111 42 6MB
German Pages [384] Year 2008
Matthias Franz / Jçrg Frommer (Hg.)
Medizin und Beziehung Unter Mitarbeit von Sabine Frommer und Dirk Rampoldt Mit einem Geleitwort von Johannes Kruse
Mit 26 Abbildungen und 14 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40149-1
2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: www.composingandprint.de Druck & Bindung: l Hubert & Co, Gçttingen
Wolfgang Tress zum 60. Geburtstag gewidmet
Inhalt
Johannes Kruse Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Jçrg Frommer und Matthias Franz Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Teil 1 Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen Jçrg Frommer Vom eisernen zum glsernen Gehuse – Risiken persçnlicher Identittsentwicklung im Zeitalter der Globalisierung . . . . . . . . . .
29
Rudolf Heinz Objektivierung und Todestrieb – Vorbereitender Schrgblick auf Dauerverfehlungen (auch) im Medizinwesen . . . . . . . . . . . . . . .
56
Andr Karger Ethik und Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
Matthias Franz Affekt ohne Bedeutung – Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der Alexithymie . . . . . . . . . . . .
84
Teil 2 Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge Heinz Schepank Das Mannheimer Kohortenprojekt – Der Beginn psychosomatischer Epidemiologie in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
8
Inhalt
Matthias Franz Vaterlosigkeit damals und heute – Vom Kriegskindschicksal zum Elterntraining fr Alleinerziehende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Elmar Brhler Die Geschlechts- und Altersabhngigkeit von Kçrperbeschwerden in Deutschland im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Johannes Siegrist Gratifikationskrisen – Sozial vermittelte Beziehungsstçrungen und ihre Folgen fr die Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Norbert Schmitz Depression und somatische chronische Erkrankungen – Eine epidemiologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Teil 3 Klinisch-biographische Beitrge Michael Langenbach Biographie, Beziehung und Identitt bei Patienten nach Transplantationseingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Johannes Kruse Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie – Von der Compliance zum Empowerment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Wolfgang Wçller Zentrales Beziehungsmuster und selbstschdigende Formen des Krankheitsverhaltens bei Patienten mit Asthma bronchiale . . . . . . . 226 Sybille Kiesewetter, Andrea Kçpsel, Werner Kçpp, Hans-Christian Deter Zum Bindungsverhalten von Adipçsen in einem einjhrigen Gewichtsreduktionsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Inhalt
9
Teil 4 Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge Bernd Nitzschke Beziehung in der Psychoanalyse – Erkundungen in unbersichtlichem Gelnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Mathias Hirsch Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 285 Claudia Sies Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . 300 Paul L. Janssen Stationre psychodynamische Psychotherapie als Beziehungsfeld . . . 315 Norbert Hartkamp Vom Introjekt zum Diagramm – Geht das (mit SASB, Intrex, CMP)? . . 327 Peter Joraschky und Katja Petrowski Die therapeutische Beziehung und die Bindungsorganisation des Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Teil 5 Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung Klaus Lieberz Perspektiven der Psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . 373
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
Johannes Kruse Zum Geleit
Die Medizin entdeckt die zwischenmenschlichen Beziehungen neu – in ihrer Bedeutung fr die Entstehung, die Aufrechterhaltung und die Behandlung von Menschen mit chronischen kçrperlichen und psychischen Erkrankungen. Whrend in den vergangenen Jahrzehnten die beziehungsorientierten psychosomatischen Anstze eher programmatischer Natur waren, gewinnen zunehmend empirische Befunde berzeugungskraft. Die Bedeutung von frhkindlichen Bindungs- und Beziehungserfahrungen fr die Entstehung und den Verlauf von psychischen und kçrperlichen Erkrankungen ist in den letzten Jahren in zahlreichen empirischen Arbeiten besttigt worden. Traumatisierende frhkindliche Beziehungserfahrungen stehen vielfach am Anfang eines Lebens, dessen Verlauf durch Depression, Persçnlichkeitsstçrungen oder somatoforme Schmerzstçrung bestimmt wird. Auch aktuelle Beziehungserfahrungen prgen die Gesundheit. Viele Erkrankungen entstehen vor dem Hintergrund des Verlustes einer engen Beziehung sei es durch Trennungen, Scheidung oder Tod. Fehlende soziale Untersttzung verschlechtert die Prognose sowohl seelischer Stçrungen als auch zahlreicher kçrperlicher Erkrankungen. Die Krankheit verweist somit geradezu darauf, dass der Mensch sein eigenes Verhalten und seine Physiologie nicht ohne die Untersttzung anderer Menschen regulieren kann. Beziehungserfahrungen beeinflussen aber nicht nur die Entstehung der Erkrankungen. Jede medizinische Behandlung erfolgt im Rahmen einer ArztPatient-Interaktion. Die Qualitt dieser Beziehung prgt das Krankheitserleben der Patienten, ihre Lebensqualitt und das Krankheitsverhalten. In der Arzt-Patient-Beziehung kann die »Droge Arzt« ihre potenziell hilfreiche Wirkung entfalten. Die aktuellen Studien zur Frage der Placebowirkung belegen die heilsamen Krfte, die in dieser Beziehung verankert sind. Worte und Beziehungsangebote des Arztes kçnnen physiologische Wirkungen beim Patienten hinterlassen, die Heilkraft des Vertrauens gilt es verantwortungsvoll zu nutzen. Die Beziehung wird auch im psychotherapeutischen Kontext thematisiert. Der Erfolg einer Psychotherapie wird geprgt durch die Qualitt der Therapeut-Patient-Beziehung. Die Beziehungsklrung ist wesentlicher Bestandteil
12
Johannes Kruse
der psychodynamischen Psychotherapie und auch in verhaltenstherapeutischen Verfahren wird die Bedeutung der Beziehung zunehmend anerkannt. So wundert es nicht, dass die Arzt-Patient-Beziehung wieder zu einem aktuellen Thema in der Medizin wurde und der Gestaltung der Arzt-PatientBeziehung in der medizinischen Ausbildung zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Konzepte der »patientenzentrierten Medizin« und des »shared decision making« erleben in der universitren Ausbildung, in den Disease Management Programmen und in den Leitlinien vielerorts eine Renaissance. Die Wiederentdeckung der Beziehung in der Medizin steht jedoch leider im Gegensatz zu den Beziehungserfahrungen zahlreicher Patienten im medizinischen Betrieb und dem Arbeitsalltag vieler rzte. Die Beziehungsregeln haben sich in den vergangenen Jahren im medizinischen Bereich erheblich verwandelt. Patienten sind zunehmend Kunden, autonome Empfnger medizinischer Leistungen, rzte sind Leistungserbringer, die mit attraktiven, am Markt orientierten Angeboten lukrative Kunden werben sollen. Sie sind Teil einer Wertschçpfungskette geworden. Die Bercksichtigung psychosozialer Faktoren und der Arzt-Patient-Beziehung ist jenseits der kundengewinnenden Freundlichkeit nicht erlçsrelevant. Im medizinischen Betrieb kommt der an der Beziehungsmedizin orientierte Arzt in den Geruch des Gutmenschen, der sich an das Bett seines Patienten setzt und ihm Trost zu spricht. Dabei droht die Versorgung von Patienten zu fragmentieren. Wachsende technische Mçglichkeiten und die resultierende notwendige Spezialisierung, Krzung der Verweildauer im Krankenhaus und der Schichtdienst der Assistenten, Abrechnungssysteme und Rahmenbedingungen erschweren die Bercksichtigung psychosozialer Faktoren und den Aufbau einer kontinuierlichen ArztPatient-Beziehung. Und auch das neue Abrechnungssystem im ambulanten Bereich ist fr die sprechende Medizin nicht fçrderlich. Die »Droge Arzt« kann unter diesen Bedingungen kaum ihr Potential entfalten. Die aktuellen Fragen der Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitssystem sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Das vorliegende Buch greift diese aktuelle Diskussion auf und reflektiert die Bedeutung der Beziehung in der Medizin auf den unterschiedlichen medizinischen Feldern. Dabei stehen alle Autoren in einer besonderen Beziehung zu Wolfgang Tress, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert. Die Autoren haben Wolfgang Tress in sehr unterschiedlichen Rollen kennengelernt – als Arzt, Psychologen, Psychoanalytiker, Psychosomatiker, Geisteswissenschaftler, empirischen Forscher, Kliniker, akademischen Lehrer, Berufspolitiker, als Kollegen und Mensch. Ihm wird dieses Buch gewidmet. Beziehung in der Medizin – diesem Thema ist Wolfgang Tress verpflichtet. So waren es wohl frhe Beziehungserfahrungen, die ihm den Weg in die Psychosomatische Medizin bahnten. Ein Großvater, der im Krieg durch die
Zum Geleit
13
seelische Belastung der Bombardierung stirbt, ein Vater, der als Leiter einer Lungenheilanstalt quasi sozialpsychiatrische Aufgaben in der Betreuung seiner Patienten wahrnimmt, mçgen biographische Beziehungserfahrungen sein, die seinen Weg schon frh in die Beziehungsmedizin und in die Psychosomatik gewiesen haben. Die frhe Auseinandersetzung mit dem Werk von Ludwig Wittgenstein fhrten Wolfgang Tress zu einer philosophisch theoretischen Verankerung seiner Arbeit, die sich in seiner Monographie »Sprache – Person – Krankheit« manifestiert. Doch es bleibt nicht bei den philosophischen Anstzen, Wolfgang Tress macht sich auf die Suche nach den sozialempirischen Markern fr das Beziehungs- und Bindungserleben. Neben der philosophischen Durchdringung trat die empirische Arbeit wohlwissend, dass im medizinischen Forschungsbetrieb nur die empirische Evidenz das berleben des Faches Psychosomatische Medizin und Psychotherapie gewhrleisten kann. Beziehungspflege in der Medizin bedeutet auch, die Spielregeln zu kennen und eine gemeinsame Sprache zwischen den unterschiedlichen medizinischen Disziplinen zu finden. Diese Sprache und die Denkstrukturen der empirischen Forschung integrierte er frh in sein wissenschaftliches Handeln. So geht er im Rahmen der Mannheimer Kohortenstudie dem Rtsel der seelischen Gesundheit in seiner Habilitationsschrift nach und belegt, wie die Beziehungserfahrungen in der Kindheit die seelischen Erlebnislandschaften des Erwachsenen beeinflussen. Er fhrt die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens in die Psychotherapieforschung der Bundesrepublik ein mit dem Ziel, das Beziehungsverhalten und die sich darin manifestierenden bertragungs- und Gegenbertragungsreaktionen empirisch zu untersuchen und semiquantitativ festzuhalten. Fragen der Bindungsforschung und der Ethik als Beziehungsregulativ auch in psychotherapeutischen Beziehungen prgen seine aktuellen Forschungsaktivitten. Es ist ein Verdienst von Wolfgang Tress, diese Forschung aus dem Elfenbeinturm der empirischen Psychotherapieforschung auch in die Medizin hineingetragen zu haben. So konzipiert er die Psychosomatische Medizin als interpersonelle Medizin. Damit diese eine breite Wirkung auch im hausrztlichen und fachrztlichen somatischen Bereich entfalten kann, bertrug er den interpersonellen Ansatz in seinem Lehrbuch zur Psychosomatischen Grundversorgung in die rztliche Praxis. Er schuf damit einen Meilenstein in dem Bemhen, die Psychosomatische Medizin auch fr Nicht-Psychosomatiker lern- und lehrbar zu machen. Dabei begngt er sich nicht damit, die Psychosomatische Grundversorgung theoretisch zu konzeptualisieren. Wolfgang Tress gestaltet. Als Hochschullehrer und langjhriger Vorsitzender der Allgemeinen rztlichen Gesellschaft fr Psychotherapie (AGP) prgte er die berufspolitische Landschaft in Deutschland, setzte sich erfolgreich fr den Facharzt fr Psychosomatische
14
Johannes Kruse
Medizin und Psychotherapie, fr die Zusatzbezeichnung Psychotherapie und die Psychosomatische Grundversorgung ein. Die Autoren dieses Buches begegneten Wolfgang Tress in unterschiedlichen Forschungs- und Lebensbezgen. Ihre Beitrge spiegeln somit einerseits die Vielfalt der Ttigkeiten von Wolfgang Tress wider. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, in welch vielfltigen Bezgen die Bedeutung der Beziehung in der Medizin zu diskutieren ist. Das Buch kommt zur rechten Zeit – das Thema bewegt die Medizin und Wolfgang Tress feiert seinen 60. Geburtstag. Es bietet einen breiten Anstoß fr die Diskussion in der Medizin und ist ein Pldoyer fr die Realisierung einer Beziehungsmedizin. Gleichzeitig ist es ein »Danke schçn« fr einen engagierten Kollegen, Chef und Lehrer.
Jçrg Frommer und Matthias Franz Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
Die Medizin der Gegenwart propagiert vor dem Hintergrund eines enormen naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und zunehmender konomisierung ein berwiegend technisches Selbstverstndnis, in welchem die in der Tat beeindruckenden und segensreichen Mçglichkeiten der High-TechMedizin aber gelegentlich auch berschtzt werden. Dies gilt insbesondere fr Problemlagen, in denen die Bewltigung chronischer und psychogener Krankheiten durch die betroffenen Patienten eine entscheidende Rolle spielt. Die individuellen, sozialen und çkonomischen Folgen der Vernachlssigung dieser Aspekte von Krankheit und Gesundheit sind in ihren besorgniserregenden gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen unbersehbar und drfen daher breitere Aufmerksamkeit reklamieren. Dieser Thematik ist das vorliegende Buch gewidmet. Es versammelt theoretische Abhandlungen, bersichten und Originalarbeiten zu Forschungsergebnissen namhafter Wissenschaftler, die sich mit Lçsungsanstzen fr diese gelegentlich zu kurz greifende und einseitige Entwicklung beschftigen. Ihr Ausgangspunkt ist die psychosomatische und psychosoziale Perspektive, welche die zwischenmenschliche Beziehung in den Mittelpunkt stellt. Als Bezugspunkt medizinischer Diagnostik und rztlicher Heilkunst wird in einem reflektierten Selbstverstndnis, wie es die Psychosomatische Medizin formuliert, der kranke Mensch in seinem biographisch gewachsenen persçnlichen und sozialen Bezugsfeld definiert. Das Individuum wird zwar auch als biologisches Lebewesen verstanden, das im çkologischen Sinn in seine Umwelt eingebettet ist. Es geht aber auch um die Person, das heißt um sprachfhige Subjekte, eingebettet in ihre jeweiligen biographischen Entwicklungen, interpersonellen Beziehungen und ihren historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund. Ein solches relationales Verstndnis – auch von Gesundheit und Krankheit – macht Beziehung zu dem Schlsselbegriff, der den horizonterweiternden Zugang zu einer Vielzahl virulenter ungelçster Kernprobleme der Gegenwartsmedizin erlaubt. Diese These ist nicht neu. Sie findet sich in der vornaturwissenschaftlichen Medizin vom Corpus Hippocraticum bis zu den Autoren der Romantik. Im
16
Jçrg Frommer und Matthias Franz
ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde sie von verschiedenen Strçmungen, unter denen hier nur Psychoanalyse und kologie genannt seien, quasi wiederentdeckt. Einerseits stand sie somit fr die Entwicklung von Forschungsprogrammen, die ber psychophysiologische Zusammenhnge hinaus den Kern der Persçnlichkeit mit seinen Empfindungen, Emotionen, Motiven und Handlungsdispositionen in die Betrachtung miteinbezogen, andererseits prgte sie eine klinische Haltung, die – verbunden mit Namen wie Gustav Bergmann, Ludolf Krehl, Viktor von Weizscker und Thure von Uexkll – den tatschlich oder vermeintlich kçrperlich Kranken als Subjekt ernst nimmt und ihn als gleichwertigen Partner in der Arzt-PatientBeziehung begreift. Die psychosomatische Perspektive gewinnt so Zugang zu Phnomenen, die biomedizinischen Forschungsanstzen verschlossen bleiben: Non-Compliance von Patienten, der Placebo-Effekt oder psychosoziale Einflsse auf physiologische Parameter werden verstndlich und biologische, psychische, soziale, çkonomische und kulturelle Phnomene kçnnen als komplexe Systeme begriffen werden, in denen heterogene Einflussfaktoren ineinandergreifen. Klinisch adressiert diese Perspektive zentral den Aspekt der Humanitt in der Krankenbehandlung, der in Zeiten scheinbar unbegrenzter technischer Mçglichkeiten nicht nur Kranke tangiert, sondern auch Gesunde, die in Krankenbehandlungen involviert werden, wie dies bei Lebendspendern in der Transplantationsmedizin erfolgt, oder denen der medizinische Fortschritt Dienstleistungen anbietet, wie dies beispielsweise in der Humangenetik oder Reproduktionsmedizin heute der Fall ist. Psychosomatik heißt hier, bei allen Entscheidungen und in jeder Kommunikationssituation der berlegung Raum zu geben, wie sich die Situation aus der Perspektive des hilfesuchenden Gegenbers darstellt. Was der Patient fhlt, in welche Interpretationskontexte er die Kommunikationsbeitrge des Arztes und die mitgeteilten Informationen stellt, welche biographischen Handlungsdispositionen und Motive Relevanz gewinnen, welche emotionalen Reaktionen erfolgen und wie er schließlich handelt – all dies gehçrt in den Bereich der klinischen und wissenschaftlichen psychosomatischen Perspektive. Diese Entdeckungen und Entwicklungen hatten große Mhe, die dunkle Zeit zu berstehen, die mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in Deutschland eintrat. Es zeigte sich, dass die vertretene Perspektive unauflçslich der Aufklrung verpflichtet ist und nur unter zivilgesellschaftlich-demokratischen Verhltnissen zur Blte gebracht werden kann. Heute wissen wir darber hinaus, dass die Schatten der Katastrophe – vor allem in dem Teil Deutschlands, dessen Rckkehr in die zivilisierte Welt lange behindert wurde – lange whrten und bis in die Gegenwart reichen. Ohne die ReeducationInitiativen der amerikanischen Militrregierung wre es 1950 nicht zur Einrichtung der ersten psychosomatischen Universittsklinik in Heidelberg ge-
Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
17
kommen und auch heute noch ist der autoritative Geist, der neben der Technikorientierung die Medizin lange prgte, manchenorts nicht verschwunden. In Westdeutschland folgte ein Aufschwung der Psychosomatik, verbunden mit der Einrichtung von Lehrsthlen fr das Fach an fast allen Fakultten. 1970 wurde die Psychosomatik Pflichtfach im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums und neben dem Querschnittsaspekt, das heißt der berzeugung, dass die gesamte Medizin als psychosomatisch geprgte Beziehungsmedizin zu verstehen sei, etablierte sich das Fach mittlerweile als Spezialdisziplin und Versorgungsgebiet mit eigenem Facharzt. Damit bilden Forschung, Klinik und Versorgung eine Einheit, der die nachfolgenden Beitrge gewidmet sind. Die Widmung verbindet ein Thema mit einer Person. Wie kein anderer unter den gegenwrtigen Vertretern des Fachs hat Wolfgang Tress ber mehr als drei Jahrzehnte den Zusammenhang zwischen Medizin und Beziehung zum Zentrum seines klinischen, wissenschaftlichen und institutionellen Wirkens gemacht. Die Doppelqualifikation als Arzt und Psychologe, verbunden mit einem profunden Interesse an Fragen der Philosophie und Epistemologie, ermçglichte es ihm, ber die sonst vielfach bliche eher eklektische Anhufung von Forschungsprojekten und Publikationen hinaus Medizin und Beziehung als zentrales Thema tiefgrndiger zu durchdringen. Die sptere Ausbildung zum Psychotherapeuten und Psychoanalytiker erlaubte darber hinaus die Einbeziehung handlungsorienter Perspektiven. Wer sein Werk nachverfolgt, wird ihm Hilfe bei der Ordnung der Thematik entnehmen kçnnen. Fr die Konzeptualisierung der hier vorgelegten Beitrge ergab sich vor diesem Hintergrund eine Aufteilung in vier untereinander vielfach verflochtene Ebenen der Untersuchung der Beziehungsmedizin: 1. Die Ebene geistes- und naturwissenschaftlicher Grundlagen Ausgehend von ontologischen und methodologischen Grundfragen steht auf dieser Ebene die theoretische Durchdringung der anthropologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Determinanten und Bezge von Krankheit und Personalitt im Mittelpunkt. Sie schließt philosophische, soziologische und sozialpsychologische Aspekte ebenso ein wie neurowissenschaftliche und entwicklungspsychologische Gesichtspunke. 2. Die Ebene epidemiologischer und prventionsorientierte Aspekte Die zweite Ebene widmet sich den individuumsbergeordneten Aspekten der Einbettung von Krankheit und Gesundheit in gesellschaftliche Zusammenhnge. Geschlechts- und Altersabhngigkeit spielen hier ebenso eine Rolle wie soziokulturelle und çkonomische Hintergrnde. 3. Die Ebene klinisch-biographischer Aspekte Die dritte Ebene fokussiert die individuumszentrierte biographische Dimension des Verhltnisses von Medizin und Beziehung. Im Mittelpunkt
18
Jçrg Frommer und Matthias Franz
stehen dabei einerseits die psychosozialen Konsequenzen neuer technischer Mçglichkeiten moderner Medizin fr die Betroffenen und andererseits Antworten auf die durch Hyperalimentation und Zuwachs an Lebenserwartung akzentuierte Problematik chronisch-degenerativer und lebensfhrungsabhngiger Erkrankungen. 4. Die Ebene psychoanalytischer und psychotherapeutischer Aspekte Im Zentrum der handlungsorientierten vierten Ebene stehen spezifische Interventionen der Beziehungsmedizin. Auch heute noch sind die subtilen Beobachtungen langjhriger intensiver Patientenbehandlungen, wie sie vor allem in der psychoanalytischen Fachkultur entwickelt und gepflegt wurden, stets da eine wertvolle Informationsquelle und Orientierungshilfe, wo besondere Lebenssituationen sowie außergewçhnliche biographische Erfahrungen und aus ihnen resultierende pathologische Beziehungsverstrickungen in Krankheitssymptomen zum Ausdruck kommen. Die Beziehungsmedizin findet schließlich auch Anknpfungspunkte und berlappungen mit der Psychotherapieforschung, sowohl hinsichtlich ihrer Konzepte, als auch bezglich Prozess- und Ergebnisaspekten. Am Anfang der Beitrge zu den geistes- und naturwissenschaftlichen Grundlagen steht nachfolgend ein Aufsatz von Jçrg Frommer ber die Risiken persçnlicher Identittsentwicklung in postmodernen Gesellschaften. ber zwei Exkurse zu Sigmund Freud und Max Weber versucht der Autor die Aufgaben zu verdeutlichen, die durch Identittsarbeit in gelingenden biographischen Entwicklungen zu leisten sind. Im Mittelpunkt steht dabei eine auf drei Ebenen verteilte Vermittlung zwischen Subjektivitt und der Einbindung in zwischenmenschliche Beziehungen. Um Kategorienfehler – insbesondere im Hinblick auf die Differenzierung pathogener Formen des Misslingens von Identittsarbeit – zu vermeiden, schlgt Frommer die Differenzierung zwischen basalem Selbstgefhl, Selbstbewusstsein und Selbstkonzept vor. Jeder Ebene entsprechen unterschiedliche psychopathologische Phnomene, die hinsichtlich der mit ihnen einhergehenden Beeintrchtigung der Fhigkeit zur Symbolisierung den Ebenen zugeordnet werden kçnnen. Neue psychopathologisch relevante Phnomene ergeben sich im gegenwrtigen Zeitalter der Globalisierung durch eine Zunahme medienvermittelter gegenber sinnlicher Erfahrung. Nachfolgend fhrt die Arbeit von Rudolf Heinz hermetisch und fachkundig zugleich in philosophische Tiefen des Themas. Auch stilistisch und formal in die Tradition der dialektischen Vernunft des poststrukturalistischen »wilden Denkens« eingebettet dekonstruiert Heinz unser Alltagsverstndnis von Beziehung aus philosophischer und psychoanalytischer Perspektive. Ihm geht es dabei radikal um die vorintersubjektive Matrix, aus der Subjekt und Objekt allererst abzuleiten sind. Heinz dreht den Spies um: Das ber alle Wider-
Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
19
sprche und Differenzen verbindende Gemeinsame ist das unmittelbar Evidente und Einleuchtende, whrend das, was wir gemeinhin »Objekt« und »Objektivitt« nennen, fragwrdig abgeleitet erscheint. Dies hat Konsequenzen auch fr die verdinglichende Konzeptualisierung des Organismus in der modernen Medizin, in der Heinz die Gefahr der Selbstentfremdung erkennt. Der Beitrag von Andr Karger bringt die ethische Dimension einer Beziehungsmedizin am Beispiel der Psychotherapie ins Spiel. Karger zeigt berzeugend, dass die ethische Kernfrage nach der Anerkennung des Anderen aus einer psychoanalytisch geprgten, der radikalen Aufklrung verpflichteten psychoanalytischen Sicht eine gespaltene Antwort erfahren muss: Etwas allgemeiner formuliert, legt Karger die Schlussfolgerung nahe, dass der an der zwischenmenschlichen Beziehung interessierte und auf sie fokussierte Arzt zwangslufig auf einen widerstndigen Rest im anderen Subjekt stçßt, den aufzulçsen er nicht vermag. Mehr noch – auch in seiner eigenen Verstehensbemhung stçßt er auf Grenzen, die durch seine Interessen und Begehrlichkeiten vorgezeichnet sind. Letztlich macht damit gerade der intensive Wunsch nach Teilhabe auch ihre Grenzen deutlich. Im abschließenden Beitrag dieses Kapitels widmet sich Matthias Franz den Ursachen und Folgen einer beeintrchtigten Affektverarbeitung. Eine gestçrte Affektwahrnehmung und -verarbeitung stellt den Zentralaspekt der Alexithymie dar und bewirkt eine beeintrchtigte soziale Anpassung bei einer Vielzahl psychogener Erkrankungen, wie zum Beispiel depressiven Stçrungen oder somatoformen Erkrankungen. Wenn emotionale Information und die dazu gehçrige Affektaktivierung keine soziale Bedeutung und Folgen haben, ist eine zentrale Kompetenz gestçrt und die Basis fr den interaktionellen Austausch blockiert. Franz bezieht in seinem Beitrag neurowissenschaftliche Befunde und bindungstheoretische Aspekte der Affektentwicklung aufeinander, um ein vertieftes Verstndnis emotionaler Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstçrungen zu ermçglichen. Dies fhrt er am Beispiel der Gesichtswahrnehmung bis hinein in psychophysiologische und therapeutische Aspekte aus. Die epidemiologischen und prventionsorientierten Beitrge werden von Heinz Schepank mit einem berblick ber den Ablauf und die wichtigsten Ergebnisse der Mannheimer Kohortenstudie erçffnet. Schepank initiierte Mitte der 1970er Jahre in Mannheim die bis heute noch laufende, von Psychoanalytikern durchgefhrte Langzeitstudie zur Hufigkeit, zum Verlauf und zu den Ursachen psychogener Erkrankungen. Diese epochale Studie erbrachte erstmals auch fr Deutschland valide Daten zur Prvalenz psychogener Stçrungen in der Allgemeinbevçlkerung. Auf dieser Grundlage wurden auch wesentliche versorgungsstrukturelle Entwicklungen mçglich, beispielsweise auch in Richtung einer spezialisierten fachrztlichen Versorgung der Bevçlkerung mit Psychotherapie. Die Herausgeber freuen sich sehr, dass der
20
Jçrg Frommer und Matthias Franz
Begrnder der deutschen psychosomatischen Epidemiologie in diesem Buch mit vertreten ist. Anknpfend und ausgehend von einem wichtigen Forschungsergebnis der Mannheimer Kohortenstudie, nmlich dem signifikant erhçhten Erkrankungsrisiko der im Nachkriegsdeutschland vaterlos aufgewachsenen Kriegskinder, zentriert sich die nachfolgende Arbeit von Matthias Franz auf das Thema der Vaterlosigkeit. Sowohl das durch die nationalsozialistische Diktatur und den Zweiten Weltkrieg bedingte kollektiv-traumatische Vaterdefizit als auch der heutige auf Grund sozialer Fragmentierung zunehmend ausgeprgte Mangel an vterlicher Prsenz waren und sind fr die betroffenen Kinder nicht selten mit problematischen Folgen verbunden. Nach einer einfhrenden Darstellung der entwicklungspsychologischen Bedeutung des Vaters wird dies anhand zahlreicher epidemiologischer Forschungsergebnisse sowie auch der Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie belegt. Abschließend beschreibt Franz hieraus folgende sozial- und gesellschaftspolitische Handlungsfelder auch am Beispiel eines bindungsorientierten, aus seiner Arbeitsgruppe entwickelten Elterntrainings speziell fr alleinerziehende Mtter : PALME. Der Beitrag von Elmar Brhler rckt die lange vernachlssigten Variablen Alter und Geschlecht in den Mittelpunkt. Daten aus drei – 1975, 1994 und 2001 durchgefhrten – reprsentativen Untersuchungen mit dem Giessener Beschwerdebogen werden hinsichtlich Unterschieden in diesen Merkmalen verglichen. Dabei wird insgesamt deutlich, dass Kçrperbeschwerden in hohem Maße epochen- und kulturabhngig sind, wobei insbesondere zwischen 1994 und 2001 sowohl ein starker Rckgang der Beschwerden, als auch ein Rckgang der Geschlechtsabhngigkeit zu verzeichnen ist. Dies verwundert angesichts steigender Krankschreibungen. Als Erklrung wird abschließend ein Wandel der Beschwerdebilder in Richtung depressives Spektrum angedeutet. Johannes Siegrist beschreibt aus medizinsoziologischer Perspektive, dass die Abstraktion vom Individuellen, die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit ber bestimmte (im Einzelfall auch krankmachende) Regeln, Typisierungen und Verallgemeinerungen die Mçglichkeit schlussfolgernder Beschreibung individuellen Leids und dessen gesellschaftlich vermittelter Risikokonstellationen einschließt. Dies fhrt Siegrist anhand seines empirisch fundierten Konzeptes der sozialen Gratifikationskrisen aus. Die Verletzung des Bedrfnisses nach sozialer Reziprozitt verbindet Siegrist auf verschiedenen Ebenen sozialer Organisation mit stresspsychologischen Zusammenhngen. Er belegt anhand zahlreicher Studien, dass in zentralen sozialen Rollen nicht-reziproke Austauschbeziehungen das Risiko zum Beispiel stressassoziierter Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder depressiver Stçrungen erhçhen.
Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
21
Norbert Schmitz greift die aktuelle Debatte ber den Zusammenhang von Depression und chronischer kçrperlicher Erkrankung auf und stellt hierzu Daten aus einer aktuellen reprsentativen kanadischen Bevçlkerungsuntersuchung vor. Die Ergebnisse zeigen deutliche Zusammenhnge zwischen Major Depression, chronischen somatischen Erkrankungen und funktioneller Beeintrchtigung. Mehr als 17 Prozent aller Beeintrchtigungstage standen im Zusammenhang mit einer Depression und die Kombination von Depression und somatischer Erkrankung zeigte sich als prdestinierend fr eine hohe Zahl von Beeintrchtigungstagen. Mçgliche Kausalzusammenhnge werden diskutiert, wodurch die Komplexitt der Dateninterpretation deutlich wird. Die Arbeiten zur individuumszentrierten klinisch-biographischen Perspektive der Beziehungsmedizin werden eingeleitet durch Michael Langenbach, der anhand einer subtilen Einzelfallstudie der Krankheitsverarbeitung in der Transplantationsmedizin nachgeht. Die zentrale Frage seiner mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung ausgewerteten Interviewstudie richtet sich auf die biographische Arbeit, die nach einer Organtransplantation erforderlich ist, um den lebensbedrohlichen Eingriff zu bewltigen und die Kontinuitt des Identittserlebens zu sichern. Besonders bei Herztransplantierten wie dem interviewten Herrn C. zeigt sich die facettenreiche Schilderung eines Wendepunkts im Leben, dessen positiver Ausgang in psychosozialer Hinsicht nicht nur durch das technische Gelingen des Eingriffs bedingt wird, sondern darber hinaus durch biographische Dispositionen und das Gelingen der Integration der stattgehabten Extremerfahrung in die eigene Identitt. Johannes Kruse zeigt am Beispiel des Diabetes mellitus wie intensiv die Bewltigung auch einer chronischen somatischen Krankheit und ihrer Langzeitfolgen von psychischen Einflssen und persçnlichen Konflikten des Patienten abhngt. Auch die Entwicklung und Erreichung individueller Therapieziele ist erschwert, wenn das Krankheitsverhalten des Patienten durch eine psychische Stçrung oder durch eine biographisch verankerte intrapsychische Problematik bestimmt wird. Dies verdeutlicht der Autor anhand aktueller empirischer Forschungsergebnisse und eindrucksvoller klinischer Fallbeispiele. Dabei wird deutlich, dass fr die rztliche Haltung eine patientenzentrierte Vorgehensweise, in der der Patient Gelegenheit erhlt, seine Affekte und seine psychosoziale Problematik darzustellen, von zentraler Bedeutung fr den Krankheitsverlauf und die gemeinsame Bestimmung der individuellen Behandlungsziele ist. Mit den Ursachen und Hintergrnden eines destruktiven Krankheitsverhaltens bei Patienten mit Asthma bronchiale beschftigt sich der Beitrag von Wolfgang Wçller. In einem hohen Prozentsatz ist die Nichteinnahme kortisonhaltiger Medikamente Grund fr eine andauernde Beschwerdesymptomatik bei Asthmapatienten. Die Folgen reichen von Symptomverschlechte-
22
Jçrg Frommer und Matthias Franz
rungen, Hospitalisierungen, Notarzteinstzen bis zu einem erhçhten Mortalittsrisiko. Impulse zur Selbstschdigung, Autorittskonflikte, Beziehungskonflikte und die Verleugnung der Erkrankung sind wesentliche Teilursachen. In einer eigenen Untersuchung stellt Wçller mittels komplexer statistischer Verfahren die Bedeutung verinnerlichter zentraler Beziehungsmuster fr den Umgang des Patienten mit seiner Medikation und fr sein Erleben seines Arztes dar. Die dargestellten Befunde unterstreichen die Bedeutung einer beziehungsmedizinischen Perspektive zum Verstndnis der nicht selten selbstschdigenden Verhaltensmuster von Asthmapatienten. Die Befunde haben betrchtliche Konsequenzen fr die Strukturierung von Versorgungsangeboten dieser durch ihr Krankheitsverhalten gefhrdeten Patienten. Die Arbeitsgruppe um Christian Deter widmet ihren Beitrag dem schwer zugnglichen Feld der Adipositasbehandlung. Auch hier zeigt sich der Versuch als fruchtbar, die psychosoziale Dimension in Pathogenese und Therapie strker zu bercksichtigen. Die Autorengruppe stellt die Ergebnisse eines Gewichtsreduktionsprogramms vor, wobei dem Zusammenhang zwischen den Bindungsstilen der Patienten und den Effekten der durchgefhrten Gruppentherapie besondere Aufmerksamkeit zukommt. Wenig berraschend zeigt sich, dass sicher Gebundene ihr Gewicht hufiger reduzieren konnten als unsicher Gebundene. Hinsichtlich der Bedeutung von Bindungsmustern fr die Adipositasentstehung waren die Ergebnisse allerdings nicht richtungsweisend. Die psychoanalytischen und psychotherapeutischen Beitrge werden von Bernd Nitzschke mit einem Beitrag zu psychoanalytischen Aspekten des Beziehungsbegriffs erçffnet. Mit der ihm eigenen leicht ironischen Distanz stellt der Autor zunchst die wiederholende Darstellung unbewusster, aber auch durch die sozialen Außenbeziehungen qualifizierten Beziehungskonflikte des Patienten in der bertragungsbeziehung zum Psychoanalytiker in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Von Seiten des Therapeuten erfordert der Umgang mit diesen Beziehungsangeboten eine in grndlicher Selbsterfahrung geschulte Empathie und professionelle Interpretationsschemata. Der Auffindung und trauernden Verabschiedung beziehungssteuernder kindlicher Gefhle im Rahmen einer sichernden therapeutischen Beziehung kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu. Nitzschke stellt die besondere Wichtigkeit der deutenden Bearbeitung gerade auch der negativen Affekte heraus, welche nicht zuletzt auch durch die Sympathie des Analytikers fr seinen Patienten mçglich wird. Mathias Hirsch fhrt den Leser an die Grundlagen und klinischen Perspektiven einer psychoanalytischen Traumatologie heran. Der Traumabegriff wird aus narzissmus- und objektbeziehungstheoretischer Sicht erschlossen und im Sinne eines kumulativen Bindungstraumas mit dem Resultat einer pathologischen Loyalitt zum Aggressor ausgefhrt. Unter Bezug besonders
Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
23
auf die Arbeiten Sandor Ferenczis wird so ein vertieftes Verstndnis der zugrundeliegenden Verinnerlichungsprozesse in ihrer Bedeutung fr die selbstzerstçrerischen Tendenzen vieler Traumapatienten ermçglicht. In diesem Buchkapitel werden keine Konzepte fr eine neurowissenschaftlich fundierte »schnelle und effektive« berwindung beispielsweise psychotraumatischer PTSD-Symptome dargestellt, geschweige denn verkauft. Hirsch unterzieht den Leser der Mhe, die aus Liebe zu den Objekten erfolgte Verinnerlichung krankmachender Bindungserfahrungen aus dem Erleben des Kindes heraus nachzuvollziehen. Erst dies versetzt den Therapeuten berhaupt in die Lage, den traumatisch vergifteten Bereich in der Beziehungsorganisation des Patienten auch in der bertragungsbeziehung zu ertragen. Der Aufsatz von Claudia Sies ist den neuen Herausforderungen gewidmet, die sich der Paar- und Sexualtherapie heute stellen. Ausgehend von den tiefgreifenden Verunsicherungen, die der Verlust traditioneller Wertorientierungen und Lebenskonzepte in postmodernen Gesellschaften mit sich bringt, wird reflexive Beratungs- und Behandlungskompetenz bei Problemlagen unverzichtbar, fr die frher klare Entscheidungshilfen verfgbar waren. Darber hinaus wirft der Verlust von sinnlicher Erfahrung und sexuellem Begehren in langjhrigen Beziehungen und im Alter Orientierungsfragen auf, die ein rein biologisches Verstndnis berfordern. Entschlossen pldiert Sies daher fr integrative Konzeptualisierungen, die psychosoziale und Beziehungsaspekte miteinbeziehen. Paul L. Janssen fasst in seinem Beitrag konzise frhere Arbeiten zur stationren psychodynamischen Psychotherapie zusammen. Sie kann mit Recht als das inzwischen auch empirisch gut untersuchte hochpotente therapeutische Mittel verstanden werden, das die Psychosomatische Medizin in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat und das sie international auszeichnet. Janssen stellt die Konzepte vor, die die historische Entwicklung geprgt haben, und macht so deutlich, dass nur die konsequente Umsetzung des Beziehungsparadigmas in der Lage ist, die multipersonale Situation, die die Therapie in diesem Setting kennzeichnet, adquat zu konzeptualisieren als komplexes bertragungsangebot, in dem der Patient seine Beziehungsmuster zur Entfaltung zu bringen versucht. Abschließend formuliert Janssen wertvolle Kriterien, deren Bercksichtigung maßgeblich darber entscheidet, ob und wie gelingt, den Patienten zugleich in seiner Beziehungsrealitt »abzuholen« und ihm doch Vernderung, Entwicklung und Reifung zu ermçglichen. Norbert Hartkamp leistet in seinem Kapitel die Synthese von klinisch gewonnenen objektbeziehungstheoretischen Konstrukten und empirischer Forschung. Der Autor stellt in seinem Beitrag die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen moderner Forschungsmethoden vor, mit deren Hilfe auf Verhaltensebene beziehungsregulative Prozesse abgebildet und quantifiziert
24
Jçrg Frommer und Matthias Franz
werden kçnnen. Ausgehend von der Entwicklung zirkumplexer Modelle der Persçnlichkeit und der Beziehungsorganisation werden im Einzelnen Einsatzbereiche und eindrucksvolle Forschungsergebnisse zur Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens (SASB) und dem abgeleiteten Fragebogenverfahren INTREX vorgestellt. Die Einfhrung dieser Verfahren in den deutschen Sprachraum wurde wesentlich von Wolfgang Tress befçrdert, dessen komplexes Modell des zyklisch maladaptiven Verhaltens (CMP) der Autor dieses Beitrages ebenfalls vorstellt. Das bereits im Beitrag der Arbeitsgruppe um Deter aufgegriffene Bindungsparadigma steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Peter Joraschky und Katja Petrowski. Die Autoren erkunden den Beitrag dieser Richtung fr die Psychotherapieforschung. Sie gehen dabei von der Erkenntnis aus, dass die Passung von Therapeut und Patient maßgeblichen Einfluss auf den Psychotherapieerfolg hat. Im Anschluss an eine bersicht ber den Stand der Forschung entwickeln die Autoren erste Anstze zu einer Typologie der Bindungsmuster-Konstellationen in der Therapeut-Patient-Beziehung, die an drei Fallbeispielen illustriert werden. Als Konsequenz wird deutlich, dass unterschiedliche Muster spezifische therapeutische Strategien erfordern. Zum Abschluss gibt Klaus Lieberz als Versuch einer Standortbestimmung einen berblick ber die historische Entwicklung und die zuknftigen Perspektiven der Beziehungsmedizin und der Psychosomatischen Medizin. Hierbei referiert der Autor die Meilensteine der Entwicklung des Faches in Deutschland und schildert aus Sicht des praxisbezogenen Psychosomatikers auch berufspolitische Aspekte und zuknftige Handlungsfelder. Kritisch sieht er die Mçglichkeiten zur Gewinnung des wissenschaftlichen Nachwuchses aufgrund einer zu einseitig unter einem technisch-çkonomischen Primat ausgerichteten Forschungsfçrderung und pldiert unbedingt fr eine feste Verankerung der qualittsgesicherten Psychotherapie in der Medizin. Zusammengefasst spiegeln die hier versammelten Beitrge zwar selektiv, aber aus erster Hand den aktuellen Stand unseres Wissens ber Medizin und Beziehung. Sie unterstreichen eindrucksvoll die zentrale Bedeutung dieses in der Medizin immer noch vernachlssigten Aspekts und ermçglichen dem Leser und der Leserin, sich von Qualitt und Gehalt des bislang Erreichten und auch des noch nicht Erreichten ein eigenes Bild zu machen. Die Herausgeber mçchten an dieser Stelle nicht versumen, allen an diesem Buch Beteiligten herzlich zu danken. Zunchst richtet sich dieser Dank an die ausgewiesenen psychoanalytischen und sozialempirisch forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als Autorinnen und Autoren fr dieses Buch gewonnen werden konnten. Ihre Beitrge runden sich zu einem eindrucksvollen Gesamtbild um den zentralen Begriff der Beziehung und beleuchten dessen unterschiedliche Facetten. Unser Dank gilt auch der intensiven und immer hilfreichen Betreuung durch den Verlag Vandenhoeck &
Auf dem Weg zu einer Medizin der zwischenmenschlichen Beziehungen
25
Ruprecht in allen Phasen der Entstehung dieses Buches, insbesondere durch Herrn Presting und Frau Kamp. Und nicht zuletzt bedanken wir uns fr die engagierte Untersttzung bei der editorischen Arbeit und beim Lektorat durch Frau Frommer, Frau Arntzen und Herrn Rampoldt. Ohne sie alle wre die Erstellung dieses Buches rechtzeitig zum Ehrentag des Jubilars Wolfgang Tress nicht mçglich gewesen.
Teil 1 Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Jçrg Frommer Vom eisernen zum glsernen Gehuse – Risiken persçnlicher Identittsentwicklung im Zeitalter der Globalisierung
Die These von der Antiquiertheit der Psyche, die Alexander Mitscherlich bereits vor mehr als drei Jahrzehnten zur Diskussion stellte, hat heute nichts an Aktualitt verloren (Roelcke, 1995). Verblffenderweise sind in der gegenwrtigen Gesellschaftsentwicklung unter kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht nur Prozesse einer Auflçsung traditionaler Verbindungen und zunehmenden Individualisierung zu beobachten, sondern gleichzeitig auch gegenlufige Prozesse im Sinne unbeendeter adoleszenter Moratorien, verbunden mit Identittsdiffusion und der Entwicklung von Patchworkidentitten. Nachfolgend diskutiere ich in diesem Kontext Differenzen und Konvergenzen zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Anstzen zum Verstndnis postmoderner Identitt einerseits und psychoanalytischen und psychopathologischen Konzepten von Neurose, Akkulturationskrise, narzisstischer Identittsstçrung und Psychose andererseits. Es wird gezeigt, dass hochkomplexe Gesellschaften neben spezifischen Gefhrdungen auch Entwicklungspotentiale freisetzen kçnnen, allerdings unter den Bedingungen lebenslanger Identittsarbeit. Im Zentrum der Arbeit steht der Versuch einer fr diese sozialen Welten spezifischen Taxonomie des Scheiterns von Identittsarbeit. Dabei werden ausgehend von einer Bestimmung des Verhltnisses von Objekthaftigkeit und Subjekthaftigkeit in der Grundstruktur personaler Identitt psychotische Formen gescheiterter Identittsarbeit von Formen des Scheiterns in neurotischen und persçnlichkeitsgestçrten Identitten unterschieden. Ziel der Arbeit ist es somit nicht nur, Differenzen zwischen den beiden zueinander in Beziehung gesetzten Diskursen zu markieren und zu klareren Sprachregelungen beizutragen, sondern auch, Parallelen herauszuarbeiten und spezifische psychische Gefhrdungen unter den Lebensbedingungen der Zweiten Moderne zu beschreiben. Der Begriff individuelle, personale oder persçnliche Identitt dient vor allem deshalb als Ausgangspunkt der nachfolgenden berlegungen, weil er – wenn auch nicht unumstritten – ein zentrales interdisziplinr anschlussfhiges Konzept im Diskurs ber Individualitt in modernen Lebenswelten darstellt. Im deutschsprachigen Raum ist er eng verknpft mit dem die intra-
30
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
psychische Dimension hervorhebenden Begriff Selbstbewusstsein, whrend im angloamerikanischen Sprachraum der strker auf psychosoziale und interpersonelle Aspekte zugeschnittene Begriff Selbst (self) hufig synonym verwandt wird. Nichts desto trotz ist seine Bedeutung gerade wegen der Interdisziplinaritt seines Gebrauchs unscharf, opak und polivalent, so dass Verstndigungsversuche innerhalb disziplinrer Schranken und ber Fchergrenzen hinweg Pseudokommensurabilitt und offene Missverstndnisse hervorrufen kçnnen. Es erscheint deshalb sinnvoll, in einer systematischen Annherung differente Bedeutungsdimensionen des Begriffes auszuloten. Einer solchen im Folgenden holzschnittartig dargestellten Systematik wird eine historische Einleitung in die Thematik vorgeschaltet, aus der der Blickwinkel des Ordnungsversuches erhellt. Systematisch werden drei Begriffe Selbstgefhl, Selbstbewusstsein (syn. Ich-Bewusstsein) und Identitt begrifflich bestimmt und zueinander in Beziehung gesetzt. Dieser systematischen Aufarbeitung werden zwei Exkurse vorangestellt, die unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Sigmund Freud und Max Weber einen theoretischen Bezugsrahmen aufspannen. Abschließend wird dann der Frage der spezifischen Risiken nachgegangen, die hochdifferenzierte Gesellschaften fr die Identittsentwicklung ihrer Mitglieder bergen.
Risiken personaler Identittsentwicklung in der brgerlichen Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts In der historischen Forschung wird fr die Konstituierung der sozial inhomogenen Formation des Brgertums nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als wesentlicher identittsstiftender Faktor angesehen, sondern auch die brgerliche Kultur, gekennzeichnet durch das Heraustreten aus den stndischen Bindungen und die damit einhergehende Individualisierung von Lebensfhrung, Lebenslauf und persçnlicher Identitt. Innerhalb der neuentstehenden Normen, Wertorientierungen sowie Verhaltens- und Kommunikationsformen war die Subjektivitt des autonom gedachten Individuums zentrales Thema (Roelcke, 1999, S. 19). Die brgerliche Selbstthematisierung mndete dabei in ein Selbstverstndnis, das einerseits Individualitt und Selbstbestimmung, andererseits Vernunft und Rationalitt, zu seinen zentralen Bestimmungsmerkmalen erhob. Eng verflochten mit dieser Entwicklung war eine verstrkte Beschftigung mit Phnomenen der Abweichung von den nunmehr geltenden Normen und Verhaltensweisen. Insbesondere Michel Foucault hat gezeigt, dass nicht nur zeitgleich, sondern auch implikativ verknpft mit dem Aufstieg des Brger-
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
31
tums innerhalb der Medizin ein Diskurs ber Geisteskrankheit einsetzte. Der Medizinhistoriker Volker Roelcke vertritt darber hinaus die Auffassung, »dass die große Krise des Brgertums und vor allem des brgerlichen Selbstbewusstseins am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls spezifische Korrelate in der Theorie- und Professionsgeschichte der Medizin hat« (S. 21). Damit war der Beschftigung mit dem »Anderen der Vernunft« (Kaufmann, 1995) – den irrationalen Geistes- und Gemtskrankheiten – die Beschftigung mit den Alterationen der eigenen Vernunft in Form von psychosozialen Krisen, Konflikten und Traumata unter Bezeichnungen wie »Neurasthenie« und »Nervositt« an die Seite getreten. In einem dialektischen Sinn war nun das Fremde, Unverstndliche und Irrationale zumindest fr einen Teil der Eliten zum antithetischen Teil der an Rationalitt und Vernunft orientierten brgerlichen Identitt geworden.
Erster Exkurs: Kultur-ber-Ich und Neurose bei Freud Diese irrationale Kehrseite des Rationalisierungsprozesses, der in den Worten Max Webers den »Fachmenschen ohne Geist« (Weber, 1920, S. 204) hervorbringt, ist von psychoanalytischer Seite bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert worden: In seinem Aufsatz ber »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervositt« formuliert Freud 1908 erstmals lngere Passagen ber das Wesen der Kultur und ihre Vernderungen im Verlauf des Zivilisationsprozesses. Nach seiner Stufentheorie des kulturellen Entwicklungsprozesses zeichnen sich fortgeschrittene Gesellschaften durch eine kulturelle Sexualmoral aus im Sinne christlich geprgter Handlungsmaximen, die unreflektiert jede sexuelle Bettigung dem Ziel der Fortpflanzung deshalb unterordnen, weil nur so sichergestellt werden kann, dass sublimierte sexuelle Triebenergie der Kulturarbeit zur Verfgung gestellt wird. Die Kehrseite der kulturellen Sexualmoral sind Freud zufolge neurotische Entwicklungen: »Die Neurotiker sind jene Klasse von Menschen, die es bei widerstrebender Organisation unter dem Einflusse der Kulturanforderungen zu einer nur scheinbaren und immer mehr missglckenden Unterdrckung ihrer Triebe bringen, und die darum ihre Mitarbeiterschaft an den Kulturwerken nur mit großem Krfteaufwand, unter innerer Verarmung, aufrechterhalten oder zeitweise als Kranke aussetzen mssen« (Freud, 1908, S. 154).
Der flexible, rational orientierte, in seinem Triebleben aber »gehemmt(e)« (Freud, 1908, S. 153) wird somit zur Zentralfigur psychoanalytischen und psychotherapeutischen Interesses in den nachfolgenden Jahrzehnten. Die von
32
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
ihm beklagten Symptome sind zunehmend nicht mehr extrovertierte, »hysterische« Intrusionen von Irrationalitt in die Sphre zwischenmenschlicher Interaktion, sondern verkçrpern durch Triebfrustration bedingtes »intimes« Leiden (von Baeyer, 1961; Frommer u. Frommer, 1997), das nur in seinen Extremausprgungen die rationale Lebensfhrung beeintrchtigt. Die die Rationalitt stçrenden Triebkrfte sind dabei nicht nur libidinçser, sondern vor allem auch destruktiver Natur. Die Außenwelt ist fr Freud in basaler Weise Bedrohung der eigenen Integritt. Vom Kçrper drohen Krankheit und Tod, die physikalische Außenwelt richtet sich mit »bermchtigen, unerbittlichen, zerstçrenden Krften gegen uns« (Freud, 1930, S. 434), und schließlich stammt besonders schmerzliches Leiden aus Beziehungen zu anderen Menschen. Als gern verleugnetes Stck Wirklichkeit bezeichnet es Freud, »dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedrftiges Wesen, […] sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mchtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nchste […] eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschdigung auszuntzen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demtigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern, zu tçten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?« (Freud 1930, S. 470 f.).
Kulturentwicklung hat demnach nicht nur die Aufgabe einer mçglichst perfekten Naturbeherrschung mit technischen Mitteln, die den Menschen schließlich selbst zu einer Art »Prothesengott« (Freud, 1930, S. 451) werden lsst, wichtiger noch ist die kulturelle Zhmung der destruktiven Krfte, die die Menschen untereinander entfalten. Diesem Zweck dienen besonders philosophische und religiçse Normen- und Wertsysteme. Sie ermçglichen die Unterdrckung sozial-aggressiver Triebimpulse im Sinne der Bildung eines »Kultur-ber-Ich«, das, eng verklebt mit dem ber-Ich des Individuums, »strenge Idealforderungen aufstellt, deren Nichtbefolgung durch ›Gewissensangst‹ gestraft wird« (Freud, 1930, S. 502). Die kulturelle Einschrnkung des Trieblebens erstreckt sich auch auf die Sexualtriebe, in deren hemmungslosem Ausleben Freud eine die Sozialitt ausschließende, auf die zwischengeschlechtliche Zwei-Personen-Beziehung gerichtete Tendenz sieht. Stattdessen verlangt das kulturell geprgte ber-Ich eine Verwandlung von Triebenergie in die »Bereitschaft zur allgemeinen Menschen- und Weltliebe«, die, wie auch die nicht-inzestuçse Zrtlichkeit innerhalb der Familie, zu den Formen der »zielgehemmte(n) Liebe« (S. 462) zhlt. Der Aufbau der Kultur auf »Triebverzicht« (S. 457) als Preis fr die Abwehr triebhafter Destruktivitt macht den Menschen Freuds Auffassung zu folge
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
33
jedoch nicht glcklich. Vielmehr erzeugt dieser Prozess vor allem da, wo er besonders gelungen erscheint – nmlich in der christlich-abendlndischen Kultur –, ein »Unbehagen« (S. 495) und ist darber hinaus Quelle neurotischen Elends: »Man fand, dass der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste kultureller Ideale auferlegt […]« (Freud, 1930, S. 446).
Freud zweifelte nicht nur an den Fhigkeiten des Individuums, den ihm kulturell auferlegten Triebverzicht ertragen zu kçnnen; mehr noch stellte sich ihm nach den Erfahrungen des ersten Weltkrieges die Frage, ob die Menschheit als ganze der ihr innewohnenden Destruktivitt, die er ab 1920 als Todestrieb metapsychologisch verankerte, Herr werden kçnne, beziehungsweise mit welchem Preis dies verbunden sei. Freud bezieht damit eine Position, die Antisozialitt und Destruktivitt als unverzichtbar zur anthropologischen Ausstattung des Menschen rechnet. Entweder vernichtet sich die Menschheit im gnadenlos-destruktiven Kampf des Jeder-gegen-Jeden, oder sie zahlt als Preis der Triebunterdrckung mit neurotischem Elend und Anhedonie.
Zweiter Exkurs: Die Paradoxie der Rationalisierung bei Max Weber Whrend sich Geisteskrankheiten als Inbegriff der Irrationalitt durch die Schaffung totaler Institutionen (Goffman, 1973) aus der eigenen Lebenswelt ausgrenzen ließen, war die neuentdeckte Nervositt ubiquitr und markierte somit ein Eindringen und eine Persistenz affektuell-irrationaler Aspekte paradoxerweise gerade in die Lebenswelten und Kulturkreise, in denen der Rationalisierungsprozess am weitesten fortgeschritten schien. So notiert der Kraepelin- und Wundt-Schler Willy Hellpach bezeichnenderweise in seiner 1904 erschienenen Monographie ber Hysterie: »Das Wachstum der Stdte, die zunehmende Beweglichkeit des çffentlichen Lebens, eine stattliche Zahl von Rezeptionen fremder Einflsse gestalteten das Bild der Welt bunter und unruhiger. Da aber eine organische Fortbildung […] zu mehr begrifflicher Auffassungs- und Verarbeitungsweise vorerst noch mangelt, so gert das psychische Reagieren in eine gewisse Hast und berstrzung, in ein Bestrztwerden von Eindrcken, die noch alle in ihrer unmittelbaren Frische festgehalten sein mçchten: Eine bermßige apperzeptive Inanspruchnahme des Individuums setzt also ein, sprunghaftes Aufschießen von Ideen, ein Nachlassen der Stilsicherheit, wie man es nennen kçnnte, im
34
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
ganzen Leben, ein Durchbrechen und Abbrçckeln der Gebundenheit und Geschlossenheit an allen Ecken und Enden. Es sind die Geburtswehen des Individualismus, die sich ankndigen« (Hellpach, 1904, S. 484). Die von Hellpach beschriebene Auflçsung traditionaler Bindungen zugunsten stndiger optionaler Neuorientierungen implizierte eine Verstrkung des Zwangs zur Rationalitt, da die gewhlten Optionen nur erfolgreich sein konnten, wenn sie mit geschrftem Realittssinn und Fhigkeit zum logischen Kalkl verbunden waren. An die Beobachtungen Hellpachs knpft die heute gngige These von der allmhlichen Ersetzung affektueller und traditionaler Bindungen durch individuell gewhlte rational begrndete Optionen an. Sie ist eng mit dem Werk Max Webers verknpft. Seine ab 1903 entstandenen Arbeiten zu den methodologischen Grundlagen sozialwissenschaftlicher Handlungstheorie und seine Beschftigung mit den Zusammenhngen zwischen çkonomischer und Wertsphre im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus kulminieren in einer Lehre »von der ber Jahrtausende whrenden, heute ›vollendeten‹ Entzauberung der ›Welt‹, von der Rationalisierung ihrer Ordnungen und von der Intellektualisierung der menschlichen Stellungnahme zu ihnen, aber auch von der Paradoxie dieses Vorgangs, der gerade der modernen Gesellschaft nicht nur ein Steuerungs-, sondern vor allem auch ein ›Sinn‹problem stellt« (Schluchter, 1980, S. 10; Weber, 1903 – 06, 1915). Weber geht davon aus, dass zwar Interessen das menschliche Handeln unmittelbar beherrschen, dass aber durch Ideen geschaffene Weltbilder als Weichensteller oft die Bahnen bestimmen, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegt (Weber, 1920, S. 252; Lepsius, 1986). In seinen Schriften »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« beschreibt er den Prozess der Entwicklung dieser Weltbilder in einer Stufentheorie, die sie nach dem Grad ihrer systematischen Einheitlichkeit und dem Grad ihres Gehaltes an magischen Vorstellungen ordnet (Schluchter, 1980, S. 14 f.; 1988, Bd. 2). Dabei ist fr die Abkehr vom magischen Gçtterkult in der abendlndischen jdisch-christlichen Tradition die Ausarbeitung eines religiçs-dualistischen Weltbildes entscheidend, das der Welt eine von ihr abgegrenzte gçttliche Hinterwelt berordnet. Erst so werden statt des Gotteszwangs im Ritual Vorstellungen von Verehrung, aber auch von Snde, Gewissen und Erlçsung denkbar. Zugleich wird nun aber auch erklrungsbedrftig, wie und weshalb der bermchtige Gott eine unvollkommene Welt geschaffen hat. Auf diese Frage reagieren die Religionsformen mit der Konstruktion von Theodizeen. Als die beiden am konsequentesten durchdachten, gegenlufige Tendenzen verkçrpernden Theodizeen sieht Weber die indische Karman-Lehre, die die Hinterwelt zur bergçttlichkeit der ewigen Ordnung der Welt steigert, und die jdisch-christliche Prdestinationslehre in ihrer Steigerung der Hinterwelt
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
35
zur berweltlichkeit des ewigen Gottes (Schluchter, 1980, S. 21). Lebenspraktisch haben sie zwei Formen des Rationalismus zur Folge: Weltablehnung als Weltflucht einerseits, Weltablehnung als Weltbeherrschung andererseits (S. 24). Die indische Tradition entschrft die in der Theodizee-Problematik angelegte Spannung durch das Festhalten an magischen Elementen. Sie versteht den Heilsweg ontologisch als berwindung der irdischen Vergnglichkeit. Hingegen kommt es in der jdisch-christlichen Interpretation des Dualismus zu einer zunehmenden Verschrfung: Da nicht die Vergnglichkeit, sondern die Sndhaftigkeit des Menschen das Problem darstellt, ist der empirischen Welt letztlich ihr Eigenwert entzogen. Vermittlungsversuche durch die Vorstellung vom Gnadenuniversalismus der Kirche in Verbindung mit der Vorstellung vom Ausgleich der Snden durch gute Taten bringen im mittelalterlichen Katholizismus zumindest fr den Laienstand zunchst noch eine Abschwchung der im Dualismus angelegten Spannung, ehe die Reformation – am konsequentesten bei Calvin – den Weg der Vereinseitigung des dualistischen Theozentrismus kompromisslos zu Ende geht. Der von einem alttestamentarisch verstandenen Gott durch eine unberbrckbare Kluft getrennte Mensch ist ausschließlich zum Werkzeug seines Schçpfers degradiert, der nicht um seiner selbst, sondern allein um Gottes Majestt willen sich selbst und die »kreatrliche Welt« in asketischer Berufsttigkeit zu beherrschen hat (S. 27). Alle magischen Mittel der Heilsuche sind nun als Aberglaube und Frevel verworfen, der religionsgeschichtliche Prozess der Entzauberung der Welt findet zumindest theoretisch seinen Abschluss. Der dadurch bedingten religiçsen Vereinsamung entspricht insofern auch eine weltliche, als – um der Gefahr der Kreaturvergçtterung zu entgehen – die zwischenmenschlichen Beziehungen dem Primat von Sachlichkeit und Distanz untergeordnet werden. Was bleibt ist das »stahlharte Gehuse« (Weber, 1920, S. 204) der entzauberten, an sich sinnlos gewordenen Welt der okzidentalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die dem modernen Berufsmenschen unpersçnliche Distanz, Sachlichkeit und Einordnung vorschreibt. An anderer Stelle konnten wir zeigen, dass sich Weber hier – nicht zuletzt auch autobiographisch motiviert – mit kulturellen und sozialen Hintergrundsbedingungen depressiven Erlebens in modernen Gesellschaften auseinandergesetzt hat (Frommer u. Frommer, 1993; 1997).
Selbstgefhl als Voraussetzung personaler Identitt Unter den prreflexiven Voraussetzungen personaler Identitt sind Selbstgefhl und Selbstbewusstsein, verstanden als Fhigkeit zum »Ich«-Gebrauch, zentral. Dem diese Leistungen erbringenden bewussten Subjekt ist ihre
36
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Konstituierungsdynamik selbst im Falle des Gelingens verborgen (v. Weizscker, 1943). Sie entbirgt sich angstvoll in den schweren, das heißt psychotischen Formen pathologischer Entordnung der Kernbereiche persçnlichen Erlebens, Denkens und Handelns, die – sprachphilosophisch betrachtet – dadurch gekennzeichnet sind, dass aus dem Zerbrechen der Persçnlichkeit auch der Weltbezug zerbricht im Sinne einer Dissolution der Deixis, in der die relationalen sprachlichen Verweisungen versagen, »mittels derer erst einzelne Tatbestnde und Sachverhalte als Identitten gestiftet werden und eindeutig aufeinander Bezug nehmen kçnnen« (Tress, 1987, S. 37). Dem ursprnglichen, die bewusste Reflexion untermauernden Ich-Gefhl hatte Freud bereits 1914 eine eigene Arbeit gewidmet. Hier ging er davon aus, dass die Versuche eines psychoanalytischen Verstndnisses der Schizophrenie ebenso wie Beobachtungen an Kindern und ethnologische Studien die Annahme »eines primren und normalen Narzissmus« (Freud, 1914, S. 139) sttzten im Sinne der »Vorstellung einer ursprnglichen Libidobesetzung des Ichs, von der spter an die Objekte abgegeben wird, die aber, im Grunde genommen, verbleibt und sich zu den Objektbesetzungen verhlt wie der Kçrper eines Protoplasma-Tierchens zu den von ihm ausgeschickten Pseudopodien« (S. 141). Mit der Einfhrung des Narzissmus wird die psychoanalytische Triebtheorie insofern verndert, als der bis dahin geltende Dualismus von Sexualtrieb und Ich-Trieben relativiert wird: Erst das Auftreten der Objektbesetzungen macht diese Unterscheidung mçglich, whrend im narzisstischen Urzustand beide Triebarten ungeschieden sind. Unter den Ursachen, die das Neugeborene veranlassen, den Zustand unbegrenzter Ich-Ausdehnung und Allmacht stufenweise (Ferenczi, 1984) aufzugeben, ist Freud zu Folge die Erfahrung entscheidend, dass manche (innere) Erregungsquellen jederzeit Empfindungen erzeugen kçnnen, whrend andere – »darunter das Begehrteste: die Mutterbrust« (Freud, 1930, S. 424) – sich zeitweise entziehen. Durch diese Erfahrung und durch »die hufigen, vielfltigen, unvermeidlichen Schmerz- und Unlustempfindungen« (Freud, 1930, S. 424) beginnt das unreife Ich, alles was als Quelle von Unlust erscheint, von sich abzusondern, »es nach außen zu werfen, ein reines Lust-Ich zu bilden, dem ein fremdes drohendes Draußen gegenbersteht« (S. 424). Freud sieht in diesem Entwicklungsprozess nicht nur die Anfnge des Realittsprinzips, sondern – wie er an anderer Stelle erlutert – auch die Wurzeln des Hasses. Die Bildung von Objektreprsentanzen und die Zuschreibung von Unlust zu einer bestimmten Quelle sind fr ihn aufs engste gekoppelt: »Der Hass ist als Relation zum Objekt lter als die Liebe, er entspringt der uranfnglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzisstischen Ichs« (Freud, 1915, S. 231).
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
37
Freuds These des primr traumatischen Charakters der Welterfahrung (Frommer u. Tress, 1993; 1998) ist spter innerhalb der Psychoanalyse entschieden widersprochen worden. Die Analyse frhkindlicher Objektbeziehungen fhrte Autoren wie Michael Balint in den Bereich vorsprachlicher Erfahrung und Beziehungsgestaltung. Hier herrscht Balint zufolge nicht die Drei-Personen-Dynamik der çdipalen Situation, sondern die innige ZweiPersonen-Dyade von Mutter und Kind beziehungsweise primren Objekt, im Normalfall gekennzeichnet durch das »gute, zrtliche Einvernehmen zwischen dem Kind und den es umgebenden Erwachsenen« (Balint, 1935, S. 61). Anders als fr Freud ist fr Balint die Liebe zum mtterlich sorgenden Objekt primr, erklrungsbedrftig ist fr ihn vielmehr das klinische Phnomen des Narzissmus: »Was man klinisch zu sehen bekommt, ist immer nur der sekundre Narzissmus und auch dieser vermengt mit Resten einer verstmmelten Objektliebe« (Balint, 1937, S. 112).
Nur dem Schein nach zeigen die klinischen Phnomene des sekundren Narzissmus (Schizophrenie, Sucht, Persçnlichkeitsstçrungen) auf der Ebene der Grundstçrung ein Rckzug von der Welt, in Wirklichkeit handelt es sich um eine abhngige »impotente omnipotence« (Balint, 1959, S. 65). Und so kommt der spte Balint zu dem Schluss, »dass es in Wirklichkeit gar keine echt narzisstischen Menschen gibt. Der Narzisst ist in Wirklichkeit unerhçrt anhngig« (Balint, 1970, S. 68). Im Gegensatz zu Freud geht Balint also von einer primr positiven Bezogenheit des Menschen zur Welt aus. Die am Anfang der Individuation stehende Verschrnkung zwischen Mutter und Kind wird »durch unsere Kultur viel zu frh zerrissen. Daraus resultieren unter anderen die so wichtigen Anklammerungstendenzen, aber auch die allgemeine Unzufriedenheit, die unersttliche Gier unserer Kinder« (Balint, 1937, S. 106 f.). Auch der Hass hat fr Balint andere Wurzeln als fr Freud. Es handelt sich bei diesem Affekt nicht um eine quasi unvermeidliche Begleiterscheinung der Einfhrung erster Vorlufer des Realittsprinzips, vielmehr zeigt sich der Hass in der psychoanalytischen Behandlung immer »als die Folge einer Liebesversagung« (Balint, 1951, S. 161). Seiner Auffassung zu Folge ist er »der letzte berrest und zugleich die Verleugnung und Abwehr der urtmlichen Objektliebe« (S. 160). In Balints Diktum: »Man wird schlecht durch Leiden« (Balint, 1935, S. 66) schlgt der psychoanalytische Kulturpessimismus Freuds um in harsche Kulturkritik. Whrend bei Freud die Traumatisierung des Menschen in der Alternative von natrlicher Destruktivitt und neurotischer Triebhemmung nahezu unvermeidlich erscheint, ist diese Traumatisierung fr Balint stets Auswirkung und Folge konkreter gesellschaftlich bedingter zwischenmenschlicher Umgangsweisen.
38
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Selbstbewusstsein als Voraussetzung personaler Identitt Die von der betreffenden Person selbst nicht steuerbare pathologische Reaktivierung primr narzisstischer Erlebnisformen (im Sinne von Freud) beziehungsweise frher traumatischer Beziehungserfahrungen (im Sinne von Balint) weist neben den beschriebenen affektiven Aspekten (Selbstgefhl) auch kognitive Aspekte auf, die die Fhigkeit zur Reflexivitt betreffen (Selbstbewusstsein). Diese lassen sich am Beispiel schizophrener Psychopathologie erlutern. Entwicklungspsychologisch argumentierende Autoren wie beispielsweise Luc Ciompi (1982) bei seinem psychoanalytisch inspirierten Syntheseversuch von Systemtheorie und Gedankengut Piagets (1978) haben die Auffassung vertreten, dass das schizophrene Erleben gekennzeichnet ist durch die Regression auf ein phylo- und ontogenetisch gegenber dem gesunden Erwachsenenbewusstsein frher anzusiedelndes subjektivistischegozentrisches Selbst- und Weltverhltnis. Als Ursache nicht nur megaloman gefrbter Wahnideen, sondern auch krankheitstypischer Entgrenzungsphnomene erscheint aus dieser Sicht die Unfhigkeit des Schizophrenen, die Außenperspektive nachzuvollziehen, sich selbst objektiv, das heißt als Person wie jede andere zu sehen. Damit verliert der Kranke die Fhigkeit zum nachvollziehbaren Gebrauch von intentionalen Zuschreibungen, das heißt zum Erkennen der Motive und Absichten von Kommunikationspartnern. Zugleich wird es fr den psychisch gesunden Kommunikationspartner unmçglich, das sprachliche und nicht-sprachliche Handeln der erkrankten Person aus der Außenperspektive zutreffend intentional zu deuten (Tress, 1987). In Modifikation der Regressionshypothese geht die eigene Position nicht davon aus, dass die egozentrische Selbst- und Weltsicht in einem Dezentrierungsvorgang vollstndig einer allozentrischen weicht, sondern konstitutiver Bestandteil auch des natrlichen Selbstverstndnisses gesunder Erwachsener bleibt. Dies ergibt sich aus der an psychodynamische, phnomenologische, gestalt- und strukturpsychologische Traditionen anknpfenden Analyse der Grundstruktur menschlichen Erlebens, die eine ursprngliche Doppelung offenbart: zum einen ist dieses Erleben mit der Erfahrung eigener Verfgung ber die Erlebnisinhalte einhergehendes aktives Formieren eines psychischen Feldes, andererseits insofern auch gelebte Situation, als im Erleben Menschen und Dinge als eigenstndiges Gegenber auftreten, als Widerstand, ber den nicht verfgt werden kann (Janzarik, 1987). Wendet man sich der formalen Struktur des diese in sich widersprchliche Erfahrung reflektierenden Selbsterlebens zu, so stçßt man auf zunchst unberwindlich scheinende konzeptuelle Unklarheiten, Zirkelschlsse und Widersprche, deren gemeinsame Wurzel zu suchen ist in der »Verfhrung, Bewusstsein nach dem
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
39
Modell der Reflexion auszulegen« (Henrich, 1970, S. 274). Erklrt man Bewusstsein diesem Modell entsprechend als Selbstbeziehung eines Subjekts, so kann man letztlich nicht vermeiden, diesem Subjekt zuzugestehen, bereits vor dem Reflexionsakt Kenntnis von sich zu haben. Damit wird die Erklrung jedoch redundant. Von verschiedenen Autoren (Henrich, 1967; 1970; Cramer, 1974; Pothast, 1968; Tugendhat, 1979) ist das Scheitern der klassischen bewusstseins- und selbstbewusstseinstheoretischen Anstze an diesem Grundproblem gezeigt worden. Als Ausweg aus diesem formalen und begriffslogischen Dilemma schlgt Henrich die Annahme eines konstitutiven Grundverhltnisses in der Struktur menschlicher Identitt vor: »Ein Wesen, das Selbstbewusstsein hat, muss sich aber von der Struktur dieses Bewusstseins her immer in einer doppelten Relation verstehen: als einer unter vielen und als einer gegenber allem. Insofern der selbstbewusste Mensch einer unter anderen ist, ist er ›Person‹. Er weiß sich zu unterscheiden von allen anderen, weiß aber auch, dass er wie sie in die gemeinsame Welt gehçrt, – dass er als Person ein Lebewesen ist und einen Platz unter allen Weltdingen hat. In einer anderen Hinsicht ist aber jedes selbstbewusste Wesen radikaler und von allem unterschieden, von dem es weiß. Es greift ber die Welt als ganze aus und findet, was immer es in ihr denkt oder antrifft, in derselben Korrelation zu dem Einen, das es ist, insofern es von sich weiß. Die Welt ist ihm der Inbegriff dessen, was es berhaupt denken und antreffen kann. In diesem Sinn ist jeder Mensch nicht nur Person, sondern ebenso ›Subjekt‹« (Henrich, 1982a, S. 20 f.).
Keine dieser beiden gegenlufigen Perspektiven des Grundverhltnisses im Welt- und Selbstverstehen lsst sich unter die andere subsumieren oder auf die andere reduzieren. Bewusstes Leben verwirklicht sich in einer lebenslangen Deutungsdynamik des Selbstbewusstseins, die insofern als Selbsterhaltung zu verstehen ist, als beide Tendenzen in einem notwendigen aktiven selbstinterpretativen Prozess zum Ausgleich zu bringen sind, der als Voraussetzung einer gelungenen Identittsbildung zu betrachten ist (Plessner, 1975; Henrich, 1982a; 1987). Diese Einsicht lsst sich auch vor dem Hintergrund eines rein sprachanalytischen Zugangs begrnden, der den Begriff »Ich« als Gegenstand wissenschaftlich-philosophischer Untersuchung wegen seiner Vieldeutigkeit grundstzlich ablehnt und stattdessen von der Verwendung des Wçrtchens »ich« in seiner alltagssprachlichen Bedeutung ausgeht. Im Kontext dieser Tradition hat CastaÇeda gezeigt, dass sich »ich« im Gegensatz zu anderen Personalpronomina nicht nur dadurch auszeichnet, dass bei seiner sinnvollen Verwendung ausgeschlossen ist, dass die gemeinte Entitt nicht existiert, sondern darber hinaus eine Reduktion auf andere deiktische Ausdrcke unmçglich ist (CastaÇeda, 1988; 1989; Pape u. Leisinger, 1988). Tugendhat
40
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
spricht deshalb von einer epistemischen Asymmetrie gegenber der Perspektive der dritten Person (»er«), der eine notwendige veritative Symmetrie (Tugendhat, 1979, S. 89) korrespondiert. Radikalisiert man diese Einsicht ber die von Tugendhat vorgenommene einseitige Vermittlung zugunsten der veritativen Symmetrie hinaus, so zeigt sich auch in der Verwendung von »ich« eine ursprngliche Doppelung der Bedeutung: Indem »ich« den Personalpronomen »er« und »du« korreliert ist, sondert es den, der es gebraucht, als raumzeitlich identifizierbare Person unter Personen aus; indem »ich« aber der dritten Person neutrum »es« korreliert ist, bezeichnet es ein Subjekt unter allen Entitten berhaupt als eines, das ohne Bezugnahme auf sein Identifiziert-werden im sozialen Prozess in der Lage ist, sich ber die Stadien seiner Entwicklung durchzuhalten (Henrich, 1982b, S. 134 ff.). Fr das Verstndnis der Stçrungen des Selbsterlebens Schizophrener bedeutet dies, dass die Kranken in ihrem Versuch scheitern, die Spannung zwischen Personsein und Subjektsein in einer konsistenten Selbst- und Weltdeutung zum Ausgleich zu bringen. Personsein und Subjektsein sind gespalten, die Existenz ist zerrissen in die im Grçßenwahn kulminierende Vorstellung, Mittelpunkt des Weltgeschehens zu sein und die zugleich bestehende, in den katatonen Echo-Phnomenen in grotesker Weise am deutlichsten zum Ausdruck kommende Einengung auf die bedingungslose Fremdbestimmtheit. Diese Stçrung im Grundverhltnis bedeutet ein unvermitteltes Zugleich-Existieren beider Perspektiven beim Schizophrenen. Die im gelingenden Selbstdeutungsprozess selbstverstndlich scheinende unbemerkt nebenbei geleistete Synthese wird zum Thema und Problem. Gelingt es dem Kranken aufgrund dieser Grundverhltnisstçrung nicht mehr durchgngig, sich selbst auch aus der Perspektive des Du, das heißt als Person zu begreifen, so ist nicht nur seine Kompetenz in der Rolle des Dialogpartners gefhrdet, sondern – wie gezeigt – auch seine Fhigkeit zur Verfassung monologischer Texte (Frommer, 1993). Bezglich der neben biologischen Vulnerabilitten zu bercksichtigenden psychosozialen Ursachen der Grundverhltnisstçrung sind vor allem die eine Symbolisierungsstçrung fçrdernden Pathologika der frhkindlichen Mutter-Kind- beziehungsweise Mutter-KindVater-Beziehung und der Familiendynamik zu nennen. Daneben sind auch diejenigen spteren Einflsse zu beachten, die die Entwicklung einer konsistenten Selbstdeutung im Spannungsverhltnis von Subjektsein und Personsein verunmçglichen und so die subjektive Biographie der in die Psychose mndenden exzentrischen Bahn (Frommer, 1993; 1995; Frommer u. Tress, 1998; 1992; Tress, Pfaffenberger u. Frommer, 1984) bestimmen. Zu denken ist an Erfahrungen, die Personsein und Subjektsein nur als instabiles EntwederOder zulassen, Erfahrungen, die die Verweigerung von Auseinandersetzung mit in gelebten Situationen auftretenden Widerstnden und damit verbundene Allmachtsphantasien ebenso fçrdern wie ohnmchtiges Ausgeliefertsein
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
41
gegenber leid- und schuldgefhlbelasteten Erlebnissen. Die Auswirkungen derartiger Erfahrungen auf eine durch biologische und frhe biographische Einflsse labilisierte Deutungsdynamik des Selbstbewusstseins sind kasuistisch aufzudecken und in ihrer biographischen Gestalt idealtypisch zu beschreiben. Sie bilden den Ansatzpunkt fr die psychotherapeutische Arbeit mit Schizophrenen (Benedetti, 1987; Blankenburg, 1988).
Narrative Selbstkonstituierung personaler Identitt und Selbstkonzept Das von Freud, Weber, Hellpach und anderen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgearbeitete Spannungsverhltnis zwischen biologisch determinierten Triebansprchen und kulturell verankerten Wert- und Normsystemen stellt ebenso wie das Selbstgefhl und das Selbstbewusstsein eine der konstitutiven Bedingungen personaler Identitt dar und lsst zugleich deutlich werden, »dass keine Person ihre Identitt von Geburt an und im weiteren Verlauf ihres Daseins einfach besitzt. Sie muss vielmehr erworben und, unter den spezifischen Anforderungen, die kçrperliche, psychosexuelle und psychosoziale Entwicklungen sowie mannigfache kontingente Erfahrungen mit sich bringen, erhalten werden. Die dafr notwendigen Leistungen sind ohne die Fhigkeit zum Symbolgebrauch, letztlich ohne die kommunikativen Mçglichkeiten, die die menschliche Sprache bietet, nicht denkbar. Wie auch immer die Identittsbildung auf der Leiblichkeit des Menschen, auf vorsprachlichen und prreflexiven Momenten des Selbst- und Weltverhltnisses eines Subjekts aufruht (und ohne diese auch nicht auskommt), kann personale Identitt in den entscheidenden Hinsichten als stets nur vorlufiges, zerbrechliches Resultat der kommunikativen Verstndigung eines Menschen mit sich und anderen angesehen werden, als Ergebnis einer in den Vollzug der sozialen Praxis eingelassenen Verstndigung zumal, in der die Sprache eine herausragende Rolle spielt« (Straub, 2000, S. 170 f.).
Eingedenk dieser sowohl die narrative Dimension der Kontinuitt und Kohrenz von Identitt als auch den Aspekt aktiver Selbstkonstituierung in den Mittelpunkt rckenden Definition wird nachfolgend im Anschluss an Erikson (1982) personale Identitt verstanden als ein die gesamte Lebensspanne begleitender psychosozialer Entwicklungsprozess, der die krisengeprgte Bewltigung lebensabschnittstypischer Schwellensituationen beinhaltet. Innerhalb der psychoanalytischen Literatur wurde die Fruchtbarkeit des Identittskonzepts in den vergangenen Jahren zunehmend entdeckt. Es ergnzt in diesem Zusammenhang narzissmustheoretische und Ich-psycholo-
42
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
gische Anstze, indem personale Identitt verstanden wird als ein gratwanderungsgleicher Balanceakt zwischen biologisch (mit)determinierter Triebgewalt einerseits und soziokultureller Werte- und Normenprgung andererseits. Dem auf das in seinen Wurzeln durch die fein abgestimmten interaktiven Regulationen zwischen Mutter und Kind geprgten Selbstgefhl aufbauenden Selbstbewusstsein oder reflexiven Selbst (Bohleber, 1992; 1997) fllt in diesem Kontext die Aufgabe zu, lebenslang oder doch zumindest ber Lebensperioden hinweg stabile und kohrente Deutungsmuster im Sinne eines Selbstkonzepts zu entwickeln und praktisch in narrativen Selbstverstndigungsprozessen zu implementieren, die einerseits in ausreichendem Maße die Befriedigung triebhafter Bedrfnisse ermçglichen und andererseits sich als anschlussfhig und kompatibel erweisen mssen mit den innerhalb einer historischen Epoche dominierenden kulturellen Werten und sozialen Normen. Das tgliche Brot klinisch-psychoanalytischer Arbeit ist die Beschftigung mit den zahlreichen Formen des Fehlgehens dieses Balanceaktes, entweder in Form des Durchbruchs unsozialisierter und unintegrierter Triebgewalt, wie dies beispielsweise im Angstanfall oder im Impulskontrollverlust geschieht, oder aber in der Form des bergewichts verinnerlichter soziokulturell normierter Deutungsmuster und Verhaltensregeln, beispielsweise in den unterschiedlichen Formen depressiver psychischer Verarbeitung (Frommer, 1996; 2003a). Die identittsbildenden biographischen Verinnerlichungsprozesse individueller Normen und Werte sind nicht nur durch gesellschaftliche, sondern daneben auch durch sozial modulierte anthropologische Grundvorgaben der conditio humana geprgt. Trennung aus der symbiotischen versorgenden Ureinheit und lebenslanges vergebliches Streben nach der Rckkehr in sie, Erwerb von selbstndiger Handlungskompetenz und zunehmender Kontrolle ber die eigenen Lebensbedingungen, Gewinnung der Geschlechtsidentitt und Auseinandersetzung mit Altern und Tod sind Themen, mit denen sich auseinander zu setzen keinem bewussten Lebewesen erspart bleibt. Die in den Selbstkonzepten beziehungsweise Lebensdeutungen implizit oder explizit reprsentierten Muster der Bewltigung dieser und anderer Fragen sind kulturell und gesellschaftlich geprgt. Sie sind abhngig von historischen Epochen und deren Umbrchen. Sie schlagen sich nieder in individuellen, privaten und persçnlichen, aber auch in kollektiven berzeugungen, Selbstverstndlichkeiten und Gewohnheiten. Die entsprechenden Muster sind nur zum Teil bewusst, zum Teil aber sind sie auch vorbewusst, habitualisiert und unbewusst. Sie sind daher nicht durchgngig rational strukturiert, sondern sehr stark abhngig von Emotionen und inneren Triebkrften. Vor allem die neuere sozialpsychologische Forschung hat dabei przisierend herausgearbeitet, dass bei den durch Identittsdiffusion gekennzeichneten Entwicklungskrisen, wie wir sie insbesondere in der Adoleszenz er-
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
43
leben, normalpsychologisch gesunde und pathologische Formen unterschieden werden kçnnen. So unterscheidet Marcia (1989) ein Spektrum zwischen der fr Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen typischen »Fragmentation des Selbst« (self-fragmentation) und der durch Einzelgngertum charakterisierten »gestçrten Identittsdiffusion« (disturbed Identity Diffusion) einerseits sowie den normalpsychologischen Formen der »kulturell-adaptiven Diffusion« (culturally adaptive Identity Diffusion) und der »Entwicklungsdiffusion« (developmental Diffusion) auf der anderen Seite. Als bergangsform zwischen gesunden und pathologischen Formen beschreibt Marcia die »sorglose Diffusion«(carefree Diffusion) als ein durch Ziellosigkeit und innere Leere gekennzeichnetes Moratorium im Verlauf der Adoleszenz. Diese von Marcia vorgeschlagene dimensionale Betrachtungsweise ermçglicht komplexe Entwicklungsmodelle, die es erlauben, biologische, frhe biographische und adoleszente Voraussetzungen der Identittsentwicklung zueinander in Beziehung zu setzen. Bei der Bewltigung adoleszenter Entwicklungskrisen entscheidet dieser Betrachtungsweise zufolge das durch die frhe Primrsozialisation geprgte Integrationsniveau der Identitt ber den Erfolg und das heißt darber, ob eine echte diachrone und synchrone Integration von Identittsanteilen stattfinden kann. Im Gegensatz zu reifen Persçnlichkeiten mit ausreichend integrierter Identittsbildung in der Kindheit finden sich bei Personen, die in der Adoleszenz schwere Persçnlichkeitsstçrungen (Kernberg, 1991) ausbilden, regelmßig schwere frhe Traumatisierungen, beispielsweise durch Vernachlssigung, Gewalt oder Missbrauch. Dadurch werden soziale Lernprozesse, die dazu fhren, dass kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Werte und Normen eine einheitliche intrapsychische Reprsentanz bilden, erheblich behindert oder sogar weitgehend verunmçglicht. Dies hat zur Folge, dass Erleben und Handlungssteuerung von heterogenen Identittsfragmenten und nur mangelhaft kontrollierten dynamischen Bestnden beherrscht werden. Identitt und Kompetenzgefhl bezglich der eigenen Identittsentwicklung sind labil. Selbstwertgefhl und narzisstische Regulation mssen durch Ausblendung und Abschottung gegenber inkompatiblen Aspekten ußerer Realitt und gegenber unintegrierbaren innerseelischer Reprsentanzen stabilisiert werden. Ist dies aber der Fall, so droht die Bewltigung der durch biographische Schwellensituationen und gesellschaftliche Vernderungsdynamiken bedingten spteren Krisen zu scheitern. Diese fhren dann nicht oder nur ungengend zu einer Weiterentwicklung der Identitt auf ein schließlich hçheres – zunchst widersprchlich erscheinende Orientierungen und Handlungsdispositionen integrierendes – Niveau. Vielmehr bleiben bisherige Identittsbestnde und neu zu integrierende Erfahrungen disparat. Die Auseinandersetzung mit neu aufgetretenen Inhalten beschrnkt sich dann hufig darauf, dass diese entweder hyperkritisch abgewehrt, auf andere Personen, Personengruppen-
44
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
gruppen und soziale Welten projiziert und dort bekmpft werden; oder aber die Auseinandersetzung beschrnkt sich darauf, dass die neuen Inhalte unkritisch bernommen werden, ohne dass eine wirkliche Integration stattfindet und somit bernommene Identitt einerseits und erarbeitete Identitt andererseits (Marcia, 1993; Haußer, 1997) in ein die Identitt destabilisierendes – und im Sinne eines circulus vitiosus neue Vernderungsdynamik provozierendes – Spannungsverhltnis geraten.
Risiken personaler Identittsentwicklung in der Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts Den hochdifferenzierten westlichen Gesellschaften unserer Zeit wird in diesem Sinne ber die bereits beschriebenen Krisenphnomene hinaus heute eine Identittskrise attestiert, in deren Zentrum sich Phnomene finden, die eng mit den Grenzlinien zwischen çffentlicher und privater Lebenssphre zusammenhngen. Kultursoziologisch verstanden ist ffentlichkeit im emphatischen Sinne des Wortes Inbegriff der brgerlichen Kultur (Tenbruck, 1986). Ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Entfaltung beruhte in hohem Maß auf der Entwicklung der Stdte, in denen neben der Familiensphre ein Raum entstand, der dem Schaffen und der Erzeugung von Waren, Ordnungen und Werten diente. Quasi semipermeabel von der Intimitt des Privatlebens getrennt und mit dieser hinsichtlich der Bedeutung fr die Lebensfhrung ausbalanciert, entstand die Wrde einer ffentlichkeit, die sich in Theatern, brgerlichen Reprsentationsbauten und Produktionssttten baulich manifestierte und mit bestimmten Regeln des sozialen Umgangs gekoppelt war. Begriffe wie Publikum, Hçflichkeit, Mode, Flanieren etc. stehen fr einen Lebensbereich, in dem sich bis dato Unbekannte unterschiedlicher Herkunft, Interessenlage und Begabung begegnen konnten und sich aus dieser – nach den Regeln des »Anstands« nur formal strukturierten – Begegnung ein in hohem Maße kreatives Potential entfalten konnte. Vor allem die alten sdeuropischen Stdte, in denen die çffentliche Kultur entstand, lassen dies heute noch spren. Die staatliche Herrschergewalt gibt diese Sphre nicht vor und strukturiert sie auch nur in formaler Hinsicht. Inhaltlich ist jeder Brger selbst verantwortlich fr das, was er alleine oder zusammen mit anderen im çffentlichen Raum schafft. Die Hauptthese Richard Sennetts ist in diesem Zusammenhang, dass die Kultur der ffentlichkeit in unserem Jahrhundert einem zunehmenden Verfall preisgegeben ist. Ihr Absterben bringt Sennett mit einer Zunahme narzisstischer Selbstbezogenheit in Verbindung, die sich schließlich zu einer Tyrannei der Intimitt steigert. Die kosmopolitische
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
45
Sphre çffentlichen Austausches verkmmert zunehmend zur narzisstischen Pseudobeziehung, zum »Tauschhandel mit Intimitten« und einem durch Langeweile geprgten »Markt gegenseitiger Selbstoffenbarungen« (Sennett, 1983, S. 24). Sennett schließt sich mit seiner pessimistischen Zeitdiagnose an die Autoren der Frankfurter Schule an, die bereits in den 1960er Jahren die Auffassung vertraten, dass das in der brgerlichen Gesellschaft entfaltete »unersttliche Identittsprinzip« (Adorno, 1966, S. 144) kaum mehr als eine ideologische Zwangsgestalt darstelle. Die die moderne Gesellschaft beherrschende technische Rationalitt und die sie bestimmende Logik des Tausches habe das steuernde und die Richtung bestimmende Subjekt lngst berflssig gemacht und zu einem »evidenten Verfall von Individualitt« (S. 342) gefhrt. In Wirklichkeit bedrften die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse »kaum mehr der vermittelnden Agenturen von Ich und Individualitt«. Sie strebten einer totalen Rationalisierung zu, die keine Nischen mehr zulasse, »in denen eine nicht gesellschaftlich prparierte, irgend unabhngige Subjektivitt sich verstecken kçnnte« (Adorno, 1970, S. 51). Sozialpsychologisch betrachtet nehmen großstdtische Lebensformen zu, gekennzeichnet durch soziale Netzwerke, »die groß sind, mehr schwache Bindungen beinhalten, eine geringe Dichte, hohe Dispersion und geringe Homogenitt aufweisen« (Keupp, 1989, S. 55). Diese Netzwerke erhalten bei den Betroffenen eher eine »dezentralisierte« »Patchworkidentitt« (S. 64) aufrecht, gekennzeichnet durch hohe Komplexitt und Offenheit fr Vernderung. Fr eine große Zahl junger Erwachsener zeichnet sich unter diesen Bedingungen »kein Ende des Moratoriums ab, sie kçnnen also im Sinne von Erikson nicht erwachsen werden« (S. 59). Noch weitergehend formuliert Welsch einen neuen, durch Pluralitt gekennzeichneten Typus von Subjektivitt als zentralen Begriff der Postmoderne. Pluralitt und Heterogenitt von Lebensformen, Orientierungsweisen und Sinnzusammenhngen existiert nach seiner Auffassung »nicht mehr nur zwischen den Kulturen, sondern bereits innerhalb ihrer. Die Einsicht in die Faktizitt, Legitimitt und Unberschreitbarkeit dieser unterschiedlichen sozialen und kulturellen Formen (mitsamt ihrer Konflikthaftigkeit) prgt das postmoderne Bewusstsein« (Welsch, 1991, S. 351). Unter den Bedingungen objektiver Pluralitt muss, so Welsch weiter, das Leben der Subjekte selbst eine Pluralitt entwickeln, die bis hinein in grundlegende Sinnfragen reicht. »Innere Pluralittskompetenz«, bezogen auf identittsstiftende Lebensentwrfe, bedeutet fr Welsch, dass das Subjekt »in sich mehrere solcher Entwrfe zu durchlaufen, zu konstellieren, zu verbinden vermag« (S. 352). Damit steht fr ihn die Frage im Raum, ob Subjekte unter den Lebensbedingungen der Postmoderne nicht »angesichts der pluralen Wirklichkeit mehr als schizophren«, nmlich »polyphren« werden mssen (S. 358). Sie sind dann nicht
46
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
mehr und nicht weniger als die sthetische Inszenierung von »Sequenzen eines Selbst, dem keine angebbare Identitt mehr zugrunde liegt und das in seinen verschiedenen Szenen und Rollen nicht etwa den Facettenreichtum einer Person, sondern den bergang von einer Identitt zur anderen demonstriert« (S. 355). Andere Autoren wie etwa Kenneth Gergen mit seinem Begriff des »bersttigten Selbst« (1996), haben hnliche Vorschlge unterbreitet wie Wolfgang Welsch. Jrgen Straub bemerkt in einer kritischen Arbeit zu diesen Entwrfen, dass sie zum einen nur mangelhaft empirisch, beispielsweise durch qualitative biographieanalytische Studien, begrndet, und zum anderen begrifflich unklar und in der Verwendung des Identittsbegriffs changierend sind, indem sie dem postmodernen Selbst einerseits Aspekte zuschreiben, die dem psychopathologischen Diskurs entnommen sind und schwere psychische Stçrungen beschreiben, und andererseits die Struktur dieses Selbst so fassen, »dass sich alle (angeblich dramatischen) Unterschiede gegenber modernen Konzeptionen personaler Identitt schon beim zweiten Hinsehen verflchtigen« (Straub, 2000, S. 187). Dennoch bleibt die Frage mçglicher spezifischer Risiken der Identittsentwicklung in hochdifferenzierten Gesellschaften auch dann virulent, wenn das Identittskonzept als solches nicht vorschnell zur Disposition gestellt wird.
Die psychopathologische Wertigkeit von Risiken der individuellen Identittsentwicklung im Zeitalter der Globalisierung Fassen wir an dieser Stelle zu einem vorlufigen Fazit zusammen: Der Diskurs ber die Gefhrdungen des Selbst in der brgerlichen Gesellschaft hat in der jngeren Vergangenheit nicht nur Prozesse einer Auflçsung traditionaler Verbindungen und zunehmenden Individualisierung bei gleichzeitigem sich zuspitzendem Zwang zu funktionalem und rationalem Handeln beschrieben, sondern gleichzeitig auch gegenlufige Prozesse im Sinne unbeendeter adoleszenter Moratorien, verbunden mit Identittsdiffusion und der Entwicklung von Patchworkidentitten bis hin zu einer Auflçsung individueller Identitt. Uns interessieren in diesem Zusammenhang Differenzen und Konvergenzen zwischen dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs ber personale Identitt in hochkomplexen, durch Individualisierung und Globalisierung gekennzeichneten sozialen Welten und Gesellschaften einerseits und dem psychopathologischen und psychoanalytischen Diskurs ber psychische Stçrungen und ihre psychosozialen Verursachungszusammenhnge andererseits.
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
47
Der Betrachtung wird dabei eine systematische Aufteilung der Identittsproblematik in drei Aspekte zugrundegelegt, wobei die ersten beiden eng miteinander verflochtenen Aspekte eher formale Voraussetzungen betreffen, whrend der dritte Aspekt Identitt von den psychosozialen Inhalten her erfasst. Die drei Aspekte sind im einzelnen: (1) basales impressives Selbstgewahren und Selbstgefhl, (2) intentional gerichtetes reflexives Selbstbewusstsein und (3) psychosozial verankerte personale Identittsentwicklung. Diesen Teilaspekten entsprechen unterschiedliche Formen psychopathologischer Stçrungen. Einer vçlligen Fragmentierung von Selbstgefhl und Selbstbewusstsein entsprechen schizophrene Psychosen. Bei diesen Stçrungen scheitert in basaler Weise und weitgehend ohne intentionale Einflussnahmemçglichkeit durch den Betroffenen die Schaffung der Voraussetzungen fr eine kontinuierliche und kohrente psychosoziale Identitt im Sinne einer subjektiv erinnerten und aktiv konstituierten Lebensbahn, getragen durch die Aufgabe, mittels adquater Selbst- und Weltdeutungen das Spannungsverhltnis zwischen Person- und Subjektperspektive zum Ausgleich zu bringen. Die hieraus resultierenden Erlebnisformen, Leidenszustnde und Verhaltensweisen sind dramatisch und in ihren biographischen und sozialen Folgen fr den Betreffenden prekr. Meines Erachtens kommt es innerhalb der Postmoderne-Debatte einem Kategorienfehler gleich, die Notwendigkeit zur erhçhten Bewltigung komplexer, vielschichtiger und durch raschen Wandel gekennzeichneter Lebenssituationen im Erwachsenenalter mit Begriffen in Verbindung zu bringen, die eine psychotische Entordnung der Identitt indizieren. Gemeint sind in dieser Debatte vielmehr Alterationen der Selbstgefhl und reflexives Selbstbewusstsein voraussetzenden psychosozialen Identitt. Stçrungen dieser Art wurden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Neurosen beschrieben. Sie sind hinsichtlich Form und Inhalt abhngig von historischen und sozialen Bedingungen, beispielsweise im Sinne der beschriebenen Zunahme von Triebhemmung und Bevorzugung von Intimformen psychischen Leidens in modernen Gesellschaften. Psychopathologische Stçrungen sind unter Begriffen wie »Neurasthenie«, »Nervositt« und »Depression« in diesem Kontext als Konsequenz der Hemmung vitaler Triebbefriedigung durch verinnerlichten gesellschaftlich auferlegten Verzicht interpretiert worden. Vor allem Freuds Verdienst war es zu zeigen, dass ihre Entstehung zweizeitig verluft: Ein ungelçster, traumatisch verarbeiteter Konflikt zwischen biologisch verwurzelten Triebimpulsen und sozialen Norm- und Wertvorstellungen in den frhen kindlichen Phasen der Identittsentwicklung erzeugt eine Vulnerabilitt, und die Auslçsung der den intrapsychischen Konflikt symbolisch reprsentierenden Symptome erfolgt dann durch konfliktspezifische Lebensereignisse im Erwachsenenalter, die die psychische Integrationskraft des Individuums berfordern. Eine gesunde Bewltigung hoher Vernderungsdynamik der Lebensbedin-
48
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
gungen im Erwachsenenalter setzt also eine gelungene Lçsung der kindlichen Entwicklungskonflikte voraus. Ist diese Voraussetzung gegeben, so beschrnkt sich die Pathologie der Bewltigung postmoderner Rasanz auf Akkulturationskrisen. Hierbei handelt es sich um die durch die neuen Erfahrungen angestoßenen mehr oder weniger kulturell adaptierten Formen der Identittsdiffusion, die gekennzeichnet sind durch Stress, Verlust- und Ablehnungsgefhle, Verwirrung, berraschung, Angst, Empçrung und Ohnmachtgefhle (Oberg, 1960). Diese Krisen sind allerdings unter den Bedingungen der Postmoderne nicht nur beim Wechsel von einer Kultur in eine andere zu gewrtigen, sondern auch beim Wechsel zwischen hochheterogenen Subkulturen innerhalb eines – der Globalisierung zustrebenden – Kulturraums und schließlich auch bei dem Sonderfall dramatischer Modernisierungsumbrche wie beispielsweise der politischen Wende in Deutschland 1989. Sie sind gekennzeichnet durch einen phasenhaften Ablauf, dessen Grundstruktur durch eine identittssichernde Dynamik geprgt wird. Das bedeutet aber, dass neuen Erfahrungen zunchst mit psychischer Abwehr begegnet werden muss: Sie erhlt die Funktion einer Projektionsflche. Diese Abwehr kann beispielsweise anale und paranoide Zge tragen, dann erscheint das Neue als gefhrlich und bedrohend und der erste Impuls, auf dieses Neue zu reagieren, besteht in Unterwerfung und Kontrolle. Oder aber die Abwehr ist beispielsweise narzisstisch, geprgt durch eine initiale unrealistische Idealisierung. In jedem Fall aber bleibt das Neue zunchst fremd und kann nur stufenweise psychisch »verdaut« und in die eigene Identitt integriert werden (Frommer, 2000; 2003b). Deutlich wird damit, dass die den Prozessen der Identittsdiffusion entgegengerichtete Identittsarbeit (Straus u. Hçfer, 1997) unter diesen Bedingungen zum unverzichtbaren Charakteristikum der Identitt in hochkomplexen Gesellschaften wird. Neben den hier skizzierten Konzepten der schizophrenen Psychose, der Neurose und der psychischen Reaktion auf Akkulturationsprozesse soll ein viertes Konzept abschließend diskutiert werden, welches spezifisch postmodernen Formen des Scheiterns von Identittsarbeit gewidmet ist, die so tiefgreifend sind, dass sie nicht nur narrative Identitt und Lebensdeutungen betreffen, sondern – wenn auch nicht so dramatisch wie psychotische Entgleisungen – darber hinaus Selbstgefhl und reflexives Selbstbewusstsein. Dabei geht es um Phnomene, die im Sinne der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie als Ausdruck eines falschen Selbst (Winnicott, 1974) bezeichnet werden kçnnen. Mangel an Authentizitt und Echtheit, narzisstische Isolation und Ausblendung unliebsamer Realitt, instabile pseudointime Beziehungen und Funktionalisierung von Mitmenschen werden sowohl im Kontext kulturkritischer Diagnosen postmoderner Existenz thematisiert als auch im psychoanalytischen Diskurs ber narzisstische Psychopathologien. Anders formuliert geht es um die Frage spezifischer – ber die Zunahme
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
49
rationaler Triebbeherrschung hinausgehender – Gefhrdungen der Identittsentwicklung unter den Bedingungen postmoderner Lebensfhrung. Sie konzentriert sich vor dem Hintergrund des Gesagten auf die Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungsdynamik auf die frhen Phasen der Identittsentwicklung, in denen nicht nur die Grundmuster spterer Identittsarbeit entstehen, sondern auch die Entwicklung des basalen Selbstgefhls und Selbstbewusstseins psychosozialen Einflssen unterliegt. Psychoanalytiker wie David Winnicott haben in Weiterentwicklung objektbeziehungstheoretischer Anstze fr diese ganz frhen Entwicklungsprozesse gezeigt, dass die Wurzeln des Selbst nicht rein intrapsychisch, sondern in einer dialektischen Interaktion zweier Personen entstehen, in der sich das Selbst des Suglings im Gewahren des Blicks und Gesichtsausdrucks der Mutter konstituiert (Schacht, 1990). Das Entwicklungsstadium, das unter den Bedingungen ausreichend guter, und das heißt personal bezogener Mutter-Kind-Frsorge zwischen der symbiotischen Verschmolzenheit auf der einen Seite und der Mutter-Kind-Differenzierung auf der anderen Seite liegt, nennt Winnicott bergangsraum. Die diesen Raum kennzeichnenden bergangsobjekte haben fr das Kind nur partiell eine eigene, von ihm – dem Kind – abgetrennte Existenz; sie sind manipulierbar und verfgbar und kçnnen durch Projektionen mit beliebigen Eigenschaften ausgestattet werden. Der bergangsraum ist fr Winnicott ein spielerisches, der interaktiven Kompetenzentwicklung dienendes Durchgangsstadium, das spter reiferen Formen weicht, in denen den Objekten ein unabhngiges Eigenleben zugestanden wird. Im Kontext der Postmoderne-Debatte scheint mir in diesem Zusammenhang die dramatisch zunehmende Ersetzung unmittelbar zwischenmenschlicher durch medienvermittelte Kommunikation und ihr Einfluss auf die Identittsentwicklung vor allem deshalb diskussionswrdig, weil die frhen Differenzierungen in der Mutter-Kind-Beziehung implikativ verknpft sind mit den Symbol-Symbolisiertes-Selbst-Differenzierungen im Erleben des Kindes (Ogden, 1989). Lsst sich also einige Evidenz fr die These reklamieren, dass bereits in der konkreten Alltagsumgebung von Kindern sinnlich erfahrbare konkrete Objekte zunehmend ersetzt werden durch virtuell erzeugte symbolische Objekte, die lediglich verweisen und selbst keinen sinnlichen Realittscharakter aufweisen, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass dies nicht ohne Konsequenzen ist fr den Grundcharakter der Reprsentanzen von Selbst und Welt in der kindlichen Psyche. Dort wo im çkonomischen Kampf um Einschaltquoten und Verkaufszahlen medienvermittelt eine Scheinrealitt erzeugt wird, die gekennzeichnet ist durch Mangel an Authentizitt und Echtheit, selbstbezogene Isolation und Ausblendung unliebsamer Realitt, Funktionalisierung von Mitmenschen und instabile optional verfgbare pseudointime Beziehungen, ist auch die Ent-
50
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
wicklung des Selbst und seiner symbolischen Reprsentanzen tangiert. Der Mangel an konkretem mirroring (Kohut, 1973), attunement (Stern, 1992; Bohleber, 1997) und sicherer Bindung (attachement) (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2006) an den physisch anwesenden Anderen, und seine Verdrngung durch medienvermittelte Andere und die Leere ersetzende virtuelle Objekte (Rose, 2001) kçnnte in sensiblen Entwicklungsphasen die Herausbildung von Selbst- und Objektreprsentanzen in einer paradoxen Weise gestalten. Den so geprgten Individuen wird auf diese Weise nmlich einerseits eine schier unerschçpfliche Flle von optischen, sprachlichen und kommunikativen Erfahrungen ermçglicht, eine Vervielfachung rezeptiven und interaktiven Erlebens, eine Teilhabe an ganz unterschiedlichen sozialen Welten; zugleich aber ist diese Erfahrung gekoppelt mit dem Bild des Kindes, das alleine mit der Chipstte vor dem Bildschirm sitzt. Seine faktische Einsamkeit wird bertçnt durch die gleichzeitig existierende Omnipotenz gegenber den Medienwelten, zu denen der Bildschirm – und nur er – den Zugang ermçglicht. Es ist nicht nur die Paradoxie von gleichzeitiger Ferne und Nhe, wie sie Richard Sennett bereits in den 1980er Jahren fr die Außensicht auf das Broleben der verglasten Wolkenkratzer New Yorks beschrieb, die hier deutlich wird, sondern darber hinaus die Paradoxie umfassender Wunscherfllung bei gleichzeitiger maximaler Steuerung und Hemmung von Triebimpulsen. So sind beispielsweise alle Mçglichkeiten der Erfllung sexueller und aggressiver Triebwnsche mhelos im Internet erfllbar, ohne dass es zum physischen Vollzug kommt. Wo ein Mangel an konkretem mtterlichem Gegenber in den Frhstadien der Genese fehlt und hier bereits durch Surrogate ersetzt wird, sind spter nicht nur archaische unintegrierte destruktive Affekte, sondern auch eine mangelnde Fhigkeit zur Trennung von konkretem und medienvermitteltem Gegenber zu gewrtigen (Johnson, Cohen, Smailes, Kasen u. Brook, 2002). Nicht nur im Gegenber, sondern auch auf der inneren Bhne des Selbsterlebens ist es diesen Personen dann im spteren Leben nur schwer mçglich, authentisches menschliches Gefhl von funktional eingesetzter, erzeugter und gespielter Pseudoemotionalitt zu trennen. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Weber beschriebene Weltablehnung in Form rationaler Weltbeherrschung ist dann durch die Weltablehnung durch emotionalen Rckzug aus ihr ergnzt und auf fatale Weise perfektioniert. Genauso wie der Mensch im entwickelten Industriezeitalter gezwungen war, sich in seiner Erwerbsttigkeit dem eisernen Kfig der Rationalitt zu unterwerfen, so ist der Mensch der spten Moderne im glsernen Kfig der Entußerung seiner Intimitt gefangen, wo alles zur Verfgung zu stehen scheint und doch nichts erreichbar ist.
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
51
Literatur Adorno, Th. W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1970). Aufstze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baeyer, W. Ritter v. (1961). Erschçpfung und Erschçpftsein. Nervenarzt, 32, 193 – 199. Balint, M. (1935/1981). Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Zur Kritik der Lehre von den prgenitalen Libidoorganisationen (S. 52 – 76). Stuttgart: Klett-Cotta. Balint, M. (1937/1981). Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Frhe Entwicklungsstadien des Ichs. Primre Objektliebe (S. 93 – 115). Stuttgart: Klett-Cotta. Balint, M. (1951/1981). Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. ber Liebe und Haß (S. 151 – 169). Stuttgart: Klett-Cotta. Balint, M. (1959/1960). Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Stuttgart: Klett-Cotta. Balint, M. (1970). Therapeutische Aspekte der Regression. Stuttgart: Klett-Cotta. Benedetti, G. (1987). Todeslandschaften der Seele (2. Aufl.). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Blankenburg, W. (1988). Zur Psychopathologie des Ich-Erlebens Schizophrener. In M. Spitzer, F. A. Uehlein, G. Oepen (Eds.), Philosophy and Psychopathology (pp. 184 – 197). Berlin: Springer. Bohleber, W. (1992). Identitt und Selbst. Die Bedeutung der neueren Entwicklungsforschung fr die psychoanalytische Theorie des Selbst. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 46, 336 – 365. Bohleber, W. (1997). Zur Bedeutung der neueren Suglingsforschung fr die psychoanalytische Theorie der Identitt. In H. Keupp, R. Hçfer (Hrsg.), Identittsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identittsforschung (S. 93 – 119). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. CastaÇeda, H.–N. (1988). Persons, Egos, and I’s: Their sameness relations. In M. Spitzer, F. A. Uehlein, G. Oepen (Eds.), Philosophy and Psychopathology (pp. 210 – 234). Berlin: Springer. CastaÇeda, H.–N. (1989). Self-consciousness, I-structures, and physiology. In M. Spitzer, B. A. Maher (Eds.), Philosophy and Psychopathology (pp. 118 – 145). Berlin: Springer. Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Stuttgart: Klett-Cotta. Cramer, K. (1974). »Erlebnis«. In H.–G. Gadamer (Hrsg.), Stuttgarter HegelTage 1970 (Hegel-Studien, Beiheft 11) (S. 537 – 603). Bonn: Bouvier. Erikson, E. H. (1982). Kindheit und Gesellschaft (8. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Ferenczi, S. (1984). Bausteine der Psychoanalyse (3. Aufl.). Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (S. 62 – 83). Bern: Huber. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. I., Target, M. (2006). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.
52
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Freud, S. (1908). Gesammelte Werke (Bd. VII). Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervositt (S. 141 – 167). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1914). Gesammelte Werke (Bd. X). Zur Einfhrung des Narzissmus (S. 138 – 170). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1915). Gesammelte Werke (Bd. X). Triebe und Triebschicksale (S. 210 – 232). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930). Gesammelte Werke (Bd. XIV). Das Unbehagen in der Kultur (S. 419 – 506). Frankfurt a. M.: Fischer. Frommer, J. (1993). Schizophrene Inkohrenz als Verstndigungsproblem. Vergleichende patholinguistische Studien zum Sprachverhalten Schizophrener. Frankfurt a. M.: Verlag fr Akademische Schriften. Frommer, J. (1995). Exzentrische Bahn und schizophrene Ichspaltung. Friedrich Hçlderlins philosophische Fragmente in ihrer Beziehung zu Leben und Krankheit. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 63, 341 – 349. Frommer, J. (1996). Qualitative Diagnostikforschung. Inhaltsanalytische Untersuchungen zum psychotherapeutischen Erstgesprch. Berlin: Springer. Frommer, J. (2000). Psychoanalytische und soziologische Aspekte personalen Identittswandels im vereinten Deutschland. Zeitschrift fr Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 1, 365 – 383. Frommer, J. (2003a). Die Bedeutung des strukturdynamischen Ansatzes fr eine Theorie der Neurosen und Persçnlichkeitsstçrungen. Nervenarzt, 74, 23 – 29. Frommer, J. (2003b). Psychoanalytische Aspekte des Umzugs von West nach Ost im vereinten Deutschland. Forum der Psychoanalyse, 19, 211 – 223. Frommer, J., Frommer, S. (1993). Max Webers Krankheit – soziologische Aspekte der depressiven Struktur. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 61, 161 – 171. Frommer, J., Frommer, S. (1997). Von der Hysterie zur Nervositt. Anmerkungen zu Willy Hellpachs sozialpathologischen Prognosen fr das 20. Jahrhundert. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 47, 219 – 224. Frommer, J., Frommer, S. (1998). Max Webers Krankheit – Recherchen zur Krankheits- und Behandlungsgeschichte um die Jahrhundertwende. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 66, 193 – 200. Frommer, J., Tress, W. (1989). Merkmale schizophrener Rede. Eine vergleichende patholinguistische Untersuchung von Dialogen mit Schizophrenen, Manikern, Depressiven und Hirnorganikern. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 57, 85 – 93. Frommer, J., Tress, W. (1992). The Structure of Schizophrenic Incoherence. In M. Spitzer, F. A. Uehlein, M. A. Schwarz, Ch. Mundt (Eds.), Phenomenology, language, and schizophrenia (pp. 211 – 220). New York: Springer. Frommer, J., Tress, W. (1993). Einige erkenntnistheoretische Implikationen der Psychologie der Objektbeziehungen. In W. Tress, S. Nagel (Hrsg.), Psychoanalyse und Philosophie: eine Begegnung (S. 183 – 199). Heidelberg: Asanger. Frommer, J., Tress, W. (1998). Primr traumatisierende Welterfahrung oder primre Liebe? Zwei latente Anthropologien in der Psychoanalyse. Forum der Psychoanalyse, 14, 139 – 150.
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
53
Gergen, K. J. (1996). Das bersttigte Selbst. Identittsprobleme im heutigen Leben. Heidelberg: Carl Auer-Systeme. Goffman, E. (1973). Asyle. ber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haußer, K. (1997). Identittsentwicklung – vom Phasenuniversalismus zur Erfahrungsverarbeitung. In H. Keupp, R. Hçfer (Hrsg.), Identittsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identittsforschung (S. 120 – 134). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hellpach, W. (1904). Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. Leipzig: Engelmann. Henrich, D. (1967). Fichtes ursprngliche Einsicht. Frankfurt a. M.: Klostermann. Henrich, D. (1970). Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik I (S. 257 – 284). Tbingen: Siebeck. Henrich, D. (1982a). Fluchtlinien. Lebensdeutungen der Zukunft (S. 11 – 42). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Henrich, D. (1982b). Fluchtlinien. Selbstbewusstsein und spekulatives Denken (S. 125 – 181). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Henrich, D. (1987). Konzepte. Philosophy and the conflict between tendencies of life (S. 117 – 127). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Janzarik, W. (1987). Strukturdynamische Grundlagen der Psychiatrie. Stuttgart: Enke. Kaufmann, D. (1995). Aufklrung, brgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Johnson, J. G., Cohen, P., Smailes, E. M., Kasen, S., Brook, J. S. (2002). Television viewing and aggressive behaviour during adolescence and adulthood. Science, 295, 2468 – 2471. Kernberg, O. F. (1991). Schwere Persçnlichkeitsstçrungen (3. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Keupp, H. (1989). Auf der Suche nach der verlorenen Identitt. In H. Keupp, H., Bilden (Hrsg.), Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel (S. 47 – 69). Gçttingen u. a.: Hogrefe. Kohut, H. (1973). Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persçnlichkeitsstçrungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lepsius, M. R. (1986). Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber. Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie, 38 (Sonderheft 27), 20 – 31. Marcia, J. E. (1989). Identity diffusion differentiated. In M. A. Luszcz, T. Nettelbeck (Eds.), Psychological development. Perspectives across the life-span (pp. 289 – 294). North-Holland: Elsevier. Marcia, J. E. (1993). The ego identity status approach to ego identity. In J. E. Marcia, A. S. Waterman, D. R. Matteson, S. L. Archer, J. L. Orlofsky (Eds.), Ego identity. A handbook for psychosocial research (pp. 3 – 41). New York: Springer.
54
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Oberg, K. (1960). Cultural shock: Adjustment to new cultural environments. Practical Anthropology, 7, 177 – 182. Ogden, Th. H. (1989). The primitive edge of experience. Northvale u. London: Jason Aronson. Pape, H., Leisinger, U. (1988): Was sind Quasi-Indikatoren? Eine Einfhrung in CastaÇedas Theorie der Subjektivitt. In M. Spitzer, F. A. Uehlein, G. Oepen (Eds.), Philosophy and Psychopathology (pp. 198 – 209). Berlin: Springer. Piaget, J. (1978). Das Weltbild des Kindes. Stuttgart: Klett-Cotta. Plessner, H. (1975). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: de Gruyter. Pothast, U. (1968). ber einige Fragen der Selbstbeziehung. Dissertation, Universitt Heidelberg. Roelcke, V. (1995). Ist die Psyche antiquiert? Typen der psychotherapeutischen Zivilisationskritik im Werk von Alexander Mitscherlich. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 45, 277 – 284. Roelcke, V. (1999). Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im brgerlichen Zeitalter (1790 – 1914). Frankfurt a. M.: Campus. Rose, J. (2001). The presence of absence in the transference: Some clinical, countertransference and meta-psychological implications. Bulletin of the British PsychoAnalytical Society, 37, 1 – 13. Schacht, L. (1990). Die frheste Kindheitsentwicklung und ihre Stçrungen aus der Sicht Winnicotts. In R. Adler, J. M. Herrmann, K. Kçhle, O. W. Schonecke, Th. v. Uexkll, W. Wesiack (Hrsg.), Uexkll. Psychosomatische Medizin (4. Aufl.) (S. 93 – 107). Mnchen: Urban & Schwarzenberg. Schluchter, W. (1980). Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schluchter, W. (1988). Religion und Lebensfhrung (2 Bde.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sennett, R. (1983). Verfall und Ende des çffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimitt. Frankfurt a. M.: Fischer. Stern, D. (1992). Die Lebenserfahrung des Suglings. Stuttgart: Klett-Cotta. Straub, J. (2000). Identittstheorie, empirische Identittsforschung und die »postmoderne« arm chair psychology. Zeitschrift fr qualitative Bildungs-, Beratungsund Sozialforschung, 1, 167 – 194. Straus, F., Hçfer, R. (1997). Entwicklungslinien alltglicher Identittsarbeit. In H. Keupp, R. Hçfer (Hrsg.), Identittsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identittsforschung (S. 270 – 303). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tenbruck, F. H. (1986). Brgerliche Kultur. Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie, 38 (Sonderheft 27), 263 – 285. Tress, W. (1987). Sprache, Person, Krankheit. Vorklrungen zu einer psychologischen Medizin der Person. Berlin: Springer. Tress, W., Pfaffenberger, U., Frommer, J. (1984). Zur Patholinguistik schizophrener Texte. Eine vergleichende Untersuchung an Schizophrenen, Depressiven, Hirnorganikern und Gesunden. Nervenarzt, 55, 488 – 495.
Jçrg Frommer : Vom eisernen zum glsernen Gehuse
55
Tugendhat, E. (1979). Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Weber, M. (1903 – 06/1973). Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalçkonomie (1903 – 06) In ders., Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre (4. Aufl.). (S. 1 – 145). Tbingen: Mohr Siebeck. Weber, M. (1915/1978). Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiçser Weltablehnung. In ders., Gesammelte Aufstze zur Religionssoziologie I (7. Aufl.). (S. 536 – 573). Tbingen: Mohr Siebeck. Weber, M. (1920/1978). Gesammelte Aufstze zur Religionssoziologie I (7. Aufl.). Tbingen: Mohr Siebeck. Weizscker, V. v. (1943). Der Gestaltkreis (2. Aufl.). Leipzig: Thieme. Welsch, W. (1991). Subjektsein heute. berlegungen zur Transformation des Subjekts. Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 39, 347 – 365. Winnicott, D. W. (1974). Vom Spiel zur Kreativitt. Stuttgart: Klett-Cotta.
