Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40 3515133437, 9783515133432

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin reichen von der Frühen Neuzeit bis in die jüngs

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German Pages 240 [242] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Editorial
I. Zur Sozialgeschichte der Medizin
Herren oder Knechte?
‚Abstand halten!‘
Unternehmen Psychiatrie
II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784 und seine Tätigkeit als Amtsarzt in Gommern
Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen
Doors Unlocked by Medicine
“We Support Vaccination, and They Don’t”
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40
 3515133437, 9783515133432

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte

40 Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Gegründet von: Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Jütte Herausgeberin: Dr. Marion Baschin Redaktion: Dr. Pierre Pfütsch Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 D–70184 Stuttgart https://www.steiner-verlag.de/brand/Medizin-Gesellschaft-und-Geschichte

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 40 (2022)

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351x ISBN 978-3-515-13343-2 (Print) ISBN 978-3-515-13344-9 (E-Book)

Inhalt

MARION BASCHIN

Editorial

I.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Zur Sozialgeschichte der Medizin

JANA SCHREIBER

Herren oder Knechte?

Die Frankfurter Apothekenordnung von 1500 im Spiegel frühneuzeitlicher Rangkonflikte

11

ROBERT JÜTTE

‚Abstand halten!‘

Nähe und Distanz in der Seuchengeschichte am Beispiel der Pest

39

RALF-GERO C. DIRKSEN

Unternehmen Psychiatrie

Wie für Menschen Geschichte geschrieben wurde II.

69

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

ROBERT JÜTTE / CHRISTOPH LANG

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784 und seine Tätigkeit als Amtsarzt in Gommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

HANS-MICHAEL BERENWENGER / PIERRE PFÜTSCH

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

6

Inhalt

MELVYN LLOYD DRAPER

Doors Unlocked by Medicine

Homoeopathy in the Mission Field

181

JU-YI ROSHNII CHOU

“We Support Vaccination, and They Don’t”

Victorian Homoeopaths and Smallpox Vaccination, 1860–1882

215

Editorial

Mit diesem Band dürfen wir die 40 . Ausgabe der Zeitschrift des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung vorlegen . Ursprünglich als Jahrbuch durch dessen erste Leiterin Renate Wittern konzipiert, wurden der Titel und die Aufgabe der Reihe ab Band 8 durch den späteren Institutsleiter angepasst . Robert Jütte beschrieb „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ als „Forum für interdisziplinäre Ansätze“ bzw . „Brücke zwischen den Vertretern verschiedenster Disziplinen aus dem großen Bereich der Natur- und Geisteswissenschaft“ . Der Fokus lag auf der Sozialgeschichte der Medizin, die nicht nur die Schulmedizin, sondern auch alternative Heilweisen im Blick haben sollte . Bereits das Engagement Robert Boschs galt ganz besonders der Medizin und Gesundheitsfragen, wobei er sich für eine Verbindung verschiedener therapeutischer Ansätze aussprach . Diesem Interesse ist das IGM nach wie vor verpflichtet, zumal es seit 2020 als Gesamtarchiv der Robert Bosch Stiftung und ihrer Einrichtungen fungiert . Die Stiftung hat darüber hinaus beschlossen, in dem 2022 gegründeten Bosch Health Campus alle Institutionen und Förderaktivitäten in diesem für ihren Stifter so wichtigen Bereich der Gesundheitspflege zu vereinen . Unter dem Motto „Behandeln . Forschen . Bilden . Fördern .“ soll für eine zukunfts- und patientenorientierte Gesundheitsversorgung gearbeitet werden . Die historische Perspektive eröffnet auch hierfür zahlreiche Ansatzpunkte . Die in diesem Band enthaltenen Beiträge stehen daher für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Robert Boschs und zeigen deren Relevanz für aktuelle Fragen . Am Aufbau des neuen Bandes hat sich vorerst nichts geändert . Die Bereiche Sozialgeschichte der Medizin sowie Geschichte des Pluralismus in der Medizin und komplementärer Heilweisen werden durch Aufsätze repräsentiert . Dem aufmerksamen Leser wird aber auffallen, dass zwei der Beiträge gendergerechte Sprache verwenden . Wir stellen es den Autorinnen und Autoren frei, inwieweit sie die aktuell sehr heftig debattierten Darstellungsformen gebrauchen möchten . Wenn gendergerechte Sprache zur Anwendung kommt, haben wir uns als einheitliche Umsetzung für den weitgehend lesefreundlichen Doppelpunkt in der Kennzeichnung entschieden . Im ersten Teil behandelt zunächst Jana Schreiber Fragen von „Rang“ sowie die Rolle von Eigen- und Fremdwahrnehmung bei der Aushandlung der Frankfurter Apo-

8

Editorial

thekenordnung in der Frühen Neuzeit . Robert Jütte verdeutlicht am Beispiel der Pest, dass die Tradition des Abstandhaltens im Seuchengeschehen sehr lange Wurzeln hat . Die Relevanz für die nach wie vor von Corona geprägte Gegenwart ist mehr als deutlich . Aus der Zeitgeschichte schöpft anschließend der Beitrag von Ralf-Gero C . Dirksen . Das Ringen der Klinik für Psychiatrie in Heiligenhafen um ihre Unternehmensstrategie sowie ihre Entwicklung und wirtschaftliche Ausrichtung spiegelt einen Prozess wider, dem sich in den Jahren um 2000 zahlreiche Einrichtungen stellen mussten . Neben medizingeschichtlichen Aspekten spielen vor allem wirtschaftshistorische Entwicklungen von Managementkonzepten eine Rolle . Im zweiten Teil machen Robert Jütte und Christoph Lang Dokumente aus den Jahren 1783 und 1784 zugänglich, die Samuel Hahnemann im zeitgenössischen medizinischen Wirken zeigen . Vor dem Hintergrund, dass Lateinkenntnisse auch bei Historikern immer mehr auf dem Rückzug sind, ist es eine große Hilfe, dass eine Dissertationsschrift des Begründers der Homöopathie zu zwei Themen der Geburtshilfe nun übersetzt und kommentiert vorliegt . Der Aufsatz von Hans-Michael Berenwenger und Pierre Pfütsch stellt das gekürzte Ergebnis jahrelanger intensiver Forschungen vor . Portraitiert wird das Leben und Wirken des Naturarztes Emil Berenwenger, der überwiegend mit tropischen Pflanzensäften seine Praxis bestritt . Ein ausführliches Manuskript von Hans-Michael Berenwenger steht in der Bibliothek des IGM zur Verfügung . Ähnlich wie im vergangenen Jahr gehen zwei der Beiträge auf die vom IGM im Dezember 2019 organisierte Tagung des International Network for the History of Homoeopathy (INHH) zurück . Es freut uns sehr, dass nun die Aufsätze von Melvyn Lloyd Draper und Ju-Yi Roshnii Chou veröffentlicht werden . Dabei ergänzt der Beitrag von Melvyn Lloyd Draper im Themenbereich „Homöopathie und Mission“ Ergebnisse, die in Band 29 dieser Zeitschrift zur Basler Mission vorgelegt werden konnten . Die Frage der Impfung, welche Ju-Yi Roshnii Chou behandelt, indem die Haltung britischer Homöopathen zur Pockenimpfung untersucht wird, gewinnt angesichts der gegenwärtigen Ereignisse besonders an Aktualität . Stuttgart, im April 2022

Marion Baschin

I.

Zur Sozialgeschichte der Medizin

Herren oder Knechte? Die Frankfurter Apothekenordnung von 1500 im Spiegel frühneuzeitlicher Rangkonflikte JANA SCHREIBER Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 11–38

Masters or servants? The Frankfurt ‘Apothekenordnung’ of 1500 as reflected in early-modern rank conflicts Abstract: The establishment of the Frankfurt pharmacy regulations of 1500 exemplifies how the

pharmaceutical legislation emerging in the German-speaking (imperial) cities in the late Middle Ages was embedded in a network of complex transformative processes of health and power politics, economics and society . In the early sixteenth century, the profession of pharmacists as such was undergoing radical change . As well as its self- and outside perception, the profession’s tasks and fields of activity were changing . Unlike the physicians, the pharmacists’ subject position as merchants enabled them to gain political influence and economic resources as a result of their membership in the ‘Frauenstein’ Trinkstubengesellschaft (tavern society) . In order to maintain this connection, they endeavoured to present themselves to the Council as members of the mercantile profession . Their continued specialization in the manufacturing of drugs, however, required an expansion of this subject position . Because of their high level of education, they were able to acquire medical practices in order to negate the leading role of academic physicians within the medical profession . The conflicts around the cities’ social order, in conjunction with constructed self- and public images, therefore impacted on the standardization of the medical professions . In the early sixteenth century, the category of “rank” consequently played a central and much more potent role in the transformation of pharmacy than it had done in the Middle Ages .

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JANA SCHREIBER

Einführung

[…] wir wollende inn solicher gestalt nit sin ir [Stadtärzte] knecht und sint dess auch der mass nie gewesenn […] .1

Diese deutlichen Worte richteten die Frankfurter Apotheker Matthäus Mettling und Johannes Heckmann 1499 an den Rat der Messe- und Handelsstadt Frankfurt am Main . Gegenstand ihres Schreibens waren die Artikel einer Apothekenordnung, die der Stadtarzt Heinrich Geratwol2 dem Rat zuvor als Konzept vorgelegt hatte . Die formulierte Sorge darüber, in eine Position zu geraten, die sie zu Knechten der Stadtärzte werden lassen konnte, lässt einerseits erahnen, dass der Kern dieser Beschwerde ein Streit um die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen den beiden Professionen war . Neben diesen ökonomischen Faktoren erscheint andererseits die Verortung des eigenen Rangs, welchen Mettling und Heckmann relational zu demjenigen ihrer akademischen Kollegen definierten, als Ursache des Konflikts . An dieser Stelle wird der Kategorie „Rang“ eine zentrale Bedeutung im Aushandlungsprozess der Gewerksordnung der Frankfurter Apotheker zugeschrieben . Die Frankfurter Apothekenordnung von 1500, deren bevorstehende Etablierung der Grund für den Unmut der pharmazeutischen Handwerker war, verdeutlicht dies noch einmal mehr . Im Gegensatz zur frühen mittelalterlichen Apothekengesetzgebung, die in wenigen Sätzen die Trennung zwischen Arzt- und Apothekerberuf festlegte und dem Arzt zugleich die Aufsicht über die Arzneimittelzubereitung erteilte3, waren die von Geratwol verfassten Artikel weitaus umfangreicher und detaillierter . Denn darin wurden nicht allein Bestimmungen des beruflichen Alltags niedergeschrieben und der medizinisch-pharmazeutische Markt abgesteckt . Wie sich im Folgenden zeigen wird, finden sich darüber hinaus auch unterschiedliche Instrumentarien, wie bestimmte Kontrollfunktionen und gegenseitige Pflichten, um den beteiligten Akteursgruppen – Apothekern, Stadtrat und Stadtärzten – relational zueinander eine Position innerhalb der städtischen Rangordnung, aber auch innerhalb des Medicinalwesens zuzuschreiben . Dies sind bereits zentrale Aspekte, die ab der zweiten Hälfte des 16 . Jahrhunderts in noch umfangreicherem Maße in den immer weitumfassenderen policeylichen Ge-

1 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 27 (Vorstellung der Apotheker Matthäus Mettling und Johannes Heckmann gegen den Entwurf des Apothekereides 1499) . 2 Heinrich Geratwol (auch Heinrich Euticus d . Ä .) stammte aus Neustadt an der Aisch und studierte in Padua und Ferrara Medizin . Seine familiäre Herkunft und sein Werdegang vor dem Beginn des Studiums liegen im Dunkeln . Nachdem er bereits in Nürnberg und Augsburg als Arzt praktiziert hatte, war er zwischen 1494 (erster Dienstbrief im ISG Frankfurt, Dienstbriefe 959/1) und 1501 als Stadtarzt in Frankfurt tätig, wo er 1507 verstarb . Siehe Worstbrock (2008) . 3 Beispielsweise die Konstitutionen von Melfi (1231/1241) oder die Statuten von Arles (1162–1202) . Stoll (1975), S . 95; Adlung (1931), S . 7; Hein/Sappert (1957), S . 11–20; Jankrift (2003), S . 45–47; Schmitz (1998), S . 508–514 .

Herren oder Knechte?

setzgebungen zu finden sind, die das Frankfurter Medicinalwesen in allen Facetten ordnen sollten .4 Bedingt durch eine rasch zunehmende soziale Differenzierung, die vor allem durch Wirtschaft, Handel und Bevölkerungswachstum beeinflusst wurde, hatte bereits seit dem 14 .  Jahrhundert eine verdichtete policeyliche Normierung in den Reichsstädten eingesetzt .5 Die Normierungsbestrebungen sollten jedoch nicht nur Angelegenheiten des beruflichen Alltags regeln . Den daran Beteiligten wurde eine Position innerhalb der Gesellschaftsordnung zugewiesen, die durch allgemein verstehbare soziale und kulturelle Praktiken sichergestellt und im besten Fall erhöht werden konnte .6 Denn um einen bestimmten Rang bekleiden zu können, mussten auch die dazugehörige Kleidung, das konventionelle Handeln, der angemessene Habitus7 etc . übernommen werden . Die obrigkeitlichen Ordnungen der heilkundigen Berufe können also zugleich als Rangordnungen verstanden werden . Den jeweiligen Positionen waren aber auch Pflichten gegenüber dem Rat auferlegt, die die Durchsetzung obrigkeitlicher Herrschaft in den alltäglichen Lebensbereichen vollziehen sollten . Dieses Konzept der Herrschaftsausübung und -konsolidierung wird in der Forschung als „Statebuilding from Below“ bezeichnet, denn Machtausübung funktionierte in frühneuzeitlichen (Reichs-)Städten nicht nach dem „Top-Down“-Prinzip . Durch komplexe wechselseitige Kommunikationsprozesse und Praktiken, die unterschiedliche Institutionen und Personen (u . a . städtische Amtsträger und Korporationen wie Zünfte oder Trinkstubengesellschaften) ausführten, wurde die politisch-soziale Ordnung reproduziert und gefestigt, aber auch irritiert und transformiert .8 Policeyordnungen dienten der städtischen Obrigkeit – also dem Stadtrat –, aber auch allen übrigen daran beteiligten und

4 Beispielsweise ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  56 (Konzept einer Apotheken- und Ärzteordnung von 1580); Strupp (1573); ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 227 (Frankfurter Medicinalordnung 1612) . 5 Flügge (2003), S . 22 f .; Holenstein (1998), S . 254 f . 6 Jana Madlen Schütte bezeichnet das Streben nach der Einsetzung von Apothekenordnungen und -eiden seitens der medizinischen Fakultäten der Wiener, Kölner und Leipziger Universitäten als „symbolische Politik“, durch die die vorrangige Stellung der Ärzte vor den Apotheken normativ, aber auch im gesellschaftlichen Alltag implementiert wurde und zudem die städtische Obrigkeit ihre Interessen verfolgen konnte . Schütte (2017), S . 325 f . 7 Zu „Habitus“ als zentrale Kategorie im Aushandlungsprozess ständischer Gesellschaftsordnung siehe Bourdieu (1976/2009), S . 164–166 . 8 „One of the most specific characteristics of the early modern state was the absence of a uniform state authority . We observe instead a complicated, fragmented and multi-layered structure of authority and political agency; political power in the sense of public power was exercised on many different levels and in many different social contexts and fields . The houses, the guilds and corporations, the communities, the estates and various groups of functional elites participated in the process of rule, thereby inducing a significant layering and fragmentation of political power . […] Society was transfused by a multitude of power relations of political and public character, and political power was at the same time always rooted in specific social situations .“ Holenstein (2009), S . 5 f .; siehe auch u . a . Stollberg-Rilinger (2004), S . 490; Füssel: Praxeologische Perspektiven (2015), S . 25; Freist (2013), S . 151 .

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JANA SCHREIBER

davon betroffenen Akteuren deshalb als probates Mittel, den eigenen Handlungsspielraum performativ zu stabilisieren und auszuweiten . Die Streitigkeiten um die Ordnung des Frankfurter Apothekenwesens um 1500 eignen sich aufgrund unterschiedlicher Stellungnahmen der beteiligten Personen sehr gut, die angewandten Praktiken, Strategien und Kommunikationsprozesse zu untersuchen . Zudem ist die besonders verdichtete Normierung des Medicinalwesens der Messe- und Reichsstadt Vorbild für die Apothekengesetzgebung des deutschsprachigen Raums gewesen .9 Diverse Forschungsarbeiten dienen dieser Untersuchung als Grundlage . Peter Rittershausen rekonstruiert die Geschehnisse um die Einführung der Frankfurter Apothekenordnung des Jahres 1500 ereignisgeschichtlich detailliert . Anhand der Stellungnahmen der Ärzte und Apotheker einerseits, aber auch des Agierens des Rates andererseits zeigen sich diese drei Akteursgruppen deutlich als aktive Gestalter des frühneuzeitlichen Apothekenwesens .10 Dem Aufbau und den verschiedenen Professionen der Frankfurter Heilkunde in Mittelalter und der Frühen Neuzeit widmen sich Wilhelm Stricker, Georg Ludwig Kriegk und Wilhelm Kallmorgen in ihren Arbeiten .11 In den letzten Jahren erfolgten umfangreiche praxeologische Untersuchungen zur (Selbst-)Konstruktion des ärztlichen Standes in der Frühen Neuzeit . Dabei kam heraus, dass die Patient:innen die Qualität der heilkundigen Therapien vor allem anhand des Behandlungserfolges, ökonomischer Faktoren und der Vertrauenswürdigkeit bewerteten . Diese Parameter mussten deshalb von den akademischen Heilkundigen für die Behandelten verstehbar kommuniziert und sichtbar gemacht werden .12 Medizinische Praktiken, wie die Untersuchung der Erkrankten im Beisein weiterer Personen, die Kommunikation mit den Patient:innen über ihre Symptome, aber auch die Harnschau, der Aderlass oder Pulsmessungen dienten nicht allein der Gesundwerdung der Erkrankten, sondern waren Teil eines Kommunikationsprozesses, in dem der Arzt sich als fachkundige, vertrauenswürdige Person inszenierte . Somit demonstrierte er einerseits seine führende Rolle innerhalb der Heilkunde und rechtfertigte andererseits die Kosten seiner Behandlung .13 Aber auch um die eigene Position innerhalb der medizinischen Gelehrtenwelt auszubauen und zu festigen, wandten die akademischen Ärzte Praktiken der Evidenzproduktion an, die ihre hohe medizinische Expertise verdeutlichen sollten .14 Derartige Praktiken und Prozesse bezeichnet Dagmar Freist als „Selbst-Bildung“, die das eigene Hinzutun an der „praktischen Aus- und eventuell Umgestaltung vorgefundener Subjektpositionen und damit an ihrer eigenen 9 Rittershausen (1970), S . 143, 156; Bartels (2009) . 10 Rittershausen (1970), S . 177–199 . 11 Stricker (1847); zum mittelalterlichen Medicinalwesen

in Frankfurt siehe Kriegk (1871); Kallmorgen (1936) . Zu den Anfängen des Frankfurter Apothekenwesens siehe auch Bohné (1947); Schulz (1960) . 12 Schilling/Jankrift (2016), S . 132 . 13 Siehe dazu Kinzelbach/Neuner/Nolte (2016), S . 111; Stolberg: Kommunikative Praktiken (2015), S . 116 f . 14 Ärzte zitierten aus autoritativen Schriften und benannten vertrauenswürdige Zeugen bei der Herstellung von Präparaten . Stolberg: Zur Einführung (2015), S . 80 .

Herren oder Knechte?

Subjektwerdung in verschiedenen Kontexten“ beschreibt . Dieses Phänomen sei seit dem 15 . Jahrhundert durch „die diskursive Verdichtung von Reflexion über die Fähigkeit und Pflicht des Menschen zur Selbst-Bildung in den Bereich des Sag- und Machbaren“ gerückt und habe somit die Grundlage für die epochenspezifischen Rang- und Standeskonflikte der Frühen Neuzeit gebildet .15 Auch die soziale Stellung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Apotheker wurde bereits in einigen Arbeiten untersucht . Dabei stand in der deutschsprachigen Forschung bisher allerdings vor allem eine Beschreibung des sozialen Status der Apotheker und seiner Entwicklung im Fokus . Mikulas Simon beleuchtet in seiner Arbeit „Die soziale Stellung der Apotheker in der Zürcher Stadtgesellschaft in Mittelalter und früher Neuzeit“ die von Konflikten geprägte Beziehung zwischen Apothekern und Ärzten in Zürich . Anhand seiner Untersuchungen wird deutlich, wie die Konkurrenz mit der zunehmenden Spezialisierung des Apothekerberufs anstieg, was sich im 17 . Jahrhundert auch in Zürich in Streitigkeiten um Apothekenordnungen widerspiegelte . Auf die Rolle und die Interessen des Rates als gesetzgebende Obrigkeit geht er jedoch nur marginal ein .16 Medizinhistoriker:innen wie Robert Jütte und Jana Madlen Schütte weisen in ihren Arbeiten vor allem auf die Diversität der frühneuzeitlichen Heilkundigen hin und beleuchten dabei Konflikte und Konkurrenzen zwischen den unterschiedlichen Akteuren .17 Patrick Wallis stellt Partnerschaften und kurzzeitige Kollaborationen Londoner Apotheker, Ärzte und Barbiere vor und rückt somit Kooperationen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung .18 Eine Analyse der Praktiken der Apotheker hinsichtlich ihrer „Selbst-Bildung“ und aktiven Mitgestaltung ihrer eigenen Subjektposition durch spezifische Praktiken, wie sie bereits bei akademischen Ärzten umfangreich erfolgt ist, fand im Falle der Apotheker im deutschsprachigen Raum bisher nur am Rande der wissenschaftlichen Arbeit Beachtung . Die Streitigkeiten um die Frankfurter Apothekenordnung von 1500 bieten ein sehr geeignetes Beispiel, dieses Desiderat mit neuen Erkenntnissen zu füllen . Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt der Untersuchung:

Freist (2013), S . 173 . Simon (1983), S .  141–143 . Mit der sozialen Stellung frühneuzeitlicher Apotheker befassen sich unter anderem auch Ute Fischer-Mauch, Clemens Stoll und beispielsweise speziell für München Gerd-Bolko Müller-Faßbender: Fischer-Mauch (1995); Stoll (1975); Müller-Faßbender (2015) . 17 Jütte verweist nicht allein auf die Diversität von Heilkundigen, sondern führt auch Kriterien auf, anhand derer sich Patient:innen entschieden, von wem sie sich behandeln lassen wollten . Jütte (2013), S . 117–126 . Ausgehend von den akademischen Physici konzentriert sich Schütte in ihrer 2017 erschienenen Dissertation auf Konflikte und Konkurrenzen innerhalb der Medicinalwesen deutscher Universitätsstädte der Frühen Neuzeit, siehe Schütte (2017) . Flügge sieht vor allem in der Etablierung der zentralen Medicinalordnung das Aufkeimen eines Konkurrenzkampfes zwischen den Berufsgruppen . Siehe Flügge (2003), S .  29 . Ebenso Kinzelbach (1989), S . 138 f .; Stolberg (2003), S . 87 f . 18 Wallis (2007) . Vgl . auch, erschienen im gleichen Sammelband, Ralley (2007) . 15 16

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JANA SCHREIBER

– – –

Wann wandten die Apotheker welche Strategien und Praktiken an, um ihre Position innerhalb des Frankfurter Medicinalwesens erhalten und stärken zu können? Welche Selbstbilder inszenierten sie zu diesem Zweck? Gegen welche Fremdbilder mussten sie sich wehren? Wie erfolgreich waren ihre Bemühungen, ihren Rang infolge der Ordnung des Apothekenwesens verteidigen und/oder erhöhen zu können?

Zum Zweck einer eingehenden Untersuchung dieser Aspekte wird zunächst die Beschaffenheit und Organisation des Frankfurter Apothekenwesens um 1500 dargestellt, um im Anschluss die „Selbst-Bildung“ der Apotheker als Kaufleute einerseits und pharmazeutische Experten andererseits beleuchten zu können . Das Frankfurter Apothekenwesen bis 1500

Die Anfänge des Frankfurter Apothekenwesens sind nicht eindeutig zu bestimmen, auch wenn in der älteren Literatur die erste Apotheke auf das Jahr 1343 datiert wurde .19 Wie bereits Rittershausen in seiner Arbeit zeigt, schließen die Quellenbegriffe apteke/ apteker jedoch noch nicht unbedingt die Arzneimittelzubereitung ein, sondern vor allem den Handel mit Gewürzen und Spezereien aus dem orientalischen Raum20, wie Pfeffer, Ingwer, Safran, Rosinen, Lakritz, Seide, Samt21 usw .22 . Das Apothekenwesen der Messe- und Handelsstadt Frankfurt entwickelte sich im Spätmittelalter demnach vor allem aus Krämer- und Spezereienläden, in denen der Handel mit Gewürzen, ausländischen Arzneidrogen und anderen kostbaren Waren stattfand und immer mehr auch Haus- und Arzneimittel zubereitet wurden .23 Um das aufkommende Apotheken19 Kriegk (1863), S . 3; Kriegk (1871), S . 61 . Zu den Anfängen des Frankfurter Apothekenwesens siehe unter anderem auch Schelenz (1904), S . 346, 353; Bohné (1947) . 20 Rittershausen arbeitet heraus, dass mit „Spezereien“ im spätmittelalterlichen Frankfurt vor allem kostbare Aromata und Gewürzdrogen bezeichnet wurden, die einerseits als Heilmittel gegen Krankheiten oder als anreizende Mittel für die Verdauung eingesetzt und andererseits als Zutaten für Speisen und Getränke verwendet wurden . Sie waren vor allem aus dem arabischen Raum importiert und aufgrund der langen Handelswege und ihrer Seltenheit sehr kostbar . Nur einem exklusiven Kreis von wohlhabenden Stadtbürgern, Adel und Klöstern war es möglich, sie zu erwerben . Rittershausen (1970), S . 89–91 . 21 Frankfurter Auflistung von Waren, die als Spezerei aufgeführt wurden, aus dem Jahr 1373, ediert von Bücher/Schmidt (1914), S . 248 f . Siehe auch Rittershausen (1970), S . 95 . 22 Siehe dazu auch Dietz (1910), S . 133 f . Siehe zum spätmittelalterlichen Handel mit Gewürzdrogen und anderen Arzneimitteln auch beispielsweise Helmstädter/Hermann/Wolf (2011), S . 139 f . 23 Im 14 . und 15 . Jahrhundert finden sich Berufsbezeichnungen, die die enge Verbindung zwischen dem frühen Apothekenwesen und dem Krämerberuf verdeutlichen, wie beispielsweise 1375 „Peter apteker, kremer“ und 1477 „Johannes von Steynheym, kremer und apotecker“ . Siehe Bücher (1915), S . 24; Rittershausen (1970), S . 86, 88 . Diese Krämer-These ist eine von dreien, die die Entstehung des Apothekenwesens beschreiben . Neben ihr existieren auch die Kontinuitäts- und die Rechtsthese . Erstere beschreibt eine Ent-

Herren oder Knechte?

Gewerbe in das Medicinalwesen und somit auch das städtische Gemeinwesen einzugliedern, hatte der Frankfurter Stadtarzt Heinrich Loose bereits 1459 das älteste Konzept einer Apothekenordnung verfasst .24 Inwieweit Loose selbst an dieser Stelle der treibende Motor hinter der Normierung war oder Bestrebungen des Stadtrates, geht aus den Quellen nicht hervor . Klar ist aber, dass der Rat dem Stadtarzt Heinrich Loose 1459 die Aufgabe übertrug, eine Ordnung niederzuschreiben . In dieser ist der ärztliche Einfluss auf das Apothekenwesen deutlich erkennbar .25 So durfte der Apotheker „Meister Johann“ Arzneien ausschließlich nach den Rezepten akademischer Ärzte anfertigen – eine Regelung, die zuvor nicht in den Frankfurter Quellen auftauchte . Wie bereits in der mittelalterlichen Gesetzgebung seit den Medizinalstatuten Friedrichs II . erscheinen die Stadtärzte als oberste Aufsichtsinstanz über das Apothekenwesen, in dem sie die Aufgabe erhielten und somit auch dazu berechtigt waren, jährlich alle Materialien, die zur Arzneimittelherstellung in den Apotheken aufbewahrt wurden, zu visitieren .26 Der Apothekerstand wurde durch diese Regelungen also ganz eindeutig hierarchisch unter die Position der Ärzte eingegliedert . Auch weil sich die Bepreisung der Waren nun an eine feste Taxe halten sollte, beschnitt die Ordnung wichtige Tätigkeitsbereiche und somit die Selbständigkeit des Apothekers „Meister Johann“ . Dieser verweigerte den Eid und durfte infolgedessen nicht mehr in Frankfurt praktizieren . 1461 wurde der aus Lübeck stammende Apotheker Rabodus Kremer als sein Nachfolger auf die Ordnung vereidigt .27 Der Eid wurde in einer personalisierten Form für Kremer verfasst und war für das Frankfurter Apothekenwesen noch nicht allgemeingültig . Berendes bezeichnet diesen Eid als „erste eigentliche Apothekenordnung und -taxe“ .28 Als ältester Apothekeneid im deutschsprachigen Raum diente er im 15 . Jahrhundert vor allem einigen mitteldeutschen Städten wie Mainz als Vorbild .29 Bereits 1476 zeigte der Stadtrat eindringliche Bestrebungen, eine allgemeingültige Apotheken- und Ärzteordnung zu erlassen .30 Dies geschah jedoch nicht ohne Widerstand der beiden Apotheker Matthäus Mettling, der die Nachfolge des 1473 verstorbenen wicklung der Apotheken aus der Klostermedizin heraus . Die Rechtsthese sieht die Medicinalgesetzgebung als Anlass der Herausbildung eines Apothekerstandes . Die jüngere Forschung vertritt vor allem eine Verbindung von Krämer- und Rechtsthese . Wie bei Schütte ausgeführt wird, ist dieser Ansatz auch für die Frankfurter Apothekengeschichte fruchtbar . Schütte (2017), S . 289 . Zur Kontinuitätsthese siehe auch Czeike (2010), S . 2 . Eine enge Verbindung zwischen dem Handel und Apotheken findet sich auch in anderen Städten mit frühem Apothekenwesen wie Regensburg . Siehe Habrich (1970), S . 7; Bartels (2003), S . 46 f . 24 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  3 (Konzept einer Apothekenordnung 1459); Rittershausen (1970), S . 146 . 25 Rittershausen (1970), S . 146 . 26 Zu den Medizinalstatuten Friedrichs II . siehe Jankrift (2003), S . 45–47; Schmitz (1998), S . 508–514 . 27 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  5 (Apothekeneid des Rabodus Kremer 1461); Rittershausen (1970), S . 151; Schulz (1960), S . 26 f .; Adlung (1931), S . 36 f . 28 Berendes (1907), S . 110 . 29 Rittershausen (1970), S . 143, 156; Bartels (2009) . 30 ISG Frankfurt, Bürgermeisterbuch Nr . 40, fol . 31r (Eintrag im Bürgermeisterbuch 1475/76); Rittershausen (1970), S . 160 .

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JANA SCHREIBER

Rabodus Kremer angetreten hatte, und Johannes Steinheim .31 Die Rekonstruktion der genauen Geschehnisse bis 1500 ist aufgrund der Quellenlage schwierig . Ab 1499 gab es in Frankfurt wieder intensivere Bestrebungen, eine allgemeingültige Apothekenordnung zu verfassen, und so übergab der Stadtarzt Geratwol dem Rat ein erstes Konzept . Wie auch der Apothekeneid von Rabodus Kremer erhöhte es einerseits die Position der Ärzte und beschnitt andererseits stark die Selbstbestimmung der Apotheker . Diese verfassten daraufhin ein Antwortschreiben, in dem sie sich vor allem den Punkten widersetzten, die ihre Selbständigkeit den Ärzten gegenüber beschneiden sollten . Aufgrund der Konfliktlastigkeit stagnierten die Normierungsbestrebungen vorerst .32 Im weiteren Verlauf des Jahres 1499 legte der Stadtarzt Geratwol dem Rat erneut ein Konzept einer Apothekenordnung vor, auf das die Apotheker im Juli des folgenden Jahres schließlich schwören mussten . Der Titel der Ordnung (Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum)33 zeigt, dass der Ausdifferenzierungsprozess von allgemeinen Kramläden hin zu Apotheken als Orte der Arzneimittelzubereitung und -veräußerung zu Beginn des 16 . Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen war34 . Dem sich ausbildenden Apotheker-Beruf standen die Ärzte gegenüber, die im spätmittelalterlichen Frankfurt nicht selten die Arzneimittelzubereitung in ihrem eigenen Tätigkeitsbereich verorteten und diese auch praktizierten . Die entstehende Ausdifferenzierung zwischen Apothekern als Arzneimittel zubereitendes und veräußerndes Gewerk und den Ärzten als medizinisch praktizierender Berufsstand, der Rezepte ausstellen, aber nicht anfertigen durfte, bot deshalb ein großes Konfliktpotential, wie sich im Folgenden zeigen wird . Die Artikel der Apothekenordnung lassen sich in folgende drei Themenfelder gliedern: 1 . Anweisungen zur Herstellung von Arzneien; 2 . Artikel zur Aufbewahrung und Lagerung der Materialien; 3 . Artikel, die die Zuständigkeiten zwischen den Apothekern und Stadtärzten festlegten . Die ersten beiden Themenfelder regelten vor allem die unterschiedlichen Arbeitsschritte der Apotheker . So mussten diese versichern, keine verdorbenen Zutaten bei der Herstellung der Arzneien zu verwenden (Artikel 2), ihre Arzneien allein nach den

Rittershausen (1970), S . 160 f . Rittershausen (1970), S . 165–173 . ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) . Ediert bei Adlung (1931), S . 75–77, gedruckt bei Rittershausen (1970), S . 183 . 34 Siehe hierzu auch Rittershausen (1970), S . 90 . 31 32 33

Herren oder Knechte?

