 bis 1976 verboten hatten, filmisch zu adaptieren und die Geschichte einer Arbeiterfamilie auf den Streik von 1979 zu beziehen. Dabei hat er den Holzschnitt-Charakter der Figuren des Stückes vermenschlicht und die Widersprüchlichkeit der veränderten Situation berücksichtigt. Der Vater ist kein dogmatischer Kämpfer 42
mehr, sondern zu Einsichten fähig und bringt schließlich sogar dem Sohn Verständnis entgegen, der zum Streikbrecher wurde. Die Tochter ist keine romantische Träumerin mehr, sondern eine emanzipierte Frau der achtziger Jahre. So ist ein intensives Bild dieser Familie, ihrer inneren Widersprüche, des unterschiedlichen Bewußtseins, ihrer Konventionen und ihrer verschiedenartigen Reaktionen auf den Streik entstanden. Nur wenige brasilianische Filme haben sich bisher mit den Lebensverhältnissen der Arbeiter auseinandergesetzt und keiner so differenziert wie dieser. Streng genommen ist er sogar der erste brasilianische Arbeiter-Spielfilm, der zudem ein Gegenbild zu O hörnern que virou suco entwirft. Am Schluß steht nicht der bewußt gewordene Einzelkämpfer, sondern der kollektive Kampf, freilich einer, der in geordneten Bahnen zu verlaufen hat: ein Streikfilm gegen den wilden Streik. In diesem Kapitel sind alle Filme genannt, die die schmale Tradition des Arbeiter-Kinos in Brasilien umfassen. Seine Existenz ist wichtig, gerade dort, wo die Arbeiterbewegung noch am Anfang ihres Kampfes steht und wo es das einzige Arbeiter-Kino in Lateinamerika gibt, das eine gewisse Breite und eine Basis besitzt.
Glauber Rocha Das brasilianische Kino der siebziger Jahre war kein neues Kino mehr, keines, das sich in neuen Formen auszudrücken suchte. Es war über weite Strecken ein etabliertes Kino geworden, das sich in der Erfindung neuer Metaphern erschöpfte, um das alte Engagement bewahren zu können — bis auf allzu wenige Ausnahmen ein glattes Erzählkino der schönen Botschaften in kulturvollen Bildern. Einer, der sich diesem Trend widersetzte, wie er sich immer gegen Konventionen gesträubt hat, war Glauber Rocha, die Stimme des neuen Kinos. Er hatte Brasilien 1971 verlassen, nachdem er in Afrika Der leone have sept cabegas {Der Löwe mit den sieben Köpfen, 1970) und in Spanien Cabezas cortadas (Abgeschnittene Köpfe, 1970) vollendet hatte. Er wählte das Exil aus Protest gegen den Terror der Militärs. Er hoffte, von Europa aus diese Politik der Repression mit seinen Filmen denunzieren zu können. Aber der eben noch auf europäischen Festivals Gefeierte fand keine Produzenten. Schließlich drehte er Historia do Brasil (1973), seine Geschichte Brasiliens, ein langer Dokumentarfilm voller Zitate aus seinen früheren Meisterwerken, ein erstes Zeichen ideologischer Verwirrung. Mithilfe des italienischen Fernsehens konnte er Claro (1975) machen, einen Experimentalfilm, der gründlich mit traditionellen Erzählweisen aufräumte. Beide Arbeiten stießen auf allgemeines Unverständnis. Das Exil wurde zur Dauerdepression, zum Trauma der Erfolglosigkeit umso mehr, als etwa gleichzeitig ein neuer Boom des brasilianischen Kinos unter einem neuen liberalen 43
Militärregime begann. 1976 fand er eine Möglichkeit der Rückkehr. Er, der sein Land weniger aus Not denn aus Protest verlassen hatte, sah in den regierenden Generälen plötzlich eine Hoffnung für Brasilien, sah in ihnen „die Vertreter des Volkes"—wie er zum Entsetzen seiner Freunde schrieb. Das Regime empfing ihn trotzdem nicht mit offenen Armen und winkte nicht mit großen Krediten: man ahnte wohl, daß da ein Unberechenbarer kam. Er durfte sich zunächst an einem Kurzfilm bewähren: Di Cavalcanti (1977), weniger ein Porträt des toten Maler Emiliano di Cavalcanti als eine filmische Eruption Rochas, ein existentieller Schrei. Dann ging er an die Realisierung eines alten Plans A idade da terra (Das Alter der Erde, 1980). Er verfolgte dabei auf die assoziativ-monomanische Weise, die er im Exil entwickelt hatte, die Geschichte Brasiliens vom Urschrei an, ihre Ideologien, ihre Mythen, ihre Obsessionen. Er zertrümmerte alles Vorhandene auf seiner Suche nach neuer Verwirklichung, vielleicht war sogar diese verzweifelte Suche das einzige, was für ihn Bestand hatte. So chaotisch und ideologisch wirr dieser Strom von Bildern auch ist, so unverständlich beim ersten Hinsehen, so sehr prägen sich manche Einstellungen ins Gedächtnis ein. Stellt man dieses Werk in den Kontext der übrigen Produktion, in den Wust der Normalität, des gebildeten Kunstgewerbes, dann wirkt es wie ein Fels in der Brandung des Üblichen — eine einsame Alternative zu allem, was herrscht, exzentrisch, radikal, besessen. Ein letzter Film und nun sein Vermächtnis. Am 22. August 1981 starb Glauber Rocha in einem Krankenhaus von Rio de Janeiro an Lungenkrebs im Alter von 42 Jahren. Ein extremer Denker, gefährdet wie alle Genies, ein Einzelkämpfer wie Paulo, der politisierende Dichter in seinem Meisterwerk Terra em transe, ein Revolutionär, der das System des Gleichmaßes aufbrechen wollte, an dem er letztlich scheiterte.