Rudolf Heinz Objektivierung und Todestrieb – Vorbereitender Schrgblick auf Dauerverfehlungen (auch) im Medizinwesen
Legende (in der Form eines offenen Briefs) Lieber Wolfgang, zweigeteilt ineins wie ich, nicht zuletzt in Deiner Obhut, bin, versuche ich mich unserer fachlichen »Beziehung« dergestalt zu widmen, daß ich, wissenschaftskritisch in bestimmte Philosophie und subvertierte Psychoanalyse zusammengehalten aufgespalten, entsprechend zweimal mit meinen Ausfhrungen ansetze (I. und II.), um den Widerpart von »Beziehung«, die objektivistische Selbst- und Anderenmortifikation, eben philosophisch und folgend (nicht recht orthodox und zeitgemß) psychoanalytisch, gebhrend an den Pranger zu stellen – und, notgedrungen, zugleich nicht. In meinem philosophischen Gabenteil fr Dich habe ich mich besonders ins Zeug gelegt, so daß ein spezielles Kurzkompendium meines eigenen, jedoch nicht vom Himmel gefallenen, Denkens – terminologisiert, manieristisch, neologistisch, zu dicht und zu lose ineins, im Sinne einer abgelçsten, fr Kenner soziablen Psychotik in bester Traditionsgesellschaft großer, sich progressiv aber einbßender Philosophie, genealogische Philosophie benannt – resultierte. Genealogie? – sie denkt die Gedanken der menschlichen Schçpfung und Kultur (und der Natur?) nach, lßt es nicht, wie (nicht nur) wissenschaftlich blich, dabei bewenden, die fertigen hypostasierten Produkte nur, ihres Herkommens, der Produktion, uneingedenk, erfolgreich vergeblich grundsuchend, nachtrglich aufeinander zu beziehen; dagegen bringt sie die genealogisch inerten Wissenschaftsverhltnisse nach ihrer eigenen Melodie zum Tanzen. Gewiß, mehr aber als eine delirante Anhufung armer Worte, tunlichst marginalisiert, mçge bitte nicht gewrtigt werden. Sollte man nicht I., den hermetischen Philosophiepart, nchtliche Spukkopie, die destags in den Dingen glcklich (wieder)verschwindet, berschlagen und zur psychoanalytischen Tagesordnung bergehen? Es gibt expressis verbis aber doch auch einige Reverenzen meiner anstçßigen Schreibe. Sie mute, so wird gesagt, an, wie wenn ich eine Hypersprachschrift erfinden msse, in der die Gedankenandrnge noch vor der – die
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
57
wissenschaftsbliche sehensdominierte Signifikation ermçglichenden – ordentlichen Subjekt-Objektspaltung einstndig wrden; so als adaptierte sie sich Musik, genauer, weil ja verbal/skriptural, klangbeherrschter Lyrik (Carnaps »Begriffslyrik« – voil , nur daß sie mir, meines Erachtens, zur philosophischen Ehre gereicht!). Vermçchte man solchen Regressionismus der frhesten Frhe zu teilen, so seien meine Texte – die rcksichtslos in sich selbst hinein verfaßten –, ihrem Esoterikverruf entgegen, nachgerade leicht verstndlich, und dies gar im Unterschied zu den philosophisch weniger ambitionierten, on dit eingngigeren Gebrauchsschriftlichkeiten, deren ich ja auch, oftmals contre cœur, ebenso mchtig bin wie eines konventionell angepassten Umgangs mit Patienten sowie, als Weiterbilder, mit den KollegInnen. Im Sinne der »inklusiven Disjunktion« imponiert diese Philosophieart, ungeliebt vom Psychotiker, der sich in ihr enteignet fhlt, als Bollwerk gegen Psychose sowie als nicht nur leidliche Kompensation des Ausfalls, komponieren und auch hçhere Mathematik – meine Jugendtrume – betreiben zu kçnnen. Und spter whnte ich, ebenso konsequent wie tçricht fast, auf der abgesenkten Ebene frhester Indifferenz Philosophie und Psychoanalyse ineinander berfhren, den »Primrprozeß«, seinen Widerpart, den »Sekundrprozeß«, nur dazu noch verwendend, verlustlos gnostifizieren zu sollen. Was, wie Du weißt, einen langen doppelten Leidensweg unterhielt, bis ich mich zu mir selbst losmachte und, nicht an letzter Stelle, Du mich unverbrchlich aufnahmst. Nun aber unterlief es mir im zweiten Teil meines Schreibens (II. traktathafte »Psychoanalytische Transkriptionen«), doch nicht so recht zur psychoanalytischen Tagesordnung randhaltend berzugehen, es passiert mir, so wie auch hier, allzu hufig, mich nach moderaterem Beginn philosophisch zu rekomplizieren; welcher Rckfall sicherlich dadurch mitbedingt ist, daß meine Psychoanalyseversion – mit dem bekannten Schlagwort: »Psychoanalyse der Sachen« – wie von sich her schon dahin drngt, nmlich mit diesem schlimmsten »Kategorienfehler« den berkommenen Bann des psychoanalytischen »(Inter)subjektivismus« zu brechen (und damit die freudomarxistische Hypothek der Vermittlung von »Historischem Materialismus« und Psychoanalyse unter vernderten gesellschaftlichen Bedingungen, und berhaupt, wieder spruchreif zu machen). Nichts anderes hat diese Subversion im Sinn als die zeitgemße, unserer Medienepoche adquate Fortschrift der Aufklrung (der Aufklrung). Gewiß – wo aber fhrt ein solches Ansinnen hin? Zur Narretei zu whnen, dem Weltzustand den Narrenspiegel vorhalten zu kçnnen; außerdem keineswegs einvernehmlich mit unseren kasernierten »Armen im Geiste«, die schon lange darum, heilsam, wie man sagt, modern psychiatrisch, gebracht worden sind – zu denen ich mich, gleichwohl, in einer franziskanisch geprgten Stammfamilientradition, besonders hingezogen fhle, um, berwertigerweise, das Unrecht dieser, und aller, Epikalyptik
58
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
wiedergutzumachen. Auch weil uns der Psychiatrienukleus, die Psychosen, progressiv entwendet werden, bernehme ich mich mit einer heimholend spekulativen Kontrastpsychiatrie, die auch unseren klinischen Ausfall an Psychosenreferenz, wenigstens ein wenig im Geiste, wettzumachen sucht. Es bleibt aber, hoffnungslos frs erste, dabei: dem wissenschaftlich und çkonomisch durchseuchten Weltlauf ergeht es wie dem alten Kçnig Lear : als der Hofnarr verschwand und erfror, wurde der Herrscher vollends verrckt, und das Morden nahm kein Ende. Die nicht wenigen Diasporen an Widerstand aber, hellen sie den Leidensblick auf die Großmisere unserer Verhltnisse nicht doch auf ? Kaum, denn nicht nur bleiben sie, fernsolidarisch zueinander hçchstens, unverbunden, die Megaresistenz des Terrorismus macht sie zustzlich klein, und, mehr noch, degradiert sie zu gnzlich unwillkommenen Mitlufern im globalen Kriegsgeschft, in dem eben die Hçllenklammer Terrorismus den Affen seines eh ja berlegenen gigantischen Widerparts, »ad maiorem gloriam paranoiae et capitalis«, macht, und paradoxerweise im Verzçgern der »Prozeßbeschleunigung« (»Anti-dipus«) entropisierend nichts als Vorschub leistet. Mçchte man angesichts dieser Desparationen nicht doch zum Postmodernen werden, der dies große Welttheater rechtens satt hat und deshalb dessen Prmissen anzugreifen beginnt? Nein, nicht nur daß es bei mir nicht mehr dazu reicht, ich muss zudem argwçhnen, auf diesem schçnen Fluchtweg bloß vom Regen in die Traufe zu geraten, nmlich zu noch mehr Wissenschaftsmonolithik mitsamt deren hypokritischem Aufsatz, dem scheinliberalisierenden Kunterbunt der gefeierten hochprofessionalisierten Pluralitten – tief durchatmen bitte! Nun habe ich die Untat begangen, anstatt mich auf Deine Worte und Werke und Taten jubilierend zu beziehen, mich selbst Dir, konfessional hemmungslos, als Geburtstagsgabe – auf diese meine Art selbstiger Reverenz – darzubringen, meine heikle dingmystische Utopie, die ich verpackt und dosiert freilich, immer auch propagieren durfte, vor Deinen lesenden Augen und Ohren auszubreiten. Seis drum, weil ich nicht befrchten muss, daß Du nicht auch knftig mehr als nur Nachsicht mit mir ben wirst. Und so seien »Eros« und »Thanatos« im Geburtstagsgedenken milde vereint – herzlichen Glckwunsch und herzlichen Dank! Rudolf
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
59
I. Zur Genealogie des Organismus Zugespitzt werden in einer ersten entschieden philosophischen Gedankenrunde die folgenden – schlechterdings nicht-wissenschaftlichen – Umschweife auf die Genealogie der fundamentalen Objektivierung der Organmedizin, des »Organismus«. Allein schon dieser genealogische Ansatz – die Recherche der inneren Entstehungs-, Erhaltungs- und Ausrichtungsbedingungen (im Gegensatz zur historischen Genesis) des thema probandum »Organismus« – hçbe den obligaten wissenschaftlichen Ausgang von den hypostasierten epikalyptischen Genealogieresultaten auf – und vermçchte so die Konzeption einer gesamtmedizinischen Alternative jenseits aller Objektivittsfetischisierung vorzubereiten helfen? »Obiecere« heißt ursprnglich (aber ohne etymologisch metaphysisches Ursprnglichkeitsansinnen!) »entgegenwerfen«. Werfe ich von woaus wem/ was was entgegen, oder wird mir, umgekehrt, was von wem/was von woaus entgegengeworfen? Letzteres wohl? – doch komme ich nicht ins Objizierensgeschft, bilde keine Beziehung solchermaßen aus, wenn diese nicht demselben schon vorausginge. Also: Ich muß imvorhinein schon etwas, verhltnisbildend, (mit)getan haben, damit mir etwas entgegengeworfen werden kann. Um, philosophisch antwortend, sogleich mit der Tr ins Haus zu fallen: Es kann sich in dieser Dimension nur um das Selbstverhltnis (Selbstbewußtsein) handeln, außer dem ja, kurzum, nichts sein kann. Demnach setze ich mir mich selbst initial vis- -vis, und dieser Vor-wurf meiner selbst wirft, re-flektiert sich mir zurck, in einem Von-wo-aus, abstndig, zwischen 0 und 1. Vorsicht deshalb! – in den Extremen nmlich komme ich mir selbst abhanden, durch Selbstfusion dort, durch Selbstdiskrimination hier. Warum aber diese Nçtigung des Sichselbstvorsichhinstellens? Ganz einfach: ohne diese Reprsentierung (im Endeffekt das »n-te Futur im Irrealis« [HH]) wre eben nichts, das Selbstnichts von 0 und 1, dem bilateral permanent insofern gewehrt werden muß, als es – der Selbstzusammenfall, die Koinzidenz mit meinem imaginren Selbstdouble sowie deren Gegenteil – in seiner ganzen Tçdlichkeit zugleich meinen Letztwunsch, das Begehren schlechterdings ausmacht. »Mitten in dem Leben sind/wir vom Tod umfangen«, und der Tod ist je schon, tçdlich, ins Leben eingedrungen. Mßig die Reklamation des leibhaftigen Anderen und alles Anderen in diesem scheinbaren Monadologismus des exklusiven Selbstbezugs. Denn diese alle sind und bleiben der/das Andere meiner selbst; im spekulren Konkretismus zeigt sich das Anderen-konzessive Abbild als Spiegelbild des Spiegelbilds, der Blick des Anderen auf mich (Paßbild) als ich, gesteigert, selbst sodann. Letztendlich aber frommt es zu (Nichts)nichts, mich mit dem
60
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Anderen spekulativ vollzufressen, denn im/als Tod zerplatzt dieses pseudoabsolute Totalgebilde, Ich selbst der »absolute Geist«, einzig todesmotiviert und, tçtend sterbend, todesrekassiert. Und alles nicht-artgenossentlich Andere, das, stçrend, im Spiegel miterscheint, wenn ich, von Selbstpossessionsnçten getrieben, mich re-flektiere? Selbstverstndlich: auch dieses ist und bleibt das Andere meiner selbst, und dies gar zumal, weil es das Dritte meiner, der menschlichen, Kulturartefakte (»verum ipsum factum«), imaginr wie zustzlich besessen, mir zurck-wirft, und alle darin sich anbietend entziehende »Natur« als Rohstoff kulturaler Aneignung prdisponiert. Wie solches technologische SichdieErdeuntertanmachen, die ausnehmende Leidenschaft der wissenschaftlich exekutierten »Abendlndischen Metaphysik«, vonstattengehen kann? Die Genealogie dieser Großuntat fhrt zur – revidierten – »Organprojektionstheorie« (E. Kapp) dergestalt, daß sich das afaktische Unding des projizierenden Kçrpers (vor seiner »corps mati re«/ Organismus- vs. »corps propre«/Leibwerdung) in seiner toten Prothetik doublend zur Erscheinung bringt, mit-seiend macht, und dieser, seiner Dinglichkeit, die letzte Ehre seiner berbietung, eben weil tot = todesdispositionell, erweist. Todesversessen sind wir, die Sterblichen, nicht, weil wir sterben, vielmehr weil wir der Tod, der »absolute Herr«, selbstsein wollen; nur daß diese mçrderische Absolutheitsmaske, der »Gott der Metaphysik« – umso rger fr seine dadurch gewaltversessenen Geschçpfe – apriori nicht Nichts sein kann; so daß der »Tod Gottes«, suizidal weltaufrstend, des Gottes ureigen ist (Inbegriff der christlichen Hresie). Gesetzt nun den Fall, die besagten Extreme – 0 und 1 – seien abgekappt; die Absperrungen der Indifferenz hier wie dort gesichert; das Selbst mit dem Gesamt seiner dinglichen Doubles, außer denen es nichts gibt, »ungetrennt und unvereint« (vs. das immer drohende pathogenetische Grunddebakel von »ungetrennt = vereint« sowie »unvereint = getrennt«); damit die Gedchtniskonsistenz, die einrumende/zeitigende Marge zwischen der Selbstduplikation, Einschußort der betreffenden Vorstellungen davor und danach, etabliert; die dauerresidualen Bestnde an noch nicht vollends humanisierter Natur im Wartestand – gesetzt solchen Fall, diese im Resultat vergessengemachten weltkonstitutiven Akte alle seien mhselig garantiert, so ergeht der fortgesetzte Welthabeauftrag, die Gnade der Selbstobjizierung, das Fundamentalphantasma der Todesdisposition in allem toten Anderen meiner selbst, meinen dinglich–mortalen Doppelgngern, zu vollenden. Wie? Grundlegend durch Rstung, in der progressiven Waffenfçrmigkeit aller Dinge, dem die Kçrper mitreißenden apokalyptischen Dingsuizid, allwo alle Gewalt menschlicher Todesmimesis gipfelt; nur daß der Tod sich in dieser seiner Letztparierung a fortiori mçrderisch entzieht; Phantasmaspitze, die, inkorporiert, das Essential aller Pathologie definiert.
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
61
Um nun die allpathogene Waffenusurpation des sterblichen Kçrpers als Movens des technologischen Progresses zu wahren, in derart motivischer Dienstbarkeit, wider den Krankheitsaufbruch womçglich zu anderen kontrren Ufern, zu halten, ertrumt sich der Selbstkçrper, gegenber seinem reifizierten Selbstdouble, als lebendige Leiche, vitales Ding, »corps mati re« bei lebendigem Leibe – so die Geburt des Hybrids »Organismus«, immer mit Schlagseite (und noch mehr) zum Toten hin. Es gibt den faktischen hypostasierten Organismus in Wahrheit immer nur als verdeckte Anamnesis dieser seiner Gemachtheit: als bertrag des Dinggotts (»res extensa«) ins so sich allererst absetzend sterbliche Erosfleisch, abwerfend seine Fhlbarkeit (»corps propre«), mit der Seele obenauf, (beide »res cogitans«), und gehalten im vorzeigemchtigen ther sichwissenden Wissens, des Bewußtseins seiner selbst; unendliches Sein, durchdrungen von der strikten Kontradiktion des finitisierenden Nichts. Organismus, der sich der ausstndigen Diachronieachse entlang, davor/danach in Natur sich findend selbstwiederfindet, imperial objizierend und darin zutiefst subjektiert; gattungsheilsam erotisch nur im blendenden Vorbergang todesentledigter Seinsabstraktion, und nicht in der je zeitlich bornierten Vorwegnahme der apokalyptischen Nicht-redemptio des »vollendeten Humanismus der Natur als des vollendeten Naturalismus des Menschen« (Marx). Erfllte Disponibilitt, endgltige Todesmimesis des Selbstkçrpers an sein eigenes Prothesengottdouble, kommt erst zustande, wenn sich, um es metaphorisch (metaphorisch?) zu sagen, der Kçrper derart durchschttelt und -rttelt, daß ihm »das Fleisch von den Knochen fllt«, und er sein Skelett dann in seine abgetrennte brige Kçrpermasse, letztpossedierend mchtig, rckeingebildet – Pythagoreismuskrone der zweiten Schçpfung Kultur; Psychopompos Mathematik, Klimax der Nichtspenetranz des also berechnet verwesentlichten Seins in der todesdifferierendsten Heimsuchung des Kçrperselbst von den eigenen realisierten Hadesschemen. Es mßte sich herausstellen, daß die eben skizzierte Genealogie des Organismus als allgemeine Referenz der Organmedizin als solche selbst noch keine Alternative zu deren (schwach ausgedrckt) Hegemonie auszubilden vermçchte (man hte sich berhaupt vor realisierter Philosophie, dem reinsten Blutrausch) – begbe man sich auf diese ungewissen Pfade, so wre Esoterikaufkommen zu befrchten. Wohl aber kçnnte ihre – mit dem wissenschaftlichen Fortschritt progressiv zurckgedrngte, hçchstens verschoben und entstellt, a-referent arbeitsteilig anderswo untergebrachte – Krisispotenz – um welchen Preis, zu welchen Opfern aber? – vertreten werden. Und von hier aus ließen sich immanente Alternativen restituieren, in denen die »Beziehung« – wenngleich ber ihren angestammten Ort »Intersubjektivitt« hinaus –, kriterial, inbegrifflich, obwiegen sollte. Was, wohlgemerkt, aber heißt, daß, genealogisch unvermittelt, der Subjektverlust hier und die Sub-
62
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
jektwiederbringung dort sich in der Schieflage einer – in prjudizierten Kompromissen scheinberuhigten – Aufreibung aneinander verlieren – freilich mit dem gewissen Endsieg in der Tasche der naturwissenschaftlichen Organmedizin – die Zeichen fr uns stehen schlecht, sehr schlecht. Fazit: Außerhalb des seinsnotwendigen re-prsentativen Selbstverhltnisses gibt es zwar nichts, doch dieses Nichts zerbricht, seinseindringlich, die sich permanent wiederauflegende unmçglichmçgliche Absolutheit desselben kontradiktorisch, also des Jenseits berhaupt bar. So daß das eigene Selbstgegenber, gleichwie, als Todesbote mit dem Dauerauftrag, seine vorgngige Selbigkeit mit dem Selbst konkret(istisch) zu machen, in Erscheinung tritt. Hçhepunkt der Selbstvergegenwrtigung, der Gegenwart schlechterdings ledig: der Menschorganismus-konstitutive (Rck)bergriff des dinglichmortalen Selbstdoubles auf seine korporale (Nicht)Provenienz. So die Geburt des Hybrids »Organismus« (»corps mati re«) mitsamt seiner Differentialitt des binnenerlebten Kçrpers, des Fluidums »Leib« (»corps propre«), verrechnetes Kçrperselbst/verrechneter Selbstkçrper – die gipfelnde Seinsimmanenz des letal fruchtbaren Nichts. Was eigentlich berechtigt dazu, dieser grçßten Gattungsleistung keine Ehre zu erweisen, selbst dann, wenn sie per se auf ihrer Genealogienichtung rigidest beharrt? Seriçser Allzweckzeuge LviStrauss (im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Sartre um den Vorrang der »dialektischen« vor der »analytischen Vernunft«): »Fr uns ist die dialektische Vernunft immer konstituierend: sie ist der unaufhçrlich verlngerte und verbesserte schmale Steg, den die analytische Vernunft ber einen Abgrund baut, dessen anderes Ufer sie nicht kennt und von dem sie doch weiß, daß es existiert, sollte es auch bestndig weiter in die Ferne rcken […] Sartre nennt die analytische Vernunft die trge Vernunft; dieselbe Vernunft nennen wir dialektisch und mutig: zusammengekrmmt unter der Anstrengung, ber sich hinauszuwachsen […] (Die dialektische Vernunft ist) etwas Zustzliches in der analytischen Vernunft: nmlich ihre Bedingung, die erforderlich ist, damit sie die Auflçsung des Menschlichen in Nichtmenschliches zu unternehmen wagt« (Levi-Strauss, 1973, S. 283 f).
Allein, alle Rationalittsjubilatorik, und sei sie noch so heroisch, bricht sich an der Rationalitt apo-kalyptischer Entropie, vorweggenommen dem Monitum, des allzeit vergessenen Seins nicht zu vergessen. Im semantischen Feld von »obiecere« obwiegt, in ontologischer Lesart, die Paranoiaabwehr bis hin zur Inhibition des schizophrenen Zusammenfalls/des Auseinanderdriftens des Selbst und seines prothetischen Doubles – Paranoiaabwehr : vor der psychotischen Geisttçtung stellt sich persekutorisch die archangelische Wache vor das gçttliche Ding: St. Michael: »Wer ist wie Gott?« So, immer wechselseitig,
63
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb motorisch in:
(entgegenwerfen) entgegenstellen entgegentreten (gegen)halten schwcher : projektiv gesteigert:
introjektiv gesteigert:
verbal in:
sensuell in: ob =
obiectus = obiectum =
entgegnen erwidern sanktional:
vorlegen (her)vorziehen einjagen einflçßen verursachen widerfahren zustoßen
vorwerfen vorhalten
bloßstellen aussetzen gegen …hin vor gegenber vor etwas liegend Einwurf, Vorwurf
Bezeugt sich derart nicht so etwas wie das ontologische Raffinement der Sprache selbst von sich her? Wenn es denn so wre, so beiwohnte uns unbewußt (gewußt, doch unerkannt) das Sein/das Nichts, abgrndig in jedem Wort – wie auch sollte es anders sein?
II. Psychoanalytische Transkriptionen Psychoanalytisch begegnet der Objektbegriff als Interaktionselement vornehmlich in der frhen Mutter-Kindbeziehung, der extrauterin ersten psychosexuellen Entwicklungsphase, der oralen. Von jeher haftet ihm das Odium der Kruditt an: der Herzlosigkeit sozusagen, ohne Rcksicht nmlich, rein um der eigenen Begierden willen, sich den Anderen botmßig, ihn zum verfgbaren Ding zu machen. Gewiß – der moralische Einspruch dagegen in Ehren –, doch fhrt kein Weg daran vorbei – und die Psychoanalyse insistiert, antisentimentalistisch rechtens, durchweg auf dieser urtmlichen Untat, die
64
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
freilich nicht wie eine kausierende Urszene am Anfang steht, die vielmehr, nachtrglich bloß, in zeitlicher Rcksicht, prgnant den Anfang macht (und deren Geschlechtsdifferentialitt weitgehend immer noch Desiderat blieb) – psychoanalytisch jedoch ist es unvermeidlich, die ganze Grobschlchtigkeit dieses Interaktionssubstrats, die Anderenobjektivierung, restlos aufrechtzuerhalten und worauf sonst als auf die berlebensnot, die Todesnhe der »normalisierten Frhgeburt« Mensch zurckzufhren. Auch wenn die (nicht)Erinnerung daran sehr unangenehm ausfllt, es geht de facto hier hoch her, subsistentiell – allerwenigstens imaginr probeweise – auf Leben und Tod, und alle große Todesangst wird folgerichtig wie symptomatisch pariert mit der Maßlosigkeit, begehrlich mit dem nhrenden Anderen, der Mutter, derart einszuwerden, daß alle Not – welch grndlicher Irrtum! – ende. Pointierter noch psychoanalytisch ausgedrckt, unterliegt die Laktation dem Inzestbegehren, zumal vonseiten des Suglings – bis hin zur himmlichen Verzckung des »alimentren Orgasmus« (Rad), oftmals mehr als nur flankiert von einer Mutter, deren durchaus einschlgig empfundene Lust es ist, die Geburt ihres Kindes rckgngig zu machen, indem sie es stillend ertrnkt. Dem ist freilich das schmerzende gattungserhaltende Inzesttabu vor, das an seinem anderen Ende, dem asketischen Extrem, sich ebenso tçdlich auswirkte wie sein berbordender Widerpart. Und allzeit aufgegeben ist der immer gefhrdete Ausgleich zwischen beiden Passionen, der der Indifferenz und der der Differenz, der ohne Drittenreglement nicht erfolgen kann. Mhelos ließe sich in diese unaufhebbare epigenetische Dramatik die unendliche – in offenen Typisierungen verendlichte – Kasuistik der subsistenzsexuellen Verstçrungen, zuvçrderst Sucht, eintragen. Und von hierher ließe sich bereits geltend machen, daß der Begriff des Objekts berhaupt von dieser kalten Leidenschaft, trotz aller ihrer Verdeckung, stigmatisiert ist und bleibt: vom kollapsbedrohten Vorbergang der lustprmierten Gewalt, des Sadismus der Mortifikation des Anderen zum Zweck seiner endgltigen Beherrschung. Wenn wir nicht der Gunst teilhaftig wren, das Objekt zum toten Ding wiederum zu objektivieren, so wrden wir am realiter nicht-reifizierten Objekt alsbald irre. Die von uns geschaffenen Dinge erretten uns davor, nur daß sie zugleich die kalte Leidenschaft des Objekts tckisch potenzieren und sich so als Waffen vollenden. »Wers weiß, ist klug« – doch was haben unsere Verdinglichungsartisten, die Wissenschaftler, die Pioniere des einzig mçglichen menschlichen Fortschritts, des technologischen, mit solchen wie Invektiven klingenden Einwrfen, in der sich Philosophie und ihre traditionellen Grenzen berschreitende Psychoanalyse wissenschaftinkulpierend zusammenfinden, berhaupt zu tun? Welche Auswirkungen htten unsere lcherlichen Aufklrungsattacken auf den tatschlichen Wissenschaftsbetrieb? Selbst bei Konzession ihres immanenten
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
65
Zutreffens wird die wissenschaftstypische anankastische Abwehr modo instituto – gottseidank? – stabil bleiben, und also sollte die Psychoanalyse dieser bergriffigen Sorte der Verheißung einer großen Alternative, die, zuende gedacht, eh auf lebensphilosophisch faschistoidem Boden landete, entraten und folglich sich dazu bescheiden, nicht mehr denn den eschatologischen Vorausblick auf die gewisse Entropie des Megaprojekts der Gattung, Wissenschaft, zu werfen, vielleicht auch in der eh schon verzagten Hoffnung, mit dafr Sorge zu tragen, der anscheinend notwendigen, nimmer abgeltbaren Zerstçrungswut just der Objektivierung und deren Verdinglichung zu vergessen. Malen wir weiterhin den Teufel groß an die Wand! Prominenter brgerlicher Protagonist der personalen Objektivierungssperre ist Kant in seinem »kategorischen Imperativ«: der Nchste drfe nie als Mittel zu eigenen Zwecken mißbraucht, msse ausschließlich vielmehr als Zweck an sich selbst respektiert werden. Ein beraus lçbliches Verdikt, nur daß die erschlagende Faktizitt seines – schon den Sugling zeichnenden – Gegenteils es zur, realisiert gewaltttigen, Utopie verkommen machte. Wenn berhaupt dem »kategorischen Imperativ« ein bergeordneter Sinn abgewonnen werden kçnnte, so bestnde er darin, die strikte Verdinglichung der interpersonalen Zweck–Mittelrelation immer dann zu fordern, wenn die Degradierung des leibhaftigen Anderen zum bloßen Mittel meiner Zwecke drohte – sogleich also die Mutterbrust durchs Kuhmilchflschchen, nein mit Kunstmilch gefllt, zu ersetzen, und davor die Schwangerschaft biotechnisch extrauterin auszulagern. Womit der hehre »kategorische Imperativ« oblique zur Grundmaxime der damals schon wetterleuchtenden »ersten industriellen Revolution« geworden wre. Inwiefern aber sollte die aus diesem Suberungsunternehmen hervorgehende entmedialisierte verselbstzwecklichte Menschheit anderes sein als science fiction: die Pseudofreiheit universeller Indifferenz, die Geschichte stillstellende gattungsmçrderische Freigabe aller Inzeste im Schatten ihrer technischen Realisierung. So der Mensch als Zweck an sich selbst am Ende seiner Tage, und Kant – der erhaben larvierte frustrane Sexualrevolutionr »avant la lettre«. Frs erste scheint sich die Nutrition gut anzulassen, wenngleich extrauterin, inzestuçse Wiederherstellung zu versprechen – immerhin, das Objekt gibt sich ja, wenn auch nicht absolut verlßlich, zur Inkorporation her, verinnert sich in Selbstaufgabe zum assimilierten Kçrpersubjekt. Allein, wie sollte diese schçne Rechnung jemals aufgehen? Nicht nur daß im laktativen pars pro toto sich das totum, der Mutterkçrper insgesamt, der ja nicht mit Haut und Haaren verschlungen werden kann, vorenthlt und, selbst bedrftig, auf drittengeleitete Außenzufuhr angewiesen bleibt, weit darber hinaus passiert der große Skandal, daß die allbegehrte Indifferenz sich im einzigartigen Differenzmonitum des Dejekts, vornehmlich den faeces, widerlegt. »Es ist ein Erdenrest/,
66
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
aufs Peinlichste zu tragen« – Residuum, das den Sanktionsstrich durch die inzestuçse Rechnung macht. Keinen Schlußstrich jedoch, sofern es gewhrleistet scheint, den Schaden der Differenz wettzumachen, nmlich durch Koprophagie, ber die in aller Konsequenz das hçchste Inzesttabu, Zuversicht der Rettung kulturaler Menschheit, verhngt werden muß – Koprophagie, knftig sodann das Negativprivileg von Kleinkindern und Geisteskranken (und auch von entsprechenden homosexuellen Geheimbnden). Sie hieße, emphatisch gesprochen, den in der exkrementalen Mutterleibleiche bezeugten Metabolismus-Muttermord versteckend sich (nekro-)koprophagisch letztanzueignen – wahrlich das patriarchalisch apotheotische Ultimum, selbst endlich zum Gewaltparadigma der lebendigen Mutterleiche geworden zu sein und so alle Differenz vermeintlich aus der Welt zu schaffen. (Ausgesetzt sei, von hierher die Mysterien des Christentums zu lften.) »Man treibe die Natur mit der Mistgabel aus, immer wird sie wiederkehren« – selbstverstndlich, vorerst rettende Inzesttabus sind immer auch intolerabel, sie leben nachgerade davon, permanent unterlaufen zu werden, zumal wenn, wie im gipfelnden Koprophagiegebot, das berleben der Gattung auf dem Spiel zu stehen scheint. Noch auf interkorporellem Niveau bieten sich hierfr, glckend mißglckend, die anale Retention und Elimination an, so als ließe sich das widerinzestuçs skandalçse Differenzaufkommen mittels unsichtbar machender Einbehaltung oder durch geschtzhafte Ausstoßung, die vorgibt, Herr der Differenz bleiben zu kçnnen, verhindern. Jedenfalls verfhrt die eigensinnige Eigenproduktion der Exkremente zum Illusionismus autonomer Regie, der die Enteignung durch die – sich als ihre eigene, in die Unterwelt der Kanalisation abgehende, Leiche verwahrende, allzeit doublebindende – Mutter auf dem Fuße folgt. Diese fortgeschrittene Inzestdramatik aber verbrauchte rasch sich in sich selbst, wenn nicht darauf das Menschheitswunder geschhe: wiederum nmlich, wie schon angesprochen, die Objektivierung des nunmehr kulminierend toten Objekts zum so allerst vollendeten Ding. Aus dem allerverborgensten Abyssos der Heiligen Todeshochzeit, der Eucharistie der fçtiden Mutterleibleiche, tritt also hervor, exponiert sich deren oberweltliches Vikariat: das integrale Objekt, das reine, nur noch eigengemachte Ding – »Wenn Verwesung mir gleich drohet/, wird dies mein Auge Gott doch sehn« –, knftig sind ihm die Sterblichen hçrig, werden wie von selbst Dingediener, sich opfernde Primrtherapeuten (Therapeut = Diener), rechnen Defekte dieser geliebtesten Reverenz sich als eigenverschuldete Schwche an, ruhen und rasten fortschreitend nicht, bis sich in aller Souvernitt der Dingegott der zerfallenden Mutterleibleiche martialisitisch (wieder)angleicht: als Waffe, Bombe. Und endlich vollbringt sich Kultur, natursubreptiv, als apokalyptisches Hochamt universeller Rstung.
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
67
Psychoanalytisch rckbersetzt, ist jedes Ding, dieser seiner Herkunft gemß, ein Fetisch, sprich: die unsterblich vermeinte Idealitt meiner selbst/ Kçrper, an der ich, viskçs, wie am Tropf hnge, die nur noch tote Letztsublimation der aufgefressenen und wieder ausge… fkalischen Mutterleibleiche (pardon!). Scheinbar gemßigter ausgedrckt, scheint – jedenfalls fr unsereiner – in jeglichem Ding das alte »bergangsobjekt« melancholisch durch (und die »bergangsphnomene«?), also die imaginr anfngliche Mutterleibsubstitution, die ganze Not des patriarchalisch-filialen Mutteropfers, der grndenden Untat Kultur. Und nun steht man da mit seiner verphilosophiert psychoanalytisch zweifelsohne zutreffenden Weisheit, zu deren Wesen es zu gehçren scheint, auf breitester Front repressiv geleugnet zu werden – denn griffe sie, so hielte sie das Fortschrittsdelir in Sachen Verdinglichung, unmßig und alternativelos diese beschuldigend, auf – oder auch nicht, weil diese, effektiver noch, bloß dehnend? Allemal strengt vehement man an, Subjekt und Objekt heterogen zu halten und diesem alle Ehre zu erweisen: vorzustellen nmlich als Purgatorium jeglichen Geburtsschleims des Werden, als schuldentledigtes Kçrpersublimat, Sterblichkeitsprojektion in den Kçrper retour im Angesicht des mit suizidaler Vollmacht begabten und solchermaßen unsterblichen abgespaltenen Dings. Ein Fall von »projektiver Identifikation« demnach? Ja, wenn immer man gewillt wre, in ihr letztendlich den Rausschmiß der eigenen Sterblichkeit zu whnen, hier im Casus der Dinggeburt derart dann, daß sich projektiv verdinglichende Mortalitt mit Todesverfgung, folgerichtig und ußerst fruchtbar, verwechselt – dinglich bin ich phantasmatisch ich selbst in autogenetischer Selbstberbietung. Um einiges frher aber noch, kleinianisch angesehen, vollzieht sich physio-logisch imaginr, doch ohne Imagination (die »unbewußten Vorstellungen«) umso heftiger, die Katastrophik des Objekts, schwerpunktmßig als, seiner inzestuçsen Vertilgung wegen, wtender Racheengel, der, in stndigem Schwanken zwischen absoluter Alteritt (Paranoia) und absoluter Identitt (Schizophrenie), sich widerlegt und besttigt zugleich – so die »paranoid-schizoide Position«. Mit deren Ermßigung kommt, expressis verbis, die Schuld in die Welt: im rettend reparativen Wesen der »depressiven Position«, shnender Ganzmachung des opferheischenden, sodann integralen Objekts. (Doch kçnnen Schuld und Shne jemals authentisch ausfallen?). Man mçge instndig darum bemht sein – »Psychoanalytiker, noch eine Anstrengung mehr, damit ihr gute Mystagogen werdet!« –, vorangeleitet von Traum, psychiatrischen Symptomen, Kunst, Mythologie (man denke etwa an die »Transsubstantiation« des Gottmenschen Christus’ Fleisch und Blut in Brot und Wein), jedes Ding auf dieses sein Opferarkanum, wider die Daueranfechtung seiner blichen zweckrationalen tautologischen Opazitt, transparent zu machen; nachzuspren der Persekution durch Dinge,
68
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
mitsamt der »intersubjektiv-paranoischen Dingwache«, der Barrage der Gegenverfolgung; dem beseligten Grauen ihrer tçdlichen Kommunion; der sistierenden Melancholie ihrer Verlustanzeigen; wiederum in fetischismustheoretischer Wendung und miteinbeziehend den nchsten psychosexuellen Entwicklungsschritt, die »phallisch-exhibitionistische Phase«, die (vor)generations- versus subsistenzsexuell »çdipale«, die wie parasitr an den vorhergehenden anmutet (Notwendigkeit der exkrementalen, der Dinge mchtigen Unterftterung der Genitalitt): die triumphale Assimilation der Phantasmatik der »phallischen Mutter« (Freuds Fetischschibboleth der »Mutter mit dem Penis«), deren Kollaps die – ansonsten hochkompensatorische – uretherale Sexualitt (ein psychoanalytisches Stiefkind!) so schmchlich, so schandbar macht. Avanciert – noch und nicht mehr traditionell – psychoanalytisch, sollten wir auf die fast ausgebrgerte Methode der Verstçrung, das Aufwhlen des objektiven Unbewußten der Dinge, setzen – »Flectere si nequeo superos, acheronta movebo« – mit welchen Aussichten aber? Versteht sich, daß sich das faktische Exekutivorgan der vollendeten Dinglichkeit als Mathematik, Letztrckhalt der Besitzstandsicherung, effektuiert: Persephone im Hades, das Gericht in Maß und Zahl ber die blutrnstigen Toten, in die wuchernde Oberwelt gebracht und violent hineingetrieben, die tçdlich fertile Skelettierung Kultur. Und mag sie, Mathematik, noch zu wunderbar von ihren Entstehungsgrnden, dem Abstraktionsbegehren gemß, in schwindelnde Firnishçhen sich zu autotomisieren trachten, eben in diesem Hçhenflug ihres immer angstbedingten Selbstabrisses (Autotomie!) vollstreckt sie, paradigmatisch, bloß, in sich logisch bestens abgesttzt, die universell tollgewordene, eschatologisch selbstbezgliche Vermittlung – epochal unser Medienwesen, die Bçrse und dergleichen Absolutheiten mehr – Selbstreferenzmoloch, letztabgehoben zur performativ selbstproduktiven Memoria; die »paranoische« und die »zçlibatre« »Wunschmaschine« der »Wundermaschine« der »Aufzeichnung« (»Antidipus«) untertan. Was an notwenigem, immer auch bemitleidenswertem Todesbesch… will man noch mehr? Deshalb hat es bislang auch noch keine auf Mathematik angewandte Psychoanalyse gegeben. Die Hegemonie der Dinge aber erfllt sich in der (Rck)einbildung der Reifikation in den vormals indefiniten menschlichen Kçrper : in der Mache des Hybrids »Organismus« (»corps mati re«), der – mittlerweile de facto mehr als leidlich nur – ansthesierten Vivisektion. Insofern schließt sich derart der Verdinglichungskreis – man halte dabei allzeit bei Bewußtsein, worum es sich in seinen Innereien handelt –, als der Ursprung, das Ursprungspseudos, von seinem Entsprungenen eingeholt wre, also disponiert werden kçnnte, freilich um den Preis, daß sich unter diesem herrlichen »Circulus vitiosus« das schwarze Loch des Ungrunds, eben des Todes, des absolutheitsmaskierten Nichts, a fortiori avisiert. Nicht auch stehen sich – fr alle Psychosomatik
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
69
folgenreich – »Organismus« und »Leib« (»corps propre«) in ursprnglicher Faktizitt gegenber (und halten im Mirakel des »psychophysiologischen Parallelismus« Verbindung – welcher Art? – miteinander), nein, dem vorausgeht die Inzision der Dinglichkeit ins Fleisch (als-ob-retour), und als bloßes Residuum dieses mchtigen Unterfangens resultiert der »Leib«, und berhaupt die – immer medialisierte, weil sonst nicht existente – Psychobinnenansichtigkeit, die demnach keinerlei streng alternatives Gegengewicht zum »Organismus« auszubilden imstande sein, wohl aber zu dessen innerem Krisissupplement taugen kçnnte; und in dieser einzig erfolgversprechenden Bescheidung mßte sich Psychosomatik einrichten. Freilich, alleinige Alternative wre die realisierte Genealogie dieser Verhltnisse insgesamt, das aber geht, zum Glck, nicht: berforderte so, bloß noch bruchmachende, Philosophie, die bei ihrem Leisten dann nur bleibt, wenn sie sich zur bergeordneten Krisisinstanz, des Aufschubs, der Dilatation, insbesondere Psychosomatik in ihre schwindenden Teilrechte (wieder)einsetzend, moderierte. Gleichwohl mçchte man sich bemßigt fhlen, im Medizinwesen den Wanderprediger zu machen: unverdrossen nmlich fr das exstirpierte Verstndnis dessen zu werben, daß der – naturwissenschaftlich virtuos erkundete und manipulierte (»corriger la fortune«!) – menschliche Organismus in einem bis zum letzten genealogisierbaren Artefakt besteht, in dem sich, einschließlich seines apparativen Angangs (Halbmaschine zu Ganzmaschine) alle exkludierende Gewalt der Verdinglichung, todesnotbedingt, nçtelindernd auch, versammelt. »Ultima ratio« indessen der Verdinglichung, das ist der »Todestrieb«. Fernab davon, den tautologisch nichtssagenden Trieb zu sterben, den Hang zum Tode, zu bedeuten, macht er vielmehr die phantasmatisch radikale Inversion des Sterbenmssens aus: todesmimetische Todesabwehr, -parade, und dies in doppelter Gestalt, passiv als, bis zum Suizid reichende, Selbstzerstçrung, und aktiv als martialische Fremddestruktion, diese insbesondere. »Todestrieb«, der den Urskandal des Todes, so oder so, einzig todesdilatorisch zwar, bekanntermaßen aber frustran, imitierend zu bannen sucht; Todestrieb – die Magie der befristenden Uridentifiktion mit dem Uraggressor Tod, in der sich das scheinbar letztgrndende »Ur…« ebenso durchstreicht wie sich das Original – der Tod, fr seine Kopie, den Todestrieb – der Selbst-erfahrbarkeit (Herold und Nachhut das anale Hinten), nicht aber der ußeren Fremdwahrnehmung in der Anderenleiche, bleibend entzieht. Mehr noch, weil totalisiert, als im »dipuskomplex« und im »Narzißmus« fnde im perfekten Todestrieb die – mit dem Tode bestrafte – Selbstapotheose ihr grausames Ende; denn wre ich selbst der Tod, berbietend die parrizidale Selbstgeburt »dipuskomplex« und das »narzißtische« Henkaipan, so kann der Tod mir, »causa sui«, schlechterdings nichts mehr anhaben, und alle Endlichkeitswehen, Abhngigkeiten, Heteronomien, Verpflichtungen schwnden endgltig dahin; nur daß mit dieser hçchsten Absolutheitsprtention, um ihres
70
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Erhalts willen, die Opferung alles Anderen, Essential der Gewalt, je schon begonnen hat. Unschwer einzusehen, daß sich dieses metaphysische selbstgrndend Zugrundegehen, kulminierend im »Todestrieb«, in seiner intersubjektivistischen Isolation, alsbald letal entropisierte, wenn es sich eine angemessene, also totheitsadquate Außenreprsentanz, einen differierenden bergeordnet sachhaften Drittenhort, verschaffte, welcher nichts anderes denn die Verußerung des »Todestriebs«, des »ursprnglichen Sadismus«, prophylaktische Umwendung der Gewalt der Sterblichkeit in schaffende Todesgewalt, Dingekreation, Kultur, sein kann. Ewige Dingfaszination, Humanum, erstlich: Die Dinge offenbaren sich, aufgeklrt, als »Todestriebreprsentanzen«, nothaft verflscht zu herrschaftlichen »Todes(trieb)reprsentanzen«, und fortgesetzt depraviert zu »Todes(triebre)prsentanzen, wahrlich zur Phantasmagorie des Gottes: zum Zusammenfall des Selbst mit seiner eigenen Verdinglichung, frei von Synkope und Tod, in aller toten Materialitt a-kontradiktorisch bei hellstem, vitalstem Bewußtsein seiner selbst, inklusive alles nicht-mehr-Anderen. Psychoanalytisch steht dafr, wie schon erwhnt, der Fetischbegriff, mehr hier psychopathologisch eingegrenzt (und deshalb, oblique jedenfalls, umso erhellender) auf die Obszçnitt der Schwarzen Messen, der – ber den »Hades« hinaus in den »Tartaros« vergeblich verbannten – Unterwelt unseres lichten offiziellen Dingekults mit allem seinem, alles verschluckenden, Drumherum; der Dinge freilich allerlngst als Waren – das pflegt fast nur noch vergessen zu werden, und man weiß warum –, wesentlich memorialisiert: (»aufgezeichnet«: »Anti-dipus«), angestoßen, gedeckt, ausgerichtet, vom Riesenschlund der Immaterialitt, dem globalisierten selbstreferenten Kapital; worin sich seine kannibalischen und kopro(nekro)phagischen sowie urethrogenitalen Kçrperkorrespondenzen, genealogische Spuren so zum inneren Opfertempel außen, wiederfinden. Derart wird es wohl immer plausibler werden, daß alle Dinge, nach dem Vorbild nachgerade des Nutriments und des Exkrements, geistversessen waffenhaft (miß)raten mssen – zerstiebende, sich in Nichts auflçsende (welchen Verdnnungsgrads?) Sprengstcke, zu Asche verbrannte, in den Ozean zerstreute Leichenreifikate. Und unsereiner – wie komisch auch! – aufsitzend sitzt, gleichwohl hçhnend und hmend und spottend, auf dem Geld und der Warensthetik, den »les immatriaux« in Potenz – das darf er, fast niemand mehr nimmt daran Anstoß. Und also sprießen aus den Totenschdeln weiterhin die allerschçnsten Blumen. Wie sollte die naturwissenschaftlich gegrndete Medizin nicht die Spitzenexekutive der Objektivierung ausmachen, da sie ja, in gedehntester Zirkularitt, einem Fernkurzschluß sozusagen, den menschlichen Kçrper eben als Organismus auf sich selbst (rck)bezieht, ihn, wie eigenursprnglich, bei sich selbst (wieder)ankommen macht? Eine grandiose Sache zwar an Selbstheimischkeit, doch kippt sie in ihr schieres Gegenteil antisentimentalistisch um: in
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
71
Selbstentfremdung nmlich, den Entzug, den Untergang der vorausgehenden Mache in das von ihr Gemachte, in die haltende Haltlosigkeit des »n-ten Futurs im Irrealis« (HH), in den Abgang des pseudos der Selbstfundierung ins Nichts, des hervorragenden Dokuments des »Todestriebs«, des Organismus, in den seine Differierenskrfte verschleißenden Tod. Auf Subversionskurs bedrfte es dieses langen Blicks auf die apparative/ pharmakologische Organmedizin als eines hart materialisierten todesusurpatorischen Gespensts, in dem von Selbstbezug, angesichts aller ihrer wohlsortierten tautologischen Isolate, nimmer die Rede ist. In solcher genealogischen Wahrnehmung aber wre die Stunde einer erneuerten Psychosomatik beschlossen, die zunchst nichts anderes erbringen mßte, als alles wissenschaftskonstitutiv Weggeschaffte, sprich: das szientifische Unbewußte, anzumahnen, und dies nicht ohne vollen Respekt vor der Gattungsnot, sich ein solches Maß an ressierender Verdeckung, klassischer »Seinsvergessenheit«, herausnehmen zu mssen, in der sich Normal- und Hypertrophiestatus kriterienlos vermengen? Und in dieser primren Gedchtnisarbeit nhme der – das wissenschaftliche Objektivierungsdelir konterkarierende – »Beziehungs«aspekt gebhrend (wieder) Platz; vordringlich allerdings im Sinne der Krisis der Dingreferenz, des heilsverheißenden Trugs alles Andere einschließender Selbstobjektivation – »Beziehungs«art, die der – dieser nur dienstbaren abgeleiteten – intersubjektiven, -korporellen vorangeht. Das alles an Umwlzung ist, versteht sich, leichter gesagt, als, wirksam intervenierend, getan. Alleine schon immanent mßte der nahen esoteriktrchtigen Versuchung widerstanden werden, die genealogischen Monita direkt in eine faktische Alternative umzusetzen. Und die generelle Skepsis bleibt konstant: Der Todeszug ins »gelobte Land«, in den parfmierten Leichengeruch der »knstlichen Paradiese«, ist, immer auch erpreßt, unaufhaltsam wohl schon abgefahren – Waffenhaftigkeit aller Dinge, Schtigkeit aller Kçrper, epochal gekrçnt von deren Autosymbolismus, den alle Wirklichkeit substituierenden Mediensimulakren.
Supplement ber Beziehungsprobleme »Experimentum crucis« fr Beziehung berhaupt: das ewige Kantsche Paradigma: daß jeder (jede?) jedem (jeder?) Selbstzweck, und nicht Mittel zu eigenen Zwecken, sei. Eine gefhrliche Utopie? Es fhrt kein Weg daran vorbei, in dieser kriterialen Wendung des »kategorischen Imperativs« die kryptische Aufforderung wahrzunehmen, den gesamten Zweck-Mittelbereich, um der Freisetzung personaler Verselbstzwecklichung willen, zu technifizieren, demnach auf die »Entfesselung der Produktivkrfte« zu setzen. Grundstzlich
72
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
prekr aber ist diese erhabene Spaltung, sofern sie das Menschenwesen auseinanderreißt und die eine abtrgliche Seite (buchstblich) verdinglicht (zu »bergangsobjekten« auf Erwachsenenniveau macht), so daß sich moralische Handlungsautonomie einerseits und Technikeinsatz andererseits in gerechter Kooperative gegenberzustehen scheinen. Ja, der Schein trgt, und zwar schon bevor beide Relate in sich selbst hinein endzeitlich abdriften, dort in tçdliche Allliberalitt, hier in korrespondierend tçdliche universelle Rstung. Davor nmlich spielen die technologischen Mittel mitnichten untereinander die Zweckmittelkarte – wie auch sollte das vonstattengehen?! – aus, nein, wenn immer diese kurzum an Maschinen delegiert erscheint, bedarf es eines entsprechenden Funktionrs, der – bis zu welchem Grade wiederum technisch substituierbar? – diese – angeblich die Wrde des Menschen einzig bewahrende – Abtretung ausrichtet, ausfhrt, kontrolliert (nach vorhergehender Produktion!), wodurch, unvermeidlicherweise, sich, intersubjektiv-institutionell indirekt, und technologisch direkt, die Zweck-Mittelrelation, also im Selbst-Anderenverhltnis selbst wiederum, vollends restituiert. Und schlimmer noch: So werden die betroffenen Subjekte zu bloßen Mitteln der Maschinenamortisation degradiert – »Der Knecht erscheinet als der Herr«! –, und man wird vergeblich dagegen Sturm laufen, nicht auf die leere humanistische Beschwçrungsformel zu verfallen, ahnungslos derart der Grausamkeit unserer Gçtter ausgeliefert, daß alle Kultur doch um des Menschen willen geschaffen sei, und eben nicht umgekehrt. Das kommt davon: Wenn immer man, ußerst konsensgetragen, meint, die – gar auch noch technifizierte – Zweck-Mittelbeziehung seinsrangmßig desavouieren zu sollen, nimmt es nicht mehr Wunder, daß die entwerteten, scheinbar nur exklusiv botmßigen Dinge ihre eh ja subakut perenne Herrschaft, umso verleugnungsprovokanter, pointieren. Und vom hehren »kategorischen Imperativ«, dem Beziehungsinbegriff, restiert nicht mehr als der alltgliche Sentimentalismus, daß der Arzt seinem am Tropf hngenden Patienten ein paar warme Wort zukommen lßt. Oder sollte es nicht etwa doch den Gnadenaugenblick geben, in dem alle Wahrnehmung, wie unbedingt kompassionell, sich derart auf das Leid der Welt zusammenzieht, daß alle Funktionalisierungen, Subsumtionen, Hierarchien, angesichts des anscheinend fraglosen Auftrags der – so sich auch begrenzenden – Schmerzenslinderung bedeutungslos werden, indem sie sich wahrhaft in deren Dienst stellten? Doch whrend dieser flchtigen »pia fraus« rast das ganze entropische Unwesen der dinglichen Kçrperausschlachtung, unser Gattungslos, unbesehen weiter ; und, trotz dieser wohl vergçnnten Mitleidensber-sicht, erfhrt man sich in den unendlichen Netzen der herrschaftlichen Unterwerfungstcken wiedergefangen: als Dingetherapeut zumal, der diese seine Knechtschaft in der Art der Gewalt gegen den leibhaftigen Anderen erfolgreich berzukompensieren whnt.
Rudolf Heinz: Objektivierung und Todestrieb
73
Wenn denn nun unser ernchtert skulares Gemt es glcklich hintertreiben mag, dem idealistischen Dualismustrug des »kategorischen Imperativs« auf den Leim zu gehen, so fragt es sich sogleich, was berhaupt noch an »Beziehungs«-referenten Reformen, hier speziell im Medizinwesen, gewhrleistet sein kçnnte. Nicht nur manches noch, sondern sehr viel, allerdings nicht im großen Sinne einer mehr als immanenten Alternative, bloß einer Binnenreform dagegen, selbst deren Gelingen unausgemacht bleibt. Will sagen, daß sich die Organismusgenealogie – Werk von Projektion (projektiver Identifikation), Spaltung und Isolierung des Projizierten und Abgespaltenen – eben als ein solches objektives Abwehrartefakt bei Bewußtsein halten lßt und sich dabei als befhigt erweist, die unvermeidliche Selbstverdinglichung zu unterlaufen, ohne sich, hypostatisch, von ihr absetzen zu mssen. Wozu eine solche philosophisch-psychoanalytische Wissensintervention frommt? Mindest erçffnet sie den Raum dafr, die massive Selbstentfremdung in der Selbstverdinglichung, genannt Organismus, aufzulçsen, das Selbst und sein prothetisches Selbstdouble zu (re)homogeneisieren, deren materielle Rtselhaftigkeit in identischen Sinn zu konvertieren, und so die physio-psychologische Grundbeziehung allererst herzustellen; und nicht zuletzt den organmedizinisch blichen Kurzschluß von apparativer Diagnostik und medikamentçser Therapie aufzuhalten sowie den derart entstehenden Leerraum dazwischen techno-, sozio-, psycho-somatisch aufzufllen. »Medizin und Beziehung« – eine zeitgemße Selbstwahrung der Psychosomatik bestnde, paradoxerweise, darin, die Selbstbeziehung wider ihren selbsteigenen Schwund in ihrer hypostasierten Verdinglichung, dem Organismus als exklusivem Objekt der Organmedizin, in ihre Rechte (wieder)einzusetzen. Wohlan?
Literatur Lvi-Strauss, C. (1973). Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Andr Karger Ethik und Psychotherapie?
»Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Berhrung mit Bçsem […] ferne wissen mçchten, werden gewiss nicht versumen, aus der […] Eindringlichkeit des Mordverbotes befriedigende Schlsse zu ziehen auf die Strke ethischer Regungen, welche uns eingepflanzt sein mssen. Leider beweist dieses Argument noch mehr fr das Gegenteil. Ein so starkes Verbot kann sich nur gegen einen ebenso starken Impuls richten. […] Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht tçten, macht uns sicher, dass wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mçrdern abstammen […]« (Freud, 1915, S. 349 f.).
Einleitung Nach dem gelufigen Sprachgebrauch bezeichnen »Ethik« und »Moral« Unterschiedliches. Das Wort »moralisch« charakterisiert Urteile, Regeln, Haltungen aber auch Institutionen, welche das menschliche Verhalten leiten und regulieren. »Moralisch« wird synonym mit »sittlich« gebraucht. Moralische Regeln sind fr eine Gemeinschaft verpflichtend. Sie beruhen auf bereinkunft, sei diese durch eine bergeordnete Ordnung letztlich vorgegeben oder aber diskursiv ausgehandelt. Sie bedrfen einer reflexiven Begrndung. Eben diese Aufgabe obliegt der Ethik. Die Ethik ist eine philosophische Disziplin, die moralische oder sittliche Maßstbe begrndet und festlegt, an denen sich das alltgliche Handeln und Urteilen der Individuen oder sozialer Gemeinschaften orientieren. Anders als die Politik, die die Frage der Begrndung ihrer Gesetze mit einer ußeren Macht beantwortet, bedarf die Ethik einer Begrndung aus sich selbst. Dabei geht die Ethik nicht nur der Frage nach den Grnden, sondern auch der Frage nach der Methode ihrer Begrndung nach. Praktischer formuliert wird mit der Ethik die Frage nach dem richtigen (guten und gerechten) Handeln verantwortet: Was soll ich (jetzt, von Fall zu Fall, in der Gnze meines Lebens) tun und wie kann ich dies vernnftig begrnden? Mit der Ethik ist diese Frage jedoch nicht inhaltlich, sondern streng genommen formal zu beantworten.
Andr Karger : Ethik und Psychotherapie?
75
Aristoteles prgte den Begriff der Ethik aus zwei Worten der griechischen Umgangssprache: »aethos«, als die Lebenswelt der Menschen an dem Ort, an dem sie wohnen, sowie »ethos« (lat. mores), als die Sitten und Gebruche, denen sie dabei folgen. Es gibt somit den sozialen Ort, der in seiner Begrenzung das Zusammenleben der Menschen freisetzt. Das Zusammenleben der Menschen besteht aber nur, insofern diese Freisetzung zugleich reguliert wird. »Der Gegenstand der Ethik, ethos und aethos«, die Beziehung zwischen Menschen und die normativen Verstndigungsverhltnisse, »findet sich bereits Aristoteles in den Fallstricken des Begehrens und seiner Objektbeziehungen angelegt« (Warsitz, 2003, S. 23). Ethik und Moral lassen sich nicht strikt voneinander trennen. Sie stehen zudem in einem Spannungsverhltnis von Notwendigkeit und relativer Beliebigkeit. Dieses Spannungsverhltnis wird einerseits bestimmt durch die Notwendigkeit von Regeln und Normen (Moral), welche soziale Handlungen regulieren. Beziehungen bedrfen immer eines regulierenden Elementes (des Dritten); das Soziale besteht nur aufgrund der vermittelnden Dimension des Symbolischen. Aber dies gilt nicht nur fr den Raum des Sozialen. Es gilt auch fr die Konstitution des Subjekts. Es muss Normen geben, die dem Subjekt innerhalb des ontologischen Feldes einen Raum erçffnen. Damit diese nicht beliebig und willkrlich sind, ist es notwendig, die Regeln und Normen ihrerseits zu begrnden. Allerdings ist es unmçglich, eine solche Letztbegrndung zu leisten. »Ethische Handlungsfhigkeit ist weder gnzlich determiniert noch radikal frei, vielmehr besteht ihr Ringen, ihr elementares Dilemma darin, Produkt einer Welt zu sein, whrend man sich doch zugleich in bestimmter Hinsicht selbst erschaffen muss« (Butler, 2007, S. 29). Philosophie- und ideengeschichtlich lassen sich folgende Strategien der Begrndung unterscheiden. A.) Die Normen – so beispielsweise die Annahme von Aristoteles – ruhen in Gott, indem sie als Ideen dem Gçttlichen entsprechen. Das menschliche Streben nach dem Wohl ist das Streben nach Gutem. In dem der Mensch sich dem Gçttlichen annhert und dieses Gçttliche versucht, in sich zu entdecken, handelt er im Sinne des Guten. B.) Die Normen lassen sich aus der Vernunft heraus begrnden. In Kants Argumentation des Kategorischen Imperativs beispielsweise strebt der Mensch nicht von sich aus als empirisches Subjekt nach dem Guten. Das Subjekt ist gespalten in sinnliche Neigungen und Vernunft. Die Idee des Guten als Vernunft ist im Wesen des Menschen selbst bezeugt. Die Erfahrung des Guten ist nur in der Abwendung von sich selbst auf das Allgemeine der Vernunft mçglich, die zugleich eine Zuwendung zu sich selbst ist. Daher ist die Begrndung eine Figur des Aufrufs: das Allgemeine der Vernunft (Gesetz) ruft den Menschen an (Bernet, 1994). C.) Dem Letztbegrndungsanspruch wird eine kritische Absage erteilt. Stattdessen werden die Normen diskursiv ausgehandelt und besttigt. Das dezentrierte, gespaltene Subjekt, das seinen Ursprung außerhalb seiner selbst
76
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
hat, ist immer auf den Anderen verwiesen. Die Vorgngigkeit des Anderen generiert einen Appell, auf den das Subjekt antwortet. Verantwortung meint, dass das Subjekt sich in der Position des Antwortenden nicht ersetzen lassen kann. Die ethische Begrndung ergibt sich als Anerkennung der Alteritt (Levinas, 1983).
Die Unsittlichkeit der Psychotherapie und ihre (ethische) Sicherung Was haben nun aber Ethik und Psychotherapie miteinander zu tun? Die Beantwortung dieser Frage kann auf verschiedene Weisen erfolgen. Bestimmt man das Verhltnis negativ im Sinne eines Ausschlusses, dann ist die Psychotherapie, in Sonderheit die Psychoanalyse, eine Disziplin, die wenig zu einer Ethik beitragen kann, weil sie keine Werte fr das richtige Handeln begrnden helfen kann. Denn eine solche Begrndung kann nur außerhalb ihrer selbst geleistet werden. Dieses Argument ist historisch in der Ich-Psychologie und dem Neukantianismus zu verorten und beruht auf der Prmisse der Trennung zwischen Genesis und Geltung und damit der Annahme einer wertefreien Naturwissenschaft. Psychoanalyse als Naturwissenschaft kann zwar, bleibt sie der empirischen Methode verpflichtet, wahre Erkenntnisse erbringen, selbst aber keine Wertebegrndung fr diese Erkenntnisse liefern (Heinz, 1981, S. 137 f.). Vielmehr ist die Psychoanalyse in besonderer Weise anfllig fr ethische Probleme. Zwar stehen in der Psychotherapie explizit die zwischenmenschliche Beziehung und ihre methodische Vernderung im Mittelpunkt, aber im besonderen hat sich die Psychoanalyse seit ihrem Beginn immer auch dem Verdacht einer spezifischen Unsittlichkeit ausgesetzt gesehen, womit hier weniger die Betonung der Bedeutung der (frhkindlichen) Sexualitt gemeint ist. Seit den 1980er Jahren und dem »Fall Spielrein« (Karger u. Weismller, 2006) wird in der psychoanalytischen Beziehung das Problem der Grenzberschreitungen und bergriffe vermehrt explizit kritisch thematisiert. Erfahrungsberichte ehemaliger Patientinnen und Patienten und Kandidatinnen und Kandidaten, die von sexuellen und narzisstischen bergriffen ihrer Therapeuten berichteten, wurden publiziert (beispielsweise Anonyma, 1988) und beschftigen seither nicht nur die Fachçffentlichkeit. Seit den 1990er Jahren gibt es die ersten aussagekrftigen Studien zum »Sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und Psychiatrie« (Becker-Fischer u. Fischer, 1996). Die empirische Fundierung von dessen Hufigkeit, nach der bis zu jeder zehnte Therapeut und Therapeutin hiervon betroffen ist, half eine Revision des Ge-
Andr Karger : Ethik und Psychotherapie?
77
setzes zum Schutz vor sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174c StGB, 1998/2004) vorzubereiten. Aber auch die Psychoanalytischen Institutionen sahen sich vermehrter Kritik und einem dadurch bewirkten Handlungsbedarf ausgesetzt. Ihre wenig transparenten, von Abhngigkeitsverhltnissen geprgten Ausbildungsstrukturen waren wohl deshalb auch so skandalçs (beispielsweise Pohlen u. Bautz-Holzherr, 2002), weil diese aufs Schrfste zu dem selbst erhobenen Ideal einer durch Psychoanalyse allererst zu begnstigenden Mndigkeit und Befreiung des Subjekts in Kontrast standen. Es wurde dabei deutlich, dass das Problem von Grenzberschreitungen in Therapien und Institutionen keineswegs nur der unreifen oder gestçrten Persçnlichkeit einzelner Therapeuten anzulasten, sondern ein Systemproblem ist. Welches Systemproblem ist gemeint? Es ist das Konzept des Begehrens und sein interaktioneller Austrag in der bertragung, dem zentralen Arbeitsinstrument der Psychoanalyse. Intrapsychische Reprsentation und Strukturbildung bedrfen der Vermittlung und bestndigen Aktualisierung durch interpersonelle Erfahrung, durch Hereinnahme von Fremdem in den psychischen Innenraum. Die sogenannte »Objektbesetzung« ist schon der bergriff auf den Anderen. Wenn aber der Mensch als fundamental auf den Anderen bergreifend, eben als invasiv verstanden wird und in der Psychoanalyse dieser bergriff im Sinne einer aktiven methodisch geleiteten Handhabung in der bertragungs-Gegenbertragungsanalyse strategisch eingesetzt wird, dann sind bergriffe im Sinne der projektiven Identifizierung als Basis normaler Kommunikation (Bion) die vorauszusetzende Regel. Wie nun ist die Psychoanalyse mit diesem Problem umgegangen? Angefangen von der seit Beginn der Psychoanalyse formulierten Abstinenzregel (und Settingregel) und den bekannten Steuerungsinstrumenten wie Selbsterfahrung, Super- und Intervision gibt es mittlerweile einen ganzen Maßnahmenkatalog, der der bergriffigkeit wehren soll. Dieser lsst sich in drei Bereiche aufgliedern: a.) Wissenschaftlichkeit der Methode, b.) ethische Leitlinien (festgelegt in den Berufsordnungen und Verbandsordnungen), c.) Schaffung von Kontroll-, Reflexions- und Kommunikationsstrukturen in den Institutionen (Vertrauensanalytiker-Gremien, Schiedskommissionen, vgl. beispielsweise Ruff, 2005). Es bleibt zu fragen, ob diese Maßnahmen alleine letztlich sinnvoll sind und dem Problem des unrechten Handelns gerecht werden, oder ob mit Karl Kraus (1915) gilt: »Das bel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.« Vorgngige Regeln, Prinzipien und Strukturen drohen in sich zu erstarren und schuldentlastend, indem man sich auf sie bezieht, ohne dies selbst in Handlung umzusetzen, das faktische Unheil gar noch zu verdecken. Mit Adorno gilt der Hinweis auf die Gewalt, die der Allgemeingltigkeit selbst innewohnt. In dem Sinne gilt, dass solche Regeln, Prinzipien und Strukturen zwar sinnvoll sind, aber nicht fr sich genommen
78
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
werden drfen, sondern stets ihrer »individuellen lebendigen Aneignung« und in der Anwendung bestehenden Neuschaffung bedrfen. Was ist nun vom Instrument ethischer Leitlinien zu halten? Fr die Bereichsethik der Medizin und darin eingemeindet der Psychotherapie und Psychoanalyse ist das Vier-Prinzipien-Modell von Beauchamp und Childress (1989) als allgemeiner normativer Rahmen anerkannt. In ihm finden die Prinzipien der Achtung vor Autonomie, der Frsorge und Wohltun, der Nichtschdigung und der Gerechtigkeit/Gleichheit gleichzeitig Bercksichtigung. Betont werden ferner eine Fall-zu-Fall-Bewertung und anwendungsspezifische Ausformulierungen. Verschiedene Autoren haben sich mit der Relevanz und Umsetzung dieser Prinzipien fr die Psychotherapie beschftigt (Kottje-Birnbacher u. Birnbacher, 1995, 2006; Ruff et al., 2005) und dabei insbesondere das Problem der in therapeutischen Beziehungen (wie in Beziehungen berhaupt) grundstzlich stattfindenden Beeinflussung herausgearbeitet (s. o.). Das Subjekt- und Beziehungsverstndnis der Psychoanalyse steht im Widerspruch zu dem in den medizinischen Bereichsethiken implizit vorausgesetzten. Solches nimmt das irgend abgegrenzte autonome Subjekt als gegeben, welches in der Psychoanalyse gerade in Frage gestellt ist.
Die Psychoanalyse der Ethik als ihre Ethik Man kann die eingangs gestellte Frage nach dem Verhltnis von Ethik und Psychoanalyse auch von einer anderen Seite aus aufnehmen und der berlegung nach gehen, was die Psychoanalyse zu einer Kritik und zu einer Formulierung der Ethik leisten kann? Dies scheint umso mehr angemessen, als dass Ethik eine »Reflexionstheorie« (Luhmann, 1991) ist, fr das, was normative Gltigkeit zu erlangen beansprucht. Weit entfernt davon, hier eine vollstndige Bercksichtigung aller in der Psychoanalyse diesbezglich entwickelten Gedanken zu leisten, sollen einige berlegungen Freuds im Folgenden dazu dienen, wichtige Akzentuierungen vorzunehmen. Bei Freud selbst ist bekanntermaßen das Gewissen die richtende und bewertende Instanz des ber-Ich, welches im dipuskomplex durch Identifizierung mit den geliebten, wie gehassten Eltern entsteht. »Dies ber-Ich ist nmlich ebensosehr der Vertreter des Es wie der Außenwelt. Es ist dadurch entstanden, dass die ersten Objekte der libidinçsen Regungen […], das Elternpaar, ins Ich introjiziert wurden […] Auf diese Art wurde erst die berwindung des dipuskomplexes ermçglicht. Das ber-Ich behielt nun wesentliche Charaktere der introjezierten Personen bei, ihre Macht, Strenge, Neigung zur Beaufsichtigung und Bestrafung« (Freud, 1921, S. 380). Das ber-Ich des Subjekts ist die Stimme des Gewissens, in der das Subjekt vom
Andr Karger : Ethik und Psychotherapie?
79
internalisierten Anderen angerufen wird. Kant paraphrasierend ist fr Freud so »der kategorische Imperativ […] der direkte Erbe des dipus-Komplexes. […] Der dipuskomplex erweist sich […] als die Quelle unserer individuellen Sittlichkeit (Moral)« (Freud, 1921, S. 380). Die Einschreibung des Sozialen in das Subjekt markiert, dass das Subjekt durch etwas, was ihm vorausgeht, bestimmt wird. Es gibt aber nicht nur das Andere, welches sich in das Subjekt einschreibt, sondern es gibt auch umgekehrt die durch »libidinçse Regungen« – moderner formuliert – Objektbesetzung bewirkte Hereinnahme des Anderen durch das Subjekt. Das Subjekt einverleibt, introjiziert den, identifiziert sich mit dem Anderen aus der Not seines ursprnglich nicht bei sich seins. Es ist eine »paradoxe Bewegung«, in der gleichzeitig »durch die Objektbesetzung die Andersheit des Anderen negiert und angeeignet wird, darin liegt ein Stck Destruktivitt, und gleichzeitig diese Aneignung des Anderen wieder rckgngig gemacht wird« (Kchenhoff, 1999, S. 201 f.). Interessanterweise finden sich die weitreichendsten berlegungen zur Ethik bei Freud in seinen kulturtheoretischen Schriften, in denen er sich explizit mit dem Problem der Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen und den Mçglichkeiten des Gewaltaufschubs durch Kultur beschftigt. Dabei wird das ber-Ich des Einzelnen in Analogie zum »Kultur-ber-Ich« der Gemeinschaft gesetzt: »Das Kultur-ber-Ich hat seine Ideale ausgebildet und erhebt seine Forderungen. Unter den letzteren werden die, welche die Beziehungen der Menschen zueinander betreffen, als Ethik zusammengefasst. […] Die Ethik ist […] als ein therapeutischer Versuch aufzufassen, als Bemhung, durch ein Gebot des ber-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war« (Freud, 1930, S. 502 f.). Das Problem, welches Freud benennt, ist das der menschlichen Destruktivitt, der primren bergriffigkeit, welche nichts weniger als einem (Aggressions-)trieb, vielmehr einer Konstitutionsbedingung des Subjekts zuzurechnen ist. Das Gebot »Du sollst nicht tçten« entstammt dem ber-Ich, welches aus einem Schuldgefhl entstanden ist, das Folge eines Tçtungswunsches einem geliebten Menschen gegenber ist: »An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur […] eine mchtige Wurzel des menschlichen Schuldbewusstseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht tçten. Es war als Reaktion gegen die hinter der Trauer versteckte Hassbefriedigung am geliebten Toten gewonnen worden […]« (Freud, 1915, S. 348 f.). Weniger interessant ist hier die Schlussfolgerung aus einer solchen Herleitung sittlicher Gebote, dass diese, als reine ber-Ich-Leistungen verstanden, letztlich von nur beschrnkter Wirkung sind. Vielmehr ist Freuds Einsicht, dass die Unterwerfung unter das Gesetz keine unter eine faktische Autoritt oder Macht ist, sondern eine Unterwerfung unter das eigene ber-Ich, welches das Gesetz allererst entstehen lsst. Erst im Schuldgefhl entsteht das Gesetz aus seiner Abwe-
80
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
senheit. In »Totem und Tabu« (Freud, 1912) wird diese paradoxe Konstitution des Subjekts und der Kultur im Mythos der Urhorde erzhlt. Als Ursprungserzhlung lsst sich dieser nur als Mythos narrativ reprsentieren. Zur Erinnerung: das soziale Band zwischen den Sçhnen wird durch den Mord am Vater und dessen Einverleibung und das anschließende Schuldgefhl gestiftet. Warum aber fhlen sich die Sçhne schuldig, wenn kein Vater mehr da ist, um sie zu strafen? Die Antwort liegt in dem Hinweis auf die Liebe des Vaters. Das Schuldgefhl ist »das Ergebnis der uranfnglichen Gefhlsambivalenz gegen den Vater, die Sçhne hassten ihn, aber sie liebten ihn auch; nachdem der Hass durch die Aggression befriedigt war, kam in der Reue ber die Tat die Liebe zum Vorschein, richtete durch Identifizierung mit dem Vater das ber-Ich auf […]« (Freud, 1930, S. 492). Die Mitglieder der Horde tçten und verschlingen den Vater, um der Vater zu sein – um das Subjekt zu sein. »Worum es fr den Mçrder geht, ist nicht, ein Objekt des Begehrens […] zu besitzen, sondern eine Identitt zu gewinnen« (Borch-Jacobsen, 1992, S. 142). Es ist das Begehren, sich das Sein des Anderen anzueignen oder wie Lacan es formuliert hat, das Begehren nach dem Begehren des Anderen. »Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer Besitz, Bestandteile unseres eigenen Ichs, anderseits aber auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zrtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hngt […] ein Stckchen Feindseligkeit an, welches den unbewussten Todeswunsch anregen kann« (Freud, 1915, S. 353). Das Subjekt kommt zur Welt, in dem es den Anderen, der ihm vorausluft, in einer angstgetriebenen projektiven Identifizierung in sich aufnimmt. Was ist aber die irreduzible Andersheit, die die identifikatorische Gewalt provoziert? Es ist der »uneinnehmbare Platz des Toten, insofern der Tod die absolute Grenze der Identifizierung bildet« (Borch-Jacobsen, 1992, S. 144). Der Tote reprsentiert das eigene Tod-Sein, den Tod, der als »das Unassimilierbare par exellence« eine Grenze bildet. Dieser Tote bin ich – und dennoch ist er unendlich anders; denn ich kann in mir das Tote nur vorstellen, es aber nicht als Totes in mir zum Existieren bringen. Damit ist der Andere als Tod doppelt bestimmt, als absolute Differenz, die zugleich das Leben ermçglicht.
Was heißt das aber fr die Frage der Ethik und was kann die Psychoanalyse zu ihr beitragen? Die Mçglichkeit des Subjekts, das andere Subjekt in seiner Differenz anzuerkennen, ist ein Problem. Es bleibt am anderen Subjekt ein widerstndiger Rest, den zu begehren, das Subjekt nicht umhinkommt und der sich der Aneignung und auch der Erkenntnis entzieht. »Nehmen wir an, das Objekt
Andr Karger : Ethik und Psychotherapie?
81
[…] sei dem Subjekt hnlich, ein Nebenmensch. [… Dieser] sondert sich […] in zwei Bestandteile, von denen der eine durch konstantes Gefge imponiert, als Ding beisammen bleibt, whrend der andere durch Erinnerungsarbeit verstanden, d. h. auf eine Nachricht vom eigenen Kçrper zurckgefhrt werden kann« (Freud, 1895, S. 426 f.). Eine Anerkennung des anderen Subjekts erscheint nur mçglich unter der doppelten Prmisse, den Mangel in mir selbst und den vorgestellten Mangel im anderen Subjekt – abermals eine Gleichheit – in sich zu entdecken. Mit der Gleichheit ist die Differenz, das Andere aber abermals entschwunden. In jngster Zeit hat in der psychoanalytischen Gemeinschaft das Problem der Alteritt, wohl im Zuge der deklamierten »intersubjektiven Wende«, eine erneute Diskussion unter dem Topos der »Anerkennung« erfahren (Daser, 2003; 2005; Kchenhoff, 2004; Bedorf, 2004; Oliner u. Bohleber, 2006). Dabei geht es im Kern um die Frage, ob die gelingende Anerkennung zwischen Selbst und Anderem grundstzlich mçglich ist, oder »ob an die Stelle einer Anerkennung des Anderen eine ›Anerkennung des Begehrens‹ […] treten« msse (Kchenhoff, 2004, S. 817). Das Denkenkçnnen, die Erkenntnis des Anderen, setzt immer schon eine Gleichheit voraus, die das Denken ermçglicht. Der »Nebenmensch« bleibt in dem Zyklus von Projektion und Identifizierung immer der inneren Realitt des Subjekts verhaftet. Das irreduzible Andere ist also nur in seiner Abwesenheit zu denken. Das fhrt zu der Frage, ob das irreduzible Andere berhaupt vom Subjekt aus gedacht werden kann. Denn dies bedeutet, dass das Andere gerade auf das Subjekt rckfhrbar bleibt, weil es nur ber seine identifizierenden Akte gedacht werden kann. Das irreduzible Andere markiert aber eine Differenz, die dem Subjekt immer ußerlich bleibt.
Fazit 1. Es gibt ein irreduzibles Anderes, das dem Subjekt vorausluft und seine Konstitution zugleich ermçglicht und begrenzt. 2. Das Verhltnis zu diesem Anderen ist ambivalent. Einerseits kommt das Subjekt nicht umhin, sich das Andere anzueignen. Andererseits wird die vollstndige Aneignung aufgeschoben, wre diese doch die Identitt mit sich im Tod. 3. In einer bestimmten Lesart leitet sich aus der Vorgngigkeit des Anderen eine spezifische Verantwortung ab und wird die Position einer relationalen/intersubjektiv begrndeten Ethik gewonnen (s. o.). In dem das Subjekt affektive Einsicht gewinnt in die Logik seines Begehrens, den Schuldzusammenhang, in den es eingelassen ist und in dasjenige, was in ihm un-
82
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
erreichbar jenseits seiner selbst bleibt, und das es nicht umhin kann, bestndig sich aneignen zu wollen, gewinnt es eine »Scheu«, eine Haltung vor sich selbst und dem anderen Subjekt, eine Verantwortung sich selbst und den anderen Subjekten gegenber. In einer anderen Lesart bleibt das narzisstische Begehren nicht hintergehbar (Heinz, 2007).
Literatur Anonyma (1988). Verfhrung auf der Couch. Freiburg i. Br.: Kore. Arendt, H. (2006). ber das Bçse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Mnchen u. Zrich: Piper. Beauchamp, T. L., Childress, J. F. (1989). Principles of biomedical ethics. New York u. Oxford: Oxford University Press. Becker-Fischer, M., Fischer, G. (1996). Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie – was tun? Krçning: Asanger. Bedorf, T. (2004). Zu zweit oder zu dritt? Intersubjektivitt, (Anti-)Sozialitt und die Whitebook-Honneth-Kontroverse. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 9/10, 991 – 1010. Bernet, R. (1994). Subjekt und Gesetz in der Ethik von Kant und Lacan. In H.–D. Gondek, P. Widmer (Hrsg.), Ethik und Psychoanalyse (S. 27 – 51). Frankfurt a. M.: Fischer. Borch-Jacobsen, M. (1992). Das Freudsche Subjekt – vom Politischen zur Ethik. Fragmente, 39/40, 123 – 145. Butler, J. (2007). Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Daser, E. (2003). Begegnung im Dienste des Begreifens. Anerkennung als Moment des analytischen Prozesses. Forum der Psychoanalyse, 19, 295 – 311. Daser, E. (2005). Anerkennung als interaktionelles Moment der Psychoanalyse. Forum der Psychoanalyse, 21, 168 – 183. Freud, S. (1895). Gesammelte Werke (Nachtragsbd.). Entwurf einer Psychologie (S. 386 – 477). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1912). Gesammelte Werke (Bd. IX). Totem und Tabu. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1915). Gesammelte Werke (Bd. X). Zeitgemßes ber Krieg und Tod (S. 323 – 355). Frankfurt a. M.: Fischer Freud, S. (1921). Gesammelte Werke (Bd. XIII). Das çkonomische Problem des Masochismus (S. 369 – 383). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930). Gesammelte Werke (Bd. XIV). Das Unbehagen in der Kultur (S. 419 – 506). Frankfurt a. M.: Fischer. Gondek, H.–D. (1992). Cogito und sparation – Lacan/Levinas. Fragmente, 39/40, 43 – 76.
Andr Karger : Ethik und Psychotherapie?
83
Gondek, H.–D., Widmer, P. (Hrsg.). (1994). Ethik und Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer. Heinz, R. (1981). Psychoanalyse und Kantianismus. Wrzburg: Kçnigshausen & Neumann. Heinz, R. (2007). Todesnherungen. Dsseldorf: Peras. Karger, A., Weismller, C. (Hrsg.) (2006). Ich hieß Sabina Spielrein. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kottje-Birnbacher, L., Birnbacher, D. (1995). Ethische Aspekte der Psychotherapie und Konsequenzen fr die Therapeutenausbildung. Psychotherapeut, 40, 59 – 68. Kottje-Birnbacher, L., Birnbacher, D. (2006). Ethische Fragen bei der Behandlung von Patienten mit Persçnlichkeitsstçrungen. Psychotherapie, 11, 248 – 256. Kchenhoff, J. (1999). Verlorenes Objekt, Trennung und Anerkennung. Forum der Psychoanalyse, 15, 189 – 203. Kchenhoff, J. (2004). Verlust des Selbst, Verlust des Anderen – Die doppelte Zerstçrung von Nhe und Ferne im Trauma. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 58, 811 – 835. Leist, A. (2005). Ethik der Beziehungen. Berlin: Akademie. Lvinas, E. (1983/1999). Die Spur des Anderen. Mnchen: Alber. Luhmann, N. (1991). Theorie der Gesellschaft oder Soziallehre. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Oliner, M., Bohleber, W. (2006). Intersubjectivity, recognition and the problem of the negative. International Journal of Psychoanalysis, 87, 259 – 262. Pohlen, M., Bautz-Holzherr, M. (2002). Psychoanalyse, das Ende einer Deutungsmacht. Reinbek: Rohwolt. Puget, J. (2004). Intersubjektivitt. Krise der Reprsentation. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 9/10, 914 – 934. Ruff, W., Ehl, M., Helbing-Tietze, B., Lcking, I., Pollmann, I., Wrage, I., Zinke, A. (2005). Ethische Prinzipien in der Psychoanalyse. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 59, 573 – 586. Tress, W., Langenbach, M. (Hrsg.) (1999). Ethik in der Psychotherapie. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Warsitz, R.-P. (2003). Die biomedizinische Herausforderung der Ethik. In H. Haf (Hrsg.), Ethik in den Wissenschaften (S. 21 – 42). Kassel: Kassel University Press. Warsitz, R.-P. (2004). Der Andere im Ich. Anlitz – Antwort – Verantwortung. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 9/10, 783 – 810.
Matthias Franz Affekt ohne Bedeutung – Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der Alexithymie
Dieser Beitrag fokussiert auf einige Ursachen und Folgen einer beeintrchtigten Affektverarbeitung. Die gestçrte Affektverarbeitung stellt den Zentralaspekt der Alexithymie dar. Wenn emotionale Information und die zugehçrige Affektaktivierung keine soziale Bedeutung und Folgen haben, ist die Basis fr den interaktionellen Austausch blockiert. Dies zieht zahlreiche Konsequenzen nach sich wie eine maladaptive Verhaltensregulation oder eine gestçrte Bewltigung stressbeladener Situationen. Das ist kein Problem fr nur wenige Betroffene. In großen epidemiologischen Studien wurde eine Prvalenz von 10 bis 15 Prozent der Allgemeinbevçlkerung berichtet (Salminen et al., 1999). Alexithymie ist assoziiert mit Partnerlosigkeit, niedrigem Sozialstatus, adversen Kindheitserfahrungen, wahrscheinlich auch einer geringeren Lebenserwartung und einer Vielzahl psychischer Erkrankungen (Taylor, 2000; Taylor u. Bagby, 2004). In klinischen Stichproben von Patienten mit Posttraumatischen Belastungsstçrungen (PTSD), somatoformen, depressiven oder Angststçrungen finden sich Raten von bis zu 50 % und mehr alexithymen Patienten. In einer neuen eigenen epidemiologischen reprsentativen Studie an fast 2.000 Erwachsenen aus der deutschen Allgemeinbevçlkerung betrug der Anteil alexithymer Personen etwa 10 Prozent fr Mnner wie fr Frauen (Franz et al., 2008). Diese berichteten ber Schwierigkeiten bei der Identifikation und Beschreibung eigener Gefhle, zeigten einen stark an ußeren Fakten orientierten kognitiven Stil und eine verringerte emotionale Introspektion. Heute verstehen wir Alexithymie als ein in der Allgemeinbevçlkerung normal verteiltes, dimensionales Persçnlichkeitsmerkmal. Bei hohen Ausprgungsgraden indiziert es eine beeintrchtigte Fhigkeit, – affektive Zustnde/Signale bei sich und anderen genau wahrzunehmen, – sie differenziert zu verarbeiten, – auf einem hohen Symbolisierungsniveau – zum Beispiel sprachlich – auszudrcken, – und fr die soziale Anpassung zu nutzen.
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
85
Eine stark ausgeprgte Alexithymie scheint ber eine beeintrchtigte soziale Anpassung die Entwicklung zahlreicher psychischer und psychosomatischer Erkrankungen im Sinne eines Vulnerabilittsfaktors zu begnstigen.
Die Bedeutung der Basisaffekte Bei der Betrachtung entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Aspekte der Alexithymie stehen die Basisaffektsysteme am Ausgangspunkt der Betrachtung. Auf dem Weg von der rohen Affektaktivierung hin zur Empathiefhigkeit stellen die teilnehmende Spiegelung, die Ausbildung einer sicheren Bindung und schließlich der Mentalisierungsfhigkeit entscheidende Landmarken der Entwicklung dar. Die Reifung der Affektverarbeitung erfolgt von der frhen Kindheit bis hin in die Postadoleszenz in mehreren Schritten ausgehend von der weitgehend autonom gesteuerten elementaren Affektaktivierung, ber die Differenzierung unterschiedlicher eigener Affektzustnde und deren Reprsentationsfhigkeit im Sprachbewusstsein als eigene Gefhlswahrnehmung bis hin schließlich zur Fhigkeit auch Gefhle Anderer empathisch wahrzunehmen und dieses Wissen antizipativ bei der eigenen Verhaltensplanung zu bercksichtigen. Diese Reifung eines hierarchischen Systems sozial-emotionaler Kompetenzen nimmt seinen Ursprung in den ersten Lebensjahren, wenn das Kind einen komplexen emotionalen Lernprozess zusammen mit seinen Eltern durchluft. Unsere fnf Basisaffekte bestimmen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten dabei von Anfang an. Diese fnf Basisaffekte sind Angst, Wut, Ekel, Freude und Trauer. Diese Affektsysteme entwickelten sich evolutionsbiologisch in Korrespondenz zu bestimmten Umweltanforderungen, wohl eher nicht fr uns persçnlich damit wir uns im Sinne einer vertieften persçnlichen Selbstfindung voll intensiver oder gar romantischer Gefhle durch unser Leben bewegen. Dies ist eine verbreitete und verstndliche narzisstische Illusion. Evolutionsbiologisch betrachtet stellen unsere fnf Basisaffekte aber wohl phylogenetisch angeborene Anpassungsprogramme dar. Sie ermçglichen uns zunchst eine automatische Organisation unserer Wahrnehmung, eine schnelle vorbewusste Situationsbewertung (Bekannt? Gefhrlich?) und eine unbewusste Verhaltenssteuerung ber die Initiierung affektspezifisch zieloptimierter, intentionaler Verhaltensmuster. Insofern kann man diese Basisaffektsysteme auch als Anpassungsprogramme ansehen, in deren Reaktionsmustern (berlebens-)wichtige Standardsituationen der natrlichen und sozialen Umwelt reprsentiert sind (Krause, 1983). Der evolutionsbiologische Sinn dieser sehr alten und genetisch eingeschriebenen Basisaffektsysteme liegt in der schnellen, automatischen Bewl-
86
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
tigung potenziell gefhrlicher Standardsituationen in der Umwelt zur Sicherung des berlebens und der Fortpflanzung. Wenn – vor vielleicht 40.000 Jahren – ein untergeordnetes mnnliches Gruppenmitglied nicht in der Lage war, die wtende Mimik im Gesicht des Hordenchefs zu lesen, wenn es sich dessen Frau zu sehr nherte, kam es mçglicherweise zu einschneidenden Konsequenzen bis hin zu einer Ausstoßung oder reduzierten Lebenserwartung fr dieses Gruppenmitglied. Oder, wenn eine erwachsene Person im Gesicht einer potenziellen Partnerin oder eines potenziellen Partners nicht die freundliche Bereitschaft lesen kann, doch weitere Schritte in Richtung Schwangerschaft zu unternehmen, wird der genetische Erfolg dieser Person vielleicht gegen Null gehen. Oder, wenn eine Mutter die affektgesteuerten Bedrftigkeitssignale ihres Babys nicht erkennen und angemessen darauf reagieren kann, wird sich dessen berlebenswahrscheinlichkeit ebenfalls reduzieren.
Unsere Basisaffekte – frher Instinkte genannt – organisieren das berleben des Einzelnen wie auch der Gruppe. Sie sind konstitutiv fr die Ausbildung von referenziellen Bindungsmustern in der frhen Kindheit und damit entscheidend fr die Beziehungsfhigkeit im spteren Leben. Eine erfolgreiche Anpassung in Familien, sozialen Gruppen und professionellen Teams ist ohne sie nicht mçglich. Sie ermçglichen zunchst als berlebensprogramme die Positionierung des Individuums gegenber wichtigen Objekten der Umgebung und die Initiierung angemessener Verhaltensoptionen. Im Detail organisiert der Basisaffekt Furcht das Fluchtprogramm vor einem gefhrlichen ußeren Objekt. Wut initiiert die aggressive Zerstçrung eines gefhrlichen ußeren Objektes, Ekel die Ausstoßung eines aversiven Objekts, das schon oder fast in den Kçrper eingedrungen ist. Freude aktiviert die Annherung an ein gutes ußeres Objekt. Trauer signalisiert traumatische Einsamkeit und induziert Verhalten, das der Wiedererlangung eines wichtigen protektiven Objektes dient. Nur sehr desorganisierte Individuen kçnnen der Aufforderung widerstehen, die von einem kleinen dreijhrigen Kind ausgeht, das nach dem Tod seiner Eltern – vielleicht durch einen Jagdunfall – in der Mitte seiner Gruppe sitzt und weint.
Low-level- und high-level-Kompetenzen in der Affektverarbeitung Die Aktivierung eines dieser Basisaffekte erfolgt simultan innerhalb unterschiedlicher angeborener »Module« (Krause u. Merten, 2007). Zunchst sei die wohlbekannte autonome Aktivierung genannt. Diese geht einher bei-
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
87
spielsweise mit einem psychophysiologischen Arousal, Vigilanzerhçhung, kardiovaskulrer und respiratorischer Aktivierung und Stoffwechselumstellungen, vermittelt ber die Ausschttung von Katecholaminen und anderen Stresshormonen. In zahlreichen Untersuchungen wurde bei Alexithymen eine vernderte autonome Reagibilitt nachgewiesen (bersicht bei Kramer, 2006; Schfer, 2003). Innerhalb eines weiteren affektiven Reaktionsmoduls erfolgt eine muskulre Tonisierung in Form affektspezifischer unterschiedlicher Innervationsmuster. Das initiierte Innervationsmuster ist hierbei abhngig von dem intendierten Handlungsziel des jeweils aktivierten Basisaffekts. Die latent vorgebahnte Kçrperhaltung und Mimik ist dementsprechend unterschiedlich aufgrund der verschiedenen motorischen Anforderungen beispielsweise bei freudiger Annherung oder wtendem Angriff. Auch wenn dieses Muster vom ußeren Aspekt her vielleicht noch nicht sichtbar ist, sind entsprechende vorbereitende Innervationen jedoch mittels EMG nachweisbar. Das interozeptive Modul assoziiert einen bestimmten Affektzustand (»affective state«) mit interozeptiv zumeist diffus (z. B. als »mulmiges«, »komisches« Gefhl in der Magengegend, Herzfrequenznderungen etc.) wahrgenommenen aber affektspezifischen Kçrpersensationen (»somatic state«). In einem auf Damasio zurckgehenden Konzept werden diese als somatische Marker bezeichneten kçrperlichen Empfindungen whrend der Aktivierung eines Basisaffektes implizit gespeichert – wahrscheinlich prfrontal im Kortexareal S II. Von dort kçnnen sie in analog bewerteten spteren Situationen als vorbewusste protokognitive Gedchtnishinweise fr angemessene Anpassungshandlungen (»intuitiv«) genutzt werden. Somatische Marker ersparen so dem Individuum mçglicherweise die volle Aktivierung des entsprechenden Basisaffektsystems und erleichtern so ein sehr frhes, adquates Copingverhalten, wenn sie als Aufmerksamkeitssignale genutzt werden kçnnen. Diese Sichtweise trug dazu bei, entsprechenden kçrperlich empfundenen »Ahnungen« oder situativen Anmutungen mit grçßerer Aufmerksamkeit zu begegnen und sie sogar bewusst fr ein erweitertes Situationsverstndnis und zu einer integrativen Entscheidungsfindung zu nutzen. Alexithyme Personen stehen derartigen Botschaften ihres affektgesteuerten Kçrpergedchtnisses – im Extremfall in Gestalt somatoformer Symptome auftretend – ratlos und fremd gegenber. Sie empfinden sie sogar eher als bedrohlich und kçnnen sie nicht inhaltlich decodieren. Ein weiteres Modul ermçglicht die prattentive oder protokognitive Bewertung des situativen Kontextes: Ist dies etwas Neues und ist es vielleicht gefhrlich? Dieses automatisierte Bewertungsmodul evaluiert sogar subliminal prsentierte Reize und ermçglicht so die sehr frhe Initiierung protektiver Handlungsmuster. Die sogenannte Achtmonatsangst eines fremdelnden Kleinkindes ist ebenfalls ein gutes Beispiel.
88
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Schließlich erfolgt mittels eines affektexpressiven Moduls ber einen angeborenen phylogenetischen Signalcode die Information der sozialen Bezugsgruppe bezglich des internen Status und der Bedrfnisse des Gruppenmitgliedes. Hierzu dienen beispielsweise affektexpressive Gesichtsmimik, Gestik, Kçrperhaltung, Prosodie und Vokalisation. In Extremsituationen bernimmt dieses Modul die Funktion eines Alarmsystems, wenn ein Gruppenmitglied in Augenblicken hçchster Bedrohung einen Hilfs- oder Todesschrei zur Warnung der brigen Gruppenmitglieder ausstçßt. Diese simultan aktiven Affektmodule initiieren phylogenetisch angeborene Reaktionsmuster, die bei Kindern und Erwachsenen als »low-level«-Strategien der Affektverarbeitung relativ unabhngig von sozialen Lernprozessen ablaufen kçnnen. Ausgelçst und gesteuert werden diese basalen Affektreaktionen von spezialisierten kortikalen und subkortikalen Zentren (z. B. Amygdala, Hypothalamus oder insulrer Kortex), die jedoch im weiteren einer modifikatorischen Beeinflussung funktionell bergeordneter (z. B. prfrontaler, frontomesialer) Kortexareale unterliegen (bersicht bei Gndel et al., 2000). Hçhere, »high-level«-Kompetenzen der Affektverarbeitung sind nicht derartig phylogenetisch festgelegt. Diese erst ermçglichen aber die Kontrolle primrer affektiver Handlungsimpulse und den zielorientierten Umgang mit aktivierten Basisaffekten im Sinne einer sozial adaptiven Problemlçsung zum Beispiel bei der Bewltigung intrapsychischer oder auch zwischenmenschlicher emotionaler Konflikte. Diese hçheren emotionalen Kompetenzen entwickeln sich ursprnglich in einem komplexen wechselseitigen Prozess kontingenten emotionalen Lernens innerhalb der frhkindlichen Mutter-KindBeziehung und spter im Rahmen weiterer Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren. Sie werden insofern sozial vermittelt, und zwar in Abhngigkeit von der Qualitt des emotionalen Austausches zwischen Kind und der erwachsenen Bindungsperson – meistens also zunchst der Mutter. Eine dieser hçheren Kompetenzen ist die bewusste Affektwahrnehmung und die introspektive Affektdifferenzierung (»affective awareness«), die wahrscheinlich an die Integritt des anterioren gyrus cinguli gebunden ist. Eine bewusste Wahrnehmung eigener affektiver Zustnde, die Fhigkeit einen aktivierten Basisaffekt im sprachbewussten Arbeitsgedchtnis zu reprsentieren ist die neurowissenschaftliche Definition eines »Gefhls«. Die Fhigkeit, die Aktivitt eigener Basisaffektsysteme differenzierend und bewusst wahr zunehmen (»zu fhlen«), ist die Voraussetzung fr einen reflexiven Umgang mit den eigenen Affekten. Andere high-level-Kompetenzen im Umgang mit affektiven Primrimpulsen sind kognitive Bewltigungsstrategien unter Nutzung individueller Lernerfahrungen, Erwartungen und berzeugungen. Dies ermçglicht das analytische Nachdenken ber die mçglichen Ursachen eigener affektiver Zustnde und das bewusste Suchen nach angemessenen Bewltigungsoptionen. Auch die Fhigkeit, affektive Zustnde
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
89
mittels komplexer Zeichencodes zum Ausdruck zu bringen und fr andere verstndlich mitzuteilen, gehçrt hierher. Derartige expressive Symbolbildungen sind beispielsweise mit knstlerischen Mitteln mçglich oder mittels sprachlicher Symbolisierung und Benennung komplexer affektiver states: »Ich bin jetzt traurig« oder »Ich bin gerade sehr rgerlich«. Die letztere Mitteilung bedeutet eigentlich: »Das Basisaffektsystem Wut in meinem Gehirn wurde gerade offensichtlich aktiviert. Ich mçchte dir signalisieren, dass ich in der Lage bin, dies bewusst zu registrieren. Ich werde nicht sofort in einem zerstçrerischen Akt, der dich oder mich gefhrden kçnnte, handeln. Vielmehr bin ich dabei, ber die mçglichen Ursachen nachzudenken und mçchte mich mit dir ber diese auseinander setzen. Hierbei sollen neben unseren persçnlichen Wnschen auch unsere Gruppennormen bercksichtigt werden oder – wenn wir uns nicht einigen kçnnen – auch Dritte Einfluss nehmen.« Die sprachsymbolische Abbildung primrer Basisaffekte ermçglicht also eine – zugegebenermaßen hier etwas karikierende – hocheffektive zum Beispiel auch schadensbegrenzende soziale Interessenaushandlung bei unterschiedlichen affektiv bestimmten Motivationslagen der Beteiligten. Dies mag trivial klingen. Bedenkt man jedoch, dass sehr viele Menschen – gerade auch alexithyme oder somatoform Erkrankte – keine klare Kenntnis davon haben, welches ihrer Affektsysteme mçglicherweise aktuell aktiviert ist, und dass deshalb sehr viele Menschen auch keine sprachlichen Operationen zur Abbildung ihrer Affekte durchfhren kçnnen und daher mçglicherweise impulsnah handeln (mssen) oder als kompetente Beziehungspartner ausfallen, wird das Stçrpotenzial einer solchen Einschrnkung sehr deutlich. Schließlich stellt die empathiebasierte Antizipation der vermutlichen Wirkung eigener Affekte auf andere und die Integration dieser Wirkungshypothesen in die eigene Verhaltensplanung die wohl hçchstentwickelte Kompetenz im Umgang mit affektiven Impulsen dar. Die Entwicklung derartiger »high-level«-Kompetenzen wie die Fhigkeit zur empathischen Einfhlung oder zur Generierung einer »theory of mind«, also eines kognitiven Modells der wahrscheinlichen Wahrnehmungen, Denkmuster und Reaktionsweisen des Gegenbers (»Mentalisierungsfhigkeit«), ermçglichen außerordentlich effektive Anpassungsstragegien. Allerdings ist ihr Erwerb in hohem Maße stçrbar durch adverse Kindheitserfahrungen und daher abhngig von der Qualitt des frhkindlichen emotionalen Austauschs mit wichtigen Bindungspersonen. Experimentelle Befunde weisen darauf hin, dass Alexithymen low-levelund high-level-Kompetenzen bei der Verarbeitung und adaptiven Bewltigung affektiver states nicht in gleichem Maße zur Verfgung stehen. So spricht einiges dafr, dass bei hochalexithymen Personen die Affektverarbeitung vorwiegend im Bereich der low-level-Kompetenzen erfolgt, zum Beispiel mittels prsymbolischer somatischer states oder somatoformer Symptome
90
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
oder impulsnaher Verhaltenstendenzen. Hçhere Verarbeitungskompetenzen werden von diesen Personen mçglicherweise nur ber spteres sekundres soziales Lernen erworben und werden dann nach außen »simuliert« oder sozial prsentiert, sind im Grunde jedoch nicht wirklich mit authentischen Affektzustnden des Individuums assoziiert (eine Analogie wre beispielsweise die Fhigkeit eines Rot-Grn-Blinden, sich anhand der Reaktionen anderer in bedeutsamen Zusammenhngen, wie im Straßenverkehr, erfolgreich bewegen zu kçnnen). Dies mag in vielen – zum Beispiel beruflichen – Zusammenhngen eine ausreichende soziale Funktionalitt ermçglichen, in engen emotionalen Beziehungen zu Liebespartnern oder Kindern wird diese sekundre Anpassung jedoch eine emotionale Feinsteuerung nicht gestatten und zu entsprechenden Beziehungskonflikten beitragen. Diese Dissoziation, das heißt das eigentlich unverbundene Funktionieren beispielsweise (scheinbarer) sprachsymbolischer Kompetenzen von affektgesteuerten Reaktionen des autonomen Nervensystems wird in der Literatur als sogenannte »Entkopplungshypothese« zum Verstndnis alexithymer Phnomene diskutiert (zusammenfassend Kramer, 2006 oder Schfer, 2003). Alexithyme Menschen sind hufig nicht in der Lage, ihre affektiven states zu benennen, weil ihnen eben nicht bewusst wird, welches ihrer Affektsysteme aktuell aktiviert ist. Sie wissen daher nicht, ob sie gerade wtend, traurig oder ngstlich sind. Sie sind nicht in der Lage, eine sprachbewusste Reprsentanz eines aktivierten Affektes in ihrem Arbeitsgedchtnis zu generieren. Daher gelingt ihnen die symbolische Transformation eines affektiven state in ein bewusstes Gefhl und dessen sprachliche Benennung nicht. Typischerweise aber prozessieren sie – wie auch die bereits genannten somatoform erkrankten Patienten – ihre Affekte auf low-level-Niveau beispielsweise ber ein autonomes Arousal oder andere kçrperliche Zeichen einer Affektaktivierung. Diese kçrperlichen Zustnde werden aber nicht kognitiv in ihrer Bedeutung »verstanden«. Dementsprechend steht die protektive Anpassungsfunktion der Affektsysteme diesen Menschen nicht vollstndig auf einem elaborierten Niveau zur Verfgung. Eine mçgliche Teilursache kçnnte darin liegen, dass die hierfr zustndigen neuronalen Netzwerke whrend der Kindheit nicht im Rahmen eines kontingenten emotionalen Lernprozesses optimiert worden sind.
Die teilnehmende Spiegelung und die Bedeutung des Gesichts Um diese Zusammenhnge zu illustrieren, hilft ein Blick auf den – weitgehend unbewusst gesteuerten – emotionalen Austausch zwischen einer Mutter und ihrem Baby beispielsweise whrend des Stillens. Der Vorgang, der hier eine
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
91
zentrale Rolle spielt, ist der der teilnehmenden Spiegelung. Wenn eine Mutter bemerkt, dass ihr Baby sich in einem kritischen Spannungszustand befindet, weiß sie intuitiv meistens sofort, wie sich ihr Baby fhlt. Fast jede gesunde Mutter ist in der Lage, automatisch sehr schnell und sehr genau die unterschiedlichen Affektzustnde ihres Kindes zu unterscheiden. Im Englischen wird diese Fhigkeit als affect attunement bezeichnet (Jonsson et al., 2001). Dieser Begriff – eigentlich aus der Funktechnik entlehnt – bezeichnet in Analogie zu einem Radioempfnger die genaue Einstellung der »Sendefrequenz« zur optimalen Signaldetektion. Im nchsten Schritt wird die Mutter den identifizierten Affekt nicht nur erkennen, sondern ihn sogar in Identifikation mit ihrem Kind wie als ihren eigenen empfinden. Sie wird ihn insofern mit ihrem Kind teilen: affect sharing. Diese empathischen Funktionen der Bezugsperson laufen unwillkrlich und unbewusst in hoher Geschwindigkeit ab, da das Baby aufgrund der Unreife seines stressmodulierenden Systems noch nicht ber eine Toleranz gegenber inneren Spannungszustnden verfgt. Sie ermçglichen quasi in Echtzeit die Abbildung und identifikatorische bernahme affektiv aversiver Spannungszustnde des Kindes als Voraussetzung einer effektiven externen Stressregulation durch die Bindungsperson. Der nchste Schritt ist sehr bedeutsam und reprsentiert die Affekt moderierende »Entgiftungsfunktion« des mtterlichen Gesichtes. Grundstzlich wird bei der teilnehmenden Spiegelung der kindliche Affekt im Gesicht der Mutter gespiegelt. Dies geschieht aber nicht unverndert, sondern durch Eigenbeitrge der Mutter »kommentiert«. Lustvolle Affekte des Kindes werden hierdurch verstrkt, unlustvolle begrenzt. Das zugewandte Gesicht der Mutter stellt zugleich den Affekt des Kindes dar und spiegelt beispielsweise dessen aversiven Affektstatus. Aber dies geschieht nicht mechanisch 1:1, sondern der unlustvolle kindliche Affekt erscheint in abgeschwchter (»verdauter«) Form auf dem Gesicht der Mutter. Die Angst des Kindes wird so in Besorgnis oder Kummer vielleicht unterlegt mit einem relativierendem Trostlcheln verwandelt, da die auch im Gesicht der Mutter unverarbeitet erscheinende Angst des Kindes zu einer Resonanzkatastrophe und zu einem Entgleisen des kindlich-mtterlichen mimischen Dialoges fhren und den kindlichen Stress eskalieren wrde. Psychisch belastete Mtter (und Vter), die ihr Kind in Bedrftigkeitszustnden latent oder auch bewusstseinsnah als Bedrohung erleben, sind hufig nur eingeschrnkt in der Lage, die aversiven Spannungszustnde ihres Kindes mimisch oder feinfhlig zu »entgiften«, so dass sich entsprechende dialogische Entgleisungen ergeben kçnnen. Der abgeschwchte und modifizierte Affektausdruck im Gesicht der Mutter vermittelt dem Baby die Erfahrung von Beruhigung und Sicherheit. ber ihre teilnehmende Spiegelung vermittelt die Mutter ihrem Kind also zweierlei: »Ich weiß, wie du dich fhlst, und ich zeige dir dies in meinem Gesicht. Schau deshalb genau in mein Gesicht und lerne aus ihm, wie du dich selber fhlst. Aber ich
92
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
weiß auch, was ich zu tun habe, um deinen Horror zu beenden und zeige dir dies ebenfalls in meinem Gesicht. Ich werde das immer dann tun, wenn du es brauchst«. Dies ist der Grund, weshalb kein anderes Objekt – vielleicht außer der Brust – so interessant fr das Baby ist wie das mtterliche Gesicht und der mtterliche Blick. Große Bereiche seines Gehirns, besonders des Temporallappens und des prfrontalen Cortex, spter auch im Gehirn des Erwachsenen, sind mit nichts anderem beschftigt als mit Wahrnehmung und Interpretation menschlicher Gesichter (Adolphs, 2002). Man kçnnte deshalb sagen, das Baby trinkt nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen. Das mtterliche Gesicht stellt also ein kontingentes Feed-back der inneren Affektzustnde des Kindes sicher und teilt ihm so gewissermaßen mit, wie es sich selber »fhlt«. Es stellt ihm so die ersten Symbole fr seine eigenen affektiven states zur Verfgung und ermçglicht ihm emotionales Lernen. Diese Selbsterfahrung ber den Weg des mtterlichen Gesichtsausdrucks wird dann aber noch ergnzt durch die teilnehmenden Eigenbeitrge der Mutter, die die affektiven Stresszustnde des Kindes begrenzen. Der englische Psychoanalytiker Fonagy hat diese Funktion als Affektmarkierung – affect marking – bezeichnet (Fonagy et al., 2004). Das mtterliche Gesicht befindet sich in Resonanz zum kindlichen Innenleben und fungiert dabei gewissermaßen als dessen lebendiger Spiegel. Zusammen mit dem angemessenen responsiven mtterlichen Verhalten wird das Baby in die Lage versetzt, zunehmend komplexe Symbole fr seine eigenen affektiven states zu identifizieren und zu verinnerlichen. Kein TV- oder PC-Bildschirm kann diese Funktion ersetzen, da diese Medien nicht referenziell und resonant auf das authentische Affekterleben des Kindes selbst reagieren, sondern ihm vielmehr affektinduktive Stimuli aufoktroyieren, die dann gewissermaßen als verinnerlichte Fremdkçrper das Kind gerade von seiner emotionalen Authentizitt entfremden (Winterhoff-Spurk, 2005). Diese Spiegelfunktion des Gesichts kann ernsthaft beeintrchtigt werden bei lngerfristig depressiven, alexithymen oder persçnlichkeitsgestçrten Eltern, mit negativen Folgen fr die emotionale und kognitive Entwicklung der betroffenen Kinder (Dawsen et al., 1997; Field, 1994; Weinberg et al., 2006, McLearn et al., 2006, Cohn u. Tronick, 1983). Aus dem Gesicht der Mutter liest das Kind also seine eigenen affektiven states und im Laufe der Entwicklung erlebt es tausende derartiger Feed-back-Schleifen. Wenn diese zuverlssig und kontingent durchlaufen werden, lernt das Kind auch zwischen unterschiedlichen Basisaffekten zu differenzieren und diese auszudrcken. Es wird die Aktivierung eines bestimmten Basisaffektes auch mit eigenen spezifischen somatischen Korrelaten (»markern«) assoziieren. Schließlich wird vielleicht schon das fnfjhrige Kind in der Lage sein, seine Affektzustnde dann auch mit sprachlichen Mitteln auszudrcken, zu symbolisieren, indem es sagt: »Wenn du gehst, bin ich traurig«, anstatt: »Ich habe Bauchweh und weiß nicht
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
93
warum« (wie es unsere somatoformen Patienten ja auch tun). Dieses emotionale Feed-back-System zwischen Mutter und Kind scheint die fundamentale Lernbasis fr die Entwicklung eines sicheren Bindungsmusters darzustellen (Gergely u. Watson, 1996). Es fçrdert dementsprechend auch gerade die Entwicklung derjenigen neuronalen Systeme, die spter fr eine kompetente emotionale Verhaltensregulation von großer Bedeutung sind (Schore, 1996). Spter im Erwachsenenleben regulieren die ber die teilnehmende Spiegelung erworbenen und verinnerlichten Muster aus psychoanalytischer Sicht als »Introjekte« oder aus kognitionspsychologischer Sicht als »affektive Schemata«, als unbewusste aber referenzielle Verhaltensattraktoren, enge Gefhlsbeziehungen zu wichtigen Bezugspersonen und ermçglichen eine mehr oder weniger effektive emotionale Kommunikation. Sicherlich kennt der Leser den antiken griechischen Mythos des Narziss. Dieser demonstriert die ernsten Langzeitkonsequenzen einer nicht empathischen oder gar fehlenden teilnehmenden Spiegelung. Narziss war ein außerordentlich schçner, aber auch sehr einsamer junger Mann. Er hatte keinen lebendigen Menschen, der ihn spiegelte und ihm dabei half, sich selber im Glanz des Auges einer anderen Person zu finden. So stand er schließlich allein seinem mechanisch an der Oberflche einer kalten Quelle gespiegelten Antlitz gegenber und erstarrte bei dessen lebloser Betrachtung. Endlich verliebte sich die Quellnymphe Echo – vielleicht kann sie als langandauernd depressive oder nicht teilnehmend spiegelnde Bezugsperson verstanden werden – in den Jngling, zog ihn zu sich herab und er ertrank. Die lebenswichtige Funktion der teilnehmenden Spiegelung zwischen dem mtterlichen und dem kindlichen Gesicht und dem tçdlichen Ende einer rein mechanischen Prsenz wird in dieser Geschichte berdeutlich.
Bei gestçrten empathischen mtterlichen Funktionen und einer andauernden beeintrchtigten externen Stressregulation des Kleinkinds durch die sorgende Bindungsperson kann es zu bleibenden Vernderungen in den stressregulativen und emotionsverarbeitenden Funktionssystemen des Gehirnes kommen (Beblo u. Woermann, 2005; Braun et al., 2005; Bremner, 2005; Egle u. Hardt, 2005; Schore, 1996). Wir verfgen heute jedenfalls ber zahlreiche Hinweise darauf, dass eine andauernd gestçrte empathische Spiegelungsfunktion und eine ungengend feinfhlige Stressregulation durch die externe Bezugsperson das Risiko des hiervon betroffenen Kindes erhçht, spter selbst von einer Beeintrchtigung seiner eigenen emotionalen Kompetenzen auf der Basis neurofunktioneller »Narben« in den affektverarbeitenden Systemen seines Gehirns betroffen zu sein. Diese tragen im spteren Leben zu einer erniedrigten Stresstoleranz, Kontaktstçrungen und gesundheitlichem Risikoverhalten und sogar zu einer hierdurch verkrzten Lebenserwartung bei (Felitti et al., 1998). Diese Zusammenhnge wurden verifiziert in Langzeitstudien an missbrauchten, misshandelten oder vernachlssigten Kleinkindern, bei denen
94
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Vernderungen in kortikalen und subkortikalen Gehirnarealen gefunden wurden, die in die high-level-Verarbeitung affektiver Impulse involviert sind: prfrontaler Kortex, orbitofrontaler Kortex, anteriores Cingulum oder Hippocampus sind hier beispielsweise zu nennen. Die in diesen affektmoderierenden Systemen gesetzten funktionellen Narben beeintrchtigen deren Kontrollfunktion und beeintrchtigen die soziable Modifikation roher affektiver Impulse. Dies alles bedeutet: eine andauernd erniedrigte Stressschwelle, ein gestçrtes autonomes Arousal, eine persistierende primr somatische, das heißt prsymbolische Affektregulation, ein Fehlen sprachlicher Symbolisierungsfhigkeiten fr affektive Zustnde. Dies bedeutet auch: (z. B. somatoformes) Symptom statt Emotion. Und innerhalb interpersonaler Beziehungen heißt dies: Affekte besitzen keine Bedeutung. Dieses Defizit an emotionaler Wahrnehmung fhrt ber reduzierte empathische Fhigkeiten zu gravierenden interpersonalen Problemen. Und exakt dies ist das Problem vieler unserer alexithymen Patienten. Dieses sowohl entwicklungspsychologische als auch neurobiologische Verstndnis der alexithymen Beeintrchtigung hçherer emotionaler und vor allem auch empathischer Kompetenzen wird auch gesttzt durch aktuelle Studien mit bildgebenden Verfahren. In diesen an alexithymen Personen durchgefhrten Untersuchungen waren reduzierte empathische Funktionen mit einer dysfunktionellen Aktivitt in den genannten Gehirnstrukturen assoziiert (Moriguchi et al., 2006; 2007). Im Laufe der kindlichen Entwicklung bilden sich in diesem Reifungsprozess erst relativ spt differenzierte Reprsentanzen des Denkens und Fhlens anderer Menschen heraus. Etwa bis zum fnften Lebensjahr erlebt das sich normal entwickelnde Kind seine Wirklichkeit im Sinne des von dem englischen Psychoanalytiker Fonagy (Fonagy et al., 2004) sogenannten magischen quivalenzmodus. Dies bedeutet, dass es sich und seine Innenwelt redupliziert beziehungsweise projektiv im Anderen vermutet und Gedanken, Phantasien und ußere Wirklichkeit noch wenig getrennt sind. Das Krokodil, das den Kasper frisst, tut dies – in Analogie zur oralen Phantasiewelt des Kindes – wirklich und das Kind reagiert auf diese Szene unter den Bedingungen des magischen quivalenzmodus mit Angst und Verunsicherung. Dieser magische quivalenzmodus bedingt eine projektive Reduplikation des eigenen Phantasielebens im Anderen, so dass das Kind vçllig selbstverstndlich voraussetzt, der Andere funktioniere, denke und fhle genauso wie es selber und das, was der Andere erlebt, entsprche seinem eigenen inneren Erleben. Das heißt, auf dieser Stufe hat das Kind noch keine sichere Vorstellung davon, was im Anderen wirklich vor sich gehen kçnnte. Es kann zwischen Witz und Ernst noch nicht sicher unterscheiden und verfgt ber keine »theory of mind« des Anderen, das heißt keine Theorie ber das interne und autonome motivationale Funktionieren des Anderen (Brne u. Brne-Cohrs, 2006).
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
95
Die Mçglichkeit sich probehalber in den Anderen hineinzuversetzen und die eigenen Verhaltensmotive des Anderen zu »erfhlen«, sich also unabhngig von eigenen Bedrfnislagen in das authentische Erleben des Anderen hineinzuversetzen, erçffnet sich dem Kind normalerweise erst etwa gegen Ende des fnften Lebensjahres. Die Fhigkeit zu einem solchen hypothetischen »Als-ob-Modus« erçffnet dem Kind die Mçglichkeit, sicherer zwischen Phantasie und Wirklichkeit aber auch zwischen Wahrheit und Lge zu unterscheiden. Fonagy hat diesen Reifungsschritt als Mentalisierung bezeichnet. Das Kind braucht zur Erlangung dieser komplexen sozialen Fhigkeit eine sichere Bindung zu einer empathisch teilnehmend spiegelnden Bezugsperson, die im Bedarfsfall zu einer einfhlungsgesteuerten externen Stressregulation des Kindes in der Lage ist. Darber hinaus sind spezifische, zyklische emotionale Lernprozesse zwischen Mutter und Kind notwendig, um diesem die Vorstellung einer originren Alteritt des Gegenbers zu vermitteln. Zusammengefasst entwickeln sich die hçheren Kompetenzen der Affektregulation aus angeborenen Basisaffekten des Kindes, die in den ersten beiden Lebensjahren mit den intuitiv-empathischen Funktionen der Mutter im Sinne eines emotionalen Feed-back-Systems interagieren und zu einer fortschreitenden Reifung der Affektwahrnehmung und Affektdifferenzierung und des Affektausdrucks fhren. Diese durch teilnehmende Spiegelung und Affektmarkierung vermittelte Reifung der affektiven Wahrnehmung und der Affektdifferenzierung ist wahrscheinlich die Vorbedingung der Ausbildung eines sicheren Bindungsmusters etwa gegen Ende des zweiten Lebensjahres (Lemche et al., 2004). Ein sicheres Bindungsmuster wiederum ist eine Voraussetzung zur Erreichung der Mentalisierungsfhigkeit und hçherer empathischer Kompetenzen, die sich etwa im Alter der Schulreife etablieren kçnnen (Fonagy et al., 2004). Wie gezeigt, spielt das Gesicht der frhkindlichen Bezugsperson eine zentrale Rolle whrend des frhkindlichen emotionalen Lernens. Das menschliche Gesicht ist der wichtigste Sender emotionaler Informationen, seine Vielzahl mimischer Muskeln ermçglicht eine enorme Vielfalt mçglicher mimischer Botschaften. Das Gesicht ist insofern das »Sozialorgan« par excellence. Große Bereiche des Gehirns dienen der Identifikation (die temporobasal gelegene fusiforme face area; Kanwisher et al., 1998, Halgren et al., 2000) und der Interpretation (sulcus temporalis superior des Schlfenlappens: Hasselmo et al., 1989; Haxby et al., 2000) menschlicher Gesichter (Adolphs, 2002). Wenn dieses System in seiner Funktion beeintrchtigt ist – wie dies beispielsweise bei Morbus Asperger, Autismus oder der Prosopagnosie der Fall ist – kommt es zu sehr schweren Stçrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen. In abgeschwchter Weise kçnnte dies auch bei alexithymen Personen der Fall sein, da diese wie erwhnt ebenfalls in der Erkennung und Interpretation emotionaler Gesichtsmimik beeintrchtigt sind.
96
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Die frh selber erfahrene Ratlosigkeit oder Leere eines nicht teilnehmend spiegelnden Gesichts der zentralen Bezugsperson trgt bei Alexithymen mçglicherweise nicht nur zur Entwicklung unsicherer Bindungsmuster bei, sondern auch zu einer gestçrten Ausreifung der fr die Gesichtserkennung spezialisierten neuronalen Netze (Batty u. Taylor, 2006; Parker u. Nelson, 2005) sowie zu einer bleibenden Unsicherheit bei der Interpretation affektexpressiver Gesichtsmimik. Dies macht Sinn, wenn man bedenkt, dass eine Hauptaktivitt des Babys sich auf die Betrachtung des mtterlichen Gesichtes konzentriert. Insofern kçnnten die in die Gesichtswahrnehmung involvierten neuronalen Netze in der Kindheit vieler alexithymer Menschen nicht ausreichend innerhalb einer empathisch spiegelnden Beziehung trainiert worden sein. Jedenfalls finden sich in einigen Studien Hinweise auf bei Alexithymen gehuft auftretende unsichere Bindungsmuster (Scheidt et al., 1999; De Rick u. Vanheule, 2005; Wearden et al., 2005) sowie eine beeintrchtigte Performance bei der Identifikation mimisch ausgedrckter Affekte (Pandey u. Mandal, 1997; Parker et al., 1993; Jessimer u. Markham, 1997). Die resultierende emotionale Blindheit entsprche der Blindheit des frhkindlichen Spiegelsystems und wrde eine Desorientierung sowohl hinsichtlich eigener affektiver states als auch eine gestçrte Mentalisierung der affektiven Zustnde wichtiger anderer Bezugspersonen in der Außenwelt nach sich ziehen kçnnen. Alexithyme nehmen affektive Informationen zwar wahr. Aber sie sind unsicher, was sie bedeuten kçnnten und wie mit ihnen umzugehen ist. Das macht ihr Leben schwieriger – auch wenn sie in die Gesichter anderer Menschen schauen. Um diese Zusammenhnge zu untersuchen, haben wir mit Alexithymen EEG-Untersuchungen durchgefhrt, whrend die Versuchspersonen menschliche Gesichter betrachteten (Krombholz et al., 2005; Franz et al., 2006). Wir fokussierten auf die sogenannte N170-Komponente des EEG. Dieses negative EEG-Potenzial erscheint beim Erwachsenen mit strkster Ausprgung ber dem rechten Schlfenlappen (EEG-Elektroden P6 und P8) etwa 170 Millisekunden nach Prsentation eines Gesichtes. Diese im EEG nachweisbare Aktivitt stellt gewissermaßen so etwas wie das »Echo des Gehirns« dar, wenn ein ußeres Objekt als Gesicht erkannt wird. Interessanterweise entwickelt sich diese Komponente bis zum Alter von etwa 15 Jahren aus ursprnglich zwei langsameren Subkomponenten. Mçglicherweise reprsentiert dies einen Reifungsprozess des Gesichtserkennungssystems, der auch von der Qualitt des frhen emotionalen Austauschs zwischen Bezugsperson und Kind abhngig ist. Unsere Hypothese war, dass sogar derartig frhe elektrophysiologische Korrelate der Gesichtserkennung bei Alexithymen entsprechend ihrem diesbezglichen Leistungsdefizit verndert sind. Dies war in der Tat der Fall. Wir fanden eine im Vergleich zur Kontrollgruppe reduzierte Amplitude der N170 im EEG der Alexithymen, wenn diesen Gesichter prsentiert wurden.