Rezeptbüchern Nicolais35 und Mesuës36 anzufertigen (Artikel 3), sich an bestimmte Herstellungsweisen der verschiedenen Arzneien zu halten (Artikel 6–8) sowie giftige Materialien in gesonderten Behältnissen aufzubewahren und sie nicht frei verkäuflich anzubieten (Artikel 13) . In ihrer Stellungnahme, die die Apotheker dem Rat vor Inkrafttreten der Ordnung vorlegten, hatten sie gegen diese Artikel wenig einzuwenden .37 Die Festlegung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Apothekern und Stadtärzten war allerdings bereits seit der Mitte des 15 . Jahrhunderts Ausgangspunkt von Streitigkeiten gewesen und stellte sich bei der Etablierung der Apothekenordnung von 1500 erneut als Konfliktfeld heraus . Denn auch wenn sie den Apothekern ihre Existenzberechtigung nicht absprachen, nutzten die Stadtärzte als Verfasser dieser Apothekenordnung die Gelegenheit, ihre eigene Position durch die einzelnen Artikel gegenüber ihren pharmazeutischen Kollegen und Kontrahenten zu stärken . Um sich diesen Bestimmungen zu widersetzen, entwarfen die Apotheker in ihren Stellungnahmen seit der Mitte des 15 . Jahrhunderts Selbstbilder . Wie diese aussahen und sich transformierten, wird im Folgenden analysiert werden . Die Apotheker als Kaufleute und Händler

Forschungsarbeiten zum frühen Apothekenwesen haben bereits gezeigt, wie eng der Kramhandel und die Apotheken strukturell, aber auch im praktischen Berufsalltag miteinander verbunden waren . Noch zu Beginn der Frühen Neuzeit lässt sich keine scharfe Trennlinie zwischen beiden Tätigkeitsfeldern erkennen . So gehörten die Apotheker in Mainz und Trier beispielsweise der Kramerzunft an und Regensburger und 35 Dabei handelt es sich um eine Rezeptsammlung, die vermutlich am Ende des 12 . Jahrhunderts verfasst worden ist . Voraussetzung für die Entstehung des Antidotariums war die Rezeption der arabischen Medizin, die in diesem Zeitraum verortet werden kann . Über die Person Nicolai ist nichts bekannt, es handelte sich aber vermutlich um einen angesehenen Arzt, dem das Werk zugeschrieben worden ist, um dessen Verbreitung auszuweiten . Das Buch setzt sich aus ca . 120 der gebräuchlichsten Medikamente des Antidotarium Magnum zusammen, einer Rezeptsammlung, die um 1060 in Süditalien entstanden war, und wurde unter anderem durch sechs weitere Rezepte, die von Ärzten aus Salerno stammten, erweitert . Das Antidotarium des Nicolai diente ab 1300 im deutschsprachigen Raum als zentraler Bezugspunkt für nachfolgende Arzneimittelbücher . Schmitz (1998), S . 372–378; Goltz (1976), S . 65 f ., 152 f .; Roberg (2007), S . 252–254 . 36 Das Arzneimittelbuch des (Pseudo-)Mesuë ist ein Rezeptbuch, das vermutlich nach 1200 in Norditalien zusammengetragen wurde und Texte von Avicenna, Rhazes und Albucasis enthält . Das Autoren-Pseudonym – der Kompilator nennt sich selbst „Mesuë filius“ – geht auf den syrischen Arzt und Schriftsteller Johannes Mesuë d . Ä . zurück, der im 8 . und 9 . Jahrhundert medizinische Texte aus dem Griechischen übersetzte und ein wichtiger Vertreter der arabischen Medizin dieser Zeit war . Das Antidotarium enthält 432 Rezeptvorschriften und entwickelte sich im 16 . Jahrhundert neben demjenigen des Nicolai zu einem Standardwerk der Arzneimittelkunde im deutschsprachigen Raum . Siehe u . a . Schmitz (1998), S . 382–385; De Vos (2013), S . 683–685; Keil/Vaňková (2005), S . 25 f . 37 Sie widersprachen lediglich Artikel 7, in dem die Ordnung vorsah, Materialien nur zu pulverisieren, wenn sie das Pulver unmittelbar weiterverarbeiten konnten, da dies nicht praktikabel sei . ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 31 (Stellungnahme der Apotheker von 1500) .

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Zürcher Pharmazeuten verstanden sich zugleich als Fernhändler .38 Zudem konnten nach Auswertung Zürcher Quellen keine einschlägigen Unterschiede der Handelswaren festgestellt werden .39 Simon verweist darauf, dass sich die Apotheker bewusst mit den Krämern identifiziert hätten, bevor sie ein eigenes Standesbewusstsein entwickelten .40 Wie aber sah dieser Identifikationsprozess aus? Welche Praktiken der „SelbstBildung“ wandten die Apotheker an und welche konkreten Ziele verfolgten sie mit ihrer Strategie, nicht nur als Pharmazeuten, sondern auch als Krämer verstanden zu werden? Die überlieferten Dokumente zu den Streitigkeiten der Frankfurter Apothekenordnung von 1500 bieten umfangreiche Aussagen, anhand derer sich diese Fragestellungen bearbeiten lassen . Zusammen mit der Apothekenordnung sollte in Frankfurt in der zweiten Hälfte des 15 . Jahrhunderts auch eine Arzneimitteltaxe etabliert werden . Bereits 1461 war eine solche festgeschrieben und eingeführt worden, der Rat hatte aber offensichtlich bis zum Beginn des 16 . Jahrhunderts auch von den Apothekern selbst erstellte und eingereichte Preislisten geduldet .41 Um den obrigkeitlichen Eingriff durch eine Taxe in sein Geschäft zu vermeiden, kreierte Matthäus Mettling in einem Schreiben, das am 6 . Februar 1500 beim Rat einging, ein Szenario, in dem die Apotheken aufgrund fester Arzneimittelbepreisung ökonomisch nicht bestehen könnten und somit auch die Arzneimittelversorgung in Gefahr stünde . So hätten sich die Preise für einen Großteil der Materialien innerhalb von acht Jahren verdoppelt .42 Diese Begründung war nicht frei konstruiert . Anders als andere Handwerke, die im Einkauf meist nur den lokalen Preisschwankungen ausgeliefert waren, erwarben die Apotheker die Zutaten für ihre Arzneien häufig aus fernen Gebieten und waren somit größeren Konjunkturen ausgesetzt .43 Der Rat schien dieser Argumentation folgen zu können, was den Stadtarzt Geratwol im Jahr 1500 so sehr in Bedrängnis brachte, dass er in einem Schreiben die von ihm erhobenen Preise damit rechtfertigte, er habe diese aus den Taxordnungen von Augsburg, Ulm, Nürnberg usw . übernommen .44 Der Rat erlaubte schließlich  – vermittelnd zwischen den beiden konkurrierenden heilkundigen Professionen –, dass der bereits im Januar eingegangene Taxentwurf des weniger streitfreudigen Apothekers Johannes Heckmann erlassen und in die Ordnung übernommen wurde .45

38 Zu Mainz und Trier Müller-Faßbender (2015), S . 185; zu Zürich Simon (1983), S . 150–157; zu Regensburg Habrich (1970), S . 15 f . 39 Simon (1983), S . 150–157 . 40 Simon (1983), S . 158 . 41 Rittershausen (1970), S . 191 . 42 Rittershausen (1970), S . 179 f .; ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 27 (Vorstellung der Apotheker Matthäus Mettling und Johannes Heckmann gegen den Entwurf des Apothekereides 1499) . 43 Dressendörfer (1979), S . 98–100 . 44 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 33 (Rechtfertigung Dr . Geratwol) . Zur Festlegung der Taxen siehe Henn (2011), S . 172–175 . 45 Rittershausen (1970), S . 191 f .

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Auch wenn die Apotheker bereits 1499 die Notwendigkeit einer Taxe zurückgewiesen hatten, da es in Frankfurt bis dahin wegen der Arzneimittelpreise noch nicht zu Konflikten gekommen sei, war die Einführung einer allgemeinen Arzneimitteltaxe auch in anderen deutschsprachigen Städten Teil der gesetzgeberischen Praxis . Nicht überall gab es aber deshalb Streitigkeiten . In Regensburg beispielsweise akzeptierten die Apotheker die Taxe und die Ordnung von 1523, auch wenn sie den Rat 1533 baten, die Taxe aufgrund steigender Preise anzuheben .46 Möglicherweise bezog Mettling gegen die Taxe nicht nur eindeutig Stellung, um diese abzuwenden . Mit seiner Argumentation scheint er auch auf seine Kenntnisse über die Märkte des Fernhandels verwiesen zu haben, um sich hier als Akteur eben dieses ökonomischen Feldes zu inszenieren . Als Fernhandelskaufmann war er, genauso wie die anderen Apotheker zu Beginn der Frühen Neuzeit, in der Stubengesellschaft „Frauenstein“, der Standesvereinigung der Garnleute, korporiert . Auch wenn die Gesellschaft „Frauenstein“ erst im 18 . Jahrhundert den Anspruch erhob, Teil des Frankfurter Patriziats zu sein, bekleideten ihre Mitglieder zusammen mit der Gesellschaft „Alten Limpurg“ um 1500 die erste und zweite Ratsbank, wobei 80 bis 85 Prozent der Ratssitze von „Alten Limpurgern“ besetzt waren . Die „Frauensteiner“ standen in der städtischen Hierarchie aber dennoch über den Handwerkerzünften, die die dritte Bank des Rates bekleideten, deren Einflussnahme auf das politische Geschehen jedoch marginal war .47 Die Position eines Frankfurter Fernhandelskaufmanns brachte den Apothekern also politischen Einfluss in der Stadt und bereitete ihnen auf diese Weise ein Netzwerk zu politisch einflussreichen Amtsträgern, eine starke Berufs- und Interessensvertretung in Form der Trinkstubengesellschaft „Frauenstein“ und daraus folgend Handlungsspielräume, die sie für ihre soziale und ökonomische Stellung innerhalb der Ständegesellschaft nutzbar machen konnten . Von diesem Standort aus empfand Mettling die Etablierung einer festgeschriebenen Bepreisung offensichtlich als Versuch des Rates, seinen ökonomischen Handlungsspielraum einzugrenzen . Die Strategie, sich als Akteure des Handels zu inszenieren, findet sich in den Stellungnahmen der Apotheker nicht nur im Versuch, die Taxe abzuwenden . Ein besonders deutliches Bild zeichnet dabei Matthäus Mettling . In seinem Schreiben, das er noch im Juli 1500, wenige Tage bevor er gezwungen wurde, auf den Eid zu schwören, an den Rat richtete, bat er darum, seine Tätigkeit als Händler, „wie ander burgern die eynen erlichen ufrichtigen handel drybenn“, ohne die für ihn existenzbedrohenden Bestimmungen ausführen zu können .48 In der Stellungnahme, die er zusammen mit

46 Taxen aus dem deutschsprachigen Raum, die älter sind als die Frankfurter, sind unter anderem Breslau (1340), Basel (1404), München (um 1420, 1453), Wien (1443, 1452, um 1457, 1459), Augsburg (1453); siehe Dressendörfer (1995), S . 25 f . Zu Regensburg siehe Habrich (1970), S . 14 f ., 25 . 47 Dietz (1910), S . 226 (Matthäus Mettling), 228 ( Johannes Heckmann); Bund (1991), S . 107 . 48 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 32 (Schreiben des Apothekers Matthäus Mettling an den Frankfurter Stadtrat aus dem Jahr 1500) .

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Johannes Heckmann bereits 1499 zu einem Konzept für die Apothekenordnung formuliert hatte, wies er den Artikel, der den freien Verkauf von purgierenden Mitteln ohne die Verschreibung eines Arztes verbot, zurück . Ebenso wie in einem weiteren Schreiben aus dem Jahr 1499 erwähnte er hierbei seine Tätigkeit als Apotheker in Venedig, wo er niemals von einer solchen Bestimmung gehört habe .49 Da ein Aufenthalt in Venedig für die Frankfurter Kaufleute während ihrer Lehrjahre als „Hohe Schule“ galt, betonte er an dieser Stelle explizit auch den hohen Grad seiner Qualifikation und Ausbildung als Kaufmann .50 Für den Rat war die Taxe sicherlich ein politisches Ordnungs- und Machtinstrument, das einerseits die Einflussnahme auf den medizinischen Markt ermöglichte und sicherstellte . Andererseits wurde durch das Aushängen der Arzneitaxe in der Apotheke und das Befolgen der verordneten Bepreisung die obrigkeitliche Machtausübung auf den medizinischen Markt kommuniziert und performativ ausgeführt . Diese Zielsetzung des Rates lässt sich im Zuge der Frankfurter Apothekengesetzgebung ebenfalls in anderen angewandten Praktiken deutlich erkennen . Um das aufkommende Apotheken-Gewerbe in das Medicinalwesen und somit auch das städtische Gemeinwesen einzugliedern, dienten die frühen Apothekenordnungen nicht nur der Regulierung, sondern auch der Kontrolle . Diese Kontrolle über die Ausführung und Anerkennung obrigkeitlicher Normierung war zu Beginn der Frühen Neuzeit eine wichtige Voraussetzung für die Etablierung von Herrschaft . Damit das Apothekenwesen dauerhaft in das Regiment des Stadtrates und das Medicinalwesen eingegliedert werden konnte, findet sich in der ersten allgemeinen Apothekenordnung Frankfurts von 1500 auch das Kontrollinstrument der Apothekenvisitation wieder .51 Dabei nahmen zwei Ratsdeputierte zusammen mit den Stadtärzten die Beschauungen vor (Artikel 9) . Das Gremium inspizierte das gesamte Inventar der Apotheken, um verdorbene Zutaten oder beschädigte Instrumente und Gefäße auszusondern .52 Derartige Bestimmungen finden sich seit dem 14 . Jahrhundert in den Ordnungen vieler Frankfurter Zunfthandwerke wie beispielsweise in den Brotschauen der Bäcker .53 Anders als die Apotheker waren die Bäcker als Berufsstand seit dem 14 . Jahrhundert durch zünftige Pflichten in das Gemeinwesen integriert und mit einem Eid an den Rat gebunden . Die Brotschauen nahmen jedoch allein die Zunftmeister der Bäcker vor, die anschließend einen Bericht

49 Rittershausen (1970), S . 169; ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 27 (Vorstellung der Apotheker Matthäus Mettling und Johannes Heckmann gegen den Entwurf des Apothekereides 1499) . 50 Zur Ausbildung der Frankfurter Kaufleute siehe Rocholl (1942), S . 19 f . 51 Apothekenvisitationen wurden im 15 . Jahrhundert auch in anderen Städten eingeführt . So ordnete der Regensburger Stadtrat dem Arzt Friedrich Poss 1463 mit seiner Bestallung auch eine Aufsichtspflicht über die Apotheken an . Siehe Habrich (1970), S . 17, 25 . 52 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) . 53 Für die Frankfurter Bäcker findet sich aus dem Jahr 1355 eine erste Ratsverordnung über die Brotschau und Schweinehaltung, ediert bei Bücher/Schmidt (1914), S . 20 f .

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verfassen mussten . Da das sich ausdifferenzierende Apothekenwesen neu in die städtische Normierung eingebunden werden musste, bestand der Rat deshalb vermutlich nicht nur auf dem Beisein der Ratsdeputierten, da es nur zwei Apotheker in Frankfurt gab und sich ein Kontrollgremium so nicht anders bilden konnte . Er wandte die Visitationen zudem als regelmäßige Machtdemonstration der städtischen Obrigkeit an .54 Die „Selbst-Bildung“ der Apotheker als Frankfurter Kaufleute spiegelt sich, zumindest implizit, ebenfalls in der Auseinandersetzung mit den Ärzten wider . Wie bereits in den Stellungnahmen von 1500 trat Mettling auch hier als zentraler Agitator in Erscheinung . Hauptstreitpunkt zwischen ihm und beiden Stadtärzten war die Beschaffenheit seiner Arzneimittel . Bereits 1497 hatte sich Geratwol aufgrund der angeblich mangelnden Qualität der angefertigten Medikamente geweigert, Mettlings Apotheke mit der Herstellung seiner Arzneien zu betrauen . Zudem beklagte er sich darüber, dass der Apotheker sich mehrere Male zur Vesperzeit gesträubt habe, Arzneimittel für erkrankte Patient:innen anzufertigen, und stellte somit auch den Willen seines Kontrahenten in Frage, Verantwortung tragen zu wollen .55 1498 war seine Frustration darüber, wie der Rat seine Bedenken wiederholt missachtet hatte, so groß, dass er in Erwägung zog, sein Amt als Stadtarzt aufzugeben: Ersamen lieben Herrn, weiß nit wafür ichs halten sol und gethane pflicht halben nit underwegen lassen und so ich ye mer anzege, als mer mal von mir vor auch schrifftlich beschehen ist, nach meinem beduncken ye mer irrung, gespött und verachtung nachvolget, wann ungelert ärtzte, juden und ander aygen apoteckerey heymlich, doch wyssentlich verkauffen vil thewer, vil schädlich zu gelassen hye freyen mutwillen treyben, So ein erbar Rat nit anders dar ze thuen würdt ich meiner pflicht mussen urlaub geben […] .56

Auch 1500 war der Streit noch nicht beigelegt . So richtete Mettling ein Beschwerdeschreiben an den Rat, in dem er sich über die Stadtärzte beklagte, da diese seine Dienste weiterhin verweigerten .57 Neben den pharmazeutischen Fähigkeiten, die im folgenden Kapitel noch weitere Aufmerksamkeit finden werden, offenbart sich in der Stellungnahme der beiden Apotheker von 1500 ebenfalls eine ökonomische Ebene dieses Konflikts . So verlangten sie, die Ärzte sollten im Rahmen der jährlich stattfindenden Apothekenvisitationen „nit nyde unnd hass gegen uns bruchen“ .58 Ein Blick auf die Vermögensaufstellung der Frankfurter Einwohnerschaft aus dem Jahr 1587 lässt vermuten, dass der angesprochene 54 Die Zuständigkeit eines Gremiums aus Stadtärzten und Ratsdeputierten war nicht ungewöhnlich und findet sich auch in anderen deutschsprachigen Städten, wie beispielsweise in Köln . Schütte (2017), S . 311 . Siehe auch, zu Nürnberg, Philipp (1962), S . 28 . 55 Rittershausen (1970), S . 171 f . 56 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 22 (Schreiben Geratwols an den Rat, 16 . Oktober 1498) . Zu Teilen auch zitiert bei Rittershausen (1970), S . 173 . 57 Rittershausen (1970), S . 177 . 58 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 31 (Stellungnahme der Apotheker von 1500) .

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Neid sich auch um 1500 bereits auf die gute finanzielle Situierung der Pharmazeuten bezogen haben könnte . So besaßen die sechs 1587 gelisteten Frankfurter Apotheker ein durchschnittliches Vermögen von etwa 3 .600 bis 5 .000 Gulden und gehörten damit zu den wohlhabenden Bürger:innen, während die fünf aufgeführten Ärzte lediglich ein durchschnittliches Vermögen von 600 bis 1 .160 Gulden vorweisen konnten .59 Auch gesellschaftspolitisch waren die Apotheker durch ihre Mitgliedschaft in der Trinkstubengesellschaft „Frauenstein“ in günstiger Position . Den Ärzten wurde hingegen nicht vor Anfang des 17 . Jahrhunderts die Ratsmitgliedschaft und damit die aktive Partizipation am politischen Geschehen eröffnet . Eine institutionalisierte Interessensgemeinschaft – das Collegium Medicorum – gründete sich sogar erst 1729 .60 Wie sehr sie sich gegen 1500 um die Reputation ihres Berufsstandes bemühen mussten, zeigen unter anderem die bereits zitierten Beschwerden über den schlechten Zustand des Medicinalwesens, die der Stadtarzt Geratwol erfolglos an den Rat richtete .61 In welchem Maße die Apotheker zumindest langfristig durch ihr Einlenken einen Erfolg erzielen konnten, zeigt das Konzept einer Ordnung von 1580, in dem ihre misstrauische Formulierung gegenüber den Ärzten sogar mit in den Artikel zur jährlichen Visitation übernommen wurde: Dargegen sollen auch unsere Medici, sich gegen des Apoteckhers, wie sie irem Ampt unnd Eyd fleissig nachkhommen, unnd ein genueges thuen gebürlich und freundlich halten, nicht auß aigenen gefassten Affecten, sie übergeben unnd eigenen gefallens Schimpffens, oder auß neyd unnd haß, zu schaden zubringen understehen […] .62

Die einflussreiche und ökonomisch gutsituierte Stellung der Frankfurter Kaufleute als Teil des städtischen Patriziats erklärt die aktiven Bemühungen der Apotheker, eben als solche verstanden zu werden . Aus dieser Subjektposition heraus eröffneten sich ihnen politische und ökonomische Handlungsspielräume, die den akademischen Ärzten verschlossen blieben . Die Apotheker als Pharmazeuten

Das vorausgegangene Kapitel hat gezeigt, wie sich die Frankfurter Apotheker dem Stand der (Fernhandels-)Kaufleute und Krämer zuordneten und diese Rolle dem Rat

Bothe (1920), S . 150 f . Schindling (1991), S . 235; Stricker (1847), S . 197 . Beispielsweise beschwerte er sich 1497 nicht nur über das Verhalten Mettlings, sondern kritisierte die Zustände des Medicinalwesens insgesamt . 1498 drohte er, wie beschrieben, gar damit, sein Amt als Stadtarzt aufgeben zu müssen, wenn der Rat nichts gegen die unzumutbaren Umstände unternehme . Siehe hierzu Rittershausen (1970), S . 172 f . Die Praktik der Stadtärzte, durch wiederholte Beschwerden über die Apotheker ihre eigene Stellung vor dem Stadtrat zu stärken, findet sich beispielsweise auch in Wien und Köln . Schütte (2017), S . 299, 313 . 62 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 56 (Konzept einer Apotheken- und Ärzteordnung von 1580) . 59 60 61

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gegenüber immer wieder eindeutig inszenierten . Da sich mit dem Ausdifferenzieren der heilkundigen Berufe ihr Tätigkeitsfeld zu wandeln begann und in dessen Mittelpunkt mehr und mehr die Arzneimittelzubereitung rückte, verlangte es nach einer Erweiterung ihrer Subjektposition als pharmazeutische Experten, die dieser Aufgabe gerecht werden konnten . In den Streitigkeiten um die Apothekenordnung von 1500 finden sich deshalb Strategien, die ihre pharmazeutischen Kenntnisse demonstrierten, um im Aushandlungsprozess der Rangordnung des Medicinalwesens bestehen zu können . Die Apothekenordnung von 1500 lässt dies sehr deutlich werden . In ihr erscheinen die Stadtärzte in leitender Position innerhalb des Apothekenwesens . Sie waren es, die durch das Verfassen der Ordnungen die Tätigkeitsbereiche koordinierten und in ihrer Funktion als Visiteure gemeinsam mit den Ratsdeputierten jährlich die Apotheken beschauten, aber auch die alltäglichen Verrichtungen der Apotheker kontrollierten . Dies betraf beispielsweise den Verkauf von Mitteln zur Purgation (Abführmittel), die aufgrund ihrer lebensgefährlichen Nebenwirkungen bei falscher Dosierung nur mit dem Einverständnis eines Arztes verkauft werden durften (Artikel 10) . Die Apotheker standen aber nicht nur bei der Herstellung gefährlicherer Arzneimittel unter der Aufsicht der Ärzte . So sollte auch die Zubereitung gewöhnlicher Medikamente nur im Beisein akademischer Ärzte verrichtet werden .63 Zuvor mussten alle benötigten Materialien von diesen inspiziert und nach der Fertigstellung mit Namen und Datum beschriftet werden (Artikel 4 und 5) .64 Falls bestimmte Zutaten nicht verfügbar oder Rezepte offensichtlich fehlerhaft ausgestellt worden waren, durften die Apotheker die angegebene Rezeptur nicht ohne das Einverständnis der Ärzte verändern .65 Wie in der Frühen Neuzeit üblich, bestand in Frankfurt zwischen Arzt und Apotheker also keine kollegiale Partnerschaft auf Augenhöhe, sondern ein strukturell angelegtes Mächteungleichgewicht . Um zu analysieren, mit welchen Strategien und Praktiken die Apotheker versuchten, gegen dieses Ungleichgewicht anzugehen, soll zunächst erklärt werden, worauf sich die führende Position der (Stadt-)Ärzte gründete . Diese sind als medizinische Gelehrte und Praktizierende und zugleich als Inhaber eines städtischen Amtes zu verstehen . Das bereits erläuterte Konzept „Statebuilding from Below“ verweist auf die Herrschaftsbildungsprozesse, die nicht nur einspurig vom Stadtrat als

63 Da neben extra aufgeführten Arzneien auch andere, gewöhnliche benannt werden, scheint es sich hier um jegliche Composita, also gemischte Arzneien zu handeln: „Item so ich Confortatina, Laxatina, Opiata und andre gewoniliche Ertzeney […]“ . ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) . 64 Bereits in den Apothekeneiden des 13 . Jahrhunderts, wie Arles und Melfi, mussten die Apotheker ihre Arzneien immer unter der Aufsicht eines Arztes anfertigen . Diese Regelungen finden sich auch im deutschsprachigen Raum wieder, wie beispielsweise in den Apothekeneiden von Breslau (1335–1355), Regensburg (1397) und Basel (2 . Hälfte des 15 . Jahrhunderts) . Die Apothekeneide finden sich ediert bei Adlung (1931), S . 7–9 (Arles), 9–13 (Melfi), 15–19 (Breslau), 22 f . (Regensburg), 30–34 (Basel) . 65 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) .

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städtischer Obrigkeit ausgeführt und kommuniziert wurden . Herrschaftslegitimation musste auch durch Zustimmung der Stadtbevölkerung erfolgen . Zur Machterhaltung war es deshalb notwendig, mit Hilfe alltäglicher Praktiken Herrschaft zu demonstrieren und zu festigen . Obrigkeitliche Amtsträger hatten dabei eine zentrale und zugleich doppeldeutige Rolle . Sie handelten im Sinne der Obrigkeit und vertraten simultan die Interessen der städtischen Bürgerschaft .66 Die Anwesenheit der Stadtärzte bei den Visitationen hatte deshalb nicht nur die Funktion des Beiseins medizinischer Experten . Sie traten auch in ihrer Rolle als Amtsträger auf, die durch die Durchsetzung des städtischen Rechts alltäglich obrigkeitliche Herrschaft ausführten und diese repräsentierten . Ihre Tätigkeiten als Stadtärzte müssen deshalb als medizinisches Praktizieren und politisches Agieren bezeichnet werden . Diese Tatsache zeigt, dass der Stadtrat mit Hilfe der Apothekengesetzgebung als Teil der policeylichen Normierung also nicht allein versuchte, die medizinische Versorgung zu optimieren, sondern zugleich seine Herrschaft zu festigen . Ihr akademisches Studium führte die Ärzte in die sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken der (medizinischen) Gelehrtenwelt ein und formte sie zu „Experten“ der Heilkunde . Dieser Status allein reichte jedoch nicht aus, um ihre Position innerhalb der ständischen Rangordnung und innerhalb des Medicinalwesens sichern zu können . Wie eingangs bereits angeführt, mussten sie als Ärzteschaft, aber auch als Individuen ihren gesellschaftlichen Stand und ihre medizinischen Fähigkeiten immer wieder durch sozial und kulturell verstehbare Praktiken kommunizieren . Harnschauen, Veröffentlichungen medizinischer Werke, das Verfassen obrigkeitlicher Ordnungen etc . stifteten ihren Patient:innen gegenüber Vertrauen und bezeugten ihr medizinisches Können . Sie dienten ihnen so zur Erhaltung und zugleich zur Ausweitung ihrer Tätigkeitsbereiche und sozialen Stellung .67 Durch die enge Verknüpfung von Medizin und Pharmazie gleichen sich an vielen Stellen auch die Handlungsmuster, 66 „Their [officeholders] agency crucially influenced the state’s significance and efficiency on the spot, since they – in the true sense of the word – embodied the state . […] Because of the ambiguity of their position – that is their ‚double character as representatives of authority on the spot and as representatives of the local community against authority‘ – the lower officers in particular had to balance the demands and requirements of their office against their consideration of local circumstances .“ Holenstein (2009), S .  21 . Der 2004 von Markus Meumann und Ralf Pröve herausgegebene Sammelband „Herrschaft in der Frühen Neuzeit“ stellt einem bipolaren Beziehungsgeflecht von Herrschaft, das vor allem Herrschende und Beherrschte sieht, ein kommunikatives „multipolares Modell“ gegenüber . Darin stehen auch Akteure und Strukturen im Fokus, die von beiden Seiten als Herrschaftsvermittler angesehen werden . Meumann/Pröve (2004), S . 45 . Siehe auch Brakensiek (2005), S . 50, 58; Brakensiek (1999); Landwehr (2002) . 67 „University education can be seen as an initiation into the practice and rituals of a scholarly culture that saw itself universal rather than specialized .“ Schilling/Jankrift (2016), S . 145; Füssel (2019), S . 10 . Alkemeyer, Budde und Freist beschreiben in ihrer Einleitung zum Sammelband „Selbst-Bildungen . Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung“, wie Akteure durch ihre Handlungen ihre „Subjektform performativ durch ‚Überschreibungen‘“ verändern können, wobei sie aber immer an gesellschaftliche, kulturelle, politische etc . Kontexte und Konventionen gebunden sind . Siehe Alkemeyer/Budde/Freist (2013), S . 21 . Zur Vertrauensstiftung frühneuzeitlicher Ärzte siehe Schilling/Jankrift (2016), S . 132 .