Die achtziger Jahre Der Tod Glauber Rochas bedeutet einen Verlust, dessen Konsequenzen noch nicht zu übersehen sind. Er war so etwas wie das Gewissen der brasilianischen Kinematografie und hat schon früh auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, vor denen die Filmemacher zunehmend stehen. Denn die eindrucksvollen Zahlen vom Erfolg haben auch eine Kehrseite. So werden z.B. nicht nur viele Filme produziert, sondern es warten auch viele auf ihre Verbreitung. Die Embrafilme zählt zwar zu den umsatzstärksten Verleihern Anfang der achtziger Jahre und verfügt über eine beträchtliche Kette von 16 mm-Kinos, besitzt aber selbst nur sehr wenige der großen Filmtheater. Und für manchen Erstauffuhrer ist es noch immer lukrativer, den neuesten US-amerikanischen Hit herauszubringen und dafür einen brasilianischen Film mit weniger Zuschauern aus dem Spielplan zu streichen, selbst wenn 44
er eine Konventionalstrafe bezahlen muß. Außerdem ist die Zahl der Abspielstätten für 35 mm seit 1975 dramatisch zurückgegangen und zwar von 3 276 auf1387 Kinos 1986, wovon sich etwa 30 Prozent in den beiden Zentren Rio und Säo Paulo befinden. Sie spielen dort ca. 65 Prozent des Umsatzes ein. Das heißt: Brasilien mit einer doppelt so großen Bevölkerung wie die Bundesrepublik hat nicht einmal halb so viele Kinos, und abseits der großen Ballungszentren schwindet die Zahl weiter, in weiten Landstrichen gibt es überhaupt keine stationären Kinos. Innerhalb von einem Jahrzehnt nahm die Zahl der Kinos auf 42 Prozent, die Zahl der Zuschauer von 1978 bis 1984 auf 43 Prozent ab. Im selben Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der Fernsehapparate beinahe, und das potentielle Publikum verdreifachte sich in etwa. Das ist der Hauptgrund für den enormen Schwund an Filmtheatern und Kinozuschauern. Hinzu kommt die Wirtschaftskrise und vor allem die Ausbreitung des Video, das 1987 ca. 4 Millionen Apparate umfaßte. Das Fernsehen war für das brasilianische Kino keine zusätzliche Verbreitungsmöglichkeit. Die Carioca haben ausgerechnet, daß die fünf Fernsehstationen Rios zwischen 1973 und 1981 nur insgesamt 376 einheimische Filme, das sind 2,62 Prozent des gesamten Filmangebots, ausgestrahlt haben. Hieran zeigt sich, daß man den Vertrieb des nationalen Produkts Film nicht dem „freien Spiel der Marktkräfte" überlassen kann, sondern daß es einer protektonistischen Politik bedarf, um das einheimische Kino durchzusetzen und ihm eine reelle Marktchance zu schaffen. Der Anteil des brasilianischen Films am Gesamtumsatz, der eigentlich seiner per Gesetz garantierten Marktlücke entsprechen müßte und sich 1984 noch auf 30 Prozent belief, ist seither rückläufig und sank 1986 auf 19 Prozent. 6 Zum weiteren Krisenelement entwickelte sich die Pornoproduktion. Seit die Zensur 1981 so weit liberalisiert wurde, daß in jedem Filmtheater Hard-core-Produkte gezeigt werden können, haben sich die brasilianischen Hersteller darauf spezialisiert, vor allem die in Säo Paulo, wohin sich die Produktion in den achtziger Jahren immer mehr verlagerte (zwischen 1980 und 1984 wurden dort 283 und in Rio nur noch 140 Filme hergestellt).7 Der Porno-Boom erreichte ein derartiges Ausmaß, daß 1985 die Spielfilm-Produktion etwa zur Hälfte aus Pornos bestand und unter den 20 umsatz-stärksten Titeln 15 Hard-core-Stücke waren.8 Danach sank ihr Anteil allerdings beträchtlich: die Pornoproduzenten konzentrierten sich mehr auf das Video-Geschäft. Brasilien ist jedenfalls mit Abstand der größte Pornoanbieter Lateinamerikas. Auch Embrafilme blieb