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
97
Darber hinaus fanden wir auch eine topographisch vernderte kortikale Aktivierung ber der rechten temporo-parietalen Gehirnregion der alexithymen Versuchspersonen. Auch sptere EEG-Komponenten, die mit komplexeren evaluativen Prozessen in Verbindung gebracht werden, waren bei den Alexithymen verndert. Von daher untersttzen unsere EEG-Studien die These einer bei Alexithymen beeintrchtigten oder vernderten Gesichtswahrnehmung.1
Ausblick Vielleicht ist ein Gesicht fr Alexithyme nicht ein sehr interessantes Objekt, vielleicht ist es ein rtselhaftes Ding ohne klare Botschaft. Wahrscheinlich fungiert es nicht so sehr als ein Trger differenzierter emotionaler Informationen wie bei Nichtalexithymen. Dies kçnnte den Kreis zurck zum stummen Gesicht der frhkindlichen Bezugsperson des spter alexithymen Erwachsenen schließen. Ein derartiges entwicklungspsychologisches Verstndnis der Alexithymie kçnnte wichtige therapeutische Implikationen fr unsere psychotherapeutische Arbeit besitzen. Es kçnnte gut sein, dass das klassische psychoanalytische Setting fr diese Patienten primr nicht sehr geeignet ist, weil es fr das Unbewusste des Patienten die Situation des verschlossenen oder entfernten Gesichtes der Bezugsperson wiederholt. Es wirft sich auch die Frage auf, ob uns als Psychotherapeuten ausreichend bewusst ist, was sich in unseren Gesichtern abspielt, wenn wir mit unseren alexithymen Patienten zusammen sind. Die psychotherapeutische Ausbildung sollte diese Fragen in Theorie und Praxis bercksichtigen.
Literatur Adolphs, R. (2002). Neural systems for recognizing emotion. Current Opinion in Neurobiologe, 12(2), 169 – 177. Batty, M., Taylor, M. J. (2006). The development of emotional face processing during childhood. Developmental Science, 9, 207 – 220. 1 Diese DFG-gefçrderten Untersuchungen wurden von meinen Mitarbeitern und mir, insbesondere auch von Dr. Ralf Schfer, in dem von mir geleiteten psychophysiologischen Labor fr Affektforschung durchgefhrt. Ich mçchte dem Ordinarius unseres Faches an der HeinrichHeine-Universitt Dsseldorf Herrn Prof. Dr. Dr. Wolfgang Tress fr seine stets wohlwollende und interessierte Begleitung dieser Forschungsrichtung danken.
98
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Beblo, T., Woermann, F. G. (2005). Traumatisierung und zerebrale Bildgebung. In U. T. Egle, S. O. Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlssigung. (S. 75– 84) Stuttgart: Schattauer. Braun, A. K., Helmeke, C., Poeggel, G., Bock, J. (2005). Tierexperimentelle Befunde zu den hirnstrukturellen Folgen frher Stresserfahrungen. In U. T. Egle, S. O. Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlssigung (44 – 58). Stuttgart: Schattauer. Bremner, J. D. (2005). Effects of traumatic stress on brain structure and function: Relevance to early responses to trauma. Journal of Trauma and Dissociation, 6(2), 51– 68. Brne, M., Brhne-Cohrs, U. (2006). Theory of mind – evolution, ontogeny, brain mechanismen and psychopathology. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 30 (4), 437 – 55. Cohn, J. F., Tronick, E. Z. (1983). Three-month-old infants’ reaction to simulated maternal depression. Child Development, 54, 185 – 193. Dawsen, G., Panagiotides, H., Klinger, L. G. Spieker, S. (1997). Infants of depressed and non-depressed mothers exhibit differences in frontal brain electrical activity during the expression of negative emotions. Developmental Psychology, 33, 650 – 656. De Rick, A., Vanheule, S. (2005). The relationship between perceived parenting, adult attachment style and alexithymia in alcoholic inpatients. Addictive Behaviors, 31(7), 1265– 70. Egle, U. T., Hardt, J. (2005). Pathogene und protektive Entwicklungsfaktoren fr die sptere Gesundheit. In U. T. Egle, S. O. Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlssigung (S. 20– 34). Stuttgart: Schattauer. Felitti, V. J., Anda, R. F., Nordenberg, D., Williamson, D. F., Spitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., Marks, J. S. (1998). Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. American Journal of Preventive Medicine, 14 (4), 245 – 258. Field, T. (1994). The effects of mother’s physical and emotional unavailability on emotion regulation. Monographs of the Society for Research in Child Development, 59 (2– 3), 208 – 227. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Franz, M., Sitte, W., Popp, K., Schneider, C., Schfer, R. (2006). Ist die bei Alexithymen beeintrchtigte Erkennung affektiver Mimik auch im EEG nachweisbar? Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 56, 87 Franz, M., Popp, K., Schaefer, R., Sitte, W., Schneider, C., Hardt, J., Decker, O., Braehler, E. (2008): Alexithymia in the German general population. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 43 (1), 54– 62. Gergely G., Watson, J. S. (1996). The social biofeedback theory of parental affectmirroring: The development of emotional self-awareness and self-control in infancy. The International Journal of Psychoanalysis, 77 (6), 1181 – 1212.
Matthias Franz: Affekt ohne Bedeutung
99
Gndel, H., Ceballos-Baumann, A. O., von Rad, M. (2000). Aktuelle Perspektiven der Alexithymie. Nervenarzt, 71, 151 – 163. Halgren, E., Raij, T., Marinkovic, K., Jousmaki, V., Hari, R. (2000). Cognitive response profile of the human fusiform face area as determined by MEG. Cerebral Cortex, 10 (1), 69 – 81. Hasselmo, M. E., Rolls, E. T., Baylis, G. C. (1989). The role of expression and identity in the face-selective responses of neurons in the temporal visual cortex of the monkey. Behavioural Brain Research, 32 (3), 203 – 218. Haxby, J. V., Hoffman, E. A., Gobbini, M. I. (2000). The distributed human neural system for face perception. Trends in Cognitive Sciences, 4 (6), 223 – 233. Jessimer, M., Markham, R. (1997). Alexithymia: A right hemisphere dysfunction specific to recognition of certain facial expressions? Brain and Cognition, 34 (2), 246 – 258. Jonsson, C. O., Clinton, D. N., Fahrman, M., Mazzaglia, G., Novak, S., Sorhus, K. (2001). How do mothers signal shared feeling-states to their infants? An investigation of affect attunement and imitation during the first year of life. Scandinavian Journal of Psychology, 42, 377 – 381. Kanwisher, N., Tong, F., Nakayama, K. (1998). The effect of face inversion on the human fusiform face area. Cognition, 68(1), B1 – 11. Kramer, K. A. (2006). Psychophysiologische Reaktionsmuster bei Alexithymie – Studie zur Bedeutung der Entkopplungshypothese bei Patienten mit anhaltender somatoformer Schmerzstçrung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Medizinischen Fakultt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitt Bonn. Krause, R. (1983). Onto- and phylogenesis of the affect system and its relation to psychiatric disorders. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 37(11), 1016– 1043. Krause, R., Merten, J. (2007). Emotion und Psychotherapie. Psychotherapeut, 52 (4), 249 – 254. Krombholz, A., Schfer, R., Schfer, F., Boucsein, W., Franz, M. (2005). The use of cortical evoked potentials to investigate emotional face processing in low and high Alexithymics. Psychophysiology, 42 (Supplement 1), 77. Lemche, E., Klann-Delius, G., Koch, R., Joraschky, P. (2004). Mentalizing language development in a longitudinal attachment sample: Implications for alexithymia. Psychotherapy and Psychosomatics, 73 (6), 366 – 374. McLearn, K. T., Minkovitz, C. S., Strobino, D. M., Marks, E., Hou, W. (2006). The timing of maternal depressive symptoms and mother’s parenting practices with young children: Implications for pediatric practice. Pediatrics, 118(1), e174 – 182. Moriguchi, Y., Decety, J., Ohnishi, T., Maeda, M., Mori, T., Nemoto, K., Matsuda, H., Komaki, G. (2007). Empathy and judging other’s pain: An fMRI study of alexithymia. Cerebral Cortex, 17 (9), 2223 – 2234. Moriguchi, Y., Ohnishi, T., Lane, R. D., Maeda, M., Mori, T., Nemoto, K., Matsuda, H., Komaki, G. (2006). Impaired self-awareness and theory of mind: An fMRI study of mentalizing in alexithymia. Neuroimage, 32 (3), 1472– 1482.
100
Teil 1: Geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen
Pandey, R., Mandal, M. K. (1997). Processing of facial expressions of emotion and alexithymia. The British Journal of Clinical Psychology / The British Psychological Society, 36, 631 – 633. Parker, J. D., Taylor, G. J., Bagby, R. M. (1993). Alexithymia and the recognition of facial expressions of emotion. Psychotherapy and Psychosomatics, 59 (3– 4), 197 – 202. Parker, S. W., Nelson, C. A. (2005). Bucharest Early Intervention Project Core Group: An event-related potential study of the impact of institutional rearing on face recognition. Development and Psychopathology, 17, 621 – 639. Salminen, J. K., Saarijarvi, S., Aarela, E., Toikka, T., Kauhanen, J. (1999). Prevalence of alexithymia and its association with sociodemographic variables in the general population of Finland. Journal of Psychosomatic Research, 46, 75 – 82. Schfer, R. (2003). Alexithyme unter mentaler und emotionaler Belastung. Studien zur psychophysiologischen Reagibilitt alexithymer Probanden unter Verwendung peripherphysiologischer Parameter und ereigniskorrelierter Potenziale. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie. Fachbereich G, Universitt Wuppertal. Scheidt, C. E., Waller, E., Schnock, C., Becker-Stoll, F., Zimmermann, P., Lucking, C. H., Wirsching, M. (1999). Alexithymia and attachment representation in idiopathic spasmodic torticollis. The Journal of Nervous and Mental Disease, 187 (1), 47– 52. Schore, A. N. (1996). The experience-dependent maturation of a regulatory system in the orbital prefrontal cortex and the origin of developmental psychopathology. Development and Psychopathology, 8, 59– 87. Taylor, G. J. (2000). Recent developments in alexithymia theory and research. Canadian Journal of Psychiatry. Revue canadienne de psychiatrie, 45, 134 – 142. Taylor, G. J., Bagby, R. M. (2004). New trends in alexithymia research. Psychotherapy and Psychosomatics, 73, 68 – 77. Weinberg, M. K., Olson, K. L., Beeghly, M., Tronick, E. Z. (2006). Making up is hard to do, especially for mothers with high levels of depressive symptoms and their infant sons. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 47 (7), 670 – 83. Wearden, A. J., Lamberton, N., Crook, N., Walsh, V. (2005). Adult attachment, alexithymia, and symptom reporting: An extension to the four category model of attachment. Journal of Psychosomatic Research, 58 (3), 279 – 288. Winterhoff-Spurk, O. (2005). Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt. Stuttgart: Klett-Cotta.
Teil 2 Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Heinz Schepank Das Mannheimer Kohortenprojekt1 – Der Beginn psychosomatischer Epidemiologie in Deutschland
Streng genommen muss der Beginn psychosomatischer Epidemiologie in Deutschland vordatiert werden: Schon 1959 fhrte die Psychoanalytikerin Esther Winter ein Betriebssurvey an 200 gesunden Arbeitnehmern einer Dienstleistungsfirma (Deutsche Reichsbahn Berlin Ost und West) durch und auch die Untersuchung von Strotzka (Strotzka et al., 1969) an einer Inanspruchnahmeklientel eines praktizierenden Allgemeinarztes/Landarztes fokussiert auf die Frage nach der Hufigkeit des Vorkommens psychogener Erkrankungen. Das Mannheimer Kohortenprojekt ist jedoch an Umfang, Reichweite und Zeitverlauf neuartig und eine Besonderheit: Es untersucht persçnlich durch Experten im Feld (das heißt in Hausbesuchen) eine reprsentative Zufallsstichprobe von 600 Menschen hinsichtlich des Vorliegens von psychogenen Erkrankungen sowie des Schweregrades und des Verlaufes. Die Probanden sind eine Zufallsstichprobe aus den drei Alters-/Jahrgangskohorten der 1935, 1945 und 1955 geborenen deutschen in Mannheim lebenden Einwohner. Sie waren zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung, um 1980 (+/– 1 Jahr) also 25, 35 und 45 Jahre alt. Sie wurden mit einem Personalaufwand von ber 70 Mannjahren intensiv persçnlich mehrstndig und durch Fragebogen untersucht. Drei Jahre spter wurden alle noch erreichbaren Probanden (N = 528, d. i. = 88 %) erneut untersucht, und zwar gesplittet: Die eine Hlfte unter Verwendung der Kenntnis der Erstuntersuchung und damit der Mçglichkeit detaillierterer Nachfrage; die andere Hlfte »blind«, das heißt ohne Vorkenntnis der individuellen Erstuntersuchungsbefunde. Damit ergab sich auch die Mçglichkeit einer Kontrolle der diagnostischen Verlsslichkeit. Weitere 10 bis 15 Jahre spter wurden alle erreichbaren Probanden erneut untersucht und derzeit ist eine Follow-up-Studie angelaufen, die von zwei eingearbeiteten und von uns begleiteten Doktorandinnen (cand. Med. Patricia Bielmeyer u.
1 Der Jubilar, dem dieses Buch gewidmet ist, war an dem Projekt als Interviewer, stellvertretender Projektleiter sowie Autor und Koautor der maßgeblichen Monographien beteiligt.
104
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Maria Hiltl) durchgefhrt wird. Die Probanden sind inzwischen 52, 62 und 72 Jahre alt. Das Gesamtprojekt ist an der PSM-Klinik des Zentralinstituts fr Seelische Gesundheit Mannheim und damit an der Fakultt fr Klinische Medizin Mannheim der Universitt Heidelberg angesiedelt. Es wurde untersttzt mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und erfolgte im Rahmen zweier großer epidemiologischer Sonderforschungsbereiche (SFB 116 psychiatrische Epidemiologie und SFB 256 Entwicklung und Verlauf, Sprecher : Prof. H. Hfner und Prof. M. Schmidt). Neben dieser Einbettung in den kontinuierlichen wissenschaftlichen Forschungsverbund sind die Antrge und Ergebnisse von einer berregionalen und unabhngigen Fachgutachterkommission durch namhafte Wissenschaftler aus Deutschland, sterreich und der Schweiz begutachtet worden und bei dieser Gelegenheit auch spezifiziert und gefçrdert. Bei der zentralen Fragestellung der Hufigkeit des Vorkommens und des Neuauftretens und des Verlaufes von Krankheiten mit einer maßgeblichen psychogenen, also soziodynamischen, so auch Beziehungskomponente (siehe Buchtitel: Beziehung und Medizin), handelt es sich um die drei großen Gruppen von Stçrungen: den sich im somatischen Bereich manifestierenden, also funktionell psychosomatischen/somatoformen Stçrungen, den psychoneurotischen Erkrankungen (also ngsten, Depressionen und Zwangserscheinungen) sowie den charakterneurotischen Manifestationen (also z. B. im Bereich von Partnerschaft, Arbeit und anderen zwischenmenschlichen Beziehungen).
Methodik und Diagnostik Die 600 untersuchten Probanden stammen zu je einem Drittel aus den drei Jahrgangskohorten, jeweils zur Hlfte Mnner und Frauen. Sie wurden vorher, zwecks Terminvereinbarung, angeschrieben und auch durch die Medien zur Beteiligung ermuntert. Die Verweigererquote lag deshalb vergleichsweise gnstig bei nur 23 %. Die Untersuchung erfolgte streng standardisiert nach einem sorgfltig ausgearbeiteten Untersuchungsschema mit teils standardisierten, teils offenen Fragen. Die Dokumentation war ebenfalls sehr umfangreich, sowohl EDV-technisch wie in konkreten Klartexten. Auch psychoanalytische Testfragen, wie die nach frhester Erinnerung, einem erinnerlichen Traum, oder drei realen/irrationalen Wnschen gehçrten dazu. Maßgeblich fr die Beurteilung war die sog. Falldefinition sowie die Fallidentifikation, eine Punktprvalenz, (definiert als der Gesundheitszustand der letzten sieben Tage) sowie eine Beurteilung des letzten Jahres, der letzten drei
Heinz Schepank: Das Mannheimer Kohortenprojekt
105
Jahre und der lebenslangen Prvalenz. Auch der Beginn eventueller Symptomatik und auslçsende Situationen sowie sog. Life Events wurden erfasst. Selbstverstndlich alle entsprechenden Behandlungsmaßnahmen und die gesamte aktuelle Lebenssituation und die Lebensentwicklung in Schule, Beruf, Partnerschaft, Finanzen, Wohnsituation etc. einschließlich Eltern und Geschwistern. Selbstverstndlich wurden die Interviewergebnisse im Team koordiniert und auf einheitliche Beurteilungsmaßstbe hin abgestimmt, um die Streuung zwischen den Untersuchern gering zu halten und die Untersuchervariable zu kontrollieren.
Ergebnisse Ein Fall von psychogener Erkrankung wird definiert an einem zeitlichen Kriterium (= Punktprvalenz fr die letzten 7 Tage), einem qualitativen Kriterium (damals entsprechend einer ICD-Diagnose aus der 8. Fassung Nr. 300, 301, 303, 304.4, 305 und 306) sowie einer quantitativen Ausprgung mit einem Beeintrchtigungs-Schwere-Summenwert von 5 (im BSS, Schepank, 1995). Das Hauptergebnis war eine Fallrate psychogen Erkrankter von 26 %, verteilt auf 7,16 % Psychoneurosen, 7,16 % Charakterneurosen einschließlich Suchterkrankungen und 11,68 % funktionelle psychosomatische Stçrungen (sexuelle Verhaltensabweichungen, ICD 9 Nr. 302, haben wir statistisch mit der nçtigen Verlsslichkeit nicht erfassen kçnnen). Anamnestische Psychosen wurde qua Zielfragestellung ausgeschlossen, ebenso hochgradige Schwachsinnszustnde; Demenzen aus Altersgrnden noch nicht gefunden. – 34 % der Frauen und 18 % der mnnlichen Stichprobe erfllten die Fallkriterien. Bei den Mnnern berwogen Persçnlichkeitsstçrungen, bei den Frauen neurotische und funktionell psychosomatische Erkrankungen. Symptomatologisch berwogen innere Unruhe, vor Kopfschmerzen, depressiven Verstimmungen, Suchtverhalten, ngsten, Phobien und Erschçpfung. – Die Angehçrigen der unteren sozialen Schichten waren bei den »Fllen« berreprsentiert, ebenso Ledige, Getrenntlebende und Geschiedene. Eine Bevorzugung einer Jahrgangskohorte bestand zum ersten Untersuchungszeitpunkt nicht. Unangenehme, kritische Lebensereignisse wurden von den Probanden, welche die Fallkriterien erfllten signifikant hufiger angegeben. Verschiedene frhkindliche Belastungsfaktoren konnten identifiziert werden: Uneheliche Geburt, pathologische Elternbeziehungen, gehufte Abwesenheit oder deutliche Psychopathologie der Mutter sowie ein erheblicher Altersunterschied zwischen den Eltern.
106
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Im Lngsschnittverlauf nach drei Jahren hatten jeweils 11 % der Probanden die Falleigenschaft in der einen oder anderen Richtung gewechselt. Frauen berwogen unter den »Fllen« in der B-Studie nicht mehr so deutlich. – Die Lebenslange Prvalenz wurde auf Grund der B-Studie so eingeschtzt: Etwa 30 % der untersuchten Probanden waren zeitweise »Flle« einer psychogenen Erkrankung, 29 % bleiben stabil gesund, weitere 41 % gehçren ebenfalls der Gruppe der »Nichtflle« an, allerdings mit einem klinisch grenzwertigen Beeintrchtigungsschweregrad. Den Verlauf im 3 Jahres Intervall am Kriterium der Beeintrchtigungsschwere (zwischen 0 und max. 12 Schweregradpunkten) verdeutlicht die folgende Grafik (Abb. 1):
Abbildung 1: Prozentuale Verteilung verschiedener Verlaufsformen im Dreijahresintervall. Waagerechte Wellenlinien: Prozentsatz kontinuierlicher Verlufe innerhalb der verschiedenen BSS-Schweregradkriterien. Pfeile nach unten bedeuten: ber mind. 1 Schweregradkategorie im 3 Jahres Zeitraum hin gebessert, hin zu niedrigeren BSS-Werten. Pfeile nach rechts oben: Im 3 Jahres Intervall um mind. 1 Kategoriebreite verschlechtert auf hçhere BSS-Werte in der B-Studie.
Der Gesamtverlauf ber den 15 Jahresabschnitt von der A-Studie (mit 600 Probanden) bis zur letzten ausgewerteten Studie 1991 – 94 (mit noch 333 Probanden) bildet die folgende Grafik ab (Abb. 2, aus Franz et al., 2000, S. 59) Der Verlauf ber 15 Jahre stellt sich, gemessen am Beeintrchtigungsschweregrad in der folgenden Grafik dar : Die Grçße der Kreise ist jeweils durch die Anzahl von Probanden bestimmt, die sich an dem entsprechenden Punkt innerhalb des Diagramms befinden. Im linken unteren Bereich sind
Heinz Schepank: Das Mannheimer Kohortenprojekt
107
Abbildung 2
Probanden zusammengefasst, deren psychogene Beeintrchtigung weder in der A-Studie noch zum Abschlusszeitpunkt der D-Studie den Wert der Fallgrenze von 5 erreichte, die also immer zum Normbereich gehçrten: 54,2 %. In der Diagonale 20,9 %, die von A bis D gleiche Werte hatten, links oben die 14,3 %, die sich von A nach D in ihrer Beeintrchtigungsschwere verschlechtert und rechts unten die 10,6 %, die sich (ursprnglich einmal »Fall« gewesen) spontan, oder unter einer Therapie verbessert haben.
Literatur Franz, M. (1997). Der Weg in die psychotherapeutische Beziehung. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Franz, M., Schellberg, D., Schepank, H. (1993). Epidemiologische Befunde zur tiologie psychogener Erkrankungen. Zeitschrift fr psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 39, 375 – 386. Franz, M., Lieberz, K., Schepank, H. (2000). Seelische Gesundheit und neurotisches Elend. Der Langzeitverlauf in der Bevçlkerung. Unter Mitarbeit von S. Hfner, G. Reister u. W. Tress. Wien u. New York: Springer.
108
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Lieberz, K., Spies, M., Schepank, H. (1998). Seelische Stçrungen. Stabile Gesundheit und chronische Erkrankungen in der Allgemeinbevçlkerung im 10-Jahres-Verlauf. Nervenarzt, 69 (9), 769 – 775. Manz, R., Schepank, H. (1989). Soziale Untersttzung, belastende Lebensereignisse und psychogene Erkrankungen in einer epidemiologischen Stichprobe. In: M. C. Angermeyer, D. Klusmann (Hrsg.), Soziales Netzwerk (S. 149 – 163). Berlin u. a.: Springer. Parekh, H., Manz, R., Schepank, H. (1988). Life events, coping, social support: Versuch einer Integration aus psychoanalytischer Sicht. Zeitschrift fr psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 34, 226 – 246. Schepank, H. (1987). Psychogene Erkrankungen der Stadtbevçlkerung. Eine epidemiologisch-tiefenpsychologische Feldstudie in Mannheim. Berlin u. a.: Springer. Schepank, H. (Hrsg.) (1990). Verlufe. Seelische Gesundheit und psychogene Erkrankungen heute. Berlin u. a.: Springer. Schepank, H. (1995). Der Beeintrchtigungs-Schwere-Score (BSS). Ein Instrument zur Bestimmung der Schwere einer psychogenen Erkrankung. Gçttingen: Hogrefe. Schepank, H. (1996). Zwillingsschicksale. Gesundheit und psychische Erkrankungen bei 100 Zwillingen im Verlauf von drei Jahrzehnten. Stuttgart: Enke. Strotzka, H., Leiner, I., Czerwenka-Wenkerstetten, G., Graupe, S. R., Simon, D. (1969). Kleinburg. Eine sozialpsychiatrische Feldstudie. Wien: sterreichischer Bundesverlag fr Unterricht, Wissenschaft und Kunst. Tress, W. (1986). Das Rtsel der seelischen Gesundheit. Traumatische Kindheit und frher Schutz gegen psychogene Stçrungen. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Winter, E. (1958/59). ber die Hufigkeit neurotischer Symptome bei Gesunden. Zeitschrift fr psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 5, 153 – 167.
Matthias Franz Vaterlosigkeit damals und heute – Vom Kriegskindschicksal zum Elterntraining fr Alleinerziehende
Neben der (eigentlich gar nicht so) klassischen Kleinfamilie bestehend aus zwei oder drei Kindern, der Mutter, die sich in den ersten Jahren vorwiegend den Kindern widmet, und einem Vater, der als wirtschaftlicher Versorger einer Berufsttigkeit nachgeht, haben sich in den letzten Jahrzehnten mit der Flexibilisierung unserer Lebensverhltnisse auch andere Familienformen entwickelt. Diese reichen von den unverheiratet mit ihren Kindern zusammenlebenden Elternpaaren ber die Patchworkfamilien bis hin zu den Alleinerziehenden. Bestimmte soziale Benachteiligungen und Familienkonstellationen sind bei schwindendem zwischenmenschlichen Zusammenhalt in einer kompetitiven Leistungsgesellschaft jedoch auch mit Risiken nicht zuletzt fr die Kinder verbunden. Wenngleich vom Fehlen des Vaters wesentlich mehr Kinder betroffen sind, wird die Diskussion um die frh abwesenden Mtter deutlich kontroverser und mit großer çffentlicher Aufmerksamkeit gefhrt. Dies wird beispielsweise in der derzeitigen Auseinandersetzung um die Schaffung neuer Krippenpltze fr die Kleinkindbetreuung deutlich. Mçglicherweise wird die Vorstellung von der das Baby im ersten Lebensjahr »verlassenden« Mutter von vielen Menschen als latent bedrohlich wahrgenommen und lçst dementsprechend heftige Affekte aus. Der politisch nachdrcklich vorgetragene Anspruch der wachsenden Gruppe sozial den Mittelschichten angehçrender Mtter auf Krippenpltze als Voraussetzung zur Verwirklichung beruflicher Erfolgschancen, persçnlicher Entwicklung und Teilhabe an der gesellschaftlichen Machtverteilung facht den Geschlechterkampf jedenfalls immer wieder medienwirksam an. Die Forderung nach altersgerechter Bercksichtigung der kindlichen Entwicklungsbedrfnisse und Rechte unserer Kinder fllt demgegenber leiser aus. Auffllig an dieser Diskussion um die Krippenerziehung von Kleinkindern ist, wie lautstark von Erwachsenen behauptet wird, auch eine noch so frhe Krippenunterbringung sei nicht von Nachteil fr das Kind. Als Betreuungsschlssel, der eine ausreichend spiegelnde und feinfhlige Bindung erlaubt, wird heute ein Verhltnis von einer konstanten und einfhlsamen Bezugsperson auf drei unter Einjhrige angesehen. Unsere Kinder, die im
110
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
ersten Lebensjahr noch nicht wissen, geschweige denn kritisieren kçnnen, wie und was ihnen geschieht, werden mçglicherweise einen Preis dafr zu zahlen haben, wenn in Kinderhorten fr unter Einjhrige keine qualitativ exzellent ausgebildeten, bindungsorientiert und feinfhlig agierenden sowie gut bezahlten professionellen Bezugspersonen beiderlei Geschlechts zur reichlichen und konstanten Verfgung stehen. Ein Teil des Preises wird wohl in Form einer weithin ebenfalls institutionellen Unterbringung der Alten zurckerstattet werden. Auch hier wird sicher die Behauptung laut werden, es gbe nichts Besseres fr sie. Unbestreitbar ist ein positiver Einfluss çffentlich-institutioneller Kinderfrhbetreuung, wenn Kinder in sozialen Mangelmilieus mit berforderten Eltern oder gar vernachlssigt und misshandelt ohne Bildungschancen aufwachsen. In solchen Fllen wird eine Mitbetreuung durch eine qualitativ gut ausgestattete Einrichtung die Folgen fr das Kind mildern kçnnen. Allerdings werden das in Deutschland im Vergleich immer noch deutlich unzureichende Ausbildungsniveau und die niedrige Bezahlung von Erzieherinnen (und Erziehern) in diesem Zusammenhang zu selten thematisiert. Lehrinhalte zur Bindungstheorie oder zur Bedeutung der teilnehmenden emotionalen Spiegelung durch die Bezugsperson fr die externe Stressregulation und Gehirnentwicklung des Kindes sucht man in den meisten Ausbildungscurricula vergebens. Im Folgenden sollen aber die mçglichen Folgen der Vaterlosigkeit speziell fr die Kinder aus Einelternfamilien und mittelbar fr die Gesellschaft erlutert werden. Die Gruppe der alleinerziehenden Mtter stellt heute eine schnell wachsende, inzwischen große Minderheit dar, die aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation hufig einer ganzen Anzahl verschiedener Belastungen ausgesetzt und dabei nicht selten auch allein gelassen wird. Diese Belastungen mssen natrlich nicht immer krisenhafter Art sein. Oft sind sie auch nach berwindung der akuten Trennungskrise jedoch ber einen lngeren Zeitraum wirksam und teilen sich dann ber die betroffenen Mtter und deren Kinder wieder der Gesellschaft mit. Zunchst sollen einige Anmerkungen zur entwicklungspsychologischen Bedeutung des Vaters aus psychoanalytischer und entwicklungspsychologischer Sicht die Thematik erschließen.
Die entwicklungspsychologische Bedeutung des Vaters In der Anfangszeit der Psychoanalyse erschien der Vater in der triebtheoretischen Konzeption der çdipalen Phase Sigmund Freuds als eher bedrohlicher Rivale und distantes Autorittsmodell. Insbesondere der Junge stand diesem
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
111
Vaterbild als einer zumindest latent gewaltbereiten Autoritt gegenber, die eine trotzige Unterordnung als Voraussetzung der spteren Identifikation mit dem Vater erzwang. Der Vater steht in dieser Sichtweise nicht ausschließlich auf der Seite des Kindes, sondern ihm auch potenziell feindselig gegenber. Auch das Vaterbild Paul Federns im Anschluss an den Ersten Weltkrieg im Entwurf der »vaterlosen Gesellschaft« stellt sich alles andere als positiv dar. Der Vater wurde hier auf gesellschaftlicher Ebene als erbarmungslose, mçrderische militrische Autoritt konzipiert, deren Sturz und Verlust die Gesellschaft als Ganzes im Sinne eines antiautoritren sozialistischen Entwicklungsprojektes voranbringen wrde. Allerdings sah bereits Federn die tief sitzende Fhrerbedrftigkeit vieler Deutscher nach dem Ersten Weltkrieg mit Skepsis. Mit Melanie Klein blicken wir – auch was den Vater angeht – wiederum eher in aversive archaische Abgrnde. Der Phallus des Vaters im Inneren der Mutter, mit ihr zu einem auf sich selbst zentrierten, erregten Großobjekt fusioniert, steht in der Nachfolgeformation der »bçsen Brust« ebenfalls fr stark ngstigende Aspekte des kindlichen Phantasielebens. Erst durch Winnicott kommt es zu einer an den kindlichen Entwicklungsbedrfnissen orientierten Rcknahme der aversiven vterlichen Attribute und der Vater erscheint im Lichte der auf beide Eltern gerichteten Bindungswnsche des Kindes zumindest als »fçrdernder Umweltfaktor«. Greenacre geht ber diese Sichtweise noch hinaus und betont die Wichtigkeit des Vaters in der bungsphase des Kleinkindes, welchem er eine Progression gegen den Sog des symbiotischen Mutterbildes ermçglicht. Bei Maler schließlich mildert der Vater die Wirksamkeit ambivalenter Aspekte des Mutterbildes in der Wiederannherungskrise. Er erspart dem Kind so destrukturierende Spaltungsprozesse und ermçglicht ihm eine progressive Entwicklung. Heute lassen sich aus entwicklungspsychologischer Sicht vier Entwicklungsschritte beschreiben, bei denen die emotionale Prsenz eines frsorglichen und empathischen Vaters fr die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung ist. Direkt nach der Geburt kann der Vater die Mutter dabei untersttzen eine sichere Bindung zum Sugling herzustellen, indem er die Mutter entlastet. Dies gelingt ihm dann besonders gut, wenn er sich mit den wechselseitig ablaufenden zyklischen Einfhlungsprozessen der Mutter-Kind-Dyade und den dahinter stehenden Spiegelungsbedrfnissen von Baby und Mutter identifizieren kann. Wenn er sich ausgeschlossen oder entwertet fhlt, wenn er das Kind z. B. unbewusst als Rivalen erlebt oder kindlich eiferschtig auf die Bindung und Zuwendung der Mutter zum Baby reagiert, wird es dieser schwerer fallen, eine entspannte, auf das Erleben des Kindes zentrierte Wahrnehmungs- und Einfhlungsfhigkeit zu entwickeln. Darber hinaus wird der Vater schon sehr frh und bereits vom Sugling als von der Mutter unabhngige und besondere Person wahrgenommen. In empirischen Unter-
112
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
suchungen ließ sich belegen, dass Vter von Anfang an einen von Mttern unterschiedlichen Interaktionsstil mit ihren Kindern realisieren. Sie betonen eher motorisch-spielerische und stimulativ-explorative Aspekte in ihrer Beziehung zum Kind, whrend in der Beziehungsgestaltung der Mutter eher kçrperliche Nhe und feinfhlige Zentrierung auf affektive Prozesse wichtig sind (Russel u. Saebel, 1997). Diese separative Funktion des Vaters untersttzt gerade auch die dann folgende Autonomieentwicklung des Kindes, wenn dieses im Alter von 1 bis 2 Jahren beginnt, sich von der Mutter zu lçsen. Die durch die Reifung der kçrperlichen und mentalen Fhigkeiten verstrkten Trennungsbestrebungen und die in diesem Zusammenhang auftretenden ngste und Aggressionen des Kindes kann der Vater moderieren und mildern, insbesondere wenn er sich in der Wiederannherungskrise seinem Kind einfhlsam als tragfhige Beziehungsalternative vermittelt, innerhalb welcher das Kind seine Selbststndigkeit weiter in die Umwelt hinein entwickeln kann. Schließlich kann der Vater in den spteren Entwicklungsstadien der Konsolidierung der sexuellen Identitts- und Rollenfindung die Entwicklung des Kindes fçrdern. Hierzu trgt das zwischen Tçchtern und Sçhnen strker nach geschlechtstypischen Rollen differenzierende Verhalten von Vtern bei (Siegal, 1987). Bei der Bewltigung dieses im Alter zwischen etwa 3 bis 6 Jahren anstehenden Reifungsschrittes ist der Vater als emotional prsente mnnliche Identifikationsfigur und als Liebespartner der Mutter zum einen fr die Entwicklung einer stabilen selbstbewussten sexuellen Identitt des Jungen von prgender Bedeutung. Aber auch fr die Entwicklung und Festigung der sexuellen Identitt des Mdchens ist in dieser Phase der Entwicklung und Erprobung spterer weiblicher Kompetenzen die kindgerechte Begleitung und Wertschtzung durch den Vater wichtig. Insgesamt wirkt sich ein intensives vterliches Engagement bereits bei Vorschulkindern positiv auf soziale und kognitive Kompetenzen wie Empathie und spteren Schulerfolg sowie auf die Verinnerlichung moralischer Standards aus (Fthenakis, 1999). Aufgrund dieser Zusammenhnge kann die Abwesenheit des Vaters – besonders aufgrund von elterlichen Trennungskonflikten – die Entwicklung vor allem von Jungen negativ beeinflussen (Fthenakis et al., 1982; Franz u. Lensche, 2003a). Gerade fr Jungen sind die unbewusst eingeschriebenen Bilder vom eigenen Vater identittsbildend und lebenslang referenziell fr die Bewltigung von spteren Krisen und eigenen Konflikten. Von Bedeutung fr derartige Entwicklungsrisiken sind nach Fthenakis und Schmidt-Denter (2000) unter anderem das Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Trennung, die Dauer der Abwesenheit des Vaters, die Verfgbarkeit von »Ersatzvtern« oder auch das Andauern destruktiver Konflikte der Eltern.
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
113
Das Fehlen des Vaters in den kindlichen Entwicklungsjahren wurde auch in epidemiologischen Untersuchungen als ein Risikofaktor fr psychische/psychosomatische Beeintrchtigung im Erwachsenenalter beschrieben (Werner u. Smith, 1992; Franz et al., 1999). Allerdings scheint in den Fllen, in welchen vor einer Trennung oder Scheidung in der elterlichen Beziehung ein chronifizierter, gravierender Partnerkonflikt bestand, eher die andauernd konflikthafte Elternbeziehung als allein die Trennung vom Vater einen negativen Einfluss auf das sptere Erkrankungsrisiko zu besitzen (Tress, 1986; Amato u. Keith, 1991; Amato u. Booth, 2000a; Amato u. Booth, 2001).
Der fehlende Vater Das Fehlen der Vter ist in Deutschland dabei kein neues Phnomen. In Folge des Zweiten Weltkrieges und der zivilisatorischen Katastrophe des Nationalsozialismus starben fast 5 Millionen deutsche Soldaten – ber sechs Jahre hinweg im Mittel jeden Tag 2500 –, darunter auch viele Vter. Millionen zurckkehrender Kriegsgefangener waren hufig so schwer traumatisiert, dass sie in ihren Familien ber Jahre hinweg Fremde blieben oder sich trennten. Fr zahlreiche Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland bedeutete dies eine Kindheit ohne Vater. Ungezhlte andere hatten eine gestçrte Beziehung zu einem kriegstraumatisierten Vater. Dies ist bis heute in vielen psychotherapeutischen Behandlungen der Kriegskindergeneration ein leidvolles und zuvor jahrzehntelang verdrngtes Thema. Die psychischen Folgen dieser in Kriegsfolge gesetzten Traumatisierungen wurden in Deutschland lange kaum systematisch erforscht. Eine psychosomatisch-epidemiologische Studie an der Mannheimer Normalbevçlkerung – die Mannheimer Kohortenstudie (Schepank, 1987; Franz et al., 2000), in welcher auch der Langzeitverlauf psychischer/psychosomatischer Erkrankungen untersucht wurde – erbrachte als ein wesentliches Ergebnis, dass die »Kinder des Krieges« der Geburtsjahrgnge 1935 und 1945, denen in den ersten sechs Lebensjahren der Kontakt zum Vater fehlte, noch ber 50 Jahre spter ein deutlich hçheres Risiko fr psychische/psychosomatische Stçrungen aufwiesen als die Kriegskinder derselben Jahrgnge, welche aber einen konstanten Kontakt zum Vater hatten (Franz et al., 1999; Franz, 2006). Dieser Befund konnte in neueren reprsentativen epidemiologischen Folgestudien besttigt werden (Franz et al., 2007). Aus psychoanalytischer Sicht verdeutlichte Radebold (2000) diese Zusammenhnge anhand eindrucksvoller Fallschilderungen. Vor dem Hintergrund der lange unterschtzten entwicklungspsychologischen Bedeutsamkeit des Vaters erscheint das strukturelle Vaterdefizit in unserer heutigen Gesellschaft als problematisch. Bereits in Zwei-Elternfami-
114
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
lien sind Vter ber weite Bereiche der frhkindlichen Entwicklung nur wenig prsent. Sehr viele Vter sind berufsbedingt abwesend, lediglich 12 % nehmen die gesetzliche Elternzeit in Anspruch. Trotz çffentlich eingeforderter und propagierter neuer Rollenleitbilder versorgen und betreuen Vter auch heute noch ihre Kinder seltener als die Mtter (Werneck, 1998). Allerdings scheint sich der zeitliche Anteil heutiger Vter an der Gesamtbetreuungszeit ihrer Kinder im Generationenvergleich in den letzten Jahrzehnten doch etwas erhçht zu haben (Pleck, 1997). Nach einer Erhebung des Bundesfamilienministeriums an ber 5.400 Haushalten widmen sich Vter ihren Kindern tglich knapp 1 1/4 Stunden, Mtter hingegen 2 3/4 Stunden (BMFSFJ, 2003). Das eklatante Fehlen mnnlicher Bezugspersonen und die fast ausschließliche weibliche Prsenz in Kindergrten und Grundschulen ist in diesem Zusammenhang jedoch bedeutungsvoll und fr die Identittsbildung besonders der Jungen alleinerziehender Mtter sicherlich problematisch. Schließlich bewirken tendenziell vterfeindliche Umgangs- und Sorgerechtsregelungen bei steigenden Scheidungsraten bei einer Vielzahl unserer Kinder ein sprbares Defizit vterlicher Beziehungserfahrung. Zahlreiche vaterlos aufwachsende Jungen bleiben so ohne ein in realer Bezogenheit emotional prsentes mnnliches Identifikationsmodell. Auch eine noch so einfhlsame alleinerziehende weibliche Bezugsperson kann einem heranwachsenden Jungen jedoch nicht vermitteln, wie es sich eines Tages anfhlen kçnnte, ein auch sexuell selbstbewusster und beziehungsfhiger Mann zu sein. Dies gilt insbesondere, wenn vor dem Hintergrund unverarbeiteter Trennungsverletzungen diesem Jungen von der Mutter – mçglicherweise auch gar nicht ausgesprochen oder bewusst beabsichtigt – ein negatives oder abwertendes Bild vom Vater vermittelt wird. Das Erfahrungsdefizit realer Mnnlichkeit und Vterlichkeit fhrt so nicht nur zu einer Verunsicherung der betroffenen Jungen, sondern trgt sicherlich auch zu dem großen kommerziellen Erfolg medial vermittelter, hufig destruktiver Mnnerbilder bei. Dieses mnnliche Identifikationsdefizit wird von medialen Kunstprodukten, beispielsweise Kinofilmen wie »Matrix«, »Terminator« oder »Starwars« mit großem kommerziellen Erfolg vermarktet. In diesen epischen – sicherlich auch tiefen- und entwicklungspsychologisch beratenen – Erfolgsstreifen geht es stereotyp darum, dass ein kleiner vaterloser Junge von weisen und technisch brillanten Ersatzvtern zu einem großen starken Mann herangebildet wird. In den gemeinsamen Gegnern – allgegenwrtige, parasitre oder umfassend bedrohliche Maschinenwelten – sind unschwer die allmchtigen Verfolger paranoider kleinkindlicher ngste wieder zu erkennen. Diese ngste entspringen aus psychoanalytischer Sicht hufig einer als bedrohlich erlebten oder auch phantasierten hilflosen Abhngigkeit von einer unemphatischen oder depressiven, vielleicht auch berforderten oder »maschinenhaften« mtterlichen Bezugsperson (»Matrix«) der frhen Kinder-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
115
jahre, zu der sich dem Kind keine Alternative vermittelte. Diesen archaischen Mchten bietet der Junge im Film nun schließlich die Stirn und siegt mit der Hilfe des idealisierten vterlichen Mentors. Die auf den ersehnten Vater gerichteten Entwicklungs- und Bindungswnsche zahlreicher vaterloser Kinder sind hier ebenso unschwer zu identifizieren. Als mediale Platzhalter und kommerziell genutzte Projektionsfiguren bedienen diese Helden persistierende, noch auf einen frher abwesenden aber als stark und frsorglich ersehnten Vater bezogene kindliche Bindungswnsche und stehen zur illusionren Massentriangulierung gewinnbringend zur Verfgung. Befriedigt werden diese auf reale Interaktion gerichteten kindlichen Bedrfnisse durch derartige Medienprodukte selbstverstndlich nicht – mit mçglicherweise fatalen Folgen fr das resultierende latent aversive Frauenbild vieler vaterloser Jungen. Breite Bevçlkerungsschichten und zahlreiche, insbesondere unsere mnnlichen Patienten erkennen ihre eigenen dyadischen ngste und ihre Vaterbedrftigkeit in solchen Medienprodukten wieder. Es ist empfehlenswert, sich diese Filme, welche die unbewussten Beziehungsphantasien vieler unserer mnnlichen Patienten im Alltag widerspiegeln, auch einmal unter dem Aspekt der Triangulierungskonflikte vaterlos aufgewachsener Jungen anzuschauen. Zustzlich zu dem transgenerational tradierten kollektiv-kriegstraumatischen und dem strukturellen Vaterdefizit unserer heutigen Gesellschaft ist die wachsende Gruppe der alleinerziehenden Mtter und ihrer Kinder von dem Fehlen des Partners und Vaters besonders betroffen. In Deutschland wchst die Anzahl von Einelternfamilien, wie in den meisten westlichen Industrielndern, seit Jahrzehnten kontinuierlich. Der Anteil der Alleinerziehenden an allen Familien mit Kindern stieg in Deutschland in den letzten Jahrzehnten von 8 % 1970 ber 13 % 1985 auf etwa 26 % 2004 (Jesse u. Sander, 1999; Statistisches Jahrbuch fr die Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 47). 2004 lebten etwa 2,3 Millionen Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren (ca. 81 % dieser Alleinerziehenden sind Mtter) in Deutschland. Das Thema der konflikthaft gescheiterten Liebesbeziehung dominiert: 39,4 % der alleinerziehenden Mtter sind geschieden, 14,6 % leben getrennt, 39,9 % sind ledig (Stegmann, 1997; Stat. Jahrbuch, 2005, S. 47). Trennungen beziehungsweise Scheidungen generieren somit den grçßten Anteil Alleinerziehender. Vor diesem Hintergrund ist es bedeutsam, dass die Zahl der Ehescheidungen ebenfalls kontinuierlich steigt. 1997 waren in Deutschland bei 187.000 und 2004 bereits bei 214.000 Scheidungen in mehr als der Hlfte minderjhrige Kinder mitbetroffen. 21,7 % (3,2 Millionen) aller Kinder unter 18 Jahren wuchsen 2004 in Deutschland in einer Einelternfamilie auf. In urbanen Zentren liegen diese Raten zum Teil erheblich hçher.
116
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Die Folgen fr die Mtter und Kinder Neuere Studien zeigen, dass der Alleinerziehendenstatus mit Risiken fr die Mtter aber auch fr die Kinder assoziiert ist (Franz, 2005). Alleinerziehende Mtter haben ein stark erhçhtes Armutsrisiko, leiden hufiger unter sozialer Randstndigkeit, biographischen Brchen oder einer beeintrchtigten Bildungs- und Berufsentwicklung. Dies und die latente Konfrontation mit den eigenen Konfliktbeitrgen, Schuldgefhlen und Selbstzweifeln fhren zu hçheren gesundheitlichen und psychosomatischen Belastungen. Nicht alle alleinerziehenden Mtter sind in dieser Weise beeintrchtigt, viele kommen mit ihrer Situation gut zurecht oder sogar auch besser, insbesondere wenn zuvor Gewalt oder Alkohol die Elternbeziehung prgten. Nach Brand und Hammer (2002) sind allerdings lediglich 35,3 % der Alleinerziehende mit ihrer Lebenssituation zufrieden. Etwa zwei Drittel leiden unter verschiedenen Problemlagen wie Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation (22,3 %), belasteter Familiensituationen (21,3 %), Schwierigkeiten in der Kleinkindbetreuung (12,8 %) oder sozialer Isolation (8,3 %). Fr eine große Anzahl der alleinerziehenden Mtter stellen die geschilderten Risikokonstellationen eine strukturelle berforderung dar, die zusammen mit dem Fehlen des anderen Elternteils bei den betroffenen Kindern das Entstehen von Entwicklungsstçrungen und Verhaltensaufflligkeiten mit Folgen bis ins Erwachsenenalter hinein begnstigen kann. Welche Auswirkungen haben nun das Fehlen der Vter, Trennung oder Scheidung auf die Lebenssituation, auf die kçrperliche und seelische Gesundheit alleinerziehenden Mtter und ihrer Kinder? Da die gesundheitliche Lage und Entwicklungsrisiken von Kindern stark von der Lebenssituation ihrer Mtter abhngig ist (Egle u. Hardt, 2005) sollen zunchst im berblick Befunde zu sozioçkonomischen und psychosozialen Belastungen alleinerziehender Mtter vorgestellt werden.
Die Situation alleinerziehender Mtter Armutsrisiko Alleinerziehende Mtter sind mehrfachen Belastungen ausgesetzt. Zwar kommen viele dieser Mtter mit ihrer Situation gut zurecht (Napp-Peters, 1985; Neubauer, 1988; Schwarz u. Gçdde, 1999; Wagner-Winterhager, 1988). Die Resultate dieser zumeist lteren Studien an selegierten Stichproben sollten aber nicht Anlass zu einer gelegentlich anzutreffenden Idealisierung des All-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
117
einerziehendenstatus geben. Die soziale Wirklichkeit sieht fr eine große Anzahl alleinerziehender Frauen ganz anders aus. Zahlreiche Studien belegen das stark erhçhte Armutsrisiko in dieser Gruppe. Armut, soziale Randstndigkeit, Rollenbrche und beeintrchtigte Bildungs- und Berufsmçglichkeiten sind bei alleinerziehenden deutlich hufiger als bei verheirateten Mttern (Weitzman, 1985; Frick et al., 1990; Kraas u. Sailer-Fliege, 1995; Napp-Peters, 1995; Stegmann, 1997). Ein-Eltern-Haushalte sind nach den Daten des bundesweit reprsentativen sozioçkonomischen Panel (SOEP) von allen untersuchten Haushaltstypen am strksten von Armut betroffen. So erbrachte das SOEP fr diese Haushalte eine 1995 auf 42,4 % (alte Bundeslnder) beziehungsweise 35,5 % (neue Bundeslnder) gewachsene Einkommensarmutsquote. Alleinerziehenden-Haushalte verfgen nach Ergebnissen des sozioçkonomischen Panels lediglich ber 64 % des mittleren Haushaltseinkommens von Zweielternfamilien (Himmelreicher et al., 1997). Nach Palentien, Klocke und Hurrelmann (1999) leben 40 % der Alleinerziehenden-Haushalte in relativer Armut unterhalb der Hlfte des quivalenzeinkommens. Der entsprechende Prozentsatz aller Haushalte in Deutschland liegt bei rund 10 %. Laut Mikrozensus 1996 verfgten ca. zwei Drittel aller Alleinerziehenden (bei einer mittleren Haushaltsgrçße von 2,4 Personen) ber ein Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 3000 DM, bei Ehepaaren mit Kindern (mittlere Haushaltsgrçße 3,7 Personen) betrgt dieser Anteil nur ein Sechstel (Andreß u. Lohmann, 2000; Schneider et al., 2001). Daher berrascht der hohe Anteil von Sozialhilfeempfngerinnen unter den alleinerziehenden Mttern nicht. Die weiblichen Alleinerziehenden mit Kindern unter 18 Jahren machten Ende 1998 22,4 % aller Sozialhilfeempfnger aus. Der Sozialhilfestatistik zufolge (zit. in Helfferich et al., 2003) bezogen 27,1 % aller alleinerziehenden Frauen 1999 Sozialhilfe, wobei dieser Anteil mit der Anzahl der Kinder noch deutlich hçher steigt. In einer aktuellen Zusammenstellung des Robert-Koch-Institutes Berlin (Helfferich et al., 2003) weisen die bercksichtigten Armutsindikatoren in die gleiche Richtung. Kampmann, Schupp und Wagner (1996) untersuchten die Verlaufsdynamik der Einkommensreduktion nach einer Trennung oder Scheidung auf der Grundlage eines standardisierten Einkommensindikators. Nach dieser Studie verschlechtert sich die finanzielle Lage von Frauen im ersten Jahr nach der Trennung/Scheidung und ist auch vier Jahre spter nicht wesentlich gebessert. Eine starke Einkommensreduktion alleinerziehender Mtter im ersten Jahr nach Trennung oder Scheidung berichteten auch bereits Burkhauser, Duncan, Hauser und Berntsen (1991). In einer eigenen Untersuchung (»Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie«, Franz et al., 2003a, b) an einer Komplettkohorte von ber 5.000 fnf bis siebenjhrigen Schulneulingen betrug der Anteil der Kinder in Ein-ElternFamilien 18 %. Der sozioçkonomische Status der alleinerziehenden Mtter
118
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
war im Vergleich zur Kontrollgruppe der verheirateten Mtter in allen Statusindikatoren signifikant erniedrigt. Sie verfgten eher ber niedrigere Bildungsabschlsse, arbeiteten doppelt so hufig vollzeitig wie verheiratete Mtter und gaben trotzdem ein wesentlich geringeres monatliches Haushaltsnettoeinkommen an. Der Anteil der Mtter, die ein monatliches Gesamthaushaltsnettoeinkommen von pauschal ber 5000 (damals noch) DM angaben, betrug bei den Alleinerziehenden 2,3 %, in der Kontrollgruppe 26,6 %. Auch das nach OECD (Bundesministerium fr Arbeit und Sozialordnung, 2001) korrigierte Netto-Pro-Kopf-Einkommen fr jedes Haushaltsmitglied zeigte eine strkere Gewichtung in den unteren Einkommenskategorien bei den alleinerziehenden Mttern. Entsprechend war die subjektive Einkommenszufriedenheit der alleinerziehenden Mtter signifikant geringer, die Sozialhilferate gegenber der Kontrollgruppe massiv erhçht.
Gesundheitliche Risiken Studien zur gesundheitlichen Situation alleinerziehender Mtter stammen zumeist aus dem angelschsischen und skandinavischen Raum. Generell wurde in den meisten Studien bei alleinerziehenden Mttern zum Teil unabhngig vom sozioçkonomischen Status ein erhçhtes Risiko fr verschiedene – auch kçrperliche – Erkrankungen sowie soziale Beeintrchtigungen gefunden. Dies gilt auch in Lndern mit sehr unterschiedlichen Sozialleistungen fr alleinerziehende Mtter (Wider u. Bodenmann, 1995; Sarfati u. Scott, 2001). Nach Gove und Shin (1989) und Ringback Weitoft et al. (2000) besteht bei Geschiedenen und getrennt lebenden Personen ein erhçhtes Risiko fr kçrperliche aber auch psychische Erkrankungen, Suizid, Unflle, Alkoholismus. Ringback Weitoft et al. (2000) fanden an einer großen schwedischen Stichprobe sogar ein um 70 % erhçhtes Mortalittsrisiko fr Alleinerziehende auch nach Bercksichtigung des sozioçkonomischen Status und vorher bestehender Erkrankungen. Die erhçhte Sterblichkeit alleinerziehender Mtter stand in Verbindung mit einem erhçhten Suizidrisiko, Gewalteinwirkung und Alkoholproblemen. In großen epidemiologischen Studien in Großbritannien (Shouls et al., 1999) blieben alleinerziehende Mtter im Vergleich zu verheirateten Frauen ber grçßere Zeitrume zeitstabil gesundheitlich beeintrchtigter trotz zwischenzeitlicher deutlicher politischer und çkonomischer Vernderungen. Whitehead et al. (2000) fanden in Großbritannien und Schweden einen etwa gleich großen Unterschied in der Selbsteinschtzung der Gesundheitssituation und im Auftreten von chronischen Erkrankungen zum Nachteil der alleinerziehenden im Vergleich zu verheirateten Mttern, obwohl die politischen und sozialen Rahmenbedingungen in beiden Lndern sehr unterschiedlich sind. In England lebten etwa 58 % der Alleinerziehenden in
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
119
Armut, in Schweden dagegen nur ca. 10 %. Dies spricht dafr, dass neben dem sozioçkonomischen Status auch andere Faktoren das Erkrankungsrisiko Alleinerziehender beeinflussen. Saul und Payne (1999) befragten in einer epidemiologischen Studie in Großbritannien ber 16.000 Personen zu gesundheitlichen Beeintrchtigungen und ihrer soziçkonomischen Situation. Es zeigte sich, dass der sozioçkonomische Status und der Einelternstatus am hçchsten mit psychosomatischen Erkrankungen korreliert waren. Auf der Datengrundlage des Bundesgesundheitssurveys 1998 errechneten Helfferich et al. (2003) eine signifikant hçhere Belastung alleinerziehender Mtter durch allgemeine Befindlichkeitsstçrungen, Schmerzen und verschiedene vorwiegend chronische Erkrankungen wie Bronchitis, Nierenerkrankungen, Leberentzndungen. Die subjektive Einschtzung ihres Gesundheitszustandes und der gesundheitsbezogenen Lebensqualitt war dementsprechend in der Gruppe der alleinerziehenden Mtter signifikant schlechter. McIntyre et al. (2003) wiesen auf die besonders schlechte Ernhrungslage armer alleinerziehender Mtter hin.
Depressivitt Nach einer konflikthaften Partnertrennung kommt es gehuft zu Stimmungseinbrchen (Berman u. Turk, 1981; Walters, 1993). Eine erhçhte Beeintrchtigung durch Depressivitt und ngste bei Alleinerziehenden wurde in kulturell und wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Lndern wie Kanada (Lipman, 1997; Cairney et al., 2003), den USA (Gove u. Shin, 1989; Walters, 1993), Großbritannien (Blaxter, 1990; Brown u. Moran, 1997; Baker u. North, 1999), China (Cheung u. Liu, 1997), Puerto Rico (Burgos et al., 1995), Deutschland (Franz et al., 2003a, b), Schweden (Ringback Weitoft et al., 2000) gefunden. Verschiedene Autoren beschreiben eine starke Assoziation von Depressivitt und Alleinerziehendenstatus im Vergleich zu verheirateten Personen auch noch nach Bercksichtigung psychosozialer Ressourcen, Sozialstatus und Selektionseinflssen (Cotten, 1999; Ringback Weitoft et al., 2000). So untersuchten Cairney et al. (2003) in einer Sekundranalyse eines großen kanadischen Datensatzes (das 1994 – 95 durchgefhrte National Population Health Survey ; N = 2.921) den Einfluss von Kindheitsbelastungen, chronischen und aktuellen Stressoren und sozialer Untersttzung auf das Ausmaß der Depressivitt bei alleinerziehenden Mttern. Die Prvalenz depressiver Stçrungen war bei den Alleinerziehenden doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe verheirateter Mtter. Ebenso gaben die Alleinerziehenden erhçhte Kennwerte fr adverse Kindheitsbelastungen, chronische und aktuell belastende Stressoren, sowie eine verringerte soziale Untersttzung an, so dass sich innerhalb von Regressionsmodellen ca. 40 % der erhçhten Depres-
120
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
sionsbelastung der alleinerziehenden Mtter auf diese Einflussfaktoren zurckfhren ließ. Auch noch nach zustzlicher Kontrolle des Sozialstatus und des Alters war die erhçhte Depressivitt mit dem Alleinerziehendenstatus assoziiert. In einer neueren Studie untersuchten Targosz et al. (2003) 5.281 Frauen der Zufallsstichprobe des British National Survey of Psychiatric Morbidity auf das Vorkommen depressiver Stçrungen und sozialer Benachteiligung. Alleinerziehende Mtter wurden verglichen mit anderen Mttern und Frauen, welche nicht in elterliche Sorgefunktionen eingebunden waren. Die Hufigkeit depressiver Episoden betrug bei den alleinerziehenden Mttern 7 % und war damit dreifach erhçht gegenber den anderen Gruppen. In dieser – allerdings von Laieninterviewern durchgefhrten – Untersuchung war nach statistischer Kontrolle sozialer Ressourcen das Depressionsrisiko Alleinerziehender nicht spezifisch erhçht. In der Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie (Franz et al., 2003a, b) war die mittlere psychische/psychosomatische Gesamtbeeintrchtigung der alleinerziehenden Mtter im Vergleich zur Kontrollgruppe ebenfalls statistisch signifikant erhçht. Dies galt insbesondere fr die Depressivitt, die bei den alleinerziehenden Mttern auch in dieser Untersuchung stark ausgeprgt war. Besonders hohe Belastungswerte zeigten alleinerziehende Mtter ohne weitere Untersttzungsperson fr ihr Kind, jngere sowie arme alleinerziehende Mtter. Nach multivariater Kontrolle mçglicher Einflussfaktoren war der spezifische Zusammenhang von erhçhten Belastungswerten mit dem Familienstatus der Mtter insgesamt nur schwach aber zu ungunsten der alleinerziehenden Mtter (Franz et al., 2003b).
Suchterkrankungen Suchterkrankungen kçnnen in belastend erlebten Lebenssituationen auch als selbstschdigendes Bewltigungsverhalten verstanden werden. Von daher ist es nicht berraschend, dass in verschiedenen epidemiologischen Untersuchungen ein bei alleinerziehenden Mttern erhçhtes Risiko fr Suchterkrankungen beschrieben wurde. Dies gilt beispielsweise fr Alkoholmissbrauch (Ringback Weitoft et al., 2000) und Nikotinabhngigkeit. In der Stichprobe des Mikrozensus 1999 (Helfferich et al., 2003) war der Anteil regelmßig rauchender Mtter bei den alleinerziehenden mit 45,6 % doppelt so hoch wie bei den verheirateten Mttern (23,6 %). Siahpush et al. (2002) untersuchten die Hufigkeit der Nikotinabhngigkeit an einer großen epidemiologischen australischen Stichprobe und den mçglichen Einfluss sozioçkonomischer Faktoren. (n = 1.184 alleinerziehende Mtter mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren). Insgesamt 46,3 % der alleinerziehenden Mtter
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
121
rauchten, wobei insbesondere die jngeren schlechter ausgebildeten und rmeren von ihnen betroffen waren. Jedoch auch nach Kontrolle dieser Einflsse bestand ein starker spezifischer Effekt des Alleinerziehendenstatus. Die alleinerziehenden Mtter hatten im Vergleich zu verheirateten Mttern ein 2,4fach erhçhtes Risiko zu rauchen und ein zweifach erhçhtes Risiko verglichen mit alleinlebende Frauen. In einer vom Umfang allerdings nicht vergleichbaren deutschen Erhebung (Franke et al., 2001; Fragebogenerhebung, auswertbarer Rcklauf 25,8 %, N = 850) zur Prvalenz von Abhngigkeitserkrankungen bei Frauen waren unter den Frauen mit einem hohen Alkoholkonsum alleinerziehende Mtter mit 57,9 % deutlich berreprsentiert gegenber Frauen, die mit ihrem Kind und einem Partner zusammenlebten (36,8 %). Es ist davon auszugehen, das sich die gesundheitsgefhrdenden Einwirkungen des Rauchens auch den mit im Haushalt lebenden Kindern oder auch bereits vorgeburtlich vermitteln.
Mçgliche Einflussfaktoren auf die Bewltigung der Trennung Wenngleich die im Mittel strkere gesundheitliche Beeintrchtigung Alleinerziehender gut belegt ist, ist die Frage, welche Faktoren auf den Gesundheitszustand und die psychosoziale Beeintrchtigung Alleinerziehender in positiver oder negativer Weise Einfluss nehmen, kaum geklrt. Zahlreiche Variablen sind mit dem Trennungskonflikt selbst assoziiert und kçnnen sich in vielfltiger Weise auf den Gesundheitszustand und die psychosoziale Beeintrchtigung von Alleinerziehenden auswirken. Hierzu zhlen das Ausmaß der Konflikte mit dem Expartner vor und nach der Trennung oder Verhaltensaufflligkeiten der Kinder im Gefolge der Trennung (Wallerstein u. Kelly, 1980; Hetherington et al., 1985; Berman u. Turk, 1981; Propst et al., 1986). Auch die andauernde Konfrontation mit eigenen Konfliktbeitrgen z. B. hinsichtlich der Partnerwahl, Selbstzweifel und – oft nicht artikulierbare – Schuldgefhle dem Kind gegenber bewirken zusammen mit den wirtschaftlichen Unsicherheiten hufig eine strukturelle berforderung und die deutlich berdurchschnittliche psychische und psychosomatische Belastung vieler alleinerziehender Mtter. Eine bessere Ausbildung, ein gesichertes Arbeitsverhltnis sowie umfangreiche und qualitativ zufriedenstellende supportive Netzwerke werden als protektive Faktoren fr geringere Depressivitt und ngste und wichtig fr ein besseres Wohlbefinden Alleinerziehender beschrieben (Propst et al., 1986; Whitehead et al., 2000; Berman und Turk, 1981; Plummer u. Koch-Hattem, 1986; Nestmann u. Stiehler, 1998). Funktionelle und emotional supportive soziale Netze sind fr alleinerziehende Mtter zur Bewltigung der geschilderten Mehrfachbelastungen von besonderer Wichtigkeit. Allerdings sind
122
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
sowohl die quantitativen Kennwerte als auch die qualitativ wahrgenommene Gte des sozialen Netzes bei alleinerziehenden Mttern im Vergleich zu denen verheirateter Mtter schlechter ausgeprgt (Helfferich et al., 2003). Andere Autoren berichten hierzu differenzierend von einer teilweise widersprchlichen Befundlage je nach dem in welcher Phase sich Alleinerziehende nach einer Trennung und dem hiermit oft einhergehenden Abbruch sozialer Beziehungen beziehungsweise deren spter folgenden Wiederaufbau befinden (Nestmann u. Stiehler, 1998). Die im Alltag gelebte intime, wechselseitige Vertrauens- und Liebesbeziehung, die sich zahlreiche Alleinerziehende wnschen, kann im Erleben der Betroffenen aber weder durch Support der Herkunftsfamilie noch durch Freunde und Bekannte substituiert werden (Nestmann u. Stiehler, 1998). Bislang wenig untersucht sind Persçnlichkeitsfaktoren, die auf Seiten Alleinerziehender eine konflikthafte Partnerwahl, Partnerbeziehung oder eine Trennung begnstigen. Die kindliche Erfahrung elterlicher Konflikte oder Trennung erhçht jedoch die Wahrscheinlichkeit eigener spterer Beziehungskonflikte oder Trennung/Scheidung.
Folgen fr die Kinder Aufgrund der geschilderten Mehrfachbelastungen sind alleinerziehende Mtter in ihrer emotionalen Zuwendungsfhigkeit ihren Kindern gegenber hufig beeintrchtigt und oft selber untersttzungsbedrftig. Die durch die erhçhte çkonomische, psychosoziale und gesundheitliche Belastung alleinerziehender Mtter gegebene chronische berforderung kann sich zahlreichen Studien zufolge negativ auf die Entwicklung, das Wohlbefinden und das Verhalten betroffener Kinder bis in das Erwachsenenalter auswirken (Hetherington et al., 1985; Morash u. Rucker, 1989; Amato, 1994; McLanahan, 1999; Amato, 2000). Bekannte Risikofaktoren fr die sptere Entwicklung eines Kindes sind hufig mit einer psychischen und sozialen berforderung oder gesundheitlichen Beeintrchtigungen ihrer Mtter verknpft. Hierzu zhlen psychische Stçrungen (Bromet et al., 1998; Egle u. Hoffmann, 1997; Tress et al., 1989) und schwere kçrperliche Erkrankungen der Mutter (Dhrssen, 1984; Egle u. Hoffmann, 1997; Werner u. Smith, 1992), chronische elterliche Disharmonie (Werner u. Smith, 1992; Sadowski et al., 1999; Amato u. Booth, 2001), unkompensierte berufsbedingte Abwesenheit der Mutter im ersten Lebensjahr (Baydar u. Brooks-Gunn, 1991), emotionale Ablehnung und Unerwnschtheit des Kindes (Amendt u. Schwarz, 1992; Matejcek, 1991; Kubicka, 1995), jugendliches Alter (Fergusson et al., 1994; Lieberz u. Schwarz, 1987) und niedrige Schulbildung der Mutter (Lieberz u. Schwarz, 1987; Werner u. Smith, 1992). Die vorliegenden Untersuchungen weisen insgesamt darauf hin, dass Einflsse, welche Mtter in ihrer mtterlichen Frsorge und
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
123
Bindungsfhigkeit beziehungsweise -bereitschaft beeintrchtigen kçnnen, zu einem erhçhten gesundheitlichen Entwicklungsrisiko des Kindes beitragen. Von besonderer Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang aus psychosomatischer und bindungstheoretischer Sicht die erhçhte Depressivitt vieler alleinerziehender Mtter, weil diese eine suboptimalen Versorgung der Kinder bewirken kann. Zahlreiche Studien belegen eine bei depressiv beeintrchtigten Mttern herabgesetzte Qualitt der intuitiven elterlichen Einfhlung und Zuwendung (Simons u. Johnson, 1996). Eine lnger andauernde mtterliche Depressivitt bewirkt eine mimische Verarmung des Gesichtes, das dem Kind daraufhin nicht mehr in seiner wichtigen Funktion als interaktiver teilnehmender Spiegel und zur Affektmarkierung zur Verfgung steht (Field, 1994; Jonsson et al., 2001; Fonagy et al., 2004; Franz, 2008a). Depressive Stçrungen gehen mit verschiedenen emotionalen Beeintrchtigungen einher. Bei Depressiven wurde beispielsweise ein verringertes Interesse an sozialer Interaktion und eine selektiv reduzierte Wahrnehmung und Erkennung emotional positiver Reize beschrieben (Bradley et al., 1997; McCabe u. Toman, 2000; Eizenman et al., 2003). Dagegen zeigen Depressive im Gegensatz zu Gesunden keine inhibierte Reaktivitt auf emotional aversive Signale (Hill u. Dutton, 1989; McCabe u. Gotlib, 1995; Nunn et al., 1997). Bezogen auf die Erkennung von affektexpressiver Gesichtsmimik wurde hierzu passend bei klinisch depressiven Patienten eine verminderte Leistungsfhigkeit bei der Erkennung emotional positiver Gesichtsmimik gefunden (Archer et al., 1992; George et al., 1998; Suslow et al., 2001). In einer Untersuchung an depressiven Patienten wiesen Mandal und Bhattacharya (1985) nach, dass diese im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine schlechtere Erkennung affektexpressiver Mimik zeigen. Innerhalb der Gruppe der depressiv erkrankten Patienten wurde aversive Gesichtsmimik (Trauer, Wut, Angst) besser erkannt als die positiven Affekte (Freude). Diese Befunde sprechen dafr, dass intuitive elterliche Empathie, welche essentiell wichtig fr eine zuverlssige und angemessene externe Stressregulation (und damit auch fr die Gehirnentwicklung; vgl. auch Newport, 2002) des Kindes durch die Mutter ist, bei auf Dauer depressiven Mttern beeintrchtigt ist. Eine strker ausgeprgte mtterliche Depressivitt kann daher die elterlichen Zuwendungsfunktionen wie die Wahrnehmung von und Einfhlung in kindliche Bedrftigkeitssignale einschrnken (Brody u. Forehand, 1988; Murray et al., 1993; Lipman et al., 2002; Forehand et al., 2002). Darber hinaus kçnnte die selektive Sensitivitt depressiver Mtter fr emotional aversive Informationen und Gesichtsmimik die kleinkindliche mimische Affektexpression geradezu auf den Ausdruck von Trauer oder Angst hin konditionieren, um dem Kind so wenigstens auf diesem Wege die Nhe und Aufmerksamkeit der (depressiven) Bindungsperson zu gewhrleisten. Passend hierzu wurden bei Kleinkindern depressiver Mtter in elektrophysiologischen Studien nicht nur EEG-Vernderungen im Frontal-
124
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
hirnbereich, sondern auch eine vermehrte negative mimische Affektexpression gefunden (Dawsen et al., 1997). Daher stellt der Befund einer bei alleinerziehenden Mttern im Durchschnitt erhçhten Depressivitt einen bedeutsamen Risikofaktor auch fr die Entwicklung der betroffenen Kinder dar (Murray et al., 1999). Nach elterlicher Trennung sind Kinder alleinerziehender Mtter hufig weiteren Risiken ausgesetzt: Verschlechterte sozioçkonomische Lage und Wohnsituation (McLanahan u. Booth, 1989; Franz et al., 2003a, b; Helfferich et al., 2003), erhçhte perinatale Mortalitt (Forssas et al., 1999), somatische Erkrankungen (Williams, 1990), Lern- und Kommunikationsprobleme (Hogan et al., 1997), aggressive Verhaltensstçrungen (besonders bei Jungen), Verminderung des kindlichen Selbstwertgefhls und Nachlassen der schulischen Leistungen (Hetherington et al., 1985; McLanahan, 1999; Amato, 1999, S. 147 ff.), Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, bei Mdchen aus Einelternfamilien eine erhçhte Wahrscheinlichkeit fr Frhschwangerschaften (McLanahan, 1999). Belastungsverstrkend wirkt eine negativ erlebte Mutter-Kind-Beziehung (O’Connor et al., 1998) oder eine negativ erlebte Beziehung zum Vater (Schmidt-Denter u. Beelmann, 1997; Amato, 1999, Amato u. Booth, 2000a). Das Ausmaß elterlicher Konflikte vor und nach einer Trennung gehçrt dabei zu den gut gesicherten Einflussfaktoren auf das kindliche Wohlbefinden (Amato u. Keith, 1991; Cherlin et al., 1998; Amato u. Booth, 2000a). Heute vorliegende Studien lassen eine altersbezogene Einschtzungen mçglicher Entwicklungsrisiken von Trennungs- beziehungsweise Scheidungskindern zu, die im Folgenden dargestellt werden.
Vorschulalter Clarke-Stewart et al. (2000) untersuchten bei 170 alleinerziehenden Mttern die Auswirkungen elterlicher Trennung auf dreijhrige Kleinkinder. Kinder aus Zweielternfamilien wurden hinsichtlich ihrer kognitiven und sozialen Fhigkeiten, Bindungssicherheit und Problemverhalten deutlich besser eingeschtzt als die Kinder alleinerziehender Mtter. Nach statistischer Kontrolle des mtterlichen Bildungsstandes und des Familieneinkommens waren diese Gruppenunterschiede jedoch nicht mehr bedeutsam. Thrane et al. (2005) untersuchten an ber 5.000 dnischen Kindern die Hufigkeit der Klinikaufenthalte whrend der ersten beiden Lebensjahre. Die hçchste Hospitalisierungsrate aufgrund kindlicher Infektionserkrankungen fanden die Autoren bei Kindern von alleinerziehenden Mttern mit niedriger Schulbildung. In der Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie, die an Mttern von Kindern im Vorschulalter von fnf bis sieben Jahren durchgefhrt wurde, war die
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
125
Ausprgung von Depressivitt aller Mtter hoch positiv mit Verhaltensaufflligkeiten ihrer Kinder korreliert (Franz et al., 2003a, b). Die Jungen alleinerziehender Mtter zeigten signifikant strker ausgeprgte Verhaltensstçrungen als die Jungen aus Zweielternfamilien. In einer Teilstichprobe (N = 60) von Kindern alleinerziehender Mtter, denen ein Angebot zu einer gruppentherapeutischen Intervention unterbreitet wurde, waren 83 % der Jungen und 57 % der Mdchen – also ein ungewçhnlich hoher Anteil – unsicher gebunden (GEV nach Gloger-Tippelt u. Kçnig, 2003). Dieser Befund wird von einer Untersuchung zum Bindungsverhalten alleinerziehender Mtter gesttzt, in welcher Gaffney et al. (2000) ebenfalls einen gehuft unsicheren Bindungsstil bei alleinerziehenden Mttern beschrieben. Ein unsicheres Bindungsmuster wiederum stellt einen empirisch belegten Risikofaktor fr die weitere kindliche Entwicklung dar.
Schulalter Zahlreiche Untersuchungen belegen den im Mittel beeintrchtigten Schulerfolg von Kindern aus Einelternfamilien. Lipman et al. (2002) untersuchten anhand der Daten des kanadischen National Longitudinal Survey of Children and Youth (1994 – 1995) Kinder von alleinerziehenden Mttern und aus Zweielternfamilien im Grundschulalter zwischen sechs und elf Jahren (n = 9.398). Wiederum zeigten die Kinder alleinerziehender Mtter eine beeintrchtigte soziale Entwicklung, psychische Verhaltensaufflligkeiten und geringere Schulleistungen. Die Assoziation mit dem Familienstatus war jedoch abgeschwcht, wenn andere Risikofaktoren wie das Haushaltseinkommen bercksichtigt wurden. Mtterliche Depressivitt und adverse Haltung dem Kind gegenber standen in engem Zusammenhang mit einer beeintrchtigten kindlichen Entwicklung. Im Rahmen der Kçlner Lngsschnittstudie (Schmidt-Denter, 2000) wurden 46 von ursprnglich 60 Kindern im Alter zwischen vier und zehn Jahren ab 1990 nach Trennung der Eltern ber sechs Jahre hinweg viermal untersucht. Wenngleich die Stichprobe klein und nicht reprsentativ war, ist diese Studie aufgrund der langen Verlaufsbeobachtung und der differenzierten Untersuchungsmethodik wertvoll. 48 % der Kinder wurden einem kontinuierlich hochbelasteten Verlaufstyp zugeordnet. Eine schlechte Beziehung zum Vater, ein bestrafender Erziehungsstil der Mutter, ein geringes Alter der Kinder (5 Jahre) zum Zeitpunkt der Trennung und Sorgerechtskonflikte waren bei ihnen hufig. 34 % der Kinder erreichten nach initialer Hochbelastung im Verlauf eine deutliche Besserung. Eine intensive Kommunikation mit Mutter und Geschwistern sowie ein positiv verstrkender mtterlicher Erziehungsstil waren mit diesem Cluster assoziiert. Lediglich 18 % der Scheidungskinder waren zu keinem Zeitpunkt wesentlich
126
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
beeintrchtigt. Diese Kinder verfgten ber eine positive Beziehung zur Mutter und zum Vater, es bestanden keine sorgerechtlichen Konflikte zwischen den Eltern, der mtterliche Erziehungsstil war nicht bestrafend-entwertend und die Kinder dieses Verlaufstyps waren zum Zeitpunkt der Trennung relativ lter (9 Jahre). Als wesentliche Risikofaktoren fr die kindliche Entwicklung nach elterlicher Trennung konnten in dieser Studie eine erhçhte Komplexitt der familiren Strukturen, elterliche Konflikte sowie ein geringes Alter der betroffenen Kinder identifiziert werden. McDougall et al. (2004) zeigten an einer großen kanadischen Bevçlkerungsstichprobe mit fast 23.000 Kindern, dass Kinder aus Einelternfamilien zwischen 6 und 11 Jahren signifikant strker in ihrer aktiven motorischen Entfaltung beeintrchtigt waren als Kinder aus Zweielternfamilien. hnliche Befunde berichten Hesketh et al. (2006) fr eine australische Stichprobe von etwa 2.500 Kindern.
Kinder und Jugendliche In einer umfassenden schwedischen Untersuchung an ber einer Million Kindern und Jugendlichen wurde bei den Kindern aus Einelternfamilien ein mehrfach erhçhtes Risiko fr verschiedene Erkrankungen und Verhaltensaufflligkeiten gefunden. Ringback Weitoft et al. (2003) fanden in dieser zwischen 1991 und 1998 durchgefhrten Studie bei Kindern Alleinerziehender ein 2- bis 4-fach erhçhtes Risiko fr psychische Erkrankungen, suizidales Verhalten, Unflle, Suchterkrankungen auch nach statistischer Kontrolle des Sozialstatus sowie fr psychische Erkrankung der Eltern. In einer Stichprobe von fast 2.500 Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 17 Jahren fanden Zwaanswijk et al. (2005) ebenfalls eine erhçhte Rate von durch Allgemeinrzte diagnostizierten psychischen Aufflligkeiten bei Kindern aus Einelternfamilien.
Adoleszenz und junges Erwachsenenalter Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Einelternfamilien fand Amato in verschiedenen großangelegten epidemiologischen Untersuchungen ebenfalls Hinweise auf negative Langzeitwirkungen. Diese erreichten im Mittel schlechtere Bildungsabschlsse und niedrigere Einkommen (Amato u. Keith, 1991). Ihre Partnerbeziehungen schilderten sie instabiler und konflikthafter, sie waren von einer erhçhten Scheidungsrate betroffen (Amato u. Booth, 1991; Amato, 1996). Ihre Beziehungen zu den Eltern waren belasteter (Amato et al., 1995; Amato 2005), ihre allgemeine Lebenszufriedenheit geringer im Ver-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
127
gleich zu Erwachsenen, die als Kinder aus harmonischen und konflikthaften Elternehen stammten. In einem Strukturgleichungsmodell identifiziert Amato drei zentrale Konsequenzen der elterlichen Trennung: Den geringeren Schulerfolg, konflikthaftere Partnerbeziehungen und eine schlechtere Beziehung zu den Eltern auch im jungen Erwachsenenalter. Diese Faktoren sagten innerhalb des Modells in hohem Grade die bei den Scheidungskindern verringerte Lebenszufriedenheit voraus. Bemerkenswerterweise berichtet Kirby (2002) aufgrund seiner Untersuchung einer reprsentativen Stichprobe USamerikanischer Jugendlicher – ganz in Analogie zur erhçhten Prvalenz der Nikotinabhngigkeit alleinerziehender Mtter – eine bei Jugendlichen nach elterlicher Trennung signifikant erhçhte Wahrscheinlichkeit, ebenfalls mit dem Rauchen zu beginnen. Das Erleben der elterlichen Trennung und deren Folgen sind in Abhngigkeit von den jeweiligen Umstnden fr einige Kinder aber belastender als fr andere. Amato und Booth (2000b) haben in einer Langzeitverlaufsuntersuchung gezeigt, dass insbesondere das Ausmaß der elterlichen Konflikte im Vorfeld der Trennung einen Einfluss auf die Langzeitentwicklung der betroffenen Kinder hat. Fhrt die Trennung zur Beendigung einer (z. B. durch chronische Ehekonflikte, Drogen oder Gewalt) belasteten Familiensituation, stellt eine stabilisierte und supportive Ein-ElternFamilie fr das Kind die relativ bessere Entwicklungsumgebung dar. Kommt es hingegen in einer ußerlich relativ konfliktarmen, aber latent unglcklichen Elternbeziehung zu einer Trennung, beispielsweise weil ein Elternteil sich persçnlich von einem attraktiveren Partner eine grçßere Zufriedenheit verspricht, kann ein trennungsbedingter bergang in eine vom Kind belastender erlebte familire Situation durchaus zu grçßeren Anpassungs- und Entwicklungsproblemen fhren. Auch ein hohes Ausmaß elterlicher Konflikte nach der Trennung (z. B. wegen Unterhaltszahlungen, Besuchsregelungen, Sorgerechts- oder Erziehungsfragen) trgt zu langfristigen psychischen Beeintrchtigungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen bei (Amato u. Booth, 2000b). Bauman et al. (2006) untersuchten den Einfluss eines niedrigen sozioçkonomischen Status, ethnischer Zugehçrigkeit und des familiren Einelternstatus auf die kindliche Gesundheit an fast 58.000 Kindern unter 18 Jahren. Der Einelternstatus hatte einen eigenen Risiko erhçhenden Effekt auf die Gesundheit der jeweiligen Kinder unabhngig vom Versicherungsstatus der Familie.
128
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Erwachsenenalter In einer kasuistischen Langzeitverlaufsstudie an Scheidungskindern konnten Wallerstein et al. (2002) deren Entwicklung nach der elterlichen Trennung im Kindesalter bis ins Erwachsenenalter verfolgen. Diese Autoren beschreiben ebenfalls sptere Beziehungskonflikte und eine allgemein verringerte Lebenszufriedenheit in der von ihnen ber 25 Jahre hinweg untersuchten Gruppe von Trennungskindern. Die weiter bestehenden seelischen Beeintrchtigungen und Verwundungen waren dabei hufig durchaus subtil, hinter einer Fassade angepassten sozialen Funktionierens im emotionalen Bereich aber bei entsprechend differenzierter qualitativer Diagnostik fassbar. In einer epidemiologischen Untersuchung konnten auch Sadowski et al. (1999) zeigen, dass elterliche Trennung zu einem erhçhten Risiko fr depressive Erkrankungen im spteren Leben beitrgt. Eine eindrucksvolle Lngsschnittstudie hierzu legten Gilman et al. (2003) vor. Sie untersuchten ber 1.000 Erwachsene, deren Mtter bereits vor und sieben Jahre nach Geburt der Studienteilnehmer hinsichtlich der familiren Kohsion und des sozioçkonomischen Status befragt worden waren. Die Studienteilnehmer selber wurden fr die Altersspanne zwischen 18 und 39 Jahren in strukturierten Interviews auf depressive Erkrankungen hin untersucht. Elterliche Trennung war noch Jahrzehnte spter mit einem erhçhten Depressionsrisiko verbunden, unabhngig davon ob die Mutter erneut geheiratet hatte oder nicht. Besonders stark waren diese Effekte unter den Bedingungen eines ausgeprgten und andauernden elterlichen Trennungskonfliktes. Darber hinaus war ein erniedrigter sozioçkonomischer Status der Eltern ebenfalls ein signifikanter Langzeitprdiktor fr eine sptere depressive Erkrankung im Erwachsenenalter. Friedman et al. (1995) fanden in einer Langzeitstudie zu Prdiktoren der Langlebigkeit eine verringerte Lebenserwartung von Erwachsenen aus Scheidungsfamilien.
Interventionsmçglichkeiten Die Mehrzahl der vorliegenden Studien belegt die berdurchschnittliche psychosoziale Belastung alleinerziehender Mtter und ihrer Kinder. Dabei tragen zu einer langfristig wirksamen Risikoerhçhung auch fr die Entwicklung der Kinder alleinerziehender Mtter bei: – niedriger sozioçkonomischer Status, – fehlende soziale Untersttzung der Mutter, – konflikthafte Beziehung zum Vater des Kindes, – fehlende alternative Bezugsperson fr das/die Kind/er,
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
129
– schlechterer Gesundheitszustand der Mutter, – erhçhte psychische Beeintrchtigung der Mutter (Depressivitt, Sucht). Je nach Ausprgung dieser nicht immer fr den Alleinerziehendenstatus spezifischen Einflussfaktoren (Kelly, 2000; McMunn et al., 2001) lassen sich in verschiedenen Studien Langzeiteffekte auch bei den spter erwachsenen Kindern aus Trennungsfamilien nachweisen. Diese erstrecken sich auf den schulischen und sozioçkonomischen Erfolg (geringer), die Qualitt der spteren Partnerschaft (konflikthafter), die Beziehung zu den Eltern (strker beeintrchtigt), die Lebenszufriedenheit (geringer) und die seelische Gesundheit (strker beeintrchtigt). Diese Effekte sind zwar nicht sehr stark, denn die Risiken werden durch zahlreiche intervenierende, kompensatorisch wirkende Einflsse moderiert. Vielen Kindern aus Trennungsfamilien gelingt deshalb eine erfolgreiche Entwicklung. Aufgrund der großen und zunehmenden Hufigkeit elterlicher Trennung kommt diesen Zusammenhngen nichtsdestoweniger eine hohe gesellschaftliche Bedeutsamkeit zu (Amato, 1999; 2005). Insofern bieten die genannten Einflussfaktoren auch sozialpolitische Ansatzpunkte zu einer langfristig wirksamen Prvention der Folgen elterlicher Konflikte und Trennung. Generell erscheint es wnschenswert, frhzeitig bereits dem Entstehen chronisch unglcklicher Elternbeziehungen entgegen zu wirken und Beziehungskompetenzen mçglichst frh zu strken. Als denkbare Maßnahmen erscheinen: – die Fçrderung des emotionalen Lernens und der Aggressionsbewltigung bereits im Kindergarten- und Grundschulalter, – eine (dringend notwendige) qualifiziertere Ausbildung und bessere Bezahlung der Erzieher/-innen, – eine strkere Prsenz qualifizierter mnnlicher Erzieher und Lehrer in Kindergrten und Grundschulen, – entwicklungspsychologisch und bindungstheoretisch fundierte Information junger Eltern (»Elternschule«, »Elterntrainings«), – routinemßige Screenings zur Identifikation besonders belasteter alleinerziehender Mtter bereits whrend der Schwangerschaft, in Geburtskliniken, bei kinderrztlichen Routineuntersuchungen, in Kindergrten und bei der Einschulung, – Einbung eines erwachsenen Interessenausgleiches und konstruktiven Konfliktverhaltens sowie Thematisierung kindlicher Entwicklungsbedrfnisse und der Langzeitverantwortung der Elternschaft in der Schule (»Beziehungslehre«). Im Trennungsfall sollten sich Eltern im Interesse des Kindes beraten lassen (Whiteside u. Becker, 2000), entsprechende Mediationsangebote existieren. Derartige Beratungen sind in anderen bindungskritischen Zusammenhngen
130
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
– z. B. der Schwangerschaftsunterbrechung – mittlerweile sogar gesetzlich verpflichtend. Das elterliche Sorgerecht sollte im Scheidungsfalle nach Mçglichkeit gemeinsam beiden Eltern zugesprochen werden. Verbleibt das Kind nach der Trennung bei der Mutter, sollte der Vater – wenn keine Gegengrnde (wie z. B. Gewalthandlungen) bestehen – ein Umgangsrecht erhalten und auch intensiv wahrnehmen. Spezielle niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangebote sollten stark belasteten Alleinerziehenden (www.palme-elterntraining.de) und ihren Kindern (Fthenakis, 1995) aktiv unterbreitetet und ggf. mit materiellen Untersttzungsleistungen verknpft werden. Diese Mtter und ihre Kinder kçnnten ohne großen Aufwand bereits in Kindergrten, im Rahmen kinderrztlicher Routineuntersuchungen oder in der Schuleignungsuntersuchung identifiziert werden und spezielle Beratungs- und Untersttzungsangebote erhalten. Untersttzungsprogramme fr besonders belastete alleinerziehende Mtter sollten ggf. auf die Besserung einer bestehenden Depression oder Suchtproblematik, die Stabilisierung der MutterKind-Beziehung und die Fçrderung der Elternkompetenzen abzielen.
PALME – ein prventives bindungsorientiertes Elterntraining fr alleinerziehende Mtter und ihre Kinder Abschließend sollen anhand eines Beispiels modellhaft Mçglichkeiten zur Intervention aufgezeigt werden. Fast 40 % der alleinerziehenden Mtter der Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie ußerten auf Befragen einen Untersttzungs- und Hilfewunsch. Dieser reichte von psychologischer Erziehungsberatung, finanzieller Beratung, rechtlicher Beratung bis hin zu Psychotherapie. Die allermeisten Mtter waren jedoch nicht in entsprechende Untersttzungsangebote eingebunden. Hufiger Hintergrund ist, dass zahlreiche alleinerziehende Mtter berlastet oder demoralisiert und deshalb zur aktiven Suche und Inanspruchnahme von Hilfsangeboten nicht immer in der Lage sind. Deshalb sollten Hilfsangebote, die auf diese Bevçlkerungsgruppe abzielen, im jeweiligen Sozialraum aufsuchend angeboten werden. Auf der Datengrundlage der Dsseldorfer Alleinerziehendenstudie wurde ein entsprechendes Elterntraining »PALME« (www.palme-elterntraining.de) zur Untersttzung alleinerziehender Mtter mit Kindern im Vorschulalter in jahrelanger interdisziplinrer Zusammenarbeit entwickelt (Lensche et al., 2003), erfolgreich erprobt und nach wissenschaftlicher Evaluation in zahlreichen Kindergrten verschiedener Stdte eingefhrt. Der Begriff PALME steht fr »Prventives Elterntraining fr alleinerziehende Mtter geleitet von ErzieherInnen«. Es handelt sich um ein zielgruppenspezifisches Unterstt-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
131
zungsprogramm fr die wachsende Gruppe alleinerziehender Mtter und ihrer Kinder. PALME ermçglicht dieser Gruppe bundesweit erstmalig den niedrigschwelligen Zugang zu einem bindungsorientierten und emotionszentrierten prventiven Untersttzungsangebot. Aufgrund der wachsenden Bedeutung dieser Familienform wird deren spezieller Untersttzungsbedarf auch zunehmend als gesellschaftspolitische Aufgabe begriffen. Vor dem Hintergrund dieses Handlungsbedarfes und wegen seiner methodisch-wissenschaftlichen Qualitt wird die Evaluation von PALME seit 2005 mit Mitteln des BMBF im Fçrderschwerpunkt »Prvention fr den Menschen« gefçrdert und in aufwndiger Kooperation der HeinrichHeine-Universitt Dsseldorf und den Partner-Kommunen Neuss, Hilden und Dormagen realisiert. In seiner theoretischen Fundierung ist das Konzept von PALME gruppal interaktionell-psychodynamisch orientiert. Bindungstheoretische Aspekte und die Entwicklung emotionaler Kompetenzen werden mit besonderer Gewichtung integriert. ber selbstwertstabilisierende Interventionen und eine gezielte Verringerung bestehender psychischer Beeintrchtigungen (Remoralisierung, Empowerment) werden die emotionalen und intuitiven Elternkompetenzen der Mtter gestrkt und damit mittelbar auch eine Entlastung der betroffenen Kinder erreicht. Das strukturierte Gruppenprogramm richtet sich aufgrund seines prventiven Ansatzes an alleinerziehende Mtter mit Kindern in Kindertagessttten. Es umfasst 20 thematisch-inhaltlich aufeinander aufbauende Gruppensitzungen, die sich in vier Module gliedern: – Biographie/emotionales Selbstbild der Mtter, – Einfhlung in die kindlichen Bindungs-/Entwicklungsbedrfnisse und Affekte, – Familire Gesamtsituation/Trennung von Paarkonflikt und Elternverantwortung/Rolle des Vaters, – Finden neuer Lçsungen/Entwicklung sozialer Kompetenzen auf Verhaltensebene. In jeder Gruppensitzung werden passend zum jeweiligen Modul und Themenschwerpunkt relevante Informationen gegeben um den Mttern eine verbesserte Situationskontrolle zu ermçglichen. In den Gruppensitzungen selbst werden anhand von gruppendynamischen Rollenspielen, Kleingruppenarbeit und emotionszentrierten bungseinheiten typische Konflikte der alleinerziehenden Mtter thematisiert und bearbeitet. Hauptziel hierbei ist die Trennung der gemeinsamen Elternverantwortung fr das Kind von der Ebene des Paarkonfliktes. Schließlich werden in kindgerechten Mutter-Kindbungen fr Zuhause (z. B. kçrper- und emotionszentrierte bungen, gemeinsame kreative Aktivitten) die mtterliche Einfhlung und Bezie-
132
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
hungsaufnahme zum Kind vertieft. Ein Angebot zur Betreuung der Kinder der alleinerziehenden Mtter und Supervision fr die Gruppenleiter und Gruppenleiterinnen begleiten die Durchfhrung der Gruppe. Zentrale Ziele dieses Elterntrainings sind: – die bindungsorientierte Stabilisierung der Mutter-Kind-Beziehung, – die Strkung der intuitiven Elternfunktionen, – eine verbesserte und differenziertere Wahrnehmung der kindlichen Affekte, – die Bearbeitung unbewusster Delegationen (z. B. Parentifizierung des Kindes), – Einbung sozialer und elterlicher Kompetenzen, – Bearbeitung evtl. bestehender Selbstwertprobleme und Schuldgefhle. Geleitet werden die PALME-Gruppen der alleinerziehenden Mtter von einem weiblich/mnnlichen Leiterpaar. Fr die Durchfhrung der PALME-Gruppen werden hierfr geeignete Erzieherinnen und Erzieher in mehrtgigen Schulungen auf der Grundlage eines Curriculums als Multiplikatoren qualifiziert. Die Schulung umfasst neben theoretischen Kenntnissen beispielsweise zur Bindungstheorie, Entwicklungspsychologie oder Gruppendynamik auch die detaillierte Vermittlung des umfangreichen PALME-Manuals (Franz, 2008b). Es handelt sich um ein hochstrukturiertes und didaktisch aufbereitetes Manual, das den geschulten Multiplikatoren die Durchfhrung der PALMEGruppen ermçglicht. Innerhalb eines kontrollierten varianzanalytischen Forschungsdesigns konnte mittlerweile die positive Wirksamkeit dieses Elterntrainings auf die seelische Belastung (SCL-90-R, SF-12) und die emotionalen Kompetenzen (SEE) der teilnehmenden alleinerziehenden Mtter empirisch nachgewiesen werden. Im Urteil der Erzieherinnen und Erzieher in den jeweiligen Kindertagessttten nahmen die Verhaltensaufflligkeiten der Kinder der an PALME teilnehmenden Mtter im Vergleich zur Wartekontrollgruppe ab (SDQ). Diese Effekte waren weitgehend zeitstabil noch ein Jahr nach Beendigung der Gruppenintervention nachweisbar. Die teilnehmenden Mtter selbst waren mit diesem Elterntraining sehr zufrieden. Sie gaben an, ihr Kind besser verstehen und sich auch besser in das emotionale Erleben ihrer Kinder einfhlen zu kçnnen. Darber hinaus sank die Depressivitt (ADS) der teilnehmenden Mtter von einem Wert, der einer starken klinischen Beeintrchtigung entsprach, herab bis fast in den Normalbereich. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, da sich die Depressivitt einer Mutter, wenn sie ber einen lngeren Zeitraum hinweg besteht, dem Kind unausweichlich mitteilt, und wie dargestellt das Risiko der Entwicklung von Verhaltens- und Leistungsstçrungen des Kindes erhçht.
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
133
PALME ist ein Beispiel fr ein wirksames Elterntraining, das speziell fr alleinerziehende Mtter und ihre Kinder entwickelt wurde. Es zeigt, dass derartige Untersttzungsprogramme bei dieser besonders untersttzungsbedrftigen Bevçlkerungsgruppe emotionales Lernen und konstruktive Vernderungen im Alltag erfolgreich fçrdern kçnnen. Die Untersttzung alleinerziehender Mtter und vaterlos aufwachsender Kinder ist angesichts der nachweisbaren Langzeitrisiken und durchaus mçglicher Hilfen ein Akt gesellschaftlicher Verantwortungsbernahme, dessen prioritre Organisation in diesem Falle einmal von »Vater Staat« erwartet werden muss.
Literatur Amato, P. R. (1994). Life-span adjustment of children to their parents’ divorces. Future of Children, 25, 1031 – 1042. Amato, P. R. (1996). Explaining the intergenerational transmission of divorce. Journal of Marriage and the Family, 58, 628 – 640. Amato, P. R. (1999). Children of divorced parents as young adults. In E. M. Hetherington (Ed.), Coping with divorce, single parenting, and remarriage. London: Lawrence Erlbaum. Amato, P. R. (2000). The consequences of divorce for adults and children. Journal of Marriage and the Family, 62, 1269 – 1287. Amato, P. R. (2005). The impact of family formation change on the cognitive, social, and emotional well-being of the next generation. Future Child, 15 (2), 75 – 96. Amato, P. R., Booth, A. (1991). Consequences of parental divorce and marital unhappiness for adult well-being. Social Forces, 69, 895 – 914. Amato, P. R., Booth, A. (2000a). Relationship with parents. In R. P. Amato (Ed.), A generation at risk (pp. 45 – 83). Cambridge: Harvard University Press. Amato, P. R., Booth, A. (2000b). Psychological well-being. In R. P. Amato (Ed.), A generation at risk (pp. 182 – 208). Cambridge: Harvard University Press. Amato, P. R., Booth, A. (2001). The legacy of parents’ marital discord: Consequences for children’s marital quality. Journal of Personality and Social Psychology, 81, 627 – 638. Amato, P. R., Keith, B. (1991). Parental divorce and the well-being of children: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 110, 26 – 46. Amato, P. R., Loomis, L., Booth, A. (1995). Parental divorce, marital conflict, and offspring wellbeing during early adulthood. Social Forces, 73, 895 – 915. Amendt, G., Schwarz, A. (1992). Das Leben unerwnschter Kinder. Bremen: Universitt. Andreß, H. J., Lohmann, H. (2000). Die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung. Schriftenreihe des Bundesministeriums fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Bd. 180). Stuttgart: Kohlhammer.
134
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Archer, J., Hay, D. C., Young, A. W. (1992). Face processing in psychiatric conditions. British Journal of Clinical Psychology, 31, 45 – 61. Baker, D., North, K., ALSPAC Study Team (1999). Does employment improve the health of lone mothers? Social Science and Medicine, 49 (1), 121 – 131. Bauman, L. J., Silver, E. J., Stein, R. E. (2006). Cumulative social disadvantage and child health. Pediatrics, 117 (4), 1321 – 1328. Baydar, N., Brooks-Gunn, J. (1991). Effects of maternal employment and child-care arrangements on preschoolers’ cognitive and behavioral outcomes: Evidence from the Children of the National Longitudinal Survey of Youth. Developmental Psychology, 27 (6), 932 – 945. Berman, W. H., Turk, D. C. (1981). Adaptation to divorce: Problems and coping strategies. Journal of Marriage and the Family, 43 (2), 179 – 189. Blaxter, M. (1990). Health and lifestyles. London: Tavistock/Routledge. Bradley, B. P., Mogg, K., Lee, S. C. (1997). Attentional biases for negative information in induced and naturally occurring dysphoria. Behaviour Research and Therapy, 35 (10), 911 – 927. Brand. D., Hammer, V. (Hrsg.). (2002). Balanceakt Alleinerziehend. Lebenslagen, Lebensformen, Erwerbsarbeit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Brody, G. H., Forehand, R. (1988). Multiple determinants of parenting: Research findings and implications for the divorce process. In E. M. Hetherington, J. D. Arasteh (Hrsg.), Impact of divorce, single parenting, and stepparenting on children (pp. 117 – 133). Hillsdale: Lawrence Erlbaum. Bromet, E., Sonnega, A., Kessler, R. C. (1998). Risk factors for DSM-III-R posttraumatic stress disorder: Findings from the National Comorbidity Survey. American Journal of Epidemiology, 147, 353 – 361. Brown, G., Moran, P. (1997). Single mothers, poverty and depression. Psychological Medicine, 27, 21 – 33. Bundesministerium fr Arbeit und Sozialordnung (BMA) (2001). Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin. Unter http://www.bma.bund.de/de/sicherung/armuts-bericht/index.htm. Bundesministerium fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2003). Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevçlkerung in Deutschland 2001/02. Wiesbaden: Bundesministerium fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Statistisches Bundesamt. Burgos, N. M., Lennon, M. C., Bravo, M., Guzman, J. (1995). Depressive symptomatology in single women heads of households in Puerto Rico: A comparative analysis. Women and Health, 23, 1 – 18. Burkhauser, R. V., Duncan, G. J., Hauser, R., Berntsen, R. (1991). Wife or Frau, women do worse: A comparision of men and women in the United States and Germany after marital dissolution. Demography, 28, 353 – 360. Cairney, J., Boyle, M., Offord, D. R., Racine, Y. (2003). Stress, social support and depression in single and married mothers. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 38, 442 – 449.
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
135
Cherlin, A. J., Chase-Lansdale, P. L., McRae, C. (1998). Effects of parental divorce on mental health throughout the life course. American Sociological Review, 63, 239 – 249. Cheung, C. K., Liu, E. S. (1997). Parental distress and children’s problems among single-parent families in China. The Journal of Genetic Psychology, 158, 261 – 270. Clarke-Stewart, K. A., Vandell, D. L., McCartney, K., Owen, M. T., Booth, C. (2000). Effects of parental separation and divorce on very young children. Journal of Family Psychology, 14, 304 – 326. Cotten, S. (1999). Marital status and mental health revisited: Examining the importance of risk factors and resources. Family Relations, 48, 225 – 233. Dawsen, G., Panagiotides, H., Klinger, L. G., Spieker, S. (1997). Infants of depressed and non-depressed mothers exhibit differences in frontal brain electrical activity during the expression of negative emotions. Developmental Psychology, 33, 650 – 656. Dhrssen, A. (1984). Risikofaktoren fr die neurotische Krankheitsentwicklung. Ein Beitrag zur psychoanalytischen Geneseforschung. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 30, 18 – 42. Egle, U., Hardt, J. (2005). Pathogene und protektive Entwicklungsfaktoren fr die sptere Gesundheit. . In U. T. Egle, S. O. Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.). Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlssigung (S. 20 – 43). Stuttgart: Schattauer. Egle, U. T., Hoffmann, S. O. (1997). Psychosoziale Risiko- und Schutzfaktoren in Kindheit und Jugend als Prdisposition fr psychische Stçrungen im Erwachsenenalter. Gegenwrtiger Stand der Forschung. Der Nervenarzt, 68, 683 – 695. Eizenman M., Yu, L. H., Grupp, L., Eizenman, E., Ellenbogen, M., Gemar, M., Levitan, R. D. (2003). A naturalistic visual scanning approach to assess selective attention in major depressive disorder. Psychiatry Research, 118, 117 – 128. Fergusson, D. M., Horwood, L. J., Lynskey, M. T. (1994). Structure of DSM-III-R criteria for disruptive childhood behaviors: Confirmatory factor models. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 33, 1145 – 1155. Field, T. (1994). The effects of mother’s physical and emotional unavailability on emotion regulation. Monographs of the Society for Research in Child Development, 59 (2 – 3), 208 – 227. Forehand, R., Jones, D. J., Brody, G. H., Armistead, L. (2002). Positive parenting and child psychosocial adjustment in inner-city single-parent African American families. The role of maternal optimism. Behavior Modification, 26, 464 – 481. Forssas, E., Gissler, M., Sihvonen, M., Hemminki, E. (1999). Maternal predictors of perinatal mortality : The role of birthweight. International Journal of Epidemiology, 28, 475 – 478. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Franke, A., Mohn, K., Sitzler, F., Welbrink, A., Witte, M. (2001). Alkohol- und Medikamentenabhngigkeit bei Frauen. Weinheim: Juventa.
136
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Franz, M. (2005). Langzeitfolgen von Trennung und Scheidung. In U. T. Egle, S. O. Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.). Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlssigung (S. 116 – 128). Stuttgart: Schattauer. Franz, M. (2006). Die biografische Langzeitwirkung kriegsbedingter Vaterlosigkeit. Befunde aus der Mannheimer Kohortenstudie. In L. Janus (Hrsg.), Geboren im Krieg (S. 69 – 84). Gießen: Psychosozial. Franz, M. (2008a). Vom Affekt zum Gefhl und Mitgefhl. Zur entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Bedeutung der teilnehmenden Spiegelung fr die emotionale Entwicklung des Kindes. In M. Franz, B. West-Leuer (Hrsg.), Bindung, Trauma, Prvention. Gießen: Psychosozial (im Druck). Franz, M. (2008b). PALME – Prventives Elterntraining fr alleinerziehende Mtter geleitet von Erzieherinnen und Erziehern. Unter Mitarbeit von Tanja Gertheinrichs, Jçrn Gttgemanns, Daniela Rentsch. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Franz, M., Lieberz, K., Schmitz, N., Schepank, H. (1999). Wenn der Vater fehlt. Epidemiologische Befunde zur Bedeutung frher Abwesenheit fr die psychische Gesundheit im spteren Leben. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 45, 260 – 278. Franz, M., Lieberz, K., Schepank, H. (Hrsg.) (2000). Seelische Gesundheit und neurotisches Elend. Der Langzeitverlauf in der Bevçlkerung. Wien: Springer. Franz, M., Lensche, H. (2003a). Alleinerziehend – alleingelassen? Die psychosoziale Beeintrchtigung alleinerziehender Mtter und ihrer Kinder in einer Bevçlkerungsstichprobe. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 49, 115 – 138. Franz, M., Lensche, H., Schmitz, N. (2003b). Psychological distress and socioeconomic status in single mothers and their children in a German city. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 38, 59 – 68. Franz, M., Hardt, J., Brhler, E. (2007). Vaterlos: Langzeitfolgen des Aufwachsens ohne Vater im zweiten Weltkrieg. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 53 (3), 216 – 227. Frick, J., Krause, D., Vortmann, H. (1990). Die çkonomische Situation von Alleinerziehenden in der DDR und BRD in den 80er Jahren. Kinderbetreuung muss erhalten und ausgebaut werden. Wochenbericht. Deutsches Institut fr Wirtschaftsforschung Berlin, 57, 598 – 603. Friedman, H. S., Tucker, J. S., Schwartz, J. E., Tomlinson-Keasey, C., Martin, L. R., Wingard, D. L., Criqui, M. H. (1995). Psychosocial and behavioral predictors of longevity. The aging and death of the »Termites«. Am. Psychologist, 50, 69 – 78. Fthenakis, W. E. (1995). Gruppeninterventionsprogramm fr Kinder mit getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern: TSK – Trennungs- und Scheidungskinder. Weinheim: Beltz. Fthenakis, W. E. (1999). Engagierte Vaterschaft. Opladen: Leske und Budrich. Fthenakis, W. E., Niesel, R., Kunze, H. R. (1982). Ehescheidung. Konsequenzen fr Eltern und Kinder. Mnchen: Urban und Schwarzenberg. Gaffney, M., Greene, S. M., Wieczorek-Deering, D., Nugent, J. K. (2000). The concordance between mother-infant attachment at 18 months and maternal attach-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
137
ment 10 years later among married and single mothers. Irish Journal of Psychology, 21, 154 – 170. Gardner, R. A. (1987). The parental alienation syndrome and the differentiation between fabricated and genuine sexual abuse. Cresskill: Creative Therapeutics. George, M. S., Huggins, T., McDermut, W., Parekh, P. I., Rubinow, D., Post, R. M. (1998). Abnormal facial emotion recognition in depression: serial testing in an ultra-rapid-cycling patient. Behavior Modification, 22, 192 – 204. Gilman, S. E., Kawachi, I., Fitzmaurice, G. M., Buka, S. L. (2003). Family disruption in childhood and risk of adult depression. American Journal of Psychiatry, 160, 939 – 946. Gloger-Tippelt, G., Kçnig, L. (2003). Die Einelternfamilie aus der Perspektive von Kindern. Entwicklungspsychologisch relevante Befunde unter besonderer Bercksichtigung der Bindungsforschung. In J. M. Fegert, U. Ziegenhain (Hrsg.), Hilfen fr Alleinerziehende (S. 126 – 147). Weinheim: BeltzVotum. Gove, W. R., Shin, H. (1989). The psychological well-being of divorced and widowed men and women. Journal of Family Issues, 10, 122 – 144. Helfferich, C., Hendel-Kramer, A., Klindworth, H. (2003). Gesundheit alleinerziehender Mtter und Vter. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 14. Berlin: Robert-Koch-Institut. Hesketh, K., Crawford, D., Salmon, J. (2006). Children’s television viewing and objectively measured physical activity : Associations with family circumstance. International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity, 3, 36. Hetherington, E. M., Cox, M., Cox, R. (1985). Long-term effects of divorce and remarriage on the adjustment of children. Journal of the American Academy of Child Psychiatry, 24, 518 – 530. Hill, A. B., Dutton, F. (1989). Depression and selective attention to self-esteem threatening words. Personality and Individual Differences, 10, 915 – 917. Himmelreicher, R., Nunner, G., Rosenkranz, D. (1997). 1. Zwischenbericht, Sekundranalyse reprsentativer Datenstze. Unverçffentlichtes Manuskript. Hogan, D. P., Msall, M. E., Rogers, M. L., Avery, R. C. (1997). Improved disability population estimates of functional limitation among American children aged 5 – 17. Maternal and Child Health Journal, 1, 203 – 216. Jesse, A., Sander, E. (1999). Wohlbefinden und Stressverarbeitungsstrategien bei alleinerziehenden und nicht alleinerziehenden Frauen. In E. Sander, Trennung und Scheidung. Die Perspektive betroffener Eltern (S. 54 – 74). Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Jacobs, J. E. (1988). Euripides medea: A psychodynamic model of severe divorce pathology. American Journal of Psychotherapy, 42, 308 – 319. Johnston, J. R. (2003). Parental alignments and rejection: An empirical study of alienation in children of divorce. Journal of the American Academy of Psychiatry and the Law, 31, 158 – 170. Jonsson, C. O., Clinton, D. N., Fahrman, M., Mazzaglia, G., Novak, S., Sorhus, K. (2001). How do mothers signal shared feeling-states to their infants? An investi-
138
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
gation of affect attunement and imitation during the first year of life. Scandinavian Journal of Psychology, 42, 377 – 381. Kampmann, C., Schupp, J., Wagner, G. (1996). Erwerbs- und Einkommensentwicklung nach wichtigen Lebensereignissen in Westdeutschland. Gutachten des Deutschen Instituts fr Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriums fr Arbeit und Sozialordnung. Schriftenreihe des Bundesministeriums fr Arbeit und Sozialordnung (Bd. 260). Bonn: Kohlhammer. Kelly, J. B. (2000). Children’s adjustment in conflicted marriage and divorce: A decade review of research. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 39, 963 – 973. Kirby, J. B. (2002). The influence of parental separation on smoking initiation in adolescents. Journal of Health and Social Behavior, 43, 56 – 71. Kitson, G. C. (1992). Portrait of divorce: Adjustment to marital breakdown. New York: Guilford. Kitson, G. C., Morgan, L. A. (1992). The multiple consequences of divorce: A decade review. Journal of Marriage and the Family, 52, 913 – 924. Kraas, F., Sailer-Fliege, U. (1995). Alleinerziehende in Deutschland. Geographische Rundschau, 47, 222 – 226. Kubicka, L. (1995): Children from unwanted pregnancies in Prague, Czech Republic revisited at age thirty. Acta Psychiatrica Scandinavicae, 91, 361 – 369. Lensche, H., Junkert-Tress, B., Franz, M. (2003). Konzept und Evaluation einer supportiven Gruppen-Kurzintervention fr alleinerziehende Mtter. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 39, 340 – 361. Lieberz, K., Schwarz, E. (1987). Childhood stress and neurosis – Results of a control group study. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 33, 111 – 118. Lipman, E. L. (1997). Single mothers in Ontario: Sociodemographic, physical and mental health characteristics. Canadian Med. Assoc. Journal, 156, 639 – 645. Lipman, E. L., Boyle, M. H., Dooley, M. D., Offord, D. R. (2002). Child well-being in single-mother families. Journal of the American Academy of Child Adolescent Psychiatry, 41, 75 – 82. Mandal, M. K., Bhattacharya, B. B. (1985). Recognition of facial affect in depression. Perceptual and Motor Skills, 61, 13 – 14. Matejcek, Z. (1991). Die langfristige Entwicklung unerwnscht geborener Kinder. In H. Teichmann, B. Meyer-Probst, D. Roether (Hrsg.), Risikobewltigung in der lebenslangen psychischen Entwicklung (S. 117 – 128). Berlin: Gesundheit. McCabe, S. B., Gotlib, I. H. (1995). Selective attention and clinical depression: Performance on a deployment-of-attention task. Journal of Abnormal Psychology, 104, 241 – 245. McCabe, S. B., Toman, P. E. (2000). Stimulus exposure duration in a deployment-ofattention task: Effects on dysphoric, recently dysphoric and nondysphoric individuals. Cognition and Emotion, 14, 125 – 142. McDougall, J., King, G., de Wit, D. J., Miller, L. T., Hong, S., Offord, D. R., LaPorta, J., Meyer, K. (2004). Chronic physical health conditions and disability among Ca-
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
139
nadian school-aged children: A national profile. Disability and Rehabilitation, 26 (1), 35 – 45. McIntyre, L., Glanville, N. T., Raine, K. D., Dayle, J. B., Anderson, B., Battaglia, N. (2003). Do low-income lone mothers compromise their nutrition to feed their children? Canadian Medical Association Journal, 168, 686 – 691. McLanahan, S. (1999). Father absence and the welfare of children. In E. M. Hetherington (Ed.), Coping with divorce, single parenting, and remarriage: A risk and resiliency perspective (pp. 117 – 145). London: Lawrence Erlbaum. Mandal, M. K., Bhattacharya, B. B. (1985). Recognition of facial affect in depression. Perceptual and Motor Skills, 61, 13 – 14. Matejcek, Z. (1991). Die langfristige Entwicklung unerwnscht geborener Kinder. In: H. Teichmann, B. Meyer-Probst, D. Roether (Hrsg.), Risikobewltigung in der lebenslangen psychischen Entwicklung (S. 117 – 128). Berlin: Gesundheit. McCabe, S. B., Gotlib, I. H. (1995). Selective attention and clinical depression: Performance on a deployment-of-attention task. Journal of Abnormal Psychology, 104, 241 – 245. McCabe, S. B., Toman, P. E. (2000). Stimulus exposure duration in a deployment-ofattention task: effects on dysphoric, recently dysphoric and nondysphoric individuals. Cognition and Emotion, 14, 125 – 142. McDougall, J., King, G., de Wit, D. J., Miller, L. T., Hong, S., Offord, D. R., LaPorta, J., Meyer, K. (2004). Chronic physical health conditions and disability among Canadian school-aged children: A national profile. Disability and Rehabilitation, 26 (1), 35 – 45. McIntyre, L., Glanville, N. T., Raine K. D., Dayle, J. B., Anderson, B., Battaglia, N. (2003). Do low-income lone mothers compromise their nutrition to feed their children? Canadian Medical Association Journal, 168, 686 – 691. McLanahan, S. (1999): Father absence and the welfare of children. In: E. M. Hetherington (Ed.), Coping with divorce, single parenting, and remarriage: A risk and resiliency perspective (pp. 117 – 145). London: Lawrence Erlbaum. McLanahan, S., Booth, K. (1989). Mother-only families: Problems, prospects, and politics. Journal of Marriage and the Family, 51, 557 – 580. McMunn, A. M., Nazroo, J. Y., Marmot, M. G., Boreham, R., Goodman, R. (2001). Children’s emotional and behavioural well-being and the family environment. Findings from the Health Survey for England. Social Science and Medicine, 53, 423 – 440. Morash, M., Rucker, L. (1989). An explanatory study of the connection of mother’s age at childbearing to her children’s delinquency in four data sets. Crime and Delinquency, 35,45 – 93. Murray, L., Kempton, C., Woolgar, M., Hooper, R. (1993). Depressed mothers’ speech to their infants and its relation to infant gender and cognitive development. Journal of Child Psychology and Psychiatry and Allied Disciplines, 34, 1083 – 1101. Murray, L., Sinclair, D., Cooper, P., Ducournau, P., Turner, P., Stein, A. (1999). The socioemotional development of 5-year-old children of postnatally depressed mothers. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 40 (8),1259 – 1271.
140
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Napp-Peters, A. (1985). Ein-Elternteil-Familien. Soziale Randgruppe oder neues familiales Selbstverstndnis? Weinheim: Juventa. Napp-Peters, A. (1995). Armut von Alleinerziehenden. In K. J. Bieback, H. Milz (Hrsg.), Neue Armut (S. 107 – 121). Frankfurt a. M.: Campus. Nestmann, F., Stiehler, S. (1998). Wie allein sind Alleinerziehende? Soziale Beziehungen alleinerziehender Frauen und Mnner in Ost und West. Opladen: Leske & Budrich. Neubauer, E. (1988). Alleinerziehende Mtter und Vter – Eine Analyse der Gesamtsituation. Schriftenreihe des Bundesministeriums fr Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Bd. 219). Stuttgart: Kohlhammer. Newport, D. J., Stowe, Z. N., Nemeroff, C. B. (2002). Parental depression: Animal models of an adverse life event. American Journal of Psychiatry, 159, 1265 – 1283. Nunn, J. D., Mathews, A., Trower, P. (1997). Selective processing of concern-related information in depression. British Journal of Clinical Psychology, 36, 489 – 503. O’Connor,T. G., Hawkins, N., Dunn, J., Thorpe, K., Golding, J. (1998). Family type and depression in pregnancy : Factors mediating risk in a community sample. Journal of Marriage and the Family, 60, 757 – 770. Palentien, C., Klocke, A., Hurrelmann, K. (1999). Armut im Kindes- und Jugendalter. Aus Politik und Zeitgeschichte, 18, 33 – 38. Pleck, J. H. (1997). Paternal involvement: Levels, sources, and consequences. In: M. E. Lamb (Ed.), The role of the father in child development (pp. 66 – 103). New York: John Wiley. Plummer, L. P., Koch-Hattem, A. (1986). Family stress and adjustment to divorce. Family Relations, 35, 523 – 529. Propst, L. R., Paardington, A., Ostrom, R., Wartkins, P. (1986). Predictors of coping in divorced single mothers. Journal of Divorce, 9, 33 – 53. Radebold, H. (2000). Abwesende Vter. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ringback Weitoft, G., Haglund, B., Rosen, M. (2000). Mortality among lone mothers in Sweden: A population study. Lancet, 355, 1215 – 1219. Ringback Weitoft, G., Hjern, A., Haglund, B., Rosen, M. (2003). Mortality, severe morbidity, and injury in children living with single parents in Sweden: A population-based study. Lancet, 361, 289 – 295. Russel, A., Saebel, J. (1997). Mother-son, mother-daughter, father-son, and fatherdaugther. Are they distinct relationships? Developmental Review, 17, 111 – 147. Sadowski, H., Ugarte, B., Kolvin, I., Kaplan, C., Barnes, J. (1999). Early life family disadvantages and major depression in adulthood. British Journal of Psychiatry, 174, 112 – 120. Sarfati, D., Scott, K. M. (2001). The health of lone mothers in New Zealand. New Zealand Medical Journal, 114, 257 – 260. Saul, C., Payne, N. (1999). How does the prevalence of specific morbidities compare with measures of socio-economic status at small area level? Journal of Public Health Medicine, 21, 340 – 347. Schepank, H. (1987). Psychogene Erkrankungen der Stadtbevçlkerung. Eine epidemiologisch-tiefenpsychologische Feldstudie in Mannheim. Heidelberg: Springer.
Matthias Franz: Vaterlosigkeit damals und heute
141
Schmidt-Denter, U. (2000). Entwicklung von Trennungs- und Scheidungsfamilien: Die Kçlner Lngsschnittstudie. In K. A. Schneewind (Hrsg.), Familienpsychologie im Aufwind. Brckenschlge zwischen Forschung und Praxis (S. 203 – 221). Gçttingen: Hogrefe. Schmidt-Denter, U., Beelmann, W. (1997). Kindliche Symptombelastungen in der Zeit nach einer ehelichen Trennung- Eine differentielle und lngsschnittliche Betrachtung. Zeitschrift fr Entwicklungspsychologie und Pdagogische Psychologie, 29, 26 – 42. Schneider, N. F., Krger, D., Lasch, V., Limmer, R., Matthias-Bleck, H. (2001). Alleinerziehen – Vielfalt und Dynamik einer Lebensform. Schriftenreihe des Bundesministeriums fr Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Bd. 199). Stuttgart: Kohlhammer. Schwarz, B., Gçdde, M. (1999). Depressivitt von Mttern aus Trennungsfamilien: Welche Rolle kçnnen eine neue Partnerschaft und soziale Untersttzung spielen? In E. Sander (Hrsg.), Trennung und Scheidung. Die Perspektive betroffener Eltern (S. 75 – 93). Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Shouls, S., Whitehead, M., Burstroem, B., Diderichsen, F. (1999). The health and socioeconomic circumstances of British lone mothers over the last two decades. Population Trends, 95,41 – 45. Siahpush, M., Borland, R., Scollo, M. (2002). Prevalence and socio-economic correlates of smoking among lone mothers in Australia. Australien and New Zealand Journal of Public Health, 26,132 – 135. Siegal, M. (1987). Are sons and daughters treated more differently by fathers than by mothers? Developmental Review, 7, 183 – 209. Simons, R. L., Johnson, C. (1996). Mother’s parenting. In R. L. Simons (Ed.), Understanding differences between divorced and intact families (pp. 83 f.). Thousand Oaks: Sage Publications. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hrsg.) (1999). Statistisches Jahrbuch fr die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hrsg.) (2005). Statistisches Jahrbuch fr die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Stegmann, D. (1997). Lebensverlufe Alleinerziehender in West- und Ostdeutschland. Wiesbaden: Bundesinstitut fr Bevçlkerungsforschung. Suslow, T., Junghanns, K., Arolt, V. (2001). Detection of facial expressions of emotions in depression. Perceptual and Motor Skills, 92, 857 – 368. Targosz, S., Bebbington, P., Lewis, G., Brugha, T., Jenkins, R., Farrell, M., Meltzer, H. (2003). Lone mothers, social exclusion and depression. Psychological Medicine, 33, 715 – 722. Thrane, N., Sondergaard, C., Schonheyder, H. C., Sorensen, H. A. T. (2005). Socioeconomic factors and risk of hospitalization with infectious diseases in 0- to 2year-old Danish children. European Journal of Epidemiology, 20 (5), 467 – 474. Tress, W. (1986). Das Rtsel der seelischen Gesundheit. Traumatische Kindheit und frher Schutz gegen psychogene Stçrungen. Eine retrospektive epidemiologische Studie an Risikopersonen. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
142
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Tress, W., Reister, G., Gegenheimer, L. (1989). Mental and physical resiliency in spite of a stressful childhood. In M. Brambring, F. Loesel, H. Skowronek (Eds.), Children at risk: Assessment, longitudinal research, and intervention (pp. 173 – 185). Berlin: de Gruyter. Wagner-Winterhager, L. (1988). Erziehung durch Alleinerziehende. Der Wandel der Familienstrukturen und seine Folgen fr Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen als Gegenstand çffentlichen Interesses. Zeitschrift fr Pdagogik, 34, 641 – 656. Wallerstein, J. S. (1985). Children of divorce: Emerging trends. Psychiatric Clinics of North America, 8, 837 – 873. Wallerstein, J. S., Kelley, J. B. (1980). Effects of divorce on the visiting father-child relationship. American Journal of Psychiatry, 137, 1534 – 1539. Wallerstein, J. S., Lewis, J. M., Blakeslee, S. (2002). Scheidungsfolgen – Die Kinder tragen die Last. Eine Langzeitstudie ber 25 Jahre. Mnster : Votum. Walters, V. (1993). Stress, anxiety and depression: Women’s accounts of their health problems. Social Science and Medicine, 36, 393 – 402. Weitzman, L. J. (1985). The divorce revolution: The unexpected social and economic consequences for women and children in America. New York: Free Press. Werneck, H. (1998). bergang zur Vaterschaft. Auf der Suche nach den »Neuen Vtern«. Wien: Springer. Werner, E. E., Smith, R. S. (1992). Overcoming the odds: High risk children from birth to adulthood. Ithaca: Cornell University Press. Whitehead, M., Burstroem, B., Diderichsen, F. (2000). Social policies and the pathways to inequalities in health: A comparative analysis of lone mothers in Britain and Sweden. Social Science and Medicine, 50, 255 – 270. Whiteside, M. F., Becker, B. J. (2000). Parental factors and the young child’s postdivorce adjustment: A meta-analysis with implications for parenting arrangements. Journal of Family Psychology, 14, 5 – 26. Wider, R., Bodenmann, G. (1995). Eine Vergleichsuntersuchung zwischen alleinerziehenden und verheirateten Mttern bezglich Zufriedenheit und Belastungen. In M. Perrez, J. Lambert, C. Ermert, B. Plancherel (Hrsg.), Familie im Wandel (S. 113 – 122). Freiburg: Universittsverlag. Williams, D. R. (1990). Socioeconomic differentials in health: A review and redirection. Social Psychology Quarterly, 52, 81 – 99. Zwaanswijk, M., Verhaak, P. F., van der Ende, J., Bensing, J. M., Verhulst, F. C. (2005). Consultation for and identification of child and adolescent psychological problems in Dutch general practice. Family Practice, 22 (5), 498 – 506.