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derer sich beide Professionen bedienten . Die Herstellung und Veräußerung von Arzneimitteln beispielsweise stellte nicht nur eine finanzielle Einnahmequelle dar . Sie war vor allem zentraler Bestandteil im Prozess des Gesundwerdens . Ein wirkendes Mittel demonstrierte vor den Patient:innen die fachliche Kompetenz der/s Hersteller:in, weshalb die Arzneimittelherstellung für sehr viele heilkundige Berufe eine wichtige Praktik darstellte . Auch wenn den akademischen Medizinern in Frankfurt das Dispensieren nicht gestattet war, tauchen in den Quellen immer wieder Ärzte auf, die diese Praktik weiterhin für sich beanspruchten, wie ein Stadtarzt, der 1348 in Frankfurt praktizierte, oder ein „Meister Johann“, dem der Rat 1499 deshalb sogar den Dienst kündigte .68 In anderen Städten stritten sich die beiden Berufsgruppen noch bis zum Ende des 17 . Jahrhunderts um das Recht, dispensieren zu dürfen . Die Zürcher Apotheker versuchten vor dem Rat ihren akademischen Kontrahenten die Arzneimittelherstellung zu verbieten, um eine striktere Trennung der Tätigkeitsbereiche erwirken zu können . Die Ärzte lehnten dies mit unterschiedlichen Argumenten ab . So gäbe es viele Apothekergesellen, die durch Arzneimittelexperimente die Erkrankten in Gefahr brächten, auch könnten sich viele mittellose Menschen keine Medikamente aus den Apotheken leisten und bekämen diese bei den Ärzten gratis, um die städtischen Spitäler zu entlasten .69 Daran zeigt sich deutlich, wie die Zürcher Mediziner das Dispensieren dazu nutzten, ihr moralisches Handeln und ihre fachliche Qualifikation gegenüber den pharmazeutischen Kollegen zu erhöhen, um so ihre führende Position innerhalb der medizinischen Versorgung zu rechtfertigen . Eine weitere Praktik, die diesem Zweck diente, war die Aufsicht über die Apotheken samt der jährlichen Visitation . Die akribischen Handlungsweisen und die strikten Konsequenzen, mit denen die akademischen Mediziner Fehltritte ihrer handwerklichen Kollegen ahndeten, machen deutlich, wie zentral ihr inszenierter Wissensvorsprung und die damit verbundene Verantwortung in ihrem Selbstverständnis waren, weshalb sie beides als Instrumente im Rangkonflikt einsetzten . Ihre Rolle als Visiteure der Apotheker erteilte ihnen also auch die Macht, deren Arbeit als mangelhaft und schlecht zu degradieren . Dadurch konnten sie ihren eigenen akademischen Wissensstand noch einmal mehr hervorheben und die Notwendigkeit ihrer leitenden und kontrollierenden Tätigkeiten innerhalb des Medicinalwesens bekräftigen . Auffällig ist, dass sie sich vor dem Rat immer wieder über die Apotheker beschwerten und die Arbeit ihrer Konkurrenten damit abwerteten . Diese unterstellten dem ärztlichen Vorgehen wiederum, dass sich die Beschwerden nicht vorrangig gegen ihre angeblich mangelnden Fähigkeiten richteten, sondern ein Instrument waren, um sie als wirtschaftlich stärkere Akteure dem Regiment der Stadtärzte unterzuordnen . Bemerkenswert ist, wie die Apotheker den Rat ebenfalls auf fehlerhaftes Verhalten ihrer akademischen Konkurrenten hinwie-

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Schelenz (1904), S . 346; Rittershausen (1970), S . 173; Simon (1983), S . 140–143 . Simon (1983), S . 141–143 .

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sen . So schrieb Matthäus Mettling, er habe bisher sehr schlechte Erfahrungen bei der Herstellung von Arzneien nach Anweisungen der Ärzte gemacht und wolle dies deshalb nicht mehr ausführen, es sei denn, der Rat ordne ihm ausdrücklich etwas anderes an .70 Damit zweifelte er eindeutig die Qualität der ärztlichen Rezepte an und untergrub ihre Autorität . Eine gegenseitige Kontrolle, die der Apotheker an dieser Stelle implizit formulierte, war zu Beginn des 16 . Jahrhunderts durchaus denkbar . In den Apothekenordnungen des deutschsprachigen Raumes finden sich immer wieder Passagen, die ein ausgewogeneres Machtverhältnis zwischen beiden Professionen aufweisen . Der Münchner Eid verpflichtete die Apotheker, dem Herzog oder Rat zu melden, wenn ein Arzt falsche Arzneien verschrieb oder Präparate selbst anfertigte .71 In Frankfurt findet sich diese Regelung in späteren Ordnungen des 16 .  Jahrhunderts wieder .72 Diese Tatsache zeigt, dass Zuständigkeitsgrenzen und Kompetenzen abhängig von den Umständen und Strategien der Akteure variierten und verschoben werden konnten . Die Inszenierung von Wissensbeständen und Qualifikationen spielte daher eine große Rolle . Ihr Wissen mussten die Ärzte aber nicht nur vor dem Rat und den Apothekern demonstrieren, sondern auch vor ihren Patient:innen . Neben humoralpathologischen Texten und der Anatomie waren sie dazu angehalten, während ihres Studiums zudem praxisorientiertes botanisches Wissen zu erlernen . Bereits in der ältesten Version der Statuten der medizinischen Fakultät zu Erfurt von ca . 1412 sollten die Medizinstudenten im Frühjahr einen Monat lang in den Apotheken bei der Herstellung von Arzneimitteln hospitieren .73 Diesen Ansprüchen entsprechend entwickelte sich die Heilpflanzenlehre im 16 . Jahrhundert vor allem in Universitätsstädten südlich der Alpen zu einer eigenständigen Disziplin . Um darin auch praktische Kenntnisse zu erlernen, besuchten die Studenten nicht nur universitäre, sondern ebenso private botanische Gärten, die häufig im Besitz der örtlichen Apotheker waren .74 Aufzeichnungen frühneuzeitlicher Ärzte zeigen zudem, wie sich die akademischen Mediziner immer wieder von ihren handwerklichen Kollegen beraten und belehren ließen . Denn auch ohne ein Studium an der Universität wiesen Letztere einen hohen Bildungsstand auf und verfügten über ausgeprägte praktische Erfahrungen im Umgang mit Arzneimitteln und deren Inhaltsstoffen . Zudem verfügten sie über dezidiertes Wissen, um deren Qualität ermitteln zu können .75 An der Universität in Köln finden sich im 15 . Jahrhundert sogar Apotheker als Studenten .76 Auch als Verfasser pharmazeutischer Werke tauchen sie auf, wie beispiels-

70 „Darumb das ich solches vertrauen unnd glauben glaubt hab, so hab ich solchenn schaden empfangen des ich zu diesser Zeit nit mer thun will Ich hab dann eynen andern bescheidt denn ich noch nicht hab “ ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 31 (Stellungnahme der Apotheker von 1500) . 71 Müller-Faßbender (2015), S . 146 . 72 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 56 (Konzept einer Apotheken- und Ärzteordnung von 1580) . 73 Berendes (1907), S . 107 . 74 Stolberg (2021), S . 80–82 . 75 Stolberg (2021), S . 83 . 76 Schmidt (1931), S . 33 .

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weise der Zürcher Apothekenknecht Hans Minner, der „Thesaurus medicaminum“ (1479) und weitere pharmazeutische und medizinische Schriften verfasste .77 Auch wenn die Frankfurter Apotheker keinen akademischen Abschluss zur Evidenz ihrer Expertise vorweisen konnten, war zumindest Matthäus Mettling als Spross einer Augsburger Ärztefamilie bereits mit der Gelehrtenwelt eng in Kontakt gekommen . Sein Vater, Peter Metlinger (ca . 1400–1484), war in Augsburg als Stadtarzt tätig gewesen, ebenso wie sein Bruder Bartholomäus (nach 1440–ca . 1491/92), der Autor des ersten deutschsprachigen Werks der Kinderheilkunde war . Er hatte in Freiburg und Padua studiert . Im Anschluss daran nahm er Lehraufträge an den Universitäten in Bologna und Heidelberg an .78 Vor allem die Universitäten von Padua und Bologna genossen im Rahmen der ärztlichen Ausbildung einen guten Ruf . Durch seine Familie konnte Mettling sicherlich auf einen gewissen Grad an medizinischem Wissen zurückgreifen, war vertraut mit dem ärztlichen Berufsalltag samt seinen Praktiken und womöglich Teil eines Netzwerks, das ihm Kontakte in die medizinische Gelehrtenwelt bescherte .79 Da der Stadtarzt Geratwol ebenso in Padua studiert hatte, wäre es sogar möglich, dass dieser Mettlings Bruder dort an der Universität kennengelernt hatte . Der Zeitraum seines Aufenthalts vermag jedoch nur insofern rekonstruiert zu werden, als dass er vor 1475 stattgefunden haben muss, weshalb diese Theorie nicht weiter verifiziert werden kann .80 Auch Matthäus Mettling hatte vermutlich, als Abkömmling einer Gelehrtenfamilie, wenn nicht ein Studium, dann aber anderweitig eine umfangreiche Ausbildung genossen . Um sich im Rangkonflikt mit den Ärzten gegen Eingriffe in die eigenen Arbeitsweisen und eine radikale Unterordnung zu wehren, demonstrierten die Apotheker in ihren Stellungnahmen vor dem Rat durch die Verwendung medizinischer Fachtermini und einen gelehrten Sprachduktus ihren hohen Bildungsgrad . So finden sich neben ausführlichen Anmerkungen zu den einzelnen Artikeln der Apothekenordnung am Rand kurze, in Latein verfasste Kommentare, wie „videlicet“ und „non valet“ . Um die Rezepte der Ärzte verstehen zu können, wurden Lateinkenntnisse ab dem 16 . Jahrhundert für die Apothekerlehre vorausgesetzt . Ute Fischer-Mauch führt dies aber auch auf das sich transformierende Standesbewusstsein der Apotheker zurück, das sich auf diese Weise dem frühneuzeitlichen Gelehrtentum anzunähern versuchte .81 Durch Simon (1983), S . 180 . Manzke (2008), S . 31; Kempf (2020) . Auch bei den akademischen Ärzten sowie in der gesamten frühneuzeitlichen Gelehrtenwelt formte die Familie grundlegendes soziales Kapital . Sie ermöglichte eine gute Ausbildung, stellte ein Netzwerk zur Verfügung und lehrte soziale Praktiken, siehe Schilling/Jankrift (2016), S . 132 . Möglicherweise war Matthäus Mettling nicht der einzige Apotheker in seiner Familie . So taucht 1530 in Nördlingen, wo Bartholomäus Metlinger bis zu seinem Lebensende als Stadtarzt tätig gewesen war, ein Apotheker namens Hans Metlinger auf . Ob dies sein Sohn war, konnte bisher jedoch noch nicht verifiziert werden . Manzke (2008), S . 31 . 80 Zu Geratwols Studium in Padua siehe Worstbrock (2008), Sp . 805 . 81 Fischer-Mauch (1995), S . 39 . Für Wien kann Jana Madlen Schütte diese These nicht bestätigen, da die Forderung nach Lateinkenntnissen dort von den Universitätsärzten unternommen wurde . Schütte (2017), S . 291 . 77 78 79

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das Verwenden lateinischer Begrifflichkeiten imitierten sie nicht nur die Sprache der gelehrten Ärzte, sie vereinnahmten sie für sich und demonstrierten damit ihren Anspruch, auf Augenebene mit den akademischen Medizinern zu kommunizieren und gesehen zu werden . Zugespitzt könnte man sagen, dass sie sich auf diese Weise der führenden Position der Ärzte entgegenstellten .82 Akademisches und handwerklich-medizinisches Wissen waren in der Frühen Neuzeit also nicht strikt voneinander getrennt . Apotheker mussten, um Rezepte anfertigen und den Ärzten beratend zur Seite stehen zu können, auch Kenntnisse über die Konzepte und Theorien der inneren Medizin haben, und ebenso brauchten akademische Ärzte Erfahrung im Umgang mit Heilpflanzen und Arzneimitteln, um ihre Patient:innen erfolgreich behandeln zu können . Der eigenen Inszenierung als ehrbare pharmazeutische Experten verliehen die Apotheker in ihrer Stellungnahme noch einmal Nachdruck, indem sie betonten, den Ärzten gegenüber zur Geheimhaltung verpflichtet zu sein und individuelle Rezepte für Salben etc . nicht weitergeben zu dürfen . Somit sei es unverantwortlich, dass ihnen immer ein Arzt bei der Herstellung der Arznei zuschauen sollte (Artikel 4) .83 Mettling und Heckmann erscheinen dadurch wie vertrauliche und gebildete „Geheimnishüter“ und Alleswisser des Medicinalwesens . Geschickt setzten sie dabei die Apotheke als den Ort in Szene, an dem zwar nicht am Patienten oder an der Patientin praktiziert wurde, aber doch alle Fäden der Medizin zusammenliefen . Sämtliche Heilkundige gaben mit ihren Rezepten ihr Wissen an die Apotheker weiter, vertrauten ihren Fähigkeiten und ihrer Verschwiegenheit gegenüber potentiellen praktizierenden Konkurrent:innen .84 Das Bild des Apothekers als qualifizierter Experte der Arzneimittelzubereitung konnte jedoch das hierarchische Gefälle zwischen den beiden Berufsgruppen nicht gänzlich beseitigen . Deutlich wird dies in Artikel 11, worin verlangt wurde, dass die Apotheker den Anweisungen der Ärzte zu jeder Zeit nachkommen mussten .85 Dies bedeutete für sie folglich eine allzeitige Verfügbarkeit für die Belange der akademischen Mediziner . Der Artikel scheint ebenfalls aus den Streitigkeiten zwischen Geratwol und Mettling entstanden zu sein . In diesem Zusammenhang schrieb der Stadtarzt, wie bereits erwähnt, an den Rat, dass sich der Apotheker zur Vesperzeit wiederholt geweigert habe, benötigte Präparate für Erkrankte anzufertigen .86 Dass der Rat der Kompetenzund Machtverteilung in diesem Falle zustimmte, zeigt die Argumentationsweise der beiden Apotheker Mettling und Heckmann in ihrer Stellungnahme . Darin führten sie

Dagmar Freist beschreibt dieses Phänomen bei den Augsburger Unternehmern, die im 16 . Jahrhundert unter Missachtung der Kleiderordnung Marderfell trugen, um den „Alleinanspruch des Adels auf bestimmte Privilegien zugleich für alle sichtbar zu unterlaufen“ . Freist (2013), S . 159 . 83 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 31 (Stellungnahme der Apotheker von 1500) . 84 Solch spezialisiertes Geheimwissen diente nicht nur dem ökonomischen Erfolg, sondern war zudem wichtiges Kommunikationsmittel der eigenen Expertise . Belfanti (2004), S . 572–576 . 85 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) . 86 Rittershausen (1970), S . 171 f . 82

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nämlich nicht die Unterordnung ihres Berufsstandes gegenüber den Ärzten als Begründung für ihren Unmut an, sondern versuchten sich dem Artikel 11 der Ordnung zu widersetzen, indem sie betonten, es sei umständlich und nicht praktikabel, stets auf neue Anweisungen der Stadtärzte zu warten . In dem Konflikt war die nicht vorhandene Praktikabilität des Artikels aber wohl nicht der alleinige Streitpunkt . Geratwol inszenierte die Ärzte wie Herren, die von ihren Knechten, den Apothekern, jederzeit die Bereitschaft einfordern konnten, ihren Aufgaben und Anweisungen nachzukommen . In den Worten Max Webers konstituierten sie an dieser Stelle ihre Herrschaft über die Apotheker, indem sie versuchten, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen [hier den Apothekern, J . S .] Gehorsam zu finden“87 und ihre Übermächtigung als Kontrollinstanz des Medicinalwesens durch die Apothekenordnung rechtmäßig anerkennen zu lassen . Somit waren sie in der Lage, über die Apotheker direkte Gewalt und Herrschaft auszuüben, wodurch sie ihren hohen Rang als Akademiker und Gelehrte innerhalb der heilkundigen Berufe, aber auch innerhalb der Stadtgesellschaft begründen und etablieren konnten .88 Gleichzeitig ordneten sie auf diese Weise dem neuaufkommenden Beruf des Apothekers direkt einen Stand zu, der ihnen nur wenig Konkurrenz machen konnte: als dienender Knecht des Arztes, der aufgrund seiner mangelnden Fähigkeiten nur wenig Raum für selbständiges Agieren in Anspruch nehmen durfte und sollte . Einerseits wandelten sie damit dynamisch die Ordnung des Medicinalwesens, führten sie aber gleichzeitig hin zur statischen Rangordnung .89 Durch einen wiederholten Gebrauch dieser Praktik drohte eine Manifestierung der Unterordnung von Apothekern gegenüber den Ärzten .90 Die Selbständigkeit und Autonomie innerhalb der ständischen Ordnung war für Apotheker jedoch ein hohes und wichtiges Gut, um ihre soziale Stellung und auch ihre Reputation aufrechtzuerhalten . Die Formulierung des eingangs angeführten Zitats zeigt, dass Mettling und Heckmann sich in die Position von Knechten gedrängt fühlten, aber nicht bereit waren, sie anzunehmen .91 Die Allegorie zu „Knechten“ und „Herren“ taucht ebenfalls in Regensburger Quellen auf . In einer Apothekenordnung von 1548 beschwerten sich allerdings die Ärzte über

Weber (1976), S . 28, zit . n . Lüdtke (1991), S . 9 . „Sich neu formierende Gruppen, seien es Gelehrte, Soldaten oder Kaufleute, waren in einer relationalen Gesellschaft immer darauf angewiesen, ihre Subjektposition in Beziehung zu anderen Personen zu begründen und zu legitimieren […] .“ Füssel: Die relationale Gesellschaft (2015), S .  137 . Lüdtke beschreibt ein Kräftefeld, in dem Macht ausgeübt wird, dadurch dass Herrschende zwar einerseits beherrschen, andererseits aber wiederum von anderen abhängig sind und beherrscht werden . Lüdtke (1991), S . 13 . 89 „[…] denn die grundsätzliche Legitimität der Ordnungen wurde nie in Frage gestellt . Was zu [sic!] Debatte stand, war stets die eigene Position innerhalb der Ordnung .“ Füssel: Die relationale Gesellschaft (2015), S . 121 . 90 Zur Herrschaft als soziale Praxis im Verhältnis „Herr – Knecht“ siehe Lüdtke (1991), S . 30–33 . 91 ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 27 (Vorstellung der Apotheker Matthäus Mettling und Johannes Heckmann gegen den Entwurf des Apothekereides 1499) . 87 88

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die Selbstinszenierung ihrer pharmazeutischen Kollegen als Herren, die die akademischen Mediziner zu ihren Knechten machen wollten .92 Zwischen den Frankfurter Ärzten und Apothekern bestanden jedoch nicht ausschließlich Konkurrenzen und Konflikte, sondern auch Bestrebungen, kooperativ zusammenzuarbeiten oder gar Kollaborationen zu gründen . Obgleich die beiden Apotheker Heckmann und Mettling zwischen 1477 und 1500 gemeinsam ihre Interessen gegen die Apothekenordnung vor dem Rat vertraten, scheint sich Heckmann in der Folgezeit von seinem streitfreudigen Kollegen abgewandt und dafür mit einem Stadtarzt verbündet zu haben . 1505 wurde ihm nämlich in einem Streit mit dem Stadtarzt Johannes Steinwert, der beim Visitieren seiner Apotheke Mängel attestiert hatte, vorgeworfen, mit Geratwol gemeinsame Sache zu machen . Auch zwischen den beiden Stadtärzten hatte es einen Konflikt gegeben, in dem Geratwol Steinwert seine medizinische Qualifikation abgesprochen hatte .93 Dieses Beispiel zeigt sehr eindeutig, dass sich, je nach Interessenslage und Anti-/Sympathien, ebenso Ärzte und Apotheker verbündeten, um gegen Vertreter der eigenen Profession vorzugehen . Eine weitere kooperative Praktik bestand darin, sich gegenseitig Geschenke zu machen . Auch wenn das Konzept von 1499 den Apothekern dies verbot, um eine Vorzugsbehandlung durch ihre akademischen Kollegen zu verhindern, betonten die Frankfurter Apotheker in ihrem Antwortschreiben, dass es schon immer Brauch gewesen sei, den Ärzten Geschenke zu überreichen . Es sei aber noch nie so gewesen, dass ein „Apotheker solt sich kauffen mit gelt“ .94 Deutlich erscheint an dieser Stelle wieder die Inszenierung als Experten auf ihrem Gebiet, die allein durch ihre fachliche Fähigkeit vor Kollegen und Patient:innen bestehen können, ohne sich zu diesem Zweck einkaufen zu müssen .95 Da nur wenige heilkundige Gewerke in der Frühen Neuzeit korporiert waren oder in größeren Werkstätten zusammenarbeiteten, waren solche lockeren Kooperationen und Netzwerke für sie sehr lukrativ . Einerseits konnte der jeweilige Patient:innenkreis durch Weiterempfehlung auf schnellem Wege ausgeweitet werden, was womöglich auch die Apotheker in Frankfurt verfolgten, wenn sie Ärzte beschenkten . Auf der anderen Seite war durch eine engere Zusammenarbeit ein Wissenstransfer zwischen den Heilkundigen möglich .96 Kam ein Heilkundiger beispielsweise bei der Behandlung eines Patienten oder einer Patientin an die Grenzen seiner Fähigkeiten, konnte er seinen Kollaborateur um Rat fragen oder diesen aktiv hinzuziehen, ohne seine Selbständigkeit und somit seine Freiheit einbüßen zu müssen .

Habrich (1970), S . 110 f . ISG Frankfurt, Medicinalia Nr . 44 (Dr . Johannes Steinwert von Soest an den Rat 1505) . Zit . n . Rittershausen (1970), S . 169 . ISG Frankfurt, Medicinalia Nr .  35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500); Rittershausen (1970), S . 167 . 96 Siehe dazu auch Wallis (2007), S . 50 f . 92 93 94 95

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Fazit

Das Beispiel der Etablierung der Frankfurter Apothekenordnung von 1500 zeigt deutlich, dass die Apothekengesetzgebung, die in den deutschsprachigen (Reichs-)Städten am Ende des Mittelalters einsetzte, in ein Netz komplexer gesundheits- und machtpolitischer, ökonomischer sowie sozialer Transformationsprozesse eingebunden war . Der Apothekerstand selbst befand sich zu Beginn des 16 .  Jahrhunderts inmitten einer Umbruchphase . Sowohl die Eigen- und Fremdwahrnehmung des Berufsbildes als auch die zugehörigen Aufgaben und Tätigkeitsbereiche unterlagen einem Wandel vom (Fern-) Händler hin zum Arzneimittelzubereiter . Ihre Subjektposition als Kaufleute ermöglichte den Apothekern durch ihre Mitgliedschaft in der Trinkstubengesellschaft „Frauenstein“ im Gegensatz zu den Ärzten politischen Einfluss, ein breites Netzwerk und ökonomische Ressourcen . Um diese Verbindung nicht abreißen zu lassen, waren sie bemüht, sich selbst vor dem Rat innerhalb der handeltreibenden Gewerke zu verorten . Ihre fortlaufende Spezialisierung in der Arzneimittelherstellung bedurfte jedoch einer Erweiterung dieser Subjektposition, was der Rangkonflikt zwischen ihnen und ihren akademischen Kollegen deutlich zeigt . Aufgrund ihres hohen Bildungsgrades vermochten sie sich ärztliche Praktiken, wie beispielsweise die Verwendung der lateinischen Sprache, anzueignen, um die führende Rolle der akademischen Mediziner innerhalb des Medicinalwesens zu negieren . Die Einflussnahme ihrer Beschwerden über die Apothekenordnung von 1500 auf die weitere Gesetzgebung des 16 .  Jahrhunderts zeigt, wie die Konflikte um die städtische Gesellschaftsordnung mitsamt der konstruierten Eigen- und Fremdbilder auf den Normierungsprozess der heilkundigen Berufe einwirkten . Die immer detailreicheren Zuschreibungen ihrer Tätigkeitsbereiche bezeichnen auch ihren Stand innerhalb des Medicinalwesens . Die Ordnungskategorie „Rang“ spielte im Transformationsprozess des Apothekenwesens bereits zu Beginn des 16 .  Jahrhunderts also eine zentrale und wesentlich wirkmächtigere Rolle als noch im Mittelalter . Bibliographie Archivalien

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Nr . 31 (Stellungnahme der Apotheker von 1500) Nr . 32 (Schreiben des Apothekers Matthäus Mettling an den Frankfurter Stadtrat aus dem Jahr 1500) Nr . 33 (Rechtfertigung Dr . Geratwol) Nr . 35 (Frankfurter Juramentum Aromatariorum sive Apothecariorum von 1500) Nr . 44 (Dr . Johannes Steinwert von Soest an den Rat 1505) Nr . 56 (Konzept einer Apotheken- und Ärzteordnung von 1580) Nr . 227 (Frankfurter Medicinalordnung 1612)

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Bestand Bürgermeisterbücher (ISG Frankfurt, Bürgermeisterbuch) Nr . 40 (Eintrag im Bürgermeisterbuch 1475/76)

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JANA SCHREIBER

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Jana Schreiber, M. A.

Institut für Geschichte der Pharmazie und Medizin (i . Gr .) Philipps-Universität Marburg Roter Graben 10 35032 Marburg schreibb@staff .uni-marburg .de

‚Abstand halten!‘ Nähe und Distanz in der Seuchengeschichte am Beispiel der Pest ROBERT JÜTTE Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 39–68

“Keep distance!” Proximity and distance in the history of epidemics: The plague as a case study Abstract: All the senses have been affected by the coronavirus pandemic . The sense of sight, for example, is limited by wearing a mask . Covid-19 patients often complain of hearing damage such as the loss of hearing or tinnitus . Similar cognitive disorders caused by the coronavirus can be observed in the case of smell and taste . And finally, the sense of touch is also affected, since haptic experiences without hand washing and protective gloves are not advisable in pandemic times like ours . The current rules of distance in particular limit sensory perception . These measures may seem new to us, but they have a long tradition, going back to the times of the medieval plague . Still, long before scientific evidence concerning the risk of contagion from being too close was provided at the end of the 19th century, the advice to keep distance had been part of general knowledge in epidemic times since the middle of the 14th century . Almost at the same time, learned doctors already speculated on how large the distance should be in order to be on the safe side and to be spared from the plague that dominated life until the 18th century . In the highly dense and precarious urban areas of so-called third world countries, measures against COVID-19 such as quarantine requirements, social distancing and intensified hand and face hygiene are hardly observed . These areas are usually characterized by high housing density, inadequate water, sewage and electricity supplies, as well as poor medical services . These conditions are reminiscent of the situation in medieval and early modern cities, in which in times of plague the secular and ecclesiastical authorities made desperate attempts to get the epidemic under control by enforcing distance-keeping .

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Einführung

Nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 ist ein verstärktes Interesse an der Seuchengeschichte zu beobachten .1 Nur wenige Jahre zuvor richtete sich das Augenmerk in der Medizingeschichtsschreibung, aber auch in der Geschichtswissenschaft vor allem auf die sogenannte Spanische Grippe, an der 1918–1920 schätzungsweise weltweit über 50 Millionen Menschen starben . Bis dahin hatte diese Infektionskrankheit kaum Eingang in die Forschungen zum Ersten Weltkrieg gefunden . So fehlt beispielsweise ein entsprechender Artikel in der „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“, dem geschichtswissenschaftlichen Standardwerk zum Kriegsgeschehen zwischen 1914 und 1918 .2 Insbesondere der 100 . Jahrestag des Kriegsendes lenkte jedoch schließlich den Blick auf eine bis dahin in der Forschung kaum wahrgenommene Pandemie .3 Darüber hinaus haben sowohl Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Seuchen, die einen längeren Zeitraum (meist vom Mittelalter bis ins 20 . Jahrhundert) abdecken, als auch Studien zu einzelnen Epidemien (vor allem Pest und Cholera, aber auch Syphilis, Menschenpocken, Lepra) bereits seit einigen Jahrzehnten Konjunktur . Doch „neue Wege“ wurden dabei meist nicht beschritten . Nur die wenigsten Publikationen haben sich an dem handlungstheoretischen Modell orientiert, das Martin Dinges 1995 in der Einleitung zu dem von ihm mit herausgegebenen Sammelband „Neue Wege in der Seuchengeschichte“ vorgestellt hat .4 Am ehesten sind seine Ideen noch in der Pestgeschichtsschreibung aufgegriffen worden .5 So gilt bis heute, was der Stuttgarter Medizinhistoriker und Archivar noch um die Mitte der 1990er Jahre als Desiderat und Manko beklagte, vor allem mit Blick auf die deutsche Forschung: Zunächst gibt es zu wenige Untersuchungen mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen als in anderen Ländern; dann ist offensichtlich eine geringere Bereitschaft festzustellen, die methodischen Anregungen aus der Sozialgeschichte und den Nachbardisziplinen aufzugreifen . Zu nennen sind hier z . B . der Ansatz, der nach der sozialen Konstruktion von Krankheit fragt, aber auch die Kulturhermeneutik, die Diskurstheorie oder der systematische Vergleich . Die Erschließung neuer Quellen für die Seuchengeschichte – wie etwa Predigten oder Gerichtsquellen oder die Zeitzeugenberichte  – scheint ebenfalls keine Stärke der deutschen Medizinhistoriographie zu sein . Man sucht vergeblich eine systematische Analyse des alltäglichen Umgangs mit Seuchen; noch weniger finden sich Reflexio-

1 Von den älteren Arbeiten seien hier nur erwähnt: Ruffié/Sournia (1987); Wilderotter (1995); Karlen (1996); Winkle (1997) . 2 Hirschfeld/Krumeich/Renz (2003) . 3 Vgl . u . a . Witte (2008); Opdycke (2014); Honigsbaum (2021) . 4 Dinges (1995), S . 7 ff . 5 Wahrmann (2012) .

‚Abstand halten!‘

nen über die Rolle der Seuchengeschichtsschreibung für die Ärzte im Entstehungsprozeß der modernen Medizin .6

In seinem Überblick zur Seuchengeschichtsschreibung hob Dinges vor allem die unterschiedlichen Forschungsrichtungen hervor, die ihm damals innovativ erschienen, darunter die Entwicklung neuer Fragestellungen, wie beispielsweise die nach der Patientenerfahrung, die Anwendung neuer Methoden oder die Auswertung neuer Quellengruppen, darunter Bildmedien oder Kriminalakten . Als besonders innovativ erschien ihm das bereits kurz erwähnte handlungstheoretische Modell . Dieses beruht auf der Annahme, dass „es nur jeweils kommunikativ erzeugte Wirklichkeiten gibt“ .7 Daraus resultiert die Forderung, insbesondere die unterschiedlichen Akteure, die beim Ausbruch einer Seuche in Erscheinung treten, in den Blick zu nehmen . Neben den Vertretern der Heilberufe sind das die von einer Infektion betroffenen Menschen und ihr soziales Umfeld, aber auch staatliche und kirchliche Obrigkeiten wie auch eine Vielzahl an Interessensgruppen, darunter Kaufleute oder die Produzenten öffentlicher Meinung (Verleger, Verfasser von Ratgebern usw .) . Deren Interaktionen gelte es, so Dinges, aus den Quellen zu rekonstruieren und im historischen Kontext zu analysieren . Ein sinnesgeschichtlicher Zugang

Ein anderer, nämlich sinnesgeschichtlicher Zugang zur Seuchengeschichte lag vor mehr als einem Vierteljahrhundert auch schon nahe, wird aber von Martin Dinges nicht erwähnt . Trotz des bahnbrechenden Werkes von Alain Corbin, das im Deutschen den Titel „Pesthauch und Blütenduft“8 trägt und zwei Jahre zuvor (1982) auf Französisch erschienen war, bedurfte es erst eines Anstoßes durch den sensory turn9 in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu Anfang dieses Jahrhunderts . Erst dann entdeckten auch Medizinhistorikerinnen und -historiker diesen innovativen Ansatz für die Seuchengeschichte . Das Hauptaugenmerk richtete sich dabei zunächst auf den Geruchssinn, denn diesem kam bei der Bekämpfung zweier gefährlicher Infektionskrankheiten eine besondere Rolle zu . Die antike Vorstellung vom krankheitsbringenden Luftgemisch (Miasmen) hielt sich nämlich bis weit ins 19 . Jahrhundert .10 Bereits im späten Mittelalter waren Mediziner und Gelehrte überzeugt, dass eine der Hauptursachen für die Pest

Dinges (1995), S . 7 f . Dinges (1995), S . 9 . Corbin (1984) . Für den Versuch einer historischen Gesamtschau vgl . Jütte (2000) . Zur rasanten Entwicklung dieses Forschungsfeldes in den letzten 20 Jahren vgl . Howes (2013) . 10 Leven (1993) . 6 7 8 9

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verdorbene Luft sei . Deshalb hat sich die Medizingeschichtsschreibung auch schon früh mit der Frage beschäftigt, wie sich die Menschen damals vor ‚verpesteter‘ Luft schützten . So werden in den Standardwerken zur Seuchengeschichte immer wieder die Gegenmittel erwähnt, nämlich Wohlgerüche in Gestalt von Räucherungen und Duftkissen .11 Auch in medizinhistorischen Arbeiten zur Geschichte der Cholera wurde schon früh darauf hingewiesen, dass man sich bis Ende des 19 . Jahrhunderts die Entstehung dieser Seuche durch das Vorhandensein von „Miasmen“ oder Gasen erklärte, die aus Kloaken, Wassergräben, Abfallgruben und anderen stinkenden Orten austraten .12 Doch es bedurfte nicht nur eines sensory turn, sondern auch einer in dieser Dimension von der Gegenwartsgesellschaft nicht erwarteten Wiederkehr der Seuchen in Gestalt von COVID-19, um das Augenmerk der Kultur- und Medizinhistoriker neben dem Geruchssinn auch auf die anderen vier „klassischen“ Sinne zu richten – oder wie es der amerikanische Historiker Mark M . Smith in einem Internet-Blogeintrag vom 27 . April 2020 auf den Punkt brachte: The way we see, hear, taste, touch and smell may never be the same again . Courtesy of COVID-19, we are undergoing a sensory revolution . All of the senses have been affected by the coronavirus pandemic – not because the senses themselves have changed, but because the context and environment in which we sense has been profoundly altered .13

Was damit gemeint ist, hat jeder seit dem Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 selbst erfahren oder durch die Medien mitbekommen: Der Gesichtssinn beispielsweise wird durch Maskentragen begrenzt . Immer wieder klagen COVID-19-Patienten nach einer Erkrankung mit dem Virus über Gehörschäden wie Hörverlust oder Tinnitus . Ähnliche Wahrnehmungsstörungen, verursacht durch COVID-19, beziehen sich auf den Geruchs- und Geschmackssinn . Und schließlich ist auch der Tastsinn betroffen, denn haptische Erfahrungen ohne Schutzmaßnahmen sind in Pandemie-Zeiten wie diesen nur eingeschränkt möglich . Die lange Vorgeschichte sozialer Distanzierung

Im April 2020, noch während der ersten COVID-19-Welle, zeichnete eine in Science veröffentlichte Studie von Forschern an der Universität Harvard anhand von Modellrechnungen ein düsteres Bild vom weiteren Verlauf der Pandemie .14 Um einen Kollaps der Gesundheitssysteme zu vermeiden, sei mit sozialer Distanzierung bis zum Jahr 2022 zu rechnen – es sei denn, es werde vorher ein Impfstoff oder ein wirksames Heilmittel 11 12 13 14

Leven (1997), S . 29 . Vgl . u . a . Stolberg (1995) . Smith (2020) . Kissler u . a . (2020) .