von der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht verschont. Nachdem die erfolgreiche Institution sich allmählich zu einer Art Monopol entwickelt hatte, ohne dessen Zuschüsse praktisch kein ernsthafter Film mehr gedreht oder vertrieben werden konnte, und schließlich auch noch kulturelle Funktionen (Publikationen, Restauration von altem Filmmaterial, Cinemateca Brasileira etc.) übernehmen mußte, sich also allzu viel Macht hier konzentrierte und die Kritik daran wuchs, machte sich die Regierung 1986 an eine neue Konzeption: an die Aufteilung in einen wirtschaftlich ausgerichteten Sektor und in einen kulturell orientierten Bereich. 45
Das führt 1987 zu einer katastrophalen Produktionslähmung. Bevor die Neustrukturierung nicht durchgeführt ist, will die Regierung ihren finanziellen Anteil nicht leisten. In der zweiten Hälfte des Jahres wird Embrafilme nur noch bürokratisch am Leben erhalten. Gleichzeitig wird in Rio de Janeiro ein illustres Projekt auf den Weg gebracht: ein FilmPol auf einer Fläche von nicht weniger als 400 000 m 2 , der Kosten von etwa 30 Millionen Dollar verursachen wird — ein Zentrum für Film- und Videoproduktion mit neuester Technologie sowie einem botanischen und zoologischen Garten, Supermarkt und Kulturzentrum, kurz: Hollywood in Brasilien. Ob dieses gigantomanische Unternehmen die Zukunft des brasilianischen Films sichern kann, wird die Zukunft zeigen. Eines wird es mit Gewißheit verstärken: die fatale Tendenz zu einer internationalisierten Ästhetik, die sich in den siebziger Jahren als Folge der staatlichen Förderung (,Gremien-Kino') und im Sog des Erfolgs herausgeprägt hat. Eine Entwicklung, die sich in ganz Lateinamerika feststellen läßt und zum Teil auch vom brasilianischen Vorbild beeinflußt ist.9 Mit dem Ende des Cinema Novo und dem Verschwinden des ,udigrudi' hat in Brasilien auch die Suche nach neuen Ausdrucksformen aufgehört—zumindest als Selbstverständnis der meisten Filmemacher. Die Innovation wurde durch die Perfektion ersetzt, und sicher sind die Filme der späten siebziger und der achtziger Jahre technisch vollkommener gestaltet als die besten der Cinema-Novo-Zeit. Aber was nützt der hohe Standard des schön geformten Bildes, wenn die Bilder sich allmählich zu gleichen beginnen, ihre Originalität verlieren und Uniformität ausstrahlen, ästhetische Anpassung an eine internationale Verständlichkeit, dort wo Authentizität gefragt ist. Es fehlt der Mut, aus dem filmischen Gleichmaß auszubrechen und die tradierte Ästhetik in Frage zu stellen wie z.B. Glauber Rocha in seinem bizarr-radikalen Idade da terra. Es reicht nicht, den alten Rebellen als Briefmarke zu verewigen und sein Erbe als Museum zu konservieren. Es muß in den Köpfen präsent bleiben — und auch in den Seelen. Etwas von seinem fruchtbaren Wahnsinn, von seiner Radikalität des Denkens und Handelns ist gefragt.
Tendenzen Mit der beginnenden Demokratisierung setzte noch einmal eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein. Silvio Tendier hat sich in zwei bemerkenswerten Kompilationsfilmen auf die Suche nach ihren Spuren in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, also in die Zeit vor dem Putsch von 1964, begeben: Os anos JK (1980), in dem er „die Jahre von Juscelino Kubitschek", dem Erbauer von Brasilia, kritisch unter die Lupe nimmt, und Jango (1984), wie der Spitzname von Joäo Goulart hieß, des letzten demokratisch gewählten Präsidenten, bevor die Militärs die Macht an sich rissen. Memörias do miedo 46
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