Elmar Brhler Die Geschlechts- und Altersabhngigkeit von Kçrperbeschwerden in Deutschland im Wandel der Zeit
Kçrperliche Beschwerden stellen ein in der Bevçlkerung sehr hufig anzutreffendes Phnomen dar, das in bedeutsamem Maße das Kçrpererleben beeintrchtigen kann. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Fragebçgen zur Erfassung von Kçrperbeschwerden. Zu den hufigsten subjektiven Beschwerden, die in umfangreichen Befragungen geußert wurden, zhlen dabei Mdigkeit, Mattigkeit, Erschçpfbarkeit, ein erhçhtes Schlafbedrfnis, Herzklopfen sowie verschiedene Schmerzzustnde, vor allem Rcken-, Nacken-, Kopf- und Gliederschmerzen (vgl. Brhler u. Scheer, 1983; 1995; Fahrenberg, 1975; 1994; 1995; Schumacher u. Brhler, 1999; von Zerssen, 1976; Brhler, Hinz u. Scheer, 2008; Hiller, Rief u. Brhler, 2006; Rief, Hiller u. Heuser, 1997; Franke, 1995; Kasielke u. Hnsgen, 1989; Hçck u. Hess, 1975). Kçrperliche Beschwerden und Schmerzen sind insbesondere dann, wenn sie als subjektiv belastend und als Bedrohung fr das persçnliche Wohlbefinden erlebt werden und darber hinaus wesentliche Alltagsaktivitten beeintrchtigen, ein wesentlicher Grund dafr, dass Menschen das medizinische Versorgungssystem in Anspruch nehmen. Dabei kann man davon ausgehen, dass die Mehrzahl der betroffenen Personen ihre subjektiven Beschwerden zunchst als ein Hinweiszeichen fr eine zugrundeliegende somatische Stçrung oder Erkrankung betrachten. Dementsprechend werden vom Arzt vor allem eine schnelle Aufklrung der kçrperlichen Ursachen ihrer Symptome sowie Behandlungsmaßnahmen erwartet, welche die Beschwerden beseitigen oder zu mindestens lindern. Auch wenn sich bei einer ganzen Reihe von Patienten nach eingehender medizinischer Diagnostik schließlich ein somatischer Befund nachweisen lsst, auf den die subjektiv geschilderten Beschwerden zurckzufhren sind, trifft man in der klinischen Praxis hufig auch auf Patienten, bei denen entweder subjektive Beschwerden und objektiver Befund nur wenig miteinander korrespondieren oder aber trotz Ausschçpfung aller verfgbaren diagnostischen Mçglichkeiten berhaupt kein organischer Befund nachzuweisen ist, der die subjektiven Beschwerden und Befindensbeeintrchtigungen hinreichend erklren kçnnte. Das Spektrum mçglicher Zusammenhnge zwischen subjektivem Befinden und objektivem
144
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Befund kann somit von einer hohen bereinstimmung bis hin zu einer deutlichen Diskrepanz reichen. Dabei sind prinzipiell vier unterschiedliche Kombinationsformen denkbar, welche in Abbildung 1 dargestellt sind (vgl. Brhler u. Scheer, 1983; 1984; 1995; Fahrenberg, 1994; Myrtek, 1998; Myrtek u. Fahrenberg, 1998; Brhler u. Schumacher, 2002; Strauß, Berger, von Troschke u. Brhler, 2004). Insbesondere diejenigen Patienten, die ber (oftmals multiple) kçrperliche Beschwerden klagen, fr die sich dann jedoch keine kçrperlichen Ursachen finden lassen, sind unter dem Begriff der Somatoformen Stçrung in den letzten Jahren stark in den Mittelpunkt des Interesses gerckt (vgl. Margraf, Neumer u. Rief, 1998; Rief u. Hiller, 1992; Rudolf u. Henningsen, 1998; Rief, Hessel u. Brhler, 2001).
Abbildung 1: Typologie von Personen basierend auf dem Verhltnis von objektivem Befund und subjektiven Beschwerden Anmerkung: Bei den in Anfhrungszeichen gesetzten Bezeichnungen der einzelnen Personentypen reprsentieren die Adjektive eher die medizinische Sichtweise, whrend die Substantive aus einer strker psychologischen Perspektive zu lesen sind.
In zahlreichen empirischen Studien hat sich immer wieder gezeigt, dass die Angaben zur Auftretenshufigkeit von Kçrperbeschwerden in Abhngigkeit vom Alter und vom Geschlecht der befragten Personen variieren. Zum einen schildern ltere Menschen in der Regel deutlich mehr kçrperliche Beschwerden als jngere Personen (vgl. Brhler u. Scheer, 1984; Fahrenberg, 1994; 1995; Brhler, Schumacher u. Lampert, im Druck). Hier spielen offensichtlich die mit dem Alter ansteigende Prvalenz insbesondere von chronischen Erkrankungen und die erhçhte Wahrscheinlichkeit von Multimorbiditt eine bedeutsame Rolle. Denkbar ist aber auch eine erhçhte Beschwerdeneigung mit hçherem Alter aufgrund eines verinnerlichten negativen Altersstereotypes. Zum anderen liegen zahlreiche Untersuchungen darber vor, dass Frauen ber mehr Kçrperbeschwerden klagen als Mnner und gleichzeitig auch hufiger als diese medizinische Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. Bertakis, Azari, Helms, Callahan u. Robbins, 2000; Brhler u. Mçhring, 1995; Brhler u. Scheer, 1984; Fahrenberg, 1994; 1995; Hoffmeister u. Bellach, 1995;
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
145
Kroenke u. Spitzer, 1998; Ladwig, Marten-Mittag, Formanek u. Dammann, 2000; Maschewsky-Schneider, 1998; Maschewsky-Schneider, Sonntag u. Klesse, 1999; Brhler, Hinz u. Scheer, 2008; Gijsbers van Wijk, Huisman u. Kolk, 1999; Gijsbers van Wijk u. Kolk, 1997). Dieser Geschlechtsunterschied findet sich bereits bei Kindern (vgl. Brhler, Ernst, Hettich, Klein u. Otten, 1986) sowie bei ber 60-jhrigen Personen (vgl. Gunzelmann, Schumacher u. Brhler, 1996). Die Ursachen der empirisch immer wieder besttigten Geschlechtsunterschiede beim Ausmaß subjektiver Kçrperbeschwerden werden in der Literatur allerdings kontrovers diskutiert. Es lassen sich dabei jedoch verschiedene Argumentationsstrnge erkennen: Ausgehend von Richter (1974) und Beckmann (1976) wird die hçhere Klagsamkeit der Frauen als Ausdruck grçßerer Leidensfhigkeit und emotionaler Offenheit der Frauen interpretiert, denen eher gefhlsabwehrende und schwcheverleugnende Mnner gegenberstehen. Eine wichtige Rolle drfte daneben auch eine bei Frauen offensichtlich ausgeprgtere Sensitivitt fr kçrperliche Symptome, geschlechtsspezifische kognitive Bewertungsmuster sowie ein Symptomberichtsverhalten (»Reporting«) spielen, das sich von dem der Mnner unterscheidet (vgl. Gijsbers van Wijk, van Vliet, Kolk u. Everaerd, 1991; Gijsbers van Wijk u. Kolk, 1997). Auf der anderen Seite existieren Auffassungen, die die hçheren Beschwerden von Frauen als Folge einer objektiv strkeren Belastung (durch Kindererziehung, Haushalt, Beruf usw.) deuten (vgl. z. B. Rodenstein, 1980; Verbrugge, 1989). In einer dritten Interpretationslinie, die Maschewsky-Schneider, Sonntag u. Klesse (1999) verfolgen, werden die unterschiedlichen Beschwerdeußerungen von Mnnern und Frauen eher als methodisches Artefakt angesehen, das in der Konstruktionsweise und den dominierenden Inhalten der gebruchlichen Fragebçgen begrndet liegt (vgl. auch Rolfs et al., 2000; Mçller-Leimkhler, 2000; Mçller-Leimkhler, Paulus u. Heller, 2007). Unabhngig von Alters- und Geschlechtseffekten kann das Klagen ber kçrperliche Beschwerden und Schmerzen unterschiedliche Funktionen besitzen. Beispielsweise kann es dem Ziel dienen, emotionale Zuwendung bei anderen Menschen hervorzurufen und deren Hilfe und Untersttzung zu mobilisieren (»Hilfesuchverhalten«) oder aber persçnlich als unangenehm erlebte Ttigkeiten und Ereignisse zu vermeiden (vgl. Skelton u. Pennebaker, 1982; Smith, Snyder u. Perkins, 1983; Wills, 1987). Darber hinaus sollte in Betracht gezogen werden, dass das ußern von Beschwerden auch der Selbstdarstellung dienen und einen Versuch darstellen kann, bei anderen Menschen durch die Prsentation des eigenen Leidens oder der eigenen Leidensfhigkeit einen positiven Eindruck zu hinterlassen und auf diesem Wege das eigene Selbstwertgefhl zu stabilisieren und die Identittsbildung zu fçrdern (vgl. Kowalski, 1996; Leary, 1995). Das interpersonale Motiv, andere Menschen in einer subjektiv erwnschten Weise zu beeindrucken (»Impres-
146
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
sion Management«), kann jedoch auch Gefahren fr die eigene Gesundheit in sich bergen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn aus dem Wunsch nach Schçnheit oder Schlankheit heraus exzessives Sonnenbaden betrieben wird (trotz des erhçhtes Risikos fr Hautkrebserkrankungen) oder aber ein gezgeltes Essverhalten (»restraint eating«) in eine Essstçrung (Anorexie oder Bulimie) bergeht (vgl. Leary, Tchividjian u. Kraxberger, 1994). Bei der Betrachtung der vorliegenden Forschungsliteratur zu Alters- und Geschlechtseffekten bei kçrperlichen Beschwerden fllt auf, dass die entsprechenden empirischen Befunde zumeist nur additiv zusammengestellt werden, ohne Bercksichtigung der zeitgeschichtlichen Epoche und des Landes beziehungsweise der Kultur, in der diese Befunde erhoben wurden. Offensichtlich wird dabei von der impliziten Annahme ausgegangen, dass die alters- und geschlechtsabhngigen Unterschiede weitgehend zeitinvariant sind. Die in den Jahren 1994 und 2001 erfolgten bundesweiten Neustandardisierungen der Kurzform des Gießener Beschwerdebogens (GBB-24) (vgl. Brhler, Schumacher u. Brhler, 2000; Brhler, Hinz u. Scheer, 2008) ergaben die Mçglichkeit, fr den Bereich der alten Bundeslnder die Daten mit der GBB-Normierung von 1975 dahingehend zu vergleichen, ob sich die Geschlechts- und Altersdifferenzen bei den Kçrperbeschwerden ber den dazwischenliegenden Zeitraum von 19 beziehungsweise 26 Jahren verndert haben. Da die Erhebungen 1994 und 2001 auch in den neuen Bundeslndern erfolgten, war darber hinaus ein Vergleich der alten mit den neuen Bundeslndern mçglich.
Stichproben und Methoden Im Jahre 1975 wurde in den alten Bundeslndern durch das Institut Infratest im Auftrag des damaligen Gießener Sonderforschungsbereiches 32 eine reprsentative Erhebung bei 1.601 Personen im Altersbereich von 18 bis 60 Jahren durchgefhrt. Zur Grundgesamtheit gehçrten alle whrend des Befragungszeitraumes in der alten Bundesrepublik und in Westberlin in Privathaushalten lebenden Personen zwischen 18 und 60 Jahren. Die Auswahl der befragten Personen erfolgte durch eine mehrstufig geschichtete Zufallsauswahl. Das Ergebnis ist eine Personenstichprobe, die sowohl in Bezug auf die Verteilung ber Alter und Geschlecht als auch in Bezug auf die Verteilung ber Gemeindegrçßeklassen mit den Werten der amtlichen Statistik in Einklang gebracht ist. Die soziodemographischen Merkmale der Stichprobe sind fr Mnner und Frauen getrennt in Tabelle 1 dargestellt.
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
147
Die zweite Untersuchungsstichprobe wurde im November 1994 im Rahmen einer bevçlkerungsreprsentativen Befragung erhoben, an der insgesamt 3047 Personen zwischen 14 und 92 Jahren teilnahmen. Dabei handelt es sich um 2025 Bewohner der alten und 1022 Bewohner der neuen Bundeslnder. Die dritte Untersuchungsstichprobe wurde im Februar 2001 ebenfalls im Rahmen einer bevçlkerungsreprsentativen Befragung erhoben, an der 1979 Personen zwischen 18 und 92 Jahren teilnahmen (Nheres vgl. Brhler, Hinz u. Scheer, 2008). Die Erhebung der Untersuchungsdaten erfolgte jeweils durch den Unabhngigen Service fr Umfragen, Methoden und Analysen Berlin (USUMA) in Form einer Mehrthemenumfrage (je 210 Sample-Points in Ost- und Westdeutschland). Tabelle 1 enthlt die soziodemographischen Merkmale der Untersuchungspopulationen fr die vorliegende Untersuchung. Aus Grnden der Vergleichbarkeit mit der 1975er Stichprobe habe ich mich dabei auf die Teilgruppe der 18- bis 60-jhrigen Westdeutschen beschrnkt. Die Reprsentativitt der Stichprobe wurde durch die Ziehung von ADM-(Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute)Stichproben (vgl. Koch, 1997) sowie durch Vergleiche mit den Angaben des Statistischen Bundesamtes gesichert. Die Zufallsauswahl der Haushalte erfolgte in beiden Erhebungen nach dem Random-Route-Verfahren, wobei die im Haushalt zu befragende Zielperson ebenfalls nach dem Zufallsprinzip ermittelt wurde. Die in die Studie aufgenommenen Personen wurden jeweils von geschulten Interviewern zu Hause aufgesucht und auch dort befragt (Face-to-face-Interviews). Genauere Beschreibungen der beiden Stichproben finden sich bei Beckmann, Brhler und Richter (1977), Brhler, Schumacher und Brhler (2000) sowie bei Brhler, Hinz und Scheer (2008). In der Erhebung 1975 wurde zur Erfassung der Kçrperbeschwerden der Gießener Beschwerdebogen (GBB) in der 57 Items umfassenden Originalform, eingesetzt. Je sechs Items des GBB werden zu vier faktorenanalytisch gewonnenen Skalen zusammengefasst (Erschçpfung, Magenbeschwerden, Herzbeschwerden, Gliederschmerzen). Darber hinaus lsst sich ein, diese 24 Beschwerden umfassender, Gesamtwert (Beschwerdedruck bzw. allgemeine Klagsamkeit) berechnen (vgl. Brhler u. Scheer, 1995). In den Erhebungen 1994 und 2001 kam die Kurzform des Gießener Beschwerdebogens (GBB-24) zur Anwendung, die lediglich die 24 Items umfasst, die die oben genannten vier Skalen bilden. Neben dem GBB wurden in allen drei Studien weitere Fragebogeninstrumente eingesetzt, auf die hier jedoch nicht nher eingegangen werden soll (vgl. dazu Beckmann et al., 1977; Brhler, Horowitz, Kordy, Schumacher u. Strauß, 1999; Schumacher, Laubach u. Brhler, 1995; Schumacher, Eisemann u. Brhler, 1999; Schumacher, Leppert, Gunzelmann, Strauß u. Brhler, 2005).
148
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Tabelle 1: Soziodemographische Merkmale der 18- bis 60-jhrigen Westdeutschen in den Erhebungen 1975, 1994 und 2001
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
149
Ergebnisse Tabelle 2 zeigt die Mittelwerte und Streuungen der GBB-Skalen bei den 18- bis 60-jhrigen Westdeutschen in den Erhebungen 1975, 1994 und 2001 jeweils fr die Gesamtstichprobe und nach Geschlechtern getrennt. In der Tabelle 3 sind die Haupteffekte 3-faktorieller Varianzanalysen aufgefhrt, in die neben dem Erhebungszeitpunkt (dreigestuft: 1975/1994/2001) und dem Geschlecht (zweigestuft: Mnner/Frauen) als weitere unabhngige Variable vier Altersgruppen (18 – 30, 31 – 40, 41 – 50, 51 – 60 Jahre) eingingen. Tabelle 2: Mittelwerte und Streuungen der GBB-Skalen fr die 18- bis 60-jhrigen Westdeutschen
Tabelle 3: Drei-Weg-Varianzanalyse der GBB-Skalen mit A: Alter (18 – 30, 31 – 40, 41 – 50, 51 – 60); Z: Zeitpunkt (1975,1994, 2001); G: Geschlecht (mnnlich, weiblich)
150
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Neben den in der Tabelle 3 aufgefhrten Haupteffekten fanden sich noch einige wenige Zweifach-Wechselwirkungseffekte (fr die Skalen »Erschçpfung«, »Gliederschmerzen« und »Beschwerdedruck«: Zeitpunkt x Geschlecht [die beiden ersten mit p(F) < .001, die dritte mit p(F) < .05] sowie fr die Skala »Herzbeschwerden«: Zeitpunkt x Alter [mit p(F) < .05]). Signifikante Dreifach-Wechselwirkungen ließen sich nicht nachweisen. Aus Tabelle 2 wird deutlich, dass es zum einen zu Vernderungen bei einigen GBB-Skalenwerten im Vergleich von 1975 zu 1994 kommt und zum anderen, dass sich auch die Geschlechtsdifferenzen bei einigen Skalen deutlich ndern. Bei den Skalen »Erschçpfung«, »Herzbeschwerden« und »Beschwerdedruck« treten deutliche Vernderungen in Richtung einer Verminderung der Beschwerdenußerungen von 1975 ber 1994 zu 2001 auf, whrend diese bei den Skalen »Gliederschmerzen« sowie »Magenbeschwerden« erst zwischen 1994 und 2001 stattfindet. Abbildung 2 zeigt den Beschwerdedruck fr die Westdeutschen im Vergleich von 1975 und 1994.
Abbildung 2: Beschwerdedruck Westdeutscher (18 – 60 Jahre)
Es wird deutlich, dass sich der Geschlechtsunterschied im Beschwerdedruck von 1975 zu 1994 deutlich vermindert hat (Differenz 1975 = 5.32 / Differenz 1994 = 2.45 / Differenz 2001 = 1.52). Er hat sich 1994 gegenber 1975 somit mehr als halbiert und 2001 noch einmal deutlich reduziert. Die nachfolgenden Abbildungen 3 und 4 zeigen den Beschwerdedruck fr Mnner und Frauen getrennt fr 1975 und 1994, unterteilt fr vier Altersgruppen.
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
151
Abbildung 3: Beschwerdedruck westdeutscher Mnner nach Altersgruppen
Abbildung 4: Beschwerdedruck westdeutscher Frauen nach Altersgruppen
Aus den Abbildungen wird deutlich, dass es bei den Frauen im Vergleich von 1975 ber 1994 bis 2001 in allen Altersgruppen zu einer starken Abnahme der Kçrperbeschwerden kommt, whrend dies bei den Mnnern von 1975 bis 1994 nur in der Altersgruppe der 51- bis 60-Jhrigen der Fall ist. Dagegen kommt es bei den Mnnern zwischen 1994 und 2001 in allen Altersgruppen zu
152
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
einer starken Abnahme der Kçrperbeschwerden. Da sich bei der berechneten Varianzanalyse bei den Skalen »Erschçpfung« und »Gliederschmerzen« ein signifikanter Interaktionseffekt zwischen dem Erhebungszeitpunkt und dem Geschlecht gezeigt hat, stellen die Abbildungen 5 und 6 fr die beiden Erhebungszeitpunkte die Kçrperbeschwerden in den Bereichen »Erschçpfung« und »Gliederschmerzen« bei den Mnnern und die Abbildungen 7 und 8 bei den Frauen dar.
Abbildung 5: GBB-Skala Erschçpfung bei westdeutschen Mnnern nach Altersgruppen
Bei den Mnnern zeigt sich in der Skala »Erschçpfung« von 1975 bis 1994 eher eine Abnahme in den oberen Altersgruppen, whrend es zwischen 1994 und 2001 zu einer Abnahme in allen Altersgruppen kommt, vor allem bei den unteren drei Altersgruppen. Whrend die Gliederschmerzen zwischen 1994 und 2001 vor allem in den jngeren Altersgruppen leicht zunehmen, kommt es zwischen 1994 und 2001 in allen Altersgruppen zu einer teilweise recht deutlichen Abnahme. Die entsprechenden Abbildungen 7 und 8 fr die Frauen ergeben im Vergleich von 1975 zu 1994 einen drastischen Rckgang in der Erschçpfungsskala und ein deutliches Absinken auch bei den Gliederschmerzen. Dies setzt sich von 1994 bis 2001 fort. Fr die beiden GBB-Skalen »Erschçpfung« und »Gliederschmerzen« haben sich zwischen 1975 und 1994 somit sehr unterschiedliche Entwicklungen bei Mnnern und Frauen ergeben, whrend die Abnahme eher bei den Skalen Erschçpfung und Glieder-
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
153
Abbildung 6: GBB-Skala Gliederschmerzen bei westdeutschen Mnnern nach Altersgruppen
schmerzen zwischen 1994 und 2001 bei Mnnern und Frauen in allen Altersgruppen zu beobachten ist.
Abbildung 7: GBB-Skala Erschçpfung bei westdeutschen Frauen nach Altersgruppen
154
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Abbildung 8: GBB-Skala Gliederschmerzen bei westdeutschen Frauen nach Altersgruppen
Tabelle 3 enthlt die Korrelationen von Alter, Geschlecht und Bildungsgrad mit den GBB-Skalenwerten fr die drei Befragungen. Die Abhngigkeit der Kçrperbeschwerden vom Bildungsgrad ist bei allen Erhebungen bei allen Skalen relativ unbedeutend. Die Altersabhngigkeit ist bei Magenbeschwerden sehr gering, bei Herzbeschwerden und Erschçpfung hat sie sich von 1975 ber 1994 bis 2001 deutlich verringert, whrend die 1975 recht deutliche Altersabhngigkeit von Gliederschmerzen sich bis 2001 nur relativ wenig verringert hat. Die 1975 noch vorhandene deutliche Geschlechtsabhngigkeit bei Erschçpfung und Gliederschmerzen, aber auch beim Beschwerdedruck, ist deutlich zurckgegangen, vor allem zwischen 1975 und 1994. Die Vernderung von Beschwerden ber die Zeit ist beim Vergleich zweier Querschnittsuntersuchungen nur schwer zu interpretieren, da Konfundierungen mit den Kohorten vorliegen kçnnen. Im Folgenden betrachten wir deshalb verschiedene Geburtskohorten (vgl. Abb. 9 u. 10). Die dargestellten Ergebnisse sind nur mit Vorbehalt zu interpretieren, da es sich nicht um eine echte Lngsschnittuntersuchung handelt, sondern lediglich um eine simulierte Geburtskohorteneinteilung. Bei den Frauen ergibt sich fr die jngeren Geburtskohorten faktisch kein Anstieg der Kçrperbeschwerden in Verlauf von 19 Jahren von 1975 bis 1994, lediglich in der ltesten Gruppe findet sich ein leichter Anstieg. Von 1994 bis 2001 gibt es bei den Frauen der Jahrgnge 1925 bis 1945 ein Absinken der Kçrperbeschwerden, bei den Jahrgngen 1915 bis 1924 bleibt das Beschwerdeausmaß konstant. Bei den
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
155
Abbildung 9: Beschwerdedruck fr verschiedene Geburtskohorten von Mnnern
Mnnern zeigt sich bei allen Geburtskohorten ein moderater Anstieg der Kçrperbeschwerden von 1975 zu 1994, der aber noch geringer ausfllt, als der 1975 im Querschnitt zu verzeichnende Anstieg mit dem Lebensalter. Zwischen 1994 und 2001 kommt es bei der Geburtskohorte 1935 – 1944 zu einem Rckgang der Beschwerden, bei den anderen Kohorten kommt es in dieser Zeit zu einem minimalen beziehungsweise geringen Rckgang. Da in der Erhebung von 1994 auch N = 1022 Bewohner der neuen Bundeslnder einbezogen wurden, ergab sich hier eine weitere interessante Vergleichsmçglichkeit. Abbildung 11 zeigt die Kçrperbeschwerden der Westdeutschen im Vergleich zu den zeitgleich erhobenen GBB-Daten von Ostdeutschen (vgl. Brhler et al., 2000). Hierbei wird deutlich, dass die Kçrperbeschwerden sowohl von Mnnern als auch von Frauen 1994 in den neuen Lndern hçher waren als in den alten Bundeslndern. Die Ost-West-Unterschiede erreichen dabei fast die Hçhe der Geschlechtsunterschiede. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass 1975 die GBBWerte im Westen weit ber den 1994 im Osten erhobenen Werten lagen. Zum anderen ist zu bercksichtigen, dass nach Untersuchungsergebnissen von Hoffmeister und Bellach (1995) die Kçrperbeschwerden von Mnnern und Frauen in den neuen Lndern im Jahre 1991 noch wesentlich niedriger waren, als die in den alten Bundeslndern. Abbildung 12 zeigt die Ergebnisse der
156
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Abbildung 10: Beschwerdedruck fr verschiedene Geburtskohorten von Frauen
Abbildung 11: GBB-Skala »Beschwerdedruck« in Ost- und Westdeutschland (1994)
Befragung von 2001, wo auch 1016 Bewohner der neuen Bundeslnder einbezogen waren (vgl. Brhler, Hinz u. Scheer, 2008). Hier bertrifft der Ost-West-Unterschied den Geschlechtsunterschied: Ostdeutsche Mnner klagen mehr als westdeutsche Frauen. Wir kçnnen uns fragen, wie die Entwicklung weitergehen wird, doch Prognosen sind schwer zu treffen. Vielleicht kommt es zu einem weiteren Rckgang der Kçrperbe-
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
157
Abbildung 12: GBB-Skala Beschwerdedruck in Ost- und Westdeutschland (2001)
schwerden. Abbildung 13 zeigt den Beschwerdedruck fr Deutsche und Schweizer Ehepaare im Jahre 1976 (vgl. Brhler, 1978).
Abbildung 13: GBB-Skala Beschwerdedruck 1976 bei Schweizer Ehepaaren und deutschen Ehepaaren 1975
Wir sind von diesen niedrigen Werten der Schweizer im Jahre 1976 nicht mehr weit entfernt, die Geschlechterunterschiede sind bei uns jetzt auch in hnlicher Weise eingeebnet wie damals in der Schweiz.
158
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Diskussion Die hier vorgestellten Befunde aus bevçlkerungsreprsentativen Erhebungen zeigen, dass das Ausmaß subjektiver Kçrperbeschwerden in den alten Bundeslndern von 1975 bis 1994 und dann bis 2001 insgesamt zurckgegangen ist (vgl. auch Fahrenberg, Hampel u. Selg, 2001) und sich der Einfluss von Alter und Geschlecht dramatisch verndert hat. Dabei sind insbesondere die Alterseffekte stark reduziert. Aber auch die Geschlechtseffekte haben sich in dieser Zeit mehr als halbiert. Man kçnnte nun zum einen meinen, dass die Frauen sich inzwischen eher den Mnnern angenhert haben, im Sinne einer geringeren Klagsamkeit. Folgt man dieser Hypothese, so hat sich bei den Frauen ber verschiedene Epochen hinweg offenbar eine Vernderung ihres Symptomberichtsverhaltens (»Reporting«) (vgl. Pennebaker, 1982) vollzogen. Dies wrde bedeuten, dass Frauen im Jahre 1994 beziehungsweise 2001 nicht unbedingt weniger kçrperliche Beschwerden wahrnehmen als noch 1975, sondern dass sie nun eher in »typisch mnnlicher« Weise darber berichten. Eine solche Interpretation der Befunde wrde auch bedeuten, dass berlegungen, die Geschlechtsdifferenzen in der Beschwerdenhufigkeit auf biologische Unterschiede zurckfhren, auf der Basis der vorliegenden Befunde nicht zugestimmt werden kann. Fr die Interpretation des deutlichen Rckganges des Geschlechtseinflusses scheinen vielmehr soziodemographische, zeitgeschichtliche und kulturelle Bedingungen bedeutsam zu sein: So unterscheiden sich einige soziale Merkmale bedeutsam zwischen den Jahren 1975 und 1994 beziehungsweise 2001. Vor allem bei den Frauen kam es in dieser Zeit zu einer deutlichen Verbesserung ihres Bildungsniveaus: Im Vergleich zu 1975 gaben 1994 7 % weniger Frauen an, ohne Abschluss zu sein, 2001 gab es fast berhaupt keine Frauen mehr ohne Abschluss. Der Anteil der Frauen mit Realschulabschluss war im Jahre 1994 um ca. 17 % hçher als 1975 und erhçhte sich bis 2001 nochmals um ber 5 %. Auch die Zahl der Abiturientinnen hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt, die Zahl derjenigen mit Hochschul- oder Fachhochschulstudium hat sich vervielfacht. Zwar hat sich auch das Bildungsniveau der Mnner verbessert, jedoch nicht in dem gleichen Ausmaß wie bei den Frauen. In hnlicher Weise wie das Bildungsniveau hat sich bei den Frauen dahingegen auch der berufliche Status verbessert: Mehr Frauen sind Facharbeiterinnen, in freien Berufen ttig oder arbeiten als Angestellte. Auch gehen mehr Frauen einer Vollzeitbeschftigung nach (vgl. Tab. 1). Es kann davon ausgegangen werden, dass die genannten Vernderungen in den sozialen Merkmalen auch einen Einfluss auf die gesundheitliche Situation der befragten Personen haben. In epidemiologischen Untersuchungen wurde immer wieder festgestellt, dass hçhere soziale Schichten, die ber Berufsstruktur und Bildungs-
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
159
niveau definiert werden, auch eine bessere Gesundheit aufweisen (vgl. Wittwer-Backofen, 1998). Ein weiteres wichtiges soziodemographisches Merkmal, auf das hier hingewiesen werden soll, ist der Familienstand. Wenn man davon ausgeht, dass stabile Lebensgemeinschaften gesundheitsfçrdernd wirken, muss man jedoch einschrnkend anmerken, dass hier die Mnner mehr profitieren als die Frauen. So fand Fooken (1980) verheiratete Frauen vor allem im Alter benachteiligt. Sie weisen eine negative Befindlichkeit auf, sind eher unzufrieden und zeichnen sich durch weniger Freizeitaktivitten und Sozialkontakte aus. Die Unzufriedenheit der verheirateten Frauen ist vor allem darauf zurckzufhren, dass sie sich gesundheitlich belastet fhlen, wenig gemeinsame Aktivitten mit dem Ehemann haben, sich eher dessen Bedrfnissen anpassen und unter familire Bedrfnisse unterordnen wrden. In unseren Stichproben finden sich 1994 im Vergleich zu 1975 prozentual mehr allein lebende Frauen. Bis 2001 hat sich der Anteil noch einmal vergrçßert. Ein hnliches Bild ergibt sich bei den Mnnern. Die Zahl der verheirateten/zusammenlebenden Frauen ist von 1975 bis 1994 um 10 % gesunken, bis 2001 um weitere 4 %. Der Anteil der verheirateten/zusammenlebenden Mnner ist um 18 % von 1975 bis 1994 gesunken, bis 2001 um weitere 1,4 %. Dagegen ist die Zahl der Ledigen bei den Frauen von 12 % (1975) auf 21 % (1994) bis 24 % (2001) gestiegen, bei den Mnnern von 22 % ber 35 % auf 36 %, die Zahl der Geschiedenen hat sich bei den Mnnern verdreifacht, bei den Frauen mehr als verdoppelt (vgl. Tab. 1). Der Familienstatus kçnnte somit als intervenierende Variable bei der Beschwerdenausprgung relevant sein (siehe auch Baltes, 1998; Kuhlmey, 1998). Die Debatte um die Bedeutsamkeit der Geschlechtsvariable fr die gesundheitliche Situation von Frauen und Mnnern macht somit einen Wandel durch, der auch in sonstigen Disziplinen zu beobachten ist: Nachdem das »Geschlecht« als bedeutsames Merkmal etabliert worden war, folgte bald dessen Relativierung. Hier wiederholt sich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die auch die Einfhrung des Begriffes »gender« in die Geschlechterdebatte nach sich zog (vgl. Butler, 1991). Die Unterscheidung im Englischen zwischen »sex« und »gender« kçnnte bei uns der Unterscheidung zwischen dem »Geschlecht als biologische Variable« und dem »Geschlecht als soziale Konstruktion« entsprechen. Mit einem weiteren Vorurteil scheint ebenfalls aufgerumt werden zu mssen. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass Menschen mit zunehmendem Alter automatisch ber mehr Kçrperbeschwerden klagen mssten, besttigt sich dies nicht in unseren Ergebnissen. Gegenargumente finden sich hier vor allem bezogen auf die Frauen, wie ein Vergleich der Daten von 1975 und 1994 zeigt, aber auch bei den Mnnern, wie der Vergleich von 1994 und 2001 zeigt.
160
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
hnlich wie bei der Differenzierung von »sex« und »gender« ist dringend eine Unterscheidung von »biologischem Alter« und »Altersbildern« beziehungsweise »Alterszuschreibungen« notwendig. Parallel zum Rckgang der Kçrperbeschwerden ist zwischen 1975 und 1994 bis 2001 eine Verbesserung des subjektiven Gesundheitszustandes zu konstatieren (vgl. Hessel, Geyer, Plçttner, Schmidt u. Brhler, 1999; Brhler, Schumacher u. Lampert, im Druck). rzte reklamieren die Ursachen dieser Verbesserung gerne fr sich. Vor allem auf die Effekte der strogenbehandlung der Frauen nach dem Klimakterium wird hingewiesen wie auch auf eine insgesamt bessere medikamentçse Einstellung vieler Patienten. Konkurrierend ist jedoch die Hypothese zu diskutieren, dass die schlechtere gesundheitliche Lage im Jahre 1975 auf die ausgeprgteren lebensgeschichtlichen Belastungen der damals untersuchten Generationen zurckzufhren ist. Dabei ist vor allem an Kriegs- und Gewalterfahrungen und die Versorgungsmngel in der Nachkriegszeit zu denken. Besonders betroffen davon war die Generation der sogenannten »Trmmerfrauen«. Dies wrde die ausgeprgte Geschlechts- und Altersabhngigkeit bei den Kçrperbeschwerden in der Erhebung von 1975 gut begrnden. Ebenso kçnnte eine Verbesserung gesundheitlich sehr belastender Arbeitsbedingungen vor allem bei den Mnnern eingetreten sein. Auch die Verbesserung der finanziellen Ressourcen, die stattgefunden hat, kann zu einer besseren gesundheitlichen Lage gefhrt haben. Insgesamt wird deutlich, dass die ußerung von Kçrperbeschwerden ein sehr komplexes Geschehen darstellt, das eng mit Prozessen der Wahrnehmung von kçrperlichen Symptomen (Interozeption) und darauf bezogenen kognitiven Bewertungsprozessen verknpft ist (vgl. Brhler u. Schumacher, 2002). Die vorliegenden empirischen Befunde machen jedoch deutlich, dass Kçrperbeschwerden offensichtlich in hohem Maße epochen- und kulturabhngig sind und dass insbesondere auch Geschlechtsdifferenzen unter einem solchen Blickwinkel betrachtet werden sollten, da gerade die Geschlechtstypisierung von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen entscheidend beeinflusst wird (vgl. Gloger-Tippelt, 1996). Daraus folgt, dass Geschlechtsunterschiede, deren verstrkte Erforschung immer wieder gefordert wird (vgl. Eagly, 1987, 1990; Davies-Osterkamp, 1994), stets vor dem Hintergrund der Epoche und der Kultur, in der sie erhoben wurden, diskutiert werden mssen und nicht lediglich ber verschiedene Lnder und verschiedene Zeiten additiv zusammengetragen werden kçnnen. Erstaunlich ist der starke Rckgang der Kçrperbeschwerden zwischen 1994 und 2001 und auch der starke Rckgang der Geschlechtsabhngigkeit. Einen Hinweis kçnnten uns die Schweizer Ergebnisse aus dem Jahre 1976 liefern, dass wir uns in unserer Gesellschaftsordnung eher in Richtung eines strker forciert calvinistisch geprgten Kapitalismus bewegen, der eher noch resilientere effizient funktionierende Mitglieder der Gesellschaft erfordert.
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
161
Gleichzeitig nehmen aber die Krankmeldungen von Frauen, aber auch insbesondere von Mnnern, und die Frhberentungen wegen Depression zu (BKK Gesundheitsreport, 2006; DAK Gesundheitsreport, 2005; Lademann u. Kolip, 2005). Anmerkung: Der vorliegende Beitrag ist eine berarbeitete und ergnzte Fassung von Brhler, Felder und Schumacher, 2003.
Literatur Baltes, M. M. (1998). Frauen und Gesundheit im Alter. In A. Kuhlmey, M. Rauchfuß, H.P. Rosemeier (Hrsg.), Frauen in Gesundheit und Krankheit: Die psychosoziale Lebensperspektive (S. 35 – 50). Berlin: Trafo-Verlag. Beckmann, D. (1976). Paardynamik und Gesundheitsverhalten. Einige Ergebnisse einer reprsentativen Erhebung. In H. E. Richter, H. Strotzka, J. Willi (Hrsg.), Familie und seelische Krankheit. Reinbek: Rowohlt. Beckmann, D., Brhler, E., Richter, H.–E. (1977). Neustandardisierung des GießenTest (GT). Diagnostica, 23, 287 – 297. Bertakis, K. D., Azari, R., Helms, L. J., Callahan, E. J., Robbins, J. A. (2000). Gender differences in the utilization of health care services. Journal of Family Practice, 49, 147 – 152. BKK Gesundheitsreport (2006). Demografischer und wirtschaftlicher Wandel – gesundheitliche Folgen. Essen: BKK-Bundesverband. Zugriff am 08. 11. 2007 unter http://www.bkk.de/bkk/powerslave,id,1103,nodeid,.html. Brhler, E. (1978). Die Erfassung des Interventionsstils von Therapeuten durch die automatische Sprachanalyse. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 24, 156 – 168. Brhler, E., Ernst, R., Hettich, W., Klein, H., Otten, A. (1986). Kçrperbeschwerden von Kindern im Alter von 8 – 15 Jahren. In E. Brhler (Hrsg.), Kçrpererleben. Ein subjektiver Ausdruck von Leib und Seele (S. 253 – 266). Berlin: Springer. Brhler, E., Felder, H., Schumacher, J. (2003). Wenn der Kçrper zur Last wird – Zum Einfluss von Alter, Geschlecht und Epoche auf kçrperliche Beschwerden. In A. Stirn, O. Decker, E. Brhler (Hrsg.), Psychosozial 94, Kçrperkunst und Kçrpermodifikation (S. 103 – 115). Gießen: Psychosozial-Verlag. Brhler, E., Hinz, A., Scheer, J. W. (2008). Der Gießener Beschwerdebogen (GBB-24). Handbuch. 3. ergnzte und neu normierte Auflage. Bern: Hans Huber. Brhler, E., Horowitz, L. M., Kordy, H., Schumacher, J., Strauß, B. (1999). Zur Validierung des Inventars zur Erfassung Interpersonaler Probleme (IIP) – Ergebnisse einer Reprsentativbefragung in Ost- und Westdeutschland. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 49, 422 – 431. Brhler, E., Mçhring, P. (1995). Der Kçrper im Beschwerdebild – Erfahrungen mit dem Gießener Beschwerdebogen (GBB). In E. Brhler (Hrsg.), Kçrpererleben – ein
162
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
subjektiver Ausdruck von Leib und Seele (S. 232 – 252) (2. Aufl.). Gießen: Psychosozial Verlag. Brhler, E., Scheer, J. W. (1983). Der Gießener Beschwerdebogen (GBB) – Testhandbuch. Bern: Huber. Brhler, E., Scheer, J. W. (1984). Subjektive Beschwerden und objektiver Befund. In J. W. Scheer, E. Brhler (Hrsg.), rztliche Maßnahmen aus psychologischer Sicht – Beitrge zur medizinischen Psychologie (S. 189 – 199). Berlin: Springer. Brhler, E., Scheer, J. W. (1995). Der Gießener Beschwerdebogen (GBB). Handbuch (2. Aufl.). Bern: Huber. Brhler, E., Schumacher, J. (2002). Befund und Befinden. In E. Brhler, B. Strauß (Hrsg.), Handlungsfelder in der Psychosozialen Medizin (S. 208 – 244). Gçttingen: Hogrefe. Brhler, E., Schumacher, J., Brhler, Ch. (2000). Erste gesamtdeutsche Normierung der Kurzform des Gießener Beschwerdebogens GBB-24. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 50, 14 – 21. Brhler, E., Schumacher, J., Lampert, T. (im Druck). Subjektiver Gesundheitszustand und Beschwerden. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert-Koch-Institut. Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. DAK Gesundheitsreport (2005). Hamburg : DAK Versorgungsmanagement. Zugriff am 08. 11. 2007 unter http://www.presse.dak.de/ps.nsf/Show/0EC76DE F241AA710C1256FE7004CC340/$File/DAK_Gesundheitsreport2005-neu1.pdf. Davies-Osterkamp, S. (1994). Geschlecht als Variable der Forschung in Psychotherapie, Psychosomatik und medizinischer Psychologie. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 44, 293 – 298. Eagly, A. H. (1987). Reporting sex differences. American Psychologist, 42, 756 – 757. Eagly, A. H. (1990). On the advantage of reporting sex comparison. American Psychologist, 50, 560 – 562. Fahrenberg, J. (1975). Die Freiburger Beschwerdenliste. Zeitschrift fr Klinische Psychologie, 4, 79 – 100. Fahrenberg, J. (1994). Die Freiburger Beschwerdenliste (FBL). Handanweisung. Gçttingen: Hogrefe. Fahrenberg, J. (1995). Somatic complaints in the German population. Journal of Psychosomatic Research, 39, 809 – 817. Fahrenberg, J., Hampel, R., Selg, H. (2001). Das Freiburger Persçnlichkeitsinventar FPI. Revidierte Fassung FPI-R und teilweise genderte Fassung FPI-A1. Handanweisung (7. Aufl.). Gçttingen: Hogrefe. Fooken, I. (1980). Frauen im Alter – Eine Analyse intra- und interindividueller Differenzen. Frankfurt a. M.: Lang. Franke, G. (1995). Die Symptom-Checkliste von Derogatis – Deutsche Version. Gçttingen: Beltz. Gijsbers van Wijk, C. M., Huisman, H., Kolk, A. M. (1999). Gender differences in physical symptoms and illness behaviour. A health diary study. Social Science & Medicine, 49, 1061 – 1074.
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
163
Gijsbers van Wijk, C. M., Kolk, A. M. (1997). Sex differences in physical symptoms: The contribution of symptom perception theory. Social Science & Medicine, 45, 231 – 246. Gijsbers van Wijk, C. M., van Vliet, K. P., Kolk, A. M., Everaerd, W. T. (1991). Symptom sensitivity and sex differences in physical morbidity : A review of health surveys in the United States and The Netherlands. Women Health, 17, 91 – 124. Gloger-Tippelt, G. (1996). Konstrukte im Bereich der Geschlechtertypisierung. In M. Amelang (Hrsg.), Enzyklopdie der Psychologie, Serie VIII: Differentielle Psychologie und Persçnlichkeitsforschung, Bd. 3, Temperaments- und Persçnlichkeitsunterschiede (S. 223 – 255). Gçttingen: Hogrefe. Gunzelmann, T., Schumacher, J., Brhler, E. (1996). Kçrperbeschwerden im Alter: Standardisierung des Gießener Beschwerdebogens GBB-24 bei ber 60jhrigen. Zeitschrift fr Gerontologie und Geriatrie, 29, 110 – 118. Hessel, A., Geyer, M., Plçttner, G., Schmidt, B., Brhler, E. (1999). Subjektive Einschtzung der eigenen Gesundheit und subjektive Morbiditt in Deutschland. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 49, 264 – 274. Hiller, W., Rief, W., Brhler, E. (2006). Somatization in the population: from mild bodily misperception to disabling symptoms. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 41, 704 – 712 Hoffmeister, H., Bellach, B. M. (1995). Die Gesundheit der Deutschen. Berlin: RobertKoch-Institut. Hçck, K., Hess, H. (1975): Der Beschwerdenfragebogen (BGB) – Ein Siebtestverfahren der Neurosendiagnostik fr rzte und Psychologen. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. Kasielke, E., Hnsgen, K.D. (1989): Beschwerdenerfassungsbogen (BEB). Gçttingen: Hogrefe. Koch, A. (1997). ADM-Design und Einwohnermelderegister-Stichprobe. Stichproben bei mndlichen Bevçlkerungsumfragen. In S. Gabler, J. H. P. Hoffmeyer-Zlotnik (Hrsg.), Stichproben in der Umfragepraxis (S. 99 – 116). Opladen: Westdeutscher Verlag. Kowalski, R. M. (1996). Complaints and complaining: Functions, antecedents, and consequences. Psychological Bulletin, 119, 179 – 196. Kroenke, K., Spitzer, R. L. (1998). Gender differences in the reporting of physical and somatoform symptoms. Psychosomatic Medicine, 60, 150 – 155. Kuhlmey, A. (1998). Frauen im Alter zwischen Integration und Isolation: Zusammenhnge von hoher Lebenserwartung, Familie und Partnerschaft. In A. Kuhlmey, M. Rauchfuß, H. P. Rosemeier (Hrsg.), Frauen in Gesundheit und Krankheit: Die psychosoziale Lebensperspektive (S. 51 – 61). Berlin: Trafo Verlag. Lademann, J., Kolip, P. (2005). Gesundheit von Frauen und Mnnern im mittleren Lebensalter. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert-Koch-Institut. Zugriff am 08. 11. 2007 unter http://www.rki.de/ cln_049/nn_199850/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/GBE DownloadsT/mittleres__lebensalter,templateId=raw,property=publicationFile. pdf/mittleres_lebensalter.pdf.
164
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Ladwig, K. H., Marten-Mittag, B., Formanek, B., Dammann, G. (2000). Gender differences of symptom reporting and medical health care utilization in the German population. European Journal of Epidemiology, 16, 511 – 518. Leary, M. R. (1995). Self-presentation: Impression management and interpersonal behavior. Dubuque, IA: Brown & Benchmark. Leary, M. R., Tchividjian, L. R., Kraxberger, B. E. (1994). Self-presentation can be hazardous to your health: Impression management and health risk. Health Psychology, 13, 461 – 470. Margraf, J., Neumer, S., Rief, W. (Hrsg.) (1998). Somatoforme Stçrungen. tiologie, Diagnose und Therapie. Berlin: Springer. Maschewsky-Schneider, U. (1998). Frauen leben lnger als Mnner – Sind sie auch gesnder? In U. Flick (Hrsg.), Wann fhlen wir uns gesund? Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit (S. 129 – 138). Weinheim: Juventa. Maschewsky-Schneider, U., Sonntag, U., Klesse, R. (1999). Das Frauenbild in der Prvention. Psychologisierung der weiblichen Gesundheit? In E. Brhler, H. Felder (Hrsg.), Weiblichkeit, Mnnlichkeit und Gesundheit. Medizinpsychologische und psychosomatische Untersuchungen (2. Aufl.) (S. 98 – 120). Opladen: Westdeutscher Verlag. Mçller-Leimkhler, A. M. (2000). Mnner und Depression: Geschlechtsspezifisches Hilfesuchverhalten. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 68, 489 – 495. Mçller-Leimkhler, A. M., Paulus, N. C., Heller, J. (2007). »Male-Depression« in einer Bevçlkerungsstichprobe junger Mnner. Nervenarzt, 78, 641 – 650. Myrtek, M. (1998). Gesunde Kranke – Kranke Gesunde. Psychophysiologie des Krankheitsverhaltens. Bern: Huber. Myrtek, M., Fahrenberg, J. (1998). Somatoforme Stçrungen: Konzeptuelle und methodologische Kritik und ein Pldoyer fr die funktionale Analyse des Krankheitsverhaltens. In J. Margraf, S. Neumer, W. Rief (Hrsg.), Somatoforme Stçrungen. tiologie, Diagnose und Therapie (S. 191 – 211). Berlin: Springer. Pennebaker, J. W. (1982). The psychology of physical symptoms. New York: Springer. Richter, H.–E. (1974). Lernziel Solidaritt. Reinbek: Rowohlt. Rief, W., Hessel, A., Brhler, E. (2001). Somatization symptoms and hypochondriacal features in the general population. Psychosomatic Medicine, 63, 595 – 602. Rief, W., Hiller, W. (1992). Somatoforme Stçrungen. Kçrperliche Symptome ohne organische Ursache. Bern: Huber. Rief, W., Hiller, W., Heuser, J. (1997). Das Screening fr somatoforme Stçrungen SOMS. Manual zum Fragebogen. Bern: Huber-Verlag. Rodenstein, M. (1980). Fraueninteressen in Gesundheitspolitik und -forschung. Soziale Welt, 2, 176 – 190. Rolfs, I., Borrell, C., Anitua, C., Artazcoz, L., Colomer, C., Escrib , V., Garcia-Calvente, M., Llacer, A., Mazarrasa, L., Pasarin, M. I., Peir, R., Valls-Llobet, C. (2000). The importance of the gender perspective in health interview surveys [Article in Spanish]. Gaceta Sanitaria, 14, 146 – 155. Rudolf, G., Henningsen, P. (Hrsg.) (1998). Somatoforme Stçrungen. Theoretisches Verstndnis und therapeutische Praxis. Stuttgart: Schattauer.
Elmar Brhler: Kçrperbeschwerden im Wandel der Zeit
165
Schumacher, J., Brhler, E. (1999). Prvalenz von Schmerzen in der deutschen Bevçlkerung. Ergebnisse reprsentativer Erhebungen mit dem Giessener Beschwerdebogen. Der Schmerz, 13, 375 – 384. Schumacher, J., Eisemann, M., Brhler, E. (1999). Rckblick auf die Eltern: Der Fragebogen zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (FEE). Diagnostica, 45, 194 – 204. Schumacher, J., Laubach, W., Brhler, E. (1995). Wie zufrieden sind wir mit unserem Leben? Soziodemographische und psychologische Prdiktoren der allgemeinen und bereichsspezifischen Lebenszufriedenheit. Zeitschrift fr Medizinische Psychologie, 4, 17 – 26. Schumacher, J., Leppert, K., Gunzelmann, T., Strauß, B., Brhler, E. (2005). Die Resilienzskala – Ein Fragebogen zur Erfassung der psychischen Widerstandsfhigkeit als Personmerkmal. Zeitschrift fr Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 53, 16 – 39. Skelton, J. A., Pennebaker, J. W. (1982). The psychology of physical symptoms and sensations. In G. S. Sanders, J. Suls (Eds.), Social psychology of health and illness (pp. 99 – 128). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Smith, T. W., Snyder, C. R., Perkins, S. C. (1983). The self-serving functions of hypochondriacal complaints: Physical symptoms as self-handicapping strategies. Journal of Personality and Social Psychology, 44, 787 – 797. Strauß, B., Berger, U., von Troschke, J., Brhler, E. (Hrsg.) (2004). Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Gçttingen: Hogrefe. Verbrugge, L. M. (1989). The twain meet: Empirical explanations of sex differences in health and mortality. Journal of Health and Social Behavior, 30, 282 – 304. Wills, T. A. (1987). Help-seeking as a coping mechanism. In C. R. Snyder, C. E. Ford (Eds.), Coping with negative life events. Clinical and social psychological perspectives (pp. 19 – 50). New York: Plenum. Wittwer-Backofen, U. (1998). Die Ungleichheit vor dem Tod? Warum unterscheiden sich Lebenserwartungen innerhalb Hessens? Spiegel der Forschung, 15, 62 – 72. Zerssen, H. von (1976). Beschwerden-Liste (B-L). Weinheim: Beltz-Test.
Johannes Siegrist Gratifikationskrisen – Sozial vermittelte Beziehungsstçrungen und ihre Folgen fr die Gesundheit
Medizinsoziologie und Beziehungsmedizin Eine der zentralen Aufgaben der Beziehungsmedizin liegt darin, die interaktiven Prozesse zwischen Hilfesuchenden und Therapierenden diagnostisch umfassend zu dokumentieren und fr den Behandlungs- und Heilungserfolg nutzbar zu machen. Wolfgang Tress hat zu dieser Aufgabe wichtige, folgenreiche, bis in die psychosomatische Grundversorgung hineinwirkende Beitrge beigesteuert (Tress et al., 2004). Zu den Aufgaben der Beziehungsmedizin gehçrt aber auch, pathogene und salutogene Aspekte sozialer Beziehungen im Vorfeld des Hilfesuchens, das heißt bei der Entwicklung von psychischen und somatischen Stçrungen und Erkrankungen zu untersuchen und entsprechende Erkenntnisse fr Prvention und Therapie nutzbar zu machen. Hierbei kçnnen medizinsoziologische Erkenntnisse hilfreich sein, denn die Identifizierung gesundheitsgefhrdender und -fçrdernder Potentiale sozialer Austauschprozesse und der Nachweis ihres Beitrags zur Vergrçßerung oder Verringerung der Krankheitslast in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen gehçren zum genuinen Erkenntnisprogramm der Medizinsoziologie. Soziologie ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, welche sich mit der Beschreibung und Erklrung des gesellschaftlichen Lebens, das heißt des Zusammenlebens von Menschen auf der mikro- und makrosozialen Ebene befasst. Sie betrachtet Gesellschaft einerseits als objektive Wirklichkeit, die mit ihren Institutionen, Regeln und Zwngen die individuellen Freiheiten einengt, jedoch zugleich Optionen der Gestaltung und Lebensfhrung gewhrt. Zugleich versteht die Soziologie Gesellschaft als eine subjektive Wirklichkeit, welche aus den unterschiedlichen Situationsinterpretationen ihrer Akteure heraus kontinuierlich reproduziert und transformiert wird. Das daraus entstehende Spannungsverhltnis zwischen Individuum und Gesellschaft erzeugt fr die Beteiligten sowohl Nutzen als auch Leiden – ein Leiden an der Gesellschaft, das nicht selten in Form erhçhter Krankheitsgefahren bei den Betroffenen sichtbar wird. Diesen pathogenen Prozessen der Vergesellschaftung wirken prosoziale Prozesse der Kooperation und der Bindung als protektive, die Gesundheit strkende Phnomene entgegen. Es sind diese
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
167
allgemeinsoziologisch fassbaren Aspekte von Gesundheit und Krankheit, mit denen sich die Spezialdisziplin der Medizinischen Soziologie in erster Linie befasst. Versucht man, eine Grenzlinie zwischen dem psychologischen und psychoanalytischen Verstndnis zwischenmenschlicher Beziehungen einerseits und dem soziologischen Verstndnis von Beziehungen andererseits zu ziehen, so ist der von Georg Simmel eingefhrte Begriff der sozialen Verallgemeinerung von Individuen hilfreich (Simmel, 1958). Denn whrend die erstgenannten Disziplinen den individuellen Merkmalen von Personen beziehungsweise der individuellen Ausgestaltung von Beziehungskonstellationen den Vorrang geben, interessiert sich die Soziologie vornehmlich fr das Individuum als Trger sozialer Rollen, als Mitglied in einem System sozialer Differenzierungen in Positionen. Georg Simmel stellt in diesem Zusammenhang fest, dass wir »den anderen nicht schlechthin als Individuum sehen, sondern als Kollegen oder Kameraden oder Parteigenossen, kurz als Mitbewohner derselben besonderen Welt« (Simmel, 1958, S. 25). Dies bedeutet, dass das Individuum stets im Medium gesellschaftlicher Wirklichkeit als sozial verallgemeinertes Subjekt erscheint, es wird gewissermaßen unter positionelle Kategorien subsumiert. Diese positionellen Kategorien oder sozialen Rollen sind dazu da, von Individuen besetzt und ausgestaltet zu werden, indem diese mit ihren Fhigkeiten den jeweiligen Verhaltenserwartungen entsprechen und die angebotenen Handlungsoptionen im Dienst ihrer Selbstverwirklichung ausfhren. Soziale Beziehungen werden somit von der Soziologie unter dem Aspekt rollendifferenzierten Handelns analysiert, wobei mit der Abstraktion vom je Individuellen einerseits eine Einengung beziehungsweise Reduktion des Persçnlichen erfolgt, indem andererseits jedoch einer notwendigen Bedingung der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit Rechnung getragen wird, der Bedingung nmlich, dass Menschen nicht zueinander kommen kçnnen, ohne diesen Prozess bestimmten Regeln, Typisierungen und Verallgemeinerungen zu unterwerfen (Popitz, 1967). Auf diesem Hintergrund kann man die Frage, wie soziale Beziehungen Leiden erzeugen oder aber Gesundheit und Wohlbefinden strken, prziser untersuchen. Es ist nmlich mçglich – und erkenntnistheoretisch weiterfhrend – das rollendifferenzierte Handeln in sozialen Austauschprozessen mit der Befriedigung grundlegender menschlicher Bedrfnisse in Beziehung zu setzen. Hierzu bietet sich der auf Adam Smith zurckgehende Ansatz an, soziales Handeln als Produktion von Nutzen zu begreifen (Esser, 1999). Nutzen zu produzieren ist gleichbedeutend mit der Befriedigung grundlegender menschlicher Bedrfnisse, zu deren Realisierung spezifische Motivationen eingesetzt werden. Obwohl es in der Wissenschaft keinen Konsens bezglich einer universellen Wertigkeit einzelner menschlicher Bedrfnisse gibt, spricht vieles dafr, drei solchen Bedrfnissen eine besonders hohe, fr
168
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
unterschiedliche Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart in gleicher Weise geltende Prioritt einzurumen: 1. dem Bedrfnis nach physischem Wohlbefinden, das heißt der Sicherung der physischen Existenz; 2. dem Bedrfnis nach Autonomie, das heißt der Selbstverwirklichung im Medium des Handelns, und 3. dem Bedrfnis nach sozialer Wertschtzung oder Anerkennung, das heißt dem Wunsch, fr die eigene Person und ihr Handeln durch signifikante Andere Besttigung in Form positiver Rckmeldung zu erhalten (Doyal u. Gough, 1991; Esser, 1999). Diese drei Bedrfnisse stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern bedingen sich gegenseitig. Einerseits bildet physisches Wohlbefinden eine wichtige Voraussetzung fr die Motivation zu autonomem Handeln und dem Erzielen sozialer Wertschtzung. Andererseits kçnnen fehlende Autonomie und der Verlust sozialer Anerkennung das physische Wohlbefinden bis hin zum Ausbruch einer Krankheit und zu frhem Tod beeintrchtigen. Zur Befriedigung der genannten grundlegenden Bedrfnisse mssen spezifische Handlungen erfolgen, die in der Lage sind, etwas zu bewirken. Hierzu ist das Erbringen bestimmter Leistungen oder zumindest die Sicherung bestehender Ressourcen erforderlich. So wird physisches Wohlbefinden nicht einfach konsumiert, sondern durch spezifische Handlungen gesichert beziehungsweise wieder hergestellt, wie zum Beispiel durch regelmßigen Schlaf, Entspannung, gesunde Ernhrung und kçrperliche Bewegung. Auch Autonomie wird durch Handeln hergestellt beziehungsweise reproduziert, so etwa durch Investitionen in die eigene Qualifizierung oder dadurch, dass eigene Vorrechte andern gegenber durch Leistungen legitimiert und vor Verlust gesichert werden. Gleiches gilt fr die Befriedigung des Bedrfnisses nach sozialer Wertschtzung, dessen Erfllung in besonders weitreichendem Maße an soziale Interaktionen, und zwar an Interaktionen in Form eines Tauschs von Leistung und Belohnung, gebunden ist. Denn soziale Wertschtzung erlangen Menschen in der Regel nur, »wenn sie ber Eigenschaften, Ressourcen, Objekte, Gter oder Leistungen verfgen, die andere Menschen dazu bringen, ihre Anerkennung auszudrcken. […] Fr die Erlangung von sozialer Wertschtzung […] mssen die Menschen meist etwas tun« (Esser, 1999, S. 97 f.). An diesem Punkt der Argumentation konvergiert die Theorie sozialer Nutzenproduktion mit der soziologischen Rollentheorie. Es sind nmlich die zentralen sozialen Rollen, in denen wiederkehrend die Bedrfnisse nach zutrglichem Befinden, nach Selbstverwirklichung im Medium des Handelns und nach sozialer Anerkennung erfllt werden kçnnen. Indem wir uns nahestehenden Menschen zugehçrig und in vertrauensvolle Beziehungen eingebunden fhlen (Partner- und Familienrollen, Mitgliedschaftsrollen etc.), indem wir wiederkehrend Leistungen erbringen, die unsere Fhigkeiten zur Entfaltung bringen und unsere Selbstwirksamkeit bekrftigen (Berufsrolle, Ehrenamt etc.) und indem wir andere Menschen durch unser Handeln dazu
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
169
veranlassen, ihre Anerkennung auszudrcken (Engagement in beruflichen und außerberuflichen Rollen), produzieren wir Nutzen, der vermittelt ber starke positive soziale Emotionen in die physiologischen Reaktionen unseres Kçrpers hinein positive Auswirkungen erzeugt (salutogene Perspektive). Umgekehrt gilt: indem wir aus vertrauensvollen Beziehungen ausgeschlossen werden (z. B. soziale Isolation, fehlender sozialer Rckhalt), indem uns keine Chancen der Selbstentfaltung im Medium sozialer Rollen gewhrt werden (z. B. Arbeitslosigkeit) und indem uns Anerkennung nicht angemessen gewhrt oder vorenthalten wird (z. B. Ausbeutung, Betrug), sind Chancen der Nutzenproduktion blockiert. Diese Versagungen und Mangelerlebnisse wirken sich, vermittelt ber starke negative Emotionen, schdigend auf physiologische Regulationsprozesse unseres Kçrpers aus (pathogene Perspektive). Nachfolgend konzentriere ich mich auf das Bedrfnis nach sozialer Anerkennung. Ich untersuche die Frage, welche Folgen versagte Anerkennung in rollengebundenen sozialen Austauschprozessen fr die Gesundheit der Betroffenen hat. Damit wird der pathogenetischen gegenber der salutogenetischen Perspektive der Vorzug gegeben. Dies erfolgt aus einem epistemologischen Grund: Neue Einsichten in die verborgene Funktionsweise erfolgreich ablaufender Prozesse erhlt man am ehesten dadurch, dass dieses Funktionieren gezielt gestçrt wird. Mit anderen Worten: aus dem Studium gestçrter sozialer Austauschprozesse und ihrer gesundheitlichen Folgen lassen sich Einsichten in die dem normalen Funktionieren zugrunde liegenden regulativen Prinzipien gewinnen. Der Umweg ber eine pathogenetische, krankheitszentrierte Analyse scheint somit fr ein Studium salutogener Bedingungen heuristisch fruchtbar zu sein. Gesundheitliche Folgen versagter Anerkennung werden in drei zentralen Bereichen sozialer Rollenbeziehungen untersucht: 1. in der arbeitsvertraglich geregelten Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, das heißt in der Berufsrolle, 2. in den Partnerschafts- und Eltern-Kind-Beziehungen der Familie, und 3. bei außer- beziehungsweise nachberuflichen Formen sozialer Produktivitt wie dem Ehrenamt, der Nachbarschaftshilfe oder der Pflege kranker Angehçriger. In gewisser Weise spiegelt diese Reihenfolge die Chronologie meiner mehr als zwanzigjhrigen Forschungsttigkeit zu dieser Thematik wider, in der zuerst und ber die lngste Zeit berufliche Gratifikationskrisen (s. u.) analysiert wurden, spter sodann Gratifikationskrisen in engen sozialen Beziehungen und erst in jngster Zeit die außer- beziehungsweise nachberuflich erlebten Gratifikationskrisen. In den beiden nachfolgenden Abschnitten wird das grundlegende Konzept der Gratifikationskrise erlutert, und es wird ein kurzer berblick ber Forschungsergebnisse zu ihren gesundheitlichen Auswirkungen gegeben. Abschließend wird berlegt, welche Folgerungen sich aus den dargestellten neuen Erkenntnissen fr eine Medizin der Beziehung ergeben.
170
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Soziale Gratifikationskrisen und ihre Bedeutung fr die Gesundheit Der Beruf bildet fr den berwiegenden Teil der Bevçlkerung im Alter zwischen 20 und 60 Jahren die Grundlage fr eine kontinuierliche Erwerbschance und einen damit gegebenen Autonomiegewinn. Erwerbsarbeit ist wesentliches Ziel gesellschaftlicher Sozialisationsprozesse einschließlich der Ausbildung. Fr die Bewertung von sozialer Stellung und sozialem Ansehen einer Person ebenso wie fr das Erleben sozialer Identitt und das damit verbundene Selbstwertgefhl sind berufliche Qualifikation und Position bedeutsam. Im Erwerbsleben verbringt der berwiegende Teil der arbeitenden Bevçlkerung im frhen und mittleren Erwachsenenalter den vergleichsweise hçchsten Anteil bewusst erlebter und gestalteter Lebenszeit. Dort werden die am lngsten dauernden Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen in Leistungssituationen gesammelt, und dort sind Menschen whrend besonders langer Zeit gesundheitsrelevanten Einflssen ausgesetzt. Damit erhlt auch der arbeitsvertraglich geregelte Tausch zwischen Leistung und der hierfr gewhrten Belohnung im Rahmen der Erwerbsarbeit einen zentralen Stellenwert. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, zu untersuchen, wie weit den erbrachten Arbeitsleistungen angemessene Gegenleistungen in Form von Lohn beziehungsweise Gehalt, Aufstiegschancen und Arbeitsplatzsicherheit, aber auch in Form immaterieller Gratifikationen der Wertschtzung und Achtung entsprechen, das heißt wie weit dadurch das Bedrfnis nach sozialer Anerkennung im Medium der Arbeit erfllt wird. Was geschieht, wenn dieser Tausch nicht gerecht verluft, das heißt wenn das Prinzip der Gleichwertigkeit von Gabe und Gegengabe verletzt wird? Diese Norm sozialer Reziprozitt stellt ein konstitutives Prinzip zwischenmenschlicher Kooperation dar. Sie besagt, dass eine Person A, welche gegenber einer Person B eine Leistung erbringt, welche fr diese von Nutzen ist, erwarten kann, von B hierfr eine gleichwertige Gegenleitung zu erhalten (Gouldner, 1960). An diesem Punkt setzt das in mehrjhrigen Forschungen in unserer Arbeitsgruppe entwickelte und getestete Modell beruflicher Gratifikationskrisen an. Es geht von dieser im Arbeitsvertrag angelegten sozialen Reziprozitt der Tauschbeziehung von Leistung und Belohnung aus, wonach fr erbrachte Arbeitsleistungen angemessene Gratifikationen in Form von Lohn oder Gehalt, beruflichem Aufstieg beziehungsweise Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie Anerkennung und Wertschtzung gewhrt werden. Ausgeprgte Stressreaktionen sind nach diesem Modell dort zu erwarten, wo fortgesetzt hoher Verausgabung keine angemessenen Belohnungen gegenberstehen, das heißt Situationen, die fr Erwerbsttige durch hohe Kosten bei niedrigem Gewinn gekennzeichnet sind (Gratifikationskrisen) (Siegrist, 1996; 2005).
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
171
Im Modell werden drei Bedingungen spezifiziert, unter denen dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall ist: erstens bei fehlender Arbeitsplatzalternative (z. B. aufgrund geringer Qualifikation oder eingeschrnkter Mobilitt), zweitens bei ungnstigen Arbeitsvertrgen, die aus strategischen Grnden ber einen lngeren Zeitraum aufrechterhalten werden (z. B. zum Zweck der Erzielung prospektiver Wettbewerbsvorteile in hoch kompetitiven Berufen), und drittens bei Vorliegen eines spezifischen psychischen Bewltigungsmusters angesichts von Leistungssituationen, das durch eine distanzlose, bersteigerte Verausgabungsneigung gekennzeichnet ist, hufig einhergehend mit einer unrealistischen Einschtzung der gestellten Anforderungen und der zu erwartenden Belohnungen. Das Modell bercksichtigt somit die Interaktion von Merkmalen der Arbeitssituation mit Merkmalen des Bewltigungshandelns arbeitender Personen. Ferner trgt es durch Einbeziehung von Aspekten des Arbeitsmarktes (Lohnniveau, Karrieremuster, Arbeitsplatzsicherheit) Entwicklungen des Erwerbslebens Rechnung, die sich im Zeitalter der Globalisierung durch hohe, hufig erzwungene Mobilitt, durch erwerbsbiographische Diskontinuitt, durch Arbeitsmarktsegmentierung und erhçhte Risiken des Arbeitsplatzverlusts kennzeichnen lassen. Stresstheoretisch steht das Prinzip verletzter Tauschgerechtigkeit in Form von Verstçßen gegen die Reziprozittsnorm im Zentrum. Hierdurch werden starke negative Emotionen der Enttuschung, Verrgerung, Irritierung bis hin zu Gefhlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, gegebenenfalls auch Neigungen zu Vergeltung und Boykott evoziert. Enttuschung berechtigter Belohnungserwartungen, sog. high cost / low gain-Erfahrungen vermçgen die Gesundheit ber exzessive Aktivierungen in Teilen des Gehirnbelohnungssystems sowie ber durch sie angestoßene Stressachsen-Aktivierungen im Organismus zu beeintrchtigen (Rensing et al., 2006; Schultz et al., 1997). Bevor ich auf die Frage eingehe, ob sich ein Zusammenhang zwischen mangelnder sozialer Anerkennung in Form beruflicher Gratifikationskrisen und einem erhçhtem Risiko stress-assoziierter Erkrankungen berzeugend nachweisen lsst, soll auf die beiden weiteren Bereiche verletzter sozialer Reziprozitt eingegangen werden. In neueren Forschungsarbeiten habe ich gemeinsam mit Olaf von dem Knesebeck damit begonnen, den Kern des dargestellten Modells, das heißt die Annahme gesundheitsschdigender Wirkungen, die von nicht reziproken sozialen Rollenbeziehungen ausgehen, auf die Partnerschafts- und Elternrolle sowie auf enge nichtfamilire Beziehungen zu bertragen (Siegrist, 1998; Knesebeck u. Siegrist, 2003; 2004). Bei diesen weniger formalisierten Austauschprozessen wird unterstellt, dass eine Verletzung der Reziprozittsnorm beziehungsweise ein wiederkehrend erfahrenes Ungleichgewicht von Geben und Nehmen in engen sozialen Beziehungen emotional besonders belastend wirkt, weil dadurch das Selbstwertgefhl der gebenden Person unmittelbar
172
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
beeintrchtigt wird. Die bertragung des Modells macht allerdings auch Unterschiede zur Berufsrolle deutlich. So sind beispielsweise in der Arbeitsteilung zwischen Partnern oder Eltern und Kindern Verausgabungsleistungen weniger stark sanktionsbelastet als bei der Erwerbsarbeit, und die Korrespondenz von Leistung und Belohnung ist nicht verbindlich definiert. Dennoch geben Erwartungsenttuschungen in Form vorenthaltener beziehungsweise nicht angemessener Gratifikationen, die hier in der Regel in nichtmaterieller Form erfolgt, hufig Anlass zu intensiven negativen Emotionen. hnlich lautet die Argumentation im Fall einer weiteren bertragung des Modells auf andere rollengebundene Austauschprozesse, und zwar auf sozial produktive Aktivitten in Form von Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe oder der Pflege kranker Angehçriger, in denen Leistungen in der Regel ohne finanzielle Gegenleistungen erbracht werden. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, zwei zusammenhngende Hypothesen zu untersuchen. Erstens kann vermutet werden, dass die Erfahrung, fr andere Menschen etwas Ntzliches zu tun, insbesondere bei denjenigen Personen, die von regulrer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind (Hausfrauen, Rentner im dritten Lebensalter) im Allgemeinen gnstige Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit zeigt, da sie eine wichtige Quelle positiven Selbstwerterlebens ist. Dies sollte sich bei einem Vergleich mit Personen ergeben, welche ohne verbindliche Erfahrungen sozial produktiven Handelns leben und deren Wohlbefinden dementsprechend geringer ist. Die ergnzende zweite Hypothese besagt jedoch, dass das Ausben sozialer Aktivitten nicht automatisch mit positiven Erfahrungen des Selbstwerts assoziiert ist. Entscheidend ist vielmehr, ob den erbrachten Leistungen in irgendeiner Form eine Gegenleistung folgt, wenn auch in der Regel in Form emotionaler Belohnungen der Anerkennung, Wertschtzung und Wrdigung des Geleisteten. Erwartbare Gegenleistungen dieser Art sind fr die Betroffenen deshalb von Bedeutung, weil sie dem universalen Prinzip der Tauschgerechtigkeit, der Norm sozialer Reziprozitt folgen (Siegrist et al., 2004). Mit anderen Worten: Erfahrene Reziprozitt in diesen sozial produktiven Aktivitten moderiert deren Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit besonders stark. Erbrachte Leistung ohne Anerkennung beeintrchtigt infolge dessen das Wohlbefinden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Pflege demenzkranker Angehçriger, da aufopfernde Ttigkeit hier krankheitsbedingt ohne Resonanz bleibt. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass diese Form langfristiger Pflegettigkeit fr die Betroffenen ein erhebliches gesundheitliches Risiko nach sich zieht (Schulz u. Beach, 1999; Lee et al., 2003).
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
173
Stress-assoziierte Erkrankungsrisiken Wir haben fr drei wichtige Bereiche sozialen Rollenhandelns postuliert, dass Austauschprozesse, in denen die Norm sozialer Reziprozitt verletzt wird, starke negative Emotionen hervorrufen, welche das Risiko erhçhen, zum Ausbruch stress-assoziierter physischer und psychischer Erkrankungen beizutragen. Wie sieht nun die empirische Evidenz aus? Im Allgemeinen werden drei Forschungsanstze verfolgt, um die genannten Hypothesen zu prfen. An erster Stelle stehen epidemiologische Untersuchungen. Hier ist vor allem die prospektive Beobachtungsstudie zu nennen. Sie gilt als Goldstandard dieser Forschungsrichtung, da die Erfassung der Exposition der Krankheitsmanifestation zeitlich vorgelagert ist und da die Strke der Beziehung (Odds Ratio, relatives Risiko) unter Bercksichtigung konfundierender Variablen quantifiziert werden kann. Zweitens kçnnen anhand experimenteller und naturalistischer Studien die epidemiologisch nachgewiesenen statistischen Beziehungen hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden psychobiologischen Mechanismen weitergehend analysiert werden. Whrend anhand von Experimenten unter kontrollierten Bedingungen versucht wird – in der Regel um den Preis knstlicher Versuchsanordnungen – kausale Verknpfungen aufzudecken, werden in naturalistischen Studien physiologische Reaktionen in Alltagssituationen anhand geeigneter Messverfahren kontinuierlich erfasst. Schließlich werden, aufbauend auf den Ergebnissen epidemiologischer und psychobiologischer Forschung, Interventionsstudien realisiert, in denen pathogene Grçßen – hier also soziale Gratifikationskrisen – durch geeignete Maßnahmen verringert werden, mit dem Ziel, die negativen gesundheitlichen Effekte zu verhindern oder zu verringern. Da in den zwei Jahrzehnten der Pionierforschung in diesem Gebiet vorwiegend die ersten beiden Forschungsstrategien verfolgt wurden, konzentriert sich der nachfolgende berblick auf sie. Im Mittelpunkt stehen zwei aufgrund ihrer weiten Verbreitung auch gesundheitspolitisch relevante Krankheitsbilder, Herz-Kreislauf-Krankheiten, und hier insbesondere koronare Herzkrankheiten, sowie depressive Stçrungen. Diese beiden Krankheitsbilder werden nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2020 weltweit an der Spitze stehen, wenn der Umfang der durch sie verlorenen oder massiv eingeschrnkten Lebensjahre zugrunde gelegt wird (Murray u. Lopez, 1996). Fr diese beiden Krankheitsbilder sind durch die Forschung der letzten Jahre auch die stressphysiologischen Mechanismen besonders weitgehend aufgeklrt worden (Rensing et al., 2006; Stansfeld u. Marmot, 2002; McEwen, 1998). In fnf Publikationen ist die Vorhersagekraft des Modells beruflicher Gratifikationskrisen anhand prospektiver epidemiologischer Studien an in-
174
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
itial gesunden Stichproben erwerbsttiger Mnner und Frauen nachgewiesen worden. Die erste, von meinen Mitarbeitern und mir durchgefhrte Studie betraf mehrere hundert Metallarbeiter, die ber einen Zeitraum von sechseinhalb Jahren verfolgt wurden. Das Risiko einer tçdlichen oder nichttçdlichen koronaren Herzkrankheit war mehr als viermal erhçht bei denjenigen Arbeitern, die von hoher beruflicher Verausgabung im Verein mit Arbeitsplatzunsicherheit oder anderen Formen bedrohter beruflicher Statuskontrolle betroffen waren, im Vergleich zu ihren geringer oder gar nicht belasteten Kollegen (Siegrist et al., 1990). Im Rahmen der bekannten Whitehall-II-Studie bei britischen Regierungsangestellten wurde einige Jahre spter gezeigt, dass Mnner und Frauen, die initial durch berufliche Gratifikationskrisen belastet waren, in den nachfolgenden fnf Jahren doppelt so hufig herzkrank wurden wie Regierungsangestellte ohne entsprechende berufliche Stressbelastung. Die mehrere tausend Personen umfassende Untersuchungspopulation war so groß, dass der Einfluss wichtiger etablierter kardiovaskulrer Risikofaktoren auf das Ergebnis statistisch kontrolliert werden konnte (Bosma et al., 1998). Vier Jahre spter wurden die Ergebnisse an derselben Kohorte nochmals berprft, mit vergleichbaren, wenn auch etwas schwcheren relativen Risiken (Kuper et al., 2002). Zwei weitere prospektive Studien wurden in Finnland durchgefhrt, wobei in beiden Fllen Annherungsmaße zur Modellmessung verwendet wurden. Die relativen Risiken betrugen hier 1.6 (Lynch et al., 1997) beziehungsweise 2.4 (Kivimki et al., 2002). Die zuletzt genannte Untersuchung an mnnlichen und weiblichen Beschftigten eines Industrieunternehmens ist besonders aussagekrftig, da die Beobachtungsdauer mehr als zwei Jahrzehnte umfasste und da zustzlich zu den klassischen kardiovaskulren Risikofaktoren ungnstige Bedingungen whrend der Kindheit mit bercksichtigt wurden. Diese beiden Variablenbereiche konnten den nachgewiesenen Einfluss beruflicher Stressbelastung auf das kardiovaskulre Risiko nicht wesentlich mindern (Brunner et al., 2005). Zu depressiven Stçrungen liegen Ergebnisse aus vier prospektiven Studien vor. Hier schwanken die relativen Risiken zwischen 1.5 und 4.6. Untersucht wurden wiederum die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Whitehall-IIStudie (Stansfeld et al., 1999), Frauen und Mnner in vier belgischen Unternehmen (Godin et al., 2005), schließlich das Krankenhauspersonal mehrerer finnischer Hospitler und die Bediensteten kommunaler mter in Finnland (Kivimki et al., 2007). Die konsistenten Ergebnisse werden durch mehrere Querschnittsstudien weiter untermauert, welche belegen, dass, ebenso wie im Fall der koronaren Herzkrankheit, Mitglieder niedrigerer sozialer Schichten von den entdeckten Zusammenhngen zwischen gratifikationskritischen Erfahrungen und stress-assoziierten Krankheiten besonders stark betroffen sind (Wege et al., 2007).
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
175
In mehreren naturalistischen und experimentellen Studien wurde zustzlich demonstriert, dass Beschftigte, die von Gratifikationskrisen im Beruf betroffen sind, deutlich erhçhte systolische Blutdruck- und Herzfrequenzwerte im Tagesverlauf und eine verringerte Herzfrequenzvariabilitt aufweisen (Vrijkotte et al., 2000; Steptoe et al., 2004). Ebenso lassen sich vernderte Ausscheidungsmuster von Stresshormonen finden, so vor allem des fr depressive Stçrungen bedeutsamen Cortisols (Hurwitz Eller, 2006; Steptoe et al., 2004). Angesicht der Tatsache, dass eine beachtliche Ko-Morbiditt von koronaren Herzkrankheiten und depressiven Stçrungen besteht und angesichts von Erkenntnissen, dass in der Pathogenese beider Krankheitsbilder systemische Entzndungsprozesse bedeutsam sind (Rudish u. Nemeroff, 2003), erhlt ein neues Forschungsergebnis aktuelle Bedeutung: In einem psychomentalen Stressexperiment konnten Hamer und Kollegen nachweisen, dass der Anstieg des Entzndungsparameters C-reaktives Protein unter mentaler Belastung umso hçher war, je strker die Probanden unter beruflichen Gratifikationskrisen litten (Hamer et al., 2006). Weniger intensiv sind bisher Zusammenhnge zwischen mangelnder Reziprozitt in engen sozialen Beziehungen und gesundheitlicher Gefhrdung untersucht worden. In vier zum Teil umfangreichen Querstudien ist allerdings gezeigt worden, dass entsprechend belastende Erfahrungen in der Partnerschaft, in der Eltern-Kindbeziehung sowie in weiteren engen Beziehungen (enttuschtes Vertrauen, erfahrenes Unrecht ohne Wiedergutmachung) mit einer erhçhten Wahrscheinlichkeit einhergehen, an depressiven Symptomen zu leiden. Zwei dieser Studien, eine deutsch-amerikanische Vergleichsstudie bei Mnnern und Frauen im hçheren Lebensalter (Knesebeck u. Siegrist, 2003) und eine Studie mit Beschftigten eines stdtischen Verkehrsunternehmens in Deutschland (Knesebeck u. Siegrist, 2004) sind bereits verçffentlicht. In einer zur Zeit in Druck befindlichen Arbeit wird gezeigt, dass Beschftigte der Whitehall-II-Studie, welche in einem oder mehreren dieser Bereiche mangelnde Reziprozitt erlebt haben, zustzlich eine schlechtere subjektive Gesundheit und vermehrte Schlafstçrungen aufweisen (Chandola et al., 2007). hnliche Befunde werden aus einer zur Zeit laufenden epidemiologischen Untersuchung in Deutschland berichtet (Knesebeck, persçnliche Mitteilung). Wenden wir uns schließlich den sozial produktiven Ttigkeiten jenseits der Erwerbsttigkeit zu, die bisher vor allem in der nachberuflichen Phase des Lebenslaufs untersucht wurden, so zeigen erste Ergebnisse aus einer europaweiten Erhebung, der sog. SHARE-Studie (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe; Boersch-Supan et al., 2005), dass beide genannten Hypothesen zum Zusammenhang zwischen sozialer Produktivitt und Wohlbefinden eine vorlufige Besttigung finden. Bei allen drei Typen sozialer Produktivitt (Ehrenamt, informelle Hilfe, Pflege von Angehçrigen) ist das Wohlbefinden im Durchschnitt besser und die Depressivitt im Durchschnitt
176
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
geringer, wenn diese Aktivitten regelmßig ausgebt werden. Wichtiger in unserem Zusammenhang sind jedoch die Ergebnisse zur zweiten Hypothese, wonach innerhalb der Gruppe derer, die soziale Aktivitten ausben, ein systematischer Unterschied besteht: Wird in der produktiven Aktivitt ein Mangel an Reziprozitt erfahren, so nehmen die depressiven Symptome im Vergleich zur Gruppe mit befriedigenden Austauschbeziehungen signifikant zu, und ebenso verringert sich das anhand weiterer Skalen gemessene Wohlbefinden. Besonders deutlich ist dieser Effekt bei der Pflege Angehçriger ausgeprgt (Wahrendorf et al., 2006). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in zentralen sozialen Rollen nicht-reziproke Austauschbeziehungen das Risiko stress-assoziierter Erkrankungen erhçhen. Mit besonders weitreichender Evidenz ist dies fr den Bereich der Erwerbsrolle und hier im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und depressive Stçrungen nachgewiesen worden.
Abschließende berlegungen Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass zum Arbeitsprogramm einer Medizin der Beziehung auch die Aufgabe gehçrt, salutogene und pathogene Effekte sozialer Beziehungen auf die Gesundheit nachzuweisen und entsprechende Erkenntnisse in therapeutische und prventive Bemhungen umzusetzen. Die dargestellten Erkenntnisse medizinsoziologischer Forschung weisen diesem Programm neue Wege. So kann auf drei Ebenen versucht werden, die Krankheitslast beruflicher Gratifikationskrisen anhand prventiver und rehabilitativer Maßnahmen zu verringern. Alle drei Ebenen entziehen sich allerdings weitgehend dem kurativ-medizinisch-individuellen Rahmen der Arzt-Patient-Beziehung. Dies wird insbesondere im Bereich von Prvention und Gesundheitsfçrderung deutlich. Bei Maßnahmen auf der strukturellen Ebene, die sich aus dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen ableiten lassen, geht es in erster Linie um Regelungen, welche die Fairness von Leistung und Gegenleistung in formaler, das heißt vertraglicher Sicht wie auch auf informeller Ebene sicherstellen. Hierzu zhlt eine an individueller Leistung orientierte, auch besondere Erschwernisse und berufsbiographische Investitionen angemessen bercksichtigende Bezahlung sowie der Ausbau von Bonussystemen und anderen Formen der Gewinnbeteiligung. Erste Ergebnisse einer entsprechenden Interventionsstudie bei Krankenhauspersonal verweisen auf gnstige gesundheitliche Effekte entsprechender Maßnahmen (Bourbonnais et al., 2006). Ebenso wird eine Strkung nicht-monetrer Gratifikationen erforderlich, beispielsweise in Form der Fçrderung eines innerbetrieblichen Achtungsmarktes beziehungsweise einer inner- und berbe-
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
177
trieblichen Anerkennungskultur. Honorierung von Betriebstreue und qualifikationsgerechte Aufstiegsmçglichkeiten sind schließlich ebenso von Bedeutung wie die Zusicherung von Beschftigungsgarantien, soweit wirtschaftliche Stabilitt im Unternehmen gegeben ist. Weitere nicht-monetre Belohnungsanreize kçnnen in einer den individuellen Bedrfnissen besser entsprechenden Arbeitszeitgestaltung sowie – bei Großunternehmen – in einem Angebot betriebsinterner Dienstleistungen (z. B. Betriebssport, Betriebskindergarten) bestehen. Von solchen Maßnahmen wrden insbesondere weibliche Beschftige profitieren, da sie hufiger als Mnner einer Doppelbelastung durch berufliche und familire Anforderungen ausgesetzt sind. Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen fr eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf trgt somit auch zur Gesundheitsfçrderung bei. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse bieten darber hinaus Ansatzpunkte der Prvention auf interpersoneller und personaler Ebene. Erstere beinhaltet beispielsweise eine Verbesserung des Fhrungsverhaltens sowie die Fçrderung der Teamarbeit, letztere schließt Maßnahmen der individuellen Stressbewltigung (z. B. Abbau bersteigerter Verausgabungsneigung) mit ein (Theorell et al., 2001). Fr die Gestaltung des Ehrenamtes und anderer Formen brgerschaftlichen Engagements sowie fr die Verbesserung der Situation von Personen, die ber einen lngeren Zeitraum durch die Pflege Angehçriger belastet sind, ergeben sich ebenfalls praktische Folgerungen mit gesundheitsfçrdernder Wirkung auf verschiedenen Ebenen. Sie reichen von sozialpolitischen Verbesserungen und einer Ausweitung des Angebots produktiven Rollenhandelns ber eine verbesserte gesellschaftliche Anerkennung dieser Arbeit bis hin zu Schulungs-, Untersttzungs- und Entlastungsmaßnahmen Betroffener. Insbesondere fr die wachsende Zahl motivierter und engagierter lterer gilt es, das Spektrum der Opportunitten sozialer Produktivitt zu erweitern und die Qualitt entsprechender Angebote unter den Aspekten verbesserter Chancen von Anerkennung zu gestalten. Auf diese Weise kçnnte es gelingen, zumindest indirekt einen Beitrag zum gesunden Altern zu leisten. Fr prventive, therapeutische und rehabilitative Maßnahmen im Bereich gestçrter enger sozialer Beziehungen stehen bereits erprobte Interventionsprogramme zur Verfgung (z. B. Paartherapie, Familientherapie). Sie kçnnen dazu beitragen, Verletzungen, die aus ungerechten sozialen Austauschbeziehungen resultieren, zu lindern und ihrer Rezidivierung vorzubeugen. Gelingt es, in grçßerem Umfang in zentralen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens angemessene soziale Anerkennung zu gewhren und die goldene Regel sozialer Reziprozittsverpflichtung zu befolgen, so lassen sich nach dem Gesagten weitreichende gesundheitsfçrdernde Effekte erwarten. Einer Medizin der Beziehung, welche dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, ist in Zukunft eine wirkungsvolle Verbreitung zu wnschen.
178
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Literatur Boersch-Supan, A., Brugiavini, A., Jrges, H., Mackenbach, J., Siegrist, J., Weber, G. (2005). Health, ageing and retirement in Europe. First results from the Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe. Mannheim Research Institute for the Economics of Ageing, Mannheim. Bosma, H., Peter, R., Siegrist, J., Marmot, M. (1998). Two alternative job stress models and the risk of coronary heart disease. American Journal of Public Health, 88, 68 – 74. Bourbonnais, R., Brisson, C., Vinet, A., Vezina, M., Lower, A. (2006). Development and implementation of a participative intervention to improve the psychosocial work environment and mental health in an acute care hospital. Occupational and Environmental Medicine, 63, 326 – 334. Brunner, E.J., Kivimki, M., Siegrist, J., Theorell, T., Luukkonen, R., Riihimaki, H., Vahtera, J., Kirjonen, J., Leino-Arjas, P. (2004). Is the effect of work stress confounded by socio-economic factors in the Valmet study? Journal of Epidemiology and Community Health, 58, 1019 – 1020. Chandola, T., Marmot, M., Siegrist, J. (2007). Failed reciprocity in close social relationships and health: Findings from the Whitehall II-Study. Journal of Psychosomatic Research (in press). Doyal, L., Gough, I. (1991). A Theory of Human Need. London: Macmillan. Esser, H. (1999). Soziologie. Spezielle Grundlagen. Frankfurt a. M.: Campus. Godin, I., Kittel, F., Coppieters, Y., Siegrist, J. (2005). A prospective study of cumulative job stress in relation to mental health. BMC Public Health, 5, 67. Gouldner, A. (1960). The norm of reciprocity : A preliminary statement. American Sociology Review, 2S, 176 – 177. Hamer, M., Williams, E., Vuonovirta, Giacobazzi, R. P., Gibson, E. L., Steptoe, A. (2006). The effects of effort-reward imbalance on inflammatory and cardiovascular responses to mental stress. Psychosomatic Medicine, 68, 408 – 413. Hurwitz Eller, N., Netterstrom, B. und Hansen, A. M. (2006). Psychosocial factors at home and at work and levels of salivary cortisol. Biological Psychology, 73, 280 – 287. Kivimki, M., Leino-Arjas, P., Luukkonen, R., Riihimki, H., Vahtera, J., Kirjonen, J. (2002). Work stress and risk of cardiovascular mortality : Prospective cohort study of industrial employees. British Medical Journal, 325, 857 – 860. Kivimki, M., Vahtera, J., Elovainio, M., Virtanen, M., Siegrist, J. (2007). Effortreward imbalance, procedural injustice and relational injustice as psychosocial predictors of health: Complementary or redundant models? Occupational & Environmental Medicine (online: Jan 2007; doi:10.1136/oem.2006.031310). Knesebeck, O. v. d., Siegrist, J. (2003). Reported non-reciprocity of social exchange and depressive symptoms. Extending the model of effort-reward imbalance beyond work. Journal of Psychosomatic Research, 55, 209 – 214.
Johannes Siegrist: Gratifikationskrisen
179
Knesebeck, O. v. d., Siegrist, J. (2004). Mangelnde Reziprozitt in engen sozialen Beziehungen, Depressivitt und eingeschrnkte subjektive Gesundheit. Sozialund Prventivmedizin 49, 336 – 43. Kuper, H., Singh-Manoux, A., Siegrist, J., Marmot, M. (2002). When reciprocity fails: Effort-reward imbalance in relation to coronary heart disease and health functioning within the Whitehall II Study. Journal of Occupational & Environmental Medicine, 59, 777 – 784. Lee, S., Colditz, G.A., Berkman, L.F., Kawachi, I. (2003). Caregiving and risk of coronary heart disease in U.S. women: A prospective study. American Journal of Preventive Medicine, 24, 113 – 119. Lynch, J., Krause, N., Kaplan, G.A., Tumilehto, J., Salonen, J.T. (1997). Workplace conditions, socioeconomic status, and the risk of mortality and acute myocardial infarction: The Kupio Ischemic Heart Disease Risk Factor Study. American Journal of Public Health, 87, 617 – 622. McEwen, B. (1998). Protective and damaging effects of stress mediators. New England Journal of Medicine, 338, 171 – 179. Murray, C., Lopez, A. (1996). The global burden of disease. Boston: Harvard University Press. Popitz, H. (1967). Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Tbingen: Mohr (Paul Siebeck). Rensing, L., Koch, M., Rippe, B., Rippe, V. (2006). Mensch im Stress. Mnchen: Elsevier. Rudish, B., Nemeroff, C. B. (2003) Epidemiology of comorbid coronary artery disease and depression. Biological Psychiatry, 54, 227 – 240. Schultz, W., Dayan, P., Montague, P.R. (1997). A neural substrate of prediction and reward. Science 275, 1593 – 1599. Schulz, R., Beach, S. R. (1999). Caregiving as a risk factor for mortality. The Caregiver Health Effects Study. Journal of the American Medical Association, 282, 2215 – 2219. Siegrist, J. (1996). Adverse health effects of high-effort/low-reward conditions. Journal of Occupational Health Psychology, 1, 27 – 41. Siegrist, J. (1998). Reciprocity in basic social exchange and health: Can we reconcile person-based with population-based psychosomatic research? Journal of Psychosomatic Research, 45, 99 – 105 Siegrist, J. (2005). Social reciprocity and health: New scientific evidence and policy implications. Psychoneuroendocrinology, 30, 1033 – 1038. Siegrist, J., Peter, R., Junge, A., Cremer, P., Seidel, D. (1990). Low status control, high effort at work and ischemic heart disease: Prospective evidence from blue-collar men. Social Science & Medicine, 42, 1129 – 1136. Siegrist, J., Knesebeck, O. v. d., Pollack, C. E. (2004). Social productivity and wellbeing of older people: A sociological exploration. Social Theory & Health, 2, 1 – 17. Simmel, G. (1958). Soziologie. Berlin: Duncker & Humblot. Stansfeld, S. A., Fuhrer, R., Shipley, M. J. und Marmot, M. G. (1999). Work characteristics predict psychiatric disorder: Prospective results from the Whitehall II Study. Occupational & Environmental Medicine, 56, 302 – 307.
180
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Stansfeld, S. A., Marmot, M. G. (eds.) (2002). Stress and the heart. London: BMJ Publishers. Steptoe, A., Siegrist, J., Kirschbaum, C., Marmot, M. (2004). Effort-reward imbalance, overcommitment, and measures of cortisol and blood pressure over the working day. Psychosomatic Medicine, 66, 323 – 329. Theorell, T., Emdad, R., Arnetz, B., Weingarten, A. M. (2001). Employee effects of an educational program for managers at an insurance company. Psychosomatic Medicine, 63, 724 – 733. Tress,W., Kruse, J., Ott, J. (2004). Psychosomatische Grundversorgung. Kompendium der interpersonellen Medizin. Stuttgart: Schattauer. Vrijkotte, D. G. M., Doornen, L. J. P. van, de Geus, E. J. C. (2000). Effect of work stress on ambulatory blood pressure, heart rate, and heart rate variability. Hypertension, 35, 880 – 86. Wahrendorf, M., Knesebeck, O. v. d. und Siegrist, J. (2006). Social productivity and well-being of older people: Baseline results from the SHARE study. European Journal of Ageing, 3, 67 – 73. Wege, N., Dragano, N., Moebus, S., Stang, A., Erbel, R., Jçckel, K.H., Siegrist, J. (2007). When does work stress work? Testing the interaction with socio-economic position in the Heinz-Nixdorf Recall Study. Journal of Epidemiology and Community Health (in press).
Norbert Schmitz Depression und somatische chronische Erkrankungen – Eine epidemiologische Perspektive
Depressionen gehçren mit zu den hufigsten psychischen Erkrankungen. Insbesondere die Major Depression fhrt zu einer hohen funktionellen Beeintrchtigung, reduzierten Lebensqualitt und Arbeitsunfhigkeit (Murray u. Lopez, 1997; Kessler et al., 2003a). Seit vielen Jahren wird konsistent ber eine enge Beziehung zwischen psychischen und somatischen Stçrungen berichtet. Die Hufigkeit depressiver Stçrungen bei Patienten mit somatischen Erkrankungen liegt zwischen 3 % und 6 % in Bevçlkerungsstudien (Kessler et al., 2003a), 5 % und 10 % in Hausarztstudien (Simon et al., 2002) und 8 % und 15 % in Studien mit stationren Patienten (Hansen et al., 2001). Die Komorbiditt von Depressionen und chronischen somatischen Erkrankungen ist mit einer erhçhten funktionellen Beeintrchtigung verbunden. Es gibt einige Hinweise darauf, dass diese Komorbiditt mçglicherweise einen negativen synergistischen, das heißt sich gegenseitig verstrkenden Effekt hat: Die funktionelle Beeintrchtigung von Patienten mit Depressionen und komorbider somatischer chronischer Erkrankung ist oft wesentlich grçßer als die Beeintrchtigung von Patienten mit Depressionen ohne chronische somatische Erkrankung beziehungsweise von Patienten mit chronischen somatischen Erkrankungen ohne Depressionen. Egede (2004) zeigte zum Beispiel einen solchen Zusammenhang fr Major Depression und Diabetes in dem National Health Interview Survey in den USA: Patienten mit Diabetes und Major Depression hatten ein deutlich hçheres Risiko fr funktionelle Beeintrchtigung (Odds Ratio = 7.15, 95 % CI 4.53 – 11.28) als Patienten mit Depressionen ohne Diabetes (Odds Ratio = 3.00, 95 % CI 2.62 – 3.42) und Patienten mit Diabetes ohne Depressionen (Odds Ratio = 2.42, 95 % CI 2.10 – 2.79). hnliche Zusammmenhnge wurden auch in anderen Studien gefunden, zum Beispiel bei Patienten mit Asthma und komorbider Depression (Goethe et al., 2001) und bei Patienten mit Herzerkrankungen und komorbider Depression (Carels et al., 2004). Wie lsst sich die Interaktion von Depression und chronischer somatischer Erkrankung und ihre Auswirkung auf die funktionelle Beeintrchtigung methodisch beschreiben? Handelt es sich hier um einen additiven Effekt, das
182
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
heißt, wirken sich beide Erkrankungen unabhngig voneinander auf die funktionelle Beeintrchtigung aus, oder handelt es sich um einen synergistischen, das heißt sich gegenseitig verstrkenden Effekt? Wie lassen sich beide Effekte voneinander abgrenzen? In diesem Beitrag soll der Ansatz von Rothman (1998) zur Bestimmung von synergistischen Effekten kurz vorgestellt und am Beispiel einer kanadischen Studie diskutiert werden. Eine ausfhrlichere Diskussion findet sich bei Schmitz und Mitautoren (2007a).
Stichprobe und Methode Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um den Canadian Community and Health Survey 3.1. Dieser Survey basiert auf einer reprsentativen Bevçlkerungsstichprobe und wurde zwischen Januar und Dezember 2005 von Statistics Canada durchgefhrt. Major Depression (12 Monatsprvalenz) wurde mit Hilfe des Composite International Diagnostic Interview-Short Form for Major Depression (CIDI-SFMD) erfasst (Kessler et al., 1998). Chronische Erkrankungen basierten auf Selbstauskunft. Ausgehend von einer Liste mit 30 chronischen Erkrankungen wurden Probanden gefragt, ob bei ihnen diese Erkrankungen jemals von einem Arzt diagnostiziert wurden. In dem vorliegenden Beitrag werden die hufigsten chronischen Erkrankungen betrachtet: Diabetes, Asthma, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Ulcus, Arthritis, Migrne, und Rckenschmerzen. Funktionelle Beeintrchtigung wurde mit mehreren Instrumenten erhoben, die folgenden Analysen basieren auf den Beeintrchtigungstagen. Hierzu wurden Probanden gefragt, an wie vielen Tagen in den letzten beiden Wochen sie aufgrund einer Erkrankung im Bett bleiben mussten, einen stationren Klinikaufenthalt hatten oder aufgrund einer Erkrankung ihren tglichen Aktivitten nicht nachgehen konnten. Beeintrchtigungstage wurden aufgrund der asymmetrischen Verteilung in fnf Kategorien eingeteilt: kein Tag, 1 – 2 Tage, 3 – 5 Tage; 6 – 13 Tage und 14 Tage. Insgesamt liegen Daten von 71390 Probanden im Alter zwischen 15 und 79 Jahren vor. Alle Probanden nahmen freiwillig an der Studie teil und gaben eine Einverstndniserklrung an Statistics Canada. Die folgenden Analysen basieren auf einem Public Use File. Mit Hilfe von ordinalen logistischen Regressionsmodellen wurde der Zusammenhang zwischen Depression und chronischer Erkrankungen auf der einen Seite und funktioneller Beeintrchtigung auf der anderen Seite beschrieben. Die ordinale logistische Regression ist eine Erweiterung der klassischen binren logistischen Regression fr geordnete kategoriale OutcomeVariablen. Im ordinalen Regressionsmodell wird ein Odds Ratio fr die Be-
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
183
ziehung zwischen einer Prdiktorvariablen und einer hçher versus niedrigeren Outcome-Kategorie bestimmt (ein und mehr Beeintrchtigungstage versus keine Beeintrchtigungstage; drei und mehr Beeintrchtigungstage versus zwei und weniger Beeintrchtigungstage; sechs und mehr Beeintrchtigungstage versus fnf und weniger Beeintrchtigungstage; vierzehn Beeintrchtigungstage versus dreizehn und weniger Beeintrchtigungstage). Zur Modellierung der Wechselwirkung Depression – chronische Erkrankung wurden vier diagnostische Kategorien definiert: a) ohne chronische Erkrankung und ohne Major Depression (Referenzkategorie); b) chronische Erkrankung ohne Major Depression; c) Major Depression ohne chronische Erkrankung und d) Major Depression und chronische Erkrankung. Mit Hilfe der ordinalen logistischen Regression wurden die Odds Ratios fr Beeintrchtigungstage fr die individuellen Kategorien bestimmt. Dabei wurde fr Geschlecht, Alter, Familienstand, Ausbildung und Berufsttigkeit kontrolliert. Um die Wechselwirkung besser beschreiben zu kçnnen, wurde ein Synergie-Index nach Rothman berechnet. Diesem Index liegt die folgende Idee zugrunde: wenn zwei Risikofaktoren unabhngig voneinander wirken, ist der Effekt additiv, das heißt, das gemeinsame Risiko ist die Summe der einzelnen Risiken. Wenn das gemeinsame Risiko allerdings grçßer ist als die Summe der Einzelrisiken, spricht man von einer Interaktion der Risikofaktoren, die eine Wechselwirkung der Risikofaktoren nahelegt. In einem logistischen Regressionsmodell kann der Synergie-Index wie folgt bestimmt werden: SI = ORcd – ORc – ORd + 1. Dabei ist ORcd das Odds Ratio fr Major Depression und chronische Erkrankung, ORc das Odds Ratio fr chronische Erkrankung ohne Major Depression und ORd das Odds Ratio fr Major Depression ohne chronische Erkrankung. Ein Synergie-Index grçßer null ist ein Hinweis fr eine mçgliche Wechselwirkung der Risikofaktoren. Ein SynergieIndex von null hingegen schlgt einen additiven Effekt und somit keine Wechselwirkung vor. Ein Konfidenzintervall fr den Synergie-Index kann mit Hilfe eines Bootstrap-Ansatzes bestimmt werden, dazu wurden in der vorliegenden Studie 2000 Stichproben (mit zurcklegen) gezogen, der SynergieIndex fr jede Stichprobe berechnet und die empirische Verteilung des Synergie-Index bestimmt. Mit den 2.5- und 97.5-Perzentilen dieser Verteilung kann das empirische Konfidenzintervall bestimmt werden. Dieser Ansatz bietet sich besonders bei komplexen Surveydesigns an.
184
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Ergebnisse Die 12-Monats-Prvalenz von Major Depression in dieser Stichprobe betrug 5 %, mehr als 3 % aller Teilnehmer erfllten die Kriterien einer Major Depression und hatten mindestens eine chronische Erkrankung. Weniger als die Hlfte aller Teilnehmer (44,7 %) hatten mindestens eine der hier betrachteten chronischen Erkrankungen aber keine Major Depression. Weniger als ein Sechstel der Probanden hatten mindestens einen Beeintrchtigungstag in den letzten beiden Wochen (einen oder zwei Tage: 6,9 %; drei bis fnf Tage: 4,2 %; 6 bis 13 Tage: 2,5 %; 14 Tage: 2,8 %). »Rckenprobleme« war die hufigste chronische Erkrankung (18,2 %), gefolgt von Arthritis (15,4 %), Bluthochdruck (14,4 %), Migrne (10,1 %), Asthma (8,5 %), Diabetes (4,9 %), Herzerkrankungen (4,7 %), und Ulcus (3,1 %). Alter- und Geschlechtsverteilungen fr die unterschiedlichen diagnostischen Kategorien sind in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 2 zeigt die Prvalenz von Beeintrchtigungstagen sowie die adjustierten Odds Ratios und den SynergieIndex fr die vier diagnostischen Kategorien. Fast jeder zweite Teilnehmer mit einer chronischen Erkrankung und einer komorbiden depressiven Stçrung hatte mindestens einen Beeintrchtigungstag in den letzten beiden Wochen. Probanden mit einer komorbiden Erkrankung hatten auch ein deutlich hçheres Risiko fr Beeintrchtigungstage (OR = 7.46) als Probanden mit chronischer Erkrankung ohne Depression (OR = 2.16) und Probanden mit Depressionen ohne chronische Erkrankungen (OR = 2.61). Der Synergie-Index ist deutlich grçßer als Null und die Null ist nicht im Konfidenzintervall enthalten. Dies ist ein Hinweis auf einen mçglichen interaktiven Effekt der beiden Risikofaktoren. Eine detaillierte Beschreibung fr die einzelnen chronischen Erkrankungen findet sich in Tabelle 3. Es zeigt sich ein hnliches Bild fr alle chronischen Erkrankungen: Psychisch-somatische Komorbiditt ist mit einer deutlich hçheren funktionellen Beeintrchtigung verbunden als Depression ohne chronische somatische Erkrankung und somatische chronische Erkrankung ohne Depression. Die grçßten Effekte wurden fr Arthritis und Herzerkrankungen gefunden.
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
185
Tabelle 1: Demographische Merkmale der diagnostischen Gruppen Anzahl der Pro- Frauen Alter 15 – banden % (SE) 24 Jahre % (SE) Diabetes 4 276 Ohne Diabet u. ohne De- 63 342 pression Diabetes ohne Depression 4 047 Depression ohne Diabetes 3 525 Diabetes u. Depression
229
Asthma 6 306 Ohne Asthma u. ohne De- 61 683 pression Asthma ohne Depression 5 745 Depression ohne Asthma
3 199
Asthma u. Depression
561
Bluthochdruck (BHD) Ohne BHD u. ohne Depression BHD ohne Depression
12 891 55 079
Depression ohne BHD
3 110
BHD u. Depression
638
12 253
Herzerkrankungen (HEK) 4 521 Ohne HEK u. ohne De63 080 pression HEK ohne Depression 4 296 Depression ohne HEK
3 530
HEK u. Depression
225
Alter 45 – 79 Jahre % (SE)
50,0 (0.3) 46,6 (1.2) 64,4 (1.2) 67,4 (4.6)
21,9 (0.3)
42,6 (0.3)
2,6 (0.5)
86,0 (0.9)
24,1 (1.1)
33,9 (1.3)
5,2 (2.9)
77,4 (4.7)
49,1 (0.3) 58,3 (1.0) 62,8 (1.3) 75,4 (2.5)
20,4 (0.3)
45,1 (0.3)
27,7 (0.9)
38,7 (1.0)
23,0 (1.2)
35,3 (1.3)
24,7 (2.8)
40,7 (3.2)
49,3 (0.3) 53,4 (0.7) 64,5 (1.3) 66,6 (2.7)
24,0 (0.3)
37,8 (0.3)
1,3 (0.2)
88,4 (0.5)
26,5 (1.2)
30,1 (1.3)
2,3 (0.8)
73,6 (2.6)
50,2 (0.3) 41,9 (1.1) 64,9 (1.2) 57,1 (4.6)
21,7 (0.3)
42,7 (0.3)
2,8 (0.4)
89,1 (0.9)
24,1 (1.1)
34,1 (1.2)
3,0 (1.2)
81,5 (4.0)
186
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Tabelle 1: (Fortsetzung) Anzahl der Pro- Frauen Alter 15 – banden % (SE) 24 Jahre % (SE)
Alter 45 – 79 Jahre % (SE)
2 479 65 175
Ulcus Ohne Ulcus u. ohne Depression Ulcus ohne Depression
2 178
Depression ohne Ulcus
3 455
Ulcus u. Depression
301
Arthritis (AR) 14 279 Ohne AR u. ohne Depres- 54 011 sion AR ohne Depression 13 355 Depression ohne AR
2 823
AR u. Depression
924
Rckenprobleme (RP) 13 948 Ohne RP u. ohne Depres- 54 732 sion RP ohne Depression 12 675 Depression ohne RP
2 485
RP u. Depression
1 273
Migrne 7 015 Ohne Migrne u. ohne 61 250 Depress. Migrne ohne Depression 6 177 Depression ohne Migrne 2 921
49,8 (0.3) 52,1 (1.7) 64,6 (1.2) 63,9 (4.5)
21,4 (0.3)
44,0 (0.3)
7,3 (0.9)
61,3 (1.7)
24,3 (1.1)
35,0 (1.3)
9,6 (2.2)
47,9 (4.4)
47,7 (0.3) 61,9 (0.7) 63,6 (1.4) 68,7 (2.6)
24,1 (0.3)
38,1 (0.3)
1,8 (0.2)
84,2 (0.6)
28,4 (1.3)
27,0 (1.4)
2,3 (0.6)
72,1 (1.4)
49,6 (0.3) 51,1 (0.7) 63,6 (1.5) 66,6 (2.0)
23,1 (0.3)
42,3 (0.3)
11,0 (0.4)
55,3 (0.7)
26,7 (1.4)
33,0 (1.5)
15,7 (1.6)
42,4 (2.1)
47,8 (0.3) 69,3 (0.9) 60,8 (1.4)
22,1 (0.3)
45,3 (0.3)
18,9 (0.7)
37,6 (0.9)
23,9 (1.2)
35,8 (1.4)
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
187
Tabelle 1: (Fortsetzung)
Migrne u. Depression
Anzahl der Pro- Frauen Alter 15 – banden % (SE) 24 Jahre % (SE)
Alter 45 – 79 Jahre % (SE)
838
36,8 (2.5)
77,7 (2.0)
21,0 (1.0)
Anmerkung: Gewichtete Daten sind dargestellt. SE = Standard Error
Tabelle 2: Ergebnisse der ordinalen logistischen Regression und Synergie Index Beeintrchtigungs- Adjustierte2 Adjustierter2 tage1 Odds Ratios Synergie (95 %CI) Index % (SE) (95 %CI) Chronische Erkrankungen3 Ohne chronische Erkrankungen u. ohne Depression Chronische Erkrankungen ohne Depression Depression ohne chronische Erkrankungen Chronische Erkrankungen u. Depression
11,0 (0.3)
Referenz
19,8 (0.3)
2.16 (2.01 bis 2.31) 2.61 (2.15 bis 3.17) 7.46 (6.56 bis 8.49)
26,0 (1.8) 47,1 (1.5)
3.69 (2.52 bis 4.83)
Anmerkungen: SE = Standard Error ; CI = Konfidenzintervall Gewichtete Daten sind dargestellt. 1 Probanden mit mindestens einem Beeintrchtigungstag 2 Adjustiert fr Geschlecht, Alter, Familienstand, Ausbildung und Berufsttigkeit 3 Mindestens eine der im Methodenteil beschriebenen chronischen Erkrankungen
Diskussion Die vorliegende Studie zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Major Depression, chronischen somatischen Erkrankungen und funktioneller Beeintrchtigung in der Allgemeinbevçlkerung. Mehr als 17 Prozent aller Beeintrchtigungstage in den letzten beiden Wochen standen im Zusammenhang mit einer Major Depression. Probanden mit einer somatischen chronischen Erkrankung und einer komorbiden Depression haben ein deutlich hçheres Risiko fr Beeintrchtigungstage als Probanden mit somatischer Erkrankung ohne Depression und Probanden mit Depression ohne somatischer Erkrankung. hnliche Zusammenhnge wurden ebenfalls von Kessler, Ormel, Demler und Stang (2003b) und Patten (1999) berichtet. Eine aktuelle
188
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Tabelle 3: Ergebnisse der ordinalen logistischen Regression fr diagnostische Kategorien Beeintrchtigungs- Adjustierte2 tage1 Odds Ratios (95 %CI) % (SE) Diabetes Ohne Diabetes u. ohne Depression Diabetes ohne Depression
15,0 (0.2)
Referenz
17,8 (0.9)
Depression ohne Diabetes
38,8 (1.2)
Diabetes u. Depression
44,2 (5.6)
1.17 (1.03 bis 1.34) 3.13 (2.81 bis 3.48) 4.34 (2.62 bis 7.21)
Asthma Ohne Asthma u. ohne Depression Asthma ohne Depression
14,4 (0.2)
Referenz
23,3 (0.8)
Depression ohne Asthma
36,3 (1.3)
Asthma u. Depression
56,0 (3.1)
1.55 (1.41 bis 1.72) 2.97 (2.65 bis 3.34) 5.72 (4.58 bis 7.13)
Bluthochdruck (BHD) Ohne BHD u. ohne Depression BHD ohne Depression
15,0 (0.2)
Referenz
16,4 (0.5)
Depression ohne BHD
37,7 (1.3)
BHD u. Depression
46,9 (2.9)
1.06 (0.97 bis 1.17) 2.94 (2.62 bis 3.30) 4.07 (3.76 bis 6.11)
Herzerkrankungen (HEK) Ohne HEK u. ohne Depression HEK ohne Depression
14,8 (0.2)
Referenz
22,8 (1.0)
Depression ohne HEK
38,5 (1.2)
1.66 (1.46 bis 1.90) 3.13 (2.81 bis 3.48)
Adjustierter2 Synergy Index (95 %CI)
1.04 ( 0.11 bis 2.35)
2.20 ( 1.12 bis 3.41)
1.07 ( 0.15 bis 2.24)
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
189
Tabelle 3: (Fortsetzung)
HEK u. Depression
Beeintrchtigungs- Adjustierte2 tage1 Odds Ratios (95 %CI) % (SE)
Adjustierter2 Synergy Index (95 %CI)
52,6 (4.6)
3.74 ( 1.01 bis 6.52)
Ulcus Ohne Ulcus u. ohne Depres- 14,8 (0.2) sion Ulcus ohne Depression 26,3 (1.5) Depression ohne Ulcus
37,7 (1.3)
Ulcus u. Depression
56,3 (4.5)
Arthritis (AR) Ohne AR u. ohne Depression 13,9 (0.2) AR ohne Depression 22,5 (0.6) Depression ohne AR
34,5 (1.3)
AR u. Depression
57,3 (2.6)
Rckenprobleme (RP) Ohne RP u. ohne Depression 12,9 (0.2) RP ohne Depression 25,9 (0.6) Depression ohne RP
31,9 (1.4)
RP u. Depression
54,3 (2.1)
7.53 (4.97 bis 11.4)
Referenz 1.85 (1.57 bis 2.17) 3.10 (2.78 bis 3.45) 6.00 (4.22 bis 8.56)
2.05 ( 0.24 bis 4.01)
Referenz 1.85 (1.70 bis 2.02) 2.77 (2.45 bis 3.12) 8.91 (7.12 bis 11.1)
5.29 ( 3.17 bis 7.33)
Referenz 2.22 (2.06 bis 2.40) 2.92 (2.55 bis 3.34) 6.66 (5.66 bis 7.82)
2.52 ( 1.10 bis 3.95)
Migrne Ohne Migrne u. ohne Depress. Migrne ohne Depression
14,0 (0.2)
Referenz
26,6 (0.8)
Depression ohne Migrne
33,9 (1.3)
1.86 (1.69 bis 2.04) 2.93 (2.58 bis 3.31)
190
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Tabelle 3: (Fortsetzung)
Migrne u. Depression
Beeintrchtigungs- Adjustierte2 tage1 Odds Ratios (95 %CI) % (SE)
Adjustierter2 Synergy Index (95 %CI)
57,3 (2.4)
2.36 ( 0.71 bis 4.06)
6.15 (5.08 bis 7.44)
Anmerkungen: SE = Standard Error ; CI = Konfidenzintervall Gewichtete Daten sind dargestellt. 1 Probanden mit mindestens einem Beeintrchtigungstag 2 Adjustiert fr Geschlecht, Alter, Familienstand, Ausbildung, Berufsttigkeit, und anderen chronischen Erkrankungen
Studie der Weltgesundheitsorganisation kommt zu vergleichbaren Aussagen (Moussavi et al., 2007). Es ist unklar, warum Major Depression und chronische Erkrankungen einen synergistischen Effekt auf die funktionelle Beeintrchtigung haben. Biologische, psychologische und soziale Faktoren scheinen hier eine Rolle zu spielen. Depression ist eine mehrdimensionale Stçrung, die neben einer psychischen auch eine somatische Komponente hat und zu Vernderungen im endokrinen und kardiovaskulren Systems fhrt (Jiang, Krishnan u. O’Connor, 2002; McEwen, 2000). Solche Interaktionen kçnnen sich negativ auf die funktionelle Beeintrchtigung auswirken. Depressive Stçrungen kçnnen sich auf die Behandlung chronischer Erkrankungen auswirken und somit zu einem negativen Outcome fhren. So kann sich eine depressive Symptomatik negativ auf das allgemeine Gesundheitsverhalten auswirken (z. B. Ernhrung und kçrperliche Aktivitt bei Diabetes), was wiederum zu Entwicklung von Folgeerkrankungen und einem erhçhten Morbidittsrisiko fhren kann. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich eine depressive Erkrankung auch negativ auf die Compliance in der Arzt-Patient-Beziehung auswirken kann. In diesem Fall werden medizinische Leistungen weniger oder verzçgert in Anspruch genommen oder die rztliche Empfehlung wird nicht umgesetzt (DiMatteo, Lepper u. Croghan, 2000). Dies fhrt dann oft zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Ein gutes soziales Netzwerk spielt auch eine wichtige Rolle und kann sich protektiv auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirken. Neben den hier genannten Faktoren gibt es eine Reihe weiterer Erklrungsanstze, so zum Beispiel das Stresskonzept von Allostase/Allostatic Load (McEwen, 1998), neurohormonale und neuroendokrinologische Faktoren (Levy u. Davis, 1983), genetische Faktoren (Kendler, Gardner u. Prescott, 2002) sowie Kindheitsbelastungsfaktoren (Kendler et al., 2002). Die hier genannten Faktoren schließen sich nicht gegenseitig aus, es ist wahrscheinlich, dass mehrere Erklrungsanstze zutreffen.
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
191
Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf einer Querschnittsstudie, sodass sich keine Aussage bezglich Kausalitt machen lassen. Es ist mçglich, dass Depression oder depressive Symptome ein Risikofaktor fr funktionelle Beeintrchtigung sind, ebenso ist es mçglich, dass die depressiven Symptome eine Reaktion der funktionellen Beeintrchtigung sind. Ferner ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu bercksichtigen, dass die chronischen Erkrankungen ausschließlich auf Selbstauskunft basieren und dass mit den Beeintrchtigungstagen nur ein Teilaspekt einer funktionellen Beeintrchtigung bercksichtigt wurde. Hier befinden wir uns aber in einem typischen Forschungsdilemma: Auf der einen Seite bençtigen wir große Stichproben auf Bevçlkerungsebene, um mçgliche Interaktionen zwischen psychischen und somatischen Erkrankungen zu analysieren. Auf der anderen Seite fehlen in diesen großen Surveys aber krankheitsspezifische Informationen, wie zum Beispiel Dauer und Schwere der Erkrankung. Diese Querschnittsstudien in der Allgemeinbevçlkerung sind trotz der oben genannten Einschrnkungen wichtig und hilfreich, um einen Gesamteindruck ber die Zusammenhnge zu bekommen. Ausgehend von den Ergebnissen in diesen Studien kçnnen weitere prospektive Bevçlkerungsstichproben fr einzelne chronische Erkrankungen geplant und durchgefhrt werden. So ist zum Beispiel die Interaktion von Risikofaktoren in Lngsschnittstudien von besonderem Forschungsinteresse. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl geeigneter und validierter Forschungsinstrumente (z. B. Fragebçgen), die sich in großen epidemiologischen Studien einsetzen lassen (z. B. Instrumente zur krankheitsspezifischen Lebensqualitt, Instrumente zur Messung von Risikofaktoren wie Alkoholkonsum, kçrperliche Aktivitt etc.). Von methodischer Seite stehen geeignete statistische Verfahren zur Verfgung, die eine Modellierung der Interaktion von Risikofaktoren ermçglichen (Schmitz u. Kruse, 2007b). Hier sind besonders Strukturgleichungsmodelle und hierarchische lineare Modelle zu nennen. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Einbeziehung klinischer Parameter (z. B. Blut- und Urinproben) in prospektiven Studien, wie es zum Beispiel beim Bundesgesundheitssurvey auf Querschnittsebene durchgefhrt wurde. Die Analyse der psychosomatischen Komorbiditt auf Bevçlkerungsebene liefert nicht nur wichtige Forschungserkenntnisse, sondern hat auch große praktische Relevanz bei der Entwicklung von Maßnahmen und Programmen zur integrierten Versorgung. Risikogruppen lassen sich auf Bevçlkerungsebene identifizieren. Spezifische Behandlungsprogramme kçnnen entwickelt und mit Hilfe von randomisierten, kontrollierten klinischen Studien auf ihre Wirksamkeit hin berprft werden.