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entwickelt . Inzwischen haben wir zwar eine Impfung, aber gleichwohl wird „Abstand halten“ weiterhin notwendig sein; insofern ist die Mahnung der Bundeskanzlerin Angela Merkel von März 2020 immer noch aktuell .15 Es gilt also bis auf weiteres, was beispielsweise auf der Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung propagiert und zum Teil in Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vorgeschrieben ist: „Achten Sie im öffentlichen Raum auf einen Abstand von mindestens 1,5 Metern zu anderen Personen – beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen oder beim Spaziergang im Park .“16 Ergänzt wird diese Form der sozialen Distanzierung durch eine weitere Maßnahme: „Wenn Sie andere Menschen begrüßen oder verabschieden, verzichten Sie auf Händeschütteln oder Umarmungen .“17 Sind nun solche Abstandsregeln eine Erfindung der Corona-Zeit? Die Frage lässt sich eindeutig mit Nein beantworten . Der deutsche Hygieniker Carl Flügge (1847– 1923) konnte 1897 als Erster nachweisen, dass Bakterien aus den Atemwegen in Form von Tröpfchen übertragen werden .18 In Experimenten zeigte er auf, dass beim Sprechen oder Räuspern wie auch beim Husten oder Niesen feinste Sekrettröpfchen ausgestoßen werden und sich auch noch in einigen Metern Entfernung nachweisen lassen . Um beispielsweise bei Anwesenheit von „hustenden und Tröpfchen verspritzenden Phthisikern [Lungenkranken]“ im selben Raum das Risiko einer Infektion zu minimieren, empfahl Flügge schon 1899: „In Bureaux, Werkstätten möge die Entfernung zwischen den Köpfen der Arbeitenden mindestens 1 m betragen .“19 Weitere Forschungen führten in den nächsten Jahrzehnten schließlich zu der bis heute gültigen Empfehlung, ein bis zwei Meter Abstand zu halten, um die Ansteckungsgefahr bei Erregern, die durch die Luft übertragen werden, zu verringern .

Abb. 1 Skizze aus Flügge (1897), S. 208 (Foto: Autor)

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Merkel (2020) . Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2021) . Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2021) . Flügge (1897) . Flügge (1899), S . 124 .

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Doch längst bevor ein Nachweis der Ansteckungsgefahr durch zu große Nähe mit naturwissenschaftlichen Methoden erbracht wurde, gehörte der Rat, genügend Distanz zu halten, in Seuchenzeiten seit Mitte des 14 . Jahrhunderts zum Allgemeinwissen . Fast gleichzeitig stellten gelehrte Ärzte schon früh Spekulationen darüber an, wie groß der Abstand konkret sein sollte, um auf Nummer Sicher zu gehen, von der Pest, der bis zum 18 . Jahrhundert alles dominierenden Infektionskrankheit, verschont zu bleiben . Doch dazu später . Die Distanzierungstechniken der Vormoderne umfassten drei unterschiedliche Vorsichtsmaßnahmen: 1) den Verzicht auf direkte Berührung von Erkrankten und Verstorbenen (contagio per contactum); 2) Abstandhalten von möglichen Infektionsquellen, darunter nicht nur infizierte Personen, sondern auch „verseuchte“ Gegenstände und Räume (contagio ad distans); 3) als schädlich angesehene Ausdünstungen (sei es von Infizierten, sei es von verwesenden Leichen erkrankter Personen) durch olfaktorische Maßnahmen wie Räucherungen und Verwendung von Riechschwämmen, die man sich vor die Nase hielt oder gar in eine Pestmaske einfügte (contagio per fomitem), von sich fernzuhalten . Doch bevor wir auf die einzelnen Maßnahmen eingehen, die eine lange, mit dem „Schwarzen Tod“ von 1348/49 beginnende Geschichte haben, muss man wissen, auf welchen Krankheitsentstehungstheorien sie basierten . Der epistemische Hintergrund

Bereits in der Bibel führte man Krankheiten, insbesondere Seuchen, auf Gottes Strafgericht zurück . Unter dem Eindruck des „Schwarzen Todes“, der großen Pestepidemie von 1348/49, verfestigte sich dieses traditionelle Erklärungsmuster in den Köpfen der Menschen . Wie man in Boccaccios berühmtem literarischen Zeugnis der Pest, dem „Decamerone“ (1349–1353), nachlesen kann, wird die Seuche auf zwei Hauptursachen zurückgeführt: Gottes Zorn über die sündige Menschheit und die Einwirkung der Gestirne . Dennoch gab es bereits damals Ärzte, die eine theologische oder astrologische Begründung zwar nicht grundsätzlich anzweifelten, aber gleichzeitig nach natürlichen Ursachen, wie zum Beispiel dem Einfluss von ‚verpesteter‘ Luft, Ausschau hielten . Dahinter verbirgt sich die bereits kurz erwähnte antike Lehre vom Miasma, die neben der Hauptursache (prima causis), nämlich Gottes Zorn, besondere Erwähnung findet .20 Im Pestgutachten der Pariser Medizinischen Fakultät von 1348 heißt es beispielsweise: Demnach erklären wir: Es ist bekannt, dass in Indien, in der Gegend des großen Meeres, die Gestirne, welche die Strahlen der Sonne und die Wärme des himmlischen Feuers bekämpften, ihre Macht besonders gegen jenes Meer ausübten und mit seinen Gewässern heftig stritten . Daher entstehen oft Dämpfe, welche die Sonne verhüllen und ihr Licht in 20

Vgl . Bergdolt (2003), S . 24 f .

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Finsternis verwandeln . Diese Dämpfe wiederholten ihr Auf- und Niedersteigen 28 Tage lang unaufhörlich, aber am Ende wirkten Sonne und Feuer so gewaltig auf das Meer, dass sie einen großen Teil desselben an sich zogen, und sich das Meeresgewässer in Dampfgestalt emporhob . […] so bleibt kein Mensch am Leben, […] wohin dieser verdorbene Wind aus Indien kommt .21

Die Vorstellung, dass aus dem Boden austretende, verunreinigte Luft für den Ausbruch von Seuchen verantwortlich ist, wurde übrigens erst gegen Ende des 19 . Jahrhunderts durch die Lehre von der krankheitserregenden Wirkung der Bakterien endgültig abgelöst . Miasma bedeutet im Griechischen so viel wie ‚übler Dunst‘, ‚Verunreinigung‘, ‚Ansteckung‘ . Als Begründer der Lehre von den Miasmen gilt der griechische Arzt Hippokrates, der in seiner Schrift „De aeribus aquis locis“ die Ansicht vertrat, dass die giftigen Ausdünstungen des Bodens, die mit der Luft fortgetragen werden, zur Entstehung und Weiterverbreitung von Krankheiten beitragen . Einer ihrer letzten Vertreter war der Chemiker und Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901) .22 Unter dem Eindruck der Cholera-Epidemien hielt er einen den Boden verunreinigenden Faktor als Ursache eines Seuchenausbruchs für entscheidender als den von Robert Koch (1843– 1910) damals bereits nachgewiesenen Cholerabazillus .23 Außer giftigen Ausdünstungen vermutete man bereits im späten Mittelalter als Auslöser von Seuchen unbekannte Ansteckungsstoffe (sogenannte Kontagien) .24 Diese dachte man sich als unbelebte, unspezifische Substanzen, die durch direkten Kontakt zwischen einem gesunden und einem erkrankten Individuum oder über einen belebten oder unbelebten Zwischenträger übertragen wurden und die Krankheit auslösten . Als mögliche Kontagien vermutete man beispielsweise die Ausscheidungen kranker Menschen wie Kot, Speichel oder Schweiß . Darüber hinaus galten sogar das Aderlassblut wie auch das Wasser, in dem man die Leintücher gewaschen hatte, mit denen die Pestbeulen gereinigt wurden, als verdächtig .25 Doch erst im späten 16 . Jahrhundert wurde aus Vermutungen eine wirkmächtige Krankheitsentstehungslehre . Der italienische Arzt und Naturphilosoph Girolamo Fracastoro (1478–1553) begründete am Beispiel der Syphilis die Lehre von den Ansteckungsstoffen . Er machte für epidemische Krankheiten spezifische Keime (seminaria morbi), die durch direkten Kontakt oder über die Atemluft übertragen würden, verantwortlich .26 Nachweisen ließen sich solche Keime damals allerdings noch nicht . Gut hundert Jahre später stellte der Jesuit Athanasius Kircher (1601–1680) in seinen Schriften „Scrutinium pestis“27 und „Scrutinium phy21 22 23 24 25 26 27

Zit . n . Hecker (1832), S . 66 . Locher (2018) . Ackerknecht (1948) . Vgl . dazu den forschungsgeschichtlichen Kommentar von Hamlin (2009) . Singer (1913); Carlin (2005) . Stolberg (2021), S . 143 . Fracastoro (1546) . Vgl . dazu Nutton (1990) . Kircher (1740) .

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sico-medicum contagiosae luis“28 die These auf, dass unzählige „kleine Tierchen“, die man nur mit einem hochauflösenden Mikroskop wahrnehmen könne, die Verursacher von Krankheiten seien29 . Erst die dank der weiterentwickelten Technik möglichen bakteriologischen Untersuchungen von Robert Koch und anderen brachten schließlich im letzten Drittel des 19 . Jahrhunderts den Nachweis für das, was Athanasius Kircher fast zweihundert Jahre zuvor als wahrscheinlich ansah .30 Als eigentlicher Vorläufer der modernen Bakteriologie gilt Jacob Henle (1809– 1885) . Er veröffentlichte 1840 eine Abhandlung mit dem Titel „Von den Miasmen und Contagien und von den miasmatisch-contagiösen Krankheiten“ . Henle stellt darin die Vermutung an, dass sowohl Miasmen als auch Kontagien die gleichen Krankheiten hervorrufen . Der Ansteckungsstoff bestehe nicht nur aus organischem Material, sondern sei „mit individuellem Leben begabte“ Materie, die sich zum erkrankten Körper im Verhältnis eines „parasitischen Organismus“31 befinde . Er sah daher auch keinen Grund, weiterhin zwischen Miasma und Kontagium als Krankheitsursache zu unterscheiden . Bis in die Mitte des 19 . Jahrhunderts wurden also mit Ausnahme der ‚Syphilis‘ fast alle Seuchen als miasmatisch-kontagiöse Krankheiten gedeutet .32 Das heißt, zum einen konnte die Ausbreitung einer Epidemie durch die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgen, zum anderen wurden exogene Einflüsse dafür verantwortlich gemacht . So erklärt sich auch, dass in der Frühen Neuzeit die Pest nicht selten einfach als „Contagium“ bezeichnet wird . Wolfgang Matthias Brunner (1680–1722), der von 1711 bis vor 1715 als Arzt in Hamburg tätig war, gibt in seinem Traktat über die Pest die Gründe dafür an: Es wird sonsten gemeiniglich diese Kranckheit [die Pest] Contagion oder Contagium genennet, weilen man sich […] solche als eine gifftige und subtile Substans, die da nicht allein von Krancken außgeht, sondern die auch in allerley Geräth könne verhalten, und in weit entlegene Oerter fortgeschleppet werden, concipiret […] .33

Im Falle der Pest konnte das „Contagium“ nach der damals herrschenden Krankheitslehre also seine Wirkung auf unterschiedliche Weise entfalten, entweder durch Körperkontakt mit einem Erkrankten, durch Berührung beispielsweise, oder durch Ausdünstungen, die gleichsam die Luft ‚verpesteten‘ und selbst über größere Distanzen hinweg eine Ansteckung möglich machten .34 Die Pest fällt somit in die Kategorie der Kircher (1658) . Vgl . dazu Strasser (2005) . Schlich (1996) . Henle (1840), S . 15 . Zu den damaligen Vorstellungen über die Übertragung von ‚Syphilis‘ durch Körperkontakte vgl . u . a . Arrizabalaga (2005) . 33 Brunner (1714), S . 4 . 34 Pantin (2005) . 28 29 30 31 32

‚Abstand halten!‘

„contagiös-miasmatischen Krankheiten“, zu denen bis ins frühe 19 . Jahrhundert auch der Typhus, der Scharlach und die Cholera gezählt wurden . Geschlechtskrankheiten wie Schanker, Syphilis und Gonorrhöe galten als rein „contagiös“ . Die Malaria, die vor allem in feucht-heißen Gebieten auftritt, wurde dagegen als rein miasmatisch angesehen .35 Eine solche Typenbildung hatte Auswirkungen auf die prophylaktischen Maßnahmen, mit denen man ein epidemisches Auftreten dieser Krankheiten seit dem späten Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein zu verhindern suchte . Das soll im Folgenden am Beispiel der Pest gezeigt werden . Gefährliche Berührungen

Bereits während der ersten größeren Pestepidemie, die Europa um die Mitte des 14 .  Jahrhunderts heimsuchte, hatte sich rasch herumgesprochen, die Kranken nicht zu berühren . Dazu brauchte es keine Empfehlung der Ärzte, die anfangs ratlos waren, wie man sich vor der Pest schützen sollte . Die Alltagserfahrung ließ für die Menschen keinen Zweifel daran, dass diejenigen, die einen Pestkranken mit den Händen berührt hatten, um ihn auf dem Krankenlager behilflich zu sein oder beim Abtransport im Falle seines Todes, häufig ebenfalls erkrankten und bald darauf verstarben . Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Hilflosigkeit, die erkrankte Menschen damals erlebten, hat ein Chronist aus Piacenza, Gabriele de Mussis (ca . 1280–ca . 1356), überliefert . Zu seinen schrecklichen Erlebnissen im Jahr 1349, als die Pest in seiner Heimatstadt wütete, zählt die folgende Begebenheit: Und während ein Erkrankter so furchtbar litt, stieß er Klagerufe aus: ‚Kommt, meine Verwandten und Nachbarn, reicht mir einen Tropfen Wasser, ich habe Durst . Ich lebe noch! Habt keine Angst! Vielleicht werde ich weiterleben! Faßt mich an, berührt doch meinen elenden Körper! Ihr müßt mich jetzt anfassen!‘ . Dann zündete jemand, aus Mitleid bewegt, während die anderen fernblieben, eine Kerze in Kopfhöhe [des Bettes] an und floh davon .36

Wer es sich leisten konnte, vermied nicht nur Berührungen und floh aus der unmittelbaren Nähe von erkrankten Hausbewohnern oder Nachbarn, sondern suchte im wahrsten Sinne des Wortes ‚das Weite‘, eingedenk des Rates, den der griechisch-römische Arzt Galen in Seuchenzeiten gegeben haben soll: „Fuge cito, longe, tarde“ – „Fliehe rasch, weit weg, und komme spät zurück“ .37 Während der Pest in Venedig verließen im August 1630 allein an zwei Tagen über 24 .000 Personen die Stadt (ca . 16 Prozent

35 36 37

Küchenmeister (1872), S . 432 f . Bergdolt (1989), S . 29 . Hoffmann (1719), S . 384 .

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der Bevölkerung) .38 Nicht nur Privatleute, auch Ärzte, Geistliche und Amtsträger handelten damals nach diesem Motto, was im 16 . Jahrhundert Luther zu seiner berühmten Schrift „Ob man fur dem Sterben fliehen muge“ (1527) veranlasste . Der Reformator, der selbst mehrere Pestausbrüche erlebte, verneinte diese Frage mit dem Verweis auf Gottes Gebote: Also auch ist Vater und mutter gegen kindern; und wiederumb, kinder gegen vater und mutter durch Gots gepot verbunden zu dienen vnd zu helffen etc . Item was gemeyne personen sind, auff solt und lohn gedingt, als ein stadt artzt, stadt diener, söldener, und wie die mügen gennet werden, mügen nicht fliehen, sie bestellen denn andere tüchtige und gnugsame an ihre stat, die von den Herren angenumen werden sollen .39

Fast zur selben Zeit gab dagegen einer der großen jüdischen Rabbiner und Gelehrten, Moses Isserles (1530–1572), die Empfehlung, aus einer von der Pest betroffenen Stadt möglichst früh zu fliehen .40 Der berühmte Rabbiner war nicht der erste jüdische Gelehrte, der seinen Glaubensgenossen diesen Rat erteilte .41 Die früheste mittelalterliche Quelle, die sich mit dem Phänomen der Flucht vor der Pest befasst, ist das „Buch der Frommen“ (Sefer Ḥasidim) aus dem 13 .  Jahrhundert, also aus der Zeit vor dem „Schwarzen Tod“ . Dort heißt es: Wenn in der Stadt Pest herrscht und man gehört hat, dass in einer anderen Stadt die Lage besser ist, soll man nicht dorthin gehen, denn der Engel des Todes hat Macht über diejenigen, die von dort stammen, sogar über Fremde . Wenn Karawanen von einer heimgesuchten Stadt in ein anderes Land reisen, so werden sie [vom Todesengel, R . J .] geschlagen . Wenn jedoch Einzelpersonen gehen und ihre Absicht nicht geschäftlicher Natur ist, werden sie keinen Schaden nehmen und sie handeln mit Bedacht . Jeder, der fliehen möchte, sollte in ein anderes Land gehen, bis die Pest vorüber ist .42

Rabbi Schlomo Luria, Maharschal genannt (1510–1574), erklärte hingegen mit Verweis auf den Babylonischen Talmud (Baba Kama 60b), dass man während einer Epidemie im Haus bleiben soll, da man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fliehen könne, sondern stattdessen vor Ort Schutz suchen müsse . Wenn die Epidemie aber gerade erst anfange, könne man die Stadt schnell noch verlassen und an einen entfernten sicheren Ort fliehen . Auch Rabbi Mosche von Trani, genannt der Mabit (1505–1585), war der Meinung, dass man vor einer Epidemie fliehen könne und sollte – aber machte zugleich allen, die diesem Rat folgten, nicht allzu große Hoffnung, dem Schicksal entrinnen zu können: „Wir sagen, dass der Mensch an Rosch Haschana und Jom Kippur entweder

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Velomirovic (1989) . Luther (1527), sig . Aiii (recte) . Vgl . dazu Schilling (2020) . Shulchan Arukh, Yoreh De’ah 116 . Vgl . die Belege bei Chechik/Morsel-Eisenberg (2020) . Sefer Ḥasidim (1924), § 372 .

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ins Buch des Lebens oder in das andere Buch eingeschrieben wird . Wenn dem so ist, wie kann dann bei einer Epidemie die Flucht helfen? Jemand, der zum Sterben bestimmt ist, wird so oder so sterben .“43 Selbst wenn Angehörige damals den Mut besaßen, erkrankte Familienmitglieder in der häuslichen Quarantäne, die schon seit dem 15 . Jahrhundert von der Obrigkeit durchgesetzt wurde, nicht nur mit Nahrung zu versorgen, sondern sie auch zu pflegen und dabei auch anzufassen, so reichte diese Hilfe meist nicht aus . Deshalb brauchte es die von Luther erwähnten Personen, die qua Amt mit Pestkranken oder Pestleichen im wahrsten Sinne des Wortes in Berührung kamen . Dazu gehörten die Ärzte, falls sie sich ihrem Berufsethos verpflichtet fühlten und nicht ihr Heil in der Flucht gesucht hatten . Der Florentiner Chronist Marchionne di Coppo Stefani (1336–1385) berichtet, wie schlecht es im ersten Pestjahr (1348) um die medizinische Versorgung der Infizierten bestellt war: Ärzte fanden sich nicht mehr, da sie wie die übrigen hinwegstarben . Und traf man noch einige, so wollten sie im voraus eine unverschämte Geldsumme auf die Hand haben, wenn sie ein [Pest]haus betraten . Und waren sie drinnen, tasteten sie den Puls nur mit abgewandtem Gesicht, und den Urin wollten sie nur von weitem beurteilen, mit einem Geruchsstoff vor der Nase .44

Als die Pest im Jahre 1576 in Vicenza herrschte, wagte es der später in Padua als Medizinprofessor lehrende Alexander Massaria (ca . 1510–1598) immerhin, den Pestkranken den Puls zu fühlen .45 Der französische Arzt François Valleriole (1504–1580) gab in seiner Abhandlung über die Pest aus dem Jahr 1566 seinen Kollegen den Rat, das Zimmer eines Pestkranken vor der Visite gut durchlüften zu lassen und anschließend mittels Verbrennung wohlriechender Kräuter zu parfümieren sowie mit Hilfe von Wasser und Essig die Luft zu befeuchten . Dann erst solle man das Krankenzimmer betreten und dabei im Munde an Schalen von Zitrusfrüchten lutschen . War eine Berührung des Kranken unumgänglich, so sollte der Patient dem Arzt den Rücken zudrehen, damit er nicht zu seinem Gesicht ausatme .46 Andere Ärzte zeigten sich sogar noch wagemutiger, indem sie die Leichen von an der Pest Verstorbenen sezierten, um so mehr Kenntnisse über die Seuche zu gewinnen . Zu ihnen zählt der englische Arzt und Chirurg George Thomson (ca . 1619–1676), der darüber sogar eine spezielle Abhandlung mit dem Titel „Loimotomia“ (1666) verfasste . Darin schildert er, wie er sich bei einer dieser Obduktionen infizierte, „when those destructive Atoms entered into my hand at the time of the Dissection of such an infected cadaver“ .47 Thomson hatte Glück, er kam mit dem

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Bet Elokim, Tefila, Kap . 16, zit . n . Radbil (2020) . Bergdolt (1989), S . 66 f . Sticker (1910), S . 334 . Zitiert in englischer Übersetzung bei Bell (2019), S . 140 f . Zit . n . Siena (2020), S . 161 .

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Leben davon, wurde jedoch wegen seiner gefährlichen Experimente, aber auch seiner Anschauungen über die Pest und deren Ursachen von den Kollegen damals heftig kritisiert . Immer wieder finden sich in Ego-Dokumenten aus Zeiten der Pest Belege, dass einige Ärzte mehr riskierten, als man von ihnen erwartete . In der St . Galler Klosterchronik wird für das Jahr 1629 über die Reaktion der Mönche auf die Erkrankung eines Mitbruders berichtet: Wir entschlossen uns, schriftlich den Arzt zu ersuchen, er möge noch diese Nacht von der Ferne her den kranken Pater besuchen . Er kam auf diese Bitte nachts um neun Uhr und ruft den vor Frost Zitternden auf, spricht aber mit ihm nicht aus der Ferne, sondern in der Nähe . Er fühlt ihm den Puls, berührt sogar das Halsgeschwür und tut noch anderes zu unserem Erstaunen .48

Auch bei der Verabreichung der „geistigen Artzney“ bedurfte es Abstandsregeln . Im Ghetto von Padua konnten 1630 die jüdischen Bewohner ihre Sünden vor zehn Mitgliedern der Gemeinde beichten, die vor der Haustür eines wegen seiner Frömmigkeit bekannten Vorstehers, der diesen Vorschlag gemacht hatte, in einem nicht näher beschriebenen „sicheren Abstand“ als Zeugen des Sündenbekenntnisses fungierten .49 Ähnlich verhielten sich katholische Geistliche, wenn sie Pestkranken die Sterbesakramente spenden oder ihnen die Beichte abnehmen wollten . Während der Pest in St .  Gallen im Jahr 1629 wurden die Mönche des dortigen Benediktinerklosters von ihrem Abt streng angehalten, die Beichte nur im Freien abzunehmen . Und daran hielt man sich: „Wünschten Verdächtige oder schon an Pest Erkrankte zu beichten, so klopften sie an die Haustüre und P . Probus stieg in den Obstgarten hinunter, wo er, von ihnen 10–12 Schritte entfernt, ihr Sündenbekenntnis anhörte und ihnen dann die Kommunion spendete .“50 Ein Schritt war damals zwischen 70 und 75 cm lang, so dass der Sicherheitsabstand ca . sieben bis neun Meter betrug . Im Jahr 1690 verfasste der Abt von St . Gallen, Coelesti Sfondrati (1644–1696), Anweisungen, wie sich seine Mitbrüder im Falle einer Pest verhalten sollten . Jeder solle dann einen Beichtvater bestimmen: „Es wird dann gut sein, über Ort und Zeit sich zu verständigen, damit er demselben unter freiem Himmel und mit lauter Stimme, zugleich in einem Abstand von neun oder zehn Schritt und bei abgewandtem Winde beichten könne .“51 Dieser Abstand von ca . sieben Metern galt, nach einigen Pestratgebern zu urteilen, sogar als relativ gering . In einer Wiener Pestschrift aus dem Jahr 1679 wird die Frage gestellt:

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Scheiwiler (1904), S . 317 . Crown (1973), S . 73 . Scheiwiler (1904), S . 310 . Zit . n . Scheiwiler (1904), S . 328 .

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„Wie weit einer von den Inficirten stehen soll, damit er sicher sey und nicht inficirt werde?“52 Die schon damals erstaunlich differenzierte Antwort lautet: In disem kann man nichts gewisses vorschreiben; Dann wegen des mehrern oder wenigern Giffts deß inficirten Leibs ist die Gefahr auch mehr vnd weniger . Nichts destoweniger wird es nicht vnnützlich seyn, […] das 50 . Schritt, kleine oder grössere, nach dem die vergiffte kranckheit ist, die weite seyn soll, bey welcher nichts zubesorgen, sonder man gar sicher sey .53

Der Autor empfahl also das Fünffache des Abstands, den fast zur selben Zeit die Benediktiner in St . Gallen beim Beichteabnehmen in Pestzeiten für einigermaßen risikolos hielten . Anders als heute waren Abstandsregeln bei Gottesdiensten in der Frühen Neuzeit nicht üblich . Die Kirchen blieben auch in Pestzeiten meist weiter geöffnet, soweit genügend Priester noch vorhanden waren, um die Messe zu lesen . Nur selten ergriff die weltliche Obrigkeit eine so drastische Maßnahme wie die komplette Schließung von Kirchen, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern . Im protestantischen Eisleben ließ man während der Pest 1585 wenigstens eine Kirche offen, „darinnen der Pestilentialis entweder kurtz geprediget oder verlesen“ .54 Auch im katholischen Marseille zögerte man 1720 bei einem der letzten Ausbrüche der Pest in Westeuropa, zu einem solchen, bei der Bevölkerung äußerst unbeliebten Mittel zu greifen, wie aus den Bemerkungen eines englischen Arztes hervorgeht, der gegen Ende des 18 . Jahrhunderts eine Pestschrift veröffentlichte: Die Schulen und das Kollegium wurden frühzeitig im August [1720] geschlossen; allein erst den ein und zwanzigsten erging der Befehl, die Kirchen zu schließen, und den sechzehnten dieses Monat sahe sich die Obrigkeit wider Willen genöthigt, dem abergläubischen Pöbel die jährlich Procession am Festtag des heil . Rochus [des berühmten Pestheiligen, R . J .] zu erlauben, wodurch ein höchst gefährlicher Zusammenlauf des Volks veranlaßt wurde .55

Gerade von Bittprozessionen in Pestzeiten schien Ärzten und den von ihnen beratenen städtischen Obrigkeiten eine große Ansteckungsgefahr auszugehen . Während die Pest 1713 in Wien wütete, wollte man zumindest die Fronleichnamsprozession nicht verbieten, verringerte aber immerhin die Zahl der Teilnehmer aus Gründen der Seuchenprophylaxe . So durften damals die Handwerkszünfte nicht mitwirken; eine Ausnahme machte man für Geistliche, Universitätsangehörige und Mitglieder des Magistrats . Zudem durften die Vertreter des Klerus am Ende der Prozession nicht mehr wie 52 53 54 55

Hauck (1679), S . 122 . Hauck (1679), S . 123 . Lehmann (1747), S . 985 . Russel (1792), S . 300 .

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gewöhnlich am Stephansdom auf die anderen Teilnehmer warten, sondern mussten sich sogleich nach Hause begeben .56

Abb. 2 Hl. Karl Borromäus führt eine Pestprozession 1576 in Mailand an. Stich von Johann Jakob Frey, 1749, nach Pietro da Cortona (Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International, CC BY 4.0)

In einer bedeutenden jüdischen Gemeinde Italiens fand man eine bemerkenswerte Lösung, um Menschen trotz der in der Stadt grassierenden Seuche am Gottesdienst teilnehmen zu lassen . Der Arzt und Rabbiner Jacob ben Isaac Zahalon (1630–1693) schreibt in seiner Autobiographie Sefer Otzar Ha’Hayyim (1683) über die Pest in Rom im Jahr 1656: Da die Menschen nicht in der Lage waren, zur Synagoge zu kommen, am Shabbat Parshat Toldot 2 Kislev 5417 [18 . November 1656], hielt ich, Yaakov Zahalon, eine Predigt an der Ecke der Catalena Straße, aus einem Fenster von David Gatignos Haus, für die Menschen 56

Geusau (1793), S . 231 .

‚Abstand halten!‘

(möge Gott sie beschützen), die unten auf der Straße standen . Ein anderes Mal predigte ich von einem Fenster im Haus von Yehuda Gatigno (seligen Angedenkens) in der Toscana Straße, die Menschen standen auf der Straße und hörten mir zu . In anderen Straßen haben Gelehrte von den Fenstern ihrer Häuser aus gepredigt .57

In Padua kam man im Ghetto während der Pest von 1630 aufgrund der baulichen Gegebenheiten auf die folgende Idee: „Wir haben angeordnet, um den Abstand zwischen den Menschen einzuhalten, dass während des Gottesdienstes die unverheirateten Männer im Hof der Synagoge für die Aschkenasim Platz nehmen und diejenigen, die normalerweise in der italienischen Synagoge beten, sollen in der Frauenabteilung sitzen .“58 Eine weitere Berufsgruppe hatte dagegen so gut wie keine Möglichkeit, Abstand zu halten: die Totengräber . In der Pestordnung der Stadt Nordhausen aus dem Jahr 1681 finden sich detaillierte Dienstanweisungen für die in Seuchenzeiten eigens angestellten Pest-Totengräber, die aufgrund ihres nicht vermeidbaren Kontakts mit infizierten Körpern jeden Umgang mit Gesunden meiden müssen .59 Nur sie dürfen die Pestleichen transportieren und an den dafür vorgesehenen Orten begraben . Ist jemand an der Pest verstorben, sind zunächst die von der Stadt bestallten Inspektoren zu informieren . Diese ordnen an, einen Sarg ins Haus des Verstorbenen zu bringen . Die Leiche wird von einer Wartfrau abgewaschen, ins Totenkleid gehüllt und mit Hilfe des PestTotengräbers in den Sarg gelegt . Dieser wird sogleich verschlossen und vor der Beerdigung nicht mehr geöffnet . Für den Abtransport zu den Pestgräbern sind ebenfalls die Pest-Totengräber allein zuständig und von den Angehörigen zu entlohnen . In Moskau sollten die Pest-Totengräber 1771 eine spezielle Kleidung tragen, damit sie leicht erkennbar waren . Zu ihrem eigenen Schutz wurde angeraten: „Die Instrumente, welche die Totengräber gebrauchen, wirft man ins Wasser, oder noch besser, man verbrennt sie, mit all den Sachen, welche sie gebraucht haben; […] Die Totengräber müssen sich danach verschiedene Male in einem Fluß baden, neue Kleider anziehen, und alsdenn in der Quarantäne aufs höchst fünfzehn bis zwanzig Tage bleiben, wenn nun niemand von ihnen angesteckt ist, gehen sie wiederum heraus und erhalten ihre Freiheit .“60 In der Praxis hat sich dieser sinnvolle Vorschlag eines russischen Arztes und Anhängers der medizinischen Aufklärung vermutlich kaum umsetzen lassen, dazu fehlte es nicht nur an Personal, sondern auch an Zeit .

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Zahalon (1683), zit . n . Savitz (1935), S . 176 . Zum Kontext vgl . Reichman (2021) . Catalano (1946), S . 78 . Ich danke Rabbi Edward Reichman, MD (New York) für diesen Hinweis . Perschmann (1874), S . 580 . Samoilowitz (1785), S . 172 .

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Olfaktorische Barrieren

Heute wird gegen eine Infektion das Tragen von Masken (von einfachen Alltagsprodukten bis hin zu partikelfiltrierenden Halbmasken) empfohlen . Dieser Rat basiert auf jahrzehntelangen Forschungen von Bakteriologen, Virologen und Epidemiologen und ist Teil eines naturwissenschaftlichen Paradigmas .61 Die hochwertigen FFP-Masken filtern, wie sich im Labor nachweisen lässt, sowohl die eingeatmete Luft als auch die Ausatemluft über die Maskenfläche und bieten daher sowohl einen Eigenschutz als auch einen Fremdschutz . Die Idee, sich durch eine Maske vor einer Seuche zu schützen, ist allerdings sehr viel älter . Ein früher Beleg findet sich bereits im Alten Testament . Ein Leprakranker musste seine Oberlippen bzw . seinen Schnurrbart nicht nur als Zeichen der Scham, sondern auch zur Ansteckungsverhütung bedecken (Lev 13,45) .62 Eine Schutzmaske, die im Unterschied dazu auch die Nasenpartie mit einbezieht, lässt sich erstmals in der Frühen Neuzeit in den Quellen nachweisen . Sie wurde in Italien von Ärzten getragen, die bei einer Visite eines Pestkranken mehr als nur einen mit wohlriechenden Kräutern gefüllten Schwamm – wie lange Zeit üblich – umständlich vor die Nase halten wollten . Aus dem 17 . und 18 . Jahrhundert sind Abbildungen überliefert, die Ärzte zeigen, die nicht nur eine Art Schutzkleidung tragen, sondern auch schnabelförmige Masken . Einige dieser Masken haben sich vereinzelt in Sammlungen erhalten . In der Forschung wird inzwischen mit guten Gründen angezweifelt, ob diese wirklich echt sind oder nicht später nach einer Bildvorlage rekonstruiert wurden .63 Der früheste bekannte Beleg für diese Schutzmaßnahme findet sich in einem Werk des dänischen Arztes Thomas Bartholin (1616–1680) aus dem Jahr 1661 .64 Er nimmt darin Bezug auf eine Abbildung, die er zuvor aus Rom erhalten hatte . Darauf war zu sehen, welche Maßnahmen römische Ärzte bei einer einige Jahre zuvor aufgetretenen Pestepidemie ergriffen hatten, um sich vor der Seuche zu schützen . Bartholin beschreibt, dass die Pestärzte dort ein Gewand aus gepresstem Leinen trugen, dem die Keime der Krankheit nicht so leicht anhaften sollten . In der linken Hand trügen sie einen Stock als Zeichen ihres Amtes und vor dem Gesicht eine Schnabelmaske, die wohlriechende Substanzen enthielt . Er bezeichnet diese ungewöhnliche Aufmachung als „singularis habitus“ (einzigartige Gewandung) .

61 62 63 64

Matuschek u . a . (2020) . Luering (1939); Preuss (1911/1992), S . 422 . Ruisinger (2020) . Bartholin (1661) .

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Abb. 3 Arzt in Schutzkleidung gegen die Pest, nach Jean-Jacques Manget, Radierung 18. Jh. (Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International, CC BY 4.0)

Einen anderen Typus von Maske („Haubentyp“) erwähnt gut 60 Jahre später der französische Arzt Jean-Jacques Manget (1652–1742) in seinem Traktat über die Pest .65 Auf dem Titelkupfer ist ein Pestarzt mit Schnabelmaske zu sehen . Die Bildunterschrift lautet in deutscher Übersetzung: „Gewand der Ärzte und anderer Personen, welche die Pestkranken besuchen . Es ist aus levantinischem Maroquinleder, die Maske hat Augen aus Kristall und eine lange Nase angefüllt mit Duftstoffen [profumi] .“ Im Text selbst wird ausgeführt, dass diese Schutzkleidung keine neue Erfindung, sondern in Italien schon seit langer Zeit in Gebrauch sei . Außer für Frankreich und Italien haben sich bislang keine verlässlichen Quellen für den Einsatz solcher Schnabelmasken finden lassen . Die Medizinhistorikerin Marion Ruisinger kommt daher zu dem Schluss: „Der Pestarzt mit der Schnabelmaske machte, wenn man so will, eine virtuelle Karriere . Er prägte die Ikonographie der Pest nicht durch seine reale Existenz, sondern durch seine Abbildung in einer Serie von Einblattdrucken, die in den Jahrzehnten um 1700 verbreitet wurden .“66

65 66

Manget (1721) . Ruisinger (2020), S . 248 .

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Indirekte Kontaktvermeidung

Auch vor einer indirekten Berührung fürchtete man sich, wie Giovanni Boccaccio im „Decamerone“ bezeugt: Und es kam noch schlimmer: Denn nicht nur das Sprechen oder der Umgang mit Kranken infizierte die Gesunden mit der Krankheit und dem Keim des gemeinsamen Todes, sondern es zeigte sich, daß allein die Berührung der Kleider oder eines anderen Gegenstandes, den die Kranken angefaßt oder gebraucht hatten, den Berührenden mit dieser Seuche ansteckte .67

Es brauchte zu dieser Erkenntnis keinen ärztlichen Sachverstand, sondern nur eine Beobachtungsgabe, die Menschen schon zu Beginn der ersten großen mittelalterlichen Pestepidemie vom Risiko der Ansteckung durch kontaminierte Kleidung oder Gebrauchsgegenstände überzeugte . Die ‚wissenschaftliche‘ Erklärung findet sich dann kurze Zeit später in den Pesttraktaten . In einem Handbuch, das den medizinischen Wissensstand einige Jahrzehnte vor der Entdeckung des Pesterregers (Yersinia pestis) im Jahr 1893 zusammenfasst, werden die unterschiedlichen Ansteckungswege im Falle der Pest wie folgt geschildert: „Das Pest-Contagium ist ebensowohl durch unmittelbare körperliche Berührung des Kranken, als durch den Luftkreis um ihn herum, sowie durch andere Zwischenträger (von den Kranken benutzte Effecten, Betten, Wäsche u . s . w .) übertragbar .“68 Die Erkenntnis, dass die Pest auch durch Berührung von Gegenständen, die von einem Kranken stammten oder im Haushalt eines Infizierten gelagert waren, übertragen werden konnte, führte dazu, dass diese meistens verbrannt oder zumindest einer Räucherung unterzogen wurden . Überlebte ein Pestkranker, so hatte er zwar Glück gehabt, stand aber oft genug vor dem Nichts, da man einen Großteil seines gesamten Hab und Guts vernichtet oder durch die Dekontaminierung mehr oder weniger wertlos gemacht hatte . Der jüdische Arzt Abraham Catalano (gest . 1642) erlebte 1630 die Pest in Padua, von der auch das jüdische Ghetto stark betroffen war . In seinen lesenswerten Erinnerungen an diese schreckliche Zeit schildert er, wie die Juden nach dem Abklingen der Seuche von den Kommissaren der städtischen Gesundheitsbehörde aufgefordert wurden, einen Platz in der Nähe zu bestimmen, an dem die persönliche Habe aller Bewohner desinfiziert und größtenteils aber verbrannt werden konnte .69 Danach sollen allein 50 vollgepackte Wagen zum Verbrennen abtransportiert worden sein . Was nicht ein Opfer der Flammen wurde, bekamen die Ghettobewohner nach über drei Monaten zurück . Allerdings waren Bettzeug und Matratzen, wie uns der Au-

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Übersetzung bei Bergdolt (1989), S . 41 . Häckermann (1863), S . 318 . Zitiert in englischer Übersetzung bei Bell (2019), S . 194–196 .

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genzeuge schildert, oft nicht mehr brauchbar, da durchnässt oder gar verschimmelt . Alleine die Instandsetzungskosten (z . B . für die Trocknung von Leinen und Wolle) beliefen sich nach Catalano auf eine Summe von 4 .500 Lira . Ein gutbezahlter Bauingenieur verdiente damals 2 .000 Lira im Jahr . Hinzu kamen noch die Kosten für die Komplettreinigung der Wohnungen .

Abb. 4 Verbrennung von kontaminierten Gegenständen während der Pest in Rom 1656 (Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International, CC BY 4.0)

Wenn man bedenkt, wie wertvoll im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Kleidungsstücke, Bettwäsche und Matratzen waren, dann überrascht es nicht, dass es vielerorts durchaus üblich war, diese Gegenstände des täglichen Gebrauchs  – selbst wenn sie von Pesttoten stammten – wiederzuverwenden . So schrieb die Hildesheimer Pestordnung von 1609 vor: Zum 3 . Demnach man auch erfahren, das das Zeug daruff die doden verschieden, bei dem Hagenbeck vnnd sonsten bei den bornen hin vnnd wieder gewaschen wirdt, So soll solches hiemit gentzlich vnnd auch allerdings durchaus bei gleicher willkürlicher straffe verbotten vnnd abgeschaffet sein, vnnd mag man solch Zeug nirgendts den an den Indersten hinfurter gewaschen werden .70

Das bedeutete jedoch nicht ein grundsätzliches Waschverbot in solchen Fällen . Es wurde lediglich angeordnet, dazu nicht die Quellen und Bäche in der Innenstadt zu

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Zit . n . Höhl (2002), S . 72 .

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benutzen, sondern nur die außerhalb des Stadtgebiets vorbeifließende Innerste . Der bereits erwähnte St . Galler Abt legte in einem Leitfaden zum Verhalten in Pestzeiten aus dem Jahr 1690 fest: Sehr ernstlich müssen die Pfarrer davor warnen, die Leintücher oder Betten Verstorbener anzunehmen oder zu verschenken oder in Flüsse hineinzuwerfen, was man ohne schwere Sünde nicht tun kann . Vielmehr sind solche Gegenstände unter freiem Himmel und in offener Luft zu verbrennen, damit der Pestzunder vernichtet werde .71

Nicht nur der Tastsinn war bei der Pestabwehr gefordert

Soziale Distanzierung in Zeiten der Pest bestand nicht nur aus dem Verzicht auf direkte Berührung, der Vermeidung von Nähe, sondern – wie kurz erwähnt – auch aus olfaktorischen Abwehrmaßnahmen .72 Sie zielt damit vor allem auf die sogenannten niederen Sinne, den Geruchs- und den Tastsinn . Doch auch die anderen Sinne waren, zumindest teilweise, an der Seuchenbekämpfung in unterschiedlicher Form beteiligt . Der Gehörsinn

Das gilt zum Beispiel für den Gehörsinn . Zwar mussten Pestkranke im Unterschied zu Leprösen nicht durch akustische Signale vor der von ihnen ausgehenden Gefahr der Contagion warnen, aber der Zwang, einen größeren Abstand zu nicht Infizierten einzuhalten, setzte aufmerksames Zuhören und ein gutes Hörvermögen voraus . So beklagte sich ein auswärtiger Pestarzt 1630 in Florenz darüber, dass eine Kommunikation mit Kollegen erschwert wurde, da sie „so weit von mir [stehen], dass ich kaum ein Wort verstehen kann“ .73 Im „Decamerone“ erzählt Boccaccio die Geschichte eines übel beleumundeten Florentiner Notars, Ciappelletto genannt, der in der Fremde schwer erkrankte, wenn auch offenbar nicht an der Pest . Landsleute nahmen ihn aus Nächstenliebe in ihr Haus auf . Da sie aufgrund seines ihnen bekannten schlechten Lebenswandels um sein Seelenheil fürchteten, berieten sie, ob man einen Beichtvater herbeirufen solle . Das bekam der Kranke mit: „Ciappelletto, der wie gesagt nicht weit davon lag, wo jene mit einander sprachen, hatte ein feines Gehör, wie es die Kranken oft haben, und verstand alles, was sie von ihm sprachen .“74 Pestkranke, die in einem Lazarett lagen, durften gelegentlich nur mittels einer Glocke das Pflegepersonal auf sich aufmerksam machen . In einer Wiener Pestordnung aus dem Jahre 1717 ist geregelt: „In71 72 73 74

Zit . n . Scheiwiler (1904), S . 329 . Vgl . Röder (2020), S . 33 . Calvi (1984), S . 196 . https://www .projekt-gutenberg .org/boccacio/dekamer1/chap001 .html (letzter Zugriff: 9 .2 .2022) .

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gleichen solle vor jedem Zimmer-Fenster ein Glöcklein hangend seyn, welches, wann der Krancke läutet, alsobalden der Krancken=Warter […], um was der Krancken Verlangen ist, zu vernehmen .“75 Explizit auf Distanzwahrung zielte dagegen die Vorschrift ab, dass der Totengräber bei dem Abtransport einer Pestleiche durch ein Glöcklein an seinem Karren auf die Gefahr aufmerksam machen sollte .76 In Venedig mussten die pizzigamorti, die Totengräber, sogar bronzene Schellen an den Füßen tragen, wenn sie tagsüber durch die Gassen der Lagunenstadt gingen .77 Wie ein solches Signal auf die Menschen wirkte, schildert ein Augenzeugenbericht aus dem Ghetto in Padua, wo der bereits erwähnte jüdische Arzt Catalano jedes Mal, wenn er das Glöcklein an der Karre hörte, die zum Abtransport der Kranken ins Lazarett diente, ans Fenster trat und beobachtete, wie die Familie des Betroffenen in Weinen ausbrach und die Kranken sich hoffnungslos ihrem Schicksal fügten – „wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt wurden“ . Und er fügte noch hinzu: „Es regte sich Mitleid bei mir und oft war ich regelrecht erschüttert, wenn ich sah, wie jemand auf einer Bahre auf den Karren verladen wurde, von dem ich den Namen kannte .“78 Der Geschmackssinn

Der Geschmackssinn half dagegen nur bedingt bei der Gefahrenabwehr, indem man beispielsweise bei Kontakt mit Pestkranken die Wurzeln der Engelwurz (Angelica archangelica) kaute .79 Weitere Substanzen mit einer gewissen Schutzwirkung erwähnt ein Regensburger Pesttraktat: „In den Mund kann man eingebeitzte Wacholder-Beer, weissen Zimmet, Citronen=Schalen, oder andere condirte Sachen, Angelica=Wurtzel, Myrrhen und dergleichen käuen, und den Speichel immerfort dabey außwerffen .“80 Heute wissen wir, dass gerade das Ausspucken vielfach eine Infektionsquelle (z . B . bei der Tuberkulose) darstellt und dass daher das Sputum unter Einhaltung größtmöglicher Hygiene im Alltag entsorgt werden muss . Eine Erklärung für die Wirksamkeit des Kauens solcher und ähnlicher pflanzlicher Substanzen gegen die Pest liefert der Leipziger Mediziner August Quirinus Rivinus (1652–1723) in seinem Pesttraktat von 1714, wo er eine der vielen Expertenmeinungen wiedergibt: „Ein andern Meynung sind diejenigen, welche davor halten, daß die Lufft mit einem Pestilentzialischen Gifft angestecket sei; denn von solchen werden die Sachen, deren man sich zum kauen be-

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Pest-Beschreibung (1727), S . 136 . Pfeiffer (1877), S . 14; Hauck (1679), S . 141 . Vgl . dazu Röder (2020), S . 31 . Crawshaw (2012), S . 131 . Crown (1973), S . 72 . Wulfers (2014), S . 37 . Alkofer (1714), S . 203 .

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diente, zur Verbesserung der verderbeten Lufft, so man in sich zieht, vorgeschrieben .“81 Andere Experten wiederum kritisierten diese Art der Pestprophylaxe . Zu den Vorbeugungsarten, die „zur Pestzeit unzureichend oder unützt und fruchtlos sind, da sie nämlich mit den Begriffen von Pestkontagion nicht übereinstimmen“, gehört laut dem Wiener Arzt Joseph Eyerel (1745–1821) auch „das Kauen würziger Körper und das immerwährende Halten des Eßigs im Munde“ .82 Der Sehsinn

Der Sehsinn war gefragt, wenn es um Schutz vor Nähe in Pestzeiten ging . Denn durch das von weitem sichtbare Tragen eines weißen oder auch farbigen Stocks machten Pestärzte und Leichenbeschauer auf sich aufmerksam .83 In London waren während der großen Pest von 1665/66 die Totenbeschauer, Wundärzte und Totengräber verpflichtet, nicht „ohne einen rothen, drei Fuß langen Stab“ in den Händen die Straßen zu betreten .84 Ein solcher Stab sollte also eine Länge von drei Fuß (ca . 90 cm) haben, er konnte auch von weißer Farbe sein .85 Die Grazer Pestordnung von 1585 schrieb ein ähnliches visuelles Signal für alle vor, die beruflich mit Pestkranken zu tun hatten: „Damit sie jedermann kenne, haben sie weiße Stäbe in der Hand zu tragen .“86 In Genf war ebenfalls ein weißer Stab für diese Risikogruppe verfügt worden .87 In der Ergänzung zu einer früheren Pestordnung der Stadt London aus dem Jahr 1581 wurde dekretiert: „That no persons dwelling in a house infected be suffered to go abroad unless they carry with them a white wand of a yard long; any so offending to be committed to the Cage .“88 Auch in Paris war im 16 . Jahrhundert offenbar eine solche Kennzeichnung üblich, wie wir aus dem Bericht des venezianischen Gesandten in Frankreich aus dem Jahre 1580 erfahren . Dieser war überrascht, in der Nähe eines Stadttores einer Frau und einem Mann, die weiße Stäbe als Kennzeichen der Pestgefahr in den Händen hielten und um Almosen bettelten, zu begegnen . Er hielt das Ganze allerdings eher für einen Betteltrick .89

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Rivinus (1714), § 23 . Eyerel (1810), S . 95 . Vgl . dazu Röder (2020), S . 31 . Anonym (1848), S . 1 . Forbes (1974), S . 1034 . Peinlich (1877/78), Bd . 1, S . 228 . Naphy (2002), S . 115 . Zit . n . Creighton (1891), S . 315 . Creighton (1891), S . 315 .

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Abb. 5 Totengräber mit Signalstäben. Flugblatt (Ausschnitt) aus der Zeit der Pest in London 1665 (Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International, CC BY 4.0)

Ausblick

Die Sinnesgeschichte kann also auch für die Geschichte der Pest wichtige Aufschlüsse und Erklärungen geben . Sie zeigt, wie soziale Distanz geschaffen und eingehalten werden kann . Sie macht zudem deutlich, dass Abstandsregeln damals und heute nicht unbedingt miteinander zu vergleichen sind, weil sich deren epistemische Logiken anders darstellen . Abschließend gilt es, noch eine recht wenig bekannte Disziplin in diesem Zusammenhang kurz zu erwähnen: die historische Proxemik . Die „Gewinnung der Distanz“ gehört zwar nach Hans Blumenberg zur „elementaren Fähigkeit des Menschen“90, ist aber damit dennoch keine anthropologische Grundkonstante . Die Distanzierung als „Körperausschaltung“ mittels „außerkörperlicher Abwehrmethoden“91 (Paul Alsberg) unterliegt sozialen Veränderungsprozessen und ist damit ein Thema nicht nur der Anthropologie oder Soziologie, sondern auch der Geschichtswissenschaft . Hier müsste eine historische Proxemik ansetzen . Bekanntlich drücken Menschen mit ihrem Verhalten im Raum „soziale und emotionale Beziehungen aus“, lassen auf diese Weise aber auch gesellschaftliche „Rollen, Zugehörigkeiten und Sympathien“92 erkennen . Es

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Blumenberg (2006), S . 578 . Vgl . dazu Töpfer (2016), S . 12 f . Alsberg (1922), S . 378 . Poggendorf (2006), S . 137 .

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zeigen sich auch Unterschiede im Raumverhalten nicht nur zwischen den Kulturen, sondern ebenso in unterschiedlichen Epochen . Der Soziologe Richard Sennett äußerte 2020 in einem Zeitungsinterview die Vermutung, dass Corona nicht nur unser Verhältnis zum Staat verändern wird, sondern auch, wie wir in Zukunft Städte bauen . Die Verdichtung in den Städten, die mit der Urbanisierung im 19 . Jahrhundert eingetreten ist, erweise sich in Pandemiezeiten als Problem . Eine „schreckliche Ironie der Corona-Krise könnte darin bestehen, dass sich die Menschen in den Millionen-Citys des Südens am Ende einer Pandemie besser widersetzen können als wir in Europa“, denn „die arme Bevölkerung kann sich ein Leben im Zentrum nicht leisten und legt weite Distanzen zurück, um eine Fabrik oder ein Geschäft zu erreichen“ .93 Das reduziert seiner Meinung nach die Ansteckungsgefahr . Er verkennt aber, dass auf diese Weise das Virus auch in die Peripherie getragen werden kann, wie das Beispiel der Lombardei während der ersten Corona-Welle gezeigt hat . In einem weiteren Interview, und zwar für die englische Zeitung The Guardian, wies Sennett zudem auf eine mögliche Veränderung des Stadtraums durch die COVID-19-Pandemie hin: „[…] in the future there will be a renewed focus on finding design solutions for individual buildings and wider neighbourhoods that enable people to socialise without being packed ‚sardine-like‘ into compressed restaurants, bars and clubs“ .94 Dass räumliche Verdichtung in urbanen Zentren schon in der Vormoderne ein Problem bei einem Seuchenausbruch war, zeigt ein Blick in die Stadtgeschichte . Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass der Verdichtungsprozess in der Stadt und auf dem Land in den letzten 500 Jahren enorm zugenommen hat . So wiesen beispielsweise um 1500 die Niederlande eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 33 Einwohnern pro qkm auf, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation waren es dagegen nur 18 Einwohner pro qkm .95 Zum Vergleich: 2018 kamen in den Niederlanden 511 Einwohner auf 1 qkm, in Deutschland 219 . Doch der historische Vergleich täuscht, denn es gab auch mittelalterliche Städte, die erstaunlich dicht bevölkert waren . So kamen zum Beispiel um 1400 im englischen Winchester 28 Einwohner auf 1 acre (= 7 .163 Einwohner pro qkm)96, das entspricht etwa der Hälfte der Bevölkerungsdichte des heutigen Kairo . Im frühneuzeitlichen Basel waren es 1610 sogar 16 .300 Einwohner pro Quadratkilometer .97 Für die räumliche Ausbreitung der Pest ist außerdem noch ein anderer wichtiger Faktor entscheidend: die Anzahl der Bewohner pro Haus, also die Wohnungsdichte . Je mehr Menschen in einem Haus zusammenlebten, umso schwerer war es, in Pestzeiten Distanz zu halten . So kamen z . B . in München 1794/95 im Durchschnitt 19,4 Bewohner

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Sennett (2020) . Shenker (2020) . Blockmans (2002), S . 417 . Dyer (1989), S . 189 . Platter (1987), S . 155 .

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auf ein Haus, in Hannover waren es 1689 in der Alt- und Neustadt nur 8,3 Personen .98 Wie sehr die Wohnungsdichte die Ausbreitung der Pest beschleunigen konnte, zeigt der Bericht des Basler Stadtarztes Felix Platter von 1610, wenn man ihn mit den für diese Stadt erhaltenen demographischen Daten für einzelne Viertel und Berufsgruppen (Dienstboten) in Verbindung bringt . Ähnliches gilt für das Ghetto in Venedig, wo aufgrund der dichten Bebauung 1570 vergleichsweise mehr Menschen an der Pest starben als in anderen Vierteln der Lagunenstadt .99 Heute zeigen mikrogeographische Auswertungen mit „Small-Area-Methoden“, dass in der gegenwärtigen Pandemie die Corona-Inzidenzen höher sind, je geringer die Bildung, je höher der Migrantenanteil und je höher der Anteil an Mehrparteienhäusern in dicht bebauten städtischen Gebieten ist .100 Halten wir fest: Auch heute sind in Ländern der ‚Dritten Welt‘ Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 wie Quarantäneauflagen, Social Distancing und intensivierte Handund Gesichtshygiene in den dort anzutreffenden hochverdichteten und prekären urbanen Räumen kaum einzuhalten .101 Diese Gebiete weisen in der Regel eine hohe Wohndichte, eine schlechte Wasser-, Abwasser- und Stromversorgung sowie unzureichende soziale und medizinische Dienstleistungen auf . Derartige Verhältnisse erinnern ein wenig an die Situation in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten, in denen in Pestzeiten von der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit verzweifelte Versuche unternommen wurden, durch Abstandhalten die Seuche in den Griff zu bekommen . Bibliographie

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Robert Jütte, Prof. Dr. Dr. h. c.

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart robert .juette@igm-bosch .de

Unternehmen Psychiatrie Wie für Menschen Geschichte geschrieben wurde RALF-GERO C. DIRKSEN Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 69–98

Company psychiatry How history was written for people Abstract: The subject of this article in the yearbook “Medicine, Society and History” is the history

of the Heiligenhafen specialist clinic . “How we became what we are” could be the motto of this historical treatise . The concern of psychiatry history work goes further . Psychiatry is always a reflection of the prevailing trends in society and shows how we treat people . It is the primary task of an agile psychiatry company not only to provide the economic foundations in order to be able to initiate the necessary changes, but also to become effective for the social destigmatization of people with mental impairments . It is of interest here which management and political measures have become historically significant .

Einleitung

Die Geschichte der Psychiatrie ist eine Geschichte der Stagnation und des Aufbruchs . Im Folgenden werden krankenhaushistorische Phasen der Unternehmensentwicklung der Fachklinik Heiligenhafen dargestellt, wobei eine besondere Auswahl aus dem historischen Kontinuum auf einen siebenjährigen Ausschnitt von 1998 bis 2005 fällt, der gleichsam wie unter einer Lupe näher betrachtet wird . Den Schwerpunkt dieses überwiegend zeitgeschichtlichen Beitrags bildet dabei in geringerem Maße eine lineare medizinhistorische Abhandlung im klassischen Sinne als vielmehr die Darlegung der wirtschaftshistorischen Entwicklung des Unternehmens, wenn es um Fortschritt in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung geht, die immer auch eine gesellschaftliche Dimension zwischen den Polen Akzeptanz und Diskriminierung aufweist .

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Das Erkenntnisinteresse besteht darin, darzulegen, mit Hilfe des Einsatzes welcher Managementkonzepte sich historisch betrachtet aus einer Verwaltung zur Versorgung psychisch erkrankter Menschen ein sozialer Konzern entwickelte . Welche staatlichen Entscheidungen und zugrundeliegenden Motive haben diesen Prozess gefördert oder aber auch gehemmt? Wie haben sich Prozesse der Fusion und der Privatisierung ausgewirkt? Welche eigenständigen und individuellen Lösungsansätze fernab der standardisierten Vorgehensweisen wurden verfolgt? Dabei wird auf die einzelnen Strategien des wirtschaftlichen Handelns eingegangen, um deren Auswirkungen auf den Fortschritt der Patientenversorgung und die wirtschaftshistorische Relevanz der hier beschriebenen Unternehmensentwicklung im Vergleich zu anderen Gesundheitseinrichtungen aufzuzeigen . Die Fachklinik Heiligenhafen ist entsprechend der Krankenhausplanung an der psychiatrischen und neurologischen Versorgung der Bevölkerung des Landes Schleswig-Holstein beteiligt und nimmt darüber hinaus insbesondere die ärztliche und medizinische Versorgung und Betreuung von Patient:innen nach § 39 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), im Rahmen der Unterbringung nach dem Gesetz für psychisch Kranke (PsychKG) sowie der Unterbringung gemäß § 37 des Bundesseuchengesetzes wahr, soweit die Art der Krankheit dies zulässt . Die Organisation Die „Vorgeschichte“: Gründungsjahre

An dieser Stelle soll eine Übersicht über die besonders bewegten Jahre vom Bau einer Kaserne ab 1935 bis zur gegenwärtigen Nutzung der Anlage als ein modernes Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie und Rehabilitation erfolgen . 1935 hat die damalige Reichsregierung das Gesetz zur Einführung der „Allgemeinen Deutschen Wehrpflicht“ erlassen, was einen großen Bedarf an Kasernen-Neubauten nach sich zog .1 Die kleine Stadt Heiligenhafen besaß für so ein Vorhaben eine günstige Lage . Mit dem Bau der Kaserne entstanden ferner ein Barackenlager zur Aufnahme der Bauarbeiter sowie die „Weiße Siedlung“ und die „Rote Siedlung“, die Offizieren und Soldaten ein Zuhause in unmittelbarer Nähe boten .2 Im Herbst 1938 wurde Heiligenhafen Garnison, d . h . Standort ständig untergebrachter militärischer Verbände . Eine in Berlin/Neukladow aus Polizei- und Marineeinheiten zusammengestellte Flie-

Reinfeld (1997), S . 7 . Die „Weiße Siedlung“ besteht aus weiß getünchten Einfamilienhäusern; die „Rote Siedlung“ sind mit rotem Backstein erbaute Wohnblöcke . Nach dem Krieg zogen dort viele Ärzt:innen und Pfleger:innen ein . 1 2

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gergruppe (See) rückte in diese Garnison ein und erhielt die Bezeichnung „FliegerErsatz-Abteilung (FleA) 26 (See)“ .3 Damit wurde die Liegenschaft der späteren Fachklinik Heiligenhafen nach einer nur knapp dreijährigen Bauzeit als Kasernenanlage ihrer Bestimmung übergeben . Aus der „FleA 26 (See)“ wurde später ein Flieger-Ausbildungs-Bataillon und ab 1941 schließlich ein Flieger-Ausbildungs-Regiment, das bis 1942 in Heiligenhafen blieb und danach in die Niederlande verlegt wurde . Ab 1942 nutzte man die Kaserne bis Anfang April 1945 als Marinekriegsschule . Aufgrund der Kriegsereignisse war die Anlage bis auf das erforderliche Stammpersonal fast leer . In der zweiten Aprilhälfte 1945 wurden in den einzelnen Gebäuden für die aus dem Osten rückwärts verlegten Feldlazarette mit den verwundeten Soldaten sowie für Soldaten und Zivilisten von mehreren Lazarettschiffen einzelne Lazarette mit je 200 Betten eingerichtet .4 Am Tag der Kapitulation des „Dritten Reiches“ – am 8 . Mai 1945 – waren dann bereits 1 .500 Betten belegt . Die erkrankten Menschen wurden durch das Personal und das medizintechnische Gerät der Feldlazarette sowie größtenteils vor Ort vorhandene technische Mitarbeiter versorgt . Auf Befehl des Marine-Sanitätsamtes Ost fasste man diese Einheiten unter der Leitung des Flottenarztes Dr . Kertzenhoff zu einem Marinelazarett zusammen . Nach der Kapitulation wurde das gesamte „Ortslazarett I Heiligenhafen“, bestehend aus verschiedenen Lazaretten der „Area F“5, dem 8 . Britischen Corps eingegliedert und ein Bettensoll von 3 .000 festgelegt, weil hier zusätzliche Kranke aus der Gruppe der zahlreichen Vertriebenen aufgenommen wurden, die besonders in den damaligen Kreisen Oldenburg/Holstein und Eutin – heute Kreis Ostholstein – Zuflucht fanden . Das Personal umfasste zu dieser Zeit rund 900 Mitarbeiter . In diesem Ortslazarett konnten Patienten aller medizinischen Disziplinen behandelt werden, weil die Fachärzte durch den Rückzug der verschiedenen Feldlazarette mit hierhergekommen waren . Hierzu gehörte u . a . auch die „Abteilung für Nerven und Psychiatrie“ .6 Um der herrschenden Not unter den Flüchtlingen entgegenzusteuern und die überfüllten wenigen Krankenhäuser des räumlich weit ausgedehnten Kreises Oldenburg zu entlasten, wurde dem Ortslazarett mit Genehmigung des Wehrmachtstabes Nord und dem Einverständnis des 8 . Britischen Corps eine „Civilabteilung“ mit zunächst 200 Betten, darunter auch eine Frauen- und Kinderstation, angegliedert – ein Vorläufermodell für die spätere zivile Nutzung der Einrichtung .