192
Teil 2: Epidemiologische und prventionsorientierte Beitrge
Anmerkung Die hier vorgestellten Analysen basieren auf dem Public Use File des Canadian Community Health Survey, Cycle 3.1, von Statistics Canada. Die Analysen und Interpretationen erfolgten von Norbert Schmitz und spiegeln nicht die offizielle Meinung von Statistics Canada wider.
Literatur Carels, R. A. (2004). The association between disease severity, functional status, depression and daily quality of life in congestive heart failure patients. Quality of Life Research, 13, 63 – 72. DiMatteo, M. R., Lepper, H. S., Croghan, T. W. (2000). Depression is a risk factor for noncompliance with medical treatment: Meta analysis of the effects of anxiety and depression on patient adherence. Archives of Internal Medicine, 160, 2101 – 2107. Egede, L. E. (2004). Diabetes, major depression, and functional disability among US adults. Diabetes Care, 27, 421 – 428. Goethe, J. W., Maljanian, R., Wolf, S., Hernandez, P., Cabrera, Y. (2001). The impact of depressive symptoms on the functional status of inner-city patients with asthma. Annals of Allergy Asthma & Immunology, 87, 205 – 210. Hansen, M. S., Fink, P., Frydenberg, M., Oxhoj, M. L., Sondergaard, L., MunkJorgensen, P. (2001). Mental disorders among internal medical inpatients – Prevalence, detection, and treatment status. Journal of Psychosomatic Research, 50, 199 – 204. Jiang, W., Krishnan, R. R. K., O’Connor, C. M. (2002). Depression and heart disease – Evidence of a link, and its therapeutic implications. CNS Drugs, 16, 111 – 127. Kendler, K., Gardner, C., Prescott, C. (2002). Toward a comprehensive developmental model for major depression in women. American Journal of Psychiatry, 159, 1133 – 1145. Kessler, R. C., Andrews, G., Mroczek, D., Ustun, B., Wittchen, H. U. (1998). The World Health Organization composite International Diagnostic Short-Form (CIDI-SF). International Journal of Methods in Psychiatric Research, 7, 171 – 85. Kessler, R. C., Berglund, P., Demler, O., Jin, R., Koretz, D., Merikangas, K. R., Rush, A. J., Walters, E. E., Wang, P. S. (2003a). The epidemiology of major depressive disorder – Results from the National Comorbidity Survey Replication (NCS-R). Journal of the American Medical Association, 289, 3095 – 3105. Kessler, R. C., Ormel, J., Demler, O., Stang, P. E. (2003b). Comorbid mental disorders account for the role impairment of commonly occurring chronic physical disorders: Results from the national comorbidity survey. Journal of Occupational and Environmental Medicine, 45, 1257 – 1266.
Norbert Schmitz: Depression und somatische chronische Erkrankungen
193
Levy, M. I., Davis, K. L. (1983). The neuroendocrinology of depression. In A. Rifkin (Ed.), Schizophrenia and Affective Disorders (pp. 1 – 17). Boston: John Wright. McEwen, B. S. (1998). Protective and damaging effects of stress mediators. The New England Journal of Medicine, 338, 171 – 179. McEwen, B. S. (2000). The neurobiology of stress: From serendipity to clinical relevance. Brain Research, 886, 172 – 189. Moussavi, S., Chatterji S., Verdes E., Tandon A., Patel V., Ustun B. (2007). Depression, chronic diseases, and decrements in health: Results from the World Health Surveys. The Lancet, 370, 851 – 858. Murray, C. J., Lopez A. D. (1997). Global mortality, disability, and the contribution of risk factors: Global Burden of Disease Study. The Lancet, 349, 1436 – 1442. Patten, S. B. (1999). Long-term medical conditions and major depression in the Canadian population. Canadian Journal of Psychiatry – Revue Canadienne de Psychiatrie, 44, 151 – 157. Rothman, K. J., Greenland, S. (1998). Modern epidemiology. Philadelphia, PA: Lippincott-Raven. Schmitz, N., Wang, J. L., Malla, A., Lesage, A. (2007a). Chronic diseases and depression: A synergistic effect on disability. Psychosomatic Medicine, 69, 332 – 338. Schmitz, N., Kruse, J. (2007b). The SF-36 mental health summary score: Evaluation of the scaling in a community sample. Journal of Clinical Epidemiology, 60, 163 – 170. Simon, G. E., Goldberg, D. P., Von Korff, M., Ustun, T. B. (2002). Understanding cross-national differences in depression prevalence. Psychological Medicine, 32, 585 – 594. Statistics Canada (2005). Canadian Community Health Survey Mental Health and Well-being Cycle 3.1. Master File Documentation. Statistics Canada, Ottawa, Canada.
Teil 3 Klinisch-biographische Beitrge
Michael Langenbach Biographie, Beziehung und Identitt bei Patienten nach Transplantationseingriffen
Transplantationsgeschehen als Abenteuer des menschlichen Kçrpers Die Transplantation von Organen zhlt zu den aufregendsten »Abenteuern des menschlichen Kçrpers« unserer Tage (Le Goff u. Truong, 2007) und hat neben Wellness-Wahn und Anti-Aging-Mode, Schçnheitschirurgie, Biopolitik, Genmanipulationen und dem Feld der Transsexualitt und der Gender-Problematik den Blick auf den Kçrper und das menschliche Sein berhaupt verndert. Mehr denn je zuvor in der Geschichte wird der Kçrper als wandelbar, als dem Willen zur Gestaltung unterwerfbar und formbar vorgestellt und vermarktet. Die Mçglichkeit, Organe zu »verpflanzen«, hat der Medizin das Spektrum behandelbarer Erkrankungen erweitert, kann aber berdies auch machtvolle Phantasien beflgeln, einen wunderbaren Idealzustand als Ersatz einer als verloren erlebten narzisstischen Vollkommenheit zu erreichen (Ziob, 2007). Insofern reiht sich die Transplantationsmedizin unter die medizinischen Glcksversprechen ein, die im Dienst eines »pursuit of happiness« stehen, der »beyond natural limits« zu »enhancement« und »perfection« drngt, wie ein Experten-Beratergremium Prsident Bush’s vor wenigen Jahren zuknftige Ziele der Medizin formuliert hat (The President’s Council on Bioethics, 2003). Der der Transplantation notwendig verbundene Tausch von Kçrperbestandteilen zwischen verschiedenen Individuen ist gleichzeitig etwas Verwunderliches und Angsterregendes. Denn mit der Organverpflanzung wird eine Grenze verletzt, die als entscheidende Voraussetzung der Subjektivitt aufgefasst und psychisch reprsentiert wird (Decker, 2004). Transplantation geht unter die Haut und stçrt die kçrperliche Integritt und Identitt. Nicht nur verletzt eine Transplantation die Reprsentanz von außen und innen, sondern auch von Ich und Du, von fremd und eigen. Dass solche Reprsentanzverletzungen mit den ihr verbundenen Phantasien von Zerstckelung und Ganzheitstrumen (Decker, 2005) auch das Erleben von Identitt und Beziehungsgeflechten beeinflusst, kann nicht verwundern, hat aber in der Erforschung der Verarbeitung von Transplantationseingriffen, abgesehen von einer kurzen Phase in den 1970er und 1980er Jahren, im Verlauf des Siegeszugs der
198
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
medizinischen Erfolge der Transplantationsmedizin immer weniger eine Rolle gespielt. Ethiker haben diskutiert, ob die Verwendung des Kçrpers als »Ersatzteillager« von Transplantaten nicht der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs nach Kant widerspreche, dass der Mensch nicht bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst behandelt werden msse (Mieth, 2007). Doch man kann argumentieren, dass der Einsatz eines Organs zur Lebensverlngerung eines Anderen zwar eine Behandlung der spendenden Person als eines Mittels fr den Zweck eines Anderen impliziert, aber nicht notwendig gegen den Imperativ verstçßt, auch den Spender als Zweck an sich selbst zu behandeln, dem die Transplantation zudem den hçchsten Zweck eines Vernunftwesens ermçgliche, nmlich fr das berleben einer anderen Person hilfreich zu sein. Die ethische Diskussion ber die moralische Angemessenheit von Organtransplantationen hlt weiterhin an und reflektiert das Befremdliche an den Reprsentanzverletzungen durch Organverpflanzungen, ablesbar zum Beispiel an den Diskussionen ber das Konzept des Hirntodes oder die Ausweitung des Spenderkreises bei Lebendspenden. In der Geschichte der Erforschung der psychischen Folgen der Transplantationen standen zunchst psychoanalytische Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen auf kçrperliche und psychische Identitt im Vordergrund. Die ersten psychosozialen Studien zu Organtransplantationen beschftigten sich mit dem subjektiven Erleben der Patienten und der Integration des Transplantats ins Kçrperbild. So wies Castelnuovo-Tedesco (1973) darauf hin, dass das Transplantat psychisch und organisch ein Fremdkçrper bleibt, der gelegentlich als ein gefhrlicher Verfolger erlebt werden kann. Die narzisstische Besetzung des Kçrpers und des Transplantats kçnne auch eventuell vorliegende Entwicklungskonflikte reaktivieren. In einer spteren Arbeit verstand Castelnuovo-Tedesco psychische Symptome der Transplantatempfnger als Ausdruck des Erschreckens ber den Eingriff und die mçglichen »vicissitudes« fr Ich-Funktion und psychisches Wohlbefinden (CastelnuovoTedesco, 1978). Die psychoanalytisch ausgerichteten Studien schossen in ihrer Bewertung der durch eine Transplantation ausgelçsten Vernderungen in einer Tendenz zu vorschneller Theoretisierung und Pathologisierung von Verarbeitungsmechanismen gelegentlich auch bers Ziel hinaus. So schloss Basch (1973) anhand von 28 Fallvignetten von Patienten im Verlauf einer Nierentransplantation auf verschiedene Faktoren, die den Heilungsprozess behindern oder fçrdern. Er schlussfolgerte zunchst, dass die prmorbiden Ich-Funktionen und die Objektbeziehungsqualitt von großer Bedeutung sind, und fhrte dann eine Reihe von Suiziden und Organabstoßungen auf die entwicklungsgeschichtlich gestçrte Fhigkeit zur Introjektion und Identifikation zurck. Brosig und Woidera berichteten 1993 ausfhrlich ber die Therapie einer Patientin, die eine kombinierte Herz-Lungen-Transplantation
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
199
erfolgreich, aber mit einem hysterischen Reizhusten berstanden hatte. Die Autoren interpretieren dieses Symptom als »relativ gelungene Abwehr« (Brosig u. Woidera, 1993, S. 1073) und nehmen in der Bearbeitung des Transplantationsprozesses einen Selbst-Rettungsversuch der Patientin an. Sie interpretieren das Symptom der Patientin als Versuch, durch die »Opferung« der Integritt eines Organs des eigenen Kçrperselbst die Aufnahme und Annahme eines fremden Organs in den Kçrper zu fçrdern, um so das gesamte Kçrperselbst zu retten. Noch 1997 erschien ein Kursbuch, das sich unter dem Titel »Lebensfragen« auch den Kçrperphantasien, dem »Fremden im Leib« und den kollektiven gesellschaftlichen Phantasien widmete, die sich um Organtransplantation ranken (Kursbuch 128, 1997). Organe wie Herz, Leber oder Niere, die vor der Transplantation zu einem anderen Menschen gehçrten, plçtzlich als Teil der eigenen Person akzeptieren zu mssen, berschreitet Grenzen, die vor der ra der Transplantationsmedizin als unverrckbar galten. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen bestimmte die gesellschaftliche Diskussion und die psychologische, psychosomatische und soziologische Literatur zur Transplantationsmedizin von den 1950er bis 1970er Jahren. Spter kommt das Befremden ber das Fremde im Leib allenfalls noch in reißerischen journalistischen Beitrgen zum Ausdruck (z. B. Ulrich u. Stahr, 1998). Heute beherrschen Untersuchungen zur erreichten Lebensqualitt die psychosomatische Forschung zur Organtransplantation. In einer Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass die Mehrheit der Patienten sowohl kurzfristig als auch mehrere Jahre nach der Transplantation global gute Ergebnisse erreicht (Bunzel et al., 2002; Dew et al., 1997). Vorteile wurden insbesondere bezglich des kçrperlichen Wohlbefindens und des psychischen Status der Patienten beschrieben (Bunzel et al., 2002; Dew, 1998). Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen weisen aber auch auf ausgeprgte Belastungen durch somatische und psychosoziale Faktoren hin, die zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die subjektiv wahrgenommene Lebensqualitt der Patienten haben und Hauptfaktoren in der Verursachung erneuter Morbiditt, psychischer Stçrungen und Compliance-Einschrnkungen im Verlauf des weiteren Genesungsprozesses sind (Dew et al., 2001; Johann u. Erim, 2001). Die gefundenen kumulativen Prvalenzraten psychischer Stçrungen nach einer Herztransplantation zum Beispiel erreichen fast 40 % in den ersten drei Jahren postoperativ (depressive Stçrungen ca. 25 %, Anpassungsstçrungen ca. 20 % und posttraumatische Belastungsstçrung 17 %, Dew et al., 2001). Der Bezug des Transplantationsgeschehens zur Biographie und zum sozialen Beziehungsnetz der Patienten wird nur selten thematisiert. Dabei muss man davon ausgehen, dass die enorme Irritation, die von einer Organtransplantation ausgeht, in einer intensiven Wechselbeziehung steht zu wichtigen Lebensepisoden und zum sozialen Bezugsnetz des Organempfngers. Bei-
200
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
spielhaft hierfr soll zunchst der Fall des Herrn Cornelsen (Name und charakteristische Daten anonymisiert) vorgestellt werden, anschließend der Bezug von Biographie und subjektivem Erleben einer Transplantation auch theoretisch nachvollzogen werden.
Fallvignette Herr Cornelsen, ein 62-jhriger verheirateter und berenteter hçherer Angestellter, leidet viele Jahre lang unter einer schweren Herzinsuffizienz. Eine Herztransplantation wird erforderlich, als die Herzerkrankung zunehmend lebensbedrohlich wird. Er wartet acht Monate lang voller Angst, »es nicht mehr zu schaffen«, auf den Eingriff. Die OP verluft gut, er erlebt aber im Anschluss zunchst ein Durchgangssyndrom, in dem er sich von unbekannten, gefhrlichen Gestalten bedroht fhlt, und im Verlauf der nchsten Monate zwei Abstoßungsreaktionen, die jeweils mehrwçchige Krankenhausaufenthalte erforderlich machen. In den beiden Jahren nach der Transplantation denkt er hufig an die OP und die Zeit davor zurck. An das Durchgangssyndrom (»sehr verstçrend«) und die Abstoßungsreaktionen erinnert er sich hin und wieder mit gewisser Beunruhigung. Viel intensiver aber beschftigt ihn die Bewertung der Transplantation in Bezug auf sein Leben. Er empfindet die Herztransplantation als einen lebensverlngernden Eingriff, der einen »neuen Lebensplan erforderlich« mache. Immer wieder fragt er sich: »Warum ist es mir vergçnnt, dass mein Leben verlngert wird, und nicht andern?« Er versucht, dem Transplantationsereignis einen Sinn zu geben. Er fhlt sich nicht nur kçrperlich, zum Beispiel durch den Zuwachs an Kraft, sondern in seiner Identitt stark verndert: »Im Grunde hat ja eine Ich-Verschiebung stattgefunden«. Fr Herrn Cornelsen ist im Rckblick der Transplantationsprozess vom Beginn an, als ihm mitgeteilt worden war, dass nur eine Transplantation ihm noch helfen kçnne, bis zum Durchstehen von Durchgangssyndrom und Abstoßungsreaktionen eine Lebenskrise, in der er sich bewhrt hat. Er sieht in diesem Prozess einen Einschnitt und Wendepunkt in seinem Leben, den er zunchst nicht habe beeinflussen kçnnen, dem er aber standgehalten habe. Das erfllt ihn mit Stolz. Damit verleiht Herr Cornelsen der Transplantation und seinem Erleben und Verhalten eine biographische Bedeutung. Er betont, dass er bewiesen habe, was in ihm stecke, nmlich dass er zu vielem fhig sei, was er und andere ihm nicht zugetraut htten. Er sei durch die Herztransplantation vom »Underdog« zum »Besonderen« geworden: »dass ich das DURCHgestanden habe!«.
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
201
Biographisch verknpft er dies mit der langjhrigen Erfahrung, in Kindheit und Jugend von seinem Vater nicht wohlwollend gefçrdert worden und in der Schule immer ein Außenseiter gewesen zu sein, den die anderen immer gehnselt htten. Der Vater sei wie »die Faust im Nacken« gewesen, streng habe er darauf geachtet, dass er eine gute Ausbildung mache. Die Mutter sei ruhiger und einfhlsamer gewesen, habe aber zu Hause nicht so viel Einfluss gehabt. Er sei streng religiçs erzogen worden, »mit Tugend und Schuld als Herrschaftsinstrumenten«. Wertschtzung habe es in der Familie nur ber (akademischen) Erfolg und çffentliches Auftreten gegeben. Ab dem 20. Lebensjahr habe er als Student den Versuch gemacht, sich von den Werten von Eltern und Schule zu befreien (»Die waren nicht fçrderlich fr mich als Gesamtperson«). Beide Eltern sind vor etlichen Jahren im Alter von 70 beziehungsweise 65 an »Herzgeschichten« verstorben. Herr Cornelsen berichtet, er habe sich immer als ein »Sensibelchen« gesehen und habe einen »Minderwertigkeitskomplex«, dem er aber in einer Phantasiewelt immer entgegengearbeitet habe: »Ich war von Kindheit an immer der underdog mit Machtphantasien«. Er sei kleiner als die Altersgenossen gewesen, und man habe auf ihn herabgeblickt, weil er nicht so reich wie die Klassenkameraden gewesen sei. Immer habe er sich als »zu gewçhnlich« und »medioker« gesehen. Dabei habe er Qualitten: Er sei systematisch, ordentlich und rational, diszipliniert, habe einen festen Tagesablauf. Er fhle sich schnell unter Wert behandelt, lege Wert darauf, »gewrdigt zu werden« und habe sich immer selbst diszipliniert. Er habe zwei langjhrige umfangreiche Studien absolviert und ein erfolgreiches Berufsleben hinter sich gebracht. Sehr eng und geradezu symbiotisch mutet das Verhltnis von Herrn Cornelsen und seiner Ehefrau an. Das Paar hat keine Kinder. Seine Frau sei seine »wichtigste Ansprechpartnerin« und »eine gute Zuhçrerin«. Sie htten eine sehr innige Beziehung: »Wir denken dasselbe« und »machen alles zusammen«. Es gibt wenig Freunde. Er lebt mit seiner Frau zurckgezogen in einem Eigenheim. Finanzielle Sorgen hat er nicht. Er sei immer »brutal« mit seinem Kçrper umgegangen und habe sich in seinem Berufsleben hochgradigen Belastungen ausgesetzt: »Ich lief hinter jedem Ball her«. Nach dem zweiten Herzinfarkt sei er etwa 15 Jahre vor der Transplantation berentet worden. Dies habe er zwar als »Loch im Leben«, aber auch als Befreiung empfunden: »Die Infarkte haben befreit« von institutionellen und zeitlichen Zwngen; er habe eine grçßere Distanz zu den Werten der Arbeitswelt entwickelt. In den letzten Jahren hat er ein knstlerisches Zweitstudium gemacht und beschftigt sich in seiner freien Zeit, soweit es sein Gesundheitszustand zulsst, mit kreativer Arbeit.
202
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
In der Wartezeit auf die Herztransplantation ist Herr Cornelsen sehr ngstlich und besorgt: typische Zitate aus dieser Zeit sind: »hoffentlich erreiche ich die OP noch«, »30 % erreichen die OP ja nicht«. Er beklagt hufig und vehement die »Flaute der Spendebereitschaft« in Deutschland. Nach der Transplantation berwiegt ganz das Erleben des Geschaffthabens – wie ein Sieger nach fast aussichtslosem Wettkampf: »und ich weiß noch genau als ich dann schließlich wieder? – GEhen? konnte und mit meiner Frau draußen! was rumgelaufen bin und wieder dieser unglaubliche DRUCK! kam vom MAgen her, und das war genau der Tag wo ich das erste Mal ganz weit bis zur *173(Name) Straße gegangen bin … Das war also fr mich damals exTREM! … Und geNAU!? da hinten an der *173(Name) Straße erwischte es mich wieder, dass also der Magen drckte? und ich das kaum kontrollieren konnte. Und dann hab ich’s geSCHAFFT? noch bis, in mein Zimmer? auf das Klo zu kommen, und ich weiß noch genau? wie das ein Erlebnis war ; Entschuldigung, dass ich diese Details erzhle? Aber, das war ein solches ErFOLGSerlebnis; Von da an … Das war also richtig, … also richtig die berwindung der Regression quasi. Nicht? Also RAUS aus dem Babyhaften.« In der Schilderung durch Herrn Cornelsen wird die Transplantation zum Entwicklungsroman. Er stellt sie und sein Erleben als geschlossenes Narrativ einer Erfolgsgeschichte der Bildung und Entwicklung seiner Persçnlichkeit dar. Der Bezug zur eigenen Lebensgeschichte wird zum entscheidenden Faktor seiner Bewertung der Transplantation als eines positiven Wendepunkts in seinem Leben, der seinen Sinn nicht nur durch die Ermçglichung des reinen Weiterlebens erhlt, sondern als Fixpunkt, durch den er als Persçnlichkeit gewachsen ist und sich neues Leben und neuen Sinn erarbeitet hat. Sein Durchstehen der Transplantation heilt eine alte narzisstische Wunde. Auch die Krisen, wie das Durchgangssyndrom und die Abstoßungsreaktionen, erscheinen so als sinn- und wertvoll fr die Entwicklung seiner Persçnlichkeit, durch die er auch positiv auf seine Frau abzustrahlen meint.
Transplantation als dramatische Zuspitzung und Wendung des Lebens – Psychosomatische Tradition und Forschungstendenzen in der Transplantationsmedizin Die Betrachtung von Erkrankungen und medizinischen Eingriffen als Wendepunkten des Lebens hat eine lange psychosomatische Tradition. Viktor von Weizscker hatte seit den 1920er Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass der Kranke nicht allein medizinisch-technisch behandelt, sondern als ganze Person verstanden werden muss, will man als Arzt zum Heilungsprozess beitragen:
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
203
»Wenn man aber die Einbettung organischer Erkrankungen in die ußere und innere Lebensgeschichte erkundet, so ist man erstaunt, wie oft Krankheit auf dem Gipfel einer dramatischen Zuspitzung auftritt, wie oft sie eine Katastrophe aufhlt oder besiegelt, wie regelmßig sie dem biographischen Verlauf eine neue Wendung gibt […] Das Bild der gesichteten, konvergenten biographischen Pathogenese fhrt weg von der einzelnen Causa und hin zu der Einsicht, daß Heilung nicht durch einen Heilfaktor, sondern durch eine Gesamtrichtungsnderung erzielbar sei, die, wenn nçtig, durch eine Gesamterschtterung hervorzubringen ist« (v. Weizscker, 1986, S. 383). Die »neue Wendung«, von der Weizscker spricht, ereignet sich bei Transplantationspatienten bereits bei der Vorbereitung, mehr aber noch im Verlauf und in der Verarbeitung eines Transplantationseingriffs. Die Transplantationsmedizin konfrontiert die Patienten mit neuen Mçglichkeiten, die ein Mehr an Leben versprechen, aber auch erschrecken und die gewohnten Erlebensweisen der kçrperlichen Identitt und Individualitt in Frage stellen. Wie sehr auch Transplantationseingriffe fr den Chirurgen und die Transplantationsteams zu einem Routinefall geworden sind, so sehr ist aus Sicht der betroffenen Patienten eine Organverpflanzung ein dramatischer Eingriff, der ihr Leben verndert. Im routinierten Geschehen im Krankenhaus wird die ungeheure Zumutung an den Transplantationspatienten, das Fremde im eigenen Leib annehmen zu mssen, hufig bersehen (Langenbach et al., 2004). Es ist erstaunlich, wie weitgehend der von Weizscker so betonte Gesichtspunkt der bedeutungsvollen Lebenswende und das Erschrecken der Patienten ber ihre »Lebenskatastrophe« in der Erforschung der Wirkung einer Transplantation von der psychosomatischen Forschung zu den Folgen einer Organtransplantation doch ausgeblendet worden ist. Die erhebliche Einwirkung einer Organtransplantation auf das kçrperliche und psychische Selbsterleben bleibt in den berwiegend fragebogengesttzten und gruppenstatistisch angelegten Forschungsdesigns meist außen vor. Auch die kollektiven Folgen der Transplantationsmedizin fr gesellschaftliche Vorstellungen von Tod und Leben und individuelle Kçrpergrenzen, fr die ethischen Maximen des medizinischen Handelns und fr das Identittserleben des Einzelnen werden in der psychosomatischen Forschergemeinschaft wenig diskutiert (Decker, 2004). Gerade diese gesellschaftlich vermittelten Vernderungen im Blick auf den Menschen erhalten fr den Einzelnen aber eine normative Kraft fr sein Erleben. Wenn kollektiv der Schrecken aus dem Erleben eines schwerwiegenden medizinischen Eingriffs weitgehend ausgeblendet wird, so bleibt der Schrecken des Einzelnen allein oder erkennt sich selbst nicht. Der Kçrper und seine Unversehrtheit sind neben allen Selbststilisierungen und individuellen Zurichtungen entscheidend geformt von den Diskursen der Medien, der Wissenschaftsapparate, der Religion und der anderen gesellschaftlichen Krfte: Es
204
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
lsst sich im historischen Nachgang zeigen, »wie untrennbar dieses von allen Einflsterungen sich frei whnende Ich mit den Medien und Agenten seines Wissens verknpft ist, wie sehr das Eigenste dieses autonomen Subjekts – sein Gewissen und sein Kçrper – von machtvollen Diskursen konstituiert wird, die es erst anleiten, die Regulation dieses Eigenen in die Hand zu nehmen« (Sarasin, 2001, S. 25). Auch das individuelle Erleben einer Transplantation wird vom kollektiven Diskurs mit geformt. Die gesellschaftliche Aufbereitung wichtiger Themen im Zusammenhang einer Organtransplantation macht solches Geschehen fr das Individuum verstehbar und gibt Muster und Bezge an die Hand, um das medizinische Vorgehen einzubetten in eine individuelle Geschichte. Auch »das Eigenste des autonomen Subjekts« des Transplantationspatienten, sein Kçrpergefhl und Kçrperbild werden von den machtvollen Diskursen der Medien und der »Agenten seines Wissens« mitbestimmt. Diese Bezogenheit auf kollektive berzeugungsbestnde bestimmt auch den rztlichen Blick in Praxis und Forschung (Langenbach u. Koerfer, 2006). Auch der Diskurs der psychosomatischen Forschung zur Transplantationsmedizin wird geprgt von den machtvollen Diskursen der gesellschaftlichen Krfte und der Wissenschaftsapparate. Mit der Entwicklung der Organtransplantation zu einem medizinischen Standardverfahren, erkennbar auch an der selbstverstndlichen Benennung »Transplantationsmedizin« fr das gesamte Spezialfeld, begann eine Phase der zunehmenden empirischen Erforschung großer Zahlen von Patienten unter dem Paradigma der Lebensqualittsforschung, die den einzelnen Patienten wieder aus dem Blick verlor und der Bedeutung von Biographie und Beziehungsleben der Patienten keinen Raum mehr gab. Der rztliche Blick auf Fragen psychosozialer Bedingungen und Folgen von Organtransplantationen folgte jetzt auch forschungslogisch zunehmend einem nomologisch geprgten Wissenschaftsparadigma. Das »Machtvolle« wird auch sichtbar in den Mythen und Skandalen, die sich um die Transplantationsmedizin ranken (Dormann u. Hwel, 2007). Der Transplantationskomplex generiert viel Geld und Macht. Die Kosten fr eine Lebertransplantation kçnnen zwischen 150.000 bis 200.000 Euro liegen (Chirurgische Klinik Uni Heidelberg, 2007), die Kosten der lebenslang erforderlich bleibenden immunsuppressiven Behandlung von Patienten nach Organtransplantation liegen hufig bei weiteren mehreren hunderttausend Euro. Der Transplantationsmedizin eignet die Aura von etwas Exklusivem, einer Hochtechnologie, die Leben auf dramatische Weise rettet und verndert und »rztestars« hervorbringt (Zylka-Menhorn, 2001). Mit der Verwendung des einzelnen Menschen als »Ersatzteillager« wird zudem eine Verwertungskette konstituiert (Borchard-Tuch, 2007). Es ist anzunehmen, dass die Faszination großer Zahlen, die Aura der Machbarkeit des frher nur Phantasierten und die Macht der Transplantationszentren (und Pharmakonzerne) auch auf
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
205
die Hinwendung der psychosomatischen Forscher zu einem nomologischen Paradigma, das Anschluss an die somatische Forschung verspricht, Einfluss genommen haben. Zunehmende medizinische Erfolge scheinen dafr zu sprechen, den Transplantationseingriff als solchen und seine Bedeutung fr das Erleben und das Leben der Patienten nicht mehr zu problematisieren. Die Wechselwirkung zwischen individueller Biographie und Transplantationseingriff wird in empirischen Untersuchungen hufig nicht ausreichend gewrdigt. Die von Weizscker angesprochene Einbettung in die innere und ußere Lebensgeschichte wird somit im Allgemeinen nicht mehr ausreichend wahrgenommen. Subjektive Krankheitsvorstellungen, Behandlungserfahrungen, Bewltigungsstrategien und Prognoseeinschtzungen im Zusammenhang der eigenen Lebensbiographie sind aber wichtige Determinanten der Bewertung des Transplantationseingriffs (Langenbach, 2006).
Biographie, Beziehung und Transplantation – Konsequenzen fr die rztliche Praxis Das Transplantationsereignis bezieht seine signifikante Bedeutung fr den individuellen Patienten aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die Hoffnungen und Erwartungen bereits vor der Transplantation beeinflussen. Wichtig fr das Erleben der Transplantation scheinen insbesondere frhkindliche Bindungserfahrungen, Selbstbild und Art und Qualitt aktueller Beziehungen zu sein (Langenbach, 2006). So sagt die Qualitt von Bindungserfahrungen und Beziehungen zu einem substanziellen Teil den psychosozialen Erfolg von Organtransplantationen voraus (Goetzmann et al., 2007). Tatschlich handelt es sich bei Transplantationen hufig um »Wendepunkte im Lebenslauf« (Willi, 2007), die krisenhaft sich vollziehen, aber zur persçnlichen Entwicklung der Patienten und ihrer wichtigsten Beziehungspartner beitragen kçnnen. Dazu zhlen Glckserfahrungen, einer unmittelbaren Todesbedrohung entronnen zu sein, Gefhle von berlebensschuld, wenn andere Transplantationskandidaten »es nicht geschafft haben«, und die Enttuschung ber das Ergebnis nach der Operation, wenn die Erwartungen vorher unrealistisch hoch waren oder Komplikationen zu neuem Leid fhren. Dazu gehçrt auch die hufig ambivalent erlebte Erfahrung, nach Adaptation an eine lebenslange Erkrankung plçtzlich wieder relativ gesund zu sein und sich in seiner Lebensfhrung und in den Beziehungen innerhalb der Familie umstellen zu mssen (Freedman, 1983). All diese Erfahrungen sind geprgt
206
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
von den biographischen Bindungserfahrungen, von frherem Glck und Leid, von erworbenen Verarbeitungsmechanismen, von der Qualitt der gegenwrtigen und vergangenen sozialen Beziehungen und vor allem der Fhigkeit, Affekte erleben und aushalten zu kçnnen. Im Bereich der medizinischen Behandlung von Transplantationspatienten spielt die Qualitt der Kontakte zu den beteiligten rzten und anderen Angehçrigen des Transplantationsteams eine wichtige Rolle fr eine gelingende Bearbeitung des Transplantationsgeschehens. Fr die therapeutische Begleitung der Patienten durch den Transplantationsprozess sind neben dem theoretisch-kognitiven Wissen des Arztes wichtige Fhigkeiten einer interaktiven, patientenorientierten Praxis gefragt, wie die przisere Wahrnehmung des individuellen Patienten mit seinen emotionalen und sozialen Verwicklungen und eine patientengerechte, offenere Gesprchsfhrung, die Aspekte der Lebenszufriedenheit und der affektiven Auseinandersetzung mit der Transplantation einzubeziehen vermag. Dazu gehçrt auch, dem Patienten eine robuste und verlssliche Beziehung anzubieten, die Kontinuitt und Sicherheit konstituiert. Gerade wenn Identitt und Integritt bedroht sind und dem Patienten ein selbstverstndliches Sicherheitsgefhl wegzurutschen droht, ist die Belastbarkeit und Verlsslichkeit der Arzt-Patienten-Beziehung gefordert. Im Rahmen der psychosomatischen Betreuung von Transplantationspatienten kann bei Verarbeitungs- und Bewltigungsproblemen des Transplantationseingriffs versucht werden, in gemeinsamer Arbeit mit dem Patienten den Bearbeitungsmodus im Verstndnis der Lebensgeschichte behutsam zu modifizieren oder zu ergnzen, um auch andere Facetten des Erlebens sich ausdifferenzieren zu lassen und damit mçglicherweise das Risiko einer psychosozialen Dekompensation zu minimieren. Somit kommt der Arbeit an den Verarbeitungsmodi einer Transplantation eine gewichtige Rolle in der Sekundrprvention nach einer Organtransplantation zu, da sie als eine Maßnahme zu verstehen ist, die eine Stçrung des Gesundheitsverhaltens mit mçglicherweise gravierenden und eventuell lebensbedrohlichen Folgen verhindern helfen kann, bevor sie sich entwickelt hat. So kann Patienten, die sich stndig als unzufrieden und hilfsbedrftig erleben, gezielt geholfen werden, zu einer realistischeren Einschtzung des Erfolges der Transplantation und der Bedrohlichkeit etwaiger Komplikationen zu gelangen und fr den Fall, dass Komplikationen tatschlich eintreten, nicht in eine ngstlich-resignative Haltung zu verfallen, die das Selbstbild nach einer Transplantation massiv stçren und weitere erfolgsversprechende medizinische Maßnahmen verhindern kann. Mit Patienten, die mit dem Transplantationseingriff unbewusste Phantasien einer narzisstischen Heilung von altem Leid und Krnkung verbunden haben und mit dem Ergebnis aus biographisch motivierten Grnden unzufrieden sind, kann behutsam eine Klrung ihrer unbewussten und unerfll-
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
207
baren Ziele versucht werden und die depressive Reaktion auf die Unerfllbarkeit ihrer Wnsche gemeinsam ausgehalten werden. Transplantationseingriffe bieten sich als Projektionsflche fr Heilserwartungen besonders an, da sie mit Vorstellungen eines besseren neuen Lebens verbunden werden: »Der Mensch in seiner Ganzheit ist ein unvollkommenes Wesen. Seine Unvollkommenheit ist es, die seine tiefsten Sehnschte weckt und seine hçchsten Erfllungen ermçglicht« (Geisler, 2007, S. 17). Gerade die Hochtechnologiemedizin wird von Patienten mit Heilserwartungen stark berfrachtet. Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Psychosomatikers, biographisch begrndete Erwartungen bereits im Vorfeld einer Organtransplantation zu ergrnden und mit dem Patienten auf ihren Realittsbezug zu prfen und nach der Transplantation die gegebenenfalls einsetzende Trauerreaktion mit dem Patienten gemeinsam zu verstehen. Fr die klinische Praxis folgt aus der großen Bedeutung der individuellen Lebensgeschichte fr die gelingende Krankheitsverarbeitung einer Organtransplantation auch, fr eine gute Kommunikation unter den Beteiligten des Transplantationsteams zu sorgen. Organtransplantationen sind interdisziplinre Prozesse, die nur in enger Kooperation zwischen den beteiligten rzten und anderen Verantwortlichen gelingen kçnnen (Lauchart et al., 2005). Ein wesentlicher Sinn der psychosomatischen Betreuung eines Transplantationspatienten kann darin liegen, vor dem Hintergrund der biographischen Erfahrungen des Patienten eine »Gesamtrichtungsnderung« im Weizscker’schen Sinne zu untersttzen, wenn sie nçtig ist, und die chirurgischen Kollegen im Einzelfall darber aufzuklren und zu beraten, in welch großem Maße psychosoziale Faktoren zum Gelingen einer Organtransplantation beitragen.
Literatur Bachinger, A., Kirchhoff, D., Rychlik, R. (1998). Immunsuppression mit Tacrolimus (FK 506) und Cyclosporin A zur Vermeidung von Abstoßungsreaktionen nach Lebertransplantation. Retrospektive Auswertung medizinischer Kosten auf Basis der Studie FG-0157 bei 224 Patienten (Deutschland). Der Chirurg, 69, 957 – 962. Basch, S. H. (1973). The intrapsychic integration of a new organ. A clinical study of kidney transplantation. The Psychoanalytic Quarterly, 42, 364 – 384. Borchard-Tuch, C. (2007). Ersatzteillager Mensch. Taz, 08.06.2007. Brosig, B., Woidera, R. (1993). Nach einer Herz-Lungen-Transplantation. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 47, 1061 – 1079. Bunzel, B., Laederach-Hofmann, K., Grimm, M. (2002). berleben, klinische Daten und Lebensqualitt 10 Jahre nach Herztransplantation: Eine prospektive Studie. Zeitschrift fr Kardiologie, 91, 319 – 327.
208
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Castelnuovo-Tedesco, P. (1973). Organ transplant, body image, psychosis. The Psychoanalytic. Quarterly, 42, 349 – 363. Castelnuovo-Tedesco, P. (1978). Ego vicissitudes in response to replacement or loss of body parts. Certain analogies to events during psychoanalytic treatment. The Psychoanalytic Quarterly, 47, 381 – 397. Chirurgische Klinik Uni Heidelberg (2007). Hufig gestellte Fragen. Zugriff am 4. 9. 2007 unter http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/FAQs.4197.0.html. Decker, O. (2004). Der Prothesengott. Giessen: Psychosozial Verlag. Decker, O. (2005). Organaustausch und Prothesen: Zerstckelung und Ganzheitsphantasien aus psychoanalytischer Sicht. In S. Schicktanz, E. Ehm (Hrsg.), »Body Shopping?« Kultur und Ethik des bio-medizinischen Kçrperaustausches (S. 47 – 58). Stuttgart Leipzig: Hirzel Verlag. Dew, M. A. (1998). Quality-of-life studies: Organ transplantation research as an exemplar of past progress and future directions. Journal of Psychosomatic Research, 44, 189 – 195. Dew, M. A., Kormos, R. L., DiMartini, A. F., Switzer, G. E., Schulberg, H. C., Roth, L. H., Griffith, B. P. (2001). Prevalence and risk of depression and anxiety-related disorders during the first three years after heart transplantation. Psychosomatics, 42, 300 – 313. Dew, M. A., Switzer, G. E., Goycoolea, J. M., Allen, A., DiMartini, A., Kormos, R. L., Griffith, B. P. (1997). Does transplantation produce quality of life benefits? A quantitative review of the literature. Transplantation, 64, 1261 – 1273. Dormann, D., Hwel, D. (2007). Verdacht auf Organhandel im Klinikum Essen. Rheinische Post, 23.05.2007. Freedman, A. (1983). Psychoanalysis of a patient who received a kidney transplant. Journal of the American Psychoanalytical Association, 31, 917 – 956. Geisler, L. S. (2007). Drohendes Glck. Was die Medizin jenseits der Therapie verspricht. Universitas, 62, 5 – 19. Goetzmann, L. (2004). «Is it me, or isn’t it?” – Transplanted organs and their donors as transitional objects. American Journal of Psychoanalysis, 3, 279 – 289. Goetzmann, L. (2006). Transplantierte Organe und ihre Spender als bergangsobjekte. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 10, 28 – 39. Goetzmann, L., Klaghofer, R., Wagner-Huber, R., Halter, J., Boehler, A., Muellhaupt, B., Schanz, U., Buddeberg, C. (2007). Psychosocial vulnerability predicts psychosocial outcome after an organ transplant: Results of a prospective study with lung, liver, and bone-marrow patients. Journal of Psychosomatic Research, 62, 93 – 100. Johann, B., Erim, Y. (2001). Psychosomatische Betreuung von Transplantationspatienten. Fakten und Notwendigkeiten. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 51, 438 – 446. Kursbuch 128 (1997). Lebensfragen. Berlin: Rowohlt Berlin. Langenbach, M. (2006). Die Bedeutung der Biographie fr das subjektive Erleben einer Herztransplantation. Psychotherapie und Sozialwissenschaft, 8, 29 – 70.
Michael Langenbach: Patienten nach Transplantationseingriffen
209
Langenbach, M., Koerfer, A. (2006). Kçrper, Leib und Leben. Wissenschaftliche und praktische Traditionen im rztlichen Blick auf den Patienten. Zeitschrift fr qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung. 7, 191 – 216. Langenbach, M., Stippel, D., Beckurts, K. T. E., Geisen, J., Kçhle, K. (2004). Wie reden Patienten nach einer simultanen Pankreas-Nieren-Transplantation ber ihren Kçrper? Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 50, 86 – 102. Lauchart, U., Gubernatis, G., Blmke, M. (2005). Transplantationsmedizin. Intensivmedizin und Notfallmedizin, 42, 481 – 488. Le Goff, J., Truong, N. (2007). Die Geschichte des Kçrpers im Mittelalter. Stuttgart: Klett Cotta. Mieth, D. (2007). Das Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Kçrpers: Mehr als Tabu? Ethische Aspekte. In J. Taupitz (Hrsg.), Kommerzialisierung des menschlichen Kçrpers (S. 141 – 151). Berlin Heidelberg: Springer. Sarasin, P. (2001). Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Kçrpers 1765 – 1914. Frankfurt/M.: Suhrkamp. The President’s Council on Bioethics (2003). Beyond Therapy : Biotechnology and the pursuit of happiness.Zugriff am 12. 9. 2007 unter http://bioethics.gov/reports/ beyondtherapy/. Ulrich, H. B., Stahr, W. (1998). Herz tot, Patient wohlauf. Zeitmagazin, 26. 03. 1998, 12 – 19. Weizscker, V. v. (1947). Kçrpergeschehen und Neurose. Analytische Studie ber somatische Symptombildung. Stuttgart: Klett. Willi, J. (2007). Wendepunkte im Lebenslauf. Persçnliche Entwicklung unter vernderten Umstnden – die çkologische Sicht der Psychotherapie. Stuttgart: KlettCotta. Ziob, B. (2007). Kçrperinszenierungen – Das verußerte Selbst. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihr Anwendung, 61, 125 – 136. Zylka-Menhorn, V. (2001). Christiaan Barnard. Pionier und »Star«. Deutsches rzteblatt, 98, A2301.
Johannes Kruse Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie – Von der Compliance zum Empowerment
Einleitung Der Diabetes mellitus ist eine Volkserkrankung, die das Gesundheitssystem herausfordert. Aktuell leiden ca. 8 % der Bevçlkerung der BRD an Diabetes mellitus. Besonders betroffen sind Menschen jenseits des 55. Lebensjahres. 16 % der Bundesbrger dieser Altersgruppe sind an einem manifesten Diabetes erkrankt, weitere 20 % leiden unter dem Prdiabetes, das heißt unter einer pathologischen Stoffwechsellage (Rathmann et al., 2003). Der Diabetes mellitus verkrzt die Lebenserwartung der Betroffenen um ca. 10 Jahre (Liebl et al., 2001). Nicht so sehr die akuten Komplikationen wie Hypoglykmie oder das ketoazidotische Koma, sondern die Entwicklung der Folgeerkrankungen, wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Nephropathie und arterielle Verschlusserkrankung, sind fr die drastisch verkrzte Lebenserwartung verantwortlich. Gleichzeitig beeintrchtigen die Erkrankung, die Folgeerkrankungen und die Behandlung die Lebensqualitt der Patienten erheblich und fhren zu sozialen Einschrnkungen in Beruf und Partnerschaft. Menschen mit Diabetes sind ihrer Erkrankung aber nicht passiv ausgeliefert. Wie bei keiner anderen chronischen Erkrankung beeinflussen der Lebensstil und das Krankheitsverhalten des Patienten den Verlauf der Erkrankung. Die Behandlung erfordert ein hohes Maß an Motivation und Selbstmanagement von Seiten des Patienten. In der Regel muss der Patient seinen Lebensstil erheblich verndern. Die Patienten sollen sich u. a. ausreichend bewegen, nicht rauchen, sich gesund ernhren, ihren Stoffwechsel und ihren Blutdruck optimal einstellen und eventuell Gewicht reduzieren in der Aussicht, in vielen Jahren davon gesundheitlich zu profitieren. Insbesondere Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes haben eine sehr aufwendige Therapie in ihr Leben zu integrieren und viele Einschrnkungen im Alltag in Kauf zu nehmen.
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
211
Psychosoziale Belastungen und ihre Bewltigung An Diabetes erkrankt zu sein bedeutet, an einer chronischen Erkrankung zu leiden und die Gesundheit endgltig verloren zu haben. Diese Situation gilt es zu bewltigen und den Diabetes sowie die Therapie in das Leben und das Selbstbild zu integrieren. Ziel ist es, die Erkrankung zu akzeptieren, das heißt, dass ein Mensch die kçrperlichen und psychischen Belastungen des Diabetes sowie deren psychosoziale Auswirkungen in das eigene Leben integriert, seine Ressourcen aktiviert sowie die Verantwortung fr sein Handeln und seine krankheitsbezogenen Entscheidungen bernimmt. Das Gesundheits- und Krankheitsverhalten sowie die Krankheitsbewltigung des Patienten ist mehrfach determiniert. Soziale Untersttzung, Krankheits- und Persçnlichkeitsvariablen beeinflussen den Umgang mit der Erkrankung. Dabei machen die Erkrankung und die damit verbundenen Belastungen es dem Patienten nicht einfach. Der Diabetes tut nicht weh, er ist hufig direkt nicht sprbar. Der Patient kann sein Risiko, an einer Folgeerkrankung zu erkranken nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern nur abstrakt abschtzen, wobei eine individuelle Risikoeinschtzung nicht mçglich ist. Dabei gert er in ein Dilemma. Der Patient soll heute seinen Lebensstil umstellen, er soll heute Verzicht leisten, um eventuell in Jahrzehnten einen Benefit zu haben, wobei ihm kein Arzt eine Erfolgsgarantie geben kann. Es bleibt die Unsicherheit ber den Krankheitsverlauf. Einschrnkungen der Sehfhigkeit bis hin zur Erblindung, Nierenerkrankungen, die zur Dialyse fhren kçnnen, Gefßerkrankungen, die Amputationen notwendig machen, Herzinfarkt oder ein Schlaganfall drohen. Da dem Patienten eine hohe Selbstverantwortung fr den Verlauf der Erkrankung zugesprochen wird, hat er den Misserfolg dann auch noch selbst zu verantworten. Neben den kçrperlichen Einschrnkungen kçnnen Fragen von Schuld und Verantwortung den Patienten qulen und die nahen Beziehungen belasten. Gleichzeitig kçnnen neu entstandene Abhngigkeiten von der Therapie, von Angehçrigen und rzten die Krankheitsbewltigung erschweren. Selbstwertkonflikte aber auch Konflikte um Unterwerfung und Kontrolle oder Autonomie und Abhngigkeit kçnnen sich in diesen Beziehungen manifestieren. Gelingt die Bewltigung der Erkrankung und ihrer Folgen nicht, so kçnnen sich Anpassungsstçrungen, Angststçrungen, Burn-out-Phnomene und depressive Reaktionen entwickeln (Kruse et al., 2003; Herpertz et al., 2003). Krankheitsbewltigung und -verhalten interagieren mit den psychosozialen Belastungen. Einerseits kann eine problematische Krankheitsverarbeitung in eine psychische Symptomatik mnden, andererseits erschwert die psychische Stçrung die Anpassung an die Erkrankung und bedingt zum Teil eine unzureichende Akzeptanz der Erkrankung. Bei einigen Patienten ist unmittelbar zu
212
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
beobachten, wie psychosoziale Belastungen das Patientenverhalten deutlich verndert. Sowohl psychische Stçrungen, interpersonelle Probleme, aber auch spezifische Persçnlichkeitsausprgungen kçnnen das Krankheitsverhalten sowie die Arzt-Patient-Beziehung prgen. a) Psychische Stçrungen: Depressive Stçrungen kçnnen es dem Patienten erschweren, sich an die Erkrankung anzupassen, ngste vor Hypoglykmien kçnnen dazu fhren, dass die Patienten ihre Blutzuckerspiegel zu hoch einstellen, ausgeprgte ngste vor Folgeerkrankungen kçnnen den Patienten bewegen, Unterzuckerungen in Kauf zu nehmen oder Menschen mit Essstçrungen kçnnen im Rahmen der Essstçrung mit ihrem Stoffwechsel entgleisen (bersicht siehe Herpertz et al., 2003). Gleichzeitig finden wir bei zahlreichen Patienten nach Jahren der Insulintherapie Burn-out-Phnomene. Die Krankheit berstrahlt dann das ganze Leben, es entwickelt sich Resignation, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die in einem therapeutischen Nihilismus mnden kçnnen. b) Interpersonelle Konflikte: Weniger die großen und einschneidenden interpersonellen Vernderungen belasten das Krankheitsverhalten des Patienten. Vielmehr sind es die ber einen lngeren Zeitraum bestehenden interpersonellen Spannungen. Ein gesundheitsbeeintrchtigendes Krankheitsverhalten hat oftmals die Funktion, interpersonelle Beziehungen zu regulieren oder Botschaften im interpersonellen Beziehungsgeschehen zu bermitteln, die anders nicht ausgedrckt werden kçnnen, wie etwa Wut, Enttuschung, rger oder Protest, aber auch Wnsche nach Frsorge und Autonomie. So tragen adoleszente Diabetiker ihre Proteste gegen das frsorgliche elterliche Verhalten hufig ber die verschlechterte Einstellung ihres Blutzuckers aus. berfrsorgliche und durch die Erkrankung des Kindes verunsicherte Eltern schrnken die Selbststndigkeit des Kindes oft zu sehr ein, sodass die Adoleszenten verstrkt nach Autonomie drngen. Gleichzeitig rufen die juvenilen Diabetiker mit der Verschlechterung der Stoffwechsellage die elterliche Frsorge und Kontrolle vermehrt hervor. Es entwickelt sich ein Kreislauf, in dem die Sorge und Kontrolle der Eltern zunimmt und gleichzeitig die Protesthaltung der Jugendlichen wchst, so dass die Blutzuckereinstellung immer mehr zum zentralen Konfliktthema werden kann. c) Persçnlichkeitsmerkmale: In anderen Fllen ist das Krankheitsverhalten des Patienten eingebunden in die persçnlichkeitsstrukturellen Voraussetzungen des Patienten. So kann die Krankheitsakzeptanz bei einem Patienten mit narzisstischer Persçnlichkeitsstçrung erheblich beeintrchtigt sein, weil das verletzliche Selbstwertgefhl des Patienten an ein unerbittliches Ideal von Strke und Gesundheit geknpft ist. Der Patient mçchte sich nicht durch das Essen von anderen Menschen unterscheiden, schmt sich wegen seiner chronischen Erkrankung und befrchtet Entwertung und Ablehnung. In der Folge demonstriert er mit seinem Verhalten Strke und Gesundheit, miss-
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
213
achtet den rztlichen Rat und passt sich ohne Rcksicht auf seine Gesundheit den Leistungsnormen an. Behandelnde rzte verzweifeln dann oftmals wegen der schlechten Blutzucker-Einstellung, sind gekrnkt oder verrgert und weisen den Patienten auf dessen Versagen hin. Fr den Patienten bedeutet dieses wiederum eine Krnkung, verbunden mit verminderter Selbstachtung und Scham (Kruse u. Wçller, 2004).
Die Bedeutung der Depression fr den Krankheitsverlauf Die Bewltigung der Erkrankung sowie die resultierende psychische Symptomatik beeintrchtigt nicht nur die Lebensqualitt der Patienten, sie hat unmittelbare Rckwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die aktuelle psychosomatische Forschung entdeckte in den vergangenen Jahren die Bedeutung der Depressivitt fr den somatischen Verlauf insbesondere des Typ-2-Diabetes (Kruse et al., 2006). Diese Arbeiten werden in der Diabetologie zunehmend wahrgenommen, wie das von Mark Peyrot (2003) in der renommierten amerikanischen Zeitschrift »Diabetes Care« publizierte Editorial aufzeigt, das er mit der Zeile »Depression – a quiet killer by any name« titulierte. Depression und Diabetes weisen synergistische Effekte auf. Die gesundheitlichen Einschrnkungen, die sich durch den Diabetes ergeben, werden durch die depressive Reaktion potenziert. So belegen zahlreiche Studien, dass Patienten, die gleichzeitig unter Depression und Diabetes leiden – eine deutlich strker eingeschrnkte Lebensqualitt (Hanninen et al., 1999), – ein deutlich hçheres Risiko fr Einschrnkungen der Arbeitsfhigkeit (Egede, 2004a, 2004b; v. Korff et al., 2005), – ein deutlich erhçhtes Risiko fr mikrovaskulre und makrovaskulre Folgeerkrankungen (Black et al., 2003) und – ein deutlich erhçhtes Mortalittsrisiko (u. a. Egede et al., 2005) im Vergleich zu Diabetesbetroffenen ohne Depression aufweisen. Diese Zusammenhnge gelten fr Menschen, die nur eine gering ausgeprgte depressive Symptomatik im Sinne der Dysthymia oder Anpassungsstçrung aufweisen ebenso wie fr Menschen, die an einer schweren Depression leiden. Die empirischen Arbeiten verdeutlichen, wie bedeutsam es fr die medizinische Versorgung dieser Patienten ist, dass sie nicht nur korrekt medizinisch versorgt werden. Notwendig ist es, das Krankheits- und Gesundheitsverhalten sowie die Krankheitsbewltigung der Patienten zu untersttzen und die psychosoziale Problematik zu erkennen und deren Therapie in den Ge-
214
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
samtbehandlungsplan zu integrieren. Die Gestaltung der Arzt-Patient-Interaktion spielt dabei eine herausragende Rolle.
Empowerment und Selbstmanagement als basale Behandlungs- und Beziehungsmodelle Die Forschung zum Krankheitsverhalten und zur Zusammenarbeit von Arzt und Patient in der Diabetologie war ber viele Jahre durch die Frage nach der Compliance des Patienten geprgt. Im Compliance-Ansatz gibt es eine klare Rollenverteilung. Der Arzt als Experte stellt die Diagnose und bestimmt die Therapie, die am besten fr den Patienten ist. Aufgabe des Patienten ist es, die Anordnungen des Arztes gewissenhaft umzusetzen. Gelingt dieses nicht, so ist der Patient nicht compliant. Die Compliance-Forschung brachte aber ans Licht, dass der berwiegende Teil der Patienten mit chronischen Erkrankungen kein compliantes Krankheitsverhalten zeigt. rztliche Ermahnung wie zum Beispiel »Sie sollten aufhçren zu rauchen«, »Sie sollten Gewicht abnehmen« oder »Sie mssen mehr auf ihren Blutzucker achten« erwiesen sich als nicht hilfreich, den Lebensstil der Patienten zu modifizieren. Die Problematik ist viel komplexer. Menschen mit Diabetes fhren eine Selbsttherapie durch, fr die sie berwiegend selbst Entscheidungen zu treffen haben entsprechend den Erfordernissen ihres Alltags. Sie mssen tglich ihr Essen auswhlen, ihren Lebensstil formen und ihre Insulinbehandlung planen. Letztendlich treffen sie die Auswahl darber, welchen therapeutischen Empfehlungen sie folgen. Sie haben gleichzeitig auch die kurz- und langfristigen Konsequenzen ihrer Entscheidungen fr ihre Gesundheit und ihr Leben zu tragen. Kosten und Nutzen sind individuell von den Patienten abzuwgen. Doch dafr bençtigen sie Wissen und Untersttzung. Daher hat sich als Grundlage einer modernen Diabetestherapie der sogenannte Empowerment-Ansatz entwickelt, der schon Ende der 1980er Jahre von Anderson, Funnell, Barr, Dedrick und Davis (1991) fr die Diabetestherapie propagiert wurde. Der Empowerment-Ansatz geht vom Bild des mndigen Patienten aus und wird von den Autoren durch empirische Studien aber auch politisch und philosophisch begrndet (Hirsch, 2002). Im Zentrum dieses Ansatzes steht der Respekt der Behandler vor der Autonomie des Patienten. Grundstzlich geht das Empowerment-Konzept von einem Wertepluralismus aus. Der Patient bestimmt in Kooperation mit seinem Arzt, welche Therapieziele er sich setzt und welche Elemente der Diabetesbetreuung er bernimmt. Nicht fr jeden Patienten ist die optimale Einstellung des Stoff-
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
215
wechsels und die langfristige Gesundheit das zentrale Lebensziel. Der Patient soll in einem dynamischen Prozess seine Ziele identifizieren und ber sein eigenes Leben bestimmen. Zugrunde liegt auch die Erkenntnis, dass Menschen ihr Verhalten eher ndern, wenn die Vernderungen persçnlich bedeutsam und frei gewhlt sind. Aufgabe des Arztes im Empowerment-Ansatz ist es, den Patienten im Umgang mit seiner Erkrankung zu coachen und ihn zu untersttzen, seine Therapie entsprechend seinen Zielen selbststndig zu gestalten. Selbstmanagementfhigkeiten sollen dabei vermittelt werden. Die Therapie wird somit zum erfahrungsorientierten Lernprozess, in dem die Patienten zur Selbststeuerung und Problemlçsung angeleitet werden. Die Aufgabe des Behandlers ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln und dem Patienten die maximal grçßtmçgliche Verantwortung zu bergeben. Moderne Diabetes Schulungskonzepte wie zum Beispiel MEDIAS integrieren diesen Ansatz (Kulzer et al., 2003).
Modelle der Arzt-Patient-Beziehung Die Grundlage der Arzt-Patient-Beziehung ist zunchst immer asymmetrisch. Der Arzt ist in dieser Beziehung der kompetente und mit Wissen ausgestattete Experte, whrend der Patient sich in der Rolle des Hilfesuchenden befindet. Empowerment und Selbstmanagement-Anstze geben Hinweise, wie Arzt und Patient mit dieser Asymmetrie ihrer Beziehung umgehen kçnnen. Wir unterscheiden zumindest drei Modelle, wie diese Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung gestaltet werden kann (vgl. Kruse, 2003): – In der klassischen paternalistischen Beziehung nimmt der Arzt die Rolle des kompetenten Experten ein und bestimmt den Kurs. Das medizinische Fachwissen gibt ihm die Autoritt, die Diagnostik und Therapie zu bestimmen. Er geht davon aus, dass seine Sichtweise des Problems konsistent mit der des Patienten ist. Die Autonomie des Patienten besteht darin, die Anweisungen des Arztes zu befolgen, der weiß, was fr den Patienten hilfreich und medizinisch notwendig ist. Daher ordnet der Arzt an und erwartet, dass der Patient »compliant« seinen Rat befolgt. – Im Informationsmodell der Arzt-Patient-Beziehung ist der Arzt ebenfalls als technischer Experte gefragt. Sachlich untersucht er den Patienten. Er beschrnkt sich auf die biomedizinische Perspektive und liefert dem Patienten die medizinischen Informationen, die dieser zur Entscheidungsfindung bençtigt. Die Sichtweise des Patienten, seine subjektive Krankheitstheorie, die Motivation und emotionale Reaktion wird nicht exploriert, da sie aus seiner Sicht zur Lçsung der Aufgabe nicht beitrgt. Der »mndige Patient« entscheidet allein oder mit seinen Angehçrigen, der Arzt spricht
216
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
als medizinischer Experte Empfehlungen aus, hlt sich aber aus der Entscheidung heraus. – Im Partnerschafts- oder Kooperationsmodell werden beide Gesprchspartner Arzt und Patient als Experten betrachtet. Der Arzt ist Experte in seiner Heilkunst, er untersucht den Patienten, diagnostiziert die Erkrankung und stellt sein medizinisches Wissen zur Verfgung. Der Patient ist Experte fr seine Krankheitsgeschichte und deren subjektive Bedeutung. Er weiß, wie die Behandlung in sein Leben eingreift, welche Therapiehemmnisse es gibt. Er kann ber seine Werte, Motive und Probleme berichten. Im Rahmen eines Gesprchs wird eine gemeinsame Vorstellung entwickelt, welches Vorgehen fr den Patienten das Beste sein kçnnte. In diesem Modell ermittelt der Arzt die subjektive Bedeutung der Symptomatik fr den Patienten, er untersttzt ihn bei der Interpretation der Beschwerden, er ordnet nicht an und berredet, sondern bietet dem Patienten an, sucht gemeinsam einen Weg, indem er dem Patienten ein eigenstndiges Entscheidungsrecht einrumt. Zahlreiche aktuelle politische Initiativen im Gesundheitssystem beschwçren das Bild des »mndigen Patienten«, der eigenverantwortlich entscheiden mçchte. rzte sollen sich, so die Forderung, an das Informationsmodell halten und somit die Autonomie des »Patienten als Kunden des Arztes« wahren. Doch dieses Modell wird der Komplexitt der Arzt-Patient-Beziehung nicht gerecht und reduziert die Rolle des Arztes auf die eines Technikers. Auch Empowerment- und Selbstmanagement-Anstze stehen in der Gefahr, die Autonomiebestrebungen des Patienten einseitig zu bewerten und den Arzt auf die Rolle des medizinischen Experten zu reduzieren, der sein Wissen zur Verfgung stellt.
Was wnschen sich Patienten von der Arzt-Patient-Beziehung in der Sprechstunde? Zahlreiche Studien weisen aber darauf hin, dass die Arzt-Patient-Beziehung vielschichtiger ist (u. a. Klingenberg et al., 1996; Donner-Banzhoff et al., 1996; Bayer-Pçrsch, 2003). – Die Patienten unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Prferenzen zur Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung erheblich. Nahezu 1/3 der Bevçlkerung bevorzugt den paternalistischen Arzt, ein kleinerer Anteil der Menschen wnscht sich einen Arzt nach dem Informationsmodell. Der berwiegende Teil der Bevçlkerung wnscht sich einen Arzt, der nach dem Kooperati-
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
217
onsmodell mit seinen Patienten zusammenarbeitet (Bçcken et al., 2004; Dierks u. Seidel, 2005; Klemperer, 2003). Dabei kçnnen die Prferenzen der Patienten im Verlauf einer Behandlung wechseln. Je lnger die Patienten mit ihrer Krankheit vertraut sind, umso weniger wnschen sie sich einen paternalistischen Arzt. Doch nicht nur die Frage der Macht und Kontrolle ber die anstehenden Entscheidungen prgen die Arzt-Patient-Interaktion. Der Arzt hat auch als Bindungsfigur in einer bedrohlichen Lage des Lebens eine wichtige Funktion. – Menschen mit Diabetes sind Langzeitpatienten. Ihre Bindung an den Hausarzt ist sehr groß. 70 – 80 % dieser Patienten bleiben im gesamten Verlauf der Behandlung in der Betreuung bei ihren Hausrzten. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass Langzeitpatienten dem affektiven Aspekt der Arzt-Patient-Kommunikation, wie »sich kennen, sich verstehen, sich vertrauen, Zeit fr einander haben etc.« eine herausragende Bedeutung beimessen (Bayer-Pçrsch, 2003). Der Patient sucht somit den Arzt seines Vertrauens, bei dem er sich verstanden und gut aufgehoben fhlt. Wertschtzung und Prsenz sind zentrale Beziehungsaspekte, die neben der Bercksichtigung der Autonomie und der Beteiligung am Entscheidungsprozess zu beobachten sind. Neben der kompetenten medizinisch-technischen Betreuung wnscht der Patient auch eine emotionale Begleitung. Wie zentral dieser Aspekt ist, zeigt die Tatsache, dass die medizinisch-technische Versorgungsqualitt primr anhand der Qualitt der affektiven zwischenmenschlichen Beziehungen von den Patienten beurteilt wird (Jung et al., 1998). – Der Wunsch nach Information und Aufklrung ist bei den Patienten sehr groß (Klingenberg et al., 1996; Donner-Banzhoff et al., 1996). Durch Information und Schulungen wchst das Selbstbewusstsein des Patienten im Umgang mit der Therapie. Die Patienten fhlen sich sicherer in ihrer Behandlung, die berzeugung, durch die Therapie Folgeschden verhindern zu kçnnen, steigt deutlich an. Durch das Wissen werden die Patienten aber nicht kritischer, die Patienten beurteilen nach einer Schulung ihren behandelnden Arzt sogar positiver. Denn die gewachsene Kompetenz des Patienten strkt in der Regel sein Vertrauen zu seinem Arzt, da er vieles nun besser nachvollziehen kann (Thorne u. Robinson, 1989; Bayer-Pçrsch, 2003). – Der Wunsch nach Information unterscheidet sich aber von dem Wunsch, ber die weiteren Behandlungsschritte zu entscheiden. Auch bei gut informierten Patienten besteht hufig das Ansinnen, die Verantwortung fr krankheitsrelevante Entscheidungen an den Arzt zu delegieren. Einige Patienten betreten als »kritische Kunden« die Praxis, um die medizinische Kompetenz des Arztes abzurufen. Andere Patienten suchen ihren medizinischen Rat und entscheiden in enger Kooperation mit ihm (Bçcken et al.,
218
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
2004). »Shared Decision-Making« oder in der deutschen bersetzung »partizipative Entscheidungsfindung« beschreibt diesen Prozess, in dem sich rzte und Patienten hinsichtlich der Auswahl einer Behandlung als gleichberechtigte Partner verstehen und aktiv in einen Abwgungsprozess eintreten. Andere Patienten mçchten aber ihre Verantwortung abgeben. Sie fordern Hilfe ein und suchen den Arzt, der den Weg der Behandlung weist. Es ist nicht fr jeden Patienten hilfreich, alle Informationen und Entscheidungen zu teilen. Hilfreich ist es vielmehr, den Wunsch des Patienten nach Information und Beteiligung an der Entscheidungsfindung in Erfahrung zu bringen und diesen Wunsch zu respektieren. Einerseits ist somit zu bercksichtigen, dass Menschen ihr Krankheitsverhalten und ihren Lebensstil eher verndern, wenn sie gut informiert sind und die Entscheidung selbst treffen und spren, wie bedeutsam die Entscheidung fr ihr persçnliches Leben ist. Der Patient, der in die Entscheidungsfindungsprozesse einbezogen wird, ist mit der Behandlung zufriedener, er versteht seine Erkrankung und Behandlung besser, die Lebensqualitt steigt, er orientiert sich mehr an seinen Behandlungszielen und hat mehr Kontrolle ber die Krankheit (Klemperer, 2003). Auch die rzte sind mit diesen Behandlungen zufriedener. Andererseits ist die Vorstellung vom Patienten, der nach dem Muster des gut informierten Patienten die Entscheidungen mit seinem Arzt fllt, aber in weiten Bereichen unrealistisch. Die Gefahr eines solchen Idealbildes ist darin zu sehen, dass wir die Wnsche des Patienten nach Fhrung, Versorgung und Bindung als defizitr betrachten. Insbesondere bei Patienten mit chronischen Erkrankungen entwickelt sich eine intensive Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten. In diesen Beziehungen ist der Arzt sowohl als medizinischer Experte, der eine Lçsung fr ein somatisches Problem anbietet, als auch als empathischer Begleiter gesucht, der den Patienten affektiv erreicht. Dabei gestalten Patienten die Beziehung zum Arzt entsprechend ihrer verinnerlichten Beziehungslandschaft. Die »Droge Arzt« entfaltet in dieser Beziehung ihre eigene suggestive Kraft (Balint, 1965), die es in der Behandlung aktiv zu nutzen gilt.
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
219
Die Interaktion zwischen psychischer Stçrung und Krankheitsverhalten Die Entwicklung individueller Therapieziele ist insbesondere dann erschwert, wenn das Krankheitsverhalten des Patienten durch eine psychische Stçrung oder durch eine biographisch verankerte intrapsychische Problematik bestimmt wird, wie in folgenden Fallbeispielen. Frau F., eine 52-jhrige Bankkauffrau, ist seit ihrem 8. Lebensjahr an einem Typ-1-Diabetes erkrankt. In den letzten Jahren habe sie kaum HbA1c-Werte unterhalb von 8 % gehabt, sie komme nicht dazu, fr ihre Ernhrung zu sorgen. Auch sehe sie keinen Sinn darin, immer wieder zum Arzt zu gehen. Er kçnne ja sowieso nicht helfen, sondern wrde ihr nur Vorhaltungen machen. Es gehe ihr sehr gut. Sie habe keine Folgeerkrankungen und lehne es ab, sich mit dem Diabetes intensiver zu beschftigen. Sie sei froh, dass sie eine Insulinpumpe trage, da sie so eine grçßere Unabhngigkeit habe. Im weiteren Gesprch berichtet sie, dass sie allein lebe. Sie sei zweimal verheiratet gewesen, doch immer wollten die Mnner sie zu sehr einengen und von ihr versorgt werden. Sie gehe ganz in ihrer Arbeit auf. In den letzten Jahren kmmere sie sich intensiv um ihre Eltern, da diese zunehmend pflegebedrftig werden. Ihr betreuender Arzt schildert etwas verzweifelt, dass er machen kçnne, was er wolle. Die Patientin entscheide doch unabhngig von seinem Rat und kmmere sich zu wenig um ihre Gesundheit. Ja, sie gebe ihm Anweisungen, was er zu tun habe. Im Verlauf einer Psychotherapie schildert sie, dass die Eltern in ihrer Kindheit ihre Eigenstndigkeit wegen der Erkrankung stark eingeengt htten. Ihre Eltern seien selbst beide kçrperlich erkrankt gewesen. Sie habe von den Eltern wenig Untersttzung, dafr aber Vorhaltungen bekommen, verbunden mit dem Auftrag, sich um die kranken Eltern zu kmmern. Frau F. hat in ihrer Kindheit sehr frh erfahren mssen, dass sie mit ihrer Krankheit alleine fertig werden muss. Ihre Eltern waren mit der eigenen Erkrankung und der wirtschaftlichen Situation beschftigt. Sie waren berfordert, sich um die kranke Tochter zu kmmern. Frau F. fhlte sich verpflichtet, ihre Eltern zu entlasten, verzichtete auf ein mçgliches Studium, sondern whlte die Banklehre, um schnell zum Lebensunterhalt beitragen zu kçnnen. Abhngig von anderen Menschen zu sein bedeutete fr sie, auf eigene Wnsche zu verzichten, sich verpflichtet fhlen zu helfen bei gleichzeitiger Gewissheit, in ihrer eigenen Not nicht gesehen zu werden. Daher ist sie bestrebt, die Zgel selber in der Hand zu behalten, wobei sie sich Wnsche nach Nhe, Anerkennung und Versorgung versagt und fr ihre Gesundheit nicht sorgt. Erst als sie im Rahmen einer Psychotherapie diese Problematik bearbeitet, gelingt es ihr, mehr fr sich zu
220
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
sorgen und mit dem Arzt kooperativ einen Weg zu finden, ihren Blutzuckerspiegel gnstiger einzustellen. Frau F. tritt ihrem Arzt betont autonom gegenber, sie sucht seine Information, hat aber fr sich abgewogen, dass sie bereit ist, eine ungnstige Stoffwechseleinstellung in Kauf zu nehmen, um beruflich erfolgreich arbeiten zu kçnnen. Sie ist sehr gut ber die Erkrankung und die Behandlung informiert. Wird dieses Verhalten ausschließlich als Ausdruck ihrer Werthaltung betrachtet, so greift dieses Verstndnis zu kurz, da die intrapsychische Problematik der Patientin nicht bedacht und somit der Patientin Hilfsmçglichkeiten vorenthalten werden. Noch offensichtlicher ist der Zusammenhang zwischen psychischer Symptomatik und problematischem Krankheitsverhalten bei einigen Patienten, die gleichzeitig an einer Depression leiden. Herr G., ein 67-jhriger pensionierter Kaufmann, weist trotz einer zunehmenden diabetischen Retinopathie HbA1c-Werte von weit mehr als 10 % auf. Trotz vielfacher rztlicher Ermahnungen und Schulung verndert er seine Stoffwechseleinstellung nicht und kalkuliert den Verlust seiner Sehfhigkeit ein. Herr G. hat vor einem Jahr seine Frau verloren. Sie war an einem Karzinom verstorben. In den letzten Jahren waren beide bemht, alles fr die Gesundheit der Ehefrau zu investieren. Sie haben jedoch, so Herr G., den Kampf verloren. Nun sehe er kaum noch einen Sinn darin, fr sich zu sorgen. Er wolle sich nicht bemhen, seinen Stoffwechsel besser einzustellen. Auch bei Herrn G. ist die Festlegung des Therapieziels des Patienten vor dem Hintergrund seiner psychischen Stçrung zu sehen. Diese ist zu diagnostizieren und zu behandeln. Gleichzeitig ist zunchst das Verhalten zu akzeptieren. Hilfreich ist eine Einstellung, in der wir das Verhalten des Patienten wohlwollend und wertschtzend betrachten und grundstzlich unterstellen: »Es macht schon Sinn, wie der Patient sich verhlt. Der Patient verfolgt eigene Ziele, die der eigenen (Psycho-)Logik folgen.« Diese Logik ist nicht immer die medizinische (Physio-)Logik, die eine klare Orientierung an die Leitlinien fordert. Daraus ergibt sich in der Behandlung eine Spannung zwischen dem medizinisch Notwendigen und der inneren Logik des Patienten, die in einem offenen Gesprch mit dem Patienten zu klren ist. Interesse und Wertschtzung fr die inneren Motive und Ziele des Patienten sind die Voraussetzung fr das Gelingen des Gesprchs. Das setzt voraus, dass der Arzt nicht »am Patienten«, sondern »gemeinsam mit dem Patienten« arbeitet (Weiner, 1989). Nur dann kann es gelingen, verborgene Motivationen sowie psychische Stçrungen zu erkennen und die Therapie in einen Gesamtbehandlungsplan zu integrieren. Die psychosoziale Problematik wird aber hufig nicht beachtet. Eine Vielzahl empirischer Studien weist darauf hin, dass mehr als 50 % der psychischen Stçrungen in der medizinischen Versorgung bersehen werden (Kruse, 2003). Krankheitsrelevante psychosoziale Beeintrchtigungen, wie
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
221
Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Tod eines Angehçrigen, husliche Gewalt und andere werden nur zu einem geringen Prozentsatz registriert (Gulbrandsen et al., 1997). Das Erkennen der psychischen Problematik hngt dabei nicht so sehr von der Fachkenntnis des Arztes, sondern von der Gestaltung der ArztPatient-Interaktion ab. Der behandelnde Hausarzt erkennt die psychische Symptomatik umso eher, je mehr er dem Patienten im Gesprch erlaubt, Hinweise auf die Erkrankung whrend der Sprechstunde zu geben, und je ausgeprgter er die Sichtweise des Patienten erfragt und wertschtzt (Davenport et al., 1987; Goldberg et al., 1993; Kruse et al., 2003). Mehr als die Hlfte der Patienten sprechen ihre psychischen Beschwerden in der Sprechstunde nicht an (Kruse et al., 2003). Das »non-presenting« psychischer Beschwerden kann sehr unterschiedlich motiviert sein. Es kann der Scham und der Angst des Patienten vor der Stigmatisierung entspringen oder bedingt sein durch die Erwartung, dass der Hausarzt keine Hilfe anbieten kann. In der Studie von Cape u. McCulloch (1999) geben die Patienten als Begrndungen an, dass der Arzt nicht gengend Zeit habe sowie dass er kein Gesprch ber psychosoziale Themen zulasse. Die Ergebnisse unsere eigenen Studie besttigen diese Angaben. Patienten berichten ber ihre psychosoziale Problematik, wenn der Arzt das Gesprch nicht ausgeprgt dominiert (Kruse, 2003). Der Arzt bersieht die psychische/ psychosomatische Symptomatik seiner Patienten, wenn er ein bermaß an Kotrolle in der Konsultation aufweist und der Patient sich unterordnet. Es ist zu vermuten, dass in diesem Interaktionsmuster – auf der Mikroebene der Interaktion – der Arzt den Patienten soweit kontrolliert, dass dieser in der Interaktion weniger verbale und nonverbale Hinweise auf seine psychische/ psychosomatische Symptomatik geben kann. Die Diagnose psychischer Stçrungen wird daher im Wesentlich durch die Interaktionsgestaltung bestimmt.
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen Diabetes mellitus ist eine Volkserkrankung, die mit einer Vielzahl psychosozialer Beeintrchtigungen verbunden ist. Der Lebensstil, das Krankheitsverhalten und die psychische Begleitsymptomatik prgen die Lebensqualitt der Patienten und beeinflussen den somatischen Verlauf der Erkrankung. Aufgabe des betreuenden Arztes ist es, neben der medizinischen Versorgung den Patienten in seinem Gesundheits- und Krankheitsverhalten zu untersttzen sowie die psychosoziale Problematik zu erkennen und zu behandeln. Dieses stellt besondere Anforderungen an die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung.
222
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Die Modelle der Arzt-Patient-Beziehung in der Behandlung von Menschen mit Diabetes mellitus haben sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verndert. Begriffe wie Empowerment, Selbstmanagement und partizipative Entscheidungsfindung deuten darauf hin, dass der Patient zunehmend als mndiger Kooperationspartner im Behandlungsprozess gesehen wird. Ziel der Behandlung ist es, den Patienten medizinisch zu behandeln und die Fhigkeit des Patienten zu strken, aktiv mit der Erkrankung umzugehen. Nicht die Ziele des Arztes, sondern die des Patienten sollen im EmpowermentAnsatz im Zentrum der therapeutischen Bemhungen stehen. Der Patient wird zum Fachmann fr die Erkrankung, der in die Lage versetzt wird, die eigenen Ziele zu erreichen. Doch nicht alle Patienten wnschen diese Autonomie in der Beziehung zu ihrem Arzt. Viele Patienten suchen bei ihrem Arzt neben der korrekten medizinischen Behandlung Information, Fhrung, Wertschtzung, Orientierung und emotionale Begleitung. Patientenzentrierte Betreuung beinhaltet, auch diesen Beziehungswnschen des Patienten gerecht zu werden, sie zu respektieren und dabei gleichzeitig die Selbstmanagementfhigkeiten des Patienten zu strken. Das Krankheitsverhalten des Patienten und seine individuellen Therapieziele kçnnen auch durch psychische Stçrungen, interpersonelle sowie intrapsychische Konflikte oder persçnlichkeitsstrukturelle Aspekte determiniert sein. Forciertes Autonomiestreben oder beharrliche Forderungen nach passiver rztlicher Versorgung, die in einem problematischen Krankheitsverhalten mnden kçnnen, lassen sich bei zahlreichen Patienten auch als Ausdruck einer intrapsychischen Problematik verstehen. Eine ideologische Betrachtungsweise dieses Patientenverhaltens erschwert den Zugang zu diesen Patienten. Notwendig ist eine patientenzentrierte Vorgehensweise, in der der Patient Gelegenheit erhlt, seine psychosoziale Problematik darzustellen. Einerseits gilt es, das Krankheits- und Gesundheitsverhalten des Patienten zu respektieren und es als Lçsungsweg in einer ansonsten ausweglosen inneren Lage des Patienten zu verstehen. Diese Akzeptanz entbindet den Arzt andererseits nicht von der Aufgabe, die psychische Problematik zu diagnostizieren, gemeinsam mit dem Patienten nach besseren Lçsungswegen beispielsweise im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung zu suchen und gegebenenfalls die Motivation zu einer Psychotherapie aufzubauen. Die Arbeit an der Motivation setzt dabei den Respekt vor der Autonomie des Patienten voraus, ohne die Sichtweise mit ihm zu teilen. Dieser Respekt fhrt auch zu einer deutlichen Entlastung des Arztes, der sich nun nicht mehr verantwortlich fr das Krankheitsverhalten seines Patienten fhlen muss.
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
223
Literatur Anderson, R.M., Funnell, M.M., Barr, E.A., Dedrick, R.F., Davis, W.K. (1991). Learning to empower patients. Results of a professional education for diabetes educators. Diabetes Care 14, 584 – 590. Balint, M. (1965). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Frankfurt a. M.: Fischer. Bayer-Pçrsch, K. (2003). Kommunikation und Kooperation in der Interaktion von Gesundheitssystem und Patienten. Eine Untersuchung am Beispiel der Behandlung des Diabetes mellitus im Raum Frankfurt/Main. Doktorarbeit, Justus-LiebigUniversitt Gießen. Black, S. A., Markides, K. S., Ray, L. A. (2003). Depression predicts increased incidence of adverse health outcomes in older Mexican Americans with type 2 diabetes. Diabetes Care, 26, 2822 – 2828. Bçcken, J., Braun, B., Schnee, M. (2004). Gesundheitsmonitor 2004. Die ambulante Versorgung aus Sicht von Bevçlkerung und rzteschaft. Gtersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Cape, J. D., McCulloch, Y. (1999). Patients reasons for not presenting emotional problems in general practice consultations. The British journal of general practice: The journal of the Royal College of General Practitioners,49, 875 – 879. Davenport, S., Goldberg, D., Millar, T. (1987). How psychiatric disorders are missed during medical consultations. The Lancet, 439 – 441. Dierks, M. L., Seidel, G. (2005). Gleichberechtigte Beziehungsgestaltung zwischen rzten und Patienten – wollen Patienten wirklich Partner sein? In M. Hrter, A. Loh, C. Spies (Hrsg.), Gemeinsam entscheiden – erfolgreich behandeln (35 – 44). Kçln: Deutscher rzteverlag. Donner-Banzhoff, N., Spangenberg, E., Abel, T., Kreienbock, L., Baum, E (1996). Die Wnsche der Patienten. Was sind die Wnsche der Patienten? Und wie nehmen rzte diese wahr? Eine Studie aus hausrztlichen Praxen. Zeitschrift fr Allgemeinmedizin, 72, 274 – 281. Egede, L. E. (2004a). Diabetes, major depression, and functional disability among U.S. adults. Diabetes Care, 27, 421 – 428. Egede, L. E. (2004b). Effects of depression on work loss and disability bed days in individuals with diabetes. Diabetes Care, 27, 1751 – 1753. Egede, L. E., Nietert, P. J., Zheng, D. (2005). Depression and all-cause and coronary heart disease mortality among adults with and without diabetes. Diabetes Care, 28, 1339 – 1345. Goldberg, D. P., Jenkins, L., Millar, T., Foaagher, E. B. (1993). The ability of trainee general practitioners to identify psychological distress among their patients. Psychological Medicine, 23, 185 – 193. Gulbrandsen, P., Hjortdahl, P., Fugelli, P. (1997). General practitioners knowledge of their patients psychosocial problems: multipractice questionnaire survey. British Medical Journal, 314, 1014 – 1018.
224
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Hanninen, J. A., Takala, J. K., Keinanen-Kiukaanniemi, S. M. (1999). Depression in subjects with type 2 diabetes. Predictive factors and relation to quality of life. Diabetes Care, 22, 997 – 998. Herpertz, S., Petrak, F., Albus, C., Hirsch, A., Kruse, J., Kulzer, B., Scherbaum, W., Landgraf, R. (2003). Evidenzbasierte Diabetes Leitlinien DDG. Psychosoziales und Diabetes mellitus. Diabetes und Stoffwechsel, 12, 35 – 58. Hirsch, A. (2002). Empowerment bei Diabetes: Den eigenen Weg finden. In K. Lange, A. Hirsch (Hrsg.), Psycho-Diabetologie: Personenzentriert beraten und behandeln. Mainz: Kirchheim Verlag. Jung, H. P., van Horne, F., Wensing, M., Hearnshaw, H., Grol, R. (1998). Which aspects of general practioners behaviour determine patients evaluations of care? Social Science & Medicine, 47 (8), 1077 – 1087. Klemperer, D. (2003). Arzt-Patient-Beziehung. Entscheidung ber Therapie muss gemeinsam getroffen werden. Deutsches rzteblatt, 100, A, 753 – 755. Klingenberg, A., Bahrs, O., Szecsenyi, J. (1996). Was wnschen Patienten vom Hausarzt? Erste Ergebnisse der europischen Gemeinschaftsstudie. Zeitschrift fr Allgemeinmedizin 72, 180 – 186. Korff, M. v., Katon, W., Lin, E. H. B., Simon, G., Ciechanowski, E.L., Oliver, M., Rutter, C., Young, B. (2005). Work disability among individuals with diabetes. Diabetes Care, 28, 1326 – 1332. Kruse, J. (2003). Arzt-Patient-Kommunikation und diagnostische Schlussbildung – Determinanten der Diagnose psychischer Stçrungen in hausrztlichen Praxen. Frankfurt a. M.: Verlag fr akademische Schriften. Kruse, J., Petrak, F., Herpertz, S., Albus, C., Lange, K., Kulzer, B. (2006). Diabetes mellitus und Depression – eine lebensbedrohliche Interaktion. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 52, 289 – 309. Kruse, J., Schmitz, N., Wçller, W., Heckrath, C., Tress, W. (2003). Warum bersieht der Hausarzt die psychischen Stçrungen seiner Patienten? Determinanten der hausrztlichen Identifikation psychischer Stçrung. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 54 (2), 45 – 51. Kruse, J., Wçller, W. (2004). Erkrankungen des Stoffwechsels – Diabetes mellitus. In W. Tress, J. Kruse, J. Ott (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung. Kompendium der interpersonellen Medizin (91 – 93). Stuttgart u. New York: Schattauer. Kulzer, B., Hermanns, N., Maier, B. (2003). Typ-2-Diabetes selbst behandeln. Medias 2 – Leitfaden fr den Alltag (2. Aufl.). Mnchen: Kirchheim-Verlag. Liebl, A., Neiss, A., Spannheimer, A., Reitberger, U., Wagner, T., Gortz, A. (2001). Kosten des Typ-2-Diabetes in Deutschland – Ergebnisse der CODE-2 Studie. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 126, 585 – 589. Peyrot, M. (2003). Depression: A quiet killer by any name. Diabetes Care, 26, 2952 – 2953. Rathmann, W., Haustert, B., Icks, A., Lçwel, H., Meisinger, C., Holle, R., Giani, G. (2003). High prevalence of undiagnosed diabetes mellitus in Southern Germany : Target populations for efficient screening. The KORA survey 2000. Diabetologia, 46, 182 – 189.
Johannes Kruse: Die Arzt-Patient-Beziehung in der Diabetologie
225
Roter, D. L., Stewart, M., Puntam, S. M. et al. (1997). The patient-physician realtionship: Communication patterns of primary care physicians. Journal of the American Medical Association, 277, 350 – 356. Thorne, S. E., Robinson, C. A. (1989). Guarded alliance: Health care relationships in chronic illness. Journal of nursing scholarship, 21 (3), 153 – 157. Tress, W. (2005). SASB – Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens. Mnchen: CIPMedien. Tress, W., Kruse, J., Ott, J. (2004). Psychosomatische Grundversorgung. Kompendium der interpersonellen Medizin (3. Aufl.). Stuttgart, New York: Schattauer. Weiner, H. (1989). Eine Medizin der menschlichen Beziehungen. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 39, 96 – 102.
Wolfgang Wçller Zentrales Beziehungsmuster und selbstschdigende Formen des Krankheitsverhaltens bei Patienten mit Asthma bronchiale
Einleitung Seit ihren Anfngen hat die psychosomatische Forschung dem Asthma bronchiale eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bahnbrechende Erkenntnisse zur psychogenen Anfallsauslçsung ließen das Asthma bronchiale schon frh zu einem Mitglied im »Club« der »holy seven« der psychosomatischen Erkrankungen werden (Alexander, 1950). Hoffnungen auf eine umfassende kausale Behandlung durch Psychotherapie haben sich indessen nicht erfllt; die Behandlung blieb im Grundsatz somatisch-medizinischer Natur. Seit aber Fragen der Krankheitsverarbeitung und Krankheitsbewltigung ins Blickfeld gerckt sind, zeigt sich erneut die Relevanz der psychosomatischen Perspektive. Die wachsende Erkenntnis, dass gerade die Akzeptanz und Verarbeitung der somatomedizinischen Behandlung von psychosozialen Faktoren determiniert wird, lsst das Asthma bronchiale nach wie vor paradigmatisch fr die Verschrnkung von Beziehungsaspekten und Krankheitsverlauf in der Medizin erscheinen. Als prinzipiell gut behandelbare Krankheit der Medizin ist das Asthma bronchiale dem Diabetes mellitus und der Hypertonie vergleichbar. Dennoch ist es in den letzten Jahrzehnten nicht zu einem Rckgang, sondern eher noch zu einem Anstieg der Morbiditt gekommen (ISAAC, 1998; Dierkes-Globisch et al., 1998). Hinzu kommt eine noch immer betrchtliche Mortalitt im Gefolge schwerer Anflle (Sears et al., 1986; Campbell, 1998). Auch wenn die Grnde fr den Morbidittsanstieg und die hohe Mortalittsrate vielfltiger Art sind (Mutius, 1997), mssen vor einem solchen Hintergrund psychosomatische Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung beitragen, ein hohes Interesse beanspruchen. Obwohl noch nicht schlssig bewiesen ist, dass psychische Faktoren fr die tçdlich oder nahezu tçdlich verlaufenden Anfallsentwicklungen kausal verantwortlich sind (Alvareza u. Fitzgerald, 2007), ist ein Zusammenhang zwischen psychischen Einflussfaktoren und den dramatischen Krankheitsverlufen empirisch evident (Campbell et al.,1995; Mohan et al., 1996; Kolbe et al., 2002). Gerade dann, wenn eine konsequente und langfristige antiasthmatische Pharmako-
Wolfgang Wçller : Krankheitsverhalten bei Patienten mit Asthma bronchiale
227
therapie die entscheidende Grundlage einer erfolgreichen Behandlung darstellt (British Thoracic Society, 1990; Wettengel et al., 1998), verweisen die dann geradezu unausweichlich auftretenden Fragen der »Therapie-Compliance« und des Krankheitsverhaltens auf die Relevanz einer beziehungsmedizinischen Betrachtung. Unzureichende Compliance als Ursache fr eine persistente Beschwerdesymptomatik ist bei Patienten mit Asthma bronchiale ein hufiges Phnomen. Bei ber der Hlfte der Patienten mit chronischem Asthma ist mit Problemen der Non-Compliance zu rechnen. Dabei scheint die medikamentçse Unterdosierung weitaus hufiger zu sein als die berdosierung (James et al., 1985). Die Folgen der Non-Compliance reichen von Symptomverschlechterungen, Hospitalisierungen, Notarzteinstzen bis zu einem erhçhten Mortalittsrisiko. Die Erforschung der Grnde fr ein durch Non-Compliance gekennzeichnetes Patientenverhalten ergibt ein komplexes Bild. Inadquate Instruktionen, ein ungengendes Verstndnis der Notwendigkeit einer langfristigen Medikation, ein zu komplexes und zeitaufwndiges Behandlungsregime und mangelnde bung bei der Applikation inhalativer Medikamente wurden als hufige Grnde nicht absichtsvoller Non-Compliance angegeben (Chambers et al., 1999). Absichtsvoller Non-Compliance lagen vornehmlich Impulse zur Selbstschdigung, Autorittskonflikte, (sub)kultureller Druck und ein chaotisches Beziehungsumfeld zugrunde (Bryon, 1996). Ausfhrliche Interviews mit jugendlichen Asthma-Patienten identifizierten als Grnde fr Non-Compliance neben Vergesslichkeit, Angst vor Nebenwirkungen, Bequemlichkeit immer wieder die Verleugnung der Tatsache der Erkrankung (Buston u. Wood, 2000).
Bagatellisierung, arztvermeidendes Verhalten und die Mortalitt durch schwere Anflle Es lsst sich zeigen, dass strukturierte Schulungsprogramme in der Lage sind, das Krankheitsverhalten von Patienten mit Asthma bronchiale signifikant zu bessern, soweit es auf Wissensdefiziten beruht (Mhlhauser et al., 1991; Rothe, 1998). Andererseits ist seit lngerem bekannt, dass das Krankheitsverhalten von Asthma-Patienten, besonders hinsichtlich des Umgangs mit der antiasthmatischen Medikation und der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe, in hohem Maße durch Persçnlichkeitsfaktoren beeinflusst wird. Whrend Patienten mit der Tendenz zur medikamentçsen berdosierung im Hinblick auf ihre Erkrankung eher ngstlich und berbesorgt sind und zu hufigen Arzt- und Notarztkontakten neigen (Kinsman et al., 1980), geben
228
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
sich Patienten mit der Tendenz zur medikamentçsen Unterdosierung eher betont angstfrei, selbstsicher, stark und leistungsfhig. Sie neigen dazu, ihre Symptomatik zu bagatellisieren, Arztkontakte zu vermeiden und die Medikation eigenstndig zu reduzieren oder abzusetzen. Das Krankheitsverhalten der Patienten spiegelt die in der Psychosomatik durchgngig beobachtbare Dichotomie offen-abhngiger und sogenannter »pseudounabhngiger« Patienten wider. Whrend sich der hilflos-anklammernde Krankheitsbewltigungsstil der offen-abhngigen Patienten in der beschriebenen Tendenz zur medikamentçsen berversorgung und berbeanspruchung des Gesundheitssystems manifestiert, neigen die »pseudounabhngigen« Patienten zur Verleugnung ihrer Beschwerden, zur Bagatellisierung ihrer Funktionseinbußen und zur Vermeidung der Inanspruchnahme rztlicher Hilfe (Kleiger u. Dirks, 1979; Wçller, 1998). Als gravierendes Problem muss die Neigung nicht weniger Asthma-Patienten gelten, die Schwere von Asthma-Anfllen zu unterschtzen und die Inanspruchnahme rztlicher Hilfe im schweren Anfall lange hinauszuzçgern oder zu vermeiden. Studien zeigen, dass weit ber die Hlfte der Asthma-Patienten trotz fehlender Besserung ihrer Beschwerden mehr als 48 Stunden warten, bevor sie rztliche Hilfe aufsuchen (Ellis u. Friend, 1985). Vielfach sind es gerade die Patienten mit der grçßten Morbiditt, die die notwendige Inanspruchnahme rztlicher Hilfe am lngsten hinauszçgern (Sibbald, 1989). Angesichts der noch immer hohen Sterblichkeit im Gefolge schwerer Anflle sind diese selbstschdigenden Verhaltens- und Beziehungsmuster von grçßter Relevanz. Eine Untersuchung der British Thoracic Association (1982) ber tçdlich verlaufene Asthma-Anflle war zu dem Ergebnis gekommen, dass in ber drei Viertel der Flle der Schweregrad der Zustandsbildes von Patienten oder deren Angehçrigen nicht richtig eingeschtzt worden war und dass in der Mehrzahl der untersuchten Patienten die zuletzt verordnete medikamentçse Therapie mit Bronchodilatatoren und Kortikosteroiden entweder unzureichend dosiert oder gar nicht durchgefhrt worden war. ComplianceDefizite spielen bei Todesfllen offenbar eine wesentliche Rolle (Jorgensen et al., 2000). Eine britische gemeindebasierte Fallkontroll-Studie ber 533 Flle betonte ebenfalls die Bedeutung psychosozialer Faktoren fr ein erhçhtes Todesrisiko (Sturdy et al., 2002). Angstsymptome, depressive Stçrungen sowie Persçnlichkeitsstçrungen prdisponieren Patienten mit Asthma bronchiale offensichtlich zur Entwicklung einer lebensbedrohlichen Atemwegssituation (Alvareza u. Fitzgerald, 2007). Von Bedeutung sind weiterhin Befunde, die einen Zusammenhang zwischen erhçhter Alexithymie und lebensbedrohlicher Asthmasymptomatik beschreiben: Durch die verminderte Fhigkeit zur Wahrnehmung von Emotionen und Kçrperempfindungen neigen alexithyme Asthma-Patienten offenbar dazu, die Schwere symptomatischer Exazerbationen zu unterschtzen (Serrano et al., 2006).
Wolfgang Wçller : Krankheitsverhalten bei Patienten mit Asthma bronchiale
229
Seit lngerem beobachten Kliniker bei einem Teil der Patienten mit Asthma bronchiale neben begrndeten ngsten vor Nebenwirkungen auch irrationale ngste vor antiasthmatischen Medikamenten, namentlich vor einer KortisonMedikation. Eine Behandlung mit oralen Korticosteroiden ist bei vielen Patienten mit schwerem Asthma bronchiale trotz der damit verbundenen Nebenwirkungen unumgnglich und stellt fr sie die entscheidende Hilfe bei lebensbedrohlichen Anfllen dar. Dennoch erreichen die ngste vor Kortison in vielen Fllen das Ausmaß einer Kortisonphobie (Tuft, 1979). In eigenen Explorationen fhrten die Patienten ihre ngste nur teilweise auf tatschliche oder vermeintliche Nebenwirkungen des Medikamentes zurck; oftmals konnten sie sie auch nicht weiter konkretisieren. Auffallend hufig wurde die Angst geußert, von Kortison abhngig zu werden. Oft wurde die Notwendigkeit, Kortison einzunehmen, als persçnliche Niederlage erlebt. In der biographischen Anamnese ließen sich bei diesen Patienten berwiegend Autonomie-Abhngigkeitskonflikte und Selbstwertkonflikte bei ambivalent erlebter emotionaler Untersttzung durch nahe Bezugspersonen nachweisen (Wçller et al., 1993).
Eigene Untersuchung: Krankheitsverhalten und die Beziehung zur Schlsselfigur1 Die im Folgenden dargestellte eigene Untersuchung basierte auf der Hypothese, dass die Qualitt des zentralen Beziehungsmusters, operationalisiert als Qualitt der emotionalen Untersttzung durch die nchste Bezugsperson, die »Schlsselfigur« im Sinne von Engel und Schmale (1969), einen Einfluss auf das Krankheitsverhalten von Patienten mit Asthma bronchiale ausbt in dem Sinne, dass die Tendenz zu Risikokrankheitsverhalten umso ausgeprgter ist, je konflikthafter die Beziehung zur nchsten Bezugsperson erlebt wird. Angesichts der schon in der lteren psychosomatischen Literatur beschriebenen Bedeutung von Autonomie-Abhngigkeitskonflikten bei Patienten mit Asthma bronchiale (Bastiaans u. Groen, 1955; Knapp u. Nemetz, 1957; de Boor, 1965) konnte vermutet werden, dass sich konflikthaft erlebte Beziehungen zu »Schlsselfiguren« in der Art des Umgangs mit Medikamenten und im Verhalten bei schweren Anfllen niederschlagen wrden. Eine 1 Die Untersuchung entstand in Kooperation mit Mitarbeitern der Medizinischen Klinik, Abt. Ernhrung und Stoffwechsel der Heinrich-Heine-Universitt Dsseldorf (Leiter: Prof. Dr. M. Berger). Sie war Teil meiner gleichnamigen Habilitationsschrift an der Heinrich-Heine-Universitt Dsseldorf, fr deren Fçrderung und Untersttzung ich Herrn Prof. Dr. Dr. W. Tress danke.
230
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Person, die davon berzeugt ist, dass sie von einer Schlsselfigur nur um ihrer Leistung willen geschtzt wird, und die das Gefhl hat, nur so lange wertgeschtzt zu werden, wie sie stark und leistungsfhig ist, wird es, so die Hypothese, aus Grnden der Autonomiesicherung und Selbstwertregulierung schwer haben, sie um Hilfe zu bitten. Sie wird es vorziehen, Schwierigkeiten allein und ohne fremde Untersttzung zu bewltigen, und es vermeiden, die Schlsselfigur mit eigenen Problemen zu »belasten«. Ein solches »pseudoautonomes Beziehungsmuster« wird sich nicht nur gegenber nahen Bezugspersonen, sondern auch in der Arzt-Patient-Beziehung, in der Beziehung zu medizinischen Einrichtungen und in der Beziehung zu Medikamenten manifestieren. Es wird sich nicht nur – so die spezifischen Hypothesen – in einer verzçgerten oder vermiedenen Inanspruchnahme rztlicher Hilfe bei schweren Anfllen ausdrcken, sondern auch in einer besonderen Verarbeitung solcher Medikamente, die sich – wie Kortisonprparate – wegen ihrer hilfreichen und zugleich schdigenden Wirkungen fr ambivalente Projektionen eignen. Die Untersuchung entstand in Kooperation mit Mitarbeitern der Medizinischen Klinik, Abt. Ernhrung und Stoffwechsel der Heinrich-Heine-Universitt Dsseldorf (Leiter : Prof. Dr. M. Berger), die ein strukturiertes Schulungsprogramm fr Patienten mit Asthma bronchiale erarbeitet und evaluiert hatten. Das Ziel des Schulungsprogramms war es, die Patienten in die Lage zu versetzen, Symptomverschlechterungen zu erkennen und geeignete Maßnahmen zur Symptombekmpfung einzuleiten. Es ließ sich zeigen, dass durch diese Intervention die Anzahl schwerer Anflle und die Zahl der Kliniktage wegen Asthma in erheblichem Maße gesenkt werden konnten (Mhlhauser et al., 1991). Dennoch blieb eine Untergruppe von Asthma-Patienten, die trotz umfangreicher Information ber die Erkrankung und ihre Behandlungsmçglichkeiten zu einem erheblichen Risikokrankheitsverhalten neigten, indem sie bei Verschlechterung ihrer Atemwegssituation und bei schweren Anfllen die Inanspruchnahme rztlicher Hilfe vermieden oder lange hinauszçgerten. Ein weiteres Problem stellten die beschriebenen irrationalen ngste vor einer notwendigen Kortison-Medikation dar.
Patientenstichproben und Instrumente Um die dargestellten Hypothesen zu testen, war es notwendig, den Faktor des krankheitsbezogenen Wissens zu kontrollieren. Aus diesem Grunde wurden zwei Gruppen von Asthma-Patienten untersucht, die sich hinsichtlich der Teilnahme an einem strukturierten Schulungsprogramm unterschieden. Eine erste Stichprobe (n = 90) umfasste alle konsekutiven Patienten mit Asthma bronchiale, die zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht an einem Schu-
Wolfgang Wçller : Krankheitsverhalten bei Patienten mit Asthma bronchiale
231
lungsprogramm teilgenommen hatten. Eine zweite, von der ersten unabhngige Stichprobe (n = 60) bestand ausschließlich aus Patienten, die bereits an dem Dsseldorfer Asthma-Schulungs- und Behandlungsprogramm (ABUS) teilgenommen hatten (s. Tab. 1 u. 2). Der Zeitraum seit der Teilnahme an ABUS betrug im Mittel 15,7 Monate (sd 4,9). Das Schulungsprogramm wurde im Rahmen eines stationren Aufenthaltes ganztgig an 5 aufeinander fol-
Tabelle 1: Alters- und Geschlechtsverteilung, Anfallsfrequenz und Corticoidmedikation der Patientenstichproben
Tabelle 2: Lungenfunktionswerte und Krankheitsdauer bei den untersuchten Stichproben
232
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
genden Tagen in Gruppen von je 4 bis 6 Patienten von einem Asthmaberater durchgefhrt. Neben einem klinischen Interview wurden die folgenden, berwiegend selbst entwickelten Fragebçgen und Skalen eingesetzt: – Fragebogen zum Krankheitsverhalten bei Asthma bronchiale mit den Skalen »Non-Compliance-Orientierung« (a =.56) und »Arztvermeidendes Verhalten« (a = .73) – Fragebogen zur Erfassung der emotionalen Untersttzung durch eine Schlsselfigur (»Zentrales Beziehungsmuster«) (a =.87) mit den Skalen »Verstndnisvoll-wertschtzendes Muster« (a = .87) und »Pseudoautonomes Muster« (neg.) (a =.75) – Fragebogen zum subjektiven Kortisonbild mit den Skalen »Hilfreicher Aspekt« (a = .87) und »Bedrohlicher Aspekt« (a = .70) – Skala zur Arzt-Patient-Beziehung (a = .87) – Anfallsverarbeitungsfragebogen (Kollra, 1986), daraus die Skala »Ablenkung, Kompensation« (a =.87) – Wissen ber Asthma (a = .70) (Mhlhauser, 1991) Zur Testung der Hypothesen wurde zunchst mittels varianzanalytischer Modelle geprft, ob sich Unterschiede fanden zwischen Patienten mit und ohne Teilnahme an dem Schulungsprogramm ABUS und zwischen Patienten mit eher hilfreich beziehungsweise eher nicht hilfreich erlebter Beziehung zur Schlsselfigur im Hinblick auf die abhngigen Variablen des Risikokrankheitsverhaltens »Non-Compliance-Orientierung« und »Arztvermeidendes Verhalten«. Anschließend wurde ein Pfadmodell formuliert, in dem weitere theoretisch zu erwartende Einflsse auf die abhngigen Variablen des Risikokrankheitsverhaltens »Non-Compliance-Orientierung« und »Arztvermeidendes Verhalten« geprft werden sollten. In einem letzten Schritt wurden Strukturgleichungsmodelle mit latenten Variablen gerechnet, um den Einfluss der durch das Pfadmodell als relevant identifizierten Faktoren auf das bergeordnete Konstrukt Risikokrankheitsverhalten genauer zu untersuchen. In Strukturgleichungsmodellen werden die Beziehungen zwischen mehreren Konstrukten abgebildet. Die Konstrukte werden in den Messmodellen durch die gemessenen Variablen operationalisiert. Das exogene Messmodell beinhaltet die »unabhngigen« Variablen, in dem endogenen Messmodell finden sich die »abhngigen« Variablen. Fr die Gte der Anpassung wurden der GFI Index (= General Fit Index) und der RMR-Index (= Root mean square residual index) bestimmt. Einer optimalen Modellanpassung entspricht ein GFI von 1 und ein RMR-Index von Null (Backhaus et al., 1990, S. 288).
Wolfgang Wçller : Krankheitsverhalten bei Patienten mit Asthma bronchiale
233
Ergebnisse Ein Vergleich der beiden Patientengruppen zeigte, dass sich Patienten mit Asthma bronchiale, die an dem strukturierten Asthma-Behandlungs- und Schulungsprogramm (ABUS) teilgenommen hatten, von solchen, die daran nicht teilgenommen haben, durch eine geringere Anzahl schwerer Anflle im zurckliegenden Jahr (c2 = 15,5; p < .01) und durch ein grçßeres krankheitsbezogenes Wissen (F = 7,9; p 25 mit einer erhçhten Mortalitt einhergeht (Allison, Fontaine, Manson, Stevens u. Van-Itallie, 1999). Die Behandlungskosten der Folgeerkrankungen von bergewicht und Adipositas fr die Gesundheitssysteme wurden 1995 in den USA auf 99,2 Milliarden US-Dollar (Sabbioni, 2003) und in Deutschland bereits 1990 auf ber 100 Milliarden DM pro Jahr geschtzt (Kohlmeier, Kroke, Pçtzsch, Kohlmeier u. Marztin, 1993). Leider ist der Erfolg von Therapiemaßnahmen, das heißt eine lang anhaltende Gewichtsreduktion, bisher als gering einzuschtzen (beispielsweise Goodrick u. Foreyt, 1991; NIH Technology Assessment Conference Panel, 1992; Stroebe, 2002; Sabbioni, 2003). Nach Rosmond (2004) ist die Erklrung der Pathogenese der Adipositas eine der komplexesten in der gesamten Medizin. So spielen hereditre Faktoren fr die Entstehung und den Verlauf der Adipositas eine große Rolle (Hebebrand u. Hinney, 2000; Hebebrand u. Remschmidt, 1995; Stunkard, Harris, Pedersen u. McClearn, 1990; Bouchard et al., 1990). Inzwischen sind mehr als 400 Gene identifiziert worden, die eine Rolle bei der Gewichtsregulation spielen, jedoch nur »a handful of humans worldwide have been shown to have a true ›genetic obesity‹« (Astrup, Hill u. Rçssner, 2004, S. 125 oder Hebebrand, Hebebrand u. Hinney, 2003). Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass die genetischen Anlagen lediglich festlegen, ob ein Mensch adipçs werden kann. Meistens sagt dies aber nichts darber aus, ob ein Mensch auch tatschlich adipçs wird1. Einer guten Arzt-Patienten-Beziehung wird ein wichtiger Einfluss auf Krankheitsverlauf, Gesundungswillen und Behandlungserfolg zugeschrieben. Ohne eine solche positive Beziehung kçnnen therapeutische Maßnahmen erfolglos bleiben, weil der Patient nicht kooperiert, das heißt rztliche Ratschlge nicht versteht, befolgt oder verordnete Medikamente nicht einnimmt. Interaktionelle Schwierigkeiten mit den behandelnden rzten und eine eingeschrnkte Compliance von adipçsen Patienten stellen ein immer wieder beschriebenes Dilemma bei sich wiederholenden Therapieversuchen dar. Die Arzt-Patient- beziehungsweise die Patient-Therapeut-Beziehung ist im Allgemeinen stark von den jeweiligen Bindungsstilen der Patienten geprgt. In der Literatur finden sich bisher jedoch keine Berichte ber systematische Untersuchungen der Bindungsstile bei Adipçsen. Um mçgliche Zusammenhnge zwischen Bindungsstil und Gewichtsreduktion sowie der Patient-The1 Hier wird abgesehen von selten vorkommenden Syndromen, bei denen offenbar eine 100 prozentige Penetranz der Anlage vorliegt.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
243
rapeut-Beziehung zu erforschen, haben wir Adipçse begleitet und untersucht, die an einem einjhrigen Gewichtsreduktionsprogramm teilnehmen. Ziel dieser Untersuchung war es, erstmals die Bedeutung des spezifischen Bindungsstils fr die Therapie der Adipositas zu untersuchen, um so prognostische Faktoren zu identifizieren und damit eine Grundlage fr modifizierte Therapieangebote zu schaffen, ohne zu verkennen, dass vielfltige Faktoren Einfluss auf die Gewichtsreduktion nehmen. Im Folgenden wird die Bindungstheorie nach Bowlby kurz dargestellt und ein berblick ber den Forschungsstand zur Rolle des Bindungsstils bei verschiedenen Krankheitsbildern sowie hinsichtlich der Patient-TherapeutBeziehung gegeben, der durch einige Befunde zur Affektregulation bei Adipçsen ergnzt wird.
Bindungstheorie Die Bindungstheorie geht davon aus, dass es bei den meisten Sugetieren und auch beim Menschen ein biologisch angelegtes Bindungssystem gibt, das Schutz vor inneren und ußeren Gefahren und ngsten ermçglicht (Kçhler, 2000). Bowlby begreift Bindung »als Ausdruck eines emotionalen Kerns gefhlter Sicherheit und wahrgenommenen Schutzes vor Gefahr in Anwesenheit einer Bindungsperson« (Strauss, 2000, S. 99). Der Niederschlag dieser frh erlebten Beziehungs- und Bindungserfahrungen charakterisiert so die (innere) Reprsentanzenwelt des gereiften Menschen. Die Bindungstheorie befasst sich mit grundlegenden frhen Einflssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes. Es wird versucht, »die Entstehung und Vernderung von starken gefhlsmßigen Bindungen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklren« (Brisch, 2000, S. 35). Das Bindungssystem ist fr die Entwicklung der starken emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind verantwortlich (Brisch, 2000). Es wird aktiviert, sobald eine ußere oder innere Gefahr auftaucht, die nicht vom Kind selbst behoben werden kann, und hat somit eine berlebenssichernde Funktion inne. In einer solchen Situation wird das sogenannte »Bindungsverhalten« ausgelçst. Das kleine Kind wendet sich an die ihm vertraute Person, zum Beispiel an seine Mutter oder seinen Vater, zu denen es eine ganz spezifische Bindung aufbaut. »In diese Bindungsbeziehung gehen seine Gefhle, Erwartungen und Verhaltensstrategien ein, die es aufgrund seiner Erfahrungen mit den wichtigsten Pflegepersonen entwickelt hat« (Kçhler, 2000, S. 13). Dies wird als Bindungsmuster bezeichnet, welches sich aus den Erfahrungen des Kindes mit der jeweiligen Bindungsperson whrend des ersten Lebensjahres entwickelt. Es kann sich im Laufe der Zeit durch emotionale Erfahrungen in neuen Beziehungen in verschiedene Richtungen verndern, bleibt aber in
244
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
seiner Grundstruktur in den meisten Fllen stabil (Eggert, Levendosky u. Klump, 2007; Hazan u. Shaver, 1987; Collins u. Read, 1990; Scroufe, Carlson, Levy u. Egeland, 1999). Bindung stellt so eine emotionale Basis whrend des ganzen Lebens bis ins Alter hinein dar (Brisch, 2000). Nachdem Bowlby Ende der 1960er Jahre die Bindungstheorie (Bowlby, 1969/1975) entwickelt hatte, operationalisierten Ainsworth, Blehar, Waters und Wall (1978) dessen Konstrukte und erarbeiteten Kategorien verschiedener Bindungstypologien. Inzwischen werden vier Bindungsmodelle unterschieden: sicherer Typ, ambivalenter Typ, vermeidender Typ und desorganisiert/ unverarbeitet-traumatisierter Typ (Grossmann u. Grossmann, 1995; Strauss u. Lobo-Drost, 1999; Jellema, 1999; v. Sydow, 2002). Im Rahmen dieses Beitrages wird nur auf die ersten drei Bindungsstile eingegangen, die an dieser Stelle lediglich in kurzer Form umrissen werden: Sicher gebundene Erwachsene haben ihre Eltern in der Kindheit als feinfhlig handelnd und reagierend erlebt und verfgen als Erwachsene ber Urvertrauen. Ambivalent Gebundene haben in ihrer Kindheit in der Ungewissheit gelebt, ob und wenn ja, wann sie auf ihre Eltern zhlen konnten. Sie sind als Erwachsene vermehrt unsicher und anklammernd. Vermeidend Gebundene haben ihre Eltern als mehr oder weniger durchgngig nicht feinfhlig versorgend erlebt und versuchen als Erwachsene, auf Zuneigung und fremde Hilfe zu verzichten. Sie streben stark nach Autarkie.
Forschungsstand zur Rolle des Bindungsstils bei verschiedenen Krankheitsbildern Fr die Essstçrungen Anorexia nervosa und Bulimie wurden bereits zahlreiche Studien in Bezug auf die Bindungsstile durchgefhrt (z. B. Ringer u. McKinsey Crittenden, 2006; Tasca, Taylor, Bissada, Ritchie u. Balfour, 2004; Meyer u. Gillings, 2004; Orzolek-Kronner, 2002; Ward, Ramsay, Turnbull, Benedettini u. Treasure, 2000; Salzman, 1997; Cole-Detke u. Kobak, 1996; Armstrong u. Roth, 1989), die den Einfluss von frhkindlichen Erfahrungen belegen und das berwiegende Vorliegen eines unsicheren Bindungsstils bei den essgestçrten Probanden nahe legen (Cole-Detke u. Kobak, 1996; Armstrong u. Roth, 1989). Eine eindeutige Zuordnung zum vermeidenden oder ambivalenten Bindungsstil scheint allerdings nicht mçglich zu sein. Platts, Tyson und Mason (2002, S. 336) fhren in Bezug auf die Relevanz der Bindungserfahrungen fr die Entstehung von Essstçrungen immerhin aus, »that attachment style is not the central factor in the causality of eating disorders, but rather an important contributor«. Auch andere psychosomatische Krankheitsbilder wurden in Bezug auf die Bindungsstile untersucht, wie beispielsweise Neurodermitis (Rabung, Ubbelohde, Kiefer u. Schauenburg, 2004) und somatoforme Stçrungen (Waller u.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
245
Scheidt, 2002) sowie chronische Erkrankungen (Schmidt, Nachtigall, Wuethrich-Martone u. Strauss, 2002). Außerdem wurde die Bedeutung von Bindungsaspekten fr die Diagnostik und Therapie spezifischer psychischer Stçrungen untersucht und deren Relevanz belegt (beispielsweise Review von Buchheim, Strauss u. Kchele, 2002; Zusammenfassungen von Platts, Tyson u. Mason, 2002 oder Strauss, 2006; Kçhler, 1992; Kçhler, 1998; Sachse u. Strauss 2002; Crawford et al., 2007). Bei allen genannten Krankheitsbildern hat sich ein relevanter Zusammenhang zwischen Bindungsstil und der Entstehung, Diagnostik und/ oder Therapie gezeigt, so dass es aus unserer Sicht dringend angezeigt war, die Bedeutung der Bindungsstile fr die Therapie Adipçser zu untersuchen.
Patient-Therapeut-Beziehung in Abhngigkeit vom Bindungsstil In der Regel wird eine schlechte Compliance der Pradipçsen und Adipçsen (Wing, 1992) beobachtet, was unter anderem ebenfalls auf einen unsicheren Bindungsstil zurckzufhren sein kann. Im Hinblick auf die Bereitschaft, berhaupt therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, werden in Abhngigkeit vom vorherrschenden Bindungsstil Unterschiede vermutet, die zum Teil auch schon empirisch belegt wurden: Strauss (2006) folgend gibt es mittlerweile ausreichend viele Befunde, die zeigen, dass der Einfluss der Bindungsstrategien auf »die Psychotherapie und die Gestaltung beziehungsweise Entwicklung der therapeutischen Beziehung von Bedeutung ist, da sich Personen mit unterschiedlichen Formen von Bindungsunsicherheit in ihren Interaktionen unterscheiden und beispielsweise auch unterschiedliche Reaktionen in ihrem Gegenber auslçsen« (Strauss, 2006, S. 12). Daher sei es sinnvoll, »die Befunde der Bindungsforschung in Beziehung zu Beobachtungen im Kontext psychotherapeutischer Interaktion zu setzen, speziell der therapeutischen Beziehung, die zumindest Zge einer Bindungsbeziehung trgt beziehungsweise tragen kann« (Strauss, 2006, S. 12). Pereira, Lock und Oggins (2006) fassen zusammen, dass eine hçhere therapeutische Alliance mit besseren Ergebnissen einhergeht. Vermeidend Gebundene werden, wenn sie therapeutische Kontakte suchen, als eher khl, zurckhaltend und pflegeleicht-freundlich beschrieben. Sie wrden, nach Slade (1999), Hilfe zurckweisen und die Aufmerksamkeit geschickt von emotionalen Themen ablenken. Sie erkennen ihre Schwierigkeiten weniger an und sind weniger bereit, an interpersonalen Problemen zu arbeiten. Dozier (1990; zit. nach Tasca et al., 2004, S. 203) kommt zu dem Schluss, dass vermeidend Gebundene aufgrund ihrer bisherigen schlechten Erfahrungen mit nicht-frsorglichen Pflegepersonen kaum nach Hilfe suchen, da sie befrchten, dass ihr Therapeut ebenfalls nicht in der Lage sein wird, ihre
246
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Bedrfnisse zu befriedigen. Den ambivalent Gebundenen fllt es, nach Strauss (2006), dagegen leichter, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sie wrden dabei im Gegensatz zu den vermeidend Gebundenen eher fordernd erscheinen. Nach Dozier und Bates (2004, zit. nach Strauss, 2006, S. 9) erkennen diese Personen ihre Probleme durchaus an und neigen dazu zu bertreiben. Im therapeutischen Kontakt zeigen sie sich als bedrftig und fordernd zugleich. Ambivalent Gebundene testen die Grenzen aus und provozieren dadurch gegebenenfalls Feindseligkeit. Andererseits halten sie es nur schlecht aus, allein zu sein oder verlassen zu werden (Slade, 1999). Sicher gebundene Erwachsene werden dagegen als deutlich kooperativer und engagierter im Zusammenhang mit therapeutischen Hilfsangeboten beschrieben (eine bersicht dazu gibt Strauss, 2006; Kçpsel et al., 2007).
Psychische Faktoren bei der Entstehung der Adipositas – Rolle der Affektregulation und der Bindungsstile Als ein Co-Faktor der Adipositasentwicklung wird eine nicht ausgereifte Affektregulation angenommen, die ihre Wurzeln in der Interaktion mit den primren Bezugspersonen hat (Baldaro et al., 2003) und mit frhen Bindungserfahrungen in Zusammenhang steht. Bruch (1961, 1973) betont die motivationalen Elemente bei der Entstehung der Adipositas. Sie geht davon aus, dass adipçse Menschen nicht in der Lage sind, Hungergefhle von anderen kçrperlichen Bedrfnissen oder emotionaler Erregung zu unterscheiden und fhrt dies auf Kindheitserfahrungen, inbesondere in der Interaktion mit der Mutter, zurck. Charone (1982) betont, dass Adipositas und auch Anorexie Hilferufe seien, die einen Affekthunger ausdrcken – »yet acted out upon food in the primitive equation between food and mother to which we are all vulnerable« (Charone, 1982, S. 38). In Bezug auf familire Einflussfaktoren auf das Essverhalten fhren Petermann und Hring (2003) aus, dass die Familie den Kindern Vorbilder, Regeln und Muster fr angemessenes und unangemessenes Essverhalten vermittele. Ein unangemessenes Essverhalten wird durch eine gestçrte Hunger- und Sttigungsregulation grundlegend begnstigt. Eine so gestçrte Regulation liegt hufig vor, wenn Eltern Nahrungsmittel als Belohnung oder deren Entzug als Bestrafung einsetzen. In solchen Fllen wird das Nahrungsangebot hufig als Ersatz fr emotionale Zuwendung und als »Problemlçsestrategie« benutzt. Des Weiteren weisen die Interaktionsmuster in Familien mit adipçsen Kindern hufig dysfunktionale Kommunikations- und Konfliktbewltigungsmuster auf, die auch im Hinblick auf die Kindheit unsicher Gebundener beschrieben wurden (Strauss u. LoboDrost, 1999).