Es handelt sich um eine Einheit, die heute als Marineflieger bezeichnet werden würde . Reinfeld (1997), S . 8 . Die „Area F“, auch „Camp F“ genannt, umfasste einen Raum bis Neustadt, Eutin, Lütjenburg, Laboe, in dem zeitweise bis zu 600 .000 Soldaten interniert waren . Ca . 300 .000 davon wurden in Heiligenhafen durch die „Entlassungsstelle der Wehrmacht“ in den Häusern 1 bis 12 der Kaserne durchgeschleust . 6 Reinfeld (1997), S . 9 . 3 4 5

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Unter den Sanitätsdienstgraden befanden sich zahlreiche Medizinstudenten, für die die Professoren und leitenden Abteilungsärzte im Rahmen einer kleinen, provisorisch eingerichteten „Universität“ regelmäßig Vorlesungen hielten, an denen 80 bis 90 Studenten teilnahmen .7 Die Entlassungen der Wehrmachtsangehörigen unter dem Lazarettpersonal, die z . T . noch gesperrt oder schon entmilitarisiert waren, dehnten sich bis Frühjahr 1946 aus . Bis zum 1 . März dieses Jahres konnte die Bettenzahl aber schon wieder von 3 .000 auf 2 .000 reduziert werden . Von diesem Zeitpunkt an wurde das Lazarett in „P . o . W . Hospital“ (Prisoner of War Hospital) umbenannt . In dieser Einrichtung lagen auch zahlreiche deutsche Generale und Admirale (u . a . Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Vizeadmiral Bernhard Rogge und Vizeadmiral Hellmuth Heye), die von einem englischen Arzt auf ihre Tauglichkeit für eine Gefangenschaft in Belgien untersucht wurden . Zwei von den untergebrachten Generalärzten kehrten später nach Heiligenhafen zurück . Auf Befehl des 8 . Britischen Corps schuf sich das P . o . W . Hospital einen Wachzug von 60 Mann, der die Kontrolle über Ein- und Ausgang sowie über das gesamte Areal auszuüben hatte . Die Insassen des Hospitals durften sich in einem besonderen Sperrkreis um das Gelände herum zu bestimmten Tageszeiten frei bewegen . Dies waren zunächst gewährte Vergünstigungen, die aber durchaus als Vorläufer sozialtherapeutischer Maßnahmen zur Reintegration angesehen werden können, die erst für die Phasen späterer (forensisch-)psychiatrischer Versorgung typisch sind . Am 31 . August 1946 wurde das Hospital als solches wieder aufgelöst .8 Am 1 . September 1946 wurde die Einrichtung dann von der Landesverwaltung Schleswig-Holstein als „Hilfskrankenhaus“ unter der Leitung des Röntgenologen Prof . Dr . Willy Loepp als Ärztlicher Direktor übernommen . Gleichzeitig setzte man die Gesamtbettenzahl auf 1 .700 fest, aufgegliedert in die Krankenabteilungen Neurologie, Psychiatrie, Frauenabteilung, Innere Medizin, Tuberkulose, Chirurgie, Orthopädie, HNO, Haut- und Geschlechtskrankheiten und Zahnmedizin . Für die Diagnostik standen eine Röntgenabteilung, ein Labor und eine Pathologie zur Verfügung sowie zusätzlich eine Hygiene-Stelle .9 Die Stationen der psychiatrischen Abteilungen wurden nach und nach durch Verlegungen von Klienten aus den damaligen Heil- und Pflegeanstalten (später Landeskrankenhäuser, Fachkliniken) Neustadt i . H . und Schleswig, die durch die sehr hohe Flüchtlingszahl überbelegt waren, ausgeweitet . Damit einhergehend verringerte sich aber die Bettenzahl der übrigen somatischen Disziplinen im Laufe des Jahres 1948, weil die Fachärzte auch sukzessive zu den Universitäten zurückkehrten bzw . andernorts tätig wurden . Am 1 . September 1947 bestimmte die Landesverwaltung SchleswigHolstein die Klinik zum „Landeskrankenhaus“ mit einem eigenen Einzugsbereich . Die 7 8 9

Reinfeld (1997), S . 9 . Reinfeld (1997), S . 10 f . Reinfeld (1997), S . 12 .

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Einrichtung eines dritten Landeskrankenhauses neben Neustadt i . H . und Schleswig wurde wegen der hohen Zahl von Vertriebenen in Schleswig-Holstein erforderlich .10 1948 begann der Aufbau einer Arbeitstherapie, die den Patient:innen erstmalig eine sinnvolle Tagesstruktur bot .11 Nach wie vor hatte die Behandlung von Psychiatriepatient:innen mit Tuberkulose (Tbc) einen hohen Stellenwert in den ausgehenden 1940er Jahren . Es gab auch eine Abteilung für „Displaced Persons“ mit Tbc, die nicht in ihre Ursprungsländer zurückkehren konnten . Auch in diesen Neuerungen kann man eine ethisch-moralische Tradition und Verpflichtung des Hauses sowie eine an fortschrittlichen sozialtherapeutischen Maßstäben orientierte Behandlung erkennen, die auch in späteren Jahren ihren Fortgang finden sollte . Das Landeskrankenhaus in den Jahren 1950–1990

Infolge der schlechten Wirtschaftslage in den ersten Nachkriegsjahren, auch nach der Währungsreform 1948 sowie ab 1952, als eine Verlegung des Krankenhauses nach Lübeck-Blankensee erwogen wurde, stagnierten Investitionen, und auch laufende Instandhaltungen wurden kaum bewilligt . Die prekäre finanzielle Lage wirkte sich bis 1956 auch negativ auf die fachliche Entwicklung der Patientenversorgung aus, weil einerseits Personal fehlte, das adäquat ausgebildet hätte werden können . Andererseits schulte man beispielsweise Handwerker zu Pflegern um, die nicht immer eine ausreichende Empathie für die Patient:innen zeigten .12 1962 wurde die betriebseigene Landwirtschaft aufgelöst, die Ländereien größtenteils verpachtet . Die Schweinemästerei wurde endgültig 1977 aus Rentabilitätsgründen aufgegeben, die weiter existierende Schlachterei mit Erwerb von Lebendvieh 1979 durch den Einkauf geschlachteter Schweine- und Rinderhälften ersetzt . Die ab 1960 erbaute Siedlung Röschkamp mit 128 Wohnungen war ausschließlich für Mitarbeiter:innen des Hauses bestimmt, die nach Erreichen der Altersgrenze und bei Erwerbsunfähigkeit dort wohnen bleiben konnten . Ab März 1964 erhielt das Landeskrankenhaus Heiligenhafen ein festgelegtes Einzugsgebiet zur Versorgung psychisch erkrankter Menschen . Es umfasst seitdem die kreisfreien Städte Kiel und Neumünster, die Kreise Oldenburg (nördlich Lensahn),

Reinfeld (1997), S . 13 . Dies ist in vergleichbaren Häusern mehrheitlich erst Jahrzehnte später mit der Psychiatrie-Enquete erfolgt . 12 Reinfeld (1997), S . 14 . Heiligenhafen war touristisch noch nicht erschlossen . Die Region galt als strukturschwach . Die Arbeit in der Klinik war daher begehrt – als sicherer Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, der nicht besonders viel Einsatz erforderte . Der langjährige Krankenhausseelsorger der Fachklinik erklärte in einem Interview, dass die Einstellung vieler Mitarbeiter:innen zu den Patient:innen äußerst kritisch war . Hinter vorgehaltener Hand wurde von „unnützen Essern“ gesprochen . Attribute von Nationalsozialismus und Euthanasie waren damals immer noch lebendig . 10 11

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Plön, Eckernförde-Rendsburg (südlich des Nord-Ostsee-Kanals) und Steinburg sowie tuberkulöse Fälle und Sonderfälle (zusammen ca . 900 .000 Einwohner:innen) . 1970 wurde der bisherige Ärztliche Direktor Dr . Ewald Pauleit aus Altersgründen in den Ruhestand versetzt und der ehemalige Psychiatriereferent Dr . Erich Brakelmann als sein Nachfolger zum Leitenden Medizinaldirektor ernannt . Den Pflegedienst führten jeweils getrennt für männliche und weibliche Patient:innen ein „Leitender Krankenpfleger“ und eine „Leitende Krankenschwester“ . Das Landeskrankenhaus Heiligenhafen, ehemals kameral geführter Betrieb  – d . h . Einnahmen ergaben sich aus tagesgleichen Pflegesätzen, Defizite wurden durch den Staat ausgeglichen –, wurde ebenfalls ab 1970 und damit frühzeitig im Vergleich zur allgemeinen Entwicklung (1972) als kaufmännisch geführter Betrieb der Landesregierung (§ 26 Landeshaushaltsordnung (LHO)) eingerichtet . Ab 1971 wechselte die nicht rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts vom Geschäftsbereich des Innenministeriums in denjenigen des Sozialministeriums . Viele Bau- und Instandhaltungsmaßnahmen wurden durchgeführt, die vor allem zunächst die bauliche und technische Infrastruktur entwickelten . Das Grundsanierungsprogramm der 1970er Jahre führte auch dazu, dass die Stationen massiv verkleinert (gedrittelt) wurden . Dies war eine wegleitende Entwicklung für eine moderne psychiatrische Patientenversorgung . Für Patient:innen wurde darüber hinaus ein „Treffpunkt“ eingerichtet, den sie zur Freizeitgestaltung und für Besuch durch Angehörige nutzen konnten . Auch gibt es seitdem für die Patient:innen eine automatische Kegelbahn . 1975 wurde der Bau des Betriebskindergartens mit 42 Plätzen begonnen .13 Zu Beginn der 1970er Jahre wurde noch der Plan für eine Aufnahmeklinik in den Häusern 18 bis 22 gefasst .14 1973/74 gliederte man aber die Krankenabteilungen mit dem Ziel der spezialisierten Behandlung und wegweisenden Frühdifferenzierung der Patient:innen neu . Die Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilung musste aufgelöst werden, weil nach der Pensionierung des Leitenden Abteilungsarztes kein geeigneter Facharzt als Nachfolger gefunden werden konnte . Einerseits wurden die Positionen der Psychiatrie-Enquete von 197515 zur Verbesserung der Lebenssituation psychisch erkrankter Menschen von der Fachklinik Heiligenhafen in ihrem sozialtherapeutischen Selbstverständnis und ihrer praktischen Ausrichtung als Reformkrankenhaus begrüßt, andererseits herrschte allgemein eine kritische Zeit des Ärztemangels .16 Das 1977 auf 1 .450 Betten reduzierte Soll wurde 1978 nochmal auf 1 .200 Betten vermindert . Das

Reinfeld (1997), S . 20 f . Reinfeld (1997), S . 16 f . Ein solches Versorgungskonzept erscheint heutzutage sehr rückständig, wurde aber bis in die 1990er Jahre verfolgt (LASH, Abt . 661, Nr . 4669, Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 17 .4 .1991, Az: VI 430 a- B 1111-1-60) und wird von einigen Kliniken wegen Personalmangels heute wieder angewendet . 15 Söhner/Becker/Fangerau (2020); Armbruster u . a . (2015) . 16 Reinfeld (1997), S . 17 f . 13 14

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Personal umfasste zu dieser Zeit ca . 700 Mitarbeiter:innen .17 Ab 1978 wurde ein neuer Sportplatz für die Patient:innen und den Betriebssport gebaut sowie ein neues Gewächshaus in der Gärtnerei errichtet, die ab 1982 als erweiterter Gärtnerei-Stützpunkt, auch als Außentherapie für die Patient:innen Verwendung fand . 1984 erbaute man die Pavillons für die Ergotherapie . 1982 existierte noch die Aufteilung in einen Akutbereich mit 554 und einen Langzeit-Bereich mit 546 Betten . Während die Betten weiter reduziert wurden (1985: 1 .000), wuchs die Anzahl der Beschäftigten auf 783 Mitarbeiter:innen18, worin auch eine Steigerung der Versorgungsqualität gesehen werden kann . Ab Januar 1991 benannte man das Landeskrankenhaus Heiligenhafen in „Fachklinik Heiligenhafen – Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie und Rehabilitation“ (Abb . 1) um . Ebenfalls 1991 wurde eine Dependance der Werkstätten für Behinderte der Ostholsteiner Behindertenhilfe gGmbH mit 24 Plätzen in der Fachklinik eingerichtet19 und ein „Förderverein für die in der Fachklinik betreuten Langzeitkranken e . V .“ gegründet20 . Wie aus Akten der Oberfinanzdirektion Kiel hervorgeht, dauerten dringend benötigte Umbauten der Häuser (Modernisierungen) von der Planung bis zur Genehmigung dreieinhalb Jahre, Bauzeit nicht eingerechnet .21 Die spätere rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts benötigte in ihrer zugewiesenen Bauherreneigenschaft lediglich einen Bruchteil der Zeit (Abb . 1) . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Klinik in der zurückliegenden Zeit überwiegend operativ geführt wurde, d . h . es wurde organisiert und verwaltet, um die als sinnvoll erachteten Betriebsabläufe aufrechterhalten zu können . Dennoch führte man zahlreiche, für die Patient:innen und Mitarbeiter:innen vorteilhafte Neuerungen, wie zuvor beschrieben, ein . Nachhaltige Veränderungen im Sinne eines strategischen Managements, das Prozessorientierung und Partizipation von Mitarbeiter:innen zum Gegenstand hatte, waren weitgehend noch unbekannt . Eine solche Umsetzung und die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Rollenverständnisses der Nutzer:innen22 kam erst Ende der 1990er Jahre zum Tragen .

Reinfeld (1997), S . 23 . Reinfeld (1997), S . 26 f . LASH, Abt . 661, Nr . 4669, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Az: 404 .214 .12–3 . LASH, Abt . 355 .39, Nr . 30, Amtsgericht Oldenburg in Holstein, Vereinsregister 593 . LASH, Abt . 661, Nr . 4667, Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 6 .4 .1995, Az: VI 430a – B 11112-63 . 22 Im sozialpsychiatrischen Kontext setzt sich immer mehr der Begriff der „Nutzer:innen“ durch, die in selbstbewusster und aktiver Weise psychiatrische Dienstleistungen in Anspruch nehmen und nicht als „Patient:innen“ sich passiv gedulden müssen, eine Haltung, die von anderen Stakeholdern Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen leicht zugewiesen werden könnte . Relativ neutral spricht man auch von „Klient:innen“ oder „Kund:innen“, wenn die ökonomische Beziehung sichtbar gemacht werden soll . 17 18 19 20 21

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Abb. 1 Areal der Fachklinik Heiligenhafen (Quelle: Rückseite des Flyers der Infektionsabteilung in Haus 2, Heiligenhafen 1998)

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Fachklinik Heiligenhafen, AöR

Durch das Gesetz über die Errichtung öffentlich-rechtlicher Fachkliniken (FKlG) wurde mit Wirkung zum 1 . Januar 1996 die Fachklinik Heiligenhafen, wie auch die Fachkliniken Neustadt und Schleswig, zu einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) umgewandelt .23 Gleichzeitig wurde die „Klinik für Abhängigkeitskrankheiten Kiel-Elmschenhagen“ der Fachklinik Heiligenhafen zugeordnet .24 Rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts (vergleichbar mit den Rundfunkanstalten der Länder) entstehen nicht wie die GmbH25 durch den Eintrag ins Handelsregister, sondern durch einen parlamentarischen Akt in Form eines Errichtungsgesetzes . Um den hoheitlichen Charakter einer Einrichtung zu dokumentieren, die nach Gesetz und Recht Menschen in einem Bereich betreut, der immer auch etwas mit Freiheits- und Persönlichkeitsrechten zu tun hat (u . a . bei der Unterbringung auf einer geschlossenen Station durch richterlichen Beschluss, wenn z . B . Selbst- und/oder Fremdgefährdung vorliegt), hat die Landesregierung sich für die Form der rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts entschieden . Zieht man aber in Betracht, dass möglicherweise auch GmbHs mit einem eigens ausgehandelten Sicherstellungsauftrag solche Aufgaben übernehmen könnten, wie es bereits im bayerischen Strafvollzug erprobt wurde, so steht wohl an erster Stelle für die Wahl jener Rechtsform die Sicherung der Arbeitsplätze und der Tarifverträge auf der Grundlage der vormaligen Organisationsform . Mit der Schaffung der Organe „Aufsichtsrat“ (Verwaltungsrat) und „Vorstand“ (Geschäftsführung) orientiert sich das Errichtungsgesetz zugleich an klassischen Formen der Unternehmensorganisation . Die Organe der Fachklinik sind: die Gewährträgerversammlung, der Verwaltungsrat und der Geschäftsführer . Diesen steht das Direktorium, bestehend aus dem Ärztlichen Direktor, der Direktorin des Pflegedienstes und dem Direktor der Verwaltung, beratend zur Seite . Die Direktoren leiten ihre Bereiche eigenverantwortlich im Rahmen ihres Budgets . Die Funktion des Verwaltungsdirektors wurde nach dessen altersbedingtem Ausscheiden 1998 nicht wieder besetzt . Unterdessen übernahm der Geschäftsführer die formale Leitung der Verwaltung mit . 23 Vorher geplante Baumaßnahmen wurden wegen des Finanzplanungszeitraums bis 1999 kurzum wieder zurückgezogen: LASH, Abt . 661, Nr . 4689, Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 25 .4 .1995 . 24 Reinfeld (1997), S . 4 . Nach intensiven Recherchen lässt sich feststellen, dass die Aufzeichnungen des früheren Verwaltungsmitarbeiters Martin Reinfeld die einzige existierende historische Sekundärliteratur über die Fachklinik Heiligenhafen sind . Mehrere relevante Archivalien des Landesarchivs Schleswig-Holstein wurden durch das Sozialministerium wegen Datenschutzes gesperrt . 25 Eine GmbH-Lösung bietet den Vorteil, dass kaufmännisch-unternehmerische Aspekte (Aufgabenstellung der Organe, Kaufmannseigenschaft, Gewährträgerschaft) nicht erst definiert werden müssen, sondern im GmbH-Gesetz kodifiziert sind . Aus Sicht der Gesellschafter lassen sich die Leitziele des Unternehmens im Sinne einer erfolgsorientierten Unternehmensführung gut verwirklichen . Die Änderung zu dieser Rechtsform ginge einher mit dem Wechsel der Personalmitbestimmung aus dem Personalvertretungsrecht in das Betriebsverfassungsrecht .

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Die staatsmittelbare Rechtsform „Anstalt des öffentlichen Rechts“ weist dem Organ „Geschäftsführer“ Planungshoheit und Budgetautonomie zu, wodurch sich der strategische Handlungsspielraum gegenüber dem Eigenbetrieb einerseits erweiterte, in der Folge sich aber nicht selten Konstellationen mit den weiteren Organen „Verwaltungsrat“ und „Gewährträgerversammlung“26 ergaben, die durch konträre Positionen gekennzeichnet waren . Das maßgebliche Hemmnis war nach Angaben des Geschäftsführers darin zu sehen, dass der politische Träger bzw . die Planungsbehörde in den letztgenannten Organen mehrheitlich vertreten war und dadurch eine Interessenkollision zwischen staatlicher Psychiatrieplanung und Unternehmensplanung entstand . Während die unternehmensstrategischen Veränderungsprozesse auf eine Optimierung der eigenen Marktposition abzielten, waren die politischen Mandatsträger im Rahmen ihrer Personalunion primär staatlichen Handlungsmaximen verpflichtet und hatten sich gegenüber den verschiedenen an der Leistungserbringung beteiligten Trägern neutral zu verhalten . Die enge Anbindung des öffentlich-rechtlichen Unternehmens an die Krankenhaus- und Psychiatrieplanung des Landes ist eine zentrale Determinante der Unternehmensentwicklung, die von Wettbewerbern vielfach als unzulässige Vorteilsnahme gedeutet wurde . Sie stellte sich indessen in der budgetären Deckelungsphase der 1990er und 2000er Jahre als Hypothek heraus, weil der Abbau von Kapazitäten zuerst immer in den eigenen Einrichtungen vorgenommen wird . Die mit der Rechtsformänderung erwartete „innere Dynamisierung“ blieb indessen zunächst aus . Als Gründe sind die Haltung der Besitzstandswahrung bei den Mitarbeiter:innen und ihre Unsicherheit mangels kommunizierter Perspektiven zu nennen . Der Fortbestand der öffentlich-rechtlichen Trägerschaft suggerierte eine Kontinuität, die Veränderungen in den gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen und zukünftige Herausforderungen weitgehend ignorierte . Im Falle der Fachklinik Heiligenhafen sind Zusammensetzung der Gewährträgerversammlung (stimmberechtigte Mehrheit der Landesregierung) und Aufgabenzuschnitt (Überwachung der Geschäftsführungstätigkeit des Vorstandes sowie Herbeiführen von Beschlüssen auf Vorschlag des Vorstandes) angelehnt an bewährte Aufgabenverteilungen zwischen Geschäftsführung und Gesellschafter . Da die Klinik aber selbst eigenständiger Träger ist, füllt der Verwaltungsrat die klinikinterne Kontrollaufgabe aus .

26 Der Verwaltungsrat ist ein Aufsichtsgremium, dem Arbeitnehmervertreter, ein Gewerkschaftsmitglied sowie Ministeriale unter dem Vorsitz des Landespsychiatriereferenten angehören . Die Gewährträgerversammlung besteht aus dem Abteilungsleiter Gesundheit im Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie einem Ministerialbeamten aus dem Finanzministerium, die über größere Investitionen entscheiden .

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Gesellschaftsform(en)

Die ehemaligen Landeskrankenhäuser (LKH) waren bis einschließlich 1995 rechtlich unselbständige nachgeordnete Landesbetriebe . Daraus ergaben sich strategische Nachteile im zunehmend wettbewerbsorientierten Krankenhausmarkt . Mit der rechtlichen Verselbständigung seiner drei Fachkliniken zu Anstalten des öffentlichen Rechts versuchte das Land Schleswig-Holstein bisherige Wettbewerbsnachteile zu vermeiden und gleichzeitig – um es „positiv“ auszudrücken – der verursachungsgerechten Abgrenzung der Finanzkreisläufe Rechnung zu tragen .27 Neben einer inhaltlichen Differenzierung wurde auch der relativ neue Outsourcing-Ansatz für ärztliche Dienstleistungen am Standort Heiligenhafen verfolgt: Gerade somatische Untersuchungen und Begleitbehandlungen wurden durch selbständige Chirurgen, HNO- und Zahnärzte geleistet . Gleiches galt für die logopädische Therapie und ein Schlaflabor (konsiliarische Dienste) .28 Der gesellschaftsrechtliche Schritt der Landesregierung zur Rechtsformänderung ist gleichsam als ein Schritt auf dem Weg von der Behörde zu einem Wirtschaftsunternehmen zu deuten, der bisher zwar nicht unternehmensgleiche, aber zumindest unternehmensähnliche Strukturen schuf . Wichtigstes Kriterium ist die rechtliche Selbständigkeit, welche die Gründung und Beteiligung an anderen Unternehmen, eine selbständige Bauherreneigenschaft und die eigenständige Verwaltung des Stellenplans möglich machte . So wurde auf dem Klinik-Areal in Heiligenhafen ein Kultur- und Sozialzentrum als selbständige Tochter-GmbH eröffnet . Seit April 1997 ist an Stelle des Landesbauamtes Eutin ein freischaffender Architekt für die Planung und Durchführung von Baumaßnahmen verpflichtet worden, was deren Geschwindigkeit forciert hat . Die gewisse „Zwitterhaftigkeit“ einer Fachklinik als Anstalt des öffentlichen Rechts lässt sich nicht nur aus ihrer rechtlichen Organisationsform ableiten, sondern auch aus ihrem Finanzaufkommen . Einerseits wird sie aus öffentlichen Mitteln finanziert – das gilt vorwiegend für Investitionsmittel –, andererseits plant und handelt sie wie eine auf Gewinn orientierte Profit-Organisation, deren Erträge aus Zahlungen der Krankenkassen, der Pflegeversicherung, der Sozialhilfe und der Patient:innen gespeist werden (Duale Finanzierung) . Da die Mitarbeiterstellen ohnehin nicht landesfinanziert, sondern durch die Erlösquellen der Kostenträger  – Krankenkassen, Rententräger, Pflegeversicherung für stationäre und ambulante Erträge – sowie andere Einnahmen aus Hilfs- und Nebenbetrieben abgedeckt sind, ist die Selbstverwaltung des Stellenplans

27 Kritiker behaupten, dass das Land sich eines weiteren „schwarzen Finanz-Lochs“ entledigen wollte . Die Outsourcing-Alternativen hätten dann „betriebswirtschaftliche Sanierung“ oder „Abwicklung“ geheißen . 28 Die Anstalt verfügte für die Sicherstellung des stationären Versorgungsauftrages über weniger Personal, was zu Unmut in der Belegschaft führte . Ärztliche Dienstleistungen mussten kompensierend eingekauft werden .

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logische Konsequenz und bietet gute Voraussetzungen für das Controlling der Personalkosten . In der psychiatrischen Landschaft galten die Fachkliniken im Zuge der vom Land verfolgten Dezentralisierungspolitik und der in ihr dominierenden einstufigen Ausrichtung als Auslaufmodell mit Negativ-Image . Trotz der vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen29 wurde aus ideologischen Gründen ihre Zerschlagung öffentlich gefordert30 . Eine Identifikation der Mitarbeiter:innen mit einem traditionsreichen Haus, das in der Vergangenheit für seine psychiatriereformerische Ausrichtung bekannt wurde, war weitgehend obsolet . Gleichzeitig sah die Geschäftsführung in dem sich entwickelnden Wettbewerb des Gesundheits- und Sozialwesens eine positive Perspektive, um die im Übrigen fachlich und qualitativ in der Szene anerkannten Angebote am Markt zu positionieren und ein Versorgungsnetz zu etablieren . Ausgehend von der Psychiatrieplanung der 1990er Jahre, die den Aufbau tagesklinischer Angebote als Kompensation für wegfallende vollstationäre Betten und die gemeindenahe Versorgung vorsah sowie insbesondere die Auflösung der klinischen Langzeitbereiche forcierte, verschärfte sich der politische Druck auf die psychiatrischen Großeinrichtungen31, dem nur mit einer antizipierenden Corporate Strategy begegnet werden konnte . Im Zuge der Dezentralisierungspolitik entwickelten sich organisatorisch seit 1997 aus den sogenannten Langzeitbereichen des psychiatrischneurologischen Krankenhauses Fachpflege- sowie Eingliederungshilfeeinrichtungen zu eigenständigen Geschäftsbereichen . Im Vorfeld der im Jahre 2004 erfolgten Privatisierung des Unternehmens wurde die Anstalt des öffentlichen Rechts durch Gesetz zu einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) umgewandelt . Organisationswandel

Auf der Strukturebene begann das Management, wie zuvor beschrieben, ab 1997 ein differenziertes Dienstleistungsunternehmen mit den Geschäftsfeldern Behandeln, Pflegen und Eingliedern aufzubauen und seine nachhaltige Positionierung als überregional führender Anbieter im Segment psychiatrische Dienstleistungen zu verfolgen .

29 Die Heimaufsicht durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales ergab, dass die Anforderungen an die Heimmindestbauverordnung für Fachpflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen weitgehend erfüllt sind (LASH, Az: 404 .21724–004) . Die Erhebung der Pflegequalität durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (LASH, Az: 404 .21724–002) stellte einerseits vorbildliche Pflege und Betreuung fest, aber auch Mängel bezüglich der Pflegeplanung in drei Fällen sowie gefährdende Bedingungen ebenfalls in drei Fällen . 30 Diese Forderung wurde in erster Linie von Komplementär-Anbietern der Sozialpsychiatrie erhoben . 31 Rüschmann/Jansen/Krauss (2000), S . 43 . Das sogenannte Rüschmann-Gutachten sah die Auflösung des gesamten klinischen Versorgungsbereiches (340 Betten/ca . 500 Arbeitsplätze) am Standort Heiligenhafen vor .

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Zunächst weitete die Fachklinik Heiligenhafen ihr Handlungsfeld organisatorisch mit der Errichtung von wohnortnahen Außenstellen aus und tätigte in begrenztem Umfang aus Eigenmitteln Investitionen, um in Qualität und Ausstattung langfristig wettbewerbsfähig gegenüber freigemeinnützigen und komplementären Trägern zu werden bzw . bleiben . Dafür wurden die Konzepte der Organisations- und Personalentwicklung (OE, PE) eingesetzt, um die unmittelbare Qualitätsoptimierung von Prozessen und Dienstleistungen sicherzustellen . Am 1 . September 2000 ging aus der Fachklinik Heiligenhafen die „psychatrium GRUPPE“ hervor . Hiermit mündete ein zweieinhalbjähriger Organisationsentwicklungsprozess u . a . in einen repräsentativen und zeitgemäßen Markennamen .32 Prozess der „Reorganisation und Marktpositionierung“

Wie es in einer Unternehmensmitteilung heißt, war es die Mission des psychiatrischen Kompetenznetzwerkes, „Dienstleistungen rund um die Psyche“ anzubieten, die eine an sozialpsychiatrischen und psychotherapeutischen Gesichtspunkten ausgerichtete Versorgung und ressourcenorientierte Förderung psychisch erkrankter und behinderter Menschen gewährleisten . In der Trägerschaft der psychatrium GRUPPE wurden neben gemeindenahen Angeboten der stationären Grund- und Regelversorgung und überregionalen Spezialisierungen seit diesem Zeitpunkt auch tagesklinische Angebote, Institutsambulanzen sowie eine psychiatrisch-psychotherapeutische Abteilung an einem Kreiskrankenhaus aufgebaut . Aus dem Ein-Standort-Unternehmen wurde somit ein organisationales Netzwerk . Der Prozess der „Reorganisation und Marktpositionierung“ ist mit seiner inneren Wirkung für den Organisationswandel und den äußerlich sichtbaren Ergebnissen sehr bedeutsam gewesen . Viele Mitarbeiter:innen waren weit über das bisherige Maß daran beteiligt: Es wurde damit begonnen, ein die gesamte Organisation umspannendes Kommunikationsprogramm für den vertrauensbildenden Auftritt in den internen und externen Öffentlichkeiten zu entwickeln, um auf Desinformation und Destruktivität mit verbindlicher Transparenz zu antworten . Das strategische Vorgehen war dadurch gekennzeichnet, dass Kommunikationsziele festgelegt wurden, die ihrerseits auf die Umsetzung der Unternehmenspolitik abzielten . Die Gesamtstrategie der psychatrium GRUPPE beruhte auf einem nicht hierarchisch gedachten Mehrebenen-Modell, in dem Unternehmens-, Kommunikationsund Markenstrategie aufeinander abgestimmt waren und sich gegenseitig bedingten . Ausgangspunkt für den „Prozess der Unternehmensentwicklung“ war eine Vision der Geschäftsführung33, die nicht weniger als den Weg von einer ehemaligen Landesbehör-

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Dirksen (2021) . Trebesch (1994), S . 14 .