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
247
Der starke Einfluss des familiren Umfelds und der frhkindlichen Erfahrungen verdeutlicht, dass die Betrachtung und Bearbeitung dieser Faktoren essentiell fr den Erfolg von Adipositas-Interventionsprogrammen ist (Epstein, 1996). Es muss festgehalten werden, dass die oben beschriebenen kindlichen interaktionalen Erfahrungen Adipçser unter anderem auch als bedeutsam fr die Entwicklung unsicherer Bindungsstile beschrieben werden. Dies bedeutet, dass diejenigen, die in der Kindheit nicht erfahren haben, dass nur auf ein tatschliches Hungergefhl mit Nahrung reagiert wurde, tendenziell hnliche Erfahrungen auch in anderen Bereichen der Eltern-Kind-Beziehung gemacht haben und deshalb einen unsicheren Bindungsstil aufweisen. Wohingegen die sicher Gebundenen, bei denen die Bezugspersonen adquat auf Bedrfnisse eingegangen sind, unter anderem auch gelernt haben, zwischen Hungergefhlen und anderen Emotionen zu unterscheiden. Wenn sicher Gebundene adipçs sind oder werden, ist dies demnach nicht auf eine in der Kindheit angelegte gestçrte Affektregulation zurckzufhren, sondern ist durch eine der weiteren zahlreichen mçglichen Ursachen fr Adipositas begrndet. Die beschriebenen interpersonalen Faktoren wurden bei 44 adipçsen Patienten, die an einem einjhrigen multimodalen Gewichtsreduktionsprogramm teilgenommen haben, untersucht. Im Folgenden werden die Studienergebnisse zu den Bindungsstilen, dem Therapieerfolg und der PatientTherapeut-Beziehung zusammengefasst vorgestellt.
Ergebnisdarstellung der Untersuchung und Diskussion Bindungsstile Bei den untersuchten 44 erwachsenen adipçsen Patienten (4 Mnner und 40 Frauen, BMI 30), die an dem einjhrigen multimodalen Gewichtsreduktionsprogramm der endokrinologischen Abteilung des Universittsklinikums Charit (Campus Benjamin Franklin) in Berlin teilgenommen haben, waren 30 (68 %) sicher und 14 (32 %) unsicher gebunden. Von den unsicher Gebundenen wiesen 6 (14 %) einen ambivalenten und 8 (18 %) einen vermeidenden Bindungsstil auf. Zur Erhebung des Bindungsstils wurde ein halbstandardisiertes ein- bis zweistndiges Bindungsinterviews gefhrt, das mittels des Erwachsenen-Bindungsprototypen-Ratings von Strauss und Lobo-Drost (1999) ausgewertet wurde. Die ausfhrliche Darstellung der Studie erfolgt bei Kiesewetter et al. (in Review). Es ist festzuhalten, dass sich die Bindungsstile der von uns untersuchten Adipçsen tendenziell nicht von der in der Literatur beschriebenen nichtkli-
248
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
nischen Stichprobe (N = 870, Erhebung mit dem Adult Attachment Interview, van IJzendoorn u. Bakermans-Kranenburg, 1996) unterscheiden: sicher gebunden: 68 % versus 60 %, unsicher ambivalent gebunden: 14 % versus 17 % und unsicher vermeidend gebunden: 18 % versus 23 %. Wahrscheinlich sind die untersuchten Patienten nicht reprsentativ, weil durch die freiwillige Kursteilnahme ein Selektionseffekt vorliegen kann. Goodwin und Fitzgibbon (2002) zeigen in einer Studie mit anorektischen und bulimischen Patienten, dass die Gruppe der unsicher gebundenen essgestçrten Patientinnen oft ein ambulantes Behandlungsangebot verweigert, was auch den hohen Anteil sicher gebundener Patienten in unserer Stichprobe erklren wrde: Die unsicher Gebundenen lassen sich auf ein solches einjhriges Gruppenprogramm gar nicht erst ein.
Gewichtsreduktion Die Suche nach Prdiktoren fr eine erfolgreiche und lang anhaltende Gewichtsreduktion begann bereits in den 1970er Jahren (Bonato u. Boland, 1987; Teixeira, Going, Sardinha u. Lohman, 2005) lieferte jedoch keine einheitlichen Ergebnisse, so dass es bisher nicht mçglich ist, auf Basis bestimmter Faktoren vorherzusagen, welche Patienten erfolgreich Gewicht reduzieren kçnnen (Reviews zu diesem Thema: beispielsweise Leon u. Sternberg Rosenthal, 1984; Dohm, Beattie, Aibel u. Striegel-Moore, 2001; Teixeira, Going, Sardinha u. Lohman, 2005; Elfhag u. Rçssner, 2005). In unserer Studie zeigte sich nach Durchlaufen des Programms, das aus einer halbjhrigen aktiven und einer halbjhrigen passiven Phase bestand und die Komponenten Bewegungstherapie, Ernhrungsberatung, rztliche Beratung, Kochkurs und psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie (s. a. Heigl-Evers, Heigl u. Ott, 1993) umfasste, bei den sicher gebundenen Patienten eine signifikant hçhere Gewichtsreduktion als bei den unsicher gebundenen (7,6 % vs. 3,5 % Gewichtsreduktion; p = 0.047). Bei Definition erfolgreicher Gewichtsreduktion von mindestens 5 % (Schultes, 2005; Petermann u. Pudel, 2003; Dohm, Beattie, Aibel u. Striegel-Moore, 2001; Wadden u. Frey, 1997) konnte jedoch nur ein tendenzieller Unterschied zwischen den sicher und den unsicher Gebundenen festgestellt werden. Immerhin haben jedoch 70 % der sicher Gebundenen, aber nur 43 % der unsicher Gebundenen mehr als 5 % ihres Gewichts innerhalb eines Jahres verloren. Dies entspricht den berlegungen, dass die sicher Gebundenen einen besseren Zugang zu ihren Emotionen und auch zu ihren Essgewohnheiten haben. Sie sind in der Lage, ihr Essverhalten besser wahrzunehmen, zu verstehen und benennen zu kçnnen. Sie haben somit auch bessere Voraussetzungen fr eine erfolgreiche Gewichtsreduktion.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
249
Es ist anzunehmen, dass die ambivalent Gebundenen hiermit wahrscheinlich eher Probleme haben, und so zum Beispiel bei einer Gefhlsverstrickung gar nicht wahrnehmen, dass sie diese mit Essen zu kompensieren versuchen. Die vermeidend Gebundenen haben dagegen eher generelle Schwierigkeiten, Gefhle zuzulassen. Sie kompensieren meist mit Essen, wie sie es schon frh gelernt haben, ohne dieses Verhalten kognitiv nachzuvollziehen. Bei Misserfolgen suchen sie eher die Schuld bei anderen – in unserem Fall bei der Therapeutin. Nach Jellema (2002) kann davon ausgegangen werden, dass einige unsicher gebundene Patienten große Schwierigkeiten mit zeitlich begrenzten Therapien und dem Herannahen des Therapieendes haben. Auch in unserem Setting wurden nur maximal 13 Sitzungen Gruppentherapie angeboten, so dass das Ende der Psychotherapie schon von Anfang an ber allem schwebte.
Patient-Therapeut-Beziehung Im Hinblick auf die Einschtzung der Patient-Therapeut-Beziehung, die wir mit dem Helping Alliance Questionnaire (HAQ) (Luborsky, Crits-Christoph, Alexander, Margolis u. Cohen, 1983) (deutsch von Bassler, Potratz u. Krauthauser, 1995) durch die Patienten und die Psychotherapeutin nach der dritten Gruppentherapiesitzung erhoben haben, zeigte sich, dass die sicher gebundenen Patienten die Patient-Therapeut-Beziehung deutlich positiver als die unsicher gebundenen eingeschtzt haben. Auch die Therapeutin beurteilte die Beziehungskomponente bei den sicher Gebundenen signifikant positiver. Es zeigten sich, entgegen unserer Hypothese, dass die Patient-Therapeut-Beziehung ein wesentlicher Faktor des Therapieerfolges ist (Perris, 2000), keine direkten Zusammenhnge zwischen der positiven Einschtzung der PatientTherapeut-Beziehung und einer erfolgreichen Gewichtsreduktion. Einschrnkend muss erwhnt werden, dass ausschließlich die Beziehung zur Gruppentherapeutin, jedoch nicht die zu den weiteren Behandelnden (Ernhrungsberaterinnen, ein Arzt, Bewegungstherapeuten und Studienassistentin) erhoben wurde. Besonders in Bezug auf den Therapieerfolg, der einem Konglomerat von Einflussfaktoren unterworfen ist, wre die Untersuchung der Auswirkungen der Bindungsstile auf die Beziehungsgestaltung zu den brigen Beteiligten sicherlich lohnenswert, und sollte in zuknftige Studien einbezogen werden. Nach Bowlby (1995, S. 140) entspricht die Funktion des Therapeuten der einer Mutter, die ihrem Kind eine verlssliche Basis bietet. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass die unsicher gebundenen Patienten in dieser zeitlich sehr begrenzten Gruppentherapie die Patient-Therapeut-Beziehung si-
250
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
gnifikant schlechter beurteilt haben. Gerade die zeitlich begrenzte Gruppentherapie vernachlssigt die spezifischen Bedrfnisse von vermeidend und ambivalent gebundenen Patienten (Strauss, 2006), denn die Bereitstellung einer sicheren Basis fr die Exploration ist ein wesentliches, bindungsrelevantes Charakteristikum der therapeutischen Beziehung (Farber, Lippert u. Nevas, 1995; Strauss, 2000). Strauss (2006) vertritt mit Verweis auf weitere Autoren die Auffassung, »dass Patienten beispielsweise (aber keineswegs nur) zu Beginn einer Therapie (einer ›fremden Situation‹) durch die Aktivierung des Bindungssystems auf Verhaltensweisen zurckgreifen, die vom inneren Arbeitsmodell der Bindung beziehungsweise den entsprechenden ›states of mind‹ abgeleitet sind, um mit unangenehmen Gefhlen fertig zu werden« (Strauss, 2006, S. 8). Nach Strauss (2006) sagt ein ambivalenter Bindungsstil dabei eine negativere Bewertung der therapeutischen Beziehung voraus, wobei sich nicht in allen Studien ein direkter Zusammenhang von unsicherer Bindung und einer spezifischen Qualitt der therapeutischen Beziehung gezeigt habe. In Bezug auf die Behandlung von an Major Depression Erkrankten konnte jedoch festgestellt werden, dass eine ngstlich vermeidende Bindung negativere Behandlungsergebnisse bewirkt (Reis u. Grenyer, 2004). Im Hinblick auf die therapeutischen Faktoren und Erfahrungen in der Gruppentherapie stellt Strauss (2006) dar, dass sich Bindungsmerkmale in der Gruppe als bedeutsam erweisen. Mallinckrodt und Chen (2004) zeigten, dass die Wahrnehmung anderer in der Gruppe durch den Bindungsstatus insbesondere bei vermeidenden Personen differiert. Diese schtzen andere weniger freundlich, aber auch weniger dominant ein. Sachse und Strauss (2002) konnten nachweisen, dass vermeidend gebundene Patienten interpersonale Gruppenerfahrungen (Altruismus, Kohsion, interpersonales Lernen) als eindeutig weniger hilfreich bewerteten als eher kognitive Erfahrungen (wie Klarifikation, Einsicht).
Auswirkungen der Bindungsstile Auswirkungen der Bindungsstile im Interview In den von uns durchgefhrten Bindungsinterviews wurde das Hauptaugenmerk auf Hinweise auf den Bindungsstil der Patienten gelegt. In den Gesprchen zeigten sich deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Mçglichkeiten der Patienten, von ihrer eigenen Kindheit beziehungsweise ihren kindlichen Bindungserfahrungen zu berichten. Bei einigen Patienten bewirkte das Gesprch, dass lngst vergessen geglaubte Ereignisse wieder an die
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
251
Oberflche gelangten, anderen wurde im Laufe des Gesprches deutlich, ber wie wenige Erinnerungen sie berhaupt verfgen. Auch zeigten die gezielten Fragen den Patienten teilweise, dass es zum Beispiel Lob und Besttigung in ihrer Kindheit nicht gegeben hat. Manche hatten sich bereits intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt und konnten ein sehr differenziertes Bild beschreiben. Unabhngig vom Differenzierungsgrad der Fremd- und Selbstbeschreibungen ist davon auszugehen, dass bei allen Patienten ihr jeweils spezifisch geprgtes Bindungssystem aktiviert wurde. Es ist außerdem anzunehmen, dass das wechselseitige Zusammenspiel von Motivationslage, Stçrungsbild und Bindungsstil entscheidend sowohl fr die subjektiv erlebte Wirksamkeit als auch fr messbare Verlaufsparameter ist. Patienten mit Bindungssicherheit konnten Beziehungserfahrungen kohrent darstellen. Ihnen gelang es grçßtenteils, gute und schlechte Erfahrungen zu integrieren. Es entstand ein vollstndiges Bild mit angemessener Affektregulation, wobei eine Neubewertung und Reflexion der Erfahrungen sprbar wurden. Die Wichtigkeit und Wertschtzung von Bindungen wurde betont (Strauß u. Lobo-Drost, 1999). Die Schilderungen von Patienten mit unsicher-ambivalenten Strategien waren in der Regel affektgeladen. Die Patienten wurden oftmals in der aktuellen Gesprchssituation von den frheren Ereignissen geradezu berflutet. Die Zeitebenen begannen zu verschwimmen. Die Patienten wirkten sehr verstrickt in ihre Geschichte. Die Erzhlweise war oftmals unstrukturiert und es fanden sich ausufernde Schilderungen, von denen die Erzhler sich innerlich nicht distanzieren konnten. Einschneidende Trennungserlebnisse waren grçßtenteils nicht verarbeitet. Es wurde ein starkes Bemhen um andere sprbar, verbunden mit Hinweisen auf eine bermßige Abhngigkeitsneigung. Meist haben diese Patienten im Kontext mit ihren frhen Bezugspersonen ein unvorhersagbares Verhalten erlebt (Strauß u. Lobo-Drost, 1999). Es entstand der Eindruck, dass sie ihr Verhalten den Bedrfnissen und der Stimmungslage des unmittelbaren sozialen Bezugsfeldes, insbesondere der Mutter, angepasst hatten. Die Mtter wurden oft als schwach, ngstlich und inkompetent charakterisiert und waren in Notfllen anscheinend selbst in Panik geraten, was bei den Kindern zu vermehrter Anklammerung gefhrt hatte. Mtter, die ein solches Verhalten zeigen, binden die Kinder strker an sich und erschweren eine Ablçsung, da sie die Kinder zur Aufrechterhaltung ihres narzisstischen Gleichgewichts oder auch als steuerndes Objekt (Kçnig, 2000) brauchen. Die unsicher ambivalent gebundenen Menschen antworteten in ihrer Betroffenheit beispielsweise auf eine Frage mit einem fnfmintigen Monolog, um abschließend zu fragen: »Wie war noch die Frage?« Auf diese Weise kann
252
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
ein Gesprch ber zwei Stunden dauern. Allein die Interviewdauer dient so als ein erster Indikator fr diesen Bindungsstil. Anders verhielten sich die unsicher vermeidend Gebundenen. Sie sicherten sich vorher genau ab, wie die Frage gemeint sei, beantworteten diese dann mçglichst przise und gaben selten darber hinaus gehende Informationen. Die Interviews waren so meist sehr kurz. Beim Zuhçrer entstand hufig ein lckenhaftes Bild, da die Patienten ber nur wenige konkrete Erinnerungen verfgten. Die Patienten hatten es offenbar mit abweisenden, beziehungsablehnenden Mttern zu tun. Sie beschrieben hufig Erfahrungen von fehlender Nhe und Untersttzung und verleugneten aber gleichzeitig ihre affektive Belastung: Die Eltern wurden teilweise idealisiert, ohne dass ein innerer Bezug sprbar war. Es wurden wenig Einfhlungsvermçgen und Berhrtheit sprbar. Diese Menschen sind meist um Unabhngigkeit bemht und verlassen sich auf die eigene Strke, whrend Trennungserlebnisse bagatellisiert werden (Strauß u. Lobo-Drost, 1999).
Motivationslage, Stçrungsbilder und Gruppenthemen Die Motivationslage der Patienten konnte durch die Gruppentherapeutin in vier grobe Kategorien eingeteilt werden: Solche, die »Ja« zur Gruppe sagen, sogenannte »Fatalisten«, die die Gegebenheiten zunchst einmal hinnehmen, sogenannte »Rebellen« (die sich wiederum in offene und subtile unterteilen lassen) und schließlich jene, die fernbleiben beziehungsweise unregelmßig erscheinen. Das Stçrungsbild als ein weiterer Faktor erschien in der Gruppe relativ homogen: Hufig wird eine lang andauernde emotionale frhkindliche Mangelerfahrung beschrieben, deren Folge meist eine undifferenzierte Oralitt ist. Diese ußerte sich phnomenologisch zumeist in dreifacher Weise: als altruistisch abtretend, als appellative Passivitt und als offene orale Gier. Es fand sich immer wieder eine sogenannte »Der Kunde ist Kçnig«-Mentalitt. In diesem typischen Konsumverhalten zeigten sich die Parallelen zum Essverhalten der Patienten. Den Patienten geht es mehr um das Einverleiben von Angebotenem, anstatt um die gegenseitige Bereicherung im sprachlichen Austausch. Neben diesem verbreiteten passiven Modus wurde gleichzeitig oftmals eine riesige Heilserwartung sprbar, die schon mit dem reinen Besuch des Kurses verknpft wurde. Dementsprechend groß war dann die Enttuschung. Die Passivitt bei gleichzeitig hohen Erwartungen lsst sich daher als passive Erwartungshaltung charakterisieren. In Folge dieser Haltung besteht die Gefahr einer, mit den Mitteln projektiver Identifikation (Kçnig u. Lindner, 1992) inszenierten, bloßen Wiederholung der Mangelerfahrungen, einschließlich der folgenden Enttuschungswut, fr deren therapeutische Deu-
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
253
tungen die Patienten nicht immer erreichbar waren. Psychotherapie kann jedoch nur funktionieren, wenn Dinge besprechbar werden, nachdem sie sich – verbunden mit unterdrckten Affekten – inszeniert haben. In der Therapie mit den adipçsen Patienten gab es regelhaft wiederkehrende Themen: – den Umgang mit Aggressionen, beziehungsweise die Wahrnehmung dieser, – die Nhe-Distanz-Regulation verbunden mit oft mangelnder Selbstvertretung, – das Thema der Klarifizierung von Gefhlen (typisch fr Somatisierungsstçrungen), – Autonomie-Abhngigkeitskonflikte (wobei die Autonomen eher die Niederlage des Therapeuten genießen, was jedoch gleichzeitig ihr eigenes Scheitern an der Gewichtsthematik bedeutet), – Fragen des narzisstischen Haushalts und des Selbstwertes.
Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppenpsychotherapie bei adipçsen Patienten Obwohl Adipçsen ein Einzelsetting, besonders wenn es mehrere Stunden andauert, im Rahmen ihrer Bedrftigkeit besonders entgegenkommt, bietet die Gruppentherapie ebenso wertvolle Therapieanstze. In der Gruppentherapie kann die dyadische Fixierung berwunden werden und es kçnnen so Themen, die mit Triangulierung in Zusammenhang stehen, bearbeitet werden: Eifersucht, Neid, Konkurrenz, teilen, andere fçrdern, Frustrationstoleranz entwickeln, Eigenes zu Verfgung stellen und anderes. Nur in der Gruppentherapie kçnnen die abgeleiteten Konflikte, nmlich die, bei denen sich Maßlosigkeit, Enttuschungswut und so weiter in sozialen Beziehungen als stçrend erweisen, aktualisiert und erfahrbar und schließlich bearbeitbar werden. Diesen abgeleiteten Konflikten kommt eine große Bedeutung zu, da hier eine Spirale ihren Anfang nimmt, die aus aktiver oder passiver Maßlosigkeit und berversorgung anderer besteht. Auf Grund eines solchen Verhaltens werden die Adipçsen oftmals von ihren Mitmenschen begrenzt und abgelehnt, was wiederum zum Entstehen von Frustrationswut, Misstrauen und besonders Wiedergutmachungsbedarf fhrt, der durch Essen kompensiert wird. Gelingt in der Gruppentherapie aber die initiale Erfahrung, dass gleichwertiger Austausch Bereicherung und Erfllung bringt, so kçnnen die Betroffenen von den alten Mustern ein Stck Abstand gewinnen. Die Erfahrung, dass eigene Mßigung bei angemessener Selbstvertretung lohnenswert sein kann, kann so im besten Falle zur Aufhebung des aus der Bedrftigkeit ent-
254
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
stehenden Egozentrismus, bis hin zu gegenseitigem Fçrdern und Wahrnehmen des Bedarfs des Gegenbers fhren. Die Erkenntnis, wie schwer es fr die meisten Patienten ohne exklusive Begegnung mit der Gruppenleiterin ist, sich den Herausforderungen der Gruppe auszusetzen, veranschaulicht, dass es zunchst einer Erfahrung exklusiver und sttigender dyadischer Zuwendung bedarf, um fr ein multiples Beziehungsgefge innerlich bereit zu sein. Bei knftigen Behandlungsangeboten, die die Bindungsstile der Patienten einbeziehen, wre es wnschenswert, auf diese Bindungserfahrungen Rcksicht zu nehmen und gegebenenfalls eine umfassende vorgeschaltete Einzelbehandlung anzubieten.
Auswirkungen der Bindungsstile in der Gruppenpsychotherapie Im Folgenden sollen die Beobachtungen der Gruppentherapeutin in Bezug auf die Auswirkungen der Bindungsstile innerhalb der Gruppentherapie dargestellt werden. Dabei ist zu betonen, dass sich die Ausprgung der Bindungsstile der einzelnen Patienten nicht zu 100 % gleicht, so dass die Patienten mit einem deutlich ausgeprgten Bindungsmuster die hier vorgestellten Beschreibungen polarisieren, damit aber auch veranschaulichen. Trotzdem handelt es sich deshalb nicht um einen ausschließlich subjektiven Erfahrungsbericht, da einige Beobachtungen von den nicht in die Psychotherapie involvierten Ernhrungsberaterinnen und den Bewegungstherapeuten geteilt wurden. Bei den vermeidend und den ambivalent gebundenen Patienten kamen immer wieder Inszenierungen von Unterversorgung und ungengender Betreuung im Kochkurs, bei der rztlichen Aufmerksamkeit und beim Sport vor. Sicher Gebundene Bei den sicher Gebundenen lsst sich eine ausgewogene Palette von Verhaltens- und Verarbeitungsweisen beschreiben. In der Gegenbertragung lçsten sie, unabhngig von Sympathien, bei der Therapeutin in der Regel eine hçhere Bindungsbereitschaft aus, in deren Folge sicher auch eine vermehrte Empathiebereitschaft angestoßen wurde. Unsicher-ambivalent Gebundene Das Verhalten im Interview fand sich natrlich auch in der Gruppe wieder. Dabei ließ sich feststellen, dass unsicher-ambivalent Gebundene sehr um den Gruppenzusammenhalt bemht waren. Sie organisierten zum Beispiel Telefonlisten und regten an, sich außerhalb der Gruppe zu treffen oder schlugen eine private Fortsetzung nach Beendigung der Gruppentherapie vor. Diese Patienten brachten auch hufig kleine Geschenke fr alle mit: kleine Gips-
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
255
engel, umhkelte Taschentcher, Kaufhaus-Einkaufskarten, Glckssteine, goldene Walnsse mit Sinnsprchen, verzierte Streichholzschachteln etc. Andererseits war zu beobachten, dass der Rcklauf der Fragebçgen bei diesen Patienten geringer ausfiel. Unsicher-ambivalent Gebundene kçnnen insgesamt innere Spannungen schwerer aushalten, ohne sich sprachlich oder handelnd zu entlasten, so dass sie zum Beispiel schnell mit persçnlichen Offenbarungen vorpreschen. Sie beziehen sich dabei bevorzugt ausschließlich auf die Therapeutin und berschwemmen die Gruppe geradezu mit ihren ußerungen, ohne ihre Wirkung auf andere wahrzunehmen und in Beziehung zu bleiben. In der Gegenbertragung lsst sich mitunter auch Dankbarkeit fr die eisbrecherische Pionierarbeit, die diese Patienten in der Gruppe bernehmen, verspren. In der Therapeutin werden vermehrt Dosierungs-, Strukturierungs- und Schutzfunktionen ausgelçst. Unsicher-vermeidend Gebundene Ganz anders prsentierten sich die unsicher-vermeidend Gebundenen: Sie brachten meist zum Interviewtermin die Fragebçgen sorgsam abgeheftet und ausgefllt mit. Diese Patienten rttelten fast immer am Gruppenrahmen mit Diskussionen zum Thema: »Warum drfen wir in der Gruppe nicht essen, trinken, stricken?« Sie lehnten sich gern in ihrem Stuhl zurck und sagten zu Gruppenbeginn: »Sie haben sicher etwas vorbereitet«. Es war auffllig, dass diese Patienten hufiger ber Gerichtsverfahren mit Nachbarn, Arbeitgebern oder anderen berichteten. Einige schienen das »Bçse in der Welt«, das sich gegen sie richten wrde, zu wittern – man kçnnte sie als »Verschwçrungstheoretiker« bezeichnen, man kçnnte jedoch auch sagen, dass sie anankastische und paranoide Zge aufweisen. In der Gegenbertragung lçsten sie sowohl Gefhle von rger aufgrund verschwendeter Beziehungsangebote aus als auch Impulse, sie dennoch zu gewinnen und fr die Gruppe zu »erwrmen«. In Hinblick auf bevorzugte Abwehrmechanismen zeigte sich eine Hufung bei bestimmten Bindungsstilen, wie in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Bindungsstil und beobachtete Abwehrmechanismen in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
256
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Abschließende Gedanken Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich in der von uns untersuchten Patientengruppe die Verteilung der Bindungsstile nicht von jener der Normalbevçlkerung unterscheidet. Fr die Gewichtsreduktion kann festgehalten werden, dass sicher Gebundene ihr Gewicht hufiger als unsicher Gebundene reduzieren kçnnen. So muss zunchst geschlussfolgert werden, dass der Bindungsstil unter Umstnden keine Rolle bei der Entstehung der Adipositas spielt, bei dem Versuch, das Gewicht zu reduzieren und compliant in Therapien zu sein, scheint er aber eine wesentliche Rolle zu spielen. Da es sich bei den oben dargestellten Ergebnissen um die erste Untersuchung zu den Bindungsstilen Adipçser handelt, wird weiter zu prfen sein, ob Adipçse tatschlich nicht vermehrt unsicher gebunden sind. Eine auf den Bindungsstil bezogene reprsentative Studie wre daher sehr interessant. Als ein Selektionsartefakt kann die Teilnahme an dem einjhrigen Gruppenreduktionsprogramm gesehen werden, die eine grundstzliche Bereitschaft, Beziehungen einzugehen, voraussetzt und dadurch das Ergebnis maßgeblich beeinflusst. Weitere Fragen ergeben sich aus der Tatsache, dass weder die Gruppentherapie noch die anderen Module auf bindungsspezifische Aspekte der Patienten ausgerichtet wurden: Sind solche Programme also eher auf sicher Gebundene zugeschnitten, die demnach auch erfolgreicher Gewicht reduzieren und gehen sie weniger auf die Belange und Besonderheiten bei der Therapie von unsicher Gebundenen ein? Kçnnten eine speziell auf die Bindungsstile ausgerichtete Therapie beziehungsweise eine zu verschiedenen Zeitpunkten auf die speziellen Bedrfnisse des jeweiligen Bindungsstils eingehende Therapeutin den Erfolg fr die einzelnen Patienten erhçhen? Diese Fragen mssen zunchst unbeantwortet bleiben, wren jedoch ein lohnendes Thema weiterer Untersuchungen des Einflusses der Bindungsstile auf den Therapieerfolg. Wenn es gelnge, prdiktive Bindungs- und Beziehungsvariablen zu identifizieren, kçnnten darauf aufbauend spezifische Interventionen zur Verbesserung der Compliance entwickelt oder von vornherein alternative Behandlungsangebote erwogen werden. Die Ergebnisse unserer Studie legen außerdem nahe, dass es sinnvoll ist, im Vorfeld einer Therapie Zeit und Arbeit darauf zu verwenden, eine vertrauensvolle therapeutische Basis fr unsicher gebundene Patienten zu schaffen. Eine solche Herangehensweise verspricht, neben der Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen, nicht zuletzt auch eine Mçglichkeit der Einsparung finanzieller Mittel.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
257
Literatur Ainsworth, M. S., Blehar, M. C., Waters, E., Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale u. New York: Erlbaum. Allison, D. B., Fontaine, K. R., Manson, J. A. E., Stevens, J., Van-Itallie, T. B. (1999). Annual death attributable to obesity in the United States. The Journal of the American Medical Association, 282, 1530 – 1538. Armstrong, J., Roth, D. (1989). Attachment and separation difficulties in eating disorders: A preliminary investigation. Journal of Eating Disorders, 8, 141 – 155. Astrup, A., Hill, J. O., Rçssner, S. (2004). The cause of obesity : Are we barking up the wrong tree? Obesity Reviews, 5, 125 – 127. Baldaro, B., Rossi, N., Caterina, R., Codispoti, M., Balsamo, A., Trombini, G. (2003). Deficit in the discrimination of nonverbal emotions in children with obesity and their mothers. International Journal of Obesity and Related Metabolic Disorders, 27 (2), 191 – 195. Bassler, M., Potratz, B., Krauthauser, H. (1995). Der »Helping Alliance Questionnaire« (HAQ) von Luborsky. Psychotherapeut, 40, 23 – 32. Bonato, D. P., Boland, F. J. (1987). Predictors of weight loss at the end of treatment and 1-year follow-up for a behavioral weight loss program. The International Journal of Eating Disorders, 6 (4), 573 – 577. Bouchard, C., Tremblay, A., Desprs, J. P., Nadeau, A., Lupien, P. J., Thriault, G., Dussault, J., Moorjani, S., Pinault, S., Fournier, G. (1990). The response to longterm overfeeding in identical twins. The New England Journal of Medicine, 322 (21), 1477 – 1482. Bowlby, J. (1975). Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Mnchen: Kindler. (Originalausgabe (1969). Attachment. Vol. 1 of »Attachment and loss«. London: Hogarth Press). Bowlby, J. (1995). Elternbindung und Persçnlichkeitsentwicklung. Therapeutische Aspekte der Bindungstheorie. Heidelberg: Dexter (Originalausgabe: A Secure Base. London: Routledge, 1988). Brisch, K. H. (2000). Bindungsstçrungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Bruch, H. (1961). Transformation of oral impulses in eating disorders: A conceptual approach. Psychiatric Quarterly, 35, 458 – 481. Bruch, H. (1973). Eating disorders: Obesity, anorexia nervosa and the person within. New York: Basic Books. Buchheim, A., Strauss, B., Kchele, H. (2002). Die differenzielle Relevanz der Bindungsklassifikation fr psychische Stçrungen. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 52, 128 – 133. Charone, J. K. (1982). Eating disorders: Their genesis in the mother-infant relationship. International Journal of Eating Disorders, 1 (4), 15 – 42. Cole-Detke, H., Kobak, R. (1996). Attachment processes in eating disorders and depression. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64 (2), 282 – 290.
258
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Collins, N., Read, S. (1990). Adult attachment, working models, and relationship quality in dating couples. Journal of Personality and Social Psychology, 58, 644 – 663. Crawford, T. N., Livesley, W. J., Jang, K. L., Shaver, P. R., Cohen, P., Ganiban, J. (2007). Insecure attachment and personality disorder: A twin study of adults. European Journal of Personality, 21 (2), 191 – 208. Deutsche Adipositas-Gesellschaft (2007). Prvention und Therapie der Adipositas. Evidenzbasierte Leitlinie. (Zugriff am 10. 6. 2007 unter http://www.adipositasgesellschaft.de/daten/Adipositas-Leitlinie-2007.pdf). Dieterle, C., Landgraf, R. (2006). Folgeerkrankungen und Komplikationen der Adipositas. Internist, 47, 141 – 149. Dohm, F.–A., Beattie, J. A., Aibel, C., Striegel-Moore, R. H. (2001). Factors differentiating women and men who successfully maintain weight loss from women and men who do not. Journal of Clinical Psychology, 57 (1), 105 – 117. Dozier, M. (1990). Attachment organization and treatment use for adults with serious psychopathological disorders. Developmental Psychopathology, 2, 47 – 60. Dozier, M., Bates, B. C. (2004). Attachment state of mind and the treatment relationship. In L. Atkinson, S. Goldberg (Eds.), Attachment issues in psychopathology and intervention (S. 167 – 180). New Jersey : Earlbaum, Mahwah. Eggert, J., Levendosky, A., Klump, K. (2007). Relationships among attachment styles, personality characteristics, and disordered eating. International Journal of Eating Disorders, 40, 149 – 155. Elfhag, K., Rçssner, S. (2005). Who succeeds in maintaining weight loss? A conceptual review of factors associated with weight loss maintenance and weight regain. Obesity Reviews, 6, 67 – 85. Epstein, L. H. (1996). Family-based behavioural intervention for obese children. International Journal of Obesity, 20, 14 – 21. Farber, B. A., Lippert, R. A., Nevas, D. B. (1995). The therapist as attachment figure. Psychotherapy, 32, 204 – 212. Goodrick, G. K., Foreyt, J. P. (1991). Why treatments for obesity don’t last. Journal of the American Dietetic Association, 91, 1243 – 1247. Goodwin, R. D., Fitzgibbon, M. L. (2002). Social anxiety as a barrier to treatment for eating disorders. The International Journal of Eating Disorders, 32, 103 – 106. Grossmann, K. E., Grossmann, K. (1995). Frhkindliche Bindung und Entwicklung individueller Psychodynamik ber den Lebenslauf. Familiendynamik, 20, 171 – 192. Hazan, C., Shaver, P. (1987). Romantic love conceptualized as an attachment process. Journal of Personality and Social Psychology, 52, 511 – 524. Hebebrand, J., Hebebrand, K., Hinney, A. (2003). Genetik der Adipositas. In F. Petermann, V. Pudel (Hrsg.), bergewicht und Adipositas (S. 59 – 68). Gçttingen, u. a.: Hogrefe. Hebebrand, J., Hinney, A. (2000). Zur Erblichkeit der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Kindheit und Entwicklung, 9, 78 – 83.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
259
Hebebrand, J., Remschmidt, H. (1995). Das Kçrpergewicht unter genetischen Aspekten. Medizinische Klinik, 90, 403 – 410. Heigl-Evers, A., Heigl, F., Ott, J. (1993). Die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie. In A. Heigl-Evers, F. Heigl, J. Ott (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie (S. 269 – 284). Stuttgart: Fischer. Jellema, A. (1999). Cognitive analytic therapy : Developing its theory and practice via attachment theory. Clinical Psychology & Psychotherapy, 6, 16 – 28. Jellema, A. (2002). Dismissing and preoccupied insecure attachment and procedures in CAT: Some implications for CAT practice. Clinical Psychology & Psychotherapy, 9, 225 – 241. Kiesewetter, S., Kçpsel, A., Deter, H.-C., Kallenbach-Dermutz, B., Stroux, A., Pfeiffer, A. F. H., Mai, K., Bobbert, T., Spranger, J., Kçpp, W. (2007). Attachment styles and their relevance in a weight reduction program (unpubliziertes Manuskript). Kçhler, L. (1992). Formen und Folgen frher Bindungserfahrungen. Forum der Psychoanalyse, 8, 263 – 280. Kçhler, L. (1998). Zur Anwendung der Bindungstheorie in der psychoanalytischen Praxis. Einschrnkende Vorbehalte, Nutzen und Fallbeispiele. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 52, 369 – 397. Kçhler, L. (2000). Vorwort. In K. H. Brisch (Hrsg.), Bindungsstçrungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie (S. 13 – 17). Stuttgart: Klett-Cotta. Kohlmeier, L., Kroke, A., Pçtzsch, J., Kohlmeier, M., Marztin, K. (1993). Ernhrungsabhngige Krankheiten und ihre Kosten. Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums, Band 27. Baden-Baden: Nomos. Kçnig, K. (2000). Angst und Persçnlichkeit. Das Konzept vom steuernden Objekt und seine Anwendungen (6. Aufl.). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kçnig, K., Lindner, W.-V. (1992). Psychoanalytische Gruppentherapie (2. Aufl.). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kçpsel, A., Kiesewetter, S., Deter, H. C., Kallenbach-Dermutz, B., Pfeiffer, A. F. H., Kçpp, W. (2007). First experiences with different attachment styles in psychoanalytical interactional group therapy with obese subjects (unpubliziertes Manuskript). Leon, G. R., Sternberg Rosenthal, B. (1984). Prognostic indicators of success or relapse in weight reduction. The International Journal of Eating Disorders, 3 (4), 15 – 24. Luborsky, L., Crits-Christoph, P., Alexander, L., Margolis, M., Cohen, M. (1983). Two helping alliance methods for predicting outcomes of psychotherapy : A counting signs vs. a global rating method. Journal of Nervous and Mental Disease, 171 (8), 480 – 491. Mallinckrodt, B. A., Chen, E. C. (2004). Attachment and interpersonal impact perceptions of group members. Psychotherapy Research, 14, 210 – 230. Meyer, C., Gillings, K. (2004). Parental bonding and bulimic psychopathology : The mediating role of mistrust/abuse beliefs. The International Journal of Eating Disorders, 35(2), 229 – 233.
260
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
NIH Technology Assessment Conference Panel (1992). Methods for voluntary weight loss and control. Annals of Internal Medicine, 116, 942 – 949. Orzolek-Kronner, C. (2002). The effect of attachment theory in the development of eating disorders: Can symptoms be proximity-seeking? Child and Adolescent Social Work Journal, 19 (6), 421 – 435. Pereira, T., Lock, J., Oggins, J. (2006). Role of therapeutic alliance in family therapy for adolescent anorexia nervosa. The International Journal of Eating Disorders, 39 (8), 677 – 684. Perris, C. (2000). Personality-related disorders of interpersonal behaviour: A developmental-constructivist cognitive psychotherapy approach to treatment based on attachment theory. Clinical Psychology & Psychotherapy, 7, 97 – 117. Petermann, F., Hring, J. (2003). Elternschulung bei adipçsen Kindern und Jugendlichen. In F. Petermann, V. Pudel (Hrsg.), bergewicht und Adipositas (S. 263 – 279). Gçttingen: Hogrefe. Petermann, F., Pudel, V. (2003). Ein Dialog zum Einstieg. In F. Petermann, V. Pudel (Hrsg.), bergewicht und Adipositas (S. 17 – 26). Gçttingen: Hogrefe. Peters, J. C., Wyatt, H. R., Donahoo, W. T., Hill, J. O. (2002). From instinct to intellect: The challenge of maintaining healthy weight in the modern world. Obesity Reviews, 3, 69 – 74. Platts, H., Tyson, M., Mason, O. (2002). Adult attachment style and core beliefs: Are they linked? Clinical Psychology & Psychotherapy, 9, 332 – 348. Rabung, S., Ubbelohde, A., Kiefer, E., Schauenburg, H. (2004). Bindungssicherheit und Lebensqualitt bei Neurodermitis. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 54, 330 – 338. Reis, R., Grenyer, B. F. S. (2004). Fearful attachment, working alliance and treatment response for individuals with major depression. Clinical Psychology & Psychotherapy, 11 (6), 414 – 424. Ringer, F., McKinsey Crittenden, P. (2006). Eating disorders and attachment: The effects of hidden family processes on eating disorders. European Eating Disorders Review, 15 (2), 119 – 130. Rosmond, R. (2004). Aetiology of obesity : A striving after the wind? Obesity Reviews, 5, 177 – 181. Sabbioni, M. E. E. (2003). Adipositas. In R. H. Adler, J. M. Herrmann, K. Kçhle, W. Langewitz, O. W. Schçnecke, Th. v. Uexkll, W. Wesiack (Hrsg.), Uexkll. Psychosomatische Medizin (S. 671 – 685). Mnchen Jena: Urban & Fischer. Sachse, J., Strauß, B. (2002). Bindungscharakteristika und Behandlungserfolg nach stationrer psychodynamischer Gruppentherapie. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 52, 134 – 140. Salzman, J. P., (1997). Ambivalent attachment in female adolescents: Association with affective instability and eating disorders. The International Journal of Dating Disorders, 21, 251 – 259. Schmidt, S., Nachtigall, C., Wuethrich-Martone, O., Strauss, B. (2002). Attachment and coping with chronic disease. Journal of Psychosomatic Research, 53, 763 – 773.
Sybille Kiesewetter et al.: Zum Bindungsverhalten von Adipçsen
261
Schultes, B. (2005). Herausforderung Adipositas. Schleswig-Holsteinisches rzteblatt, Heft 8/2005, 64 – 68. Scroufe, L., Carlson, E., Levy, A., Egeland, B. (1999). Implications of attachment theory for developmental psychopathology. Development and Psychopathology, 11, 1 – 13. Slade, A. (1999). Attachment theory and research: Implications for the theory and practice of individual psychotherapy with adults. In J. Cassidy (Ed.), Handbook of attachment: Theory, research and clinical applications (pp. 575 – 594). New York: Guilford. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2004). Leben und Arbeiten in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2003. Wiesbaden (www.destatis.de/presse/deutsch/pk/ 2004/mikrozensus_2003i.pdf vom 1. 8. 2007). Strauss, B. (2000). Bindung. In W. Mertens, B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (S. 98 – 102). Stuttgart: Kohlhammer. Strauss, B. (2006). Bindungsforschung und therapeutische Beziehung. Psychotherapeut, 51, 5 – 14. Strauss, B., Lobo-Drost, A. (1999). Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating (EBPR) – Manual. Version 1.1, Jena/ Hamburg. Stroebe, W. (2002). bergewicht als Schicksal? Die kognitive Steuerung des Essverhaltens. Psychologische Rundschau, 53, 14 – 22. Stunkard, A. J., Harris, J. R., Pedersen, N. L., McClearn, G. E. (1990). The body-mass index of twins who have been reared apart. The New England Journal of Medicine, 322 (21), 1483 – 1487. Sydow v., K. (2002). Systemic attachment theory and therapeutic practice: A proposal. Clinical Psychology & Psychotherapy, 9, 77 – 90. Tasca, G. A., Taylor, D., Bissada, H., Ritchie, K., Balfour, L. (2004). Attachment predicts treatment completion in an eating disorders partial hospital program among women with anorexia nervosa. Journal of Personality Assessment, 83 (3), 201 – 212. Teixeira, P. J., Going, S. B., Sardinha, L. B., Lohman, T. G. (2005). A review of psychosocial pre-treatment predictors of weight control. Obesity Reviews, 6, 43 – 65. van IJzendoorn, M. H., Bakermans-Kranenburg, M. J. (1996). Attachment representations in mothers, fathers, adolescents, and clinical groups: A meta-analytic search for normative data. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64 (1), 8 – 21. Wadden, T. A., Frey, D. L. (1997). A multicenter evaluation of a proprietary weight loss program for the treatment of marked obesity : A five-year follow-up. The International Journal of Eating Disorders, 22, 203 – 212. Waller, E., Scheidt, C. E. (2002). Somatoforme Stçrungen und Bindungstheorie. Psychotherapeut, 47, 157 – 164. Ward, A., Ramsay, R., Turnbull, S., Benedettini, M., Treasure, J. (2000). Attachment patterns in eating disorders: Past in the present. International Journal of Eating Disorders, 28, 4, 370 – 376.
262
Teil 3: Klinisch-biographische Beitrge
Wing, R. R. (1992). Weight cycling in humans: A review of the literature. Annals of Behavioral Medicine, 14, 113 – 119, zitiert nach Kielmann, R., Herpertz, S. (2001), Psychologische Faktoren in der Entstehung und Behandlung der Adipositas. Herz 26, 185 – 193.
Teil 4 Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Bernd Nitzschke Beziehung in der Psychoanalyse – Erkundungen in unbersichtlichem Gelnde
Im »Hauptregister« der »Gesammelten Werke« Freuds taucht der Begriff »Beziehung« als gesondertes Stichwort nicht auf. Also fehlt der Begriff im »Vokabular der Psychoanalyse« (Laplanche u. Pontalis, 1973) ebenfalls. Und im »Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe« (Mertens u. Waldvogel, 2000) ist dazu auch kein eigenstndiges Kapitel zu finden. Das ist erstaunlich, gehçrt die Vermittlung von Wissen ber menschliche Beziehungen (einschließlich des Sonderfalls »therapeutische« Beziehung) doch lngst zur Standardausbildung von Psychotherapeuten, speziell von Psychoanalytikern (Rçssler 2005; Grimmer, 2005), die den Begriff »Beziehung« gerne durch den Begriff »bertragung« ersetzen oder ergnzen. Doch auch »die bertragung [ist] schwer zu fassen, weil sie in mehrfacher Hinsicht ein bergangsphnomen an den offenen Schnittstellen von Theorie und Praxis, von Psychoanalyse und Psychotherapie, von Analytiker und Patient ist. Im Umgang mit bertragung zeigen sich alle Widersprche und Paradoxien, mit denen die Psychoanalyse als Wissenschaft und Krankenbehandlung zu kmpfen hat« (Herold u. Weiß, 2000, S. 758). Also wenden wir uns von den Paradoxien der Wissenschaft ab und den Widersprchen des Lebens zu – doch dann wird die Situation auch nicht einfacher. Denn: »Lebendige Beziehungen entstehen dadurch, daß ein im Fluß befindliches Gleichgewicht zwischen mir und dem anderen oftmals mhsam durch Abgrenzungen erarbeitet, durch Trennung, Trauer und Wiederfinden zu Gestalt wird. Es geht auch um das, was wir in der Psychoanalyse als ganzen Menschen, als Objekt bezeichnen, als reife Beziehung, die sich von Beziehungen nur zu Teilobjekten, zum Beispiel in Form von Selbstobjekten, unterscheidet. Diese bleiben uns oft fremd oder sind so sehr Teil von uns, daß sie nicht als getrennt wahrgenommen werden kçnnen« (Sellschopp u. Buchheim, 1993, S. 40).
Beziehungen sind demnach immer und berall, aber nicht immer und berall leicht zu fassen. Dennoch (oder gerade deshalb?) wird unter Fachleuten ausdauernd ber Beziehungen gesprochen. Mutter-Kind-Beziehung, Paarbeziehung, Beziehungsregulation, Arbeitsbeziehung und Beziehungsarbeit,
266
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Objektbeziehungen, bertragungsbeziehungen und »reale« Beziehungen, Beziehungsdiagnostik, Beziehungskonflikte und Beziehungsstçrungen – das sind nur einige der gngigen Stichworte. Es gibt aber auch noch »falsche« und sogar Nicht-Beziehungen. Jedenfalls ist davon in professionellen Unterredungen – kasuistisch-technischen Seminaren, Supervisions- oder Intervisionsgruppen – gelegentlich die Rede. Dann heißt es, ein Patient habe keine »richtige« Beziehung aufgenommen; oder es heißt: Der Patient sei gar »keine« Beziehung eingegangen. Der Sinn solcher Reden erschließt sich, wenn man sie so bersetzt: Der Patient benutzte defensive Beziehungsstrategien, die zu keiner »richtigen« oder gar zu »keiner« Beziehung gefhrt haben sollen, obgleich deren Beschreibung doch erkennbar (und verstndlich) macht, in welcher Beziehungssituation sich der Berichterstatter erlebt hat. Es ist allgemein bekannt, dass es Vorstellungen von einer »idealen« Beziehung gibt – und reale Beziehungen, die solchen Vorstellungen nicht entsprechen. Es gibt aber auch noch andere Gegenstze – zum Beispiel den, der durch das Motto bezeichnet wurde, das 2007 ber dem »4. Hamburger Symposium Persçnlichkeitsstçrungen« stand: »Von Duetten und Duellen« war die Rede. Auf einen Sngerwettstreit trifft beides zu. Weniger theatralisch klang das Tagungsthema der Lindauer Psychotherapiewochen 1992: »Beziehung im Fokus«. Bei dieser Gelegenheit wurde ber »Das Leben in verschiedenen Beziehungssystemen« (Welter-Enderlin) und deshalb auch ber »Beziehungen in Institutionen« (Brocher), »Beziehungen zwischen Anklammern und Abstoßung« (Diepold) sowie ber »Die ozeanische Beziehung« (Ahlert, Enke) gesprochen. »Im Brennpunkt« der Diskussionen aber standen »bertragung und zentrale Beziehungsmuster« (Kchele, Dahlbender). Warum? Weil die Arzt-Patient-Beziehung »einer der zentralen Aspekte unseres therapeutischen Handelns« ist. Und warum ist das der Fall? Weil sich das »Beziehungsverhalten des Patienten außerhalb der therapeutischen Situation […] innerhalb des therapeutischen Rahmens« wiederholt. Daher sei es »die Aufgabe des Therapeuten diese beiden Konfliktbereiche miteinander in Verbindung zu bringen« (Buchheim et al., 1993, S. Vf.).
Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient Das ist leicht gesagt und schwer getan. Schon Freud hatte Mhen bei diesem »Kampf zwischen Arzt und Patient, zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen«, der sich »fast ausschließlich in der bertragung ab[spielt]« (Freud 1912, S. 374). Und die Literatur, die nach Freud verfasst worden ist, lsst den Leser, der sich Gewissheit verschaffen will, mit neuen Ungewissheiten zurck. Ich greife ein Beispiel heraus: Luborsky
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
267
(1984) hat versucht, »einen empirischen Beweis fr zentrale Postulate der psychoanalytischen Krankheits- und Behandlungslehre zu liefern. Gesttzt auf die Methode der Analyse von Erzhlungen (CCRT Core Conflictual Relationship Theme) meint er, 9 von Freuds zentralen Postulaten bezglich der bertragung besttigen zu kçnnen, dass nmlich jeder Patient ein zentrales bertragungsthema htte, dasselbe spezifisch fr jeden Patienten sei und fr jedwede Liebesbeziehung gelte, Teile davon unbewusst seien, eine hohe Stabilitt ber das Leben zu beobachten sei, es gleichwohl in Teilen vernderbar sei, in den Therapien auftrete und auf frhkindliche Beziehungsmuster zurckzufhren sei. Diesen Enthusiasmus wrde man heute in der Form nicht mehr teilen, unter anderem weil es unter dem Einfluss der Forschung den […] Durchbruch weg von der Einpersonen-Psychologie zu einer Sozialpsychologie der Psychoanalyse gegeben hat« – meint Krause, der auf eine Reihe von Untersuchungen verweist, um seinen Einwand zu belegen. Also fhrt er fort: »In Termini von bertragung und Gegenbertragung muss ein sozialpsychologisches Modell wechselseitiger Beeinflussung die einseitige Beeinflussung durch den Patienten – wie sie im zentralen Beziehungskonflikt angedacht ist – ersetzen. Solche Modelle sind in der Forschung und Praxis sehr weit gediehen und werden unter Enactment der Kernkonflikte dargestellt« (Krause, o. J., S. 20 f.). Dichters Wort in Forschers Ohr : »Grau, teuerer Freund, ist alle Theorie / Und grn des Lebens goldner Baum« (Goethe, Faust I). Noch viel bunter aber ist des Praktikers Leben, der – von Forschern immer wieder neu belehrt – immer noch nach altem Muster Berichte verfassen muss, wenn er eine kassenfinanzierte Therapie genehmigt bekommen will. Zu diesem Zweck versucht er, der Erzhlung des Patienten ber Ereignisse, die dort und damals stattgefunden haben, und dem Verhalten, das der Patient hier und jetzt zeigt, relevante Informationen zu entnehmen, die er zu Annahmen ber typische, das heißt: bislang ungelçste und die Entwicklung des Patienten behindernde Konflikte (zum Verhltnis von Konflikt und Struktur s. Grande, 2007; Arbeitskreis OPD, 2006) verdichtet, mit deren Neuauflage er in der Beziehung rechnet, die er jetzt gemeinsam mit dem Patienten gestaltet. Reden wir also ber »Beziehungen«. Von einer Beziehung reden wir immer dann, wenn wir annehmen, das Fhlen, Denken, Sprechen und Handeln eines Menschen sei auf das Fhlen, Denken, Sprechen und Handeln eines anderen Menschen bezogen, mag dieser in der Außenwelt oder in der Phantasiewelt oder hier wie dort vorhanden sein. Der Sinn des Fhlens, Denkens, Sprechens und Handelns des einen wird dabei mit Bezug auf das Fhlen, Denken, Sprechen und Handeln des anderen verstanden. Das heißt nicht, dass man im Fhlen, Denken, Sprechen und Handeln eines Menschen keinen Sinn erkennen kçnnte, wenn man sie aus der Einpersonen-Perspektive betrachten wrde. Nhert man sich den Objekten der
268
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Forschung in dieser Weise, erkennt aber man rasch, dass sich Persçnlichkeitsund Sozialpsychologie nicht ausschließen. Das hatte schon Freud bemerkt, der die Persçnlichkeit als Komposition, als ein aus zahlreichen Identifikationen zusammengesetztes Ganzes beschrieb, das unter besonderen Umstnden (etwa im Traum oder in Folge einer psychischen Erkrankung) wieder in Einzelteile zerfallen oder (im Verlauf einer Psycho-Analyse) in solche zerlegt werden kann: »Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei eingehender Betrachtung sehr viel von seiner Schrfe. Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten aber durchaus berechtigten Sinne« (Freud, 1921, S. 73 – Herv.: B. N.).
Wenn man nun aber den Blick von der Außenwelt ab- und der Innenwelt zuwendet, dann kann man die inneren »Helfer und Gegner«, von denen Freud spricht, deutlicher wahrnehmen. Mçgen deren Schatten perspektivisch auch noch so verzerrt sein – ohne Widerschein von Figuren in der Außenwelt gibt es kein Schattenspiel der Phantasien in der Innenwelt. »Beziehungen«, die in der Außenwelt als zeitlich berdauernde Interaktionsketten beschrieben werden kçnnen, hinterlassen in der Innenwelt aber auch noch andere Spuren: Strukturen und Reprsentanzen, die bestehen bleiben, wenn die Interaktion beendet ist. Das gilt auch fr Beziehungskonflikte. Sie setzen sich als innere Konflikte fort, auch wenn die Beziehung in der Außenwelt beendet ist (Gross, 1920). Und wie ließe sich eine »Zweierbeziehung« noch charakterisieren? Man kçnnte sie als das gemeinsam hergestellte Dritte bezeichnen, in dessen Komposition sich die Beteiligten meist so hnlich wieder erkennen wollen wie die Elternteile, die das »Gute« des Kindes sich selbst und das »Schlechte« am Kind dem anderen zuzuschreiben versuchen. Sind Therapeut und Patient die »Eltern« der Beziehung, dann wird die Frage: »Wer war zuerst da, die Henne oder das Ei?«, allerdings etwas anders formuliert, nmlich so: »Was ist zuerst da, die bertragung oder die Gegenbertragung?« Die Antwort, die Paula Heimann darauf gab, war von seltener Klarheit: »Die Gegenbertragung des Analytikers ist nicht nur das A und O der analytischen Beziehung, sondern sie ist die Schçpfung des Patienten. Sie ist ein Teil der Persçn-
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
269
lichkeit des Patienten« (Heimann, 1950, S. 83; zit. nach Thom u. Kchele, 1985, S. 88).
Htten sich damit alle Fragen erledigt? Nein. Thom und Kchele hatten, als sie sich »reale Beziehung, therapeutische Allianz, Arbeitsbndnis und bertragung« als Mitglieder einer »zerstrittenen Begriffsfamilie« (Kap. 2.5) vorstellten, noch eine Frage: Wer ist der »Vater dieser Begriffsfamilie«? Die Antwort lautete: Wir finden den Vater »in Freuds Werk als Person des Arztes, an den sich der Patient ›attachiert‹, ebenso wie in der ›realen Beziehung‹, deren Stabilitt ein Gegengewicht gegen die bertragung bildet. Doch was wre eine Familie ohne Mutter! Wir finden sie in der ›unanstçßigen bertragung‹ vor, die den stillen, lebensgeschichtlich frh angelegten tragfhigen Vertrauenshintergrund bildet« Und diese Antwort fhrte zu einer weiteren Frage: »Wenn es also bereits den Vater und die Mutter der Begriffsfamilie gab, warum wurden dann doch neue Bezeichnungen eingefhrt, die sich voneinander unterscheiden und wie leibliche Kinder einmal mehr der Mutter und einmal mehr dem Vater nachschlagen?« (Thom u. Kchele, 1985, S. 64).
Ja, warum? Warum schlagen wir nicht gleich bei Freud nach? Der hat das Arrangement doch schließlich erfunden, mit dessen Hilfe das Selbst-Verstndnis des Patienten verndert werden soll, so dass er »die ganze Gefhlsbereitschaft«, die er »bei der Gelegenheit der analytischen Behandlung auf die Person des Arztes« bertrgt, als Erbe vergangener und jetzt wieder aktualisierter Beziehungserfahrungen erkennen kann. Und weiter : »[…] wir berwinden die bertragung, indem wir dem Kranken nachweisen, daß seine Gefhle nicht aus der gegenwrtigen Situation stammen und nicht der Person des Arztes gelten, sondern daß sie wiederholen, was bei ihm bereits frher einmal vorgefallen ist. Auf solche Weise nçtigen wir ihn, seine Wiederholung in Erinnerung zu verwandeln« (Freud, 1916 – 17, S. 459 ff.).
Jetzt wissen wir, worum es geht. Es geht um Gefhle! Und deshalb sollte von bertragung nicht reden, wer von Gefhlen nicht sprechen will. Und wir wissen nun auch, wozu der Patient »gençtigt« werden soll: Er soll die Gefhle wahrnehmen, die seinem Gestalten von Beziehungen zugrunde liegen; er soll erkennen, dass er Gefhle nacherlebt, die er frher schon einmal hatte; und er soll diese Gefhle so durcharbeiten, dass sie ihn nicht lnger als unbewusste Handlungsmotive bestimmen, vielmehr er ber sie als bewusste Erinnerungen verfgen kann. Also verlangen wir vom Patienten, die Unumkehrbarkeit der Zeit, das heißt: die Vergnglichkeit und damit die Tatsache des Todes – anzuerkennen. Also mssen wir den Patienten trçsten (oder sein Ich strken), so dass er (oder sein
270
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Ich) in der Lage ist, zu akzeptieren, was seinen Wnschen (und Illusionen) widerspricht. Also mssen wir den Patienten beruhigen, weil wir ihm schmerzliche Einsichten zumuten, die er betrauern soll; etwa die Einsicht, dass »Wunschregungen, die das Es nie berschritten haben, aber auch Eindrcke, die durch Verdrngung ins Es versenkt worden sind«, in der Gegenwart nicht mehr zu dem Recht kommen kçnnen, das sie fr sich beanspruchen und aus der Vergangenheit herleiten. »Als Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energiebesetzung beraubt kçnnen sie erst werden, wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind, und darauf beruht nicht zum kleinsten Teil die therapeutische Wirkung der analytischen Behandlung« (Freud, 1933, S. 80 f.).
Diese heroische Arbeit beginnt mit bescheidenen Maßnahmen: Der Therapeut bietet einen Beziehungs-Raum an, in dem der Patient sein Selbst-Verstndnis entfalten kann. Darauf reagiert der Therapeut mit Verstndnis – und zwar mit dem Verstndnis, das er durch geschulte Empathie (Eigenerfahrung) und unter Rckgriff auf professionelle Interpretationsschemata (Krankheitslehre) erworben hat. Diesem Wissen entsprechend bedeuten die verbalen und nonverbalen ußerungen des Patienten immer noch etwas anderes, als der Patient zu wissen glaubt. Also hilft der Therapeut dem Patienten erst einmal bei der Klarifikation seines Selbstverstndnisses – um ihn dann mit einem alternativen Verstndnis zu konfrontieren. Das kann in Form von Deutungen explizit oder in Gestalt von Antworten implizit geschehen (HeiglEvers u. Nitzschke, 1991; 1994), sollte aber in beiden Fllen am Selbsterleben des Patienten orientiert und dem Selbstwerterleben des Patienten angemessen erfolgen. Um fr die Entfaltung der Selbst-Darstellung des Patienten gnstige Voraussetzungen zu schaffen, bemht sich der Therapeut dabei in der Face-toFace-Situation um einen gleich bleibend freundlich-interessierten Gesichtsausdruck; und in der Couch-Situation entzieht er sich den Blicken des Patienten ganz. Doch so sehr er sich auch um die Kontrolle seiner Gemtsbewegungen bemhen mag – er spricht mit dem Patienten und verrt durch den Tonfall seiner Stimme so manches, was er fr sich behalten oder wovon er selbst nichts wissen will. Denn was Freud ber den Patienten gesagt hat, das trifft auch auf den Therapeuten zu: »Fast alle seelischen Zustnde eines Menschen ußern sich in […] der Inanspruchnahme seines Stimmapparates« und in vielen anderen subtilen Bewegungen seines Kçrpers. »Diese begleitenden kçrperlichen Vernderungen bringen dem Betreffenden meist keinen Nutzen, sie sind im Gegenteil oft seinen Absichten im Wege, wenn er seine Seelenvorgnge vor Anderen verheimlichen will, aber sie dienen den Anderen als verlßliche Zeichen, aus denen man auf die seelischen Vorgnge schließen kann,
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
271
und denen man mehr vertraut als den etwa gleichzeitigen absichtlichen ußerungen in Worten« (Freud, 1890, S. 293 f. – Herv.: B. N.).
Und je heftiger die Affekte werden, desto strker werden deren kçrperliche Begleiterscheinungen. Der Versuch, den »Ausdruck der Gemtsbewegungen« (1890, S. 293) zu kontrollieren, fllt dann noch schwerer. Schließlich setzen »anhaltende Affektzustnde von peinlicher oder, wie man sagt, ›depressiver‹ Natur wie Kummer, Sorge und Trauer […] die Ernhrung des Kçrpers im ganzen herab, verursachen, daß die Haare bleichen, das Fett schwindet und die Wandungen der Blutgefße krankhaft verndert werden«. Unter »dem Einfluß freudiger Erregungen« hingegen blhen Kçrper und Seele auf. Ja, die »großen Affekte haben offenbar viel mit der Widerstandsfhigkeit gegen Erkrankung an Ansteckungen zu tun […]« Aber auch kaum bemerkbare affektive Erregungen laufen nicht ohne kçrperliche Begleitmomente ab. »Selbst beim ruhigen Denken in ›Vorstellungen‹ werden dem Inhalt dieser Vorstellungen entsprechend bestndig Erregungen zu den glatten und gestreiften Muskeln abgeleitet […]« Und auch der »Zustand der Erwartung« hat Auswirkungen auf das kçrperliche Geschehen. So kann die »ngstliche Erwartung« zum Krankwerden beitragen und der Gesundung im Wege stehen, whrend der »gegenteilige Zustand, die hoffnungsvolle und glubige Erwartung […] eine wirkende Kraft [ist], mit der wir streng genommen bei allen unseren Behandlungs- und Heilungsversuchen zu rechnen haben«. Diese »glubige Erwartung« – das ist die Grundlage der »Macht«, die der Patient »der Person seines Arztes zugesteht«. Und dieses Zugestndnis hat mit der Person des Arztes zu tun, rhrt sie doch aus »der rein menschlichen Zuneigung« her, »welche der Arzt« im Patienten »erweckt hat« (1890, S. 294 ff.). So entsteht »Eine Dynamik menschlicher Beziehungen«, wie der Untertitel eines Buches lautet, dessen Haupttitel – »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen« (Stierlin, 1976) – berzeugend klingt, aber leicht missverstanden werden kann. Denn aus der wechselseitigen Provokation (konkordanter oder komplementrer) Gefhlsreaktionen (vgl. Racker, 1978) kann nicht auf das Handeln der Beteiligten geschlossen werden. Im Gegenteil: Das Tun des Einen unterscheidet sich oft sehr deutlich vom Tun des Anderen. Ja, die Beziehung zwischen dem Tun des Einen und dem Tun des Anderen wird berhaupt erst dann verstndlich, wenn man ein jeweils spezifisches (persçnlichkeitsspezifisches) »Tun« bercksichtigt, das Interpretieren, das vom Handelnden zwar rational begrndet wird, in großen Teilen aber unbewusst begrndet ist. Ein Beispiel mag illustrieren, worum es geht: Wenn mir jemand auf den Fuß tritt und ich stoße ihn zurck, dann werde ich mein Handeln durch das Handeln des Anderen begrnden. Nun hat aber jeder eine »Theory of Mind« (Fçrstl, 2007) im Kopf, also auch ich. Mit deren Hilfe versetze ich mich in den Kopf des Anderen, um – wie ich glaube – die Absichten des Anderen zu
272
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
erkennen. Ich erkenne aber nicht seine Absichten, sondern meine Gedanken ber seine Absichten. Also begrnde ich mein Handeln nicht durch das Handeln des Anderen, sondern durch die Interpretation seines Handelns mit Hilfe meiner Gedanken ber seine Absichten. Die Assoziationen, die beim Zustandekommen meiner berlegung beteiligt waren, die zu meiner Interpretation des Handelns des Anderen gefhrt hat, haben nun aber nichts mit dem Anderen, sondern mit vielen fr mich relevanten Erlebnissen zu tun, die bei dieser Gelegenheit wieder angesprochen, von mir aber keineswegs in vollem Umfang erinnert worden sind. Diese Assoziationen zu erhellen und ihre Bedeutung zu verstehen, gelingt nicht mit Hilfe angestrengten Nachdenkens, vielmehr bedarf es hierzu einer Strategie der Selbst-Erforschung, die Freud die Methode des freien Einfalls genannt hat, obgleich er davon berzeugt war, dass die damit gewonnenen Einflle streng determiniert sind (vgl. Nitzschke, 2007). Wenn ich nun meinen sollte, dass der Andere nicht die Absicht (den Wunsch, die Intention) hatte, mir auf den Fuß zu treten, um sich Platz zu verschaffen, vielmehr annehme, er sei mir »aus Versehen« auf den Fuß getreten, dann werde ich ihn wahrscheinlich nicht zurckstoßen, sondern seine Entschuldigung erwarten. Bleibt sie aus, suche ich nach einer alternativen Erklrung (Interpretation) seines Verhaltens. Das objektive Ereignis Fußtritt ist jedoch in beiden Fllen gleich. Meine Empfindungen hingegen werden verschieden sein. Im Fall des von mir angenommenen versehentlichen Fußtritts werden sie vermutlich weniger schmerzhaft ausfallen als im Fall des von mir angenommenen absichtlichen Fußtritts. Und die Handlungen, die meiner Deutung (Nitzschke, 2001; 2002; 2005) der Handlung des Anderen folgen, sind auch verschieden: Einmal werde ich spontan reagieren und den Anderen zurckstoßen; und im anderen Fall werde ich abwarten, ob sich der Andere entschuldigen wird. Die Interpretation macht aus dem Ereignis ein Erlebnis. Das heißt: Ich erlebe den Anderen nicht so, wie er »an sich« ist, sondern so, wie er »fr mich« ist. Die lebensgeschichtlich verankerten und zeitlich berdauernden Bedingungen fr mein Erleben liegen nun aber nicht im Anderen, sondern in mir. Das war denn auch das zentrale Anliegen Freuds: Er wollte die von Kant theoretisch begonnene Aufklrung ber »die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung« (Freud, 1915, S. 270) praktisch fortsetzen, indem er die Interpretationsschemata, die unseren Beziehungshandlungen (bertragungen) zugrunde liegen, erfahrbar, erlebbar, bewusst und so (vielleicht) auch noch vernderbar machen wollte. Schlussendlich werde ich als Begrndung fr mein »Tun« die Interpretation angeben (im genannten Beispiel: Er ist mir absichtlich auf den Fuß getreten oder er ist mir aus Versehen auf den Fuß getreten), von der ich berzeugt bin. Das heißt: So habe ich den Anderen verstanden. Doch die Kriterien, mit deren
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
273
Hilfe ich feststellen kçnnte, inwieweit meine Interpretation zutrifft (»wahr« ist), sind nicht leicht zu finden. Ja, oft sind sie berhaupt nicht zu finden. Wir kçnnen uns aber mit dem Anderen darber verstndigen, wie wir ihn verstanden haben und wie er uns verstanden hat. Verstehen und Verstndigung sind also nicht dasselbe. Wir »heilen« aber auch nicht dadurch, dass wir die vergessenen »Wahrheiten« des Anderen rekonstruieren; vielmehr dadurch, dass wir ihm eine Beziehung anbieten, mit deren Hilfe er die Bestandteile seiner inneren Welt im Dialog erschließen und zu einer neuen Komposition zusammensetzten kann. So konstruieren wir Sinn und Wahrheit durch Verstndigung. Die »objektive« Beziehung zwischen Therapeut und Patient ergibt sich hingegen aus einer strukturierten Abfolge von Sprechhandlungen, die durch Ton- und Bildtrger aufzuzeichnen sind. Beide, Therapeut und Patient, nehmen an derselben Unterredung teil – und doch entschlsselt (interpretiert) jeder den Sinn dieser Unterhaltung anders, nmlich aufgrund der Prmissen, die er im Kopf hat – und aufgrund der Wnsche, die er darber hinaus auch noch hat. Ein langer und mit vielen Hindernissen bestckter Weg fhrt von diesem Verstehen zur Verstndigung. Whrend der Patient also hofft, der Therapeut mçge ihn »menschlich« verstehen, hçrt der Therapeut zu, um zu verstehen, was er seiner Intention entsprechend verstehen will: Er will die Indizien fr die bertragung der Beziehungsmuster erkennen, die der Patient bislang hartnckig (blind und unbewusst) wiederholt hat und die zu den immer gleichen Enttuschungen fhren mussten, unter denen der Patient leidet, worber er jetzt spricht. Bei der Ermittlung dieser Indizien mag der Therapeut »subjektive« Hilfsmittel wie die Analyse seiner Gegenbertragungsreaktionen zu Rate ziehen. Er kann aber auch auf »objektive« Hilfsmittel zurckgreifen: etwa auf ein Manual fr die »Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens« (Tress, 1993; Tress et al., 1996); oder auf Abhandlungen ber das »Zentrale Beziehungskonfliktthema« (Luborsky u. Kchele, 1988; Luborsky u. Crits-Christoph, 1990); oder auf einen Fragebogen zur Ermittlung »Zyklisch Maladaptiver Muster« (Strupp u. Binder, 1984). Wie immer er seine Erkenntnisse gewinnen mag, am Ende will er den Patienten daran teilhaben lassen, weil er glaubt, das sei ein wichtiger Schritt bei der berwindung selbst- und fremdschdigender Verhaltensweisen, deren bislang verborgene Motivation fr den Patienten erkennbar werden soll. Einsichtnahme ist allerdings nur einer von mehreren Schritten, die zur Auflçsung von Fixierungen, berwindung von Entwicklungshemmungen und damit zu einem Neubeginn (Balint, 1932) fhren kçnnten. Als weitere Maßnahmen wurden das »Durcharbeiten« (Freud, 1914), die »Nacherziehung« (Freud, 1913) oder die »Korrektive Emotionale Erfahrung« (Alexander u. French, 1946) genannt. Immer aber geht es darum, die Beziehungswnsche des Patienten zu erkennen, die bislang nicht erfllt worden sind – und die so,
274
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
wie sie jetzt sind, auch nie mehr erfllt werden kçnnen. Aufzuheben wre der mit diesen immer wieder enttuschten Wnschen verbundene Zwang, alte Verletzungen neu zu beleben und darauf mit alter Wut – mag diese nun offenaggressiv oder verdeckt-depressiv zum Ausdruck kommen – zu reagieren. Dieses Ziel kann ohne die Mitarbeit des Patienten nicht erreicht werden. Doch sptestens dann, wenn der Therapeut vom Patienten Trauerarbeit (Freud, 1916) verlangt und das Selbstverstndnis des Patienten in dieser Weise affektiv (und nicht nur intellektuell) in Frage stellt – reagiert der Patient mit Widerstand. Damit hat der Therapeut schon gerechnet, denn er gehçrt »nun einmal rettungslos zum wilden Heer« und weiß deshalb, »dass bertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind« (Freud an Groddeck 5. Juni 1917; In Groddeck, 1970, S. 14 – Herv. B. N.). Und so ordnet er den Widerstand des Patienten in den Interpretationskontext ein, dem er die Diagnose entnommen hat, die durch den Widerstand, den der Patient zeigt, jetzt noch einmal besttigt wird. Der Patient sieht das freilich ganz anders. Whrend der Therapeut glaubt, Widerstand werde geleistet, um alles beim Alten zu belassen, ist der Patient, der in seinem Leben bisher immer nachgegeben hat, davon berzeugt, dass ihm etwas Neues gelingt, wenn er seinen Standpunkt jetzt hartnckig verteidigt (warum sonst htte er sich einer Therapie unterziehen sollen?). Aber auch dadurch lsst sich der Therapeut nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich tritt er, seinem Selbstverstndnis entsprechend, aufgeklrt ber Beziehungen in die Beziehung ein, whrend dem Patienten die Segnungen der Aufklrung erst noch zuteil werden sollen. Und außerdem hat der Therapeut schon eine (Lehr-)Analyse hinter sich, whrend der Patient noch eine (Psycho-)Analyse vor sich hat, weshalb der Therapeut die infantilen (neurotischen/perversen) Beziehungswnsche schon berwunden hat, zu denen ihn der Patient per »projektiver Identifikation« wieder verfhren will. Das heißt: Der Therapeut ist »nachgereift« und hat dafr von hçheren Instanzen ein Reifezeugnis erhalten. Und sollte er doch noch einige »unreife« Wnsche haben, ist er sich ihrer wenigstens bewusst. Und so kann er sie im Fall des Falles kontrollieren. Wunschlos glcklich ist der Therapeut deshalb aber noch lange nicht – und das kann er, nach allem, was er aufgrund seiner Ausbildung und fortgesetzter Selbstanalyse weiß, auch niemals sein. Also hat er immer noch Wnsche – und vielleicht hat er sogar noch immer den Wunsch, ein »guter« Therapeut zu sein? Diesen Wunsch versucht er sich zu erfllen, indem er Beitrge »Zur therapeutischen Beziehung in der Psychotherapie« (Streeck, 2004) liest. Und so erfhrt er zum wiederholten Male, dass »das Verhltnis, das sich zwischen einem Patienten und seinem Therapeuten entwickelt, gleich in mehrfacher Hinsicht eine Rolle« spielt – nmlich: (1) als »Rahmen des therapeutischen Geschehens«; (2) als »Medium von Kommunikation«; und (3) als »therapeutisches Mittel«. Gut, sagt sich der Therapeut, das »Verhltnis«, fr das er sich
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
275
so sehr interessiert, ist nun einmal ein komplexes. Und deshalb nimmt er nun die folgenden Przisierungen dankbar zur Kenntnis: (1) als »Rahmen umgrenzt die Beziehung von Patient und Psychotherapeut das Behandlungsgeschehen; es ist gleichsam das ›Milieu‹, innerhalb dessen beide miteinander kooperieren«; (2) »therapeutisches Mittel ist dieses Verhltnis insofern, als das Erleben der therapeutischen Beziehung und deren Gestaltung selbst ein wesentliches Element einer wirksamen Behandlung sind«; (3) »Kommunikation ist die therapeutische Beziehung, indem sich an der Art und Weise, wie Patient und Psychotherapeut ihr Verhltnis zueinander abwickeln, oftmals darstellt, was mit Worten nicht gesagt wird oder nicht gesagt werden kann« (Streeck, 2004, S. 33 – Sperrungen des Originals aufgehoben, B. N). Damit soll nun aber nicht gesagt sein, dass die sprachliche Kommunikation fr die Gestaltung der therapeutischen Beziehung bedeutungslos wre. Ganz im Gegenteil! Zwar hat der Dichter auch diesmal recht, wenn er sagt: »Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹ / Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? […] / Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!« (Goethe, Faust I). Doch wo die Tat ist, da ist das Wort nicht weit. Und wo das Wort ist, da liegt das Gefhl sehr nah. »Wir wollen […] das Wort nicht verachten. Es ist doch ein mchtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefhle kundgeben, der Weg, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Worte kçnnen unsagbar wohltun und frchterliche Verletzungen zufgen« (Freud, 1926, S. 214).
Ja, Worte sind Taten! Und aus dem Fhlen, Sprechen und Handeln des Einen ergibt sich eine Beziehung zum Fhlen, Sprechen und Handeln des Anderen. Doch halt! »Was ist berhaupt eine Beziehung? Diese Frage ist keineswegs trivial« (Steimer-Krause u. Krause, 1993, S. 74). Und die Antwort, die jetzt folgt, ist schon deshalb nicht trivial, weil sie das Problem aufzeigt, das entsteht, wenn man einer Beziehung habhaft zu werden versucht: »Was als Beziehung bezeichnet wird, ist eine Verallgemeinerung, die aus immer wiederkehrenden, spezifischen und zeitlich stabilen Interaktionsmustern erschlossen wird. Prinzipiell kann man zwei Wege zur Erschließung solcher Muster unterscheiden. Einer verfolgt den Strom ußeren Verhaltens, der andere innere Bilder. (S. 74)« Und so steht man vor dem »Problem, wie der hochkomplexe Strom mimischen, gestischen, visuellen, vokalen und verbalen Verhaltens zweier Menschen eingeteilt, beschrieben und daraus Muster bestimmt werden sollen und welche Arten von inneren Bildern man diesen Mustern zuordnen kann. Diejenigen sozialpsychologischen Forscher, die meinen, eine Lçsung dieses Problems gefunden zu haben, wie zum Beispiel Leary (1957), Bales (1970)
276
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
oder Benjamin (1974), gehen alle davon aus, daß einige wenige Dimensionen, nmlich Macht, Dominanz oder Kontrolle, Nhe, Zuwendung oder Sympathie und Aktivitt ausreichen, um interaktives Verhalten und Beziehungsqualitten zu beschreiben. […] Der entscheidende Nachteil derartiger Beschreibungssysteme besteht darin, daß es sich […] letztendlich um Einschtzungsoder Ratingverfahren handelt […]« (Steimer-Krause u. Krause, 1993, S. 74). Doch den Psychoanalytikern »mit ihrer Fokussierung auf innere, mentale Vorgnge«, die »das Phnomen Beziehung in erster Linie unter den Begriffen der bertragung und Gegenbertragung« abhandeln, ergeht es am Ende auch nicht besser. Auch sie stehen schließlich wieder vor der »Frage, was auf der Verhaltensebene eine Beziehung oder ein Interaktionsmuster ist«. Denn »Wie sehen eigentlich die Beziehungen der frhen Kindheit, denen wir einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung von Psychopathologien zuschreiben, aus? […] Nach dem jetzigen Stand der Suglingsforschung wird das Neugeborene als aktives, stimulus-suchendes Wesen, das ber enorme Diskriminations- und selbstregulierende Fhigkeiten verfgt, beschrieben; Fhigkeiten, die sich von Anfang an im Kontext einer interaktionellen Matrix zwischen Mutter und Kind entfalten sollen« (S. 75).
Die Mutter-Kind-Beziehung Damit sind wir wieder am Anfang, nmlich bei der Beziehung zwischen Mutter und Kind angelangt. Und so haben wir es wieder mit den Affekten zu tun, die schon deshalb im Mittelpunkt der berlegungen Freuds stehen mussten, weil sie »beziehungssteuernd« sind (S. 72). Jetzt haben wir es mit der Mutter-Kind-Beziehung zu tun, und deshalb stellt sich jetzt die Frage, um welche Affekte es eigentlich geht – um die Affekte der Mutter oder die Affekte des Kindes? Die Antwort lautet: Wir beginnen mit den Affekten des anderen, »weil die Affekte anderer Personen Auslçser der eigenen sind und Affekte als innere Bilder die Struktur von Beziehungen haben, in denen es ein Selbst, ein Objekt und eine gewnschte Interaktion zwischen dem Selbst und dem Objekt gibt […]. Negative Affekte sind so betrachtet Wnsche nach vernderter Beziehung, positive nach der Fortfhrung einer gerade bestehenden« (S. 72). So betrachtet gbe es keinen Grund, die Mutter-Kind-Beziehung zu beenden, vorausgesetzt sie ist »gut«, also erwnscht. Da sie aber doch nicht fr alle Ewigkeit fortgesetzt wird, kann der Grund des Fort-Schritts (der Ablçsung des Kindes von der Mutter und damit seiner Entwicklung) nur ein »schlechter« sein – eben »Ein Teil von jener Kraft / Die stets das Bçse will und stets das Gute schafft« (Goethe, Faust I).
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
277
Seit Balint wissen wir schließlich, dass »die allerfrheste […] Phase des extra-uterinen Seelenlebens nicht narzißtisch, sondern objektgerichtet [ist], nur ist diese Objektrelation von passiver Natur, ihr Ziel ist: ich soll geliebt, befriedigt werden, und zwar ohne die kleinste Gegenleistung meinerseits. Dies ist und bleibt das Endziel allen erotischen Strebens. Die Realitt zwingt uns dann Umwege auf. Der eine Umweg ist der Narzißmus: wenn die Welt mich nicht gengend liebt, mir nicht genug Befriedigung bringt, so muß ich mich selbst lieben, selbst befriedigen« (1937, S. 102). Das muss ich in jedem Fall. Denn in keinem Fall befriedigt die Welt meine Wnsche so, wie sie am Anfang waren. Also muss ich meine Wnsche modifizieren – und mich selbst lieben, damit ich meinen Nchsten so lieben kann wie mich selbst. Diese aktive Objektliebe ist das Erbe der Selbstliebe. Und die Selbstliebe ist das Erbe der Mutterliebe. Und damit sind wir wieder bei der Frage nach der Henne und dem Ei angelangt, die in diesem Fall so zu beantworten wre: Die Mutter verfhrt das Kind zur Liebe (Laplanche, 1988). »Als die anfnglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Kçrpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur spter, vielleicht gerade zu der Zeit, als es dem Kinde mçglich wurde, die Gesamtvorstellung der Person, welcher das ihm Befriedigung spendende Organ [die Brust – B. N.] angehçrte, zu bilden. Der Geschlechtstrieb wird nun in der Regel autoerotisch, und erst nach berwindung der Latenzzeit stellt sich das ursprngliche Verhltnis wieder her. Nicht ohne guten Grund ist das Saugen des Kindes an der Brust der Mutter vorbildlich fr jede Liebesbeziehung geworden. Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung. Aber von dieser ersten und wichtigsten aller sexuellen Beziehungen bleibt auch nach der Abtrennung der Sexualttigkeit von der Nahrungsaufnahme ein wichtiges Stck brig, welches die Objektwahl vorbereiten, das verlorene Glck also wieder herstellen hilft« (Freud, 1905, S. 123 f. – Herv.: B. N.).
Freud hat deshalb immer wieder auf diese »einzigartige, unvergleichliche, frs ganze Leben unabnderlich festgelegte Bedeutung der Mutter als erstes und strkstes Liebesobjekt, als Vorbild aller spteren Liebesbeziehungen« (1940, S. 115 – Herv. B. N.) hingewiesen. Damit meinte Freud die Bedeutung, die die Mutter im Erleben des Kindes gewinnt. Aber auch die Mutter erlebt das Ereignis Kind – oder die Ereigniskette kindlichen Verhaltens – aufgrund von Bedeutungen (die sich aus ihren bewussten berlegungen ergeben und aus ihren unbewussten Phantasien herleiten lassen). Wenn die Mutter auf die affektiven ußerungen des Kindes im Kontext ihres Selbst- und Kulturverstndnisses reagiert, dann interpretiert sie das Trieb-Wesen Kind sinn-voll. Im Verlauf dieses Prozesses werden die affektiven Reaktionen des Kindes von der Mutter gedeutet und in die Wortsprache (die »Muttersprache«) bersetzt. Ja, diese primre Anerkennung der Affektspra-
278
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
che des Kindes durch die Mutter ist die Basis des Selbst (Selbstwert- und Selbstsicherheitsgefhls) des Kindes. Auf diesem Wege bekommt der Kçrper des Kindes eine »Seele«, einen »Geist«, ein »Selbst« zugesprochen. So wird der Kçrper des Kindes »mentalisiert« (vgl. Fonagy u. Target, 2006, Kap. 12). Das ist »Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee«. Und weil die Mutter fr das Kind in der Regel die erste Reprsentantin der »Kultur« ist, ließe sich der Satz »Wo Es war, soll Ich werden« (Freud, 1933, S. 86) auch so bersetzen: Wo kindliche Wnsche waren, sorgte die Mutter fr kulturell akzeptierte Formen der Wunscherfllung, wodurch die »animalischen« Wnsche des Kindes allmhlich »kulturelle« Gestalt annehmen konnten. Die Erweiterung des bi-personalen Feldes durch den Vater und damit der Fortschritt von der dualen zur triangulren Beziehungsgestaltung (Dammasch u. Metzger, 2005) kann hier aus Platzgrnden nicht nher dargestellt werden. Wenn die Reaktionen der Mutter auf die Affekte des Kindes angemessen waren, dann hat sie sich wie ein Psychoanalytiker verhalten, der das aufgreift, was vorhanden ist, um es zu besttigen und zu modifizieren? Nein! Die Mutter ist das Vorbild des Psychoanalytikers, der den Mutter-Kind-Dialog in vielerlei Hinsicht nachahmt (Schore, 2007). Wie das Kind im Dialog mit der »guten« Mutter, so soll sich der Patient im Dialog mit dem »guten« Therapeuten als ein in Beziehung befindliches und doch vom Beziehungspartner getrenntes Wesen kennen und verstehen lernen. Seit Ferenczi wissen wir nun aber, dass das nur mit Hilfe einer milden Form der Liebe gelingen kann. Und so gilt der Wahlspruch – »Ohne Sympathie keine Heilung« (Ferenczi, 1988) – noch immer, auch wenn er heute lautet: »Eine gute therapeutische Beziehung ist das A und O einer Psychotherapie – Die Chemie muss stimmen« (Kchele, 2005). Mit dieser Chemie-Metapher sind wir schon wieder bei Freud. Das heißt, wir sind schon wieder bei Goethe, denn der hat »in den ›Wahlverwandtschaften‹ eine Idee aus dem Vorstellungskreis der Chemie auf das Liebesleben« (Freud, 1930, S. 549) angewandt, die Freud bernahm, wofr er bis heute gescholten wird. Gemeint ist die Triebtheorie, die Freud zur Erklrung aller menschlichen Beziehungen, also auch der Mutter-Kind-Beziehung, herangezogen hat. Und so wurde er kritisiert: »Wir sehen einen Jungen auf der Straße gehen, eingehngt in eine reizlose, unschçne Frau, die ihm das Hçchste auf der Welt ist – seine Mutter. Vielleicht sind in diesem Jungen schon geschlechtliche Regungen erwacht. Aber der Gedanke, daß sich derlei auf seine Mutter beziehen kçnnte, wre ihm ganz unfaßbar, so unvergleichbar sind diese beiden Arten von Gefhl. […] Die Freud’sche These widerspricht allen Tatsachen […]« (Editorial… 1931, S. 761).
Und so heißt es heute wieder : Mutter und Kind seien nicht so sehr »Triebobjekte« freinander, wie Freud geglaubt habe, vielmehr msse man sie als
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
279
»Resonanzrume fr eine Vielfalt von kçrperlichen und seelischen Bedrfnissen« auffassen, zu denen »physiologische Regulation, sinnliches Vergngen, Neugier, Bindung, Kommunikation, Aversion und vielleicht auch Anerkennung« gehçren. »Keines von ihnen sollte in seiner Bedeutung fr die kindliche Entwicklung privilegiert werden […]. Dadurch erhlt die Thematisierung dieser Bedrfnisse ein gegenber der Tradition erhçhtes Gewicht, und das ehemals zentrale Thema der Sexualitt tritt in den Hintergrund« (Dornes, 2005, S. 127).
Vor diese (Schein-)Alternative – hier Trieb/Sexualitt, dort Bindung/Liebe – gestellt, die seit Bowlby (1975) en vogue ist, sollten wir noch einmal nachdenken: Was hat denn Freud gemeint, als er vom Sexuellen sprach? »Der Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse weit mehr ; er geht nach unten [Kçrper – B. N.] wie nach oben [Seele – B. N.] ber den populren Sinn hinaus. […] Wir sprechen darum auch lieber von Psychosexualitt, legen so Wert darauf, daß man den seelischen Faktor des Sexuallebens nicht bersehe und nicht unterschtze. Wir gebrauchen das Wort Sexualitt in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ›lieben‹« (Freud, 1910, S. 120). Und in diesem Sinne hat Freud denn auch alle »Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrckt: Gefhlsbindungen)« (1921, S. 100) auf triebhaft-sexuelle Bedrfnisse zurckgefhrt. Neuere Forschungsergebnisse (Bauer, 2004; 2005; 2006) geben ihm in dieser Einschtzung recht. So erhçht sich beispielsweise die Ausschttung kçrpereigener Opiate, die euphorisierend (und damit der Angstentwicklung entgegengesetzt) wirken, bei Neugeborenen, sobald sie die beruhigende Anwesenheit der Mutter erleben. Das dadurch ausgelçste »Lust«-Gefhl bindet das Kind an die Mutter. Und die Produktion des Hormons Oxytocin im Hypothalamus (bei der Mutter wie beim Kind), die »durch Berhrung und Zrtlichkeiten stimuliert« wird und als biochemische Grundlage der Zuneigung gelten kann (die der andere in uns auslçst – um noch einmal an eine Redewendung Freuds [1890, S. 301] zu erinnern), verstrkt die Bindung zwischen der Mutter und dem Kind. Ja, die Kçrper»Chemie« ist die Basis des sozialen Netzes: »Frhe Beziehungserfahrungen verndern nicht nur unsere Streßresistenz, sie beeinflussen auch, wie wir spter auf zwischenmenschliche Zuwendung reagieren«. Effekte der frhen Lust-Zrtlichkeits-Bindungs-Erfahrungen konnten schließlich auch bei vierjhrigen Kindern, die mit ihren Mttern eine halbe Stunde spielten, nachgewiesen werden. »Es kam zu einer Erhçhung des Oxytocinspiegels im Urin« (Bauer, 2007, S. 64). Bei Kindern, die »ihr erstes Lebensjahr ohne individuelle Betreuung in einem Waisenheim« verbrachten, »fiel dieser Effekt im Schnitt […] deutlich schwcher aus« (S. 64).
280
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
All das besttigt nicht nur die Auffassung Freuds, sondern auch die Thesen von Otto Gross, die in der 1920 erschienenen Schrift ber den »inneren Konflikt« enthalten sind. Darin zitiert Gross einen Artikel, in dem der – gemeinhin erst Ren Spitz (1945) zugeschriebene – Begriff »Hospitalismus« bereits auftaucht. Diese – der anaklitischen Depression verwandte – Entwicklungsstçrung wurde erstmals an Kindern beobachtet, die sich selbst berlassen in Heimen aufwachsen mussten. In dem von Gross zitierten Text wird auch das Experiment Friedrich II. erwhnt, der Ammen den »Befehl« gegeben haben soll, verwaiste Suglinge »mit allem bestens zu versorgen, aber niemals ein Wort oder eine Liebkosung an sie zu richten«. Auf diese Weise habe man herausfinden wollen, in welcher Sprache sich die Kinder spter untereinander verstndigen wrden. »Des Kaisers Frage blieb ungelçst; die Kinder starben.« Das sei die Folge eines »Mangel[s] an Liebe« gewesen. Die Kinder seien an »seelischem Hungertode« zugrunde gegangen. »Sie konnten […] nicht leben ohne den Beifall und die Gebrden, die freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wrterinnen; deshalb nennt man die Lieder, die das Weib dem Kinde an der Wiege singt, Ammenzauber« (Gross, 1920, S. 21 f.). Freud war, seinem Selbstverstndnis gemß, ein Naturwissenschaftler, der die Kçrper-Chemie als Grundlage jeder Ausdrucksform der Liebe postulierte, das Wort (die Hermeneutik) aber nicht verachtete. So ging er »nach unten wie nach oben« (1910, S. 120) ber die Grenzen hinweg, die das konventionelle Denken errichtet hatte, um simple Gemter zu beruhigen. Also musste Freud mit seinem unkonventionellen Denken simple Gemter beunruhigen – zum Beispiel so: »Das Hçchste und das Niedrigste hngen in der Sexualitt berall am innigsten aneinander (›vom Himmel durch die Welt zur Hçlle‹)« (Freud, 1905, S. 61). Im zweiten Teil dieses Satzes nimmt Freud erkennbar auf Goethe (Faust I, Vorspiel auf dem Theater) Bezug, whrend er im ersten Teil (implizit) einen Brief Goethes an Frau von Stein zitiert, in dem es heißt: »[…] das Hçchste und das Tiefste: […] Hymne und […] Schweinestall. Liebe verbindet alles« (vgl. Nitzschke, 1988, S. 67). Und weil das so ist, konnte Freud, der bekennende Atheist, auch noch eine Variation des Hohen Liedes aus dem Brief des Apostel Paulus an die Korinther (1.13) zitieren, um seine Auffassung der Liebe zu verdeutlichen: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und htte der Liebe nicht, so wre ich ein tçnend Erz oder eine klingende Schelle« (Freud, 1921, S. 99). Wre dann also »jede […] psychoanalytische Behandlung ein Versuch, verdrngte Liebe zu befreien« (Freud, 1907, S. 118), indem Worte dazu benutzt werden, die Kçrper-»Chemie« wieder in Gang zu setzen? Otto Gross hatte die Forderung aufgestellt: »Dem Kind muß Liebe absolut bedingungslos gegeben werden, befreit von jedem […] Zusammenhang mit Forderungen welcher Art auch immer, als reines Bejahen der Individualitt
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
281
um ihres Eigenwertes willen […]« (1920, S. 25 ; Sperrungen aufgehoben – B. N.). Das ist und bleibt wohl fr immer der Wunsch aller Wnsche – ein Wunsch, der immer nur bedingt in Erfllung gehen kann. Diese Begrenztheit sollte nun aber nicht zeitlebens mit destruktiver Wut beantwortet, vielmehr trauernd bewltigt werden. Und wie kçnnte das gelingen? Vielleicht so, wie es ein Philosoph lange vor Freud zum Ausdruck gebracht hat: »Wenn du Pythokles reicher machen willst, fge nicht seinem Vermçgen etwas hinzu, sondern nimm ihm von seinen Begierden etwas weg« (Epikur, Von der Lust zu leben).
Literatur Alexander, F., French, T. (1946). Psychoanalytic therapy, principles and application. New York: The Ronald Press Company. Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2006). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual fr Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber. Bales, R. F. (1970). Personality and interpersonal behavior. New York: Holt, Rinehart & Winston. Balint, M. (1932). Charakteranalyse und Neubeginn. In ders., Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse (S. 93 – 115). Bern u. Stuttgart: Huber/Klett. Balint, M. (1937). Frhe Entwicklungsstadien des Ichs. Primre Objektliebe. In ders., Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse (S. 93 – 115). Bern u. Stuttgart: Huber/Klett. Bauer, J. (2004). Das Gedchtnis des Kçrpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Mnchen: Piper. Bauer, J. (2005). Warum ich fhle, was du fhlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe. Bauer, J. (2006). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe. Bauer, J. (2007). Unser flexibles Erbe. Gehirn & Geist. Heft 9, 58 – 65. Benjamin, L. S. (1974). Structural analysis of social behavior. Psychological Review 81, 392 – 425. Bowlby, J. (1975). Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Mnchen: Kindler. Buchheim, P., Cierpka, M., Seifert, T. (1993). Lindauer Texte. Texte zur psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung. Vorwort.(S. Vf.). Zugriff am 30. 9. 2007 unter http://www.lptw.de/archiv-vortrag2007.php. Dammasch, F., Metzger, H.–G. (Hrsg.) (2005). Die Bedeutung des Vaters. Psychoanalytische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
282
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Dornes, M. (2005). Infantile Sexualitt und Suglingsforschung. In I. Quindeau, V. Sigusch (Hrsg.), Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven (S. 112 – 132). Frankfurt a. M.: Campus. Editorial (1931). Gegen Psychoanalyse. Sddeutsche Monatshefte 28 (11), 761. Fonagy, P., Target, M. (2006). Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Ferenczi, S. (1988). »Ohne Sympathie keine Heilung«. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: Fischer. Fçrstl, H. (Hrsg.) (2007). Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Berlin u. Heidelberg: Springer. Freud, S. (1890). Gesammelte Werke (Bd. V). Psychische Behandlung (Seelenbehandlung) (S. 287 – 315). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1905). Gesammelte Werke (Bd. V). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. (S. 33 – 145). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1907). Gesammelte Werke (Bd. VII). Der Wahn und die Trume in W. Jensens »Gradiva« (S. 29 – 122). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1910). Gesammelte Werke (Bd. VIII). ber »wilde« Psychoanalyse (S. 118 – 125). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1912). Gesammelte Werke (Bd. VIII). Zur Dynamik der bertragung (S. 364 – 374). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1913). Gesammelte Werke (Bd. X). Geleitwort [zu O. Pfister, Die psychoanalytische Methode, Leipzig 1913],(S. 448 – 450). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1914). Gesammelte Werke (Bd. X). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (S. 126 – 136). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1915). Gesammelte Werke (Bd. X). Das Unbewußte (S. 264 – 303). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S (1916). Gesammelte Werke (Bd. X). Trauer und Melancholie (S. 428 – 446). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1916 – 17). Gesammelte Werke (Bd. XI). Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1921). Gesammelte Werke (Bd. XIII). Massenpsychologie und Ich-Analyse ( S. 71 – 161). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1926). Gesammelte Werke (Bd. XIV). Die Frage der Laienanalyse (S. 207 – 286). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930). Gesammelte Werke (Bd. XIV). Ansprache im Frankfurter GoetheHaus (S. 547 – 550). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1933). Gesammelte Werke (Bd. XV). Neue Folge der Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1940). Gesammelte Werke (Bd. XVII). Abriß der Psychoanalyse (S. 63 – 138). Frankfurt a. M.: Fischer. Grande, T. (2007). Wie stellen sich Konflikt und Struktur in Beziehungen dar? Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 53, 144 – 162.
Bernd Nitzschke: Beziehung in der Psychoanalyse
283
Grimmer, B. (2005). Psychotherapeutisches Handeln zwischen Zumuten und Mut machen. Das Beziehungs- und Kommunikationskonzept der Kreditierung. Stuttgart: Kohlhammer. Groddeck, G. (1970). Der Mensch und sein Es. Briefe – Aufstze – Biographisches. Wiesbaden: Limes. Gross, O. (1920). Drei Aufstze ber den inneren Konflikt. Bonn: Marcus & Webers. Heigl-Evers, A., Nitzschke, B. (1991). Das Prinzip »Deutung« und das Prinzip »Antwort« in der psychoanalytischen Therapie. Anmerkungen zur theoretischen Begrndung zweier therapeutischer Angebote, die an unterschiedliche Patientengruppen gerichtet sind. Zeitschrift fr psysomatische Medizin und Psychoanalyse, 37, 115 – 127. Heigl-Evers A., Nitzschke, B. (1994). Das analytische Prinzip »Deutung« und das interaktionelle Prinzip »Antwort«. In A., Heigl-Evers, J. Ott (Hrsg.), Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode. Theorie und Praxis (S. 53 – 108). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heimann, P. (1950). On countertransference. The International Journal of Psychoanalysis, 31, 81 – 84, Herold, R., Weiß, H. (2000). bertragung. In W. Mertens, B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (S. 758 – 771). Stuttgart: Kohlhammer. Kchele, H. (2005). Vorlesung 3: Die therapeutische Beziehung. Zugriff unter : sip.medizin.uni-ulm.de/studium_lehre/downloads/vl.kaechele.2005.1.pdf. Krause, R. (o. J.). Psychodynamische Interventionen. Internet. Zugriff am 30. 9. 2007 unter : psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2007/976/pdf/Psychodynamische_Interventionen.pdf Laplanche, J. (1988). Die allgemeine Verfhrungstheorie und andere Aufstze. Tbingen: edition diskord. Laplanche, J., Pontalis, J.–B. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leary, T. (1957). Interpersonal diagnosis of personality : A functional theory and methodology for personality evalutation. New York: Ronald Press. Luborsky, L. (1984/1995).Principles of psychoanalytic psychotherapy. New York: Basic Books. Luborsky, L., Crits-Christoph, P. (Eds.) (1990). Understanding transference. New York: Basic Books. Luborsky, L., Kchele, H. (Hrsg.). (1988). Der zentrale Beziehungskonflikt. Ein Arbeitsbuch. Ulm: PSZ Verlag. Mertens, W., Waldvogel, B. (Hrsg.). (2000). Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart: Kohlhammer. Nitzschke, B. (1988). Goethe ist tot, es lebe die Kultur. In P. J Moebius, ber das Pathologische bei Goethe (S. 9 – 75). Neuausgabe: Mnchen: Matthes & Seitz. Nitzschke, B. (2001). Deutung, Antwort, Intervention. Eigenes und Fremdes im psychotherapeutischen Dialog. Freie Assoziation, 4, 299 – 307.
284
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Nitzschke, B. (2002). Deutung oder Projektion? ber die »Gretchenfrage« des Analysierens. Werkblatt – Zeitschrift fr Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, 19 (Heft 1), 31 – 55. Nitzschke, B. (2005). Die Fallgeschichte als Novelle: Pldoyer fr ein unzeitgemßes Konzept. Psychotherapie Forum, 13, 96 – 99. Nitzschke, B. (2007). Ich denke, also bin ich: Es. Kurze Beschreibung des langen Wegs von Descartes zu Freud. In W. Tress, R. Heinz (Hrsg.), Willensfreiheit zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Neurobiologie (S. 15 – 46). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Racker, H. (1978). bertragung und Gegenbertragung. Studien zur psychoanalytischen Technik. Mnchen u. Basel: Reinhardt. Rçssler, W. (Hrsg.). (2005). Die therapeutische Beziehung. Berlin u. Heidelberg: Springer. Sellschopp, A., Buchheim, P. (1993). Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Beziehungsdiagnostik. In P. Buchheim, M. Cierpka, T. Seifert (Hrsg.), Lindauer Texte. Texte zur psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung (S. 39 – 53). Zugriff am 30. 9. 2007 unter: http://www.lptw.de/archiv-vortrag2007.php. Schore, A. N. (2007). Affektregulation und Reorganisation des Selbst. Stuttgart: KlettCotta. Spitz, R. A. (1945). Hospitalism. Psychoanalytic study of the child, I. New York: International Universities Press. Steimer-Krause, E., Krause, R. (1993). Affekt und Beziehung. In P. Buchheim, M. Cierpka, T. Seifert (Hrsg.), Lindauer Texte. Texte zur psychotherapeutischen Fortund Weiterbildung (S. 71 – 83). Zugriff am 30. 9. 2007 unter : http://www.lptw.de/ archiv-vortrag2007.php. Stierlin (1976). Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Streeck, U. (2004). Zur therapeutischen Beziehung in der Psychotherapie. In F. Leichsenring (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie fr die Ausbildung zur/zum Psychologischen PsychotherapeutIn und fr die rztliche Weiterbildung. Bd. 2: Vertiefungsband psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie (S. 33 – 46). Mnchen: CIP-Medien. Strupp, H. H., Binder, J. L. (1984). Psychotherapy in a new key : A guide to timelimited dynamic psychotherapy. New York: Basic Books. Thom, H., Kchele, H. (1985). Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, Bd. 1: Grundlagen. Berlin u. Heidelberg: Springer. Tress, W. (Hrsg.) (1993). Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens (SASB). Ein Arbeitsbuch fr Forschung, Praxis und Weiterbildung in der Psychotherapie. Heidelberg: Asanger. Tress, W., Henry, W. P., Junkert-Tress, B., Hildenbrand, G., Hartkamp, N., Scheibe, G. (1996). Das Modell des Zyklisch-Maladaptiven Beziehungsmusters und der Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens (CMP/SASB). Psychotherapeut, 41, 215 – 224.
Mathias Hirsch Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
Die erste psychoanalytische Theorie war eine Traumatheorie: Sexueller Missbrauch eines Kindes, das spter konversionsneurotische Symptome entwickelte, lag an der Wurzel der psychischen Stçrung – und er wurde von »nahen Verwandten« ausgebt, das Trauma fand also in der Beziehung zu wichtigen Liebesobjekten statt. Nach dem Aufgeben der »Verfhrungstheorie« war es entweder der Konflikt mit dem eigenen Trieb – sexuell und aggressiv –, oder der Trieb wirkte ebenso wie ein Außenreiz von innen traumatisch – die Dimension der Beziehung, und zwar der je spezifischen Beziehungserfahrungen zwischen Erwachsenen und dem Kind war jedenfalls aufgegeben. Wenn Freud dann auch wieder, besonders in seinem letzten Werk »Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a)«, die traumatisierende Einwirkung von außen als Faktor der Pathogenese gelten ließ, betrachtete er sie nur mehr als akzidentell, nicht mehr als Beziehungsgeschehen (vgl. Cremerius, 1983). Die Chance, die Psychoanalyse als relational und so als Beziehungspsychologie zu entwickeln, war fr Jahrzehnte vertan, und das, obwohl der Genius Freud fr die Therapie bertragung und Gegenbertragung als ihr zentrales Medium entdeckte; und bertragung beziehungsweise Gegenbertragung sind ja wahrlich Beziehungsgeschehen. Familire Traumata ereignen sich also in Beziehungen (auch in denen zu anderen Familienmitgliedern, die nicht unmittelbar traumatisierend einwirken), aber wie steht es mit Extremtraumatisierungen zwischen Ttern und Opfern, die nicht vorher in Beziehung standen? Auch hier entwickeln sich Beziehungen, und zwar sozusagen automatisch und blitzschnell: Das Ich des Gefolterten regrediert auf das Niveau eines abhngigen Kleinkindes (Eissler, 1968), und da der Folterer (oder Entfhrer oder KZ-Scherge) der einzig Mchtige weit und breit ist, wird paradoxerweise von ihm eine Rettung ersehnt. So kann man sich Phnomene wie das Stockholm-Syndrom erklren (die in der von der RAF besetzten deutschen Botschaft in Stockholm festgehaltenen Geiseln begannen, sich fr die Motive und Ziele der Terroristen zu interessieren, sie identifizierten sich mit ihnen und stimmten ihnen nach und nach zu) oder das Entstehen von Liebesbeziehungen zwischen Ttern und Opfern verstehen.
286
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Besteht kein direkter Kontakt zwischen Tter und Opfer, gibt es ein großes Bedrfnis der berlebenden Opfer und auch der Hinterbliebenen, einen Tter zu finden: Den Lokfhrer, der das Unglck (von Enschede) verursacht hat, den Hubschrauberpiloten, der das Seil der Seilbahn in Sçlden zerstçrt hat, den Ingenieur, der die fehlerhafte Heizung in die Bergbahn in Kaprun einbaute, so dass es im Jahre 2000 berhaupt zum Brand und zu 155 Toten kommen konnte … Man mçchte ein Gegenber haben, ihm ins Gesicht sehen, man mçchte Ursache und Wirkung und damit die Schuld klren, um nicht Opfer von etwas Unerklrbarem, Ungewissem zu sein. Sogar bei reinen Naturkatastrophen, non-man-made-disasters, wie Wirbelstrme oder Erdbeben, suchen die Opfer nach Ttern – die Politiker, die die Klimakatastrophe zu verantworten haben, die Baufirmen, die die Huser nicht erdbebensicher gebaut haben. Und alle diese Bestrebungen – die bernahme der Schuld des Tters durch das Opfer, das daraus ein Schuldgefhl macht, wie wir sehen werden, die Hoffnung auf Rettung durch den einzig Mchtigen, den Folterer, und die Suche nach einem Schuldigen im Falle von Naturkatastrophen: Das Schlimmste fr den Traumatisierten ist die Sinnlosigkeit der Gewalt, die Ohnmacht angesichts der Gewalt und das nicht aushaltbare Allein-Sein. Die Patienten, die uns heute in gewisser Weise am meisten beschftigen, nmlich schwerer gestçrte, frh gestçrte Patienten oder Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen, haben alle massive Traumata, und zwar sog. »komplexe« oder Beziehungstraumata, erlitten (vgl. Rohde-Dachser, 1991; Sachsse, 1995; Eckert et al., 2000; Paris, 2000; Hirsch, 2004). Whrend Traumata in der Wiederannherungsphase im Kleinkindalter eher zu Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen fhren, hngen narzisstische Persçnlichkeitsstçrungen eher mit Deprivationstraumata des Suglingsalters zusammen (z. B. Modell, 1976, S. 303). Damit haben wir schon die der Persçnlichkeitsstçrung zugrundeliegenden Traumaformen benannt; Kernberg (1999) fgt mit Kroll (1993) noch das Miterleben kçrperlicher und sexueller Gewalt hinzu, die anderen Personen zugefgt wird. Psychoanalytisches Denken ist in den letzten Jahren in wirklich revolutionrer Weise in Richtung einer insofern sozialen Wissenschaft verndert worden, als nun weit berwiegend gesehen werden kann, dass die psychische Entwicklung des Menschen nur in Beziehungen verluft. Die Qualitt der Beziehung zwischen den Erwachsenen und dem heranwachsenden Kind nimmt entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Charakters, der Persçnlichkeit und damit auch auf das Entstehen ihrer Stçrungen, an deren Wurzel nun unter Umstnden extreme Mngel an emotionaler Zuwendung und zum Teil massive traumatisierende bergriffe gesehen werden mssen. Diese Entwicklung hat meines Erachtens zwei Ursprnge, zum einen den der Suglingsbeobachtung, die seit den 1980er Jahren einen unvoreingenommenen Blick auf die Mutter-Kind-Interaktion erlaubte, und zum anderen die neue
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
287
Anerkennung traumatischer Einwirkung auf das Kind beziehungsweise berhaupt auf den Menschen. Wiederum in den 1980er Jahren war die Gesellschaft der sogenannten westlichen Welt endlich in der Lage, die ungeheure Relevanz sexuellen Missbrauchs in der Familie und die anderer familirer Traumata zu sehen (vgl. Hirsch, 1987; 2004), und konnte auch nicht mehr umhin, die Folgen von Kriegs- und Verfolgungstraumata anzuerkennen. Der sogenannte Holocaust lag nun so weit zurck, dass die nachfolgenden Generationen wagen konnten, das eigentlich Undenkbare zu denken und zu konzeptualisieren, ohne von Emotionen berflutet zu werden. Die Psychoanalyse war nicht unbedingt der Initiator dieser Bewegungen, konnte sich aber ber kurz oder lang der neuen Relevanz nicht mehr verschließen. So ist die Psychoanalyse heute berwiegend eine relationale Psychoanalyse, sie ist eine Beziehungswissenschaft geworden, eine Psychologie der Intersubjektivitt, und zwar sowohl, was die psychische Entwicklung – in Beziehungen – angeht, als auch, was das Wesen der psychoanalytischen Therapie betrifft, die nun fast allgemein in ihrem intersubjektiven Charakter gewrdigt werden kann. Freud (1896c; 1985) hatte in den Anfngen der Psychoanalyse mit der sogenannten Verfhrungstheorie wie selbstverstndlich angenommen, dass allen psychischen Stçrungen realer sexueller Missbrauch zugrunde liege, dass es sich also explizit um ein traumatisches Beziehungsgeschehen handelte. Die Revision dieser Traumatheorie individualisierte psychische Krankheit und machte sie zum Triebgeschehen beziehungsweise, Ich-psychologisch gesehen, reduzierte sie auf das Resultat einer Reizeinwirkung auf ein zu schwaches Ich. Ferenczi, der Analysand, Freund und geniale Schler Freuds, knpfte an die Verfhrungstheorie an und stellte Triebwirkungen ganz zurck zugunsten der traumatischen Einwirkung der Erwachsenen auf das sich entwickelnde Kind. Ferenczi sieht das Trauma immer objektbeziehungstheoretisch (vgl. Hirsch, 2001), immer in Beziehungen, er hat die Grundlage gelegt fr eine moderne Psychotraumatologie, die er in seiner vermchtnisartigen Arbeit »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind – Die Sprache der Zrtlichkeit und der Leidenschaft« (Ferenczi, 1933) konzipierte. Der ursprngliche Titel vermittelt noch klarer, worum es Ferenczi ging: »Die Leidenschaft der Erwachsenen und deren Einfluss auf Charakter und Sexualentwicklung der Kinder«. Die »Sprachverwirrung« ist die Verwirrung des Kindes ber den Begriff der Liebe, der kindlichen Liebe, das heißt der (vortraumatischen) Zrtlichkeit, und der Erwachsenensexualitt, also der Leidenschaft, die der inzestuçse Vater dem unschuldigen Kind gewaltsam berstlpt, das berwltigt wird von dieser Art der Liebe, die es nicht erwartet hat. Die Psychoanalyse war so auf den Kopf gestellt, der Trieb des Kindes spielte keine Rolle mehr – wohl aber seine Liebe, seine Beziehung zum Vater und zur Mutter – das Trauma, nicht nur, aber besonders auch das sexuelle, stand wieder am Anfang der psychischen Stçrung, wie es Freud (1896c) vor dem
288
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Aufgeben der Verfhrungstheorie in der Frhzeit der Psychoanalyse konzipiert hatte. Ferenczi (1933) formuliert vor Anna Freud (1936) den Abwehrmechanismus der Identifikation mit dem Aggressor. Aber bei Anna Freud ist es ein Abwehrmechanismus, der das gekrnkte Ich durch Identifikation mit dem mchtigen Erwachsenen, der eher imitiert wird, wieder aufrichtet. Bei Ferenczi dagegen handelt es sich um einen lebenswichtigen Vorgang, der dementsprechend elementar die Identitt des Opfers verndert (vgl. Hirsch, 1996; 1997). Es ist eher eine Unterwerfung, ein Akzeptieren des traumatischen Systems, ein introjektives Hineinnehmen des Tters, dessen Bild dadurch – weil er ja auch lebensnotwendig gebraucht wird – »gut« bleiben kann, als liebender Vater zum Beispiel, whrend das Bçse – das ja in der traumatischen Gewalt enthalten ist – und die Schuld des Tters in das Kind beziehungsweise das Opfer gelangen. Dort wirkt das Bçse fortan selbstwerterniedrigend und regelmßig Schuldgefhle verursachend; das Opfer empfindet das Schuldgefhl, das der Tter nicht haben kann, das Ich oder Selbst wird nicht aufgerichtet, sondern grndlich geschwcht. Ferenczi schreibt: »Tatschliche Vergewaltigungen von Mdchen […] gehçren zur Tagesordnung […] Der erste Impuls wre: Ablehnung, Hass, Ekel, kraftvolle Abwehr […] Dies […] wre die unmittelbare Reaktion, wre sie nicht durch eine ungeheure Angst paralysiert […] Doch dieselbe Angst […] zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, […] sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als ußere Realitt und wird intrapsychisch, statt extra; […] und in der traumatischen Trance gelingt es dem Kind, die frhere Zrtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten. Doch die bedeutsamste Wandlung, die die ngstliche Identifizierung […] im Seelenleben des Kindes hervorruft, ist die Introjektion des Schuldgefhls des Erwachsenen […] Erholt sich das Kind nach solcher Attacke, so fhlt es sich ungeheuer konfus, eigentlich schon gespalten, schuldlos und schuldig zugleich, ja mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne« (1933, S. 518 f., Hervorhebung original). ber die berwltigende Gewalterfahrung, den Verrat der Beziehung und die Verlustdrohung hinaus ist einer der wirksamsten Faktoren der Traumagenese die Abwesenheit eines Dritten, der dem Opfer die Qualitt des Traumas und die Realitt seiner Wahrnehmung besttigen kçnnte. Das Kind, fr das das »Alleinsein ohne mtterlichen oder sonstigen Schutz und ohne ein erhebliches Quantum an Zrtlichkeit unertrglich ist« (S. 520), sucht sich durch Introjektion den missbrauchenden Vater ertrglich zu machen, kann aber auch auf eine andere Beziehung als Schutz nicht zurckgreifen, um das Trauma zu mildern beziehungsweise vor allem um die Verwirrung, die Konfusion ber das Unklare der Realitt, der es ausgesetzt ist (Gewalt oder Liebe,
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
289
kindliche Zrtlichkeit oder Erwachsenensexualitt) zu vermeiden. Die Beziehung zur Mutter sei »nicht intim genug, um bei ihr Hilfe zu finden« (S. 519 f.). Das eigentliche Trauma ist also die Beziehungsverweigerung durch den Tter (Balint, 1969; Haynal, 1989) und die soziale Umgebung. Sabourin schreibt deshalb im Nachwort des Klinischen Tagebuchs Ferenczis: »Denn es ist Ferenczi, der das ›Leugnen des Stattgefundenen seitens der Mutter‹ als den Faktor betrachtet, der ›das Trauma pathogen macht‹, also nicht nur die Vergewaltigung, sondern auch die ihr folgende Verleugnung und Verleumdung« (1985, S. 287). hnlich auch Laub und Auerhahn: »Beim Trauma schaut die innere Mutter stets zu, sie lsst den Angriff zu, oder sie versumt es zumindest, ihn zu verhindern […] Das Trauma zerstçrt die Gewebe zwischen Selbst und dem empathischen Anderen, eine Verbindung, die erst durch die Erfahrung der Gegenseitigkeit in der Mutter-Kind-Beziehung etabliert und dann im mtterlichen Introjekt ›objektiviert‹ wurde« (1993, S. 287; zit. nach VolzBoers, 1999, S. 1149). Die Grundidee des Traumas bei Ferenczi scheint mir zu sein, dass das Kind durch die massiven Abwehroperationen der Introjektion der Gewalt und der Identifikation mit dem Aggressor sich selbst dadurch zu retten versucht, dass es die fr es lebensnotwendige Beziehung zu erhalten sucht, indem es sich selbst die Ursache der Gewalt, des Bçsen und die Schuld dafr zuschreibt. Die Tragik liegt darin, dass das Kind von den lebensnotwendig gebrauchten Eltern misshandelt oder missbraucht wird, Eltern, deren Bild es sich als gengend gut erhalten muss, koste es, was es wolle, auch um den Preis der Selbstaufgabe. Ferenczi und auch Freud unterscheiden noch nicht zwischen Introjektion und Identifikation. Heute denken wir, dass die Gewalt introjiziert wird als aktive Abwehrleistung des Ich des Opfers, um zu berleben, so dass ein Fremdkçrper im Selbst, der von innen wie ein Tumor oder ein Virus destruktiv weiterwirkt, gebildet wird. Wie es Ferenczi schon intendierte, wird dadurch die ußere Umgebung vom Bçsen befreit, so dass die Illusion von gengend guten ußeren Objekten aufrechterhalten bleiben kann. Identifikation dagegen ist eine Vernderung des Selbst durch bernahme von Anteilen beziehungsweise Eigenschaften eines Objekts ins Selbst, »eine Vernderung in der Selbstreprsentanz« (Sandler, 1988, S. 52). Die Spannung zwischen dem Introjekt und dem Ich verursacht Schuldgefhle und Selbstwerterniedrigung. Diese Spannung kann verringert werden durch Identifikation mit dem Introjekt als eine Mçglichkeit der Assimilation, der Entschrfung introjizierter Gewalt; dadurch wird der Tter eher imitiert und seine Form der Gewalt bernommen (s. u. sekundre Identifikation). Das entspricht dem Mechanismus, den Freud (1914c; 1921c; 1923b) fr die ber-Ich-Bildung beschrieben hat. Auch dort werden Eigenschaften der ußeren Objekte internalisiert (introjiziert), und dann wird, insbesondere bei freundlichen Inhalten, eine Aneignung, Assimilation durch Identifizierung vorgenommen.
290
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Die typische Form der Identifikation des weiblichen Opfers ist die beschriebene unterwerfende, das Opfer bleibt Opfer. Eine andere Form, sekundre Identifikation genannt, entspricht der von Anna Freud gemeinten, das Opfer zieht es vor, zum Tter zu werden (Hirsch, 1996). Ferenczi schreibt: »Wenn man ihn prgelte, begann er plçtzlich ganz bewusst zu denken: ›Wie hbsch wird das sein, wenn ich Vater sein und mein Kind prgeln werde!‹ So zeigte er, dass er in seiner Phantasie schon damals die knftige Vaterrolle annahm. Solche Identifikation bedeutet eine Vernderung in einem Teil der Persçnlichkeit. Das ›Ich‹ ist um eine Erwerbung aus der Umwelt bereichert, die nicht ererbt war. Dies ist auch die Art, in der man gewissenhaft wird. Zuerst hat man Angst vor der Strafe, dann identifiziert man sich mit der strafenden Autoritt. Dann mçgen der wirkliche Vater und Mutter ihre Bedeutung fr das Kind verlieren, es hat sich in seinem Inneren eine Art inneren Vater und Mutter aufgerichtet. So kommt das zustande, was Freud das ber-Ich nennt« (1927, S. 363). Hier holt Ferenczi das nach, was Freud fast immer vermeidet: Die Eltern vermitteln schließlich ganz bestimmte ber-Ich-Inhalte in ganz bestimmter Weise, oft ber Jahre, und leider eben auch traumatisierend. Ferenczi greift also auf die ber-Ich-Bildung, wie sie Freud entwickelte, zurck, um auch traumatische Internalisierungsprozesse zu konzipieren. In seinem »Klinischen Tagebuch« beschreibt Ferenczi noch einen anderen Vorgang, der der Implantation des Bçsen folgt, ein Berauben des Guten nmlich, des stillen Glcks des kindlichen Opfers, so dass hier der Grund fr die von den Patienten spter beschriebene Leere des Lebendig-Tot-Seins gesehen werden kann: »Zugleich aber saugt sozusagen der Aggressor ein Stck, das heißt das ausgedrngte Stck des Opfers in sich ein […] Ein Teil des Giftes wird einer anderen Person implantiert […] zugleich annektiert der Aggressor […] die naive, angstlose, ruhige Glckslage, in der bis dahin das Opfer lebte« (1985, S. 124). Nicht nur das implantative Eindringen also, sondern auch eine Aneignung der Lebendigkeit des Kindes findet statt: Die narzisstischen (d. h. bedrftigen) Eltern nehmen sich von dem Kind, was ihnen Lust verschafft, und sind wtend, wenn es sich entfernt. Viel spter spricht Bollas (1987) von »extraktiver Introjektion«. Hierdurch, aber auch durch die Unterwerfung, wird das missbrauchte Kind »zu einem mechanisch-gehorsamen Wesen« (Ferenczi, 1933, S. 520); hier ist der Grundgedanke gelegt fr das »Abschalten« der Affekte des Opfers whrend des Missbrauchs und auch spter als Charakterzug (vgl. Hirsch, 1987), also Erscheinungen der Dissoziation. Shengold (1979) spricht von »vertikaler Spaltung«, einem Nebeneinander von Denken und Wahrnehmung im Ich, um durch »Kompartmentierung das Unertrgliche in Schach zu halten«; Ferenczi nennt es »lebendig-tot« (1933). Auch das kompensatorische frhreife und bertriebene Ausbilden von bestimmten einzelnen Ich-Funktionen beobachtete schon Ferenczi (1933, S. 522), er spricht vom »Aufblhen neuer Fhigkeiten nach Erschtterung«; neben der
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
291
eintretenden Regression sieht man eine »traumatische[r] […] Progression oder Frhreife«. Heute nennt man das mit Winnicott (1960) »falsches Selbst« und meint damit eine Anpassung an pathologische elterliche Bindungsmuster, die mit den Begriffen der Bindungstheorie ausdifferenziert wurde.
Frhkindliches Trauma Seit langem gibt es psychoanalytische Vorstellungen von traumatisierenden Einflssen auf den Sugling und damit Vorstellungen der Verbindung von Trauma und Beziehung, meist als Deprivation, emotionale Mangelversorgung, gedacht. Man denke an Ren Spitz (1965), Kris (1956: Dauerbelastung – Strain – im Gegensatz zum Schocktrauma); Hoffer (1952, S. 38) bemerkt, dass Zustnde von Hilflosigkeit, von »innerem Stress«, hufig sind; er bezeichnet sie als silent trauma. Die entstehende Angst und die Vorstellung, dass die mtterliche Umgebung handeln wird, um die Zustnde zu bewltigen, lassen Hoffer einen Trieb postulieren, der sich an die Objekte der ußeren Welt richtet; Introjektion sei anfnglich »Triebbefriedigung«. Frh hat auch Boyer (1956) die Funktion der Mutter als Reizschranke sowohl gegen innere wie ußere Reize gesehen. Im Sinne einer Beziehungspathologie beschreibt Khan (1963), sich an Winnicott (1956) anlehnend, die Mutter (bzw. die mtterliche Umgebung) in ihrer Funktion als Reizschutz. Wenn die ablehnende, depressive oder berfordert-unempathische Mutter sich nicht gengend an die anaklitischen Bedrfnisse des Kindes anpassen kann, kommt es zur wiederholten Reizberflutung beim Sugling, zu einem kumulativen Trauma. Erfolgen diese Reizberflutungen zu hufig, kçnnen sie nicht mit den Mitteln des Ich des Kindes kompensiert werden, es erfolgt vielmehr eine Anpassung durch eine frhreife und selektive Entwicklung von Ich-Funktionen zur Abwehr der Unlust. Dabei reagiert der Sugling besonders auf den Zustand der Mutter, die die frhreifen Ich-Funktionen gratifiziert, wodurch eine Verstrkung entsteht: Durch die Identifikation wird eine Einheit mit der Mutter simuliert, die Sorge des Kindes um die Mutter (eine Art Rollenumkehr) ist aber eine egoistische Sorge, liegt eher im Ich-Interesse als dass es eine echte Objektbeziehung darstellen wrde. Vielleicht sollte hier eingefgt werden, dass »die Mutter« immer eine Kurzformel fr »mtterliche Umgebung« ist, die nicht auf eine Person reduziert bleiben sollte, sondern die (immer noch meist) familire Umgebung meint, die als Gesamt sowohl die zentrale mtterliche Bezugsperson (meist die Mutter) beeinflusst als auch das Kleinkind selbst. So kommt es sehr darauf an, wie die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander beschaffen sind, besonders die zwischen den Eltern. Dauernde große Spannungen und Ag-
292
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
gressionen zwischen ihnen wirken sich natrlich auf das Kind aus (vgl. oben Kernberg, 1999, der auf das Miterleben traumatischer Gewalt hingewiesen hat), so dass es ein berraschender Befund der Untersuchungen zur seelischen Gesundheit durch Tress (1986) war, dass in bereits hochbelasteten Familien das Fehlen des Vaters ein fr die Entwicklung des Kindes gnstiger Faktor darstellte, da die Spannungen zwischen den Eltern wegfielen. Bowlby (1960; 1973) untersuchte besonders Verlust- und Trennungserfahrungen im sehr frhen Alter und stellte fest, dass ein gewisser Betrag von affektiver Stimulierung fr die Ich-Es-Differenzierung sowie die Entwicklung verschiedener Ich-Funktionen, auch fr die Differenzierung von Selbst und ußeren Objekten sowie die Erlangung von Objektkonstanz notwendig ist. Mller-Pozzi (1984, S. 103) stellt in diesem Zusammenhang den Objektaspekt ganz in den Vordergrund und spricht von Entwicklungstrauma. Eine hnliche subtile Form der Deprivation beschreibt Green (1983: Die tote Mutter) als Erfahrung des jungen Kindes mit einer ußerlich anwesenden, innerlich aber aufgrund einer chronischen Depression abwesenden Mutter. In der Identifikation mit der »toten Mutter« (besser Introjektion, M. H.) entsteht eine Leere, die durch Hass und frhzeitige erotische Erregung gefllt wird, teilweise auch durch frhreife intellektuelle Aktivitten. Neuerdings entwickelten Fonagy und seine Mitarbeiter (Fonagy, 2000; Fonagy u. Target, 1995; Fonagy, Moran u. Target, 1993) durch die Integration von Bindungstheorie, Suglingsforschung und psychoanalytischen Modellen Konzepte von frher Mikrotraumatisierung, in deren Zentrum die Entwicklung beziehungsweise traumatische Behinderung der Fhigkeit steht, das Denken der Pflegeperson zu konzeptualisieren, also auch zu antizipieren. Stçrungen der Mçglichkeit der stndigen Rckversicherung, was die Pflegeperson ber die Vorstellungen des Kleinkindes denkt, und der Abgleichung mit dem eigenen Denken fhren zu Denkblockaden und der Notwendigkeit, auf primitive aggressive Impulse gegen andere und gegen das eigene Selbst (Selbstbeschdigung) zurckzugreifen, ein Charakteristikum der (Borderline-)Persçnlichkeitsstçrung. Die Verwirrung ber das Denken des Objekts, die Unfhigkeit, die Bedeutung seines Verhaltens zu begreifen (Fonagy, 2000), lsst an die Sprachverwirrung Ferenczis denken.
Attachment trauma In einer neueren bersichtsarbeit beschreiben Fonagy und Mitarbeiter die Existenz eines attachment trauma. »Ein Bindungstrauma ist oft, wenn nicht immer, ein Teil der Geschichte von als Borderline-Persçnlichkeitsstçrung diagnostizierten Personen […]. Obwohl wir wissen, dass verschiedene Arten
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
293
der Traumatisierung eine signifikante Rolle in der Psychogenese der Persçnlichkeitsstçrung spielen […], glauben wir, dass es die Persistenz des Modus der psychischen quivalenz [s. u.] ist, verbunden mit frher psychologischer Vernachlssigung, die diese Personen in der Folge fr solche harten sozialen Erfahrungen besonders verletzlich macht« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002, S. 441). Die Formulierung von Vorstellungen, auch aufgrund von Beobachtungen, wie sich in einem wnschenswerten Kontakt von Sugling und Bezugsperson Denken, Affektkontrolle und Mentalisierungs- beziehungsweise Symbolisierungsfunktionen entwickeln, enthalten natrlich immer auch die Vorstellungen der traumatischen Stçrung, Behinderung und Blockierung dieser Fhigkeiten. Fonagy und Mitarbeiter verstehen darber hinaus die mangelnde Fhigkeit der Interpretation interpersoneller Interaktion und ungengende Mentalisation als Folge von Traumatisierung. Ein »Trauma«, also ein traumatisierendes Ereignis, beeintrchtigt Bindungs- und Mentalisierungsfunktion, aber die Reprsentanzen von Selbst und Beziehung werden umso eher wiedergewonnen, je strker die Persçnlichkeit auf einer Basis der sicheren Bindungserfahrung ruht.
»Mutter-Trauma« und »Vater-Trauma« In der Anamnese von Borderline-Patienten finden sich sehr hufig schwere familire Traumata (Sachsse, 1995; Hirsch, 1987; 2004; Eckert et al., 2000), und man fragt sich, wie dieses erinnerbare (wenn nicht der Amnesie verfallene) Trauma in der spteren Kindheit hnlich die Symbolisierungs- (und Mentalisierungs-) Fhigkeit beeintrchtigt wie die Entbehrungstraumata der sehr frhen Kindheit, die aus den fehlenden oder fehlgehenden affektregulierenden Antworten der mtterlichen Pflegeperson entstehen. Eine Mçglichkeit wre, dass beide Traumaformen aufeinanderfolgen, dass in Missbrauchs- und Misshandlungsfamilien bereits wenig Kompetenz der Empathie fr den Sugling vorhanden war, dass also auf ein frhes »Mutter-Trauma« ein spteres »Vater-Trauma« (z. B. als inzestuçser Missbrauch) folgt, im Sinne einer zweizeitigen Traumatisierung (vgl. Hirsch, 1987; Hirsch, 2004, S. 71). Fonagy und Mitarbeiter schreiben: »Die unzulnglich konstruierte Selbststruktur macht diese Kinder insbesondere fr sptere Traumatisierungen anfllig« (2002, S. 360). Ein Defizit an Mentalisierungsfunktion verhindert, dass das Kind sich in die Absicht des Tters antizipierend einfhlt. Man kann sich auch vorstellen, dass das verstrkte Bindungsbedrfnis deprivierter Kinder dazu fhrt, sich an den (potentiellen) Tter noch enger kçrperlich anzunhern.
294
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Es gibt aber andererseits derart extrem traumatisierende Einwirkungen, dass die Antizipations-, Vorstellungs- und Symbolisierungsfhigkeit eines jeden durchschnittlich glcklich aufgewachsenen Menschen zerstçrt wird. Das Denken hçrt auf, es entsteht ein »mechanisch gehorsames Wesen« (Ferenczi, 1933), eine Dumpfheit (»numbing«) tritt an seine Stelle. Die Vorstellung der traumatischen Situation wre unertrglich und wird durch Konkretisierung ersetzt: »Das Individuum hofft, die Schrecken der Realitt durch Handlungen zu lindern, ungeschehen zu machen oder ihre Verleugnung zu erleichtern […] Konkretisierendes Handeln erzeugt eine Situation, die scheinbar der Kontrolle des Individuums unterliegt« (Bergmann, 1995, S. 345 f.). So kann auch der Rckgriff vieler, besonders weiblicher BorderlinePatienten auf destruktives Kçrperagieren verstanden werden; der dissoziierte Kçrper (Hirsch, 2007; s. u.) wird zum misshandelten Kind von damals beziehungsweise zu einer Mutter-Reprsentanz, mit der man im Schmerz verschmolzen ist. Wie bei der frhen traumatisierenden Fehlantwort wird etwas Fremdes internalisiert, das als Fremdkçrper von innen wirkt (Fonagy et al., 2002, S. 368). Dem »Numbing« whrend des traumatischen Ereignisses folgt eine Denkstçrung bis hin zur Pseudo-Debilitt (Hirsch, 1987, S. 215), in vielen Familien herrscht auch ein Rede- und damit Denkverbot, bei sexuellem Missbrauch ist das die Regel. »Ein Opfer kann nicht mit dem Tter darber sprechen, wie es mit ihrer Beziehung weitergeht« (Marrone, 2004, S. 125). Das Kind ist gehemmt, ber das Mentale der Eltern nachzudenken, »denn es wrde bei dieser Erforschung nichts Angenehmes entdecken […]« (Dornes, 2004, S. 191).
Kçrper-Dissoziation Es gibt eine Korrelation zwischen sexuellem Missbrauch in der Familie und Selbstbeschdigungsagieren in der Adoleszenz: Zwei Drittel der wegen schwerer Selbstmutilation stationr behandelten jungen Frauen gaben an, in der Kindheit inzestuçs missbraucht worden zu sein (Sachsse, 1989). Darber hinaus fand Sachsse bei allen Mttern seiner Patientinnen schwere psychische Stçrungen, die offenbar mtterliche Funktionen beeintrchtigten: »Die Mtter der Patientinnen waren smtlich psychisch schwer krank« (1989, S. 97). Es fanden sich vorwiegend schwere Depressionen mit Suizidalitt, Alkohol- und Medikamentenabhngigkeit sowie psychosomatische beziehungsweise Somatisierungsstçrungen. Also das zweizeitige Trauma: Dem inzestuçsen (»Vater-Trauma«) der spten Kindheit ging ein »Mutter-Trauma« der frhen Kindheit voraus. Den Zusammenhang von Trauma und KçrperAgieren stelle ich mir so vor, dass der sptere Missbrauch, der sich neben dem
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
295
Beziehungsaspekt und der unzeitigen gewaltsamen sexuellen Erregung besonders gegen den Kçrper des Kindes richtet und die Kçrpergrenzen massiv berrollt, auf ein wegen der frhen Deprivation schlecht integriertes Kçrperbild trifft, so dass sowohl im Missbrauchsgeschehen selbst als auch in spteren Belastungssituationen auf eine Dissoziation des Kçrper-Selbst vom Gesamtselbst zurckgegriffen wird. In Schwellensituationen der Entwicklung wie der Adoleszenz, das heißt bei besonderen Identittsanforderungen, wird durch die Schaffung einer artifiziellen (als schmerzhaft erfahrenen) Kçrpergrenze ein Ich-Grenzen-Surrogat geschaffen, wodurch eine psychotische Desintegration vermieden wird (vgl. Hirsch, 1989; 2007).
Sexualisierung Einmal kann man annehmen, dass ein durch Deprivation entstandenes Defizit mit dem sexuellen Trieb angefllt wird (Khan, 1975), zum anderen, dass die in der Tter-Opfer-Beziehung enthaltene Gewalt sexualisiert wird. Ganz sicher von außen aber geschieht Sexualisierung von basalen narzisstischen Bedrfnissen durch sexuellen Missbrauch durch Erwachsene. Das Prinzip des typischen familiren sexuellen Missbrauchs ist nun, dass sich ein tatschlich weich, gewhrend erscheinender Vater als »bessere Mutter« anbietet, ein Versprechen macht, elterliche Liebe zu geben, nun aber in einem grandiosen Zynismus seine sexuellen Bedrfnisse, also die der sexuellen Liebe des Erwachsenen, mehr oder weniger gewaltsam an die erste Stelle setzt. So entsteht eine Sexualisierung der frhen emotionalen Bedrfnisse, und im Wiederholungszwang wird Sexualitt spter immer wieder eingesetzt, um Erfllung ganz anderer, sozusagen »frher« Bedrfnisse nach Akzeptiert-Sein, Untersttzt- und Anerkannt-Werden zu erfahren. Oder aber der Missbrauch geschieht durch Erwachsene außerhalb der Familie, wobei die Wahrscheinlichkeit, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden, meines Erachtens umso grçßer ist, je bedrftiger das Kind sich mit seinen kindlichen Wnschen auch an fremde Erwachsene im Sinne einer Art Heimkindsyndrom (»intrafamilirer Hospitalismus«) wendet.
Schlussbemerkung Dem fast inflationren Gebrauch des Traumabegriffs der letzten zwei Jahrzehnte konnte sich auch die Psychoanalyse nicht verschließen, im Gegenteil, sie erinnerte sich sozusagen an eine eigene lange Geschichte der Trauma-
296
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
vorstellungen, die sich keineswegs in der psycho-çkonomischen Reizberflutungs-Vorstellung erschçpfte. Vielleicht hat die Traumadiskussion dazu beigetragen, dass die Psychoanalyse heute berwiegend und zunehmend eine relationale geworden ist, eine Psychoanalyse der Beziehungserfahrungen und -qualitten – und darin sind als extreme Formen traumatisierende Erfahrungen mit eingeschlossen.
Literatur Balint, M. (1969/1970). Trauma und Objektbeziehung. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 24, 346 – 358. Bergmann, M. V. (1995). berlegungen zur ber-Ich-Pathologie berlebender und ihrer Kinder. In M. S. Bergmann, M. E. Jucovy, J. S. Kestenberg (Hrsg.), Kinder der Opfer, Kinder der Tter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M.: Fischer. Bollas, C. (1987). The shadow of the object. Psychoanalysis of the unthought known. London: Free Association. Bowlby, J. (1960). Grief and mourning in infancy and early childhood. The Psychoanalytic Study of the Child, 15, 9 – 52. Bowlby, J. (1973/1976). Trennung. Psychische Schden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. Mnchen: Kindler. Boyer, L. B. (1956). On maternal overstimulation and ego defects. The Psychoanalytic Study of the Child, 11, 236 – 256. Brenneis, C. B. (1996/1998). Gedchtnissysteme und der psychoanalytische Abruf von Traumaerinnerungen. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 52, 801 – 823. Cremerius, J. (1983). »Die Sprache der Zrtlichkeit und der Leidenschaft«. Reflexionen zu S ndor Ferenczis Wiesbadener Vortrag von 1932. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 37, 988 – 1015. Deutsch, H. (1934). ber einen Typus der Pseudoaffektivitt (»als-ob«). Internationale Zeitschrift fr Psychoanalyse, 20, 323 – 335. Dornes, M. (2004). ber Mentalisierung, Affektspiegelung und die Entwicklung des Selbst. Forum der Psychoanalyse, 20, 175 – 199. Eckert J., Dulz B., Makowski C. (2000). Die Behandlung von Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen. Psychotherapeut, 45, 271 – 285. Eissler, K. R. (1968). Weitere Bemerkungen zum Problem der KZ-Psychologie. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 22, 452 – 463. Ferenczi, S. (1927/1964). Die Anpassung der Familie an das Kind. In Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. III (2. Aufl.) (S. 347 – 366). Bern u. Stuttgart: Huber. Ferenczi, S. (1933/1964). Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. In: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. III. (2. Aufl.) (S. 511 – 525). Bern: Huber.
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
297
Ferenczi, S. (1938/1964). Fragmente und Notizen IV. In Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. IV (2. Aufl.) (S. 258 – 294). Bern u. Stuttgart: Huber. Ferenczi, S. (1985/1988). Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: Fischer. Fonagy, P. (2000). Attachment and borderline personality disorder. Journal of the American Psychoanalytic Association, 48, 1129 – 1146. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2002/2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P., Moran, G. S., Target, M. (1993). Aggression and the psychological self. The International Journal of Psycho-Analysis, 74, 471 – 485. Fonagy, P., Target, M. (1995/2002). Zum Verstndnis von Gewalt: ber die Verwendung des Kçrpers und die Rolle des Vaters. Kinderanalyse, 10, 280 – 307. Fonagy, P., Target, M. (2000/2001). Mit der Realitt spielen. Zur Doppelgesichtigkeit psychischer Realitt von Borderline-Patienten. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 55, 961 – 995. Fonagy, P., Target, M., Gergely, G., Allen, J. G., Bateman, A. W. (2003). The developmental roots of borderline personality disorder in early attachment relationships: A theory and some evidence. Psychoanalytic Inquiry, 23, 412 – 459. Freud, A. (1936/1980). Das Ich und die Abwehrmechanismen. In Die Schriften der Anna Freud Bd. I (S. 193 – 254). Mnchen: Kindler. Freud, S. (1896c). Gesammelte Werke (Bd. I). Zur tiologie der Hysterie (S. 423 – 459). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1914c). Gesammelte Werke (Bd. X). Zur Einfhrung des Narzissmus (S. 137 – 170). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1914 g). Gesammelte Werke (Bd. X). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (S. 125 – 136). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1921c). Gesammelte Werke (Bd. XIII). Massenpsychologie und Ich-Analyse (S. 71 – 161). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1923b). Gesammelte Werke (Bd. XIII). Das Ich und das Es (S. 235 – 289). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1939a). Gesammelte Werke (Bd. XIV). Der Mann Moses und die monotheistische Religion (S. 101 – 246). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1985/1986). Briefe an Wilhelm Fließ 1887 – 1904, hrsg. J.M. Masson. Frankfurt a. M.: Fischer. Green, A. (1983/1993). Die tote Mutter. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 47, 205 – 240. Haynal, A. (1989). Die Geschichte des Trauma-Begriffs und seine gegenwrtige Bedeutung. Zeitschrift fr Psychoanalytische Theorie und Praxis, 4, 322 – 333. Hirsch, M. (1987/1999). Realer Inzest. Psychodynamik sexuellen Missbrauchs in der Familie. Gießen: Psychosozial. Hirsch, M. (1989/1998). Der eigene Kçrper als Objekt. In M. Hirsch (Hrsg.), Der eigene Kçrper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Kçrperagierens. Gießen: Psychosozial.
298
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Hirsch, M. (1996). Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor – nach Ferenczi und nach Anna Freud. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 45, 198 – 205. Hirsch, M. (1997). Schuld und Schuldgefhl – Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (2001). Außen und Innen: Traumatische Realitt und psychische Struktur – Die Bedeutung Ferenczis fr Objektbeziehungstheorie und Psychotraumatologie. In M. Klçpper, R. Lindner (Hrsg.), Destruktivitt – Wurzeln und Gesichter (S. 59 – 82). Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (2004). Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie – Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persçnlichkeitsstçrungen. Stuttgart: Schattauer. Hirsch, M. (2007). Kçrperdissoziation als Traumafolge. In C. Geissler, P. Geissler, O. Hofer-Moser (Hrsg.), Kçrper, Imagination und Beziehung in der Traumatherapie. Gießen: Psychosozial. Hoffer, W. (1952). The mutual influences in the development of ego and id: Earliest stages. The Psychoanalytic Study of the Child, 7, 31 – 41. Khan, M. M. R. (1963). The concept of cumulative trauma. The Psychoanalytic Study of the Child, 18, 286 – 306. Khan, M. M. R. (1975/1988). Der Groll des Hysterikers. Forum der Psychoanalyse, 4, 169 – 176. Kernberg, O. F. (1999). Persçnlichkeitsentwicklung und Trauma. Persçnlichkeitsstçrungen, 3, 5 – 15. Kris, E. (1956). The recovery of childhood memories in psychoanalysis. The Psychoanalytic Study of the Child, 11, 54 – 88. Kroll, J. (1993). PTSD/borderlines in therapy : Finding the balance. New York: Norton. Laub, D., Auerhahn, N. C. (1993). Knowing and not knowing massive psychic trauma. International Journal of Psycho-Analysis, 74, 287 – 302. Marrone, M. (2004). Bindungstheorie und Gruppenanalyse. In M. Haynes, D. Kunzke (Hrsg.), Moderne Gruppenanalyse (S. 110 – 129). Gießen: Psychosozial. Modell, A. H. (1976). «The holding environment” and the therapeutic action of psychoanalysis. Journal of the American Psychoanalytic Association, 24, 285 – 307. Mller-Pozzi, H. (1984). Trauma und Neurose. In R. Berna-Glantz, P. Dreyfus (Hrsg.), Trauma, Konflikt, Deckerinnerung (S. 102 – 120). Stuttgart u. Bad-Cannstatt: Frommann-Holzboog. Paris, J. (2000). Kindheitstrauma und Borderline-Persçnlichkeitsstçrung. In O. F. Kernberg, B. Dulz, U. Sachsse (Hrsg.), Handbuch der Borderline-Persçnlichkeitsstçrungen (S. 159 – 166). Stuttgart: Schattauer. Rohde-Dachser, C. (1991). Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin u. Heidelberg: Springer. Sabourin, P. (1985/1989). Nachwort. In S. Ferenczi (1985), J. Dupont (Hrsg.), Klinisches Tagebuch (S. 281 – 290). Frankfurt a. M.: Fischer.
Mathias Hirsch: Trauma und Beziehung in der Psychoanalyse
299
Sachsse, U. (1989/1998). »Blut tut gut«. Genese, Psychodynamik und Psychotherapie offener Selbstbeschdigung der Haut. In M. Hirsch (Hrsg.), Der eigene Kçrper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Kçrperagierens. Gießen: Psychosozial. Sachsse, U. (1995). Die Psychodynamik der Borderline-Persçnlichkeitsstçrung als Traumafolge. Forum der Psychoanalyse, 11, 50 – 61. Sandler, J. (Ed.) (1988). Projection, identification, projective identification. London: Karnac. Shengold, L. (1979). Child abuse and deprivation: Soul murder. Journal of the American Psychoanalytic Association, 27, 533 – 559. Spitz, R. A. (1965/1969). Vom Sugling zum Kleinkind. Stuttgart: Klett. Tress, W. (1986). Das Rtsel der seelischen Gesundheit. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Volz-Boers, U. (1999). »Ich bin wieder ein Mensch«. Transformation des frhen Traumas durch Neubildung von Reprsentanzen. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 53, 1137 – 1159. Winnicott, D. W. (1956). Through paediatrics to psychoanalysis. Primary maternal preoccupation. London: Tavistock. Winnicott, D. W. (1960/1974). Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst. In ders. Reifungsprozesse und fçrdernde Umwelt (S. 182 – 199). Mnchen: Kindler. Winnicott, D. W. (1965/1974). Reifungsprozesse und fçrdernde Umwelt. Mnchen: Kindler.
Claudia Sies Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
Alte Fragen Die Befreiung der Erwachsenen-Sexualitt in den 1950er und 1960er Jahren hat auf die Frage von Bindung und Leidenschaft in der Paarbeziehung kaum einen Einfluss gehabt. Sie hat zwar die Erwachsenensexualitt in ihrem çffentlichen Verhalten verndert, aber nichts zur Dauerhaftigkeit von Erotik und Begehren in langfristigen Liebesbeziehungen beigetragen und ebenso nicht zur Gleichzeitigkeit von intensiver, tiefer Liebe und sexueller Anziehung gefhrt. Die sexuelle Revolution ist offensichtlich nicht bis in die Nhe der Originalstelle vorgedrungen, an der die genannten Probleme ihre Wurzeln haben. Auf die psychoanalytische Paar- und Sexualtherapie hat es sich belebend ausgewirkt, dass die Psychoanalyse heute vorwiegend eine Beziehungswissenschaft geworden ist und mehr als frher ihre Aufmerksamkeit auf die Intersubjektivitt richtet. In den letzten Jahren scheint somit eine Chance aufzuleuchten, auch den uralten Problemen der Paare mit neuem Verstndnis zu begegnen. Denn, obwohl sich die Werte der Ideale der Liebe in den letzten hundert Jahren entlang gesellschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Anschauungen extrem verndert haben, ist es doch erstaunlich, dass es in der Praxis der Paartherapie heute nach wie vor die gleichen Themen sind, die uns seit dem Aufkommen des Ideals der Romantischen Liebe beschftigen. Auch Freud, seine Kollegen und Zeitgenossen kreisen damals schon persçnlich und theoretisch um die folgenden drei zentralen Fragestellungen: 1. um das Geheimnis der Flchtigkeit der sexuellen Leidenschaft in langdauernden Liebesbeziehungen, 2. um die Notwendigkeit, das Bedrfnis nach Sicherheit und Bestndigkeit bei einem anderen Partner unterzubringen als die Wnsche nach Leidenschaft, Abenteuer und Risiko und 3. um die Frage, warum die erotischen Impulse bei vielen Menschen soviel strker durch das Verborgene, Verbotene und Gefhrliche angeregt werden als durch die ungehinderte Liebesbeziehung. Zeitgleich mit der Entstehung dieses Artikels erreicht das Thema wieder einmal den populr-wissenschaftlichen Bltterwald mit dem Versprechen:
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
301
»Jahrtausendelang galt sie als eines der grçßten Rtsel der Menschheit. Nun wissen Anthropologen, Hirnforscher und Psychologen, wie die Liebe in unseren Kçrpern und Kçpfen entsteht. Und sie kçnnen uns endlich sagen, wie wir die Leidenschaft bewahren« (Kluin, 2007, S. 10). Gegenwrtig ist das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse an dem rtselhaften Zusammenspiel von Liebe und sexuellem Begehren auf einem Hçhepunkt angelangt, nicht zuletzt, weil so viele Paare immer wieder daran scheitern. Der Psychoanalytiker Stephan A. Mitchell, ein Vertreter der von ihm begrndeten »Relationalen Psychoanalyse«, widmete dem Thema sogar ein ganzes Buch mit dem Titel: Kann denn Liebe ewig sein? (Mitchell, 2004). Er stellte sich der Herausforderung, aus Sicht dieser neuen psychoanalytischen Strçmung zur Lçsung der Frage, »wie leidenschaftliche Beziehungen lebendig bleiben kçnnen«, beizutragen.
Das Ideal der Romantischen Liebe – unhaltbar? Dem Ideal der Romantischen Liebe jagen wir nach, weil es die intensivsten, tiefsten und umfassendsten Liebes-Gefhle hervorbringt. Romantische Liebe »erfordert Liebe und Begehren; sie entsteht aus der Spannung, die das gleichzeitige Auftreten von Liebe und Begehren erzeugt« (Mitchell, 2004, S. 32). Und doch scheint es gute, unbewusste Grnde fr die meisten Liebespaare zu geben, auf die Dauer das Begehren zu dmpfen oder es gar zum Erlçschen zu bringen (»Liebe« wird hier und im Folgenden eher im Sinn vom »Bindungsanteil der Liebe« gebraucht). Liebe und Begehren kommen so schwer in Einklang, weil sie im Unbewussten unterschiedliche Ziele verfolgen. Liebe strebt nach einer Atmosphre von Sicherheit, Kontinuitt und Harmonie zwischen den Liebenden, Erotik und Begehren streben nach Abenteuer und Risiko – jedenfalls nach Neuem (s. a. Mitchell, 2004; Berns, 2006). Um in der Illusion der Sicherheitszone zu bleiben, setzen die Partner alles dran, das Fremdartige, Unsichere, Gefhrliche, berraschende an sich selbst und am Partner auszuschalten. Sie geben ihre Unterschiedlichkeit und damit ihre Individualitt auf. Die Grenzen des Vertrauten werden nicht mehr berschritten. Eintçnigkeit entsteht also nicht dadurch, dass die Partner automatisch fr einander reizlos werden, sondern sie dient dazu, den Partner, der einem im Laufe der Jahre immer wichtiger wird, nicht zu irritieren oder gar zu verlieren. Vor allem schließen die Liebenden in der Sexualitt ihre unterschiedlichen Wnsche, ihre Phantasien, Aggressionen und Abneigungen aus der Kommunikation aus. Die meisten Paare mssen so erleben, wie ihre sexuelle Be-
302
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
geisterung freinander, die aufregenden kleinen Augenblicke, immer weniger und seltener werden. Ihre Sexualitt bleibt im immer gleichen, bekannten Ablauf stecken und ist nicht mehr verlockend. »Wenn die Billigung des Partners fr Sie eine hçhere Prioritt hat als Ihre eigene Integritt, dann werden Sie Ihre erotischen Vorstellungen und Wnsche nur soweit offen legen, wie Sie mit der Zustimmung des Partners rechnen. Er ist Ihnen zu wichtig, als dass Sie im Bett Experimente wagen wollen« (Schnarch, 2006, S. 182). Hierzu auch Mitchell: »Dadurch werden langfristige Beziehungen, die auf dem Ideal der Sicherheit und auf einvernehmlich angestrebter, wenn auch illusionrer Voraussagbarkeit basieren, zu einem unfruchtbaren Boden fr Leidenschaft, weil diese Raum fr Aggression braucht, um atmen zu kçnnen«, denn »langjhrige Liebe quillt geradezu ber vor Aggression« (Mitchell, 2004, S. 143). »Ich brauch’ dich, ich hass’ dich« heißt es in einem Schlagertext ber die Liebe. Sich in der Romantischen Leidenschaft tief einzulassen, weckt die Angst vor realer, erwachsener Abhngigkeit. Wenn man begehrt, braucht man diesen anderen begehrten Menschen auch, und zwar nicht nur in kindlicher Bedrftigkeit. Allein das kann aggressiv machen. Diese Aggressivitt und Abhngigkeit in der Schwebe zu halten, ist die Kunst in der Romantischen Liebe und der Prozess entgleist oft genug. So erzhlt ein dazu passender Witz von einer 75-jhrigen Dame, die auf ihrer Goldenen Hochzeit nach dem Geheimnis ihrer langen Ehe gefragt wird: »Haben Sie jemals an Trennung gedacht?« »An Trennung – niemals!« Nach einer Pause: »Aber an Mord – schon!« Ein Ausweg, die sichere Bindung an einen wichtigen Partner zu schtzen und trotzdem das Abenteuer sexuellen Begehrens zu erleben, ist die Aufteilung auf zwei Liebespartner. Der oder die eine vertritt den zuverlssigen Part der oder die andere den sexuell aufregenden, gefhrlichen und unverbindlicheren. Das Thema: »Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, kçnnen sie nicht lieben« (Freud, 1912, S. 82), ist bis heute das gleiche geblieben. Aber Liebe ohne sexuelle Leidenschaft ist nicht so prickelnd, und »Begehren ohne Liebe kann unterhaltsam und anregend sein, doch fehlt es ihm an Intensitt und an dem Gefhl, dass viel auf dem Spiel steht, das der romantischen Liebe Tiefe gibt« (Mitchell, 2004, S. 32). Daher wird immer wieder der Versuch gestartet, sich auf die Spannung zwischen Liebe und Begehren, zwischen der festen Bindung bei gleichzeitigem Wunsch nach Ungebundenheit und Freiheit einzulassen; nach Heimat und Reise; Sicherheit und Gefahr.
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
303
In der Moderne hatten die Liebenden sich fr einen dieser Pole zu entscheiden. In der postmodernen Gegenwart haben die Paare diese Ambivalenzen oft schmerzhaft auszuhalten. Wenn das sexuelle Begehren im Laufe einer Partnerschaft nachlsst, wird dies oft zu einem existenziellen Problem fr das Fortbestehen der Paarbeziehung. Vor allem dann, wenn diesem Umstand Bedeutungen aufgebrdet werden, die an dieser Stelle nicht auflçsbar sind, da sie dort nicht hingehçren. Zu diesen Bedeutungen gehçren spezielle Beunruhigungen: Will der Partner auf Dauer bei mir bleiben oder zeigt sein abnehmendes sexuelles Interesse, dass er sich von mir entfernt? Liebt er mich noch genauso wie ich ihn? Dies sind Fragen, die zeigen, dass die Sexualitt zu stark beweisen soll, dass die Beziehung noch sicher ist, dass sie fortgesetzt werden soll und dass es niemand anderen gibt (s. a. Clement, 2005). Die eigentliche Bedeutung des Nachlassens der Sexualitt in der Partnerschaft, nmlich den anderen durch sexuelle Vitalitt nicht irritieren oder abstoßen zu wollen, wird nicht erkannt und so wird die gegenseitige Besttigung der sexuellen Attraktivitt belauert.
Die Lustkrise junger Eltern Ganz hnlich verhlt es sich mit der sexuellen Dynamik junger Eltern nach dem ersten oder zweiten Kind. Diese Paare werden vom Nachlassen sexuellen Begehrens besonders hufig getroffen (vgl. v. Sydow, 1999). Es ist zwar verstndlich, dass die Bindung in dieser Zeit immer wichtiger wird, denn die »Nestflucht« eines Partners wre jetzt besonders bedrohlich. Daher ist es nach biologischer Logik sicherer, wenn die Sexualitt mit ihren Potenzialen an Unsicherheit und Irritation in dieser Phase vermindert wird. Es entsteht aber die paradoxe Situation, dass das Nachlassen erotischer Wnsche und sexueller Leidenschaft, das die Bindung in der Partnerschaft zum Schutz der Familie festigen soll, in der Realitt aber gerade zu vermehrten Scheidungen fhrt, wenn das erste Kind etwa fnf Jahre alt ist. Die jungen Elternpaare erleben den Verlust sexueller Attraktivitt heutzutage als nicht hinnehmbar, da sie sich dadurch im Zentrum ihrer Geschlechtsidentitt als Mann und Frau getroffen fhlen. Ein Blick ber die Grenzen hinweg zur Endokrinologie erçffnet interessante Perspektiven ber die Beteiligung und das Zusammenspiel von Bindungshormonen (Oxytocin) und Sexualhormonen (Testosteron), die diese Tendenzen verschrfen.
304
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Oxytocin wird sowohl vor wie auch whrend des Sexualverkehrs ausgeschttet. Weniger Sex bedeutet also auch weniger Bindungschemie. Und der Testosteronspiegel, unter anderem fr Lust und Aggressivitt mit zustndig, wird beim Vater im Umgang mit kleinen Kindern herunter gefahren (s. a. Kluin, 2007). Milan Kundera spricht in seinem Roman »Die Identitt« von »papaisierten Mnnern« (Kundera, 2000, S. 16). Wenn wir der neuen Lesart von Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« durch Jean Laplanche (2006) folgen, geht es nun aber, gerade wenn Hormone im Spiel sind, um die genetisch-biologisch festgelegte Erwachsenensexualitt, die der Sicherung der Fortpflanzung dient, hier im Bereich der Brutpflege. Nur der Mensch ist in der Lage, diese fast zwangslufig ablaufenden Vorgnge zu reflektieren und zu transzendieren. Die Belebung der Paarbeziehung, die Erweckung der eigenen Sexualphantasmen, die Bearbeitung der Trennungsngste und Schuldgefhle spielen sich, wenn man Laplanche folgt, im Bereich der infantilen Sexualitt ab.
Was kann die »Metapsychologie von Sexualitt und Bindung« zur Beantwortung der anfangs gestellten Grundfragen beitragen? In seiner »Intersubjektiven Triebtheorie« verlegt Laplanche die Entwicklung der Psychosexualitt in die frhen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kind. Er lehnt sich an den frhen Freud an, der seine Verfhrungstheorie noch nicht verlassen hat. »Wenn wir uns nun der Sexualitt zuwenden, mssen wir daran festhalten, dass die menschliche Sexualitt im Hinblick auf unsere Abgrenzung von Trieb und Instinkt zweigeteilt und zutiefst gespalten ist« (Laplanche, 2006, S. 272). Der instinktartige Bereich der menschlichen Sexualitt, der »zu mehr oder weniger vorprogrammierten sexuellen Verhaltensweisen« (S. 273) tendiert, dient der Fortpflanzung. »Es gab grçßere Fortschritte beim Kochen als beim Sex« (Zeldin, 1994, S. 86 f.; zit. nach Baumann, 2002, S. 30). Diese angeborene hormonell bedingte Sexualitt fehlt bis zur Vorpubertt. Um die Vielfalt sexueller Erlebnisse, die erotische Sublimierung und sexuelle Phantasien beim Erwachsenen zu erklren, braucht Laplanche die infantile Sexualitt, Freuds eigentliche Entdeckung. Und er erklrt sie kurzerhand zu einem von der Geburt bis zur Vorpubertt reichenden interaktionellen Ereignis. Dabei ist es Laplanche in seiner »Verfhrungshypothese« wichtig, dass die Sexualitt ab den ersten Interaktionen des Suglings mit den
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
305
Erwachsenen von den Erwachsenen eingefhrt wird und nicht durch das Kind. »Sie ist nicht angeboren […] das Kind ist in der Tat – genetisch gesehen – unschuldig – nichtsdestoweniger wird es in den ersten Stunden nach der Geburt zu einem sexuellen Wesen. Triebhafte Sexualitt ist unauflçslich an die Welt der Phantasie gebunden, als ob die Imagination das eigentliche Feld der Sexualitt wre. Es ist die verdrngte sexuelle Phantasie, die den Stoff liefert, aus dem das Unbewusste, der eigentliche Gegenstand der Psychoanalyse, sich bildet« (Laplanche, 2006, S. 273). Freud »vermochte die Phantasie nur endogen zu denken, obwohl diese sich befriedigend nur im Kontext von Interaktion, also dem Transfer von Botschaften verstehen lsst. Und durch diese bertragungen von Botschaften wird die Sexualitt im Kind implantiert« (Passett, 2005, S. 42). »Das ist das, was Laplanche in seiner Allgemeinen Verfhrungstheorie dargestellt hat, jener Theorie, in der er die zufllige pathogene Verfhrung in der Begegnung mit dem Erwachsenen durch die ubiquitre universelle Verfhrung, die darin begrndet ist, dass ein Kind mit einer gewissermaßen leeren Psyche bei seiner Geburt Erwachsenen mit einem reichen psychischen Leben, dass sich in der Spannung zwischen Bewusstem und Unbewusstem artikuliert, gegenbersteht. Das Kind wird durch die Ansprache dieser Erwachsenen, die zugleich ein Anspruch ist, verfhrt« (S. 42). Das bedeutet, dass die individuellen Muster, die spezifische Mischung aus Begehren, Erotik, Sexualitt mit ihren Bevorzugungen und Vermeidungen, Verletzlichkeiten, ngsten und Faszinationen, in den ersten Lebensjahren bis zur Vorpubertt im Zusammenspiel des Erwachsenen und den psychischen Antworten des Kindes auf seine Interaktionsangebote entstehen. Hier erhalten wir jetzt auch eine mçgliche Antwort auf die dritte der Anfangsfragen: Warum das Verbotene und Gefhrliche so anziehend fr viele Menschen ist. Die Eltern versuchen in diesen Interaktionen der ersten Lebensjahre, ihren Kindern die Illusion eines sicheren und geschtzten Raumes zu schaffen. Sie versuchen, ihre Konflikte vor den Kindern zu verbergen. Aber ihre »Erlebenscharakteristika, unbewussten Konflikte sowie nicht eingestandene Leidenschaften, ber die sich die Eltern selbst gar nicht im Klaren sind, werden von den Kindern hufig als verfhrerisch, verboten und geheimnisvoll empfunden. Eben die Aspekte, die Eltern aus der Sicherheit vermittelnden heimischen Situation, die sie ihrem Kind zu bieten versuchen, heraus lçsen, werden zu den faszinierendsten und aufregendsten Aspekten kindlichen Erlebens und deshalb dem Begehren des Kindes eingeprgt« (Mitchell, 2004, S. 45; s. a. Laplanche, 1982). Wird den ersten Lebensjahren eine biologische Grundlage sexueller Strebungen des Kindes entzogen, msste das çdipale Thema neu gelesen werden. »Vieles spricht dafr, dass die von Freud beschriebene çdipale Konfliktdynamik weniger von der plçtzlich allzu mchtig werdenden genital-sexuellen
306
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Triebspannung als vielmehr vom traumatischen Erlebnis der Freiheit des anderen ihren Ausgang nimmt. Die Freud’sche These, dass es im vierten und fnften Lebensjahr zu einer entwicklungspsychologisch, das heißt kçrperlich begrndeten Frhblte der kindlichen Sexualitt komme, ist angesichts des gegenwrtigen Wissensstandes nicht mehr zu halten (Laplanche, 2003; Dornes, 2000). Stattdessen mssen wir wohl davon ausgehen, dass die Vier- bis Fnfjhrigen vor allem aus beziehungsdynamischen Grnden so sehr mit dem çdipalen Thema beschftigt sind« (Brggen, 2007, S. 67). Auch Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2004) sehen im Alter von vier oder fnf die Mçglichkeit, »dass in der normalen Entwicklung der Verzicht auf die Illusion des exklusiven Objektbesitzes und die Fhigkeit, das Auftauchen einer triangulren Beziehung zuzulassen, einen beraus wichtigen Wendepunkt darstellt« (Fonagy et al., 2004, S. 274). Die hier nur kurz angeschnittene çdipale Thematik kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. »Mit einem gewissen Abstand von Freud« landet Laplanche also bei folgendem Gegensatz: auf der einen Seite eine instinktgeleitete Lustfunktion, die permanent den Spannungsausgleich auf optimalem Niveau anstrebt. Diesem, der Anpassung und der Fortpflanzung dienenden Bereich der Sexualitt, verdanken wir das Nachlassen des sexuellen Begehrens entlang altersbestimmter genetisch-biologischer Hormonumstellungen. Andererseits der verfhrerische, aufregende, risikoreiche Bereich der Sexualitt, der mit Erotik, Begehren und infantilen Phantasien verknpft ist. Er gehçrt zur »triebbestimmte(n) Lustfunktion, die sich der Homçostase widersetzt und die Null-Linie berschreitet, wobei sie einem Prinzip der Erregung oder des Begehrens folgt, das am Ende keine Grenze kennt« (Laplanche, 2006, S. 269). Ilka Quindeau (2005) ersetzt den Begriff des Triebes hier durch den des Begehrens. Tatschlich lebt das Begehren von Ungleichgewicht und Spannung in der Beziehung. Das Nachlassen dieser Art des Begehrens wird nicht von hormonellen und genetischen Gesetzmßigkeiten verursacht, sondern von Gesetzmßigkeiten in den Beziehungen selbst, wozu die Geschichte der Interaktionen mit reiferen Psychen in den ersten Jahren und damit auch die persçnliche Geschichte des einzelnen Partners mit seiner Geschichte der Verdrngungen gehçrt.
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
307
Von der Masturbation des Kindes zum sexuellen Begehren der Eltern Die Interaktionen zwischen Erwachsenem und Kind haben sich – auch bezogen auf die Sexualitt – in den letzten hundert Jahren entscheidend verndert: Zygmunt Baumann beschreibt von soziologischer Seite die Vernderung des Blickes auf die kindliche Sexualitt. »Die medizinischen und pdagogischen Diskurse des 19. Jahrhunderts konstruierten – neben anderen Vorstellungen – auch das Phnomen der kindlichen Sexualitt, das Freud spter ex post facto zu einem Eckpfeiler der Psychoanalyse machte. Die Panik, die rund um den kindlichen Drang zum Masturbieren erzeugt wurde, spielte die zentrale Rolle in dem Diskurs ber kindliche Sexualitt« (Baumann, 2002, S. 43). Die Eltern erzeugten durch permanente Beobachtungen und Bestrafungen vielfltigste Phantasien beim Kind, wie diese hoch gefhrliche Sexualitt zu zgeln und zu zhmen wre. So wurde im Kind ein sexuelles Wesen erzeugt, das durch vielfltige Kontrollinteraktionen mit den Erziehungspersonen und deren Internalisierung auch spter als Erwachsener dauernd mit dem Zurckdrngen der unberechenbaren Sexualitt beschftigt war. Die Kontrolle, »die sich auf diese Weise der Sexualitt annimmt, macht sich anheischig, die Kçrper zu streicheln; sie liebkost sie mit den Augen; sie intensiviert ihre Zonen; sie elektrisiert ihre Oberflchen; sie dramatisiert die Augenblicke ihrer Verwirrung. Die Macht ergreift und umschlingt den sexuellen Kçrper« (Foucault, 1977, S. 57 f.). Das Zusammenspiel zwischen sexuellen Reaktionen des Kindes – besonders der Masturbation – und seinen Beziehungspersonen war »unerschçpflich«. Damals war die erwachende kindliche Sexualitt »ein machtvolles Instrument bei der Hervorbringung der modernen Familienbeziehungen« (Baumann, 2002, S. 44). Gemeinsames Ziel war die Unterdrckung der Sexualitt des Kindes fr mehr Sicherheit vor vielfltig befrchteten Gefahren. So behielt sie ein Leben lang den Charakter des Verbotenen. Heute wird nicht mehr das Kind und seine Sexualitt bewacht, sondern das sexuelle Begehren der Eltern. Heute werden die Kinder als potentielle Opfer ihrer Eltern gesehen und nicht als sexuelle Akteure. Um diese neue potentielle Gefahr zu kontrollieren, mssen nun die Eltern ihre Kinder auf Distanz halten »und vor allem auf Intimitt und auf offene sprbare ußerungen elterlicher Liebe verzichten« (S. 45). »Heute ist also die Sexualitt des Kindes ein machtvoller Faktor bei der Lockerung menschlicher Bindungen – damit auch fr die Ausweitung der individuellen Wahlmçglichkeiten – und vor allem fr
308
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
die Trennung und zunehmende Distanz von Eltern und Kindern« (S. 44). Der neue Blick auf die Kinder erzeugt aber gleichzeitig neue unlçsbare emotionale Widersprche: «Einerseits lobpreist postmoderne Kultur sexuelle Gensse […]. Andererseits verbietet diese Kultur, einen anderen Erregungssammler wie ein sexuelles Objekt zu behandeln« (Baumann, 2002, S. 48). Das Verbotene liegt nicht mehr auf der Sexualitt selbst, sondern auf dem Vorpreschen eines Sexualpartners, das jederzeit als Straftat gelten kann.
Vermischung der Wertewelten im Unbewussten Man kçnnte sich vorstellen, dass es fr die sexuellen Phantasmen des Kindes und spter des Erwachsenen ein Unterschied ist, welche der beiden oben beschriebenen Interaktionsformen in der Familie wirksam waren: die Unterdrckung der in die Kinder projizierten unberechenbaren Sexualitt oder die Unterdrckung und Kontrolle der vermuteten elterlichen Sexualitt mit deren Verfhrungsabsichten. Noch komplexer wird die Situation, wenn man hier statt »entweder – oder« bedenkt, dass auf das Unbewusste des Kindes im Zusammenspiel mit der Mutter die unbewussten Werte dreier Generationen einwirken: sowohl die gegenwrtigen der erwachsenen Mutter wie die Werte, die whrend ihrer ersten fnf Lebensjahre auf sie einwirkten, sowie die Werte ihrer Mutter, die diese von der Großmutter mitbekommen hat (s. a. Elias, 1987). Gnzlich komplex wird es, wenn man in dieser Generationenfolge den Paradigmenwandel in der Gesellschaft von der ersten zur zweiten Moderne mit denkt. Es findet nmlich bei diesem bergang kein Wechsel von der alten zur neuen Wertewelt statt, sondern in diesem Paradigmenwandel stellt sich das Neue neben das Alte. Dies kommt im Begriff »Post«moderne zum Ausdruck, in deren Idealen – hnlich wie im »Post-çdipalen« – die Ansichten, die Dinge, die Menschen sich nicht mehr kmpfend bereinander als Sieger und Besiegte (çdipal) sortieren wollen. Frau und Mann, jung und alt (die Generationen), Chef und Mitarbeiter und die Kulturen mit ihren unterschiedlichen Werten wollen sich gleichberechtigt nebeneinander auseinander setzen. Der Schlachtruf der Moderne war : Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit! Das Friedensangebot der Postmoderne heißt: Freiheit, Differenz, Toleranz. Bei soviel Komplexitt durch Vermischung mehrerer Wertewelten der Generationen im Unbewussten kçnnte die polymorph-perverse Vielfalt, die gegenwrtig die Sexualitt – auch in der Literatur, im Internet und anderem bevçlkert, verstndlich werden. Gunter Schmidt zitiert Michel Houellebecqs Roman »Elementarteilchen«, in dem Sexualitt in allen Gewndern auftritt: »Hetero-, homo- oder bisexuell; ehelich oder außerehelich; mit Liebe oder
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
309
ohne; genital, oral oder anal; zart oder ruppig; bieder oder raffiniert; sadistisch oder masochistisch – all das ist moralisch ohne Belang. Von Belang ist, dass es ausgehandelt wird« (Schmidt, 2005, S. 11). Diese »Verhandlungsmoral« (S. 11) oder »Konsensmoral« (Sigusch, 2001) entspringt vermutlich auch dem neuen, vorsichtigen Umgang der Eltern mit ihren Kindern in Bezug auf Kçrperlichkeit und Sexualitt. Die damit auch einhergehende schleichende Verarmung und Verdnnung sowohl in den Beziehungen, wie in den Phantasien und in der Sexualitt will der Erwachsene heute nicht mehr akzeptieren. Man begegnet ihr, indem man dem Begehren die verlorene Vitalitt durch Ratgeber und Therapien wieder einzuhauchen versucht. Auch in der Psychoanalyse scheint man bemht zu sein, mit Sonderheften wie »Freud und das Sexuelle« (Psyche, 11, 2005) und mittels Kongressen wie »Sexualitten« (DGPT-Tagung 2007 in Lindau) einem Verblassen der Bedeutung der Sexualitt entgegen zu wirken.
Der Weg zur sexuellen Reife Den von Laplanche gesehenen Gegensatz zwischen instinktgeleiteter hormongesteuerter Lustfunktion und triebbestimmter Sexualitt finden wir auch in der gegenwrtigen Paar- und Sexualtherapie. Die Vorstellung, Sexualitt sei nur ein biologischer, hormonell gesteuerter innerer Drang, ist auch heute noch tief in der Gesellschaft verankert und hat bis vor kurzer Zeit die psychotherapeutische Behandlung der Libidostçrungen dominiert. Sexuelles Begehren wurde unter Bedrfnisbefriedigung eingeordnet und als eine Spannung gesehen, die abgefhrt werden muss. Bis 1977 war daher das Anrecht auf Befriedigung der Sexualitt durch Geschlechtsverkehr in der Ehe sogar im Brgerlichen Gesetzbuch verankert. Die Konflikte der Paare, die wegen erotischer Missverstndnisse und sexueller Stçrungen die Paartherapie aufsuchen, basieren oft auf dieser unterschiedlichen Bewertung der Partner von Zrtlichkeit, Liebe und Sexualitt. Partner, die glauben, ein Anrecht auf Geschlechtsverkehr zu haben, weil es notwendig sei, materiell und seelisch das vorhandene Material abzufhren, werden stark, wenn nicht sogar aggressiv darauf drngen, dazu Gelegenheit zu bekommen. Dazu David Schnarch: »Wir sind es einfach nicht gewohnt, unser Begehren als etwas zu sehen, das zuallererst etwas Zwischenmenschliches ist und in hçchstem Maße von dem abhngt, was bei der sexuellen Begegnung zwischen den Partnern geschieht. Die herrschenden Vorstellungen davon, was sexuelles Begehren ist, lassen uns das, wonach wir uns sehnen, verfehlen« (Schnarch,
310
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
2006, S. 159). »Das Ziel einer Paarbehandlung ist eine Vertiefung einer emotional verbindlichen Beziehung« (S. 186). Der amerikanische Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch verçffentlichte 1997 sein Buch »Passionate Marriage. Love, Sex, an Intimacy in Emotionally Committed Relationships«, auf deutsch »Die Psychologie sexueller Leidenschaft« (2006). Seine Erkenntnisse sind auch attraktiv fr Psychoanalytiker, da Schnarch die psychoanalytische Denkweise ebenso vertraut ist wie die bindungstheoretischen Anstze, ohne dass er sich auf beides explizit beruft, sondern sie in seiner eigenen Sprache aufgehen lsst. Schnarchs Gedankengnge, vor allem seine Erklrungsversuche, warum in lang andauernden Beziehungen Sexualitt und Leidenschaft so hufig verblassen, treffen sich mit den berlegungen anderer Autoren (s. a. Mitchell, 2004; Willi, 2004; Perel, 2006; Clement, 2006). Es gibt interessante neurobiologische Befunde, die zeigen, dass sich in lnger dauernden Liebesbeziehungen die Aktivitten im Gehirn in die Regionen verlagern (im vorderen Cingulatum und der Insula), in denen es um »die Einschtzung der Gefhle anderer Menschen geht und mit der Beurteilung des eigenen Selbst verbunden werden. Bei frisch verliebten Personen wurde in diesen spezifischen Hirnregionen keine Aktivitt festgestellt« (Schnarch, 2005, S. 188). Das heißt, »die biologische Abbildung im Gehirn verlagert sich in die hçher entwickelten Hirnregionen, die mit der Reflexion ber das eigene Selbst und mit der Fhigkeit, den mentalen Zustand des Partners zu beurteilen in Zusammenhang gebracht werden. Im Laufe der Zeit bekommt die Liebe in der Seele eines Menschen eine ›persçnlichere Abbildung‹, weil sich sein Gehirn entsprechend verndert« (Schnarch, 2005, S. 188). Die Nhe zum Begriff der »Mentalisierung« ist unverkennbar, die ja eine selbstreflexive und eine interpersonale Komponente umfasst (s. a. Fonagy et al., 2004). Bei frischverliebten Testpersonen wurden Aktivitten besonders in Dopamin produzierenden Hirnteilen gefunden, die fr Sehnsucht, Hochgefhl und Energie zustndig sind. Whrend Fisher und Mitarbeiter diese Befunde so deuten, dass lngere Bindungen, wie schon immer behauptet wurde, das sexuelle Verlangen tçten (Fisher, 2005), kommt David Schnarch zu anderen Schlssen. Neben Begierde, Sich-Verlieben und Bindung gibt es nach ihm einen vierten Grundtrieb des menschlichen Verlangens nach Sexualitt: den menschlichen Trieb, sich in der Beziehung zu einem anderen zu entwickeln und zugleich ein Selbst zu bewahren (Schnarch, 2006; s. a. Fonagy et al., 2004). Vor dem Hintergrund dieses »vierten Triebs« sieht man Schwierigkeiten im Zusammenhang mit sexuellem Verlangen als Ringen um persçnliches Wachstum und nicht als Stçrung der Beziehung. Auch Jrg Willi spricht von der »Selbstverwirklichung als Mçglichkeit, sein Potenzial in einer Liebesbeziehung zu verwirklichen« (Willi, 2004, S. 37).
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
311
Wenn Schnarch sagt: »Das Gehirn ist sozusagen unser grçßtes Sexualorgan« (Schnarch, 2006, S. 161), ist das eine sehr kurze Zusammenfassung des langen Prozesses, bei dem wir lernen, die Steuerung unseres Begehrens dem Denken mit seinen rationalen und unbewussten Bereichen zu berlassen und seiner Fhigkeit, Gefhle, Phantasien und Gedanken in jeder Beziehung neu zu integrieren. Reife Sexualitt setzt Denken voraus, und nicht Instinkt. »Andererseits wrden Sie sich vielleicht manchmal vielleicht wnschen, Ihr Partner kçnnte im Bett zum Tier werden. Mit einem solchen ›Tier‹ zu schlafen, kann toll sein, wenn es die richtigen Nuancen trifft, Geschick und Finesse zeigt und flexibel auf Sie einzugehen vermag. Hier kommen Differenzierung und Neokortex ins Spiel« (Schnarch, 2006, S. 164). Bis all die Entwicklungen, die zu einer reifen erfllten Sexualitt fhren, auf einem hçheren Interaktionsniveau abgelaufen sind, braucht es viel Zeit. Eine Erkenntnis, die sich (fr Schnarch und seine Seminarteilnehmer) daraus ergibt: Die sexuelle Reife beginnt viel spter als wir annehmen – etwa mit sechzig Jahren!
Neue Wege in der Paar- und Sexualtherapie Heute wird von den Liebesleuten verlangt, dass ihre Sicherheit in der Liebesbeziehung sich nicht so stark auf den Partner sttzt, sondern nach innen wandert. Wir mssen uns lngst den neuen Werten der Postmoderne oder zweiten Moderne stellen, die in der Gesellschaft aber auch in den Liebesbeziehungen heißen: Selbststeuerung, Selbstverantwortung, Selbstbesttigung, Selbststabilisierung, Selbstheilung bei gleichzeitiger Bezogenheit. Bindungsforscher, analytische Paartherapeuten und Sexualtherapeuten gehen hier in die gleiche Richtung: Selbst in der engsten kçrperlichen und emotionalen Berhrung mit dem geliebten Menschen heißt es, ein stabiles Gefhl fr sich selbst zu bewahren. Mit dem anderen bereinstimmen, ohne sich aufzugeben. Bei dieser Form der Verbundenheit geht das Gefhl fr die eigene Grenze nicht verloren, was eine Voraussetzung fr Begehren und Erotik ist, da die Angst, sich zu verlieren, schwindet. Wenn wir diesen Entwicklungsstand erreicht haben (innere Getrenntheit; Differenzierung; ein Selbst innerhalb der Matrix der Beziehung aufrechterhalten), kçnnen wir unseren Partner sogar dann weiter lieben, wenn er uns zu etwas zwingen will und uns zu verndern sucht. Wir kçnnen sogar manches an uns fr ihn ndern, ohne uns aufzugeben. Es ist dann sogar denkbar, selbstbestimmt sich den Interessen des Anderen unterzuordnen ohne das Gefhl, sich selbst zu verraten (s. a. Schnarch, 2006).
312
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Ein Beispiel aus einer Paargruppe. Frau A. berichtet: Herr A. ist sehr eiferschtig. In einem Tango-Kurs mçchte sie ab und zu mit einem anderen Partner tanzen. Wenn sie vom Tisch aufsteht, den Saal durchquert und einen anderen Mann auffordert, leidet er Hçllenqualen. Er weiß, dass das seine Schwche ist, und bemht sich zunchst um Gelassenheit und Unabhngigkeit. Schließlich macht er ihr auf dem Heimweg doch eine Szene und sagt: »Es bricht mir das Herz, wenn du so auf einen anderen Mann zu gehst.« Dann droht er ihr mit Trennung. Sie sagt dagegen: »Damit wirst du leben mssen.« Das empfindet er als eiskalt von ihr und sehr schmerzhaft fr sich. Sie geht, mit Ankndigung, das nchste Mal wieder durch den Saal, weil sie merkt, dass es sonst fr sie nicht stimmen wrde. Sie ist sich ihrer erotischen Bindung an ihren Mann sicher und frchtet, dass jegliches Begehren verschwinden wrde, wenn sie in eine verzichtende, sorgende Rolle gezwungen wrde. Nach dieser Sicherung in ihrer Person kann sie sich seiner Schwche freiwillig anpassen. Nun schließt sie einen Kompromiss: Sie tanzt jetzt nur noch mit den Mnnern von den Paaren am Tisch. Sie musste fr sich erst sicher sein, dass sie sich nicht zwingen lsst und dass sie eine Trennung seinerseits berleben wrde. In der Gruppe berichtete sie: »Das fhlte sich an wie eine Notoperation, nicht etwa leicht!« Herr A. gewinnt nun auch mehr Freiheit, trifft sich mit ExFreundinnen zum Essen, was Frau A. keinesfalls kalt lsst. Bei diesem Prozess ist die Reihenfolge der Schritte entscheidend! Frau A. kann nicht nachgeben und einen Kompromiss eingehen, bevor sie sich nicht ihrer selbst und ihrer Grenzen sicher ist. Die meisten Menschen passen sich an, um den anderen nicht zu verlieren, bevor sie selbstndig geworden sind. Die Bewegung in der Gruppe war groß und lçste eine Lawine hnlicher Beziehungskrisen aus, die je nach Bindungsform der Partner unterschiedlich getçnt waren. So wurde es Herrn A., der eine vermeidende Bindung an seine Frau hatte, mçglich, sich ihr gegenber erstmalig zu çffnen. »Die vermeidende Bindung […] fhrt zu Unbehagen mit Intimitt und Nhe, Selbstçffnung und Abhngigkeit« (Strauß, 2007, S. 100). »Ich weiß nicht, ob ich dich berhaupt noch liebe«, sagte er vorsichtig und ernsthaft zu seiner Frau nach etwa sieben Monaten Paar-Gruppentherapie. Dieser Satz war fr Frau A. und die anderen Paare ein Schock. Eine katastrophenfçrmige Krise, an deren Ende nur die Trennung stehen konnte, wurde in der Gruppe befrchtet. Die Therapeutin griff diesen Satz als die erste ußerung wirklicher Intimitt von Herrn A. seiner Frau gegenber auf, da er seine ihn bisher lhmende Trennungsangst seiner Frau gegenber erstmals berwunden und sich als eigenstndiges Wesen empfunden und geçffnet hatte. Er traute sich außerdem offenbar zu, einen starken Konflikt mit ihr durchzustehen, und hatte sich die eigene Zustimmung zu dieser Bemerkung gegeben, war nicht auf die gleichzeitige Offenheit seiner Frau angewiesen. Er hatte sich einseitig, nur von seiner
Claudia Sies: Sexualitt und Partnerschaft in der Psychoanalyse
313
Seite her geçffnet. Unter dem Vorzeichen der erstmals gewagten »Intimitt« konnte Frau A. sich auf den Vorgang einlassen, schließlich hatte sie sich vorher immer wieder von ihm gewnscht, dass er sich zeige. Das ist Intimitt im neuen Sinn. Sie fhrt oft zu großer Verunsicherung, weil sie so schwer mit dem vereinbar ist, was wir blicherweise denken. Vor solcher Intimitt schrecken wir deshalb so zurck, weil sie sich keinesfalls immer so angenehm und wohlig anfhlt, wie wir es erwarten und wnschen: nmlich dass wir uns gegenseitig besttigen, akzeptieren und uns offenbaren. Wir denken, nur dann kçnnen wir uns çffnen und Wichtiges von uns preisgeben, wenn es der andere auch tut. Wer Intimitt mit Nhe, mit Verlsslichkeit und Frsorge verwechselt, wird enttuscht sein. Denn Intimitt setzt innere Getrenntheit voraus, das Verzichten kçnnen auf Gemeinsamkeit und auf Verstndnis. Diese Form der Intimitt ist in den meisten Fllen der Anfang eines neuen Anfangs und nicht der Anfang vom Ende. Auf unsere drei Fragen gibt sie eigenwillige Antworten: Sie weckt in lang dauernden Beziehungen wieder die Leidenschaft, da Fremdes und Aufregendes wieder zugelassen werden darf. Sie macht Untreue berflssig, da das Risiko in der wichtigen Beziehung selbst gewagt wird. Und sie verlegt den Ort des Entzndens des Begehrens und der sexuellen Erregung vom Verbotenen hin zum Gewagten und Riskierten. In der Matrix einer Beziehung wir selbst zu bleiben, ist aus diesen Grnden eine der gegenwrtig reizvollsten Entwicklungsanforderungen an die Liebespaare.
Literatur Baumann, Z. (2002). ber den postmodernen Gebrauch der Sexualitt. In G. Schmidt, B. Strauß (Hrsg.), Sexualitt und Sptmoderne (S. 29 – 49). Gießen: Psychosozial. Bartels, A., Zeki, S. (2000). The neural basis of romantic love. Neurorep., 11, 3829 – 3834. Berns, G. (2006). Satisfaction. Frankfurt a. M.: Campus. Brggen, W. (2007). ber die lter werdende Psychoanalyse und die geheimen Verfhrungen der Moderne. In A. Springer, K. Mnch, D. Munz (Hrsg.), Psychoanalyse heute!? (S. 63 – 75). Giessen: Psychosozial. Clement, U. (2005). Erotische Entwicklung in langjhrigen Partnerschaften. In J.Willi, B. Limacher (Hrsg.), Wenn die Liebe schwindet (S. 170 – 183). Stuttgart: Klett-Cotta. Clement, U. (2006). Guter Sex trotz Liebe. Wege aus der verkehrsberuhigten Zone. Berlin: Ullstein. Dornes, M. (2000). Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a. M.: Fischer.
314
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Elias, N. (1987/1991). Vorwort zu B. van Stolk, C. Wouter (Hrsg.), Frauen im Zwiespalt (S. 15). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. In C. Sies, Schwellen des Begehrens (S. 124). In C. Borer, K. Ley (Hrsg.), Fesselnde Familie (S. 106 – 130). Tbingen: Edition Discord. Fisher, H. (2005). Warum wir lieben. Die Chemie der Leidenschaft. Dsseldorf: Walter Verlag. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Traget, M., (2006). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1912). Gesammelte Werke (Bd. VIII). Beitrge zur Psychologie des Liebeslebens. II. ber die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (S. 78 – 91). Frankfurt a. M.: Fischer. Foucault, M. (1977). Sexualitt und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (Bd. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haynal, A. (2005). Sexualitt – ein Essay zur Begrifflichkeit und Geschichte. Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 11, 1031 – 1046. Kluin, K. (2007). Was die Liebe mit uns macht. Zeit Wissen, 05 – 07, 10 – 26. Kundera, M. (2000). Die Identitt. Mnchen: Hanser. Laplanche, J. (1982). Leben und Tod in der Psychoanalyse. Olten: Walter. Laplanche, J. (2003) Trieb und Instinkt. Forum der Psychoanalyse 19, 18 – 27. Laplanche, J. (2006). Zur Metapsychologie von Sexualitt und Bindung. In M. Altmeyer, H. Thom (Hrsg.), Die vernetzte Seele (S. 259 – 281). Stuttgart: Klett-Cotta. Mitchell, St. A. (2004). Kann denn Liebe ewig sein? Psychoanalytische Erkundungen ber Liebe, Begehren und Bestndigkeit. Gießen: Psychosozial. Passett, P. (2005). Wiederlesen der drei Abhandlungen. In I. Quindeau, V. Sigusch (Hrsg.), Freud und das Sexuelle (S. 36– 62). Frankfurt a. M.: Campus. Perel, E. (2006). Wild Life. Die Rckkehr der Erotik in die Liebe. Mnchen: Pendo. Quindeau, I. (2005). Braucht die Psychoanalyse eine Triebtheorie? In I. Quindeau, V. Sigusch (Hrsg.), Freud und das Sexuelle (S. 193 – 208). Frankfurt u. New York: Campus. Schmidt, G. (2005). Das neue Der Die Das. Gießen: Psychozozial. Schnarch, D. (2005). Die leidenschaftliche Ehe. In J. Willi, B. Limacher (Hrsg.), Wenn die Liebe schwindet (S. 184 – 211). Stuttgart: Klett-Cotta. Schnarch, D. (2006). Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Sexualitt, Sexualtheorie, Sexualwissenschaft (2005). Psyche – Zeitschrift fr Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 11. Sexualitten. Tagung der Deutschen Gesellschaft fr Psychoanalyse und Tiefenpsychologie 2007. Lindau. Sigusch, V. (2001). Kultureller Wandel der Sexualitt. In V. Sigusch (Hrsg.), Sexuelle Stçrungen und ihre Behandlung (S. 16 – 31). Stuttgart: Thieme. Strauß, B. (2007). Bindung und Gruppenprozesse. Gruppenpsychoth. Gruppendyn., 43, 90 – 108. Sydow, K. v. (1999). Sexuality during pregnancy and after child birth: A metacontent analysis of 59 studies. Journal of Psychosomatic Research, 47(1), 27 – 49. Willi, J. (2004). Psychologie der Liebe. Reinbek: Rowohlt. Zeldin, Th. (1994). An intimate history of humanity. New York: HarperCollins.
Paul L. Janssen Stationre psychodynamische Psychotherapie als Beziehungsfeld
Vorbemerkung Die Organisationsprinzipien einer Krankenhausbehandlung werden nicht nur durch reale Rahmenbedingungen, sondern auch durch fachliche Grundannahmen bestimmt. Die somatische Medizin folgt dem naturwissenschaftlichen Paradigma, nach dem der Kranke wie ein »biologisches Objekt« (von Uexkll u. Wesiack, 1988) betrachtet wird. Als eigentliche Behandlung in der somatischen Medizin werden die somatotherapeutischen Verfahren, wie zum Beispiel Pharmakotherapie, betrachtet. In psychiatrischen Krankenhusern mit somatischer Behandlungsphilosophie werden diese Konzepte der somatischen Medizin bernommen, manchmal ergnzt um die Psychotherapie und die Beschftigungstherapie. Allerdings werden letzteren eher eine relativ unspezifische Wirkung zugeschrieben. Die Jahrhunderte praktizierte Anstaltspsychiatrie folgte den Grundannahmen einer »totalen Institution« (Goffman, 1967); das gesamte Leben der Patienten wird geregelt, normiert und an gesellschaftlichen Werten orientiert und entindividualisiert. Es ist weniger eine Behandlung als eine Verwaltung defizitrer, psychisch und sozial desintegrierter Menschen. Die Psychoanalyse und Sozialpsychiatrie sind gegen diese beiden Auffassungen von Krankenhausbehandlung angetreten. Die nahezu hundertjhrige Entwicklung der stationren Psychotherapie begann mit Modifikationen der Psychoanalyse und fhrte zu der modernen Ausprgung stationrer Psychotherapie in den psychosomatischen Abteilungen als eigenstndige Behandlungsform. In Abbildung 1 lassen sich vier Linien der Entwicklung erkennen: die psychoanalytische, die internistisch-psychosomatische, die sozialtherapeutische und die verhaltenstherapeutische. Alle diese vier Linien nhern sich methodisch heute an und fhren zu einer Standardisierung dessen, was stationre Psychotherapie in der psychosomatischen Medizin ist. Da es hier nicht mçglich ist, nher darauf einzugehen, sei auf die Monographie von Janssen und Mitarbeitern (1999) hingewiesen. Zusammenfassend lsst sich feststellen, dass sich in den letzten fnfzig Jahren eine eigenstndige psychosomatisch-psychotherapeutische Krankenhausbehandlung ergeben hat, deren psychoanalytisch begrndeter Zweig die
316
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Abbildung 1: berblick ber Entwicklung der stationren psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung
stationre psychodynamische Psychotherapie ist (vgl. Janssen, Martin, Tress und Zaudig, 1998). ber die Etablierung von Behandlungskonzeptionen hinaus hat die psychosomatisch-psychotherapeutische Krankenbehandlung eine Funktion fr die gesamte Medizin bekommen. Die Medizin ist wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder in Gefahr, sich auf das medizinisch-naturwissenschaftlich Machbare zu reduzieren und daraus neue Ideologien und narzisstische Gratifikationen zu erhalten. Ein wichtiges Korrektiv dieser Entwicklung liegt in der Psychosomatischen Medizin, die das erlebende Subjekt, die interpersonellen Beziehungen und die soziokulturellen Einflsse auf das Subjekt in den Vordergrund stellt. Dieses bio-psycho-soziale Krankheitsmodell ist die paradigmatische, handlungsleitende Auffassung der Psychosomatischen Medizin. In diesem Sinne hat sie neben ihren patientenbezogenen Aufgaben auch gesellschaftsbezogene Aufgaben. Sie kçnnte der Medizin helfen, am erlebenden Subjekt des Kranken orientiert zu bleiben.
Paul L. Janssen: Stationre psychodynamische Psychotherapie
317
Die psychoanalytischen Grundlagen der stationren psychodynamischen Psychotherapie Die psychoanalytischen Grundlagen der stationren psychodynamischen Psychotherapie liegen in dem Beziehungsparadigma der Psychoanalyse und in der Ich-Psychologie. Aus der Ich-Psychologie ergibt sich der Integrationsgedanke, denn eine zentrale Funktion des Ich ist die Integration verschiedener Tendenzen und Strebungen. Diese individualpsychologische Auffassung vom Ich wird auch auf Gruppen und Organisationen angewandt (z. B. Rice, 1969; de Board, 1978) und fand unter anderem eine pragmatische Anwendung in der Teambehandlung (s. u.). Nach dem Beziehungsparadigma sind psychische Erkrankungen auch Ausdruck vergangener und gegenwrtiger Stçrungen in den Beziehungen zu signifikanten Anderen. Fr die ambulante Behandlungspraxis sind daher von Freud Behandlungen entwickelt worden, die die Reinszenierung kindlicher Konflikte und Objektbeziehungsmuster in der bertragung und Gegenbertragung ins Zentrum der Bearbeitung stellen. Im Gegensatz zur ambulanten psychodynamischen Psychotherapie wird aber in der stationren ein multipersonales therapeutisches Beziehungssystem zur Verfgung gestellt. Im Krankenhaus gibt es vielfltige Interaktionsmçglichkeiten mit den verschiedenen im Krankenhaus ttigen Berufsgruppen. Der Patient wird mit der Aufnahme ins Krankenhaus in diese verschiedenen Beziehungssysteme einbezogen, zum Beispiel in die Beziehung zu den rzten und dem Pflegepersonal. Nach dem psychoanalytischen Beziehungsparadigma werden diese Beziehungen zu dem therapeutischen Personal nicht nur von den jeweiligen Behandlungsangeboten, also den somatotherapeutischen, pflegerischen, krankengymnastischen, psychotherapeutischen, also bewusst geplanten Behandlungsmaßnahmen geprgt oder auch von den realen Rahmenbedingungen der stationren Behandlung, sondern in diese therapeutischen Beziehungen fließen auch unbewusste Interaktionsaspekte (bertragungen und Gegenbertragungen) ein. Des Weiteren kommunizieren die Patienten in einer Gruppe untereinander in einer speziellen sozialen Situation auf der Station. Auch in diese Interaktionen (Gruppensituation) fließen bewusste wie unbewusste Aspekte. Daraus habe ich fr die Praxeologie stationrer psychodynamischer Psychotherapie gefolgert (Janssen, 1985; 1987; 1989), dass die Beziehungen im Krankenhaus zu den verschiedenen Berufsgruppen nie isolierte Beziehungen sind, sondern dass jede Beziehung in einen bewussten wie unbewussten Gruppenkontext eingebettet ist, also die Behandlung stets eine Teambehandlung ist.
318
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Die Beziehungsrealitt und das Setting in der stationren psychodynamischen Psychotherapie Die stationre Psychotherapie wird in differenten Organisationen angeboten, in kleineren Universittsabteilungen, grçßeren, berregional arbeitenden psychotherapeutisch-psychosomatischen Fachkliniken, psychosomatischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhusern, psychosomatischen Rehabilitationskliniken und psychotherapeutischen Abteilungen in psychiatrischen Fachkliniken. Die Rahmenbedingungen dieser Institutionen sind nicht nur von den therapeutischen Belangen, sondern auch von Wirtschaftlichkeit, Vorgaben der Gesetzgebung, Krankenhaustrgern und Verwaltungen geprgt. Diese Rahmenbedingungen sind die Beziehungsrealitt des Settings, auf die der Therapeut nur einen begrenzten Einfluss hat, die er aber nachhaltig in der therapeutischen Zielsetzung bercksichtigen muss. Institutionelle Bedingungen – wie Klinikgrçße, bei den Universittskliniken zwischen zwçlf und fnfzig Betten, bei den psychosomatischen Rehabilitationskliniken zwischen hundert und dreihundert Betten – bestimmen interne Strukturen. Der Einfluss der Trger solcher Kliniken, ebenso wie der Einfluss der Finanzierung des Krankenhausaufenthaltes, zum Beispiel durch Krankenkassen oder Rentenversicherungstrger, tun ihres hinzu. Die Dauer der Behandlung kann nicht alleine unter therapeutischen Zielsetzungen festgelegt werden, sondern muss auch Einwirkungen und Vorgaben der Krankenkassen bercksichtigen. Manche Zielsetzung wird auch durch die Personalausstattung eingeschrnkt. Einen weiteren Einfluss auf die Konzeption haben die Diagnosegruppen, die in den jeweiligen Abteilungen behandelt werden. Die fr die Spezifitt der Behandlung entscheidende Rahmenbedingung ergibt sich aus dem multipersonalen Beziehungsfeld im Krankenhaus. Diese Rahmenbedingung unterscheidet grundstzlich das stationre Setting vom ambulanten. Sind im ambulanten Setting die Behandlungsprozesse auf einen Therapeuten bezogen (bertragung – Gegenbertragung), so sind im stationren Setting verschiedene Therapeuten mit unterschiedlichen therapeutischen Beziehungsangeboten prsent. Darber hinaus hat der Patient in der Regel im ambulanten Setting eine tagesstrukturierende berufliche Ttigkeit, die in dem Schonklima der Station wegfllt. Weiterhin ist der Therapeut im ambulanten Setting nur begrenzt, zum Beispiel eine bis vier Stunden pro Woche, erreichbar, hingegen kçnnen in der Klinik die Therapeuten rund um die Uhr erreicht werden (Bereitschaftsdienst). Die Bercksichtigung dieser Rahmenbedingungen muss zur Modifikationen der Behandlung nach dem Beziehungsparadigma fhren. Besonders der
Paul L. Janssen: Stationre psychodynamische Psychotherapie
319
analytische Psychotherapeut muss sich vergegenwrtigen, dass die Patienten mit der Aufnahme ins Krankenhaus in verschiedene Beziehungssysteme einbezogen werden und damit unbewusste Interaktionsaspekte, zum Beispiel reaktivierte infantile Objektbeziehungsmuster und unbewusste Phantasien in verschiedenen personalen Beziehungen reaktiviert werden kçnnen. Jede Beziehung im Krankenhaus ist daher nicht isoliert zu betrachten, sondern in einem multipersonalen Gruppenkontext. Die stationre Psychotherapie ist auf Grund der Beziehungsrealitt daher nicht nur multimethodal (Einzeltherapie, Gruppentherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Bewegungstherapie, Soziotherapie), sondern auch multipersonal, das heißt, die Reinszenierungen fhren zu multidimensionalen bertragungsprozessen, die durch Kooperationsstrukturen wieder in eine bertragungsgestalt zusammengefhrt werden mssen. Die Konzeption, die am ehesten dem multimethodalen und multipersonalen therapeutischen Beziehungsfeld gerecht wird, ist eine Konzeption von einer Gruppen- und Teambehandlung auf der Station.
Die Strukturierung der multipersonalen Situation Die Gestaltung dieses Gruppen- und Teamfeldes wird je nach Grundorientierung in der Psychotherapie unterschiedlich sein, dies hat die lange Geschichte der stationren psychoanalytisch begrndeten Psychotherapie gezeigt (vgl. Janssen, 1987). Wie der therapeutische Raum strukturiert wird, ist abhngig von Grundpositionen des Leiters/der Leiterin einer Station oder Klinik. Die Frage ist, welche Beziehungen er/sie als therapeutische in der jeweiligen Konzeption definiert. Bei der psychodynamischen stationren Behandlung habe ich drei Positionen unterschieden (Janssen, 1987): – Die therapeutische Beziehung wird von den brigen Behandlungsmaßnahmen auf der Station abgegrenzt entsprechend dem Vorbild der ambulanten Praxis und dem Primat der hçchstpersçnlichen Beziehung zum Therapeuten. Der therapeutische Raum der Einzeltherapie oder auch Gruppentherapie wird von der Station gnzlich getrennt. Der Therapeut soll alle Informationen aus dem stationren Setting erhalten, ohne Wissen des Patienten nichts aus der Behandlung dem Personal der Station mitteilen (generelle Diskretion). – Nach der bipolaren Grundkonzeption wird ein Therapieraum vom Realraum getrennt und letzterer entweder nach dem Prinzip der therapeutischen Gemeinschaft (Main, 1946) oder nach Prinzipien der soziotherapeutischen Gruppenarbeit organisiert (z. B. Enke, 1965; Hau, 1968). Die Annahme der sogenannten Bipolaritt in der klinischen Psychotherapie
320
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
orientiert sich an der Realitt der Station und fordert das Personal der Station auf, sich realittsorientiert zu verhalten. Hingegen sollen im Therapieraum berwiegend die bertragungsprozesse zentriert und auch bearbeitet werden. – Die integrativen Konzepte organisieren das multipersonale Beziehungsfeld in der Gruppensituation im Krankenhaus als Netzwerk von therapeutischen Beziehungen mit unterschiedlichen methodischen Angeboten (Einzeltherapie, Gruppentherapie, Kunsttherapie u. a.). In diesem Feld kçnnen sich dispergierende bertragungsprozesse entfalten. Grundidee der integrativen Modelle ist, die vielfltigen Interaktionen der verschiedenen Berufsgruppen in ein Setting einzubinden und im Umgang mit dem Patienten auch beziehungsdynamisch zu betrachten (vgl. Janssen, 1985; 1987). Dies entspricht dem gruppenanalytischen Konzept von Foulkes (1964), der jedoch von multilateralen bertragungen in der Gruppe spricht. Integrative Modelle wollen mçglichst vollstndig die sich im multipersonalen Beziehungsfeld entwickelnden Beziehungsmuster und die darin neben den Arbeits- und Realbeziehungen enthaltenen infantilen Objektbeziehungsanteile beziehungsweise bertragungsanteile erfassen. Die Patienten externalisieren ihre internalisierten Objektbeziehungen in interaktionellen Reinszenierungen, auch im Verhalten im Hier und Jetzt auf der Station und nutzen dazu das gesamte Beziehungsfeld. Die Arbeit an oder in dieser multidimensionalen bertragungsgestalt mit den entsprechenden Gegenbertragungen im Team ist daher das Herzstck der stationren integrativen psychodynamischen Psychotherapie.
bertragungsprozesse in der stationren psychodynamischen Therapie Das Verstndnis von bertragungsprozessen im stationren Setting ist prgend fr die gewhlte Strukturierung des therapeutischen Raumes (siehe oben). Die bertragungsbereitschaft ist nicht nur Produkt des therapeutischen Settings, sondern kann in allen menschlichen Beziehungen manifest werden, besonders in Beziehungen zu bedeutsamen Anderen (Gill, 1982). Fr die Patienten ist die stationre Aufnahme eine Herausnahme aus den blichen Lebensbedingungen und ein Eintauchen in die Großgruppensituation der Klinik. Dabei werden unbewusste interpersonelle Arrangements (Mentzos, 1976), die außerhalb der Klinik im sozialen Feld die Abwehr stabilisieren, labilisiert. In den multipersonalen Beziehungsangeboten der Klinik versuchen
Paul L. Janssen: Stationre psychodynamische Psychotherapie
321
die Patienten, neben den Arbeits- und Realittsbeziehungen zu Therapeuten und Mitpatienten auch die internalisierten Objektbeziehungsmuster in interpersonellen Arrangements wiederherzustellen. Das Team kann solche Wiederherstellungen beziehungsweise Reinszenierung infantiler Objektbeziehungsmuster im Verhalten, in den Objektwahlen, in den Interaktionen schließlich auch an den verbalisierten Vorstellungen und Wnschen des Patienten erkennen, sie von der Arbeitsbeziehung und der Realbeziehung abgrenzen und fr die je spezifische psychotherapeutische Bearbeitung nutzen. Charakteristisch fr die stationre psychodynamische Psychotherapie ist daher die interaktionelle Reinszenierung im Hier und Jetzt. Die bertragung wird also weitgehend nach dem Konzept der Reaktivierung und der Externalisierung von internalisierten Objektbeziehungen verstanden. Sie kçnnen sich im multipersonalen Beziehungsfeld der klinischen Situation in verschiedenen Beziehungen wieder finden und zeigen sich fast nie in der Beziehung zu dem jeweiligen Therapeuten alleine. Von daher ist die Grundregel fr das Team: sich ber Beobachtungen, Erfahrungen, Gefhle und Affekte in den verschiedenen therapeutischen Feldern und Beziehungen kontinuierlich und offen auszutauschen. In der ambulanten Behandlung hat der Therapeut es meist mit sukzessiv sich entfaltenden bertragungsmustern zu tun. Im Vergleich dazu kçnnen im stationren Raum verschiedene Formen von bertragungen gleichzeitig und nebeneinander, also simultan, sich zeigen. Das charakteristische bertragungsmuster fr Patienten in der stationren Therapie ist die multidimensionale bertragung. Bei anderen Patienten ist die bertragung eindimensional, zeigt sich als Wunsch nach einer oral-spendenden Mutter in der bertragung auf die Institution oder in Beziehung zu verschiedenen Therapeuten. Solche bertragungsformen kçnnen auch in der Gruppentherapie als gemeinsame Phantasie aller Patienten manifest werden. Fr manche Patienten, beispielsweise Borderline-Patienten, ist die Spaltungsbertragung charakteristisch. Nicht jede Form der multidimensionalen bertragung ist als Spaltungsbertragung zu betrachten, sondern nur diejenige, die bei Patienten mit Borderline-Persçnlichkeitsorganisation auftreten. In der Spaltungsbertragung werden nicht integrierte gute und bçse Objektreprsentanten auf verschiedene Therapeuten projiziert. Schließlich gibt es auch in der stationren psychodynamischen Therapie neben Realbeziehung und Arbeitsbeziehung Beziehungsmuster, die zwar auch als bertragungen bezeichnet werden kçnnen, beispielsweise bei psychotisch oder somatisch dekompensierten Patienten, die aber nicht interpretierbar sind, sondern einen handelnden, strukturierenden Umgang erforderlich machen. Fr manche schwer gestçrte Patienten hat die Beziehungsdimension der pflegenden, versorgenden und diatrophischen Ebene auf der Station dann eine Therapie fçrdernde Wirkung.
322
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Klinische Gruppenpsychotherapie Die psychodynamische Gruppenpsychotherapie hat im Therapiespektrum der stationren Behandlung eine besondere Bedeutung. Die klinische Gruppenpsychotherapie soll daher kurz auf dem Hintergrund meiner 35-jhrigen Erfahrung mit der Gruppenarbeit in der stationren Psychotherapie beleuchtet werden. Die psychodynamische Gruppenpsychotherapie ist eine Anwendungsform der Psychoanalyse in der Gruppe. Da in der Mehrpersonenbeziehung in der Gruppe das interpersonelle Geschehen im Vordergrund steht, lassen sich in der Gruppenanalyse bertragung, Gegenbertragung und Widerstand nur unter Bercksichtigung der Multipersonalitt fassen. Darber hinaus bekommen interpersonelle Abwehrmechanismen und psychosoziale Kompromissbildungen wie unbewusste Gruppenphantasien eine besondere Bedeutung. Des Weiteren sind das interaktionelle Prinzip in der Gruppe und die Arbeit an den interpersonellen Konflikten oder Rollenkonflikten der Gruppenteilnehmer wesentlich intensiver als in der Einzeltherapie (vgl. HeiglEvers u. Heigl, 1973). Die Gruppenpsychotherapie ist deswegen ein wichtiger Baustein der stationren Psychotherapie, da sie insgesamt der multimodalen, multipersonalen, mehrdimensionalen Behandlung unter Bercksichtigung des therapeutischen Milieus auf der Station gerecht wird. Spielte am Anfang der stationren Psychotherapie (vgl. Janssen u. Quint, 1977) die Gruppenpsychotherapie eine zentrale Rolle, so ist sie nach und nach nur ein Baustein der Komplexleistung stationrer Psychotherapie geworden. Diese Komplexleistung orientiert sich viel strker an den Erfordernissen der Stçrungen der Patienten. Auch wenn es sehr verschiedene Anwendungsfelder der psychodynamischen Gruppentherapie gibt und die Patientenorientierung zunehmend zu einer Spezialisierung der Gruppenpsychotherapie fhrte, bleibt jedoch eine Gemeinsamkeit aller Gruppenpsychotherapien, die sowohl fr ambulante wie stationre Gruppenpsychotherapie gilt. Patienten werden im Zusammentreffen mit anderen Patienten in einer Kleingruppe (acht bis zehn Patienten) verinnerlichte Interaktionserfahrungen in einer personifizierten, interpersonellen Auseinandersetzung in der Gruppe wiederholen. Diese interaktiven Wiederholungsaktionen frhkindlicher Beziehungsmuster in der Gruppe sind Inszenierungen. Das gemeinsame aller psychodynamischen Gruppenpsychotherapien ist die interaktionelle Reinszenierung unbewusster Beziehungsmuster zu signifikanten Anderen. Dieser Inszenierungsprozess ist der basale Prozess, auch wenn es in diesem Prozess verschiedene Stadien gibt, auf die hier nicht eingegangen wird (Janssen, 1995). Der entscheidende Unterschied zwischen ambulanter und stationrer Gruppenpsychotherapie liegt in der Multipersonalitt des Beziehungsange-
Paul L. Janssen: Stationre psychodynamische Psychotherapie
323
botes in dem stationren Setting. Wie oben schon dargelegt kann sich eine dispergierende bertragung auf verschiedene Personen des stationren Behandlungsteams entwickeln. Fr den Gruppentherapeuten ist es daher erforderlich, seine Wahrnehmungen nicht nur auf die Interaktion innerhalb der Kleingruppe zu richten, wie in der ambulanten Praxis, sondern auch auf alle anderen Beziehungen, wie sie sich im Rahmen der Großgruppensituation auf der Station entfalten. Der Gruppenpsychotherapeut muss versuchen, auch die Interaktionen der brigen Therapeuten und Teammitglieder mit den Patienten innerhalb der dafr vorgesehenen Teamsitzungen zu erfassen und seine Erfahrungen und Einsichten in der Gruppenpsychotherapiesitzung zu nutzen. Erst daraus ergibt sich die bertragungsgestalt. Diesen Vorgang habe ich versucht, in der Abbildung 2 graphisch zu verdeutlichen.
Abbildung 2: Vernetzung von Großgruppen-Prozess und Kleingruppen-Prozess in der stationren psychodynamischen Psychotherapie
324
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Integrierende Teamarbeit Das Konzept der Teamarbeit in der stationren psychodynamischen Therapie leitet sich aus der Grundposition des integrativen Modells ab (s. o.). Die wesentlichsten Regeln fr das Team sind: Jeder Behandler muss sich als Teil eines Ganzen verstehen, sich des Teams bedienen, um seine individuellen Patienten oder die Gruppe von Patienten zu verstehen und adquat behandeln zu kçnnen. Er muss sich bewusst sein, dass er ohne Einbeziehung des multipersonalen Beziehungsfeldes in seine therapeutischen berlegungen kaum in der Lage sein wird, die unbewussten Prozesse seines Patienten zu erfassen. Welche Aufgabe jeder Einzelne in diesem Team hat, wird unterschiedlich definiert (vgl. verschiedene Modelle bei Janssen, 2004). Wie die Aufgabe des gesamten Teams definiert und erfllt wird, hat jedoch einen großen Einfluss auf die Atmosphre und auf das Milieu einer Abteilung und damit auch auf die Behandlung der Patienten. Als Ganzes hat im integrativen Modell das Team folgende Aufgaben: – Die Gestaltung und Aufrechterhaltung der Rahmenbedingungen (Setting), eine grenzsetzende und haltende Funktion, die fr die therapeutische Arbeitsbeziehung grundlegend ist: Die Therapeuten mssen dafr sorgen, dass eine fçrderliche Umgebung geschaffen wird, obwohl sie fr ein Scheitern nicht immer verantwortlich sind. Wichtig fr die Behandlung ist, dass das Team ununterbrochen versucht zu verstehen, wie es Entwicklungen fçrdern kann und wieweit die Settingangebote fçrderlich sind. Zu diesem Verstehen gehçrt auch die Aufdeckung verborgener Teamkonflikte, das Loslassen des Patienten oder auch ein Festhalten des Patienten, je nach Stand der Behandlung. – Aufrechterhaltung der Therapieraumgrenzen: Pathologische Objektbeziehungsmuster kçnnen nur in einem Raum inszeniert werden, der auch geschtzt ist. Patienten sind in der Regel stark regrediert. Darum ist es die Aufgabe des Teams, diesen Raum so zu gestalten, dass eine Abgrenzung der therapeutischen von den nicht-therapeutischen Rumen mçglich ist. – Regulierung von Nhe und Distanz: Das Team muss die Fhigkeit entwickeln, dem Patienten nahe zu sein wie auch Abstand halten zu kçnnen. Das Team muss von der Patientengruppe abgegrenzt sein, um Angriffe auf sich selbst und auf das Setting berleben und auch beantworten zu kçnnen. Es muss ein wahrnehmendes und reflektierendes Team sein. Das wahrnehmende Team ist ein Team, das sich selbst in seiner Interaktion mit Patienten aus einem bestimmten Abstand heraus erleben und reflektieren kann. Dieser Modus entspricht der Position der Neutralitt (Abstinenz) und der Reflexion der Gegenbertragung in der ambulanten psychodynamischen Psychotherapie. Der Abstand darf aber auch nicht so groß sein, dass die
Paul L. Janssen: Stationre psychodynamische Psychotherapie
325
empathische Erfassung des Patienten leidet und die Containing-Funktion des Teams nicht zum Tragen kommen kann. – Aufrechterhaltung der personalen Gleichwertigkeit im Team: Obwohl es sehr unterschiedliche Aufgabenstellungen und verschiedene Aufgaben in der therapeutischen Arbeit gibt, sollten die therapeutischen Beziehungen stets als gleichwertig betrachtet werden. Die Bewertung der Beziehungen als gleichwertig schafft eine Basis des Vertrauens und vermeidet narzisstische Selbstwertkonflikte im Team. Diese grundstzlichen Aufgaben fr das Gesamtteam bei unterschiedlicher Aufgabenverteilung haben zur Folge, dass auf die Struktur des Teams wie auch den Leitungsstil besondere Aufmerksamkeit zu richten ist. Die Teamarbeit ist wie ein kontinuierlicher affektiver gruppendynamischer Prozess zu verstehen, der aber aufgabenbezogen bleiben muss. Die Aufrechterhaltung dieser »primren Aufgabe« (Rice, 1969), das heißt die Aufgabenbezogenheit, ist Leitungsaufgabe und in jeder Sitzung zu gewhrleisten. Aus den Mitteilungen der Teammitglieder ber Beziehungen zum Patienten und ber das Verhalten des Patienten wird die Reinszenierung der pathologischen Objektbeziehung, die bertragungsgestalt, herausgearbeitet. Der Leiter integriert diesen Prozess, nimmt also eine integrierende Ich-Funktion fr das Team wahr, sorgt fr die Aufrechterhaltung der Rahmenbedingungen wie fr die Aufrechterhaltung der Aufgaben jedes einzelnen Teammitgliedes.
Schlussfolgerung Aus der Anwendung des Beziehungsparadigmas in der stationren psychotherapeutischen Behandlung sind neue organisationsdynamische Konzepte fr die Krankenhausbehandlung entstanden wie auch eine Neuorientierung der multimethodalen und multiprofessionellen psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung. Die jahrzehntelange Erfahrung fhrte zu einer Konzeptualisierung einer stationren psychodynamischen Psychotherapie, die ein eigenstndiges Verfahren ist. Die vielfltigen Erfahrungen mit solchen Konzeptionen fçrdern auch Integrations- und Kooperationskonzepte fr verschiedene therapeutische Anstze und multiprofessionelle Kooperationen in der psychotherapeutischen Versorgung. Die Auswirkungen solcher Modelle gehen weit ber die Wirkung in der Behandlung hinaus, sie kçnnen auch fr die institutionellen Behandlungsformen wie Krankenhausbehandlungen allgemein modellbildend sein.
326
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Literatur Board, R. de (1978). The psychoanalysis of organizations. London: Tavistock. Enke, H. (1965). Bipolare Gruppenpsychotherapie als Mçglichkeit psychoanalytischer Arbeit in der stationren Psychotherapie. Zeitschrift fr Psychotherapie und medizinische Psychologie, 15, 116 – 121. Foulkes, S. H. (1964/1974). Gruppenanalytische Psychotherapie. Mnchen: Kindler. Gill, M. (1982). Analysis of transference (Vol. 1). New York: International University Press. Goffman, E. (1967). Stigma. ber Techniken der Bewltigung beschdigter Identitt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hau, T. F. (1968). Stationre Psychotherapie: Ihre Indikation und ihre Anforderungen an die psychoanalytische Technik. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 14, 25 – 42. Heigl-Evers, A., Heigl, F. (1973). Gruppentherapie: Interaktionell – tiefenpsychologisch fundiert – psychoanalytisch orientiert – psychoanalytisch. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 7, 132 – 157. Janssen, P. L. (1985). Auf dem Weg zu einer integrativen analytisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung. Forum Psychoanalyse, 1, 293 – 307. Janssen, P. L. (1987). Psychoanalytische Therapie in der Klinik. Stuttgart: Klett-Cotta. Janssen, P. L. (1989). Behandlung im Team aus psychoanalytischer Sicht. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 35, 325 – 335. Janssen, P. L. (1995). Erfahrungen mit analytischer Gruppenpsychotherapie bei strukturellen Ich-Stçrungen. Jahrbuch der Gruppenanalyse, 1, 150 – 170. Janssen, P. L. (2004). Berufsgruppen- und methodenintegrierende Teamarbeit in der stationren psychodynamischen Psychotherapie. Psychotherapeut, 49, 217 – 226. Janssen, P. L., Franz, M., Herzog, T., Heuft, G., Paar, G., Schneider W. (1999). Psychotherapeutische Medizin – Standortbestimmung zur Differenzierung der Versorgung psychisch und psychosomatisch Kranker. Stuttgart: Schattauer. Janssen, P. L., Martin, K., Tress, W., Zaudig, M. (1998). Struktur und Methodik der stationren Psychotherapie aus psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Sicht. Psychotherapeut, 43, 265 – 276. Janssen, P. L., Quint, H. (1977). Stationre analytische Gruppenpsychotherapie im Rahmen einer neuropsychiatrischen Klinik. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 11, 211 – 243. Main, T. F. (1946). The Hospital as a Therapeutic Institution. Bulletin Menninger Clinic, 10, 66 – 95. Mentzos, A. H. (1976). Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rice, A. K. (1969). Individual, group and inter-group processes. Human Relation, 22, 565 – 584. Uexkll, T. v., Wesiack, W. (1988). Theorie der Humanmedizin – Grundlage rztlichen Denkens und Handelns. Mnchen: Urban & Schwarzenberg.
Norbert Hartkamp Vom Introjekt zum Diagramm – Geht das (mit SASB, Intrex, CMP)?
Das Leben des Menschen vollzieht sich von der Wiege bis zur Bahre in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ob es um »der Mutterliebe zarte Sorgen« geht, die nach des Dichters Wort den Lebensmorgen des neugeborenen Kindes begleiten, ob es um »der Brder wilde Reihen«, also die Sozialisation in der peer-group, ob es um die »goldene Zeit« der ersten Liebe geht: Menschliches Leben ist nicht vorstellbar unabhngig von zwischenmenschlichen Beziehungen. Schon 1824 vertrat einer der Begrnder der neuzeitlichen Psychologie, J. F. Herbart, die Ansicht: »Der Mensch ist nichts außer der Gesellschaft. Den vçllig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur so viel mit Bestimmtheit, dass die Humanitt ihm fehlen wrde« (1968, Bd. II, S. 3).
Interpersonelle Modelle Fr den Bereich der Psychotherapie hat der US-amerikanische Psychiater und Mitbegrnder der interpersonellen Richtung innerhalb der Psychoanalyse H. S. Sullivan diese Auffassung am radikalsten formuliert: »Personality is the relatively enduring pattern of recurrent interpersonal situations which characterize a human life« (Persçnlichkeit ist das relativ berdauernde Muster wiederkehrender interpersoneller Situationen, die das menschliche Leben kennzeichnen; Sullivan, 1953, S. 110 f.). Folgt man dieser Auffassung, dann erwchst daraus auch die Forderung danach, Vernderungsprozesse in Psychotherapien und ganz allgemein: menschliches Handeln und menschliche Eigenschaften als interpersonelles Geschehen zu rekonstruieren. Dieser Aufgabe stellten sich gegen Ende der 1940er Jahre die in Berkeley ttigen US-amerikanischen Psychologen Mervin Freedman, Timothy Leary und Abel Ossorio mit ihrem Versuch, die Inhalte gruppentherapeutischer Sitzungen auf wenige interpersonelle Grunddimensionen zurckzufhren (LaForge, 1985). Hintergrund dieses Interesses bildeten gruppendynamische Erfahrungen, die ihr Mentor Hubert Coffey als Mitarbeiter von Kurt Lewin
328
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
gesammelt hatte, ebenso wie Konzepte der psychoanalytisch geprgten Kurztherapie. Ihr methodisches Vorgehen folgte dabei einer induktiven, oder wie Freedman (1985) berichtet, einer »phnomenologischen«, also qualitativen Linie. 1951 verçffentlichten Freedman, Leary und Mitarbeiter die erste Fassung dessen, was als interpersoneller Zirkel die Grundlage einer ganzen Richtung der differenziellen und klinischen Psychologie werden sollte (Freedman et al., 1951). Eine breitere Wirkung blieb dem Modell zunchst jedoch auch nach der Verçffentlichung von Learys Buch »The Interpersonal diagnosis of personality« im Jahre 1957 verwehrt, da weder in der behavioralen Psychologie noch in der ich-psychologisch ausgerichteten Psychoanalyse zum damaligen Zeitpunkt eine Offenheit fr eine interpersonelle Sichtweise existierte (siehe auch das Kapitel von Mathias Hirsch in diesem Band). Das herausragende Kennzeichen des von Freedman und Leary entworfenen Modells ist die »zirkumplexe« Anordnung der beobachteten Eigenschaften, Verhaltensweisen beziehungsweise Persçnlichkeitszge (Wiggins u. Trobst, 1997). Der Begriff »Zirkumplex« bezieht sich ursprnglich auf eine bestimmte Ausprgung einer Korrelationsmatrix, bei welcher sich als Resultat einer Faktorenanalyse dieser Matrix eine kreisfçrmige Anordnung der Merkmale ergibt (Gurtman, 1997). Dabei gilt im Falle von Eigenschaftsbeschreibungen oder Beschreibungen von Verhaltensweisen, dass psychologisch hnliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen auch rumlich benachbart sind, whrend psychologisch entgegengesetzte Verhaltensweisen einander im Kreis gegenber liegen. Von einander unabhngige Eigenschaften und Verhaltensweisen sind einander in diesem Modell im 908-Winkel zugeordnet. Ein zweites, typisches Kennzeichen aller zirkumplexen interpersonellen Modelle ist, dass sie menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf den Dimensionen »Liebe« vs. »Hass« und »Dominanz« vs. »Unterordnung« beschreiben. Hieraus resultiert eine Komplementaritt in dem Sinne, dass freundliche Dominanz in der dyadischen Interaktion typischerweise freundliche Unterordnung nach sich zieht, whrend feindselige Dominanz von feindseliger Unterordnung gefolgt ist (Kiesler 1983). Pincus, Gurtman und Ruiz (1998a) weisen zurecht darauf hin, dass das Leary’sche Modell, ebenso wie die spteren Bearbeitungen von Kiesler (Kiesler et al., 1976; Kiesler, 1983) oder Lorr und McNair (1963), obgleich es ein interpersonelles Modell ist, im Grunde einem individuumbezogenen differenzial-typologischen Ansatz folgt. Damit ist gemeint, dass die Forschungsfrage, die der Entwicklung des Leary’schen Zirkumplex-Modells zugrunde lag, war : »Wie handelt das Subjekt, d. h. das Individuum, welches beobachtet wird, gegenber dem Objekt, oder den Objekten, auf die seine Aktivitt zielt?« (Freedman et al., 1951, S. 149). Gleichwohl konnten aus diesem essenziell monadischen Modell Hypothesen zu transaktionalen Prozessen, beispiels-
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
329
weise zu Gegenbertragungsprozessen in psychodynamischer Psychotherapie (McIntyre u. Schwartz, 1998; Hartkamp et al., 2002; Hafkenscheid, 2003), abgeleitet und berprft werden.
Abbildung 1: Das interpersonelle Modell nach Leary (im ußeren Kreis) und Kiesler (innen). Abbildung nach Orford, 1986.
Das SASB-Modell Die entscheidende Vernderung, die von dem beschriebenen interpersonellen Zirkel hin zu der von Lorna Smith Benjamin begrndeten Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens (»SASB«: Structural Analysis of Social Behavior) fhrte, war die Einbeziehung der Richtung der Interaktion. Diese Vernde-
330
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
rung fhrte von dem ursprnglichen, Individuum zentrierten zu einem dyadischen Ansatz (Pincus u. Ansell, 2003, S. 213). Benjamin (1974) machte sich hier eine Vorstellung zunutze, die der seinerzeit ebenso wie Freedman und Leary in Berkeley ttige Earl S. Schaefer (1959) im Rahmen der Berkeley Growth Study (Bayley u. Schaefer, 1964) entwickelt hatte. Schaefer hatte in zwei Zirkumplex-Modellen zunchst ein elternhaftes mtterliches Verhalten und spter ein korrespondierendes kindartiges Verhalten beschrieben (Schaefer, 1997). Er war der Auffassung gewesen, die Beziehungen zwischen diesen beiden Modellen eigneten sich dazu, eine Theorie wechselseitiger interpersoneller Einflussnahme zu formulieren und bezog sich dabei bereits explizit auf die Bowlby’sche Bindungstheorie (Schaefer, 1961, S. 143 f.). Lorna Benjamin kombinierte das Schaefer’sche Modell mit dem interpersonellen Modell von Kiesler und Leary, um zu einem Modell zu gelangen, welches zunchst zwei interpersonelle Zirkumplex-Strukturen enthielt. Die elternhafte, aktive, auf den anderen gerichtete Interaktion bezeichnete Benjamin als »transitiv«, die kindhafte, reaktive Interaktion als »intransitiv«. Eine dritte Zirkumplex-Struktur diente dazu, das auf die eigene Person gerichtete Verhalten zu erfassen. Dieses »introjektive« Verhalten beschreibt somit die verinnerlichten Verhaltens- und Erlebensweisen, welche den Interaktionen mit den frhen, bedeutsamen Beziehungspersonen entstammen, und die gemß dem Sullivan’schen (1953) Postulat die menschliche Persçnlichkeit ausmachen. Die insgesamt drei verschiedenen Zirkumplex-Strukturen werden in der SASB-Terminologie auch als »Foci« bezeichnet. Von der horizontalen Achse wird als »Affiliationsachse« gesprochen, welche zwischen den Polen »Liebe« und »Hass« aufgespannt ist. Die vertikale »Interdependenz«-Achse variiert im transitiven Fokus zwischen den Polen »Unabhngigkeit gewhren« und »Kontrolle ausben«, im intransitiven Fokus zwischen »unabhngig sein« und »sich unterwerfen« und im introjektiven Fokus zwischen »die eigene Spontaneitt zulassen« und »Selbstkontrolle ben«. Aus Grnden der einfacheren grafischen Darstellbarkeit werden die drei Zirkumplexe blicherweise in Form von Rhomben (»diamonds«) dargestellt. Das in dieser Weise erweiterte Modell vermag einige der Nachteile der vorangehenden zirkumplexen Modelle zu umgehen: So konnte im Leary’schen Zirkumplex zwar die »Unterordnung« als Gegensatz von »Dominanz« beschrieben werden, Verhaltensweisen des »Jemandem-die-Unabhngigkeit-Gewhrens« – was ja zweifelsohne im psychologischen Sinne auch ein Gegensatz dazu ist, jemanden zu dominieren – waren jedoch nicht abzubilden. Im SASB-Modell gelingt dies nunmehr : »Dominanz« und »Unterordnung« erscheinen als Gegensatz zweier Fokusebenen, »Dominanz« und »Unabhngigkeit gewhren« sind einander auf einer gemeinsamen Fokusebene zugeordnet.
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
331
Abbildung 2: Das vollstndige Modell der Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens (SASB)
In seiner vollstndigen Fassung umfasst das SASB-Modell fr jeden Fokus 36 Verhaltens- und Erlebensbeschreibungen. Diese sind dergestalt angeordnet, dass Punkte, deren Koordinaten die gleichen absoluten Werte fr Interde-
332
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
pendenz und Affiliation haben, die gleiche interpersonelle Thematik (»track«) reflektieren (Benjamin, 1979; vgl. Fiedler, 2000, S. 336). Die Bezifferung der Verhaltensqualitten erfolgt dabei so, dass die erste Ziffer den Fokus kennzeichnet (1 = transitiv, 2 = intransitiv, 3 = introjektiv), die zweite Ziffer den Quadranten entsprechend dem kartesischen Koordinatensystem bezeichnet und die dritte Ziffer Auskunft ber den »track« gibt (0 = urtmliche (primitive) Grundlagen, 1 = Annherung/Vermeidung, 3 = Bedrfnisbefriedigung, Kontakt, Versorgungsaspekte, 4 = Logik und Kommunikation, 5 = Aufmerksamkeit fr die eigene Entwicklung, 6 = Beziehungsgleichgewicht, 7 = Intimitt/Distanz, 8 = Identitt). Die jeweils einer interpersonellen Thematik zugeordneten Verhaltens- und Erlebensweisen eines Quadranten, aber differenter Fokusse sind einander komplementr. Mit diesem Modell ist eine hoch differenzierte und reichhaltige Beschreibung von Erlebens- und Verhaltensweisen mçglich. Der Zugewinn an Reichhaltigkeit in der Beschreibung ist allerdings mit hoher Komplexitt erkauft, so dass gleichzeitig die Notwendigkeit entstand, das SASB-Modell wieder zu vereinfachen, um es leichter handhabbar zu machen. Dazu wurden jeweils vier beziehungsweise fnf der Verhaltens- und Erlebensweisen zusammen gruppiert (»geclustert«), so dass eine Fassung resultiert, in der auf jeder Fokusebene acht Cluster angeordnet sind. Diese Cluster werden im Uhrzeigersinn mit den Ziffern 1 bis 8 bezeichnet, wobei der Bezeichnung des Clusters auch hier eine Ziffer zur Bezeichnung des Fokus vorangestellt ist. Auf jeder Fokusebene kçnnen die Cluster 1, 2 und 3 zu einer »Bindungs-Gruppe« (»BG«) und die Cluster 6, 7, und 8 zu einer »Bindungsstçrungs-Gruppe« (»BSG«) zusammengefasst werden (Pincus u. Ruiz, 1997). In der Cluster-Version sind gleiche Cluster auf unterschiedlichen Fokusebenen zueinander komplementr.
Komplementaritt, hnlichkeit, Antithese Introjektbildungen, von denen wir annehmen, dass sie relativ frh im Leben in den Beziehungen zu bedeutsamen Beziehungspersonen entstanden sind, sind keineswegs unabnderlich. Die Prinzipien der Komplementaritt und der Antithese kçnnen die Bildung und die Vernderung von Introjektstrukturen erklren. Das Prinzip der Komplementaritt beinhaltet dem Grundsatz nach, dass Menschen in interpersonellen Beziehungen dazu tendieren, auf Seiten des Gegenbers diejenigen Reaktionen interaktionell zu evozieren, die konsistent mit der angebotenen Selbst-Definition sind. In dem Maße, in dem Individuen so interagieren, dass die jeweiligen Selbst-Definitionen besttigt werden,
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
333
Abbildung 3: Die Cluster-Version des SASB-Modells. – BSG: BindungsstçrungsGruppe; BG: Bindungs-Gruppe
bleiben interpersonelle Beziehungen konstant, wenn die Interaktion die Selbst-Definitionen nicht besttigt, kommt es zu einer Vernderung oder Desintegration der Beziehung. Im Kontext des SASB-Modells ist mit Komplementaritt gemeint, dass interpersonelle Handlungsweisen typischerweise Antworten nach sich ziehen, die bei unterschiedlichem Fokus auf den Achsen des Modells hnliche Werte aufweisen. In diesem Sinne zieht Freundlichkeit wiederum Freundlichkeit
334
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
nach sich, und feindselige Abweisung ist von feindseliger Abweisung gefolgt. Dominanz zieht Unterwerfung nach sich und das Gewhren von Freiheit ein autonomes Verhalten des Gegenbers. Menschen, die in ihrer Vorgeschichte oftmals kritisiert wurden, erwarten dies auch als Erwachsene und neigen dazu genau solche Verhaltensweisen zu zeigen, die ein Kritisiert-Werden nach sich ziehen. Damit entsteht dann eine maladaptive, sich selbst erfllende Prophezeiung, die eine entsprechende, negative Introjektstruktur stabilisiert. Die Antithese eines Verhaltens ist das Gegenteil des Komplements, d. h. dasjenige Verhalten, das dem Komplement auf der entsprechenden Fokusebene gegenber liegt. Antithetisches Verhalten ist mithin sowohl auf der Affiliations- wie auch auf der Interdependenzachse dem komplementren Verhalten gegenstzlich. Ein antithetisches Verhalten bt einen erheblichen »Sog« dahingehend aus, dieses Verhalten wiederum in komplementrer Weise zu beantworten, so dass im Effekt eine Vernderung beispielsweise einer problematischen in eine therapeutisch erwnschte Richtung erfolgen wird. Als »hnlichkeit« wird schließlich bezeichnet, wenn zwei Interaktionspartner ein und dieselbe interaktionelle Position einzunehmen suchen (»Was mçchtest du machen?« – »Mir ist es gleich, sag du, ich mache, alles was du mçchtest!«), mit der regelhaften Folge von sich stets wiederholenden Interaktionsschleifen und Stillstand in der Beziehung.
Der INTREX-Fragebogen Das SASB-System kann auf verschiedene Weise genutzt werden. Eine der hufigsten Verwendungen ist die Fragebogenform, der INTREX-Fragebogen, mit dem es mçglich ist, interpersonelle Beziehungen und den introjektiven Umgang einer Person mit sich selbst in einer Art interpersoneller »Rçntgenaufnahme« hçchst differenziert zu betrachten. Den INTREX-Fragebogen kennzeichnet ein »trait x state x situation«-Ansatz, was es erlaubt, nicht nur Personen- und Zustandsmerkmale zu betrachten, sondern diese auch im Zusammenhang mit spezifischen situativen Gegebenheiten. Ganz besonders ist der INTREX-Fragebogen damit fr den Einsatz in der PsychotherapieProzessforschung geeignet, wo es zwangslufig stets auch um situative Einflussfaktoren geht. Sowohl die Langform des INTREX-Fragebogens (Tscheulin u. Glossner, 1993) als auch die auf der Clusterversion des SASB-Modells basierende Kurzform (Ballisoy, 1998) reproduzieren die theoretisch geforderte Zirkumplex-Struktur, wenn auch unterschiedlich gut. In beiden Formen des INTREXBogens sind die Items in der gemß dem Modell geforderten Reihenfolge um den Schnittpunkt der Achsen angeordnet, sie verteilen sich jedoch nicht in
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
335
gleichen Abstnden (Pincus, Gurtman u. Ruiz, 1998a). Dies gilt sowohl fr die englischsprachige als auch die ins Deutsche bertragene Form des SASBModells. Lorr und Strack (1999) konnten zeigen, dass die zirkumplexe Anordnung sich bei Normalpersonen insgesamt gut reproduzieren ließ, whrend sich bei der Untersuchung von psychiatrischen und psychotherapeutischen Patienten eine mangelnde Differenzierung der Itemwerte auf der vertikalen Achse fand. Patienten neigen demgemß dazu, ihre Beziehungen vor allem hinsichtlich der Dimension von liebevoller Zuneigung oder feindlicher Abweisung wahrzunehmen, whrend entlang der Dimension von Emanzipation versus Kontrolle eine differenzierte Wahrnehmung nicht gelingt. Auch bei untersuchten Normalpersonen waren die Cluster 2, 3 und 4 ebenso eng benachbart, wie die Cluster 7 und 8. In vergleichbarer Weise konnten Pincus, Gurtman und Ruiz (1998a) jedoch sowohl an Patienten wie auch an Normalpersonen zeigen, dass die Items sowohl der englischsprachigen Lang- wie der Kurzform eher an eine elliptische, denn an eine ideal kreisfçrmige Struktur anzupassen sind. Von konzeptueller Wichtigkeit ist die weitere Beobachtung dieser Autoren, dass bei gemeinsamer Faktorenanalyse verschiedener mit dem INTREX-Fragebogen beurteilter interpersoneller Beziehungen bezglich der Affiliationsachse die Trennung von transitiver und intransitiver Fokusebene nicht gelingt, whrend dies bei der Interdependenzachse der Fall ist. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass lediglich Interdependenz, nicht aber Affiliation nach interpersonellem Fokus differenziert wird. Benjamin, Rothweiler und Critchfield (2006) haben dazu in jngster Zeit angemerkt, dass mçglicherweise ohnehin die Bedeutung der Affiliationsdimension grçßer als die der Interdependenzdimension sei, da die (Un-)Mçglichkeit zu liebevollem und sicher gebundenem Beziehungsverhalten in einer Vielzahl von Studien enge Beziehungen zu verschiedenen Dimensionen von Psychopathologie gezeigt habe. Die Auswertung des INTREX-Fragebogens erfolgt zweckmßig mit spezieller Software (Hartkamp, 1993a; Tscheulin u. Harms, 2001; Brkle, Mestel u. Stauss, 2004), welche die Antworten des Probanden in geeigneter Form in eine dem Zirkumplex-Modell entsprechende Anordnung bringt und zustzlich aus den Itemantworten abgeleitete Koeffizienten berechnet, die fr die weitergehende Datenauswertung geeignet sind. Dabei werden fr die Auswertung von Einzelfllen die »attack«- (ATK-) und »control«- (CON-) Koeffizienten weithin genutzt (Benjamin, 1988; Wonderlich, Klein u. Council, 1996). Durch positive ATK-Koeffizienten werden Beziehungen gekennzeichnet, die in hohem Maße durch Aggressivitt gekennzeichnet sind, ein hoch ausgeprgter CON-Koeffizient weist auf ein hohes Maß ausgebter Kontrolle (transitiver Fokus), Unterwerfung beziehungsweise Fgsamkeit (inransitiver Fokus) oder Selbstkontrolle (introjektiver Fokus) hin. Die ATK- und CON-Koeffizienten ergeben sich nicht lediglich aus der Addition der Itemwerte, es handelt sich hier
336
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
vielmehr um Korrelationen mit Kosinuskurven, die (fr den ATK-Koeffizienten) um die Cluster 2, 3, 6 und 7 sowie (fr den CON-Koeffizienten) die Cluster 1, 4, 5 und 8 zentriert sind. Aus diesem Umstand ergibt sich eine klare Bimodalitt der Verteilung der ATK- und CON-Koeffizienten (Davies-Osterkamp, Hartkamp und Junkert, 2001), mit der Folge, dass beispielsweise Pearson-Korrelationen oder faktorenanalytische Verfahrensweisen auf diese Daten nicht anwendbar sind. Das pooling mehrerer Korrelationen zur Berechnung der Koeffizienten bringt darber hinaus auch noch das Risiko eines erhçhten Typ-1-Fehlers mit sich. Die ATK- und CON-Koeffizienten sind daher vor allem als kategoriale Kennzeichnung des interpersonellen oder introjektiven Verhaltens eines Individuums geeignet. Eine wenig genutzte Mçglichkeit einige der mit den ATK- und CON-Koeffizienten verbundenen methodischen Schwierigkeiten zu umgehen ist, auf das pooling zu verzichten und zur Berechnung von Koeffizienten lediglich auf die Korrelation mit je einer Kosinuskurve zurck zu greifen, die um das Cluster 3 (Affiliation) beziehungsweise 1 (Autonomie) zentriert sind (»pattern-index P1/P5«). Verbreiteter ist es demgegenber, die Item-Werte zu Affiliations- und Interdependenz-Achsenwerten zu kondensieren (AFF- und INT-Achsenwerte), wobei es in der Literatur verschiedene dazu vorgeschlagene Verfahrensweisen gibt (Benjamin, 1988; Quintana u. Meara, 1990; Paivio u. Greenberg, 1995). Uns erscheint die bei Davies-Osterkamp, Hartkamp und Junkert (2001, S. 202) vorgeschlagene Berechnungsweise konzeptuell am ehesten dem zirkumplexen Ansatz zu entsprechen. Pincus et al. (1998b) verglichen die genannten drei Indizes an einer grçßeren Gruppe mnnlicher Psychologiestudenten und fanden, dass alle Indizes eine gute konvergente Validitt aufweisen. Aufgrund der Normalverteilung der Affiliations- und Interdependenz-Achsenwerte sprechen sie sich dafr aus, diese in der Analyse sowohl von Einzelfllen als auch von kleinen und mittleren wie auch von großen Stichproben bevorzugt einzusetzen. Eine noch przisere Darstellung wird mçglich, wenn aus den Affiliations- und Interdependenz-Achsenwerten resultierende Vektoren errechnet werden, welche sodann mit zirkulren statistischen Methoden (Lienert, 1978) weiter analysiert werden kçnnen.
Interaktionskodierung mit der SASB-Methode Die SASB-Methode liegt nicht nur als Fragebogen vor, sondern auch als Verfahren zur Kodierung von beobachteten Interaktionen (Grawe-Gerber u. Benjamin, 1989; Tress u. Junkert, 1993; Florsheim u. Benjamin, 2001). Der im
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
337
Rahmen dieser bersicht zur Verfgung stehende Raum ermçglicht nur eine knapp zusammengefasste Darstellung des Vorgehens beim Interaktionsrating; fr ausfhrlichere Darstellungen muss auf die oben angegebene Literatur verwiesen werden. Der erste Schritt jeder Kodierung besteht in der Unterteilung des beobachteten Materials in zu kodierende Einheiten. Fr jede Einheit muss dann der Fokus bestimmt werden, wobei es sich oft als schwierig erweisen kann, mehrdeutige oder doppelte Botschaften in ihre Bestandteile zu entflechten. So enthlt zum Beispiel die ußerung »Ich habe die ganze Nacht darauf gewartet, dass du nach Hause kommst!!« sowohl einen – kontrollierenden – transitiven Vorwurf an den Anderen wie auch eine schmollendunterwrfige, intransitive ußerung ber das eigene Befinden. Im nchsten Schritt wird die Ausprgung des Verhaltens auf der Interdependenz- und auf der Affiliationsachse eingeschtzt und so der resultierende Cluster-Wert der Interaktion bestimmt. In manchen Fllen ist eine Interaktion zweiwertig, d. h., es stehen in ihr zwei Interaktionsaspekte unabhngig nebeneinander. In diesen Fllen erfolgt eine »multiple Kodierung« der Interaktion. Davon zu unterscheiden ist die »komplexe Kodierung«, die dann erfolgt, wenn zwei typischerweise gegenstzliche Interaktionsaspekte im Sinne eines »doublebind« miteinander verbunden sind. Komplexitt entsteht, wenn eine verbale ußerung zwei gegenstzliche Aspekte enthlt (»Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?!«: Interesse am Gegenber plus Verurteilung der Handlung) oder wenn Tonfall oder Ausdrucksweise an der Vermittlung der doppelten Bedeutung beteiligt sind (»Das hast du aber sehr gut gemacht, du Armleuchter!!«). Eine dritte Mçglichkeit, eine Interaktion mit mehreren Kodierungen zu kennzeichnen, ist der sogenannte »implizite Prozess«, wo der Inhalt der ußerung eine interpersonelle Beziehung zu einer dritten, mçglicherweise an der Interaktion nicht beteiligten Person erkennen lsst, die gleichwohl fr einen bestimmten Zusammenhang von Interesse ist (Die Mutter sagt zum Vater ber ihre pubertierende Tochter : »Manchmal habe ich so die Nase voll von ihr!«). Die Kodierung von Interaktionen kann nicht nur »mikroanalytisch« auf der Ebene von Gedankeneinheiten erfolgen, sondern auch als »Komposit-Kodierung« auf der Basis von bis zu ca. 2 Minuten langen Interaktionssequenzen (vgl. Hartkamp u. Wçller, 1997). Moore und Florsheim (2001) berichteten, dass die Ergebnisse dieser »Komposit-Kodierung« denjenigen aus der Mikroanalyse von Gedankeneinheiten vergleichbar seien. Zur Auswertung von SASB-Kodierungen steht geeignete Software (Hartkamp, 1993b) zur Verfgung, mittels derer auch fr lngere Interaktionssequenzen charakteristische Affiliations- und Interdependenzkennwerte bestimmt und einfache statistische Auswertungen vorgenommen werden kçnnen. Zur Beurteilung der Reliabilitt der Kodierungen empfehlen Florsheim und Benjamin das gewichtete Cohen’s Kappa im Fall von SASB-Mikroanalysen (vgl. Tress u. Junkert, 1993, S. 258; Grawe-Gerber u. Benjamin, 1989, S. 49 ff.)