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de mit kustodialem Charakter zu einem modernen Konzern für psychosoziale Gesundheit mit dezentralen Versorgungsstrukturen und professioneller Kundenorientierung vorzeichnete34 . Für den notwendigen organisatorischen, kulturellen und emotionalen „Veränderungs- und Reifeprozess“ wurde ein Zeitraum von zehn Jahren veranschlagt . Unternehmensstrategie

Die Existenz einer stringenten Unternehmensstrategie, die von der Geschäftsführung seit 1997 fortlaufend entwickelt wurde, ist die Voraussetzung dafür, dass Vertrauen in das OE-Vorhaben35 entsteht36 . Ein positives Image resultiert nicht aus modernen Einrichtungsstandards oder vollmundigen Absichtserklärungen des Managements . Erst die Verknüpfung überzeugender Inhalte mit dem kontinuierlich schlüssigen Handeln verlieh dem Unternehmen weitreichenden Einfluss sowie Trägern und Symbolen ein positives Image .37 Die Unternehmensstrategie der psychatrium GRUPPE kann wie folgt skizziert werden: Die psychatrium GRUPPE entwickelt sich weiter von einem ehemaligen zentralistischen Ein-Standort-Unternehmen zu einem überregionalen Träger mit mehreren Standorten, indem sie sich an der Dezentralisierung beteiligt und gemeindenahe Angebote in eigener Trägerschaft durch Verlagerung, Neugründung oder Erwerb schafft . Gleichzeitig werden die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen genutzt, um überregionale Spezialangebote mit dem Ziel einzurichten, die Größe zu erhalten und wirtschaftlich zu bleiben .38 Die zentrale Business Strategy39 ist darauf ausgerichtet, in einem mehrstufigen Versorgungssystem wohnortnahe Grund- und Regelversorgung sowie überregionale Spezialangebote zu integrieren („Sowohl-als auch“-Strategie) . Über diese zentralen strategischen Elemente hinaus gelten die Grundsätze „ambulant vor teilstationär vor stationär“ sowie die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen Trägern und Unternehmensverbünden40 als wichtige Eckpfeiler der Unternehmensstrategie . Zielsetzung der Unternehmenspolitik war die Positionierung eines Konzerns für psychiatrische Dienstleistungen .41

Dirksen (1998/2000), Bd . 1, S . 78 . OE steht für „Organisationsentwicklung“ und beschreibt einen methodisch breitgefächerten theoretischen Ansatz zur Einführung von Veränderungen in Organisationen . 36 Kraus/Becker-Kolle/Fischer (2004), S . 190 . 37 Eiff (2002), S . 49 . 38 Dirksen/Hemmersbach (2003), S . 26 . 39 Porter (1999) . 40 Dirksen/Hemmersbach (2003), S . 112 f . 41 Dirksen u . a . (2001) . 34 35

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Kommunikationsstrategie

Die Zeit war 1998 reif, das gesellschaftliche Rollenverständnis der Psychiatrie zu überdenken . Einerseits habe diese (zu) bereitwillig den Auftrag der Gesellschaft übernommen, sich des Problems der psychisch erkrankten oder behinderten Menschen anzunehmen, andererseits habe sie sich gerade mit dieser unkritischen Bereitschaft an den gesellschaftlichen Rand drängen lassen, eine Verwaltungs-Mentalität entwickelt und über die Sinnhaftigkeit ihrer Dienstleistung nicht ausreichend reflektiert .42 Die erarbeitete offensive Kommunikationsstrategie verfolgte aus diesen Gründen einen wesentlich über die krankenhaus- und unternehmensübliche Presse- und Informationstätigkeit hinausreichenden und abhebungsfähigen gesellschaftsorientierten Dialog . Denn mangelnde Akzeptanz und soziale Benachteiligung psychisch erkrankter oder behinderter Menschen sind gesellschaftliche Problemstellungen . Daraus resultierte für ein modernes Unternehmen des Sozial- und Gesundheitswesens nicht nur eine Daseinsberechtigung, sondern es war auch der Auftrag abzuleiten, klientenorientiertes Dienstleistungsverständnis, Vertrauensbildung in die professionelle Arbeit und unternehmerisches Denken in Einklang zu bringen . Kennzeichen der Strategie waren die zielgruppenspezifische und emotionale Ansprache sowie die professionelle Abstimmung der Inhalte und der Instrumente für die externe und interne Kommunikation . Darin dominierten die Sichtweisen und Bedürfnisse der „Kund:innen“, was auch sprachlich und gestalterisch zum Ausdruck kam .43 Markenstrategie

Die vertrauensbildende Positionierung einer Marke ist ein langfristiger strategischer Prozess . Markenstatus konstituiert sich allmählich durch die Werte und durch bewiesene Leistungen des Unternehmens . Um ihn zu erreichen, muss eine Marke darüber hinaus auch über Markenqualität und -kultur verfügen .44 So wird die Marke zum Symbol und es ergeben sich aus der Verknüpfung mit den inhaltlichen Zielsetzungen und dem strategischen Managementhandeln unternehmerische Chancen und Wettbewerbsvorteile . Die Marke „psychatrium GRUPPE“ bildete als Ergebnis dieser Arbeiten ein einheitliches, abhebungsfähiges und glaubwürdiges Erscheinungsbild – mit 42 Das unrühmliche Kapitel der Psychiatrie im „Dritten Reich“ mit den Folgen der Stagnation und Gesellschaftsferne in den 1960er Jahren und erst späte grundlegende Reformbemühungen in den 1970er Jahren haben zu dieser Situation beigetragen . 43 Dirksen/Hemmersbach (2003), S .  27 . Für den Zuwachs der Fallzahlen, der unabhängig von der allgemeinen Zunahme behandlungsnotwendiger psychischer Erkrankungen faktisch von den PR- und Marketing-Maßnahmen initiiert wurde, gibt es Indikatoren wie z . B . die Einweisungsgebiete-Statistik und die Auswertung der Anfragen über das Internet, die diese qualitative Aussage unterstreichen . 44 Eiff (2002), S . 47 .

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breiter Akzeptanz und ohne zu überfordern .45 Mit dem Slogan „professionelle Hilfen – einfach menschlich“ verkörperte sie eine Philosophie, die Fachlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit in Einklang brachte (Abb . 2) .

Abb. 2 Aus der Kommunikationsstrategie abgeleitete Kernelemente des Corporate Design (Design: ArtOfVision, Quelle: https://artofvision.klaus-damm.com)

Die Marke besaß einen hohen Abhebungs- und Wiedererkennungswert . Sie galt als erste systematisch eingeführte Marke im Segment der integrierten psychiatrischen Dienstleistungen in Deutschland .46 Kommunikationsinstrumente

Die in den OE-Prozess einzubeziehenden Zielgruppen  – allen voran die Mitarbeiter:innen  – sollten die Möglichkeit erhalten, sich mit ihrer Sicht der Unterneh45 Die meisten „Brandings“ stehen am Anfang eines Abschnitts der organisatorischen Entwicklung . Aufgestülpt, ohne Zusammenhang mit gemeinsamen Werten und kollektivem Erleben, entfalten sie keine oder nur schwach ausgeprägte Identifikationswirkungen im Vergleich zum hier vorgestellten OE-basierten Ablauf . 46 „psychatrium GRUPPE“ ist nach Aussage von Prof . Wilfried von Eiff neben den „Alexianern“ die einzige systematische Markenbildung im deutschen Gesundheitswesen . Fachtagung „Unternehmen Psychiatrie“, Münster, 18 . Juni 2003 .

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menspersönlichkeit auseinanderzusetzen . Imagearbeit ist in erster Linie Identifikationsarbeit . Proaktiver Umgang und Wertschätzung waren Elemente einer initiierten Wertediskussion, die im beginnenden OE-Prozess mit partizipativen Maßnahmen wie Mitarbeiterfesten und Projektgruppen kommuniziert wurden . Den positiven Wandel der Selbstwahrnehmung galt es in dem OE-Prozess mit weiteren identifikationsbildenden Kommunikationsinstrumenten anzugehen . Für die interne Kommunikation wurde eine Mitarbeiterzeitung „von Mitarbeitern für Mitarbeiter“ ins Leben gerufen . Durch die gewonnene Transparenz wurden Einstellungen der wichtigsten Multiplikatorengruppe kultiviert .47 Im gleichen Sinne setzte man prozessbegleitend eine systematische Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ein . Nach dem Prinzip „Psychiatrie braucht Öffentlichkeit, Psychiatrie wird neu verstanden, Psychiatrie wird selbstverständlich“ wurden die Feedbacks der Berichterstattungen unterstützend für die interne Entwicklung genutzt . Die aktive und glaubwürdige Darstellung des Unternehmens in der Presse wirkte ebenfalls positiv auf die Einstellung der Mitarbeiter:innen zu ihrer Tätigkeit und ihrem Unternehmen, wie in unzähligen Interviews ermittelt werden konnte .48 In Anlehnung an die Kernelemente der Kommunikationsstrategie wurde für die externe Kommunikation eine zielgruppenspezifische Broschüren-Serie entwickelt und später mit dem abgeleiteten Corporate Design versehen . Die Sammlung von Informationsfaltblättern wendete sich entsprechend dem patientenorientierten Selbstverständnis direkt an betroffene Menschen und ihre Angehörigen . Die Texte wurden von interdisziplinären Teams gemeinsam mit dem Leiter Kommunikation erarbeitet . Wie in der Pressearbeit stellte man auch in dem Broschüren-Projekt damit bewusst Verknüpfungen in der Ansprache externer und interner Zielgruppen her . Der Internet-Auftritt korrespondierte sehr eng mit den zur Verfügung stehenden Print-Medien, so dass mit den aufeinander abgestimmten Maßnahmen eine unverwechselbare Unternehmenspersönlichkeit kreiert und nachhaltig verankert wurde . Zu den gezielt eingesetzten Kommunikationsinstrumenten gehörten auch Veranstaltungen mit unterschiedlichen an der Strategie ausgerichteten Zielsetzungen . Die erwähnten Mitarbeiterfeste sollten das Selbstverständnis festigen Symposien und der jährliche „Tag der Psychiatrie“ dienten der Reflexion und fachlichen Selbstdarstellung, während das Sommerfest und andere kulturelle Großveranstaltungen in erster Linie die „gesellschaftliche Öffnung“ und „Kontaktpflege“ zum Ziel hatten . Als weitere Voraussetzung für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung wurde eine von allen gelebte Unternehmensphilosophie von der Leitung angestrebt, die in einem Leitbildprozess (Bottom-up-Strategy) operationalisiert werden sollte . Die ab Dirksen (2001), S . 62 . Maßnahmen der externen und internen Kommunikation wirken gegenseitig aufeinander . Beides sind keine unabhängigen Handlungsfelder, sondern integrale Bestandteile einer effektiven Kommunikationskonzeption . 47 48

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Herbst 1998 im Lenkungsausschuss49 begonnene Leitbild-Debatte wurde in der Zukunftswerkstatt, einer seit Anfang 1999 bestehenden Struktur aus der Leitung und von dieser eingeladenen Führungskräften, fortgeführt . Man entschied, zwölf Mitarbeiter:innen von einem externen Beratungsunternehmen in einem einwöchigen Inhouse-Kurs als Moderator:innen auszubilden und als projektverantwortliche Gruppe zu beauftragen, den gesamten Leitbildprozess zu planen und zu begleiten . Die aus unterschiedlichsten Hierarchieebenen und Berufsgruppen zusammengesetzten BasisTeams erarbeiteten in Brainstorming-Sitzungen Leitbildinhalte, die geordnet, dokumentiert und schließlich sechs Feldern einer „Wertelandschaft“ zugeordnet wurden . Die Arbeitsergebnisse dienten einer zusätzlich vom Lenkungsausschuss beauftragten Leitbild-Projektgruppe unter einem Führungsteam aus Projektmanager und Leiter Kommunikation als Ausgangsmaterial für die inhaltliche Diskussion, die entsprechend den sechs Themenfeldern in Untergruppen erfolgte und im Wechsel in der Projektgruppe ganz überwiegend im Konsens, in einzelnen streitigen Punkten auch im Dissens entschieden wurde . Nach einer Endredaktion präsentierte die Projektgruppe dem Lenkungsausschuss das Leitbild, der es unverändert annahm und verabschiedete . Der Leitbildprozess und die Existenz eines schriftlich niedergelegten Wertekodex, der „verbindet und verbindlich ist“, war die Grundvoraussetzung für die Umsetzung der Markenstrategie . Über die kommunikativen Möglichkeiten, die Tätigkeit des Unternehmens glaubwürdig nach innen und außen darzustellen, entstand eine „erfolgsfördernde“ Unternehmenskultur50, die dem Haus ein erkennbares Gesicht und eine hörbare Stimme verlieh51 . Die erwähnte Zukunftswerkstatt, die von einer externen Beratung moderiert wurde, begleitete den internen Entwicklungsprozess bis Anfang 2000 . Sie lieferte Impulse und vergleichende Anregungen, provozierte und unterstützte die Willensbildung und Entscheidungskraft des maßgeblichen Führungspersonals .52 Darüber hinaus nahm sie als Strategie-Gruppe inhaltlich Ideen voraus, die im weiteren Verlauf der Unternehmensentwicklung große Relevanz erhalten sollten .53 In der letzten Sitzung der Zukunftswerkstatt wurde die Entscheidung getroffen, den Marktauftritt der psychatrium GRUPPE vorzubereiten . Der „psychatrium-Prozess“ startete im Januar 2000 mit einer 49 Der Lenkungsausschuss für das Qualitätsmanagement bestand aus dem Geschäftsführer, den Mitgliedern des Direktoriums, dem Qualitätsbeauftragten, dem Personalratsvorsitzenden und dem Leiter Kommunikation . 50 Rosenthal/Töllner (2001), S . 7 . 51 Im Sinne eines beabsichtigten „Imagetransfers“ wurde 1999 auch der internationale Künstler Christo angefragt . Die Verhüllung der Giebelhäuser hätte nicht nur eine beispiellose Bekanntheit geschaffen, sondern auch für die Entstigmatisierung der Psychiatrie einen unschätzbaren Impuls gebracht . Die vom Management des Künstlers geforderten finanziellen Vorleistungen waren aber nicht aufzubringen . Offiziell hieß es, dass Christo nur Projekte realisiert, die „seinem“ Herzen entspringen . 52 Kommescher/Witschi (1992), S . 26 f . 53 Das strategische Ziel, unabhängiger von der politischen Entscheidungsebene zu werden, und die Vision eines zukünftig privatisierten Unternehmens nahmen in der Zukunftswerkstatt einen breiten Raum ein .

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durch ein externes Beraterteam moderierten, ganztägigen Veranstaltung, an der alle Führungskräfte teilnahmen . Als Ergebnis des erarbeiteten Konsenses wurde eine Projektstruktur verabschiedet, die vier Projektgruppen mit sechs bis acht Mitgliedern umfasste: 1) Verbindung zwischen Leitbild und Markennamen, 2) technische Umsetzungen (Beschilderungen – Dokumentenvorlagen), 3) Analyse externer Zielgruppen und Aufbau einer Datenbank, 4) Kampagne für den öffentlichen Auftritt, und mit dem dreitägigen „psychatrium-Fest“ im September 2000, bei dem auf Imagetransfers mit national und international bekannten Künstlern gesetzt wurde, abschließend umgesetzt . Fusion und Privatisierung als Optionen der Gesundheitspolitik

Die Geschichte von Fusionen und Privatisierungen im deutschen Gesundheitswesen ist immer im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Krankenhausfinanzierung zu sehen . Zu Beginn der 1990er Jahre kursierte die Befürchtung einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen . Die Politik verabschiedete sich 1992 vom Kostendeckungsprinzip und führte zusätzlich eine Deckelung des Budgets ein . Im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit wurden in einer ersten Privatisierungswelle überwiegend kleine Häuser mit spezialisiertem Versorgungsprofil von privaten Krankenhausketten aufgekauft . In einer zweiten Welle wurden dann große Konglomerate wie erstmalig 1995 der Landesbetrieb Krankenhäuser Hamburg an Asklepios verkauft, die psychatrium GRUPPE als erste öffentliche psychiatrische Einrichtung an den Schweizer Konzern AMEOS veräußert (2004) oder das zuvor fusionierte Universitätsklinikum MarburgGießen 2006 an die Rhönklinikum AG übereignet . Zudem konsolidierte sich der Krankenhausmarkt durch Fusionen im privaten Sektor . Die Einführung der Kopfpauschalen 2007 forcierte diese Entwicklung, weil private Träger Modelle der Bezahlung über Preise frühzeitig besser nutzen konnten . Hier war die unternehmerische Perspektive auf die eigenen Ressourcen für eine strategische Neuausrichtung allgemein erfolgreicher als bei den öffentlich-rechtlichen und freigemeinnützigen Trägern, die mehr auf die Hilfestellung der politischen und kirchlichen Instanzen außerhalb der eigenen Organisation setzten . Auch wegen der geringeren politischen Einflussnahme verzeichneten die privaten Träger eine höhere Geschwindigkeit bei Reorganisationsprozessen . Mit der Umgestaltung des Gesundheitswesens im Zeichen von Markt und Wettbewerb wurde aber gleichzeitig ökonomischer Druck auf die Krankenhausversorgung aufgebaut . Ein Wechsel der Trägerschaft führt häufig zur völligen Revision

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aller Prozesse und verändert die Rahmenbedingungen für ärztliche und pflegerische Kernaufgaben .54 Prozess der „Fusion“

Nach dem prägenden Zeitabschnitt der beschriebenen „eigenständigen Reorganisation und Marktpositionierung“ der psychatrium GRUPPE versuchte man, mehr oder weniger wieder in einen Routinebetrieb überzugehen . Mitten in dieser Phase kam die Nachricht von der Fusionsentscheidung aus der Landesregierung . Auf einmal stand alles wieder zur Debatte: Zu erwartende Aushandlungsprozesse zwischen den Fusionspartnern würden die eigene Unternehmensposition, das bisher Erarbeitete und Umgesetzte wieder in Frage stellen . Die bisherige dynamische Entwicklung des Unternehmens und seine Behauptung, auch gegen Abbaubestrebungen der staatlichen Planung, als führender Anbieter im regionalen Markt machten die Fusion der psychatrium GRUPPE mit dem Ostseezentrum für seelische Gesundheit (OZG), einer benachbarten psychiatrisch-neurologischen Fachklinik gleicher Größenordnung mit angeschlossener forensischer Klinik, am 1 . Januar 2003 für die politischen Entscheider zu einer vielversprechenden Option .55 Nachdem der angestrebte Wegfall des gesamten klinischen Bereichs in Heiligenhafen politisch nicht durchsetzbar gewesen war, verfolgte die Landesregierung nunmehr den Ansatz, über strukturelle Synergieeffekte die erhofften finanzpolitischen Einsparungen zu erzielen . Dabei konnte man darüber spekulieren, ob die Ministerin auf die offenbar gewordenen und von ihr gewürdigten Managementkompetenzen der „psychatrium“-Leitung setzte, die zudem die Dezentralisierungspolitik des Landes genauso wie die jetzige Fusionsentscheidung vorbehaltlos unterstützte . In einer kurzfristig (an beiden Standorten) anberaumten Sitzung von Leitung und Führungskräften verkündete der Abteilungsleiter Gesundheit im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales und gleichzeitig Vorsitzender der Gewährträgerversammlung der psychatrium GRUPPE im Februar 2001 die offizielle, aber recht offen gehaltene Fusionsentscheidung .56 Deren Transformation in einen Akt auf Unter-

Bundesärztekammer (2007) . Gesetz zur Neuordnung der Fachkliniken (FKlNG) vom 25 . November 2002 (Gesetzessammlung Schleswig-Holstein II, Gl . Nr . 2120–17, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Nr . 14, 20 .12 .2002, S . 237–239) und Gesetz über die psychatrium GRUPPE (PsychGRG) vom 25 . November 2002 (Gesetzessammlung Schleswig-Holstein II, Gl . Nr . 2120–18, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Nr . 14, 20 .12 .2002, S . 237 f .) . 56 Auch hier wirkt die Interessenkollision zwischen dem politischen Träger bzw . der Planungsbehörde und den Aufsichtsgremien der Unternehmen, die von den Inhabern der vorhandenen Doppelrollen nicht problematisiert wird: In den Aufsichtsgremien der Unternehmen sitzen mit Mehrheit Ministerialbeamte, die eigentlich die Interessen des Unternehmens wahrnehmen sollen . Dieselben Personen sind gleichzeitig 54 55

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nehmensebene durch die Verwaltungsräte blieb aus . Dafür wurde vom Land Schleswig-Holstein eine Steuerungsgruppe mit Führungskräften, Verwaltungsräten und Gewerkschaftsvertretern aus beiden Häusern eingesetzt, in der der konfliktreiche Aushandlungsprozess stattfand . Strategische Ausrichtungen der Fusionspartner

Die Geschäftsführung jener Fachklinik, die einen umfassenden Organisationswandel vollzogen hatte und mit Phasen der existentiellen Bedrohung vertraut war, sah die Fusion als Chance der wirtschaftlichen Absicherung und der Weiterentwicklung im Sinne der Vision und der verfolgten Unternehmensstrategie: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ .57 Demgegenüber bezog die Geschäftsführung der Fachklinik Neustadt eine Gegenposition, indem sie die Fusionsgespräche auf Unternehmensebene für ergebnisoffen hielt und ihre Haltung mit ihrer überaus positiven Finanzlage begründete, die durch eine Entscheidung zur Fusion möglicherweise gefährdet werde . Aus Sicht des „psychatrium“-Geschäftsführers würde sich im Wettbewerb der Strukturprinzipien die Unternehmensstrategie der psychatrium GRUPPE mit dem propagierten und umgesetzten Versorgungsnetzwerk, bestehend aus eigenen dezentralen und kooperierenden Einrichtungen, gegenüber dem in Neustadt verfolgten „Zentrums-Gedanken“ durchsetzen . In dem Zusammenspiel zwischen strategischem Management, Organisationsentwicklung und Unternehmenskommunikation könnten Veränderungsprozesse wie die fachliche Differenzierung der Leistungsangebote, die psychiatriepolitisch favorisierte Dezentralisierung oder das Kommunikationsmanagement, das die wertebasierte Patienten- und Bewohnerorientierung glaubwürdig gegenüber den relevanten Zielgruppen vermittelt, schneller und konsequenter umgesetzt werden als in dem institutionell ausgerichteten Zentrum . Die wahrnehmbaren Vorbehalte gegenüber dem jeweils anderen Haus und seiner „Verhandlungsdelegation“ wurden in der Anfangsphase des Prozesses zusätzlich von dem Machtkampf zwischen beiden Geschäftsführern überlagert und verstärkt . Die Frage der künftigen Gesamtleitung wurde im weiteren Verlauf mit der angekündigten Vertragsauflösung des Neustädter Geschäftsführers vorentschieden . In einer gemeinsamen Sitzung am 28 . März 2001 schlugen beide Verwaltungsräte den Geschäftsführer der psychatrium GRUPPE als künftigen Alleingeschäftsführer vor . Seine Bestellung zum kommissarischen Geschäftsführer des OZG erfolgte am 1 . August 2001 .58

Beamte der Planungsbehörde . In dieser vorherrschend wahrgenommenen Funktion entscheiden sie über die Eingaben unterschiedlicher Leistungsträger und wägen dabei auch zuungunsten der vermeintlich „eigenen“ Anstalten des öffentlichen Rechts ab . 57 Blankenburg (2001), S . 11 . 58 Dirksen/Hemmersbach (2003), S . 25 .

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Das Anfang 2003 neu entstandene Unternehmen firmierte nun für beide bisherigen Fachkliniken mit dem Markennamen „psychatrium GRUPPE“ . Diese war inzwischen zu einer expandierenden Anstalt für die integrierte psychiatrische Versorgung geworden, in die weitere Dependancen integriert wurden . Aus dem ehemaligen Ein-Standort-Unternehmen wurde ein nun durch die Fusion zusätzlich erweitertes Dienstleistungsnetz mit ca . 1 .650 Betten/Plätzen an elf Standorten in Schleswig-Holstein . Über 1 .800 Mitarbeiter:innen erwirtschafteten einen Jahresumsatz von ca . 84 Millionen Euro . Die anhaltend erfolgreiche Marktpositionierung des Unternehmens sowie sich verändernde gesundheitspolitische Rahmenbedingungen führten indessen aber zu einem Dilemma: Das Management strebte (aus Zeitgründen) die Fortführung eines augenscheinlich erfolgreichen Geschäftsmodells an . Damit wurde aber versäumt, eine übergreifende, für beide Häuser zu verfolgende Kommunikationsstrategie zu implementieren, die für einen prozessbegleitenden kulturellen Wandel hätte sorgen können . Trotz des nach außen hin sichtbaren strukturellen Machtzuwachses kam es daher faktisch zu einer Schwächung der Steuerungs- und Handlungsmöglichkeiten des Managements . Das Personal war unterhalb der Führungsebenen nicht aktiv am Prozess beteiligt und konnte kaum verhaltensändernde Erfahrungen sammeln . Der Privatisierungsprozess

Der Fusionsprozess war damit strukturell und emotional noch nicht weit genug vorangeschritten und gefestigt, als die Privatisierung des fusionierten Unternehmens durch das Management initiiert wurde . Aus Gründen der beschriebenen Beschränkungen für die unternehmerische Handlungsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Unternehmungen hat es gezielt auf die Privatisierung hingearbeitet59 und die Entscheidung der Landesregierung dazu ausdrücklich begrüßt . Bereits anlässlich des Festaktes zur Fusion hatte die Geschäftsführung die Frage aufgeworfen, ob die momentane Trägerschaft auch zukünftig geeignet sei, die eigene Marktposition zu behaupten oder die gesamten Möglichkeiten der psychatrium-Strategie60 umzusetzen . Mit diesem „Steilpass“ bereitete sie die politische Entscheidung zur Privatisierung vor . Die Unternehmensleitung begrüßte diese und übernahm wie auch schon in den vorangegangenen Veränderungsprozessen die strategische Federführung . Im Hinblick auf die sich verändernden Rahmenbedingungen des Gesundheits- und Sozialwesens und aufgrund der aus ihrer Sicht bisher erfolgreich zurückgelegten Etappen der Unternehmensentwicklung beschloss die Landesregierung im Frühjahr 2003,

Blankenburg: Privatisierung (2004) . Dirksen (2003), S . 6 f . Spätestens drei Jahre nach der Fusion sollte eine Rechtsformänderung neu diskutiert werden . Materiell bedeutsamer als der Aspekt der Rechtsform ist aber die Frage der Trägerschaft . 59 60

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„die echte Privatisierung der psychatrium GRUPPE […] zu betreiben“ .61 Mit „echt“ war gemeint, dass nicht nur eine formelle Privatisierung, d . h . die Umwidmung in eine privatwirtschaftliche Rechtsform, sondern eine materielle Privatisierung angestrebt wurde, bei der die Eigentümerposition wechseln sollte . Die MBO-Gesellschaft

Das Management beteiligte sich deshalb am Bieterverfahren und gründete dafür eine Management-Buy-out-Gesellschaft (MBO) . Die ehedem durch OE geschaffenen Vertrauens- und Identifikationsmuster, die als Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte der Unternehmensentwicklung galten, wurden aber durch den Prozess der Privatisierung selbst erschüttert und relativiert . Die Erfolgsstory des strukturellen Wachstums könnte eine Ursache dafür sein, dass das Management davon ausging, die identifikationsstiftenden Effekte zurückliegender Veränderungsprozesse würden nach wie vor Gültigkeit besitzen .62 Der Unternehmensverkauf selbst ist, wie noch zu zeigen sein wird, im Allgemeinen solchen langfristigen Kalkülen eher abträglich, machen sich doch Gefühle der Ohnmacht breit, während faktisch viele divergierende Interessen in dem politischen Prozess63 agieren . Der Privatisierungsprozess war deshalb mehrheitlich von Befürchtungen und Passivität unter den Mitarbeiter:innen geprägt . Aufgrund des ausbleibenden umfassenden Schulterschlusses mit der Arbeitnehmerseite konnte sich das am Bieterverfahren beteiligte Management mit seinem MBO-Konzept nicht durchsetzen . In dem mehrstufigen Interessenbekundungsverfahren mit 20 Bietern kam das MBO-Angebot unter die letzten vier . Nach der gescheiterten Absicht von Leitung und großer Mehrheit der Mitarbeiter:innen, die psychatrium GRUPPE selbst zu übernehmen, und dem Erwerb des Unternehmens durch die für die Übernahme gegründete AMEOS Psychiatrie Holding GmbH haben sich neue Konstellationen und strategische Erfordernisse herausgebildet . Neuausrichtung im Mutterkonzern AMEOS

Von besonderer Bedeutung sind die unterschiedlichen Perspektiven der Veränderung . Einerseits wird die Sichtweise einer Organisation beleuchtet, die nunmehr als Tochtergesellschaft von einer Konzernzentrale geführt wird, sich in einem erweiterten Pressemitteilung der Landesregierung Schleswig-Holstein vom 25 .3 .2003 . Kühl (2000), S . 144 ff . Erfolg im Verändern führt dazu, dass die durch Erfolg positiv sanktionierten Verhaltensmuster und Strukturen ihrerseits Stabilität, Dauerhaftigkeit und Unbeweglichkeit erzeugen können . 63 Rosenthal/Töllner (2001), S . 12 . 61 62

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Netzwerk neu ausrichten und gleichzeitig behaupten muss . Andererseits geraten mit der veränderten Machtkonstellation die Motive und Ziele der Konzernspitze sowie die strategischen Handlungsfelder eines erweiterten Organisationssystems in den Fokus . Nachdem die landesrechtlichen Voraussetzungen64 für die Veräußerung geschaffen worden waren, erhielt die AMEOS Gruppe am 4 . November 2004 für ca . 35 Millionen Euro und eine Investitionszusage von ca . 25 Millionen Euro bis 2014 den Zuschlag des Finanzausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtages65 . Bestandteil des Kaufvertrages war eine Sicherungsvereinbarung, die den Mitarbeiter:innen den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 2008 und zehn Jahre Besitzstandswahrung garantierte .66 Mit der Übernahme erhielt AMEOS einen Zuwachs von ca . 50 Prozent seiner bisherigen Infrastruktur, Kapazitäten, Mitarbeiterzahlen und Umsätze .67 Nach Angaben des schleswig-holsteinischen Finanzministeriums ist mit dem Abschluss ein „guter Preis“ erzielt worden, weil der „Markteinstieg“ als führender privater Anbieter psychiatrischer Dienstleistungen verkauft wurde .68 Von der Transaktion ging indessen auch eine starke Signalwirkung für die Privatisierung der psychiatrischen Landeskliniken in Brandenburg und Niedersachsen aus .69 In mehreren (Top-Down-)Präsentationsrunden mit Geschäftsführung, Direktorium, Betriebsräten, Führungskräften der mittleren Ebene sowie Betriebsversammlungen an den Standorten Neustadt und Heiligenhafen stellte der zweiköpfige Vorstand der AMEOS AG am 24 . November 2004 sein Konzept sowie folgende Schritte vor . Danach setze man im gesamten Konzern auf eine dezentrale Struktur, man plane zentrale Dienste in Neustadt anzusiedeln, an der Führung der psychatrium GRUPPE werde sich indessen nichts ändern und man werde ein sechsmonatiges „Integrationsprogramm“ mit den Mitarbeiter:innen absolvieren .70 Mitte Dezember zog sich der zweite Vorstand von seinem Amt zurück . Im Unterschied zu der offiziellen Version habe der Vorstandsvorsitzende gegenüber dem Ge64 Siehe Gesetz zur Umwandlung psychiatrischer Einrichtungen und Erziehungsanstalten (PsychE-UmG) vom 24 .9 .2004 (Gesetzessammlung Schleswig-Holstein II, Gl . Nr . 2120–19, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Nr . 12, 30 .9 .2004, S . 350–353) sowie Landesverordnung über den Formwechsel und die Veräußerung der psychatrium GRUPPE vom 13 .10 .2004 (Gesetzessammlung Schleswig-Holstein  II, Gl . Nr . 2120-20-1, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Nr . 13, 28 .10 .2004, S . 401 f .) und Verwaltungsakt des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz zur Beleihung der aus dem Formwechsel der psychatrium GRUPPE (AöR) entstehenden psychatrium GRUPPE gGmbH mit der Aufgabe des Maßregelvollzugs vom 3 .11 .2004 (Amtsblatt für Schleswig-Holstein, Ausgabe Nr . 46, 15 .11 .2004, S . 893–899) . 65 Blankenburg: Psychatrium (2004) und Dirksen (2004) . 66 Kirchner (2004) . 67 Die AMEOS Gruppe besteht aus einer Reihe von verschiedenen Gesellschaften . Formal wurde die psychatrium GRUPPE gGmbH in die AMEOS AG eingegliedert, während andere Unternehmen samt Zwischengesellschaften der AMEOS Holding AG bzw . der AMEOS Hospitalitaire zugeordnet sind . 68 Fricke (2004) . 69 Niemann (2006) . 70 Kirchner (2004) .

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schäftsführer der psychatrium GRUPPE verlautbaren lassen, dass er zu diesem Schritt durch den Verwaltungsrat gezwungen worden sei . Dies erscheint plausibel, zumal es sich bei den beiden Vorständen um langjährige Weggefährten und Freunde gehandelt hatte . Vermutet wurde, dass der Vorstand sich bei der Transaktion der psychatrium GRUPPE finanziell übernommen hätte und nun dafür abgestraft werde . Die Verantwortung müsste der für die Übernahme federführende zweite Vorstand übernehmen, während der Vorstandsvorsitzende als vernetzte und zentrale Integrationsfigur der AMEOS Gruppe unangetastet blieb . Mangels einer einheitlichen und stimmigen Kommunikationspolitik hatte AMEOS bisher einen schlechten Ruf in der Branche und war massiver Kritik hauptsächlich von Seiten der Mitarbeitervertretungen in den eigenen Häusern sowie der Wettbewerber ausgesetzt . Aus mehrfachen Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden war zu entnehmen, dass es eines seiner vorrangigen Ziele war, die permanent um AMEOS rankenden Gerüchte und offenen, als geschäftsschädigend empfundenen Angriffe durch eine positive Imagebildung abzustellen . Als in der Praxis äußerst erfolgreich umgesetztes Referenz-Beispiel galt hierfür die Konzeption der psychatrium GRUPPE . Das damit anstehende Thema der Markenintegration (Subbranding) wurde zwar von der Kommunikationsleitung der psychatrium GRUPPE 2005 als Vorschlag präsentiert . Die AMEOS-Führung hat aber innovative und ausgleichende Lösungen nicht ernsthaft verfolgt, sondern schließlich ihren Markenkern ausnahmslos auf die übernommenen Häuser übergestülpt – für Heiligenhafen 2008 . Der Versuch einer Integration der beiden Unternehmenskulturen mit dem Wechsel der Kommunikationsleitung der psychatrium GRUPPE in die AMEOS-Zentrale und in die Funktion des Direktors Konzernkommunikation war nicht erfolgreich . Die Steuerung des Unternehmens entsprechend den wirtschaftlichen Vorgaben fordert ein Höchstmaß an Flexibilität der Mitarbeiter:innen, was die Abläufe der Leistungserstellung anbelangt . Zugleich gewannen hierarchische Legitimations- und Entscheidungsmuster wieder Dominanz, während für erklärende, beteiligende und identifikationsbildende Kommunikation keine normative Rechtfertigung mehr vorhanden war . Rolle und Verhältnis von Personal und Patient:innen

In der asymmetrischen Gesellschaft sind die Beziehungen zwischen individuellen und korporativen Akteuren (stets) problem- bzw . konfliktbehaftet und prekär .71 Korporative Akteure mit ihren Experten verfügen über mehr Ressourcen und mehr potentielle Interaktionspartner als individuelle Akteure (Management gegenüber den Mitarbei-

71

Coleman (1982) .