338
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
und Intraklassen-Korrelationen im Fall von »Komposit-Kodierungen« (Streiner, 1995). In verschiedenen Studien wurden Reliabilittswerte der Kodierungen unterschiedlicher Rater zwischen 0,60 und 0,95 gefunden (vgl. Florsheim u. Benjamin, 2001, S. 143 f.), so dass die Interaktionskodierung mit der SASB-Methode als ein hinlnglich reliables Verfahren angesehen werden kann.
SASB und das Fnf-Faktoren-Modell der Persçnlichkeit Innerhalb der differenziellen Psychologie hat das Fnf-Faktoren-Modell (FFM) große Bedeutung, welches Persçnlichkeit als Zusammensetzung der Faktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Vertrglichkeit und Gewissenhaftigkeit beschreibt (McCrae u. Costa, 1985). Das FFM ist gegenber dem SASB-Modell jedoch in seiner Ntzlichkeit dadurch eingeschrnkt, dass es ausschließlich deskriptiv ist und in sich keine tiologischen Hypothesen ber die Entstehung psychopathologischer Phnomene enthlt. Demgegenber ist das SASB-Modell ethologisch begrndet (Benjamin, 1974) und befindet sich in bereinstimmung mit Befunden der Suglings- und Bindungsforschung. Weiterhin erlaubt es die Formulierung konkreter, berprfbarer Hypothesen, die biographische Frherfahrung und psychische Stçrungen des Erwachsenenalters miteinander verknpfen. Bezogen auf das ursprngliche, Leary’sche Zirkumplex-Modell wiesen Wiggins und Pincus (1994) darauf hin, dass die Affiliations- und die Dominanzachse des Zirkumplex-Modells konzeptuell der Vertrglichkeits- und der Extraversionsdimension des FFM nahe stehen. Pincus, Gurtman und Ruiz (1998a) konnten in einer gemeinsamen Faktorenanalyse von INTREX-Daten mit den Daten des NEO-FFI-Fragebogens, der das FFM reprsentiert, zeigen, dass intransitives Autonom-Sein in Zusammenhang steht mit der Dimension »Offenheit fr Erfahrung« des FFM, ebenso wie Autonomie auf der Introjektebene mit »Gewissenhaftigkeit« im FFM.
SASB und Bindungstheorie Die von Bowlby (1975) und Ainsworth (Bowlby u. Ainsworth, 1995) begrndete Bindungstheorie thematisiert die Bildung und Ausformung affektiver Bindungen von Kindern an ihre primren Beziehungspersonen. Sie beschreibt weiterhin die Auswirkungen von Trennung und Verlust, die zur Ausbildung psychopathologischer Symptome beitragen kçnnen. Die Bindungstheorie ist
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
339
bedeutsam, weil sie klar macht, dass es sich bei dem Streben nach zwischenmenschlicher Bindung um ein primres menschliches Bedrfnis handelt, und sie ist weiterhin bedeutsam, weil sie die normale kindliche Entwicklung im Spannungsfeld zweier Strebungen beschreibt: zum einen des Strebens nach Bindung oder Affiliation und zum anderen des Strebens nach Exploration und autonomer Differenzierung. Die Bindungstheorie beschreibt verschiedene Typen gestçrter Bindung als »unsicher-ambivalente«, »unsicher-vermeidende« und »desorganisierte« Bindung (Strauß u. Schmidt, 1997), welche als Folge unterschiedlicher verinnerlichter Arbeitsmodelle von Beziehung entstehen. Benjamin (1995) beschrieb diese internen Arbeitsmodelle als »Important People and their Internalized Representations« (»IPIRs«), wobei eine sichere Bindung aus einer berwiegenden Internalisierung von positiv-affiliativen interpersonellen Erfahrungen resultiert, whrend eine Bindungsstçrung sich aus berwiegend negativ-affiliativen Erfahrungen herleitet. In der Sprache des SASB-Modells sind IPIRs Kondensate aus der Erfahrung des (transitiven) Umgangs der Bindungsperson mit dem Individuum, der antizipierten (intransitiven) Reaktionen der Bindungsperson auf das Individuum einschließlich des introjektiven Umgangs der Bindungsperson mit sich selbst, soweit dieser interaktionell erfahrbar wird. Entsprechend besteht das verinnerlichte Arbeitsmodell des Selbst aus den typischen, auf andere gerichteten Verhaltensweisen des Individuums, der charakteristischen Reaktionsweise auf die Handlungen anderer und dem introjektiven Umgang mit der eigenen Person (Florsheim et al., 1996). Die internalisierten Arbeitsmodelle kçnnen in Identifikation mit einer frhen Beziehungsperson entstehen – das Arbeitsmodell dient dann als Vorlage eigener Handlungen –, als Folge einer Introjektion, wodurch die Erfahrungen mit frhen Beziehungspersonen zur Blaupause des Umgang mit der eigenen Person werden oder als Rekapitulation von Erfahrungen mit signifikanten Anderen, wodurch die Beziehungserwartungen an die Erfahrungen mit frhen Beziehungspersonen angepasst werden. Pincus, Dickinson, Schutt, Castonguay und Bedics (1999) berprften in mehreren Studien, ob sich die postulierten Zusammenhnge von SASB und Bindungstyp empirisch verifizieren lassen. Dazu wurden zunchst an einer studentischen Normalpopulation Zusammenhnge zwischen den Ratings im INTREX-Fragebogen und dem Adult Attachment Questionnaire (Bartholomew u. Horowitz, 1991) berprft. Das Adult Attachment Questionnaire erfasst den gegenwrtig berwiegenden Bindungstyp. Hier fanden sich signifikante, wenn auch in der Hçhe geringe Korrelationen insbesondere zwischen der Ausprgung der Affiliationsdimension und des Bindungsverhaltens. Die Autoren zeigten, dass die sicher gebundenen unter den Untersuchten eher positiv affiliative Selbstschilderungen und Schilderungen insbesondere der
340
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
erinnerten Mutterbeziehung abgaben, whrend sich bei den ngstlich und ambivalent gebundenen ein negativer Zusammenhang zwischen Affiliationsdimension im INTREX und Bindungsmerkmalen ergab. In einer weiteren Studie berprften die Autoren die Zusammenhnge zwischen INTREX-Ratings und dem bindungsrelevanten erinnerten elterlichen Verhalten der primren Bezugsperson – in der Regel der Mutter. In dieser Studie konnten die Autoren zeigen, dass Erfahrungen des Zurckgewiesenseins mit einer Neigung der Befragten einhergingen, in ihren Beziehungen weniger Autonomie zuzulassen beziehungsweise zu erfahren. Weiterhin ließ sich zeigen, dass Erfahrungen des Zurckgewiesenseins mit geringerer Affiliation des Introjekts sowohl »in besten Zeiten« wie auch »in schlechtesten Zeiten« einher ging. Schließlich ließen die Untersuchten mit ausgeprgten negativ affiliativen Erinnerungen an die Eltern eine strker ausgeprgt ablehnende Haltung zum gegenwrtigen Zeitpunkt, strker ausgeprgten rger und ein geringeres Vermçgen erkennen, sich genauer an die Elternbeziehung zu erinnern.
Das zyklisch-maladaptive Interaktionsmuster CMP In klinischer Hinsicht besonders ntzlich ist die Verbindung von SASB mit der Formulierung eines dynamischen Behandlungsfokus. In der psychotherapeutischen Forschungsliteratur sind eine Reihe von Vorschlgen fr solche Fokusformulierungen gemacht worden, dabei erweist sich das Modell des zyklisch maladaptiven Beziehungsmusters (CMP, »cyclical maladaptive pattern«, Tress et al., 1996) als besonders praktikabel. Gegenber dem ebenfalls recht verbreiteten Zentralen Beziehungskonflikt-Thema ZBKT (englisch: »CCRT«: Core Conflictual Relationship Theme, Albani et al., 2003) ist es durch die Einbeziehung der introjektiven Dimension als das umfassendere Modell anzusehen. Das CMP-Modell geht zurck auf das Konzept des »dynamischen Fokus« (Schacht et al., 1991), welches jedoch eine strkere Formalisierung und Erweiterung erfuhr. Dieses Modell beschreibt einen maladaptiven Zirkel aus interpersonellen Wahrnehmungen und Befrchtungen, welche bestimmte interpersonelle Verhaltensweisen in Gang setzen, die wiederum – auf dem Weg der Komplementaritt – dazu fhren, dass die signifikanten Bezugspersonen in solch einer Weise reagieren, dass dysfunktionale Introjekte bestrkt werden, was wiederum die vorhandenen interpersonellen Befrchtungen bestrkt. Henry (1994) erweiterte das ursprngliche Modell zunchst um die Dimension des elterlichen interpersonellen Verhaltens, welches durch Internalisierungsprozesse auf die Wahrnehmungen und Befrchtungen eines Individuums Einfluss nimmt. Tress und Mitarbeiter (1996) und zuletzt Tress
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
341
(2007) modifizierten das Modell weiterhin, um ihm die in Abbildung 4 wiedergegebene Fassung zu geben. Dieses erweiterte Modell beschreibt nicht nur die scheiternsfixierten, maladaptiven Interaktionszirkel des ursprnglichen »dynamischen Fokus«, sondern es macht darber hinaus deutlich, wie die inneren Modelle frher Beziehungspersonen auf das selbstbezgliche, introjektive Verhalten, auf Wahrnehmungen, Wnsche und Befrchtungen (also: bertragungsbereitschaften) und auf eigene Verhaltensweisen eines Patienten wirken.
Abbildung 4: Das CMP-Modell nach Tress et al. (1996) und Tress (2007)
Levenson und Strupp (2007, S. 171) fassen die zentralen Elemente des CMP in folgender Weise zusammen: Die Kategorie der Wnsche, Wahrnehmungen und Befrchtungen bezieht sich auf alle Vorstellungen eines Patienten, die
342
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
dieser sich von den mçglichen Reaktionen anderer auf sein interpersonelles Verhalten macht. Beispiele dafr sind: »Mein Chef wird mir kndigen, wenn ich einen Fehler mache«, »Wenn ich ausgehe, wird mich sowieso keiner ansprechen«. Die Verhaltensweisen des Patienten (»acts of self«) schließen Gedanken, Gefhle, Motive, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen interpersoneller Art des Patienten ein. Beispiele dafr sind: »Wenn ich fremde Leute treffe, denke ich, dass die mit mir nichts zu tun haben wollen« (Gedanke), »Ich habe Angst, die Befçrderung anzunehmen« (Gefhl), »Ich mçchte auf der Party im Mittelpunkt stehen« (Motiv), »Ich dachte, sie stnde auf meiner Seite« (Wahrnehmung), »Wenn ich zornig auf meinen Mann bin, fange ich an zu heulen« (Verhalten). Diese Verhaltensweisen kçnnen bewusst sein, sie kçnnen sich aber ebenso außerhalb des Bewusstseins vollziehen. Das Element »Verhaltensweisen der anderen, der Bezugspersonen« umfasst alle Verhaltensweisen anderer Menschen, die der Patient wahrnimmt (oder unterstellt) und in einem bestimmten Sinne auffasst oder interpretiert: »Als ich auf der Arbeit mal was falsch gemacht habe, hat mein Chef mich den ganzen restlichen Tag vçllig bersehen«, »Als ich abends weggegangen bin, haben die mich doch nur aus Mitleid auch mal angesprochen«. Die introjektiven Verhaltensweisen (»acts of the self toward the self«) umfassen alle Verhaltensweisen oder Einstellungen des Patienten zu sich selbst. »Nachdem mir das passiert ist, habe ich innerlich so mit mir geschimpft, dass ich in der Nacht kaum schlafen konnte«, »Als ich wieder keinen kennen gelernt hatte, dachte ich, es ist bestimmt, weil ich so hsslich, fett und doof bin«. Ein so aufgebauter CMP legt es nahe, die einzelnen Elemente nicht nur narrativ zu beschreiben, sondern die maladaptive Interaktionsstruktur dadurch strker zu formalisieren und klinisch und empirisch besser fassbar zu machen, dass die Elemente mit den zugehçrigen SASB-Kodierungen versehen werden (vgl. Wçller u. Tress, 2005; Albert et al., 2003). Dies erscheint insbesondere ein geeignetes Vorgehen, um innerhalb der Ausbildung in psychodynamischer Kurzzeittherapie die Fhigkeit zu reflektierter Handlung (»reflection in action«) zu fçrdern, das heißt die Fhigkeit, den therapeutischen Prozess zu beobachten, whrend man an ihm teilnimmt und effektive Handlungsweisen immer neu zu finden, whrend man sich mitten in der therapeutischen Begegnung befindet (Binder u. Strupp, 1997; Binder, 1999). Bei der Erstellung eines CMP als individueller Fallformulierung und bei der Gestaltung der CMP-basierten Therapie empfiehlt sich ein schrittweises Vorgehen (vgl. Levenson u. Strupp, 2007), wie es in der nachfolgenden Tabelle 1 wiedergegeben ist.
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
343
Tabelle 1: schrittweises Vorgehen bei der Erstellung und therapeutischen Verwendung eines CMP 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7. 8.
9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Den Patienten seine Geschichte, seine Beschwerden und sein Anliegen in seinen eigenen Worten berichten lassen. Den interpersonellen Kontext von Symptomen und Problemen explorieren. Die CMP-Kategorien benutzen, um weitere Informationen zu sammeln, zu ordnen und zu berprfen. Die Aufmerksamkeit auf wiederkehrende Themen im Bericht des Patienten ber gegenwrtige und frhere Beziehungen richten. Zusammenhnge mit dem interaktiven Verhalten in der Sitzung herstellen. Sich mçgliche reziproke und komplementre Reaktionen (Gegenbertragung) vergegenwrtigen. Achtsam-Sein bezglich mçglicher Re-Inszenierungen dysfunktionaler Interaktionen in der therapeutischen Beziehung. Die Reaktion des Patienten auf die sich entwickelnde therapeutische Beziehung explorieren. Ein CMP-Narrativ entwickeln (als prototypische Interaktionsgeschichte), welches das dominierende maladaptive Interaktionsmuster des Patienten erfasst. Wnschenswerte Alternativen im Erleben und Verhalten definieren. Dieses CMP-Narrativ mit den Kodierungen des SASB-Cluster-Modells verbinden. Aus dem CMP die Therapieziele ableiten. Die Zusammenarbeit dadurch strken, dass die maladaptiven Muster, ihre Herkunft und ihr ursprnglich (frher) sinnvoller Zweck verdeutlicht werden. Das aktive Blockieren maladaptiver Muster durch den Patienten untersttzen. Den Patienten in seinem Willen, nderung zu erzielen, aktiv untersttzen, indem sein Bemhen, dysfunktionale Wnsche aufzugeben, bestrkt wird. Neue Erlebens- und Verhaltensmuster erlernen, erproben und bestrken. Das CMP-Muster im Laufe der Therapie revidieren und weiter verfeinern.
Forschung mit SASB Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens hat sich von Beginn an als fruchtbar fr die Forschung insbesondere zu psychotherapeutischen Prozessen erwiesen. In den Vanderbilt-Psychotherapie-Forschungsprojekten wurden erstmals Zusammenhnge zwischen Therapieergebnissen und feinkçrnig-detailliert beobachteten psychotherapeutischen Prozessen untersucht (Henry u. Strupp, 1991). Anhand von Therapieverlufen aus der Vanderbilt-IStudie konnten Henry, Schacht und Strupp (1986) zeigen, dass gnstig verlaufende und scheiternde Therapieverlufe der jeweils gleichen Therapeuten sich nicht hinsichtlich des Einsatzes der therapeutischen Techniken, wohl aber hinsichtlich des interpersonellen Prozesses unterschieden. In Therapien mit
344
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
schlechtem Ergebnis zeigten die Therapeuten ein berraschend hohes Maß an feindselig kontrollierendem Verhalten ihren Patienten gegenber, was diese typischerweise mit rgerlicher Unterwerfung beantworteten. Ebenso waren in den Behandlungen mit schlechtem Ergebnis relativ viele komplexe, also mehrdeutige und in sich widersprchliche Kommunikationen zu beobachten, die in erfolgreichen Therapien nicht auftraten. Vergleichbare Befunde berichtete Coady (1991), der ebenfalls ein hçheres Ausmaß von disaffiliativen Interaktionen in Behandlungen mit schlechtem Ergebnis berichtete, wenngleich seine Ergebnisse aufgrund einer nur geringen Stichprobengrçße keine statistische Signifikanz erreichten. Das Vanderbilt-II-Projekt konnte den nachteiligen Einfluss disaffiliativer und komplexer Kommunikationen seitens des Therapeuten auf das Therapieergebnis besttigen (Henry, Schacht u. Strupp, 1990). In einer spteren Studie konnten Junkert-Tress und Mitarbeiter (2000) nachweisen, dass die gleiche Dynamik auch in Therapien zum Tragen kommt, die in einem Therapieabbruch enden: In 60 % der abgebrochenen Therapien kam es zu negativ getçnten, teils tadelnd feindseligen, teils bersehend-vernachlssigenden Interaktionen, meist komplex in unechte Freundlichkeit verpackt. In einer Mehrzahl von Fllen (fnf von sieben Fllen) bertrafen die Therapeuten sogar ihre Patienten hinsichtlich feindseligkomplexer Interaktionen. In jngster Zeit zeigte Grande (2007) in einer detaillierten SASB-Einzelfallanalyse berzeugend, wie negativ-affiliative und nachteilige therapeutische Interaktionen dadurch entstehen, dass Patienten das Beziehungsgeschehen mit dem Therapeuten auf der Grundlage der jeweils eigenen interpersonellen Schemata wahrnehmen beziehungsweise interpretieren und das eigene Verhalten nach dieser Interpretation ausrichten, so dass eine »pragmatisch paradoxe« (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1974) Situation entsteht, in welcher der Therapeut nicht anders als so handeln kann, wie es dem vom Patienten erwarteten maladaptiven Muster entspricht. Innerhalb des Dsseldorfer Kurzzeittherapie-Projekts (DKZP, JunkertTress et al., 1999) wurden Effekte und Prozesse in auf 25 Sitzungen begrenzten psychodynamischen Kurztherapien bei persçnlichkeitsgestçrten, psychosomatischen (somatoform) und neurotisch erkrankten Patienten untersucht. Fr alle Behandlungsflle wurden CMPs erstellt, die Behandlungen wurden auf Tonband protokolliert und anhand dieser Protokolle supervidiert. Die ersten beiden Behandlungsstunden, sowie die ersten 20 Minuten der 4., 8., 12., 20. und 24. Sitzung wurden transkribiert und einer SASB-Analyse des therapeutischen Prozesses zugefhrt. Sowohl Patienten als auch Therapeuten beschrieben in regelmßigen Abstnden wechselseitig ihre Beziehung mit dem INTREX-Fragebogen. Katamnese-Untersuchungen wurden 6 Monate, 1 Jahr, sowie 2 und 5 Jahre von einem anderen als dem behandelndenTherapeuten durchgefhrt. In dieser Studie erwies sich die so durchgefhrte Kurzzeittherapie als bemerkenswert effektiv : Die Effektstrken zwischen Therapiebeginn
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
345
und Therapieabschluss lagen fr die Fremdeinschtzungen BSS und GAF bei 1,40 und 1,15, was hohen bis sehr hohen Effekten entspricht. In den Selbsteinschtzungen der Patienten mittels der SCL und des INTREX-Fragebogens ergaben sich Effekte zwischen 0,41 und 0,60, was mittleren bis guten Effekten entspricht. berraschend war der Befund, dass insbesondere psychosomatisch erkrankte Patienten von dem Behandlungsverfahren profitierten. In einer weiteren Untersuchung konnten Junkert-Tress und Mitarbeiter (2001) zeigen, dass die Effekte der Behandlung auch ber einen einjhrigen Katamnesezeitraum stabil blieben. Weiterhin konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass eine am zyklisch-maladaptiven Beziehungsmuster ausgerichtete psychodynamisch-interpersonelle Fokaltherapie insbesondere auch bei Persçnlichkeitsstçrungen wirksam ist, so dass keineswegs immer, wie es der traditionellen Sicht entspricht, ein langwieriger und aufwndiger Behandlungsweg erforderlich ist (Tress et al., 2003). Eine Voraussetzung fr erfolgreiche psychodynamische Kurztherapien ist dabei, die zeitliche Begrenztheit als Herausforderung zu begreifen und rechtzeitig im Therapieverlauf aktiv zu thematisieren (Scheibe et al., 1997). Insgesamt ist es in psychodynamischer Kurzzeittherapie ntzlich, sich in Abhngigkeit vom strukturellen Niveau der Patienten bei den Interventionen mehr oder weniger auf das interaktionelle »Hier-und-Jetzt« zu konzentrieren (Albert et al., 2003). Fr den Bereich der stationren Psychotherapie wurde das SASB-Verfahren eingesetzt, um die Frage der Prozessgestalt von stationren Behandlungsverlufen aufzuklren. Tress und Hartkamp (2000) untersuchten dazu stationre Behandlungen und fhrten sowohl SASB-Ratings der videoaufgezeichneten Interaktionen wie auch INTREX-Befragungen der Patienten und ihrer Therapeuten durch. Dieses Vorgehen erlaubte es, den psychotherapeutischen Prozess aus verschiedenen Perspektiven (vgl. Hill u. Lambert, 2004) zu beobachten, um so festzustellen, dass es sich bei der Annahme eines einheitlichen Prozessgeschehens in stationrer Psychotherapie recht eigentlich um einen Mythos handelt, dass es in stationrer Psychotherapie vielmehr um heterogene Prozessverlufe geht, die sich bei den unterschiedlichen Beteiligten zu das konkrete Erleben und Handeln bestimmenden »Prozessphantasien« (Schçttler u. Buchholz, 1993) verdichten. Es bersteigt den Rahmen des vorliegenden Beitrags, die vielfltigen Anwendungen der SASB-Methodik in der Forschung auch nur annhernd erschçpfend darzustellen. Gute bersichten hierzu finden sich bei Constantino (2000) und Benjamin, Rothweiler und Critchfield (2006). Aus dem deutschen Sprachraum sollen hier noch die Untersuchungen von Frick und Seidl (2005) erwhnt werden, die mittels der SASB-Methodik bei Patienten mit orofazialem Schmerzsyndrom charakteristische maladaptive Interaktionsmuster nachweisen konnten, Untersuchungen von Fiedler, Backenstrass, Kronmller und Mundt (1998) zu ehelicher Interaktion und
346
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Rckfallrisiko depressiver Patienten, die in einer prospektiven Studie auf der Basis SASB-kodierter partnerschaftlicher Konfliktgesprche zeigen konnten, dass Patienten ohne Rckfall deutlich weniger Scheu haben als Rckfallpatienten, eigene Gedanken, Gefhle und persçnliche Ansichten klar und offen auszudrcken. Weiterhin fiel auf, dass rckfllige Patienten eher dazu neigten, innerhalb der Partnerbeziehung Lenkung und Kontrolle auszuben, was die Autoren als deutlichen Hinweis auf Misstrauen und Argwohn in der Beziehung werten. Demgegenber waren die rckfallfreien Beziehungen von wechselseitigem Vertrauen geprgt. Mller und Baumann (1999) verfolgten einen interessanten Ansatz, die SASB-Methode zur Untersuchung sozialer Untersttzung und sozialer Belastung einzusetzen. Dazu wurden die Items des INTREX-Fragebogens sprachlich reformuliert und in einem Bogen zusammengefgt, die sich konzeptuell zur berprfung der Dimensionen sozialer Untersttzung und sozialer Belastung eigneten. Erwartungskonform ließ sich zeigen, dass Probanden aus der Allgemeinbevçlkerung in relativ hohem Maße eine Reziprozitt der sozialen Untersttzung erleben, d. h. soziale Untersttzung sowohl geben als auch erhalten (siehe hierzu auch das Kapitel von Johannes Siegrist in diesem Band). Hinsichtlich sozialer Belastung fanden die Autoren, dass Personen der Allgemeinbevçlkerung in relativ geringem Ausmaß ihre sozialen Netzwerke als Quelle sozialer Belastung ansehen, whrend sie gleichzeitig sich selbst nur in geringem Maße als Quelle sozialer Belastungen Anderer ansehen. Das SASB-Fragebogenverfahren erwies sich in dieser Untersuchung als differenzierte und reliable Methode zur Untersuchung von sozialer Untersttzung und sozialer Belastung. Innerhalb der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD2, Arbeitskreis OPD, 2006) hat die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens dadurch eine herausgehobene Stellung gewonnen, dass die Achse II der OPD eine im wesentlichen unmodifizierte bernahme der transitiven und der intransitiven Fokusebene des SASB-Modells darstellt.
Ausblick Mit der Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens und dem zyklisch maladaptiven Interaktionsmuster stehen mchtige Werkzeuge fr die empirische Beobachtung und Gestaltung psychotherapeutischer Interaktionen zur Verfgung. Nicht nur im Kontext psychodynamischer Psychotherapie, auch bei der Untersuchung kognitiver Therapien (Vittengl et al., 2004) oder der DBT (Shearin u. Linehan, 1992), in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern (Adamson u. Lyxell, 1996; Flasher, 2000) oder bei der Untersuchung von psychiatrischen Behandlungen (Jansson u. Eklund, 2002; Harder, 2006) und
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
347
auch außerhalb der Psychotherapieforschung im engeren Sinne (West-Leuer, 2002; Schedin, 2005; Waldherr, 2005) vermçgen diese Verfahren Einblick in die Feinstruktur der interpersonellen Transaktionen und die Innenwelten der Beteiligten zu geben. Sicherlich ist zu wnschen, dass die Modellstruktur insbesondere der ins Deutsche bertragenen INTREX-Kurzform noch weiter berprft und validiert wird, und es ist auch zu wnschen, dass die gleichzeitig klinisch hoch relevante wie auch theoretisch przise und elaborierte SASB-CMP-Methode noch mehr als heute selbstverstndlicher Bestandteil der Weiterbildung von rztlichen und psychologischen Psychotherapeuten wird.
Literatur Adamson, L., Lyxell, B. (1996). Self-concept and questions of life: Identity development during late adolescence. Journal of Adolescence, 19, 569 – 582. Albani, C., Geyer, M., Pokorny, D., Kchele, H. (2003). Beziehungsstrukturen in der Psychotherapieforschung. Eine innerdeutsche Beziehungsgeschichte. In M. Geyer, G. Plçttner, T. Villmann (Hrsg.), Psychotherapeutische Reflexionen gesellschaftlichen Wandels (S. 189 – 240). Frankfurt a. M.: VAS. Albert, S. J., Junkert-Tress, B., Tress, W. (2003). Dynamische Kurzzeitpsychotherapie zwischen Sttzen und Deuten: Therapeutische Interventionen auf der Basis des zyklisch-maladaptiven Beziehungsmusters (CMP) bei Patienten mit unterschiedlichem Niveau der Ich-Funktionen. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 71, 89 – 102. Arbeitskreis OPD (2006). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Bern: Huber. Ballisoy, A. (1998). Die deutsche Kurzform des Intrex-Fragebogens (Version 3.01). Untersuchungen zur Faktorenstruktur. Unverçffentlichte Diplomarbeit, Psychologisches Institut Dsseldorf. Bartholomew, K., Horowitz, L. M. (1991). Attachment styles among young adults: A test of a four-category model. Journal of Personality and Social Psychology, 61, 226 – 244. Bayley, N., Schaefer, E. S. (1964). Correlations of maternal and child behaviors with the development of mental abilities: Data from the Berkeley Growth Study. Monographs of the Society for Research in Child Development, 29 (6), 1 – 80. Benjamin, L. S. (1974). Structural analysis of social behavior. Psychological Review, 81, 392 – 425. Benjamin, L. S. (1979). Use of structural analysis of social behavior (SASB) and markov chains to study dyadic interactions. Journal of Abnormal Psychology, 88, 303 – 319. Benjamin, L. S. (1988). Intrex short form users’ manual and Intrex software. Madison: Intrex Institute.
348
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Benjamin, L. S. (1995). Good defenses make good neighbors. In H. R. Conte, R. Plutchik (Eds.), Ego defenses: Theory and measurement. New York: Wiley. Benjamin, L. S., Rothweiler, J. C., Critchfield, K. L. (2006). The use of structural analysis of social behavior (SASB) as an assessment tool. Annual Review of Clinical Psychology, 2, 83 – 109. Binder, J. L. (1999). Issues in teaching and learning time-limited psychodynamic psychotherapy. Clinical Psychology Review, 19, 705 – 719. Binder, J. L., Strupp, H. H. (1997). »Negative process«: A recurrently discovered and underestimated facet of therapeutic process and outcome in the individual psychotherapy of adults. Clinical Psychology : Science and Practice, 4, 121 – 139. Bowlby, J. (1975/2006). Bindung: eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Mnchen: Reinhardt. Bowlby, J., Ainsworth, M. D. S. (1995). Mutterliebe und kindliche Entwicklung. Mnchen: Reinhardt. Brkle, H., Mestel, R., Stauss, K. (2004). QS-TESTS. Software zur Auswertung und Darstellung psychologischer Testverfahren. Zugriff unter http://www.qstests.de. Coady, N. F. (1991). The association between complex types of therapist interventions and outcomes in psychodynamic psychotherapy. Research on Social Work Practice, 1, 257 – 277. Constantino, M. J. (2000). Interpersonal process in psychotherapy through the lens of the structural analysis of social behavior. Applied and Preventive Psychology, 9,153 – 172. Davies-Osterkamp, S., Hartkamp. N., Junkert, B. (2001). Die Intrex-Kurzform. In W. Tress (Hrsg.), Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens – SASB. Ein Arbeitsbuch fr Forschung und Ausbildung in der Psychotherapie (S. 156 – 220). Heidelberg: Asanger. Jansson, J. ., Eklund, M. (2002). How the inner world is reflected in relation to perceived ward atmosphere among patients with psychosis. Social Psychiatry Psychiatric Epidemiology, 37, 519 – 526. Fiedler, P. (2000). Integrative Psychotherapie bei Persçnlichkeitsstçrungen. Gçttingen: Hogrefe. Fiedler, P., Backenstrass, M., Kronmller, K., Mundt, C. (1998). Eheliche Interaktion und das Rckfallrisiko depressiver Patienten – Eine Strukturanalyse ehelicher Beziehungsmuster mittels SASB. Verhaltenstherapie, 8, 4 – 13. Flasher, L. V. (2000). Cyclical maladaptive patterns: Interpersonal case formulation for psychotherapy with children. Journal of Contemporary Psychotherapy, 30, 239 – 254. Florsheim, P., Benjamin, L. S. (2001). The structural analysis of social behavior observational coding scheme. In P. Kerig, K. M. Lindahl (Eds.), Family observational coding systems: Resources for sytemic research. Mahwah u. London: Lawrence Erlbaum Associates. Florsheim, P., Henry, W. P., Benjamin, L. S. (1996). Integrating individual and interpersonal approaches to diagnosis: The structural analysis of social behavior
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
349
and attachment theory. In F. W. Kaslow (Ed.), Handbook of relational diagnosis and dysfunctional family patterns (pp. 81 – 101). New York: John Wiley and Sons. Freedman, M. B. (1985). Interpersonal circumplex models (1948 – 1983). Journal of Personality Assessment, 49, 622 – 625. Freedman, M. B., Leary T. F., Ossorio A. G., Coffey H. S. (1951). The interpersonal dimension of personality. Journal of Personality, 20, 143 – 161. Frick, E., Seidl, O. (2005). Zur Psychosomatik des chronischen orofazialen Schmerzsyndroms. Eine Pilotstudie mithilfe der strukturalen Analyse sozialen Verhaltens. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 55, 191 – 199. Grande, T. (2007). Wie inszenieren sich dysfunktionale Beziehungsmuster in der Therapeut-Patient-Interaktion? Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 57, 61 – 69. Grawe-Gerber, M., Benjamin, L. S. (1989). Structural Analysis of Social Behavior (SASB): Coding manual for psychotherapy research. Bern: Psychologisches Institut der Universitt. Gurtman, M. B. (1997). Studying personality traits: The circular way. In R. Plutchik, H. R. Conte (Eds.), Circumplex models of personality and emotions (pp. 81 – 102). Washington, DC: American Psychological Association. Hafkenscheid, A. (2003). Objective countertransference: Do patients’ interpersonal impacts generalize across therapists? Clinical Psychology and Psychotherapy, 10, 31 – 40. Harder, S. (2006). Self-image and outcome in first-episode psychosis. Clinical Psychology and Psychotherapy, 13, 285 – 296. Hartkamp, N. (1993a). SHORTFRM.EXE. Computer-Programm zur Verdatung und Auswertung der Intrex-Kurzform. Dsseldorf: Selbstverlag. Hartkamp, N. (1993b). SASBCODE.EXE. Computer-Programm zur Verdatung und Auswertung von Interaktionskodierungen mit der SASB-Methode. Dsseldorf: Selbstverlag. Hartkamp, N., Schmitz, N., Schulze-Edinghausen, A., Ott, J., Tress, W. (2002). Spezifisches Gegenbertragungserleben und interpersonelle Problembeschreibung in psychodynamischer Psychotherapie. Nervenarzt, 73, 272 – 277. Hartkamp, N., Wçller, W. (1997). Analyse einer Teamsupervision aus der Perspektive der SASB-Methode: Was lsst sich ber latente Teamprozesse aussagen? In M. B. Buchholz, N. Hartkamp (Hrsg.), Supervision im Fokus. Polyzentrische Analysen einer Supervision (S. 65 – 82). Opladen: Westdeutscher Verlag. Henry, W. P. (1994). Differentiating normal and abnormal personality : An interpersonal approach based on the Structural Analysis of Social Behavior. In S. Strack, M. Lorr (eds.), Differentiating normal and abnormal personality (pp. 316 – 340). New York: Springer. Henry, W. P., Schacht, T. E., Strupp, H. H. (1986). Structural Analysis of Social Behavior : Application to a study of interpersonal process in differential psychotherapeutic outcome. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 54, 27 – 31.
350
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Henry, W. P., Schacht, T. E., Strupp, H. H. (1990). Patient and therapist introject, interpersonal process, and differential psychotherapy outcome. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 58, 768 – 774. Henry, W. P., Strupp, H. H. (1991). Vanderbilt University : The Vanderbilt Center for Psychotherapy Research. In L. E. Beutler, M. Crago (Eds.), Psychotherapy Research: An international review of programmatic studies (pp. 166 – 174). Washington, DC: American Psychological Association. Herbart, J. F. (1824/1968). Psychologie als Wissenschaft, neu gegrndet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, Kçnigsberg 1824. Amsterdam: Bonset. Hill, C. E., Lambert, M. J. (2004). Methodological issues in studying psychotherapy processes and outcomes. In M. J. Lambert (Ed.), Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change (5th ed.) (pp. 84 – 135). New York: John Wiley. Junkert-Tress, B., Schnierda, U., Hartkamp, N., Schmitz, N., Tress, W. (2001). Effects of short-term dynamic psychotherapy for neurotic, somatoform, and personality disorders: A prospective, 1-year follow-up study. Psychotherapy Research, 11, 187 – 200. Junkert-Tress, B., Tress, W., Hildenbrand, G., Hildenbrand, B., Windgassen, F., Schmitz, N., Hartkamp, N., Franz, M. (2000). Der Behandlungsabbruch – ein multifaktorielles Geschehen. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 50, 351 – 365. Junkert-Tress, B., Tress, W., Scheibe, G., Hartkamp, N., Maus, J., Hildenbrand, G., Schmitz, N., Franz, M. (1999). Das Dsseldorfer Kurzzeitpsychotherapie-Projekt (DKZP). Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 49, 142 – 152. Kiesler, D.J. (1983). The 1982 interpersonal circle: A taxonomy for complementarity in human transactions. Psychological Review, 90, 185 – 214. Kiesler, D. J., Anchin, J. C., Perkins, M. J., Chirico, B. M., Kyle, E. M., Federman, E. J. (1976). The Impact Message Inventory. Richmond: Commonwealth University. LaForge, R. (1985). The early development of the Freedman-Leary-Coffey Interpersonal System. Journal of Personality Assessment, 49, 613 – 621. Leary, T. F. (1957). The Interpersonal diagnosis of personality. New York: Ronald Press. Levenson, H., Strupp, H. H. (2007). Cyclical maladaptive patterns: Case formulation in time-limited dynamic psychotherapy. In T. D. Eells (Ed.) Handbook of psychotherapy case formulation (2nd ed.) (pp. 164 – 197). New York: Guilford. Lienert, G. A. (1978). Verteilungsfreie Methoden in der Biostatistik (Band II). Meisenheim: Anton Hain. Lorr. M., McNair, D. M. (1963). An interpersonal behavior circle. Journal of Abnormal and Social Psychology, 67, 68 – 75. Lorr, M., Strack, S. (1999). A study of Benjamin’s eight-facet Structural Analysis of Social Behavior (SASB) Model. Journal of Clinical Psychology, 55, 207 – 215. McCrae, R. R., Costa, P. T. (1985). Updating Norman’s adequate taxonomy : Intelligence and personality dimensions in natural language and in questionnaires. Journal of Personality and Social Psychology, 49, 710 – 749.
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
351
McIntyre, S. M., Schwartz, R. C. (1998). Therapists’ differential countertransference reactions towards clients with major depression or borderline personality disorder. Journal of Clinical Psychology, 54, 923 – 931. Moore, D. R., Florsheim, P. (2001). Interpersonal processes and psychopathology among expectant and nonexpectant adolescent couples. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 69, 101 – 113. Erratum in: Journal of Consulting and Clinical Psychology, 69, 214. Mller, R., Baumann, U (1999). Das SASB-Modell: Ein Konzept fr Soziale Untersttzung und Soziale Belastung. Zeitschrift fr Differentielle und Diagnotische Psychologie, 20, 272 – 289. Orford, J. (1986). The rules of interpersonal complementarity : Does hostility beget hostility and dominance, submission? Psychological Review, 93, 365 – 377. Paivio, S. C., Greenberg, L. S. (1995). Resolving »unfinished business«: Efficacy of experiential therapy using empty-chair dialogue. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 63, 419 – 425. Pincus, A. L., Ansell, E. B. (2003). Interpersonal theory of personality. In T. Millon, M. Lerner (Eds.), Handbook of psychology (Vol. 5): Personality and social psychology (pp. 209 – 229). New York: Wiley. Pincus, A. L., Dickinson, K. A., Schut, A. J., Castonguay, L. G., Bedics, J. (1999). Integrating interpersonal assessment and adult attachment using SASB. European Journal of Psychological Assessment, 15, 206 – 220. Pincus, A. L., Gurtman, M. B., Ruiz, M. A. (1998a). Structural Analysis of Social Behavior (SASB): Circumplex analyses and structural relations with the Interpersonal Circle and the Five-Factor Model of Personality. Journal of Personality and Social Psychology, 74, 1629 – 1649. Pincus, A. L., Newes, S. L., Dickinson, K. A., Ruiz, M. A. (1998b). A comparison of three indexes to assess the dimensions of Structural Analysis of Social Behaviour. Journal of Personality Assessment, 70, 145 – 170. Pincus, A. L., Ruiz, M. A. (1997). Parental representations and dimensions of personality : Empirical relations and assessment implications. Journal of Personality Assessment, 68, 436 – 454. Quintana, S. M., Meara, N. M. (1990). Internalization of therapeutic relationships in short-term psychotherapy. Journal of Counseling Psychology, 37, 123 – 130. Schacht, T. E., Binder, J. L., Strupp, H. H. (1991). Der dynamische Fokus. In H. H. Strupp, J. L. Binder (Hrsg.), Kurzpsychotherapie (S. 99 – 154). Stuttgart: KlettCotta. Schaefer, E. S. (1959). A circumplex model for maternal behavior. Journal of Abnormal and Social Psychology, 59, 226 – 335. Schaefer, E. S. (1961). Converging conceptual models for maternal behavior and child behavior. In J. C. Glidwell (Ed.), Parental attitudes and child behavior (pp. 124 – 146). Springfield: Thomas Books. Schaefer, E. S. (1997). Integration of configurational and factorial models for family relationships and child behavior. In R. Plutchik, H. R. Conte (Eds.), Circumplex
352
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
models of personality and emotions (pp. 133 – 153). Washington, DC: American Psychological Association. Schedin, G. (2005). Similarity of interpersonal behaviour in career counselling. International Journal for Educational and Vocational Guidance, 5, 37 – 55. Scheibe, G., Junkert-Tress, B., Hildenbrand, G., Tress, W. (1997). Die zeitliche Begrenztheit der psychoanalytischen Kurzpsychotherapie. Herausforderung und Chance. Psychotherapeut, 42, 230 – 236. Schçttler, B., Buchholz, M. B. (1993). »Haltung«, »Prozessphantasie« und »Fortschrittsvorstellung« nach stationrer Psychotherapie – Das Tiefenbrunner Abschlussinterview. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 43, 140 – 149. Shearin, E. N., Linehan, M. M. (1992). Patient-therapist ratings and relationship to progress in dialectical behavior therapy for borderline personality disorder. Behaviour Therapy, 23, 730 – 741. Strauß, B., Schmidt, S. (1997). Die Bindungstheorie und ihre Relevanz fr die Psychotherapie. Teil 2. Mçgliche Implikationen der Bindungstheorie fr die Psychotherapie und Psychosomatik. Psychotherapeut, 42, 1 – 16. Streiner, D. (1995). Learning how to differ : Aggreement and reliability statistics in psychiatry. Canadian Journal of Psychiatry, 40, 60 – 66. Sullivan, H. S. (1953). Interpersonal theory of psychiatry. New York: W.W. Norton. Tress, W. (2007). Psychosomatik der schweren Persçnlichkeitsstçrungen. rztliche Psychotherapie, 2, 133 – 141. Tress, W., Hartkamp, N. (2000). Differente Perspektiven auf den Prozess in stationrer Psychotherapie. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 46, 166 – 179. Tress, W., Henry, W. P., Junkert-Tress, B., Hildenbrand, G., Hartkamp, N., Scheibe, G. (1996). Das Modell des Zyklisch-Maladaptiven Beziehungsmusters und der Strukturalen Analyse Sozialen Verhaltens (CMP/SASB). Psychotherapeut, 41, 215 – 224. Tress, W., Junkert, B. (1993). Prozeßanalyse. In W. Tress (Hrsg.), SASB. Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens. Mnchen: CIP-Medien, 2001, S. 57 – 79. Tress, W., Junkert-Tress, B., Hartkamp, N., Wçller, W., Langenbach, M. (2003). Spezifische psychodynamische Kurzzeittherapie von Persçnlichkeitsstçrungen. Psychotherapeut, 48, 15 – 22. Tscheulin, D., Glossner, A. (1993). Die deutsche bertragung der Intrex ›Longform Questionnaires‹: Validitt und Auswertungsgrundlagen der SASB Fragebogenmethode. In W. Tress (Hrsg.), SASB – Die Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens – Ein Arbeitsbuch (S. 123 – 155). Mnchen: CIP-Medien, 2001. Tscheulin, D., Harms, R. (2001). MakeMapsWin (Version 2). Mnchen: CIP-Medien. Vittengl, J. R., Clark, L. A., Jarrett, R. B. (2004). Self-directed affiliation and autonomy across acute and continuation phase cognitive therapy for recurrent depression. Journal of Personality Assessment, 83, 235 – 247. Waldherr, A. (2005). Kommunikationsstile von Fhrungskrften: Eine strukturelle Analyse des Kommunikationsverhaltens in Fhrungssituationen. Unverçffent-
Norbert Hartkamp: Vom Introjekt zum Diagramm
353
lichte Diplomarbeit, Fakultt Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universitt Hohenheim. Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D. (1974). Menschliche Kommunikation. Formen, Stçrungen, Paradoxien (10. unvernd. Aufl., 2002). Bern: Huber. West-Leuer, B. (2002). Interaktive Beratung und Schulentwicklung. Unverçffentlichte Dissertation, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg. Wiggins, J. S., Pincus, A. L. (1994). Personality structure and the structure of personality disorders. In P. T. Costa, T. A. Widiger (Eds.), Personality disorders and the five-factor model of personality (pp. 73 – 93). Washington, DC: American Psychological Association. Wiggins, J. S., Trobst, K. K. (1997). When is a circumplex an »interpersonal circumplex«? The case of supportive actions. In R. Plutchik, H. R. Conte (Eds.), Circumplex models of personality and emotions (pp. 57 – 80). Washington, DC: American Psychological Association. Wçller, W., Tress, W. (2005). Die psychotherapeutische Behandlung von Persçnlichkeitsstçrungen. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 51, 110 – 127. Wonderlich, S., Klein, M. H., Council, J. R. (1996). Relationship of social perceptions and self-concept in bulimia nervosa. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64, 1231 – 1237.
Peter Joraschky und Katja Petrowski Die therapeutische Beziehung und die Bindungsorganisation des Therapeuten
Die therapeutische Beziehung als Faktor fr den Therapieerfolg Einer der empirisch am besten belegten Befunde der Psychotherapieforschung ist, dass die therapeutische Beziehung positiv mit dem Therapieergebnis korreliert. Vor allem, wenn Patienten durch die Therapie Untersttzung, die Vermittlung von Hoffnung auf Vernderung, Verstndnis, Kompetenz und Vertrauenswrdigkeit erfahren, ist eine therapeutische Allianz aufgebaut. Nach Asay und Lambert (2001) erklrt die therapeutische Beziehung 30 % der Varianz der Vernderung. Als wirksam innerhalb der therapeutischen Beziehung haben sich vor allem folgende Faktoren erwiesen: bedingungsfreies Akzeptieren, einfhlendes Verstehen und Echtheit, Transparenz, Vermittlung von Respekt und Autonomie, Neutralitt, positive Besttigung von Vernderungsschritten, lçsungsorientiertes Umgehen mit Krisen und Aufgreifen der Patientenerwartung. Die Gestaltung des Therapieprozesses nach diesen Kriterien wird ein generelles Anliegen eines jeden Psychotherapeuten aller Schulrichtungen sein. Der Weg, wie diese Kriterien unter welcher Zielvorstellung eingesetzt werden, kann jedoch sehr unterschiedlich ausfallen und ist von verschiedenen Therapiephasen abhngig, etwa inwieweit ein Behandlungsziel die Verbesserung von Freizeitaktivitten oder die Konfliktverarbeitung innerhalb der bertragungsbeziehung ist, wo das bedingungsfreie Akzeptieren durch bertragungskonflikte mit dem Therapeuten belastet werden muss. Hier ergeben sich dann detaillierte Fragen nach der Gestaltung des Prozesses, nach Beziehungsprferenzen und -mustern, die sich zwischen Patient und Therapeut inszenieren, und in diesem Zusammenhang die Fragestellung, wie sich hier die verschiedenen Bindungsstile auswirken. In der therapeutischen Beziehung treten dann die Personenvariablen sowohl des Therapeuten als auch des Patienten zum Beispiel im Beziehungstest in den Vordergrund. Unterschiedliche Bindungsstile kçnnen jeweils unterschiedliche Strken und Schwchen der Beziehungsgestaltung enthalten und beziehen sich vor allem auf Passungsprozesse. Das »allgemeine Modell der Psychotherapie« von Orlinsky und Howard (1987) betont diese Passungsprozesse:
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
355
1. Die Passung zwischen Therapeut und Patient, wobei sich hier auch die Frage nach der Passung von Bindungsorganisationen ergibt. 2. Die Passung von Patient und dem Behandlungsmodell des Therapeuten: Hier stellt sich die Frage, wie sich die Bindungsorganisation des Therapeuten auf seine Behandlungsmodelle auswirkt, zum Beispiel die Prferenzen eines vermeidend-gebundenen Therapeuten fr strker handlungsorientierte Therapiemodelle oder die des ambivalent-verstrickten Therapeuten fr regressive Prozesse und korrektive emotionale Erfahrungen. 3. Die Passung zwischen Stçrung und Therapeut: Der Paartherapeut kann entsprechend seiner Bindungsorganisation bestimmte Stçrungen prferieren, wie etwa der vermeidende Therapeut Phobien oder handlungsorientierte Teile von Therapien wie Essstçrungen, der verstrickte Therapeut zum Beispiel depressive Patienten. Dabei kann auch die Vulnerabilitt des jeweiligen Bindungsstils bedeutsam sein, etwa wenn traumatisierte Patienten von Therapeuten mit unresolved Trauma attrahiert werden. Wo liegen die Strken und Schwchen der jeweiligen Bindungsorganisation bei Patienten und Therapeuten, und wie sehen Konstellationen der jeweiligen Passungen aus? Es sollen zunchst die empirischen Befunde zu der Verteilung von Bindungsorganisation bei Patient und Therapeut dargestellt werden, die in empirischen Untersuchungen erfassten Strken und Schwchen von Konstellationen, um dann klinische Erfahrungen von Passungsprozessen am Beispiel von Angststçrungen darzustellen.
Empirische Untersuchungen Die Patienten – Bindungsorganisation im Kontext von Therapieerfolg Verschiedene empirische Untersuchungen beschftigten sich mit dem Einfluss von Patientenvariablen wie Interaktion, Problemlçsestrategien und Bindung auf den Erfolg der Therapie. Aus einer Studienzusammenfassung von Dozier, Stovall und Albus (1999) bezglich der Verteilung der Bindungsmuster in unterschiedlichen Diagnosegruppen geht hervor, dass die sicher-autonomen den geringsten und die ambivalent-verstrickten Personen den grçßten Anteil besitzen. Ausnahmen diesbezglich stellen schizophrene Erkrankungen und antisoziale Persçnlichkeitsstçrungen mit einem sehr hohen Anteil unsicher-distanzierter Patienten dar. Slade (1999) vermutet jedoch, dass abweisende Patienten seltener in
356
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Studien erfasst werden, weil sie weniger hufig eine Therapie in Anspruch nehmen. Momentan existieren nur wenige Untersuchungen zur Bindungsqualitt als prognostischem Kriterium fr das Therapieergebnis. Die Ergebnisse in der Literatur sind uneinheitlich und schwer zu vergleichen, begrndet unter anderem durch die Anwendung verschiedener Methoden der Bindungsmessung (Mosheim et al., 2000). Das Ausmaß an Bindungssicherheit liefert jedoch interessante Hinweise fr die Prognose des Therapieerfolgs (Mosheim et al., 2000). So konnten Mosheim und Mitarbeiter (2000) eine schwache, aber signifikante Korrelation zwischen dem Erreichen des Therapieziels und der Bindungssicherheit nachweisen. Der Prozentsatz der Therapiezielerreichung lag umso hçher, je strker die Bindungssicherheit der Patienten war. Die am wenigsten sicher-gebundenen Patienten wiesen die schlechtesten Prognosen auf (Mosheim et al., 2000). Obwohl kein Einfluss einer weiteren Differenzierung des unsicheren Bindungsstils auf den Therapieerfolg angenommen wird, fhrten spezifische Bindungsstrukturen bei Patienten mit speziellen Stçrungen (z. B. Persçnlichkeitsstçrungen) zu schlechteren Behandlungsergebnissen (Horowitz, Rosenberg und Bartholomew, 1993; Fonagy u. Tallindini, 1993). Sptere Studien von Fonagy und Mitarbeitern (Fonagy et al., 1996) und Horowitz (1994) kommen bezglich der vermeidenden Bindungsreprsentation jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Laut Fonagy und Mitarbeitern (Fonagy et al., 1996) erreichen vermeidend-gebundene Patienten den gnstigeren Behandlungserfolg. Dagegen spricht die Aussage von Horowitz (1994) ber weniger gute Therapieergebnisse der Patienten mit vermeidendem Bindungsstil zumindest im Rahmen einer Kurzzeitpsychotherapie. Die berlegungen von Slade (1999), der spezifische Eigenschaften mit Relevanz fr die Bildung der therapeutischen Allianz und dem Therapieprozess von ambivalenten und distanzierten Patienten zusammenfasste, scheinen die Studie von Horowitz (1994) zu untersttzen. Er schilderte vermeidende Patienten als khl, distanziert, aber freundlich. Sie seien resistent gegenber der Behandlung und wrden angebotene Hilfe zurckweisen. Bei Ansprache emotionaler Themen wrden unsicher-distanzierte Personen ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken. Hingegen wurden ambivalente Patienten als abhngig und fordernd in ihrem intensiven Ausdruck von Bedrfnissen und Emotionen erlebt. Obwohl sie auch Feindseligkeit gegenber dem Therapeuten provozieren wrden, empfnden sie das Alleinsein bedrohlich. Horowitz (1994) selbst beschrieb analog die widersprchlichen Schemata des Selbst und der Anderen von Patienten mit ambivalentem Bindungsmuster. Distanzierte Patienten seien dagegen durch eher vage Schemata von sich und anderen sowie der Vermeidung enger Beziehungen gekennzeichnet. Die Schwierigkeiten der Patienten bezglich des Vertrauens in andere beein-
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
357
flussten auch deren Fhigkeit, eine therapeutische Beziehung zu bilden (Satterfield u. Lyddon, 1995). Die Kenntnis der Bindungsreprsentation des Patienten kann laut einer Studie von Diamond, Stovall-McClough, Clarkin und Levy (2003) fr das Verstndnis der Affektregulationsstrategien des Patienten sowie Prozesse der Abwehr, bertragung, Gegenbertragung und dem Auftreten von Therapieabbrchen sowie des Therapieprozesses von Bedeutung sein. Whrend vermeidend-gebundene Patienten als Coping-Strategien Mechanismen wie die Verdrngung nutzen, treten bei Personen mit ambivalenter Bindungsreprsentation eher Strategien der primitiven Abwehr wie Abspaltung, Projektion und Dissoziation auf (Slade, 1999; Levine, 2004). Laut Mallinckrodt, Coble und Gant (1995) besteht eine enge Korrelation zwischen der Angst der Patienten vor Ablehnung, ihrer Befrchtung, verlassen zu werden, und einer schlechten Bewertung der therapeutischen Allianz. Konkrete Zusammenhnge zwischen der therapeutischen Allianz und den Bindungsmerkmalen waren bisher eher Bestandteil theoretischer Betrachtungen (Strauß, 2000). Diesbezglich untersuchte eine Studie von Eames und Roth (2000) den Einfluss von Bindungsmustern der Patienten auf die therapeutische Beziehung. Whrend die Ergebnisse fr eine fçrdernde Wirkung der sicheren Bindung hinsichtlich der Entwicklung positiver Allianzen sprechen, korreliert ein unsicherer Bindungsstil mit negativ bewerteten Therapiebeziehungen. Dies spiegelt sich auch in der Beobachtung wider, dass autonome Patienten Behandlungen weniger schwierig empfinden (Korfmacher, Adam, Ogawa u. Egeland, 1997). Sie gelten im Vergleich zu unsicher Gebundenen nicht nur als kooperativer und engagierter in der Problemlçsung, sondern lassen sich auch leichter in Therapieprozesse involvieren (Korfmacher et al., 1997). Trotz der verschiedenen Betrachtungen kann eine Differenzierung des Zusammenhangs Bindungsqualitt-Patient und Therapieerfolg nur mangelhaft erfolgen. Dies kçnnte eventuell in der isolierten Betrachtung des Patienten ohne Bercksichtigung von Therapeutenvariablen begrndet sein.
Die Therapeuten – Bindungsorganisation im Kontext von Therapieerfolg Die Einteilung therapeutenspezifischer Einflussfaktoren bezglich des Therapieergebnisses erfolgt in personenspezifische Variablen sowie in extratherapeutische Faktoren, Erwartungen, Therapietechniken und in allgemeine Faktoren. Zu den allgemeinen Faktoren zhlen Empathie, Wrme und die therapeutische Beziehung. Bisherige Betrachtungen zu personenspezifischen Variablen des Therapeuten im Zusammenhang mit dem Therapieerfolg un-
358
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
tersuchten die Geschlechtspassung, Persçnlichkeit, Kompetenz, Ausmaß an erhaltenem Training beziehungsweise Fort- und Weiterbildung. Whrend zum Beispiel die Geschlechtspassung unabhngig vom Ausbildungsstand oder der theoretischen Orientierung des Therapeuten den Therapieerfolg nur geringfgig beeinflusst, hat die Kompetenz und Interventionstechnik des Therapeuten einen signifikanten Einfluss auf das Therapieergebnis (Bowman, Scogin u. Floyd, 2001; Trepka, Rees u. Shapiro, 2004). Den grçßeren Einfluss besaß jedoch die Qualitt der therapeutischen Allianz. Die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolges wird durch Empathie, Wrme und eine gute therapeutische Allianz erhçht (Lambert u. Barley, 2001). Strauß (2000) geht davon aus, dass die Psychotherapie als zwischenmenschliches Geschehen und die spezifische therapeutische Beziehung in ihrer »Zweiseitigkeit« sicherlich auch durch die Bindungsmerkmale des Therapeuten bestimmt wird. Die Wahrnehmung des Therapeuten und seine Fhigkeit, Beziehungen zu fhren, haben auch Einfluss auf die Qualitt der Beziehung zwischen Therapeut und Patient (Rubino, Barker, Roth u. Fearon, 2000). Therapeuten, welche Nhe als angenehm empfinden, sind fhiger, eine positive therapeutische Allianz zu bilden (Friedlander, 2006). Das Konzept der mtterlichen Feinfhligkeit von Ainsworth (1991) kçnnte als Modell fr die Entwicklung einer positiven therapeutischen Arbeitsbeziehung fungieren (Stuart, Pilkonis, Heap, Smith u. Fischer, 1990). Der Therapeut sollte sich durch ein vorhersagbares, einfhlsames und angemessenes Verhalten auszeichnen, um damit die Voraussetzung einer sicheren Bindung zum Patienten zu schaffen. Dabei sind sicher-gebundene Therapeuten eher in der Lage, auf die unbewussten Bedrfnisse des Patienten zu reagieren und sich den Handlungsweisen dessen Arbeitsmodells zu entziehen (Rubino et al., 2000). Hingegen neigen unsicher-gebundene Therapeuten eher zu einer unreflektierten Verstrickung in die Bedrfnisse des Patienten und sind so weniger hilfreich (Dozier, Cue u. Barnett, 1994). Empirische Studien zu den Charakteristika von Therapeuten wurden bis jetzt nur in geringer Anzahl durchgefhrt. Obwohl man bei Therapeuten von einer geringeren Variabilitt des Bindungsstils im Vergleich zu Patienten ausgeht, muss die Mehrzahl der Therapeuten aber nicht zwangslufig sicher-gebunden sein (Stuart et al., 1990). Dies verdeutlicht eine Studie von Nord, Hçger und Eckert (2000) (siehe Abbildung 1) zu Bindungsmustern von Psychotherapeuten, in der die grçßte Anzahl von 86 betrachteten Therapeuten einen deaktivierten abweisenden Bindungsstil aufweist. Nur 20 % werden anhand des Bielefelder Fragebogens zur Partnererwartung als sicher klassifiziert. Daraus resultiert die Erkenntnis, dass sich die Therapeutengruppe hinsichtlich der Verteilung ihrer Bindungsmuster signifikant von der Normalbevçlkerung unterscheidet. Ein Großteil der Psychotherapeuten dieser Studie (ca. 80 %) zeichnete sich zwar
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
359
Abbildung 1: Bindungsmuster von Psychotherapeuten (aus Nord, Hçger u. Eckert, 2000)
durch geringe Akzeptanzprobleme und große Offenheit, aber ein minimales Bedrfnis nach Nhe aus, was als Ausdruck eines vermeidenden Bindungsstils interpretiert wurde. Vorteile im Hinblick auf die Patientenbeziehung kçnnten die hohe ffnungsbereitschaft und die klaren Grenzen dem Patienten gegenber bieten. Allerdings kçnnte das Vermeiden von Nhe und die Verleugnung eigener Bedrfnisse zu Schwierigkeiten in der Gestaltung einer flexiblen und anpassungsfhigen Patientenbeziehung fhren (Nord et al., 2000). Dagegen spricht man sicher-gebundenen Therapeuten technische und emotionale Flexibilitt im Umgang mit Patienten zu, die ihnen erlaubt, adquat die Wnsche und Bedrfnisse der Patienten aufzugreifen (Kchele, 1992; Nord et al., 2000). Eine Studie von Stuart und Mitarbeitern (Stuart et al.,1990) zu diesem Thema scheint diese Annahme zu bekrftigen. Deren Ergebnis zeigt, dass Patienten von unsicher-gebundenen Therapeuten mit der Therapie unzufriedener waren. Zudem konnten Rubino, Barker, Roth und Fearon (2000) nachweisen, dass unsicher-gebundene Therapeuten weniger empathisch auf die Patienten reagieren. Da also ein Einfluss des Bindungsmusters des Psychotherapeuten auf die therapeutische Allianz nachweisbar ist, sollte im Folgenden die Beziehung
360
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Therapeut-Patient nher betrachtet werden (Rubino et al., 2000; Eames u. Roth, 2000).
Die Konstellation der Bindungsorganisation von Therapeut und Patient im Kontext des Therapieerfolgs Im Hinblick auf den Therapieerfolg sollte man laut bindungstheoretischen und interpersonellen Modellen nicht nur isoliert Patient oder Therapeut betrachten, sondern auch die Interaktionsprozesse zwischen Therapeut und Patient mit in die berlegungen einbeziehen. Diese therapeutische Beziehung zwischen Therapeut und Patient wird auch als therapeutische Allianz bezeichnet. Bordin (1976) definiert die therapeutische Allianz bezglich ihrer drei Bestandteile, den Behandlungsschritten (»tasks«), dem Behandlungsziel (»goal«) und der Bindung zwischen Patient und Therapeut (»bonds«), nher. Die therapeutische Allianz kann laut Bindungstheorie (Bowlby, 1995) und Modellen zu therapeutischen Prozessen als eine Form der Bindungsbeziehung bezeichnet werden (Strauß, 2000). Ihr Ausgangspunkt ist durch die klassische Konstellation eines aktivierten Bindungssystems geprgt: Der Patient sucht Hilfe und Schutz bei dem aus therapeutischer Sicht erfahreneren und weiseren Therapeuten (Nord et al., 2000). Der Therapeut nimmt allerdings nicht die Position einer Bindungsperson ein, da die therapeutische Beziehung jedoch spezifische Besonderheiten aufweist. Ihr liegt ein bewusst durch das Therapieende bestimmter zeitlich begrenzter Rahmen zugrunde (Nord et al., 2000). Bei konsistenter Rollenverteilung wirkt der Therapeut beabsichtigt objektiver und weniger emotional involviert, garantiert dafr aber Diskretion (Farber, Lippert u. Nevas, 1995). Ferner steht der Therapeut dem Patienten nicht 24 Stunden uneingeschrnkt zur Verfgung. Mallinckrodt (2000) geht zudem von einem Einfluss der bindungstheoretisch postulierten Inneren Arbeitsmodelle von Therapeut und Patient auf die therapeutische Beziehung aus. Diese beinhalten jeweils folgende vier Elemente: die Erinnerungen vergangener Bindungserfahrungen, Erwartungen von sich und dem Anderen in der therapeutischen Beziehung, Strategien zur Zielerreichung in dieser Arbeitsbeziehung und Strategien der Stress- und Frustrationsbewltigung (Mallinckrodt, 2000; Collins u. Read, 1994). Wobei das Ziel von Bindungsverhalten bei Erwachsenen das Erreichen oder die Aufrechterhaltung von emotionaler Nhe ist, um ein Gefhl von Sicherheit zu erhalten. Wird das Ziel von Nhe und Sicherheit nicht erreicht oder verluft das Bindungsverhalten frustrierend, wird auf die in dem Inneren Arbeitsmodell verankerten Coping-Strategien zurckgegriffen. Diese bestehen aus
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
361
den essentiellen Methoden der Affektregulation (Collins u. Read, 1994; Mikulincer, 1998). Fr das Verstndnis bestimmter Aspekte der therapeutischen Allianz ist zudem Bowlbys (1988) »Konzept der sicheren Basis« (secure base) von potentieller Bedeutung. Laut Bowlby (1988) soll der Therapeut durch den Aufbau von Vertrauen Vorraussetzungen schaffen, damit der Patient die Reprsentanzen seiner Bindungsfigur, von sich selbst und anderen rekonstruiert und durch die gewonnenen positiven Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung neu strukturiert. Der Therapeut fungiert also als sichere Basis, von welcher aus der Patient unangenehme Erlebnisse explorieren kann. Diese Theorie wird schon seit Jahren erfolgreich unter anderem in der Verhaltenstherapie angewandt: Neue Verhaltensweisen werden, ausgehend von der Gegenwart des Therapeuten als sicherer Basis, erkundet, beispielsweise in der Expositionsbehandlung von Angstpatienten (Stuart, et al., 1990). Dem Therapeuten wird hier die Rolle des Begleiters, Untersttzenden, Ermutigenden und Anleitenden zugeordnet, der frsorglich und konsistent emotional verfgbar ist (Mallinckrodt, 2000). Das Ziel des Patienten in einer therapeutischen Beziehung ist es, Hilfe in konfliktreichen Lebenssituationen von einer »strkeren und weiseren« Person zu empfangen (Farber et al., 1995). Dabei wird der Patient seine Wahrnehmungen und Erwartungen, die ihm durch sein Inneres Arbeitsmodell beziehungsweise die Beziehung zu seiner Bindungsfigur vorgegeben sind, auf die Beziehung zum Therapeuten bertragen. Ein wnschenswertes Ziel in einer erfolgreichen Psychotherapie wre es, bestehende Bindungsmuster trotz deren relativer Stabilitt in Richtung »sicher-gebunden« zu verndern (Strauß u. Schmidt, 1997). Trotz der geringen empirischen Daten zu diesem Thema zeigt eine Studie (Fonagy et al., 1995), dass sich von 35 vermeidend-gebundenen Patienten immerhin 40 % nach einer Langzeitpsychotherapie in Richtung autonom-gebunden entwickelt haben. Durch die Herstellung eines sicheren Inneren Arbeitsmodells soll der Patient unter anderem ein liebenswerteres Bild von sich selbst aufbauen. Nach Grossmann und Grossmann (2002) kçnnen nur Erfahrungen mit bindungssicheren Beziehungsanteilen des Therapeuten eine Neubewertung alter Erfahrungen bewirken. Das Vermeiden von Nhe oder sehr intensive, verstrickte therapeutische Beziehungen fhren dagegen zur Regression und zur Aktivierung frherer Bindungserfahrungen und damit zur erneuten Besttigung dieser (Kçhler, 1996). Zum Beispiel kçnnte eine zu distanzierte therapeutische Haltung fr vermeidende Patienten zu einer Art zwanghafter Wiederholung werden. Diese sehr symmetrischen Hypothesen der Beziehungsgestaltung weisen eher auf Regressionsgefahren in Konstellationen hin, mssen jedoch bercksichtigen, dass die Kompetenz aus Selbsterfahrung und Ausbildung hier auch korrektive Vernderungsmçglichkeiten bereithlt.
362
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Die Maßnahmen der Psychotherapie sollten je nach Grad der Bindungsunsicherheit des Patienten und den dadurch bedingten Beeintrchtigungen auf die jeweiligen Schwerpunkte fokussieren (Stuart et al., 1990). Hopkins (1991) pldiert fr den Einsatz kçrperlichen Kontakts in der Behandlung von Kindern. Zu diesem Aspekt der unbewusst aktivierten Vulnerabilitten und der damit verbundenen Affektregulationen liegen bisher noch wenig Untersuchungen vor, hier ergibt sich das weite Feld der notwendigen nonverbalen Prozessforschung.
Bercksichtigung der Bindungsorganisation im Therapieprozess Da von einem Einfluss der bindungstheoretisch postulierten Inneren Arbeitsmodelle von Therapeut und Patient auf die therapeutische Beziehung ausgegangen wird, kçnnen unterschiedliche Verhaltensweisen des Patienten in der therapeutischen Beziehung je nach Bindungsstruktur postuliert werden. Da vermeidend-gebundene Patienten sich durch große Angst vor Ablehnung ihrer Bindungsbedrfnisse durch helfende Personen wie dem Therapeut auszeichnen, wird die Phase des Vertrauensaufbaus durch eine lngere Dauer und Feindseligkeiten sowie Geringschtzung des Patienten gegenber dem Therapeuten charakterisiert sein. Der Therapeut wird in Erwartung erneuter Ablehnung auf die Probe gestellt (Buchheim, 2005). Stuart (Stuart et al., 1990) vermutet diesbezglich, dass unsicher-distanzierte Personen besonders von einem Angebot an angemessener Untersttzung und Interesse an ihrer Person durch den Therapeuten profitieren. Bindungstheoretisch wre daher ein Fokussieren auf den Ausdruck emotionaler Inhalte in den therapeutischen Interventionen hilfreich. Dagegen steht bei Patienten mit ambivalentem Bindungsstil die Angst vor emotionaler Ausnutzung und dem Verlassenwerden im Vordergrund. In diesem Fall sollte der Therapeut feinfhlig sein, seine konstante Erreichbarkeit beweisen und mit Nachdruck die Fhigkeit des eigenstndigen Handelns des Patienten fçrdern (Buchheim, 2005). Auch das Erlernen von Strategien fr die Strukturierung von Erinnerungen und affektiven Zustnden soll hilfreich fr eine erfolgreiche Therapie sein (Stuart et al., 1990). Die therapeutische Beziehung ist in Abhngigkeit von der Patientenbindung und den Therapeutencharakteristika also sehr variabel. So konnte empirisch ein konsistenter Einfluss von Beziehungsfaktoren (z. B. Empathie) auf den Therapieerfolg nachgewiesen werden. Therapeuten mit ngstlichem Bindungsstil zeigen weniger Empathie speziell im Umgang mit ngstlichen oder sicher-gebundenen Patienten auf (Rubino et al., 2000). Dabei erhçhen große Empathie, Wrme und eine gute therapeutische Allianz die Wahr-
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
363
scheinlichkeit fr ein gutes Therapieergebnis (Lambert u. Barley, 2001). Allerdings wurde in den bisherigen Untersuchungen zur therapeutischen Allianz die Passung der Bindungsqualitt im Zusammenhang mit dem Behandlungserfolg nicht detaillierter betrachtet, obwohl der Bindungsstil sowohl des Therapeuten als auch des Patienten die therapeutische Allianz beeinflusst (Rubino et al., 2000; Eames u. Roth, 2000). Ersten Betrachtungen nach scheinen Patienten mit Therapeuten, die einen anderen Bindungsstil als sie selbst aufweisen, besser arbeiten zu kçnnen. Durch die divergierenden emotionalen Strategien des Therapeuten wird vermutlich das Innere Arbeitsmodell des Patienten nicht besttigt und so eine Neubewertung mçglich (Tyrell, Dozier, Teague u. Fallot, 1999). Hingegen scheint ein berlappen der Konflikte von Patient und Therapeut die Exploration des Kernproblems des Patienten zu behindern (Kantrowitz, 1993). Erste empirische Anstze fr den Beleg eines postulierten Zusammenhangs zwischen Bindungspassung bei Patient und Therapeut und dem Therapieerfolg wurden von Pilkonis und seiner Arbeitsgruppe vorgenommen (Stuart et al., 1990). Die Drop-Out-Rate wurde in Relation zur Therapeutenbindung/Patientenbindung untersucht. Dabei war in der Kombination von unsicher-gebundenen Patienten und weniger sicher-gebundenen Therapeuten die Abbrecherquote am grçßten. Dieses Ergebnis bestrkt die Vermutung des Einflusses von Bindungsvariablen auf den Therapieerfolg.
Klinische Aspekte einer bindungsorientierten Psychotherapie Da die Bindungsorganisation ein sehr stabiles Grundmuster der Beziehungsgestaltung ist, sind durch Therapie vor allem berformungen und die Gestaltung der Auswirkungen der Bindungsorganisation auf Beziehungs- und Konfliktverhaltensmuster anzustreben, vor allem dort, wo durch den unsicheren Bindungsstil bedingt eine Krisenanflligkeit in Beziehungen und eine Stçrungsanflligkeit der Affekt- und Selbstregulation eintritt. Dies sind bei vermeidenden Therapeuten und Patienten vor allem die Affektußerungsbereiche, die Regulation von Nhe, die Vermeidung von Trennungsngsten und eine Rigiditt in der Verarbeitungsfhigkeit von Konflikten. Bei verstricktabhngigen Therapeuten und Patienten sind es vor allem die Regressionsneigung, die Unsicherheit der Selbststrukturierung und -organisation sowie Selbstreflexion und die Neigung, rigide, abhngige Muster einzugehen. Diese Konstellationen sollen in der Folge an Fallbeispielen illustriert werden.
364
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Fallbeispiel A – Vermeidender Bindungsstil Hiervon betroffen sind besonders Angstpatienten, bei denen Trennungs- und Verschmelzungsangst im Mittelpunkt der Persçnlichkeitsorganisation stehen. Mit dem Patienten konnte zunchst verhaltenstherapeutisch ein Stressbewltigungsprogramm, eine von außen festgelegte Strukturierung des Tagesplans mit festen Grenzsetzungen und Entspannungsbungen durchgefhrt werden. Nachdem seine expansive Arbeitswelt durch die Panikattacken faktisch zerstçrt wurde, konnte er ber die Angst die hilfreiche Beziehung zum Therapeuten positiv erleben und als Schutz wahrnehmen. Stundenunterbrechungen, die Verlassenheitsgefhle aktivierten, lçsten wiederholt Kçrperbeschwerden aus, hinter denen Verlustngste und Ohnmachtswut stehen, symbolisiert in der Art, wie er die Beschwerden massiv ußerte. ber den Wechsel von Herz- zu Atembeschwerden erlebte er seinen erstickten Schmerzschrei, er assoziierte die Schocksituation nach der Todesmitteilung seines Vaters und die Unfhigkeit zu trauern. Schmerzhaft brach der Traueraffekt auf, fr den er sich schmte, da er ihn als ber sich hereinbrechend erlebte. Es gelang ihm, die Feinfhligkeit und Empathie seiner Frau zu nutzen, sich von ihr trçsten zu lassen und die angebotene Nhe auch gefhlsmßig annehmen zu kçnnen (siehe Tabelle 1 »Bindungsorientierte Psychotherapie bei Angststçrungen«). Schrittweise war es ihm mçglich, die Abhngigkeit in Zuwendung zu verwandeln. Er gab das Rauchen auf, konnte den Kontakt mit seinen Kindern genießen und hier auch seine Strke, sich die Welt in explorativen Unternehmungen wieder zu einem Spielfeld zu machen, einbringen. Erschwerend blieb, dass die Existenzangst um seine Gastwirtschaft immer die Affektunterdrckung nach dem Verlust des Vaters im Sinne des berlebenmssens wiederherstellte, sodass er immer wieder suchtartig in Arbeit verfiel, wenn er sich in schwierigen emotionalen Prozessen befand. Die Panikattacken hinderten ihn weiterhin an der kontraphobischen Lebensgestaltung, sodass er nach sechs Jahren Therapie ber die Verarbeitung der vermiedenen Trauer einen gravierend vernderten Lebensstil erreichte und seine Fhigkeiten, Emotionen zuzulassen und zu differenzieren, umfassend erweitert hat: »Wenn ich Stress und Verlassenheitsgefhle spre, falle ich nicht mehr bodenlos.«
Fallbeispiel B – Ambivalent-verstrickter Bindungsstil Die Patientin konnte in der stationren Behandlung durch die psychodynamische Therapie profitieren. Die deutliche Verstrickung in familire Beziehungsstrukturen stand im Mittelpunkt der Klrungsprozesse mit Entidealisierung, besseren Abgrenzungen und Fçrderung der selbstreflexiven Kom-
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
365
Tabelle 1: Bindungsorientierte Psychotherapie bei Angststçrungen Grundprinzipien der Psychotherapie bei… vermeidendem Bindungsstil
ambivalent verstrickter Bindungsorganisation
Aktive Beziehungsaufnahme (Prinzipien Fçrderung der bertragungsbeziehung Verfgbarkeit, Verlsslichkeit) Klrung der widersprchlichen bertraVermittlung des Stressmodells gungsmuster Strukturiertes Symptommanagement Strkung der selbstreflexiven Kompetenz Expositionsbungen unter Wahrung der Fçrderung der Selbstkohrenz Autarkie Wahrnehmungssensibilisierung fr Bearbeitung der abgewehrten AggressiKçrpersignale onskonflikte Differenzierung von VerlassenheitsgefhEntspannungsbungen len, Verlorenheits- und Vernichtungsngsten Differenzierung von vermiedenen und Klrung sexueller Triebkonflikte (Schamabgewehrten Angst- und Wutaffekten affekte) Klrung der Aggressionskonflikte Stabilisierung der Grenzendurchlssigkeit Klrung der Partnerkonstellation mit Klrung von Verlusten Empathiefçrderung Vermiedene Trauer unter Einbeziehung von Traumatechniken Erhçhung der Konflikttoleranz und WieNhesensibilisierung und Kontaktderholung und Durcharbeiten in der bungen mit dem Partner (Entngstibertragung gung der Nhesituation) Empathiefçrderung fr das eigene ignorante Verhalten
petenz. Hierdurch gewann sie Distanz, und die widersprchlichen Episoden mit ihrer Mutter, dem Bruder und dem Vater konnten entflochten werden. Die mangelnde Objektkonstanz machte es verstndlich, dass stndig wechselnde Konfliktmuster durch den Stress der Panik aktiviert wurden, die wiederum eine vielfltige berfrsorge in Nhesituationen im Wechsel mit latenten distanzierenden Interaktionen fçrderten. Durch die Einbeziehung des Partners wurde deutlich, dass er durch vermeidenden Bindungsstil neben den oberflchlichen Beziehungsaktivitten, Stadtrat, Kirchengemeinderat und Helfer im ganzen Dorf persçnliche Beziehungen mied, Emotionen ausklammerte und fr die Ehefrau nicht erreichbar war, whrend er an der kollektiven Wertschtzung seiner Person als »Sulenheiliger« in der Kleinstadt teil hatte. Neben dieser Vorzeigeseite war er hufig abwesend, ging leidenschaftlich
366
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
seinem Segelhobby nach und ließ hinter der pastoralen Fassade durchaus ein Doppelleben erahnen. Die Patientin kam wieder, nachdem im stationren Bereich ber die Therapie eine weitgehende Symptomfreiheit erzielt wurde – insbesondere spielte auch die Fhigkeit, ihr eigenes soziales Netz zu aktivieren, als Ressource eine große Rolle – als ihr Mann ihr aus scheinbar heiterem Himmel seine Scheidungsabsicht unterbreitete. Er habe eine zwanzig Jahre jngere Frau gefunden, die nun von ihm schwanger sei, und er sei glcklich. Es folgte eine Schlammschlacht mit Kampf um das Sorgerecht. Er entzog ihr die Unterhaltszahlungen, umgab sich mit besten Anwlten, betrieb Stalking, entzog den Kindern die Studienuntersttzung, sodass sie sich verraten fhlte, aber auch »in den Wahnsinn getrieben« und manipuliert. In dieser Phase konnte rekonstruiert werden, dass ihr Mann die Verlassenheitstraumata bei seiner Mutter mit narzisstischer Wut auf sie projizierte und ausagierte. Es gelang mit Hilfe des Vaters, die Patientin noch materiell zu untersttzen, und in fnfjhriger Therapie die projektiven Identifikationen ihres Mannes zu entgiften und eine berufliche Autonomie abzusichern. Nachdem es im Rahmen der ambivalenten Bindungskonstellation um Konfliktklrung, Aufhebung der Inkohrenz kognitiver Strukturen und schließlich Durcharbeiten der Konfliktfelder ging (Tabelle 1 »Bindungsorientierte Psychotherapie bei Angststçrungen«), war es in der zweiten Behandlungsphase eine typische Konstellation, die fr Chronifizierungsprozesse nicht selten ist. Diese resultiert daraus, dass der vermeidende Partner nicht nur erfolgreich Konfliktsituationen vermeidet, sondern in der Interaktion mit dem Nhesuchenden, der unter extremem Panikdruck steht, gegenber der Anklammerung wegstoßend und absolut unerreichbar ist. Besonders schwierig ist die Konstellation von Partnern mit vermeidender Bindungsorganisation und Traumatisierung, die dann im Rahmen projektiver Identifikationszirkel ausagiert werden, wie in diesem Fallbeispiel, wo traumatisierende bergriffe meist nur durch Trennung zum Stillstand gebracht werden.
Fallbeispiel C – unresolved trauma Im Mittelpunkt der Therapie stand zunchst der interpersonelle, partnerschaftliche Fokus. Der Patient brachte die Panik, die er als traumatische Ohnmacht erlebte, in die Beziehung zu seiner Frau in der Form ein, dass sie stndig zur Verfgung zu stehen hatte. Die Ehefrau erlebte diese Willkr als unertrgliche Abhngigkeit in Form von Wechselbdern, kaum war die Panik abgeklungen, wies der Patient seine Zuwendung zu seiner Frau zurck. Der kontraphobische, vermeidende Bindungsstil wurde in Form von Feinfhlig-
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
367
keitstraining fr die Nhe-Distanz-Regulierung bearbeitet. Durch Vermittlung der biographischen Hintergrnde fr die harten Beziehungsschemata ihres Mannes konnte die Ehefrau ihre guten Konflikttoleranzen als Ressourcen in die Therapie einbringen. Die Entwicklung der Sensibilisierung gegenber Kçrpersignalen umfasste Entspannungsbungen, kçrpertherapeutische Interventionen (funktionelle Entspannung), Achtsamkeitstraining sowie Affektdifferenzierung. Es gelang dem Patienten zunehmend besser, Angst, Aggression und sexuelle Triebimpulse zu differenzieren und die begleitenden vegetativen Reaktionen und Muskelanspannungen wahrzunehmen. Die Bearbeitung der Wechsel in der Enterozeption zwischen berngstlicher Wahrnehmung und Ignoranz, die auch dem mtterlichen Beziehungsmuster entsprechen, war besonders schwierig, da der Patient unter Stress die Kçrpersignale nicht wahrnehmen konnte. Hier sensibilisierte sich der Patient in Form eines selbstentwickelten autohypnotischen Verfahrens, wo er sich die Kindheitserinnerungen zunehmend zugnglich machte, Affektdurchbrche erlebte. Im Sinne einer Trauma-Selbsttherapie erinnert er abgespaltene Episoden und verarbeitet diese affektiv. Parallel zu der Feinfhligkeitsentwicklung wurde der Patient in seinem interpersonellen Umgangsstil bei der Arbeit reflektierter, er war behutsamer, er nutzte Supervisionen, um die Strukturen im Hinblick auf die Arbeitsatmosphre zu verndern. Nach drei Jahren Therapie gelang es dem Patienten, sich erstmals auch in den Armen seiner Frau zu entspannen, erlebte Hautkontakt nicht mehr als bedrohlich mit den ngsten, fallengelassen zu werden. Der Patient sieht seine Persçnlichkeitsentwicklung nach einer fnfjhrigen Therapie als geglckt, auch wenn er durch seine Selbstvernderung die Ttigkeit als hartgesottener Manager nicht mehr mit sich vereinbaren konnte und sich im beruflichen Status verschlechterte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die dargestellten Therapeut-Patient-Konstellationen unter den typischen Merkmalen der Bindungsunsicherheit unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen erfordern. Diese therapeutischen Strategien orientieren sich an den Unterschieden der Affektregulation, vermeidend versus berinvolviert, wobei diese Stile sich kollusiv verstrken kçnnen. Als Ausblick muss zustzlich bercksichtigt werden, dass ein großer Teil der komplex gestçrten Patienten in die Kategorie unresolved Trauma der Bindungstypologie fllt, welche zustzliche Affektvulnerabilitten (neben der Aggression vor allem im Bereich Ekel und Scham) einbezieht. Hier ist noch großer Forschungsbedarf im Hinblick auf die interaktive Affektsteuerung sowohl im nonverbalen Bereich wie in der Selbstregulation, sodass bislang nur die Grundzge einiger typischer Konstellationen dargestellt werden konnten.
368
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Literatur Ainsworth, M. (1991). An ethnological approach to personality development. American Psychologist, 46 (4), 333 – 341. Asay, T. P., Lambert, M. J. (2001). Empirische Argumente fr die allen Therapien gemeinsamen Faktoren: Quantitative Ergebnisse. In M. A. Hubble, B. L. Duncan, S. D. Miller (Hrsg.), So wirkt Psychotherapie: Empirische Ergebnisse und praktische Folgerungen (S. 41 – 81). Dortmund: Verlag Modernes Lernen. Bordin, E. S. (1976). The generalizability of the psychoanalytic concept of the working alliance. Psychotherapy : Theory, Research and Practice, 16, 252 – 260. Bowlby, J. (1988). A secure base: Clinical application of attachment theory. London: Routledge. Bowlby, J. (1995). Elternbindung und Persçnlichkeitsentwicklung: Therapeutische Aspekte der Bindungstheorie. Heidelberg: Dexter. Bowman, J. M. (2001). Midlife mothers and adolecent daughters: Whose transition is it? Dissertation Abstracts International Section A: Humanities and Social Sciences, 62 (2-A), 803. Bowman, R., Scogin, F., Floyd, M. (2001). Psychotherapy length of stay and outcome: a meta-analysis of the effect of therapist sex. Psychotherapy : Theory, Research, Practice, Training, 38 (2), 142 – 148. Buchheim, a. (2005). Unerreichbare Bindung – Ein Paradoxon? Persçnlichkeitsstçrungen Theorie und Therapie, 9 (3), 155 – 164. Collins, N. L., Read, S. J. (1994). Cognitive representations of adult attachment: The structure and function of working models. In K. Bartholomew, D. Perlman (Eds.), Advances in personal relationships Vol. 5: Attachment process in adulthood (pp. 53 – 90). London: Jessica-Kingsley. Diamond, D., Stovall-McClough, C., Clarkin, J.F., Levy, K.N. (2003). Patient-therapist attachment in the treatment of borderline personality disorder. Bulletin of the Menninger Clinic 67 (3), 227 – 259. Dozier, M., Cue K. L., Barnett, L. (1994). Clinicians as caregivers: Role of attachment organisation and treatment. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 62, 793 – 800. Dozier, M., Stovall, K. C., Albus, K. E. (1999). Attachment and psychopathology in adulthood. In J. Cassidy, P. R. Shaver (Eds.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications (pp. 497 – 519). New York u. London: The Guilford Press. Eames, V., Roth, A. (2000). Patient attachment orientation and the early working alliance – A study of patient and therapist reports of alliance quality and ruptures. Psychotherapy Research, 10 (4), 421 – 434. Farber, B. A., Lippert, R. A., Nevas, D.B. (1995). The therapist as attachment figure. Psychotherapy, 32, 204 – 211. Fonagy, P., Steele, H., Steele, M., Leigh, T., Kennedy, R., Mattoon, G., Target, M. (1995). Attachment, the reflection of self, and borderline states. The predictive
Peter Joraschky und Katja Petrowski: Die therapeutische Beziehung
369
specifity of the adult attachment interview and pathological emotional development. In S. Goldberg, R. Muir, J. Kerr (Eds.), Attachment theory : Social developmental and clinical perspectives (pp. 233 – 278). New Jersey : Lawrence Erlbaum. Fonagy, P., Steele, M., Steele, H., Leigh, T., Kennedy, R., Mattoon, G., Target, M., Gerber, A. (1996). The relation of attachment status, psychiatric classification, and response to psychotherapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 64 (1), 22 – 31. Fonagy, P., Tallindini, M. (1993). On some problems of psychoanalytic research in practice. Bulletin of the Anna Freud Center, 16, 5 – 22. Friedlander, R. (2006). Review of crying as a sign, symptom and a signal. Journal of the Canadian Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 15 (1), 40 Grossmann, K. E., Grossmann, K. (2002). Klinische Bindungsforschung aus der Sicht der Entwicklungspsychologie. In B. Strauß, A. Buchheim, H. Kchele (Hrsg.), Klinische Bindungsforschung: Methoden und Konzepte (S. 295 – 318). Stuttgart: Schattauer. Hopkins, J. (1991). Failure of the holding relationship: Some effects of physical rejection on the child’s attachment and inner experience. In C. M. Parkes, J. Stevenson-Hinde, J. P. Marris (Eds.), Attachment across the life cycle (pp. 187 – 198). New York u. London: Routledge. Horowitz, L. M. (1994). Personenschemata, Psychopathologie und Psychotherapieforschung. Psychotherapeut, 39, 61 – 72. Horowitz, L. M., Rosenberg, S. E., Bartholomew, K. (1993). Interpersonal problems, attachment styles, and outcome in brief dynamic psychotherapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 61, 549 – 560. Kchele, H. (1992). Die Persçnlichkeit der Psychotherapeuten und ihr Beitrag zum Behandlungsprozeß. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 38, 227 – 239. Kantrowitz, J. L. (1993). The uniqueness of the patient-analyst pair : Approaches for elucidating the analyst’s role. International Journal of Psychoanalysis, 71, 9893 – 9904. Kçhler, L. (1996). Entstehung von Beziehungen: Bindungstheorie. In R. Adler, J. Herrmann, K. Kçhle, O. W. Schonecke, T. von Uexkll, W. Wesiack (Hrsg.), Uexkll. Psychosomatische Medizin (S. 222 – 230). Mnchen: Urban & Schwarzenberg. Korfmacher, J., Adam, E., Ogawa, J., Egeland, B. (1997). Adult attachment: Implications for the therapeutic process in a home visitation intervention. Applied Developmental Science, 1 (1), 43 – 52. Lambert, M., Barley, D. (2001). Research summery on the therapeutic relationship and psychotherapy outcome. Psychotherapy : Theory, Research, Practice, Training, 38 (4), 357 – 361. Levine, H.B. (2004). Review of relationality : from attachment to intersubjectivity. Psychoanalytic Quarterly, 73 (3), 828 – 836.
370
Teil 4: Psychoanalytische und psychotherapeutische Beitrge
Mallinckrodt, B. (2000). Attachment, social competencies, social support and interpersonal process in psychotherapy. Psychotherapy Research, 10, 239 – 266. Mallinckrodt, B., Coble, H.M., Gant, D. L. (1995). Working alliance, attachment memories, and social competencies of women in brief therapy. Journal of Counseling Psychology, 42 (1), 79 – 84. Mikulincer, M. (1998). Attachment working models and the sense of trust: An exploration of interaction goals and affect regulation. Journal of Personality and Social Psychology, 74, 1209 – 1224. Mosheim, R., Zachhuber, U., Scharf, L., Hofmann, A., Kemmler, G., Danzl, C., Kinzl, J., Biebl, W., Richter, R. (2000). Bindung und Psychotherapie. Psychotherapeut, 45, 223 – 229. Nord, C., Hçger, D., Eckert, J. (2000). Bindungsmuster von Psychotherapeuten. Persçnlichkeitsstçrungen, 4, 74 – 86. Orlinsky, D. E., Howard, K. L. (1987). A genetic model of psychotherapy. Integrative Eclectic Psychotherapy, 6, 6 – 27. (dt. Orlinsky, D. E., Howard, K. L. (1988). Ein allgemeines Psychotherapiemodell. Integrative Therapie, 4, 281 – 308.) Rubino, G., Barker, C., Roth, T., Fearon, P. (2000). Therapist empathy and depth of interpretation in response to potential alliance ruptures. The role of therapist and patient attachment styles. Psychotherapy Research, 10, 408 – 420. Satterfield, W. A., Lyddon, W. J. (1995). Client attachment and perceptions of the working alliance with counsellor trainees. Journal of Counseling Psychology, 42, 187 – 189. Slade, A. (1999). Attachment theory and research: Implications for the theory and practice of individual psychotherapy with adults. In J. Cassidy, P. R. Sahver (Eds.), Handbook of attachment: Theory, research and clinical applications (pp. 575 – 594). New York: Guilford. Strauß, B. (2000). Ist die therapeutische Arbeitsbeziehung eine Bindungsbeziehung? Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, 21 (4), 381 – 397. Strauß, B., Schmidt, S. (1997). Die Bindungsstheorie und ihre Relevanz fr die Psychotherapie. Teil 2. Mçgliche Implikationen der Bindungstheorie fr die Psychotherapie und Psychosomatik. Psychotherapeut, 1 – 16. Stuart, S., Pilkonis, P. A., Heap, C., Smith, K., Fischer, B. (1990). The patient-therapist-match in psychotherapy : Effects of security of attachment and personality style. Department of Psychiatry, University in Pittsburgh. Trepka, C., Rees, A., Shapiro, D. (2004). Therapist competence and outcome of cognitive therapy for depression. Cognitive Therapy and Research, 28 (2), 143 – 157. Tyrell, C. L., Dozier, M., Teague, G. B., Fallot, R. D. (1999). Effective treatment relationships for persons with serious psychiatric disorders. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 67, 725 – 733.
Teil 5 Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung
Klaus Lieberz Perspektiven der Psychosomatischen Medizin
Als »Schicksalsstunde der Psychotherapie« kann das Jahr 1925 gelten. Die psychotherapeutisch interessierten rzte fhlten sich von den jeweiligen Fachgesellschaften und Berufsverbnden, insbesondere den psychiatrischen, nicht mehr vertreten. Dabei scheinen die in diesem Jahr stattgefundenen Kongresse das Fass zum berlaufen gebracht zu haben (Schultz, 1927; Lieberz, 2000). J. H. Schultz stellte in seiner programmatischen Schrift »Die Schicksalsstunde der Psychotherapie« die zentralen Fragen der Institutionalisierung der Psychotherapie: a. die Ausbildungsfrage und b. die Facharztfrage. Als Fernziel sollte eine »universell« genannte Psychotherapie berufen sein, »als durchgreifender Gesichtspunkt […] die Sonderdisziplinen der Medizin wieder zu vereinigen in der Beziehung auf den leidenden Menschen« (Schultz, 1927, 552 ff.). Was ist nun aus diesem Integrations- oder Einheitsgedanken geworden? Ein Blick in das Handbuch fr Psychotherapie (Corsini, 1983) zeigt, dass es mittlerweile ca. 600 sogenannte Psychotherapien gibt. Trotz der neuerdings wieder propagierten »Allgemeinen Psychotherapie« und einiger Versuche, verschiedene therapeutische Anstze im »universellen« Sinne »integrativ« zusammenzufhren, sind wir offensichtlich von diesem Ziel weit entfernt, mçglicherweise weiter entfernt als vor 80 Jahren. Dies zeigt auch ein Blick auf die Verbndelandschaft. Was sich bereits vor mehr als 80 Jahren andeutete, hat sich heute in aller Deutlichkeit herauskristallisiert. Eine unbersehbare Vielfalt von Grppchen, Gruppen und Verbnden tummelt sich auf dem psychotherapeutischen Terrain. Die Psychiatrie hat sich nur unter ußerem Druck der Psychotherapie geçffnet. Wir sehen einerseits die Gesellschaften »der Spezialisten«, die Deutsche Gesellschaft fr Psychosomatische Medizin und rztliche Psychotherapie (DGPM) und die Deutsche Gesellschaft fr Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) (die sich in herzlicher Feindschaft verbunden sind) und auf der anderen Seite die Psychoanalytiker, die seit der Diskussion um die Laienanalyse in den 1920er Jahren der Medizin eher reserviert und in gemischten Gesellschaften wie beispielsweise der Deutschen Gesellschaft fr Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) gegenberstehen.
374
Teil 5: Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung
Die Medizin ihrerseits leistet insbesondere im universitren Bereich hinhaltenden Widerstand gegen die Integration von Psychotherapie. Hier herrscht die schon von Kronfeld (1927a, b) beschriebene und durchaus positiv gewrdigte starke naturwissenschaftliche Wissenschaftsauffassung vor, welche mit hohen Qualittsstandards verbunden ist und – was auch heute noch von wesentlicher Bedeutung ist – einen nicht zu unterschtzenden Schutz gegenber jeder Form von »Kurpfuscherei« bietet. Andererseits fhrt dieser Widerstand leider weiterhin dazu, dass viele psychotherapeutisch interessierte rzte sich nach einer psychotherapeutischen Weiterbildung innerlich von »der Medizin« abwenden und dass sich die psychotherapeutische Versorgung und Forschung in Zukunft leicht aus der Medizin herausentwickelt und damit die Spaltung in eine »seelenlose« somatische Medizin und eine »kçrperlose« Psychotherapie begnstigt wird. Dieses Spannungsfeld zwischen Erwerbssinn, Geltungsdrang und Machtanspruch zu berbrcken, wird uns auch in den nchsten Jahren stark beschftigen. Aber vielleicht sollten wir uns angesichts dieser Entwicklungen auch fragen, ob Integration berhaupt mçglich, ja wnschenswert ist? War dies vielleicht ein verstndlicher aber unrealistischer Wunsch, geboren aus einer Zeit, in der durch Kriegsjahre und nachfolgende gesellschaftliche Auseinandersetzungen die Rckbesinnung auf »die Gemeinsamkeiten« wieder strker in den Vordergrund rckte. Legt die Entwicklung nicht vielmehr nahe, dass wir die Lage differenzierter betrachten mssen? In berufspolitischer Hinsicht – dies zeigt der krzlich erfolgte Zusammenschluss der rztlich-psychotherapeutischen Gesellschaften, nmlich der Allgemeine rztliche Gesellschaft fr Psychotherapie (AGP) und DGPM (Deutsche Gesellschaft fr Psychosomatische Medizin) zur neuen DGPM (Deutsche Gesellschaft fr Psychosomatische Medizin und rztliche Psychotherapie) – ist der Integrationsgedanke wohl immer noch modern und vielleicht vordringlicher denn je. In der praktischen Ttigkeit und wissenschaftlichen berprfung aber kann Integration sehr nachteilige Folgen haben, wenn Integration nmlich darauf hinaus luft, dass wir uns auf den »kleinsten gemeinsamen Nenner« einigen. Dann ist Integration der »Feind« jedes Verbesserungswunsches. Es wird deshalb wohl auf lngere Sicht Differenzierung sinnvoll und notwendig sein, um – soweit wie mçglich – die Spreu vom Weizen trennen zu kçnnen. Das zentrale Thema der Geburtsstunde der rztlichen Psychotherapie 1925 war zweifellos das, was wir heutzutage mit dem Begriff Qualittssicherung bezeichnen wrden. Diesen Bereich kçnnen wir in folgende drei Komplexe unterteilen: 1. Existenzielle Absicherung, attraktive Bezahlung, 2. Aus-, Weiter- und Fortbildung, 3. Wissenschaft und Forschung, Hochschulmedizin.
Klaus Lieberz: Perspektiven der Psychosomatischen Medizin
375
Arthur Kronfeld (1927a, b) formulierte die entscheidende Frage so: Wie kann sich die Psychotherapie als Wissenschaft und als rztliche Kunst vor der Entwertung zu einer Modesache schtzen? Wenn wir uns die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte ansehen, dann fllt vor allem die konsequente Verfolgung dieser Qualittssicherungsthemen ins Auge. Aufbauend auf erste Anfnge in den 1920er Jahren in der Preußischen Gebhrenordnung (PREUGO) und der Allgemeinen Deutschen Gebhrenordnung (ADGO) wurde 1967 beziehungsweise 1971 Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen. Damit war berhaupt erstmals eine wirtschaftliche Basis fr den Beruf des Psychotherapeuten geschaffen. Es ist klar, dass es hier um die Voraussetzung fr eine professionelle Psychotherapie geht. Nur eine attraktive Bezahlung wird auch qualifizierten Nachwuchs anziehen. Die mit der sogenannten Richtlinien-Psychotherapie mittlerweile erstrittene Regelung einer »gesttzten«, das heißt festgelegten Vergtung pro Zeiteinheit gestattet eine berechenbare Gestaltung der Praxis des rztlichen Psychotherapeuten. Auch die mit dem mittlerweile erkmpften Facharzt fr Psychosomatische Medizin verbundene Einbeziehung in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) der Gebhrenordnung ist als großer Fortschritt zu betrachten, auch wenn eine angemessene Bewertung der rztlich-psychotherapeutischen Leistungen noch aussteht. Zudem fehlen weiterhin die Voraussetzungen dafr, dass der Facharzt sich nicht allein auf eine rein psychotherapeutische Ttigkeit zurckziehen muss, sondern seiner Aufgabe als Bindeglied zwischen somatischer und psychosozialer Medizin besser gerecht werden kann. Dies betrifft insbesondere auch die dringend notwendige bessere Vernetzung der Psychosomatischen Praxen mit den rzten anderer medizinischer Disziplinen einerseits und den psychotherapeutischen Praxen andererseits. Trotz der mit dem Fach zweifellos verbundenen Individualisierung der Behandlung, sollte der bis heute festzustellenden Tendenz zum Rckzug in die Einzelpraxis entgegengewirkt werden. Der Facharzt fr Psychosomatische Medizin gehçrt vordringlich in rztehuser (Lieberz, 1996) oder zum Beispiel Medizinische Versorgungszentren. Das Schicksal des psychosomatisch Kranken entscheidet sich nun mal vornehmlich an den Schnittstellen zum Allgemeinmediziner, Orthopden, Gynkologen und anderen. Zur Verbesserung der Versorgung der Patienten trgt deshalb zu allererst eine Verbesserung in der Kommunikation zwischen den rzten der verschiedenen Disziplinen bei. Neben dem Allgemeinmediziner hat dabei besonders der Facharzt fr Psychosomatische Medizin Koordinierungsfunktionen. Entsprechende Ziffern mit Bercksichtigung dieser besonderen Leistungen fehlen leider bis heute in der Gebhrenordnung. Die sogenannte Richtlinien-Psychotherapie ist ein ausgesprochenes Erfolgsmodell. Diese hat sich in weitblickender Weise auch als Qualittssiche-
376
Teil 5: Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung
rungsinstrument etabliert. Dies wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass verschiedenste psychotherapeutische Methoden versuchen, Aufnahme in den Katalog anerkannter Verfahren zu erlangen. Dies beinhaltet freilich die Gefahr, dass die Richtlinien-Psychotherapie (und die damit verbundene Berechenbarkeit der Vergtung) an ihrem Erfolg zugrunde geht, weil die Grenzziehung zwischen allgemeiner Lebenshilfe und Behandlung krankheitswertiger Stçrungen nicht mehr gewhrleistet ist und die Ausweitung der Leistungen zu restriktiven Maßnahmen fhren muss. Einzelinteressen bedrohen damit einen – sicher nicht idealen und weiterhin verbesserungswrdigen – allgemeinen Konsens. Es erscheint mir dabei besonders bedeutsam, dass sich die mit der Richtlinien-Psychotherapie verbundenen Qualittssicherungsmaßnahmen insbesondere auch in der Umsetzung des 1999 in Kraft getretenen sogenannten Psychotherapeutengesetzes (PTG) sehr bewhrt und einen relativ reibungslosen bergang einer großen Zahl psychologischer Psychotherapeuten in die Versorgung gewhrleistet haben. Insgesamt aber muss leider gefragt werden, ob »eine inzwischen unbersichtlich große Anzahl von Interessen und deren Vertretern sich noch im Sinne eines Ganzen integrieren lassen« (Rger u. Bell, 2004; Bell, 2007, S. 1798 ff.). Zudem muss angenommen werden, dass die insbesondere mit dem Wirkungseintritt des PTG verbundenen nachhaltigen Vernderungen im ambulanten Versorgungsbereich erheblichen, bisher aber nicht ausreichend reflektierten Einfluss auf die stationre psychotherapeutische Versorgung haben mssen (Troilo, 2007). Dem Angriff auf die Richtlinien-Psychotherapie aus macht- und finanzpolitischen Grnden stehen Angriffe aus wissenschaftlicher Sicht zur Seite. Die dabei festzustellende Verquickung von wissenschaftlichen und finanziellen Interessen erleichtert eine nchterne Betrachtung nicht. Berechtigterweise aber mssen die Psychotherapie-Richtlinien sich einer dauerhaften wissenschaftlichen berprfung stellen, da sie schließlich die wissenschaftlichen Grundlagen fr die çffentlich bezahlte Psychotherapie beinhalten. Die bis heute vorgebrachte Kritik lsst allerdings erkennen, dass in erster Linie großer Forschungsbedarf besteht. Die nderung von Richtlinien als gesetzlicher Vorschriften sollte jedenfalls erst dann erfolgen, wenn einigermaßen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Kombination von Behandlungsmçglichkeiten oder neuer therapeutischer Anstze bestehen (Lieberz, 2003; Rger u. Bell, 2004; Senf u. Broda, 1997; 2000). Qualitt beginnt aber zunchst einmal mit der Ausbildung der rzte. Hier ist einiges erreicht worden. Allerdings ist der Stellenwert des Faches fr unsere pragmatisch angelegten Medizinstudenten weiter eher gering. Eine Verbesserung in der medizinischen Ausbildung wre dadurch denkbar, dass das Fach – zusammen mit der Psychiatrie – als dritte Sule Pflichtfach im praktischen Jahr des Medizinstudiums wrde. Eine weitere Verbesserung ergibt sich dadurch, dass wir auf dem Wege zu neuen didaktischen Methoden sind und der
Klaus Lieberz: Perspektiven der Psychosomatischen Medizin
377
Stellenwert der Lehre in der Medizinerausbildung deutlich angehoben werden wird. Die Frontalvorlesung alten Stils hat sicher bald ausgedient, hier zum Beispiel erçffnen sich große Chancen fr unser Fach, so im Rahmen von interdisziplinren Vorlesungen mit anderen Fchern, in denen die unterschiedlichen Aspekte des Kranken besser zur Geltung gebracht und Streitfragen zwischen den Disziplinen herausgestellt werden kçnnen. Die Novellierung der rztlichen Approbationsordnung (APO) wird diese Entwicklung jedenfalls stark fçrdern kçnnen, auch wenn nicht zu bersehen ist, dass die medizinischen Fakultten vielerorts »dem Geld folgend« ihre naturwissenschaftlich ausgerichteten Schwerpunkte eher verstrken und die psychosomatische Medizin Gefahr luft, ihrem Integrationsauftrag nicht nachkommen zu kçnnen. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass wir insbesondere im Hinblick auf die Fakultten strker darauf dringen mssen, dass die Besonderheiten der ambulanten Medizin zum Beispiel bei Berufungsfragen eine grçßere Bercksichtigung finden. Dies kçnnte durch beratende Einbeziehung der Landesrztekammern in die Berufungskommissionen der Fakultten geschehen. Bei allem Fortschritt hat die Vertretung des Faches an den Universitten bis heute kaum den »Sprung vom Elend in die Armut« getan. Dies hat sicher viele Grnde, von denen ich hier nur einige darstellen mçchte: 1. Forschungsfçrderung, 2. Bewertung, 3. Methodik, a. Dodo-bird-Verdikt, b. Therapieprozess, c. Differentialindikation. Die Forschungsfçrderungslandschaft lsst fr psychotherapeutische Belange wenig Raum. Sowohl im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wie auch im Bereich der Bundesministeriums fr Bildung und Forschung (BMBF) – Forschungsfçrderung werden bis heute sicher nicht mehr als 2 % der Fçrdermittel Forschungsprojekten mit psychosozialen und psychosomatischen Fragestellungen und Inhalten zugewiesen. Hier bestehen strukturelle Ungleichgewichte, die es aus meiner Sicht notwendig machen, dass wir uns von der offiziellen Forschungsfçrderung unabhngiger machen. Dies kçnnte zum Beispiel dadurch geschehen, dass wir – mit Untersttzung aller medizinisch- und psychologisch-psychotherapeutischen Fachgesellschaften und Berufsverbnde – eine Stiftung ins Leben rufen, die analog der Deutschen Krebshilfe eine spezielle Fçrderung psychotherapeutischer Forschungsprojekte vorsieht. Eine solche Stiftung kçnnte zum Beispiel »Deutsche Stiftung fr Seelische Gesundheit« heißen. Diese Anregung ist zwischenzeit-
378
Teil 5: Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung
lich von der DGPPN aufgegriffen und umgesetzt worden. Damit kçnnte immerhin so etwas wie ein Kristallisationskern geschaffen worden sein. Auch bei der Bewertung von Forschungs- und Publikationsleistungen hecheln wir den von den naturwissenschaftlich-biologischen Grundlagenfchern vorgegebenen Kriterien, wie zum Beispiel der sogenannte ImpactFaktor zeigt, hinterher. Bevor nicht eine dem psychotherapeutischen Forschungsgegenstand adquatere Methodik und Bewertung etabliert ist, sind wir in Gefahr, Forschungsopportunismus zu betreiben oder einzugehen. Allerdings kçnnen wir hier doch auch erfreuliche Entwicklungen unter besonderer Bercksichtigung der Besonderheiten eher sozialwissenschaftlich ausgerichteter Fachgebiete feststellen (AWMF, 2000). Der weltweit einmalige Aufschwung der Psychotherapie in unserem Lande ist leider nicht mit der wissenschaftlichen Weiterentwicklung Hand in Hand gegangen. Die zwischenzeitlich erfreulicherweise etablierten Universittsabteilungen erreichen nur selten eine ausreichende »kritische Masse« zur Erfllung all ihrer Aufgaben in Versorgung, Forschung und Lehre. Zudem stehen sie vielerorts in einem harten Konkurrenzkampf mit der Psychiatrie und in Zukunft sicher auch hufig mit den Psychologischen Universittseinrichtungen. Dabei kçnnen sie auch nicht immer mit dem Wohlwollen und der Untersttzung anderer klinischer Fcher rechnen. Die Abkoppelung der psychotherapeutischen Weiterbildungseinrichtungen von den Universittsabteilungen beinhaltet einen weiteren erheblichen strukturellen Nachteil fr die fachliche Vertretung. Das Dodo-bird-Verdikt gilt weiterhin, kein psychotherapeutischer Ansatz hat bis heute belegen kçnnen, was die spezifischen Wirkkrfte des Vorgehens sind und dass sie gegenber anderen Vorgehensweisen Vorteile haben. Dies begnstigt ideologisch fundierte Positionen, denn wo niemand sich einen sichtbaren Vorteil verschaffen kann, ist alles erlaubt. Die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten, uns Einblicke in die ablaufenden psychotherapeutischen Behandlungsprozesse zu verschaffen, werden naturgemß immer grçßer, je lnger die Behandlungen laufen. Diese Schwierigkeiten wissenschaftlicher Bearbeitung unseres Gegenstandes mssen zwangslufig zu reduktionistischen Herangehensweisen in Form experimenteller Laborarbeit oder kurztherapeutischer Orientierung fhren, die dann wieder zu einer unheilvollen Verquickung (berufs)politischer und wissenschaftlicher Interessen fhren. Wir sind in der Frage der Differentialindikation bisher nicht in entscheidendem Maße weiter gekommen. Jeder behandelt alles, meist mit dem ihm gerade zur Verfgung stehenden Instrumentarium, wobei der Patient und seine Ressourcen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheinen. Welcher Patient welche Behandlung bekommt, scheint mehr von der Krankenkassenzugehçrigkeit, dem Bildungsstand oder dem zuflligen Zugang zu einem
Klaus Lieberz: Perspektiven der Psychosomatischen Medizin
379
Therapeuten abzuhngen als von wissenschaftlichen Erwgungen. Von der Beantwortung all dieser Fragen sind wir weit entfernt, wir haben zwar Erfahrungswerte, aber keine wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse. Und solange dies so ist, bewegen wir uns hart an der Grenze zur Kurpfuscherei. Erfolgreicher waren bisher ohne Zweifel die Bemhungen im Bereich der rztlichen Weiterbildung. Dies gilt zunchst fr die Einfhrung der Zusatzbezeichnung Psychotherapie. Schwieriger war schon der Kampf um den Facharzt. Es war wohl auch klar, dass ein solcher Facharzt zwangslufig zur Grndung einer eigenstndigen Facharztgesellschaft (DGPM) fhren musste und neue Spannungen herbeifhren kçnnte. All diese Befrchtungen haben sich denn auch bewahrheitet. Im Sinne der Qualittssicherung war dieser Weg aber aus meiner Sicht unerlsslich. Nicht zuletzt hat er auch die Psychiatrie gezwungen, sich in »die richtige Richtung« zu bewegen. Mit dem Beschluss des rztetages zur Umbenennung in »Facharzt fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« hat die Entwicklung vorerst einen erfreulichen Abschluss gefunden. Die Spannungen insbesondere mit den psychiatrischen Kollegen werden aber sicher noch lange fortbestehen. Dabei scheint es mir nach den jetzt vorliegenden Erfahrungen notwendig, darauf zu achten, dass der schwierige Spagat zwischen biologisch-somatischer und psychosozialer Medizin nicht zu einer zu starken »Verflachung« des psychotherapeutischen »Handwerkszeugs« des Facharztes fhrt. Eine glckliche Balance zwischen biologischem und psychosozialem Zugang zum Kranken ist nicht leicht zu finden, wird aber ber die Zukunft des Fachgebietes entscheiden. Die starke biologisch-naturwissenschaftliche Prgung der medizinischen Ausbildung erschwert den Zugang zum Fachgebiet fr den rztlichen Nachwuchs. Dem wird man wahrscheinlich in strkerem Maße Rechnung tragen mssen, ohne allerdings entscheidende Voraussetzungen im sozialwissenschaftlichen Bereich zu opfern. Andererseits wird eine einseitig psychosoziale Orientierung kaum den Konkurrenzkampf mit den psychologischen Psychotherapeuten gewinnen kçnnen. Es wird unser Bestreben sein mssen, zu verhindern, dass die Psychotherapie aus der Medizin auswandert. Dies ist notwendig, sowohl im Sinne des Integrationsgedankens, als auch im Sinne der Qualittssicherung. Dabei geht es um die Erhaltung der Einheit von Kçrper und Seele, wie auch darum, dass die rztlichen Psychotherapeuten ein unentbehrliches Bindemittel zwischen den verschiedenen medizinischen Fchern sind und ihren Beitrag dazu leisten mssen, dass die Medizin nicht zu einer »seelenlosen« technischen Disziplin »verkommt« und eine »kçrperlose« Psychotherapie nicht die Bodenhaftung verliert. Es geht aber auch darum, die mit der Einbindung in die Medizin verbundenen hohen Qualittsanforderungen an unsere Arbeit weiterzuentwickeln.
380
Teil 5: Beziehungsmedizin heute: Versuch einer Standortbestimmung
Literatur AWMF online (2006). Journale des Social Science Citation Index SSCI. Zugriff am 11.12.07 unter www.uni-duesseldorf.de/awmf-frs.htm. Bell, K. (2007). Ambulante psychotherapeutische Versorgung – Das System wird immer komplexer. Deutsches rzteblatt, 104, 1798 – 1801. Corsini, R. J. (Hrsg.) (1983). Handbuch der Psychotherapie (2 Bde). Weinheim: Beltz. Hoffmann, S. O., Liedtke, R., Schneider, W., Senf, W. (1999). Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Denkschrift zur Lage des Faches an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Schattauer. Kronfeld, A. (1927a). Leitstze ber die Ausbildung in der Psychotherapie. In Bericht ber den I. Allgemeinen Kongreß fr Psychotherapie in Baden-Baden, 17.–19. April 1926 (S. 284 – 285). Halle: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. Kronfeld, A. (1927b). Referat ber die Verhandlungen in der Kommission im Jahre 1926/27 betr. die Ausbildung in der Psychotherapie; einschließlich Diskussion. In Bericht ber den II. Allgemeinen rztlichen Kongreß fr Psychotherapie in Bad Nauheim, 27.–30. April 1927 (S. 231 – 248). Stuttgart: S. Hirzel Verlag. Lieberz, K. (1996). Hausarzt und Psychotherapeut. Stuttgart: Fischer. Lieberz, K. (2000). 75 Jahre Allgemeine rztliche Gesellschaft fr Psychotherapie (AGP) – Zwischen »Kupfer und Gold!?«. Allgemeine rztliche Gesellschaft fr Psychotherapie, Denkschrift. Mannheim: Selbstverlag. Lieberz, K. (2003). Kommentar zu Broda/Senf: Denkanstçße fr eine Vernderung der psychotherapeutischen Praxis. Psychotherapie im Dialog, 4, 100 – 101. Rger, U., Bell, K. (2004). Historische Entwicklung und aktueller Stand der Richtlinien-Psychotherapie in Deutschland. Zeitschrift fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 50, 127 – 152. Schultz, J. H. (1927). Die Einigungsbestrebungen in der Psychotherapie. In Bericht ber den I. Allgemeinen Kongreß fr Psychotherapie in Baden-Baden, 17.–19. April 1926 (S. 241 – 252). Halle: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. Senf, W., Broda, M. (1997). Methodenkombination und Methodenintegration als Standard der Psychotherapie? Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, 47, 92 – 96. Senf, W., Broda, M. (2000). Thesen zur Psychotherapie in Deutschland. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 49, 2. Troilo, S. (2007). Therapieabbrche in stationrer Psychotherapie. Rahmenbedingungen und Behandlungsqualitt. Inaugural-Dissertation, Universitt Heidelberg.
Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. rer. biol. hum. Elmar Brhler ist Leiter der Selbstndigen Abteilung fr Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Universittsklinikum Leipzig. Prof. Dr. med. Hans-Christian Deter ist rztlicher Direktor der Klinik fr Allgemeinmedizin, Naturheilkunde, Psychosomatik und Psychotherapie an der Charit Campus Benjamin Franklin in Berlin. Prof. Dr. med. Matthias Franz ist Universittsprofessor fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universittsklinikum Dsseldorf und dort stellvertretender Direktor des Klinischen Instituts fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Prof. Dr. med. Jçrg Frommer, M.A., ist Leiter der Abteilung fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universittsklinikum Magdeburg. Dr. med. Norbert Hartkamp ist Chefarzt der Klinik fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Stiftungsklinikum Mittelrhein, Boppard. Prof. Dr. phil. Rudolf Heinz ist Universittsprofessor i. R. fr Philosophie an der Universitt Dsseldorf. Zurzeit Gastwissenschaftler in der Klinik fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitt Dsseldorf. Dr. med. Mathias Hirsch ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Dsseldorf ttig. Prof. Dr. Paul L. Janssen ist Direktor a. D. des Westflischen Zentrums fr Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Dortmund und em. Professor fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitt Bochum. Prof. Dr. med. Peter Joraschky ist Direktor der Klinik und Poliklinik fr Psychotherapie und Psychosomatik des Universittsklinikums Dresden. Andr Karger ist Oberarzt an der Klinik fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitt Dsseldorf.
382
Die Autorinnen und Autoren
Dipl.-Psych. Sybille Kiesewetter ist Doktorandin an der Abteilung fr Psychosomatik und Psychotherapie, Charit – Universittsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin. Priv.-Doz. Dr. med. Werner Kçpp ist in eigener psychoanalytischer Praxis ttig. Dipl.-Psych. Andrea Kçpsel ist Gruppenpsychotherapeutin an der Abteilung fr Psychosomatik und Psychotherapie, Charit – Universittsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin. Prof. Dr. med. Johannes Kruse ist Leitender Oberarzt der Klinik fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Dsseldorf. Priv.-Doz. Dr. med. Michael Langenbach ist Chefarzt der Abteilung fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am St. Marien-Hospital Bonn. Prof. Dr. med. Klaus Lieberz lehrt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Psychosomatischen Klinik des Zentralinstituts fr Seelische Gesundheit Mannheim, Fakultt fr Klinische Medizin der Universitt Heidelberg. Dr. phil. Bernd Nitzschke ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Dsseldorf ttig. Dr. phil. Katja Petrowski, Dipl.-Psych., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik fr Psychotherapie und Psychosomatik der Universittsklinik Dresden. Prof. Dr. med. Heinz Schepank ist em. Lehrstuhlinhaber fr Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse an der Fakultt fr Klinische Medizin Mannheim der Universitt Heidelberg und em. Direktor der Psychosomatischen Klinik am Zentralinstitut fr Seelische Gesundheit Mannheim. Prof. Dr. Norbert Schmitz lehrt an der McGill University, Department of Psychiatry and Department of Epidemiology and Biostatistics in Montreal, QC, Kanada. Prof. Dr. phil. Johannes Siegrist lehrt Medizinische Soziologie an der Universitt Dsseldorf.
Die Autorinnen und Autoren
383
Dr. med. Claudia Sies ist Lehranalytikerin am Institut fr Psychoanalyse und Psychotherapie Dsseldorf e.V. und Vorsitzende des Instituts fr Organisationsberatung und Personalmanagement Dsseldorf e.V. (P.O.P.). Priv.-Doz. Dr. med. Wolfgang Wçller ist Leitender Abteilungsarzt an der Rhein-Klinik Bad Honnef.
Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Wolfgang Tress / Rudolf Heinz (Hg.) Willensfreiheit zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Neurobiologie 2007. 136 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40402-7 Obwohl die Neurowissenschaften die Existenz eines freien Willens immer wieder untersucht und hinterfragt haben, konnte sie bisher nicht widerlegt werden. Diese Frage bleibt eine ideologische.
Rainer H. Straub (Hg.) Lehrbuch der klinischen Pathophysiologie komplexer chronischer Erkrankungen. Band 1 Physiologische Grundlagen Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie 2006. 260 Seiten mit 103, teils farbigen Abb. und 12 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45051-2
Bernhard Strauß / Michael Geyer (Hg.) Grenzen psychotherapeutischen Handelns 2006. 251 Seiten mit 3 Abb. und 5 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49092-1 Gegenstand des Bandes sind die Auswirkungen des gesellschaftlich-kulturellen Wandels auf die Psychotherapie und die damit verbundenen Herausforderungen
Michael Geyer / Bernhard Strauß (Hg.) Psychotherapie in Zeiten der Globalisierung 2006. 342 Seiten mit 6 Abb. und 4 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49093-8 »Den Herausgebern ist sehr für die vorliegende Öffnung zu einer neuen Welt der Psychotherapie zu danken.« Gerhard S. Barolin, Wiener Medizinische Wochenschrift »Ein politisch hochbrisantes Buch.« Antje Schmidt, report psychologie
Rainer H. Straub (Hg.) Lehrbuch der klinischen Pathophysiologie komplexer chronischer Erkrankungen. Band 2
Udo Benzenhöfer Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker
Spezielle Pathophysiologie
2007. 222 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49127-0
Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie 2007. 328 Seiten mit 147 teils farbigen Abb. und 20 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45052-9
Band 1 und 2 zusammen zum Vorzugspreis ISBN 978-3-525-45053-6 Aktuelle Erkenntnisse über die Grundlagen chronischer Erkrankungen zeugen von deren hoher Komplexität, so dass eine verstärkte interdisziplinäre Vernetzung angezeigt ist.
Leben und Werk im Überblick
Der Patient als Mensch soll auch in der modernen Medizin im Zentrum des Interesses stehen.
Hans-Christian Deter (Hg.) Allgemeine Klinische Medizin Ärztliches Handeln im Dialog als Grundlage einer modernen Heilkunde 2007. 235 Seiten mit 11 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49128-7