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ter:innen) . Dies gibt den korporativen Akteuren grundsätzlich die Möglichkeit, die Konditionen der Austauschbeziehung (Mitarbeiter:innen gegenüber den Patient:innen) einseitig zu ihren Gunsten auszugestalten . Dabei handelt das Personal in Organisationen häufig gegenüber Patient:innen weniger rational, sondern emotional . Zur Situation der Mitarbeiter:innen ist zu bemerken, dass sie als Mitglieder eines monokratisch-hierarchischen Organisationstyps von dem erwirtschafteten Korporationsertrag nur ein fixes Kontrakteinkommen erhalten, so dass sie ökonomisch vernünftig und diesbezüglich rational mit einer Tendenz zur Leistungszurückhaltung reagieren . Generell ist bei privaten Krankenhausketten eine höhere Lohnspreizung vorhanden . Nun sind Arbeitsbedingungen, auch monetäre, ausschlaggebend dafür, dass neben persönlichen empathischen Einstellungen auch Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen die Beziehungen zu Patient:innen und Bewohner:innen prägen . Auf der Dimension Versorgungsqualität sind die Werte bei den Privaten durch höhere Investitionen in Infrastruktur und den Fortschritt der Medizin grundsätzlich besser, allerdings wird dieser Zugewinn auch durch eine höhere Patientenunzufriedenheit gerade im Segment Psychiatrie wiederum relativiert .72 Fazit und Ausblick

Wie ist aber die heutige Situation für Patient:innen und Bewohner:innen in der Psychiatrie? Die in diesem Beitrag aufgezeigten Phasen der Unternehmensentwicklung einer Fachklinik hatten zweifellos einen großen qualitativen und menschlichen Einfluss auf die Lebenssituation der Nutzer:innen in den jeweiligen Einrichtungen . Auf den Aufbruch der Psychiatrie-Enquete Mitte der 1970er Jahre folgten Dezentralisierungsbestrebungen, die Gemeindenähe für psychisch erkrankte Menschen schufen, und die Auflösung der psychiatrischen Langzeitbereiche in den 1990er Jahren, die ein menschenwürdigeres Leben in zeitgemäß ausgestatteten Wohnräumen von Fachpflegeund Eingliederungshilfeeinrichtungen ermöglichten . Dabei sind einige Häuser wie die Fachklinik Heiligenhafen mit großem Engagement bei der Umsetzung vorangegangen . Andere haben – nicht zuletzt wegen ihrer vorrangigen Gewinnerzielungsabsicht, mangelnden Know-hows oder allgemein fehlender Bereitschaft – ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht genutzt, um das Leben für psychisch erkrankte Menschen spürbar zu verbessern .73 Seit rund 15 Jahren ist erneut eine weitreichende Stagnation zu beobachten . Der ambulante Ansatz des Hometreatments als stationsäquivalente Behandlung (StäB) sollte laut des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)

72 73

Schulten/Böhlke (2009) . Dirksen (2019), S . 99 .

Unternehmen Psychiatrie

das dominierende Versorgungsmodell für die Psychiatrie in Deutschland werden . Dieses wird faktisch nur sehr halbherzig von den psychiatrischen Einrichtungen umgesetzt . Von einer Reform der bestehenden und unzureichenden Versorgungsstrukturen ist die deutsche Psychiatrie in ihrer Gesamtheit weit entfernt . Allerdings gilt heute der notwendig zu ergründende Patienten- und Bewohnerwillen als oberstes Prinzip und Maßstab für beispielsweise freiheitsentziehende Maßnahmen (Zwangsbehandlungen), was 2021 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde und damit die Vorstellung von Psychiatrie als einer „totalen Organisation“ nach Erving Goffman74 immer weiter zurückdrängt . Fraglich indessen ist bei Selbstbestimmung und dem „Recht auf Krankheit“, warum es heute immer noch so viele Fixierungen gibt75, obwohl diese auch tendenziell in den letzten Jahren zurückgegangen sind76 . Dies mag womöglich mit der heute virulenten Überlastung des Personals zusammenhängen . Auf Patient:innen in seelischen Ausnahmesituationen einzugehen, bindet Personal, wenngleich ordnungsgemäß durchgeführte Fixierungen (mit 1:1-Betreuung) auch aufwandsintensiv wären . Aus Mangel an Fachkräften haben Kliniken zum Teil wieder undifferenzierte Aufnahmestationen eingeführt und damit „die Uhr zurückgedreht“ . Psychiatrieerfahrene Genesungsbegleiter könnten aber zukünftig die betreuende Tätigkeit der Pflegenden entlastend ergänzen sowie für Transparenz sorgen und die emotionale Lücke zwischen Agenten und Prinzipal schließen . Was braucht es, damit das Unternehmen Psychiatrie für Betroffene mit psychischen Beeinträchtigungen wirksam wird? Korporative Akteure sollten ihre ganzen multiprofessionellen Kompetenzen entfalten dürfen und mit anderen Anbietern des gemeindepsychiatrischen Verbunds partnerschaftlich zusammenarbeiten . Nicht nur die Bereitstellung der ökonomischen Grundlagen sowie die Behandlung und Therapie sind für Patient:innen essentiell, sondern auch das Engagement des Unternehmens Psychiatrie für die gesellschaftliche Entstigmatisierung der Betroffenen . Dies müssten einerseits nachhaltige Kommunikationsmaßnahmen sein, andererseits sollten Allianzen zwischen Mitarbeitenden und Patient:innen geschmiedet werden . Anstelle des trennenden Denkens in Sieger und Verlierer, der empfundenen Überlegenheit des Gesundseins über das Kranksein benötigen wir eine Art geschwisterliche Solidarität . Das ist der historische Auftrag .

Goffman (1973) . Wurnig/Jurschkat (2021) . Eine Studie der Fachklinik Herten im Landschaftsverband Westfalen-Lippe belegt, dass im Zeitraum 2005 bis 2008 die Quote der durchgeführten Fixierungen bei Patient:innen signifikant zurückgegangen ist und zwischen 0,7 und 2,6 Prozent betrug . In Berlin liegt die Quote über alle psychiatrischen Kliniken hinweg zwischen 1,0 und 7,0 Prozent . Auf Anfrage der Grünen im Jahr 2017 teilte die Bundesregierung mit, dass verschiedene Institutionen Instrumente entwickeln, um Zwang und Gewalt in der Psychiatrie zu vermeiden . In der Corona-Pandemie haben die Fixierungen in Berliner Psychiatrien jedoch zugenommen . 74 75 76

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Bibliographie Archivalien

Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH) Abt . 355 .39, Nr . 30 (Amtsgericht Oldenburg in Holstein, Vereinsregister 593, Gründung des Fördervereins für die in der Fachklinik betreuten Langzeitkranken e . V . 1991) Abt . 661, Nr . 4667 (Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 6 . April 1995: Dauer eines Bauvorhabens, Az: VI 430 a – B 1111-2-63) Abt . 661, Nr . 4669 (Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 17 . April 1991 zum Umbau der neuen Aufnahmestation in den Häusern 18 bis 22, Az: VI 430 a – B 1111-1-60; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Genehmigung zur Einrichtung einer Werkstatt für Behinderte auf dem Gelände der Fachklinik Heiligenhafen 1991, Az: 404 .214 .12–3) Abt . 661, Nr . 4689 (Schreiben der Oberfinanzdirektion Kiel vom 25 . April 1995: Rücknahme einer Baugenehmigung wegen des Rechtsformwechsels zur rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts) Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK): Erhebung der Pflegequalität in den Fachpflegeeinrichtungen der Fachklinik (Az: 404 .21724–002) Heimaufsicht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Erfüllung der Heimmindestbauverordnung für Fachpflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungen (Az: 404 .21724–004)

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RALF-GERO C. DIRKSEN

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Ralf-Gero C. Dirksen, Dr., MBA, LL. M., M. A., DAPR

Dr . Dirksen Büro für Hochschulschriften, Gesundheitswirtschaft und -politik Mozartstr . 1 24837 Schleswig ralf .dirksen .67@gmail .com

II.

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784 und seine Tätigkeit als Amtsarzt in Gommern ROBERT JÜTTE / CHRISTOPH LANG Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 101–138

Samuel Hahnemann’s (1755–1843) obstetric dissertation of 1784 and his work as medical officer in Gommern Abstract: When Samuel Hahnemann, the founder of homeopathy, applied for the position of medi-

cal officer in Gommern in 1783  – a position he hoped would give him additional financial security – the medical faculty of Wittenberg University protested that he was not sufficiently legitimized for this task because he had gained his doctorate “abroad”, that is, in the Margraviate of Brandenburg-Bayreuth . As a result he had to submit a further dissertation, which dealt with two obstetric topics . The text has so far only been available in handwritten form in Latin . Now, for the first time, it has been transcribed and annotated, and printed with a German translation by Christoph J . Lang .

Der Anlass

Nachdem Samuel Hahnemann 1779 in Erlangen mit einer Arbeit über spasmodische Affektionen (Krämpfe im weitesten Sinn) promoviert worden war1, eröffnete er 1780 in Hettstedt bei Halle seine erste ärztliche Praxis . Von dort zog er 1782 nach Dessau, wo er heiratete . Kurze Zeit später, 1783, bemühte er sich in Gommern, einem kleinen sächsischen Ort nahe Magdeburg, um die Position eines Amtsarztes, die ihm zusätzliche finanzielle Sicherheit verschaffen sollte .2

1 2

Lang (2004) . Hartwig (1983); Jütte (2007), S . 38–41 .

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ROBERT JÜTTE / CHRISTOPH LANG

Als er die Stelle bereits angetreten hatte – vermutlich am 5 . August 1783 –, monierte auf Betreiben der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg der Kurfürst von Sachsen, Friedrich August, in einem Schreiben vom 1 . September 1783 (Quelle Nr . 1), dass Hahnemann sich keinem „tentamen“ (mündliche ärztliche Vorprüfung) unterzogen habe und außerdem akademisch für diesen Posten nicht hinreichend legitimiert sei, da seine Promotion „außer Landes“, d . h . in der Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth, erfolgt war . Allerdings wurde ihm zugutegehalten, dass er seine universitären Studien seinerzeit in Leipzig begonnen hatte, wo seine Erlanger Dissertation bereits „nostrifiziert“ (anerkannt) worden war . Hahnemann antwortete darauf am 18 . November 1783 mit einem – wie in der damaligen Zeit üblich – ehrerbietigen Schreiben (Quelle Nr . 2), in dem er auf seine schwierigen persönlichen Verhältnisse verwies und darum bat, ihm die mündliche Prüfung zu erlassen, da diese mit erheblichen Kosten und einer Reise in das rund 60 km entfernte Wittenberg verbunden gewesen wäre . Stattdessen bot er an, eine schriftliche These über ein von der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg zu bestimmendes Thema auszuarbeiten . Daraufhin antwortete der Dekan Christian Friedrich Nürnberger (1744–1795) dem Rektor, er akzeptiere Hahnemanns Vorschlag, werde ihm auch die Reise nach Wittenberg ersparen und einen Teil der üblichen Gebühr erlassen; dafür müsse er aber eine schriftliche Ausarbeitung zu einigen Thesen vorlegen, die offenkundig mit Wissen und Zustimmung von Johann Gottfried Leonhardi (1746–1823), einem Professor der Chirurgie und Pathologie, ausgewählt wurden (Quelle Nr . 3) . Sein Kollege, der Ordinarius für Botanik und Anatomie sowie damalige Rektor der Universität (im Wintersemester 1783), Georg Rudolf Böhmer (1723–1803), plädierte in einer Aktennotiz (Quelle Nr . 4) ebenfalls dafür, Hahnemann einem an der Universität Leipzig Promovierten gleichzustellen, und zeigte sich auch mit dessen Vorschlag einverstanden . Nachdem eine Kopie der Anerkennung seiner Erlanger Dissertation durch die medizinische Fakultät der Universität Leipzig vom 18 . April 1780 von einem Wittenberger Notar bestätigt worden war (Quelle Nr . 5), wurden Hahnemann zwei geburtshilfliche Themen zur Ausarbeitung aufgegeben – einerseits weil Geburten ein häufiges Problem waren, mit dem sich ein Amtsphysikus konfrontiert sah, andererseits weil Nürnberger selbst sich mit geburtshilflichen Themen bestens auskannte und darüber publiziert hatte . Diese beiden geforderten Texte lagen bisher lediglich in handschriftlicher Form auf Latein (Quelle Nr . 6a) vor und werden hier erstmalig transkribiert sowie zusammen mit einer deutschen Übersetzung (Quelle Nr . 6b), beides von Christoph Lang erstellt, abgedruckt . Die Originaldokumente befinden sich – wie auch die übrigen hier aufgeführten Quellen – im Universitätsarchiv Halle, Register Wittenberg, Rep . 1 Nr . 4911 . Hahnemann reichte beide Schriften bereits am 15 . Januar 1784 ein, hatte also weniger als zwei Monate Zeit für die Niederschrift gehabt . Im Begleitschreiben (Quelle Nr . 7), mit dem er seine ausgearbeiteten Thesen zusammen mit der ihm auferlegten

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784

Gebühr von zehn Talern überreichte, beklagte er sich bitter über den bedauernswerten Zustand der örtlichen Apotheke, wohl in der Hoffnung, eigene Zubereitungen anbieten zu können . Bereits am Tag darauf, am 16 . Januar 1784, erhielt Hahnemann den Admissionsschein (Quelle Nr . 8), der es ihm gestattete, weiterhin als Amtsphysikus zu fungieren . Der gesamte Ablauf dieses verwaltungstechnisch-akademischen Vorgangs legt nahe, dass es sich im Grunde um eine – allerdings unerlässliche – Formalie handelte, der Hahnemann rasch und erfolgreich genügte . Hahnemanns Hoffnung, das durchaus ansehnliche Grundgehalt, welches ihm zustand, durch die private Praxis aufzubessern, erwies sich bereits nach kurzer Zeit als Illusion . Sein Urteil über Gommern fällt denn auch vernichtend aus: „Es hatte an diesem Orte noch nie ein Arzt existirt, man hatte keinen Sinn für ihn .“3 Der Begründer der Homöopathie war eben noch kein moderner Dr . Knock, der es, wie der französische Schriftsteller Jules Romains in seiner gleichnamigen Komödie aus dem Jahre 1923 beschreibt, auf großartige und unnachahmliche Weise verstand, eine zunächst widerspenstige Landbevölkerung schließlich vom Segen der Medizin zu überzeugen . Trotz der schlechten Erfahrung in Gommern versuchte Hahnemann auch später noch mehrmals, eine der begehrten Physikus-Stellen zu bekommen; denn ein solches Amt brachte einem aufstrebenden Arzt neben Arbeit nicht nur Ehre und Einfluss ein, sondern garantierte auch ein Grundeinkommen, das durch eine florierende Privatpraxis erheblich aufgebessert werden konnte . Bekanntlich fallen die Entdeckung des Simile-Prinzips (1790) und der weitere Ausbau der homöopathischen Lehre (1796, 1805, 1810) in eine spätere Zeit . Wenngleich Hahnemann in seinen Veröffentlichungen seit den 1790er Jahren den Fokus auf die von ihm entwickelte Arzneimitteltherapie auf der Grundlage des Ähnlichkeitsprinzips und der Medikamentenprüfung an Gesunden legte, so publizierte er doch weiterhin medizinische Schriften, vor allem gesundheitspädagogischen, aber auch pharmazeutischen Inhalts . Seine letzte, eher medizinhistorisch orientierte akademische Qualifikationsarbeit, die Habilitationsschrift an der Universität Leipzig im Jahr 1812, behandelte ein pharmakologisch-toxikologisches Thema .4 Zum Inhalt der beiden Schriften

Die erste seiner beiden Probeschriften erinnert nach Titel und Inhalt an eine medizinische Inauguraldissertation von Christian Ludwig Schael (Lebensdaten unbekannt)

3 4

Hahnemann: Gesammelte kleine Schriften (2001), S . 118 . Lang (2016) .

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aus Hanau, die 1755 in Göttingen verteidigt wurde .5 Darin geht es um die Frage, ob eine Nabelschnurabbindung nach der Geburt zwingend notwendig sei . Der Göttinger Promovend schließt sich der Meinung einer damaligen medizinischen Autorität an, dem an seiner Universität tätigen Professor für Geburtshilfe Johann Georg Röderer (1726– 1763) . Dieser hatte behauptet, dass aus der abgeschnittenen Nabelschnur, deren einer Teil noch aus der Gebärmutter herausragt, kein Blut fließen könne, daher auch eine Unterlassung des Abbindens durch die Gebärende nicht den Tod des Säuglings zur Folge haben könnte . Um seine These zu belegen, bringt er Beispiele aus dem Tierreich . Dennoch will er die Möglichkeit des Verblutens nicht völlig ausschließen, vor allem wenn die Nabelschnur zu nahe an der Bauchdecke abgeschnitten wurde . Ähnlich hatte sich bereits zwei Jahrzehnte zuvor ein angehender Arzt, Johann Karl Dehmel (Lebensdaten unbekannt), in seiner medizinischen Dissertation an der Universität Halle geäußert und ebenfalls bei seiner Argumentation auf Tierversuche verwiesen, war aber hinsichtlich Blutzirkulation in der Nabelschnur noch zu einer anderen Einschätzung gekommen .6 Als erste spezielle Abhandlung zu diesem Thema hat die Schrift damals weite Beachtung gefunden .7 Ob Hahnemann diese oder die spätere Dissertation zum selben Thema wahrgenommen hat, lässt sich nicht nachweisen, aber er dürfte vermutlich Röderers weitverbreitetes Kompendium zu Geburtshilfe8 gekannt haben . Denn es war der gute Ruf der Göttinger Gebärklinik9 (damals bereits unter der Leitung Friedrich Benjamin Osianders, 1759–1822), der ihn zehn Jahre später, 1794, kurzeitig in diese Universitätsstadt führte10 . Dass Hahnemanns anatomische Kenntnisse der Geburtsteile der Frau auf dem damaligen Stand der Wissenschaft waren, wie aus seiner detaillierten Beschreibung der Nabelschnur hervorgeht, zeigt ein Blick in die zeitgenössische Fachliteratur .11 Ob der Begründer der Homöopathie mit dem rechtsmedizinischen Standardwerk aus der Feder des Königsberger Anatomieprofessors Christoph Gottlieb Büttner (1708–1776) vertraut gewesen ist, bleibt Spekulation . Dort findet sich die damals vorherrschende und von Hahnemann ebenfalls vertretene Lehrmeinung, dass das Nichtabbinden der Nabelschnur nicht auf ein Tötungsdelikt hindeutet .12 In der älteren rechtsmedizinischen Literatur war man dazu noch anderer Ansicht gewesen . Der berühmte Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller (1708–1777) stellte um die Mitte des 18 . Jahrhun-

Schael (1755/1763) . Vgl . dazu auch die Zusammenfassung in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (1755), S . 1229–1232 . 6 Dehmel (1733), S . 13 . 7 Mende (1819), S . 207–214 . 8 Röderer (1759) . Besonders zur Nabelschnur vgl . die deutsche Übersetzung: Röderer (1793), S .  49 ff ., 192 ff . 9 Vgl . u . a . Schlumbohm (2012), S . 14 . 10 Jütte (2007), S . 60–62 . 11 Rouhau[l]t (1753), S . 316 ff . 12 Büttner (1771), S . 85–91 . 5

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784

derts fest: „Die Alten lehrten bis in die zwanziger Jahre unsers Jahrhunderts, daß ein Kind an der Unterlassung des Bindens einer abgelösten Nabelschnur sterben müsse .“13 Hundert Jahre zuvor war das noch ein fester Lehrsatz gewesen, wie die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger nachgewiesen hat .14 Dass das Nichtabbinden der Nabelschnur bei Verdacht auf Kindsmord noch bis ins 19 . Jahrhundert hinein ein Kriterium war, das vor Gericht zur Sprache kam, belegen die erhaltenen Kriminalakten dieser Zeit . Der berühmteste Fall ist der Prozess gegen die Frankfurter Kindsmörderin Susanna Magaretha Brandt im Jahr 1771, der Goethe das Motiv für das traurige Schicksal Gretchens in seinem Drama „Faust“ lieferte . Als die des Kindsmords verdächtige Frankfurter Magd im Verhör gefragt wurde, „[w]er die Nabel-Schnur abgelöset und die Nachgebuhrt gehohlet habe?“, antwortete sie: „Es seye sehr dunckel gewesen . Sie habe alles dieses nicht gesehen . Es seye alles gleich abgefallen, sie habe nicht gewußt, was es seye und dahero auch ligen laßen .“15 In einem weiteren Verhör wurde sie gefragt, wer die Nabelschnur abgeschnitten habe, worauf sie angab, dass diese „abgefallen“ sei .16 Wie wichtig das Gericht dieses Indiz nahm, wird daran deutlich, dass in einem erneuten Verhör die Beschuldigte noch einmal genauestens nach diesem Detail befragt wurde . Darauf gab sie abermals zu Protokoll, dass die Nabelschnur von selbst abgerissen sei . Da man ihr das nicht glaubte, kam die Nachfrage: „Ob nicht dieses mit ihrer Scheer geschehen seye?“ Das stritt die Magd ab und sagte aus, dass sie keine Schere („noch sonstiges Instrument“) bei sich gehabt habe .17 Auch wenn in diesem Prozess schließlich andere Indizien den Ausschlag für das Todesurteil gaben, so zeigt sich doch, welche Bedeutung damals in der Gerichtsmedizin dem Abtrennen samt Abbinden der Nabelschnur beigemessen wurde . Häufig versuchten Frauen in ihrer Verzweiflung, sich mit Unkenntnis herauszureden .18 Das belegt beispielsweise ein Fall aus Einbeck, der 1742/43 vor Gericht verhandelt wurde . Die Beklagte Maria Gertrud Willy gab an, die Nabelschnur nicht abgebunden zu haben, „weil sie nicht gewust, daß solche wieder zugebunden werden müste“ .19 Während in diesem Fall das Gericht ein solches Argument nicht strafmildernd gelten ließ, akzeptierte ein Hildesheimer Gericht einige Jahre später das Argument der Unwissenheit, aber vermutlich nur deshalb, weil die Beklagte auch geistig zurückgeblieben war, wie ein Pfarrer bestätigt hatte .20 Auch in Österreich wurde in Kindsmordprozessen nach diesem Indiz gefragt, zumal die Erläuterungen zur Theresiana, dem habsburgischen Strafgesetz, aus dem Jahr 13 14 15 16 17 18 19 20

Haller (1784), S . 6 . Fischer-Homberger (1983), S . 284–286 . Abgedruckt in Habermas (1999), S . 61 . Abgedruckt in Habermas (1999), S . 67 . Abgedruckt in Habermas (1999), S . 121 . Ulbricht (1990), S . 238 . Zit . n . Meumann (1995), S . 133 . Meumann (1995), S . 133 .

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1769 eine solche Frage ausdrücklich forderten .21 Ein medizinisches Gutachten des österreichischen Landschaftsphysikus Johann von Moerisch aus dem Jahre 1782 beweist, dass um die Zeit, als Hahnemann seine kurze Abhandlung verfasste, die herkömmliche medizinische Lehrmeinung bereits angezweifelt wurde und einer differenzierteren Beurteilung Platz machte . Der Experte kommt nach einer Autopsie zu dem Schluss: daß zwar die vernachläßigte Unterbindung der Nabelschnur, welche zur Lebenserhaltung eines ungebohrenen Kindes unumgänglich nothwendig, zu den Tode dieses Kindes zwar zum Theil beygetragen habe, welche aber die gebührende, vielleicht theils aus Unwisßenheit, oder sonst hierinn mangelnder Kenntnis […] unterlassen .22

Während die Lehre von der Herbeiführung des Kindstods durch eine nicht abgebundene Nabelschnur bereits im letzten Drittel des 18 . Jahrhunderts durch zahlreiche medizinische Abhandlungen als widerlegt galt, drang doch dieses Wissen nicht überall durch . Im Erzstift Salzburg beispielsweise argumentierte man vor Gericht spätestens seit Anfang des 19 . Jahrhunderts mit den neuen Erkenntnissen . In anderen Territorien fällte man Urteile auf der Basis damals schon längst als überholt geltender ärztlicher Lehrmeinungen, so z . B . in Innerösterreich .23 Ähnlich war die Situation auch in den deutschen Kleinstaaten . In Württemberg kam der Oberamtsphysikus Emanuel Gottlieb Elwert (1759–1811) 1795 in seinem forensischen Gutachten zu dem Schluss, „dass Verblutung aus der ununterbundenen Nabelschnur den Tod des Kindes veranlaßt, oder wenigstens beschleunigt haben müsse“ .24 Mehr als zehn Jahre später schloss der Darmstädter Landphysikus Dr . Johann Wilhelm Christian Baumer (1752–1828) in einem Kindsmordfall aus Nidda in seinem Autopsiebericht eine solche Ursache ausdrücklich aus .25 Heute ist die doppelte Abklemmung der Nabelschnur mit anschließender Durchtrennung zwischen den Klemmen Standard; ohne Abklemmung oder Ligatur kann es zu starken, potentiell bedrohlichen Blutungen kommen . Die zweite wissenschaftliche Abhandlung Hahnemanns scheint auf den ersten Blick weniger brisant zu sein und keinen Bezug zur Gerichtsmedizin zu haben, handelt sie doch vom Verabreichen von Brechmitteln an Schwangere . Doch der erste Eindruck täuscht . In der rechtsmedizinischen Literatur des 18 . Jahrhunderts wird immer wieder darauf verwiesen, dass auch Laien bekannt war, wie gefährlich Brechmittel für Schwangere bzw . deren Leibesfrucht sein konnten .26 So heißt es beispielsweise in Christian Gottlieb Ludwigs „Anleitung zur rechtlichen Arzneikunde“ von 1779:

21 22 23 24 25 26

Ammerer (2003), S . 248 . Zit . n . Ammerer (2003), S . 259 . Hammer (1997), S . 198 . Abgedruckt in Dürwald (1990), S . 20–48, Zitat S . 26 . Abgedruckt in Dürwald (1990), S . 1–19, hier S . 7 . Müller (1796) .

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Da aber die Weibspersonen oft noch, ehe ein Verdacht wegen der Schwangerschaft entstehen kann, nehmlich vor den vierten und fünften Monath, entweder durch eine starke Aderlaß oder durch heftige Purganzen und Brechmittel oder durch Medicamente die das Geblüt in starke Bewegung setzen, das Abtreiben der Kinder zubewerkstelligen suchen; so müssen sich nicht nur die Barbierer vor starken Aderlassen bey Weibespersonen hüten, sondern auch die Apotheker dürfen ihnen weder heftige abführende noch Brech- noch die monathliche Reinigung befördernde Mittel verkaufen, wenn nicht ein gelehrter und in den wahren Grundsätzen der Kunst wohl unterrichteter Arzt eines oder das andere verordnet .27

Wie aus Hebammenordnungen des 18 . Jahrhunderts hervorgeht, wurde auch diese für die damalige Geburtshilfe zentrale Personengruppe von Seiten der Obrigkeit strengstens ermahnt, schwangeren Frauen keine Brechmittel zu verabreichen .28 Dass einige dieser Brechmittel (z . B . solche, die ein Beifußgewächs enthalten) in der Tat fruchtabtreibend wirken konnten, belegen die Fälle, die Louis Lewin in seinem Klassiker über Abtreibungsmittel aus der gerichtsmedizinischen Literatur des 19 . Jahrhunderts zitiert .29 Auch in den Gerichtsakten haben sich solche für Mutter und Fötus lebensgefährliche Versuche von verzweifelten Frauen erhalten . In einem 1776 gedruckten Urteil wegen Kindsmords in Gödersklingen bei Ansbach wird erwähnt, dass die Angeklagte Barbara Gackstätterin etwas Mäusegift mit der Absicht eingenommen hatte, entweder sich selbst oder wenigstens ihre Leibesfrucht zu töten, worauf sie alsbald nach der Einnahme ein starkes Erbrechen bekam und wenig später gleichwohl ein noch lebendiges Kind zur Welt brachte . Dieses starb aber nicht am Gift, auch nicht an der nicht abgebundenen Nabelschnur, wie im Urteil vermerkt wird, sondern an der stumpfen Gewalt gegen den Kopf des Neugeborenen .30 So viel zur gerichtsmedizinischen Bedeutung der Frage, die man Hahnemann zur Beantwortung aufgegeben hatte . Aus pharmazeutisch-medizinischer Sicht wird von ihm auf knappem Raum zudem ein weiterer Aspekt aufgegriffen, der in ähnlicher Form bereits unter anderem in der „Pharmacopoea Helvetica“ 1771 behandelt worden war .31 In einem Text der Beilage zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen von 1773 wird beispielsweise ein französischer Wundarzt mit Namen Emmanuel zitiert, der die Anwendung von Brechmitteln in der Schwangerschaft als unproblematisch ansah .32 Anders lautet dagegen die Meinung eines deutschen Standardwerks, das zwei Jahre vor Hahnemanns Abhandlung erschien . Darin heißt es: „Ferner soll man jenen

27 28 29 30 31 32

Ludwig (1779), S . 11 . Stukenbrock (1993), S . 23; Unterricht (1782), S . 15 . Lewin (1922), S . 286, 373 . Urgicht (1776), unpag . Pharmacopoea Helvetica (1771), S . 12 . Zugabe (1773), S . CCXLII .

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Weibspersonen keines geben, welche schwanger sind .“33 Etwas weniger kategorisch drückt es 1776 Hahnemanns Wiener Lehrer Anton von Störck (1731–1803) aus: „Stark abführende und Brechmittel soll man bey Schwangern vermeiden .“34 Hahnemanns eher abwägendes Urteil spiegelt sich teilweise auch in der zeitgenössischen medizinischen Literatur wider . In einem Standardwerk des Hofarztes Samuel Gottlieb Vogel (1750–1837), das 1789 bereits in dritter Auflage vorlag, werden Brechmittel bei bestimmten Krankheiten auch im Falle einer Schwangerschaft nicht grundsätzlich ausgeschlossen, so z . B . bei „Wechselfieberanfällen“ .35 Und in einem weiteren zeitgenössischen Handbuch heißt es zum selben Thema: So viel ist gewiß, daß wenn man sonst nicht zu heftig reizende und zu stark schwächende Arzneyen anwendet, hievon selten nachtheilige Wirkungen auf das Kind entstehen . Selbst Brechmittel können sicher unter den gehörigen Anzeigen und mit erforderlicher Behutsamkeit gegeben werden . […] Es ist hier der Fall wo der Arzt Beweise seiner praktischen Beurtheilungskraft geben kann, die sich wohl verbessern und erweitern, aber nicht erlernen läßt .36

Wie man diesen Literaturstellen entnehmen kann, war Hahnemann in seiner Beurteilung der Gabe von Brechmitteln nicht besonders originell, was allerdings in einer damaligen akademischen Qualifikationsschrift auch nicht unbedingt gefordert wurde . Aufmerksamkeit verdient aber der Hinweis, dass er offenkundig bereits um die Mitte der 1780er Jahre mit Verdünnungen von Arzneien (in diesem Fall Brechmitteln wie Brechweinstein) experimentierte, aber sie noch nicht nach dem Ähnlichkeitsprinzip anwandte . Wie bedeutsam das künstlich herbeigeführte Erbrechen in der damaligen therapeutischen Praxis war, belegt eine Äußerung Christoph Wilhelm Hufelands (1762–1836) . Dieser berühmte Zeitgenosse Hahnemanns zählte Brechmittel (zusammen mit Aderlass und Opium) zu den „drei Heroen der Heilkunst“37, ohne die er nicht Arzt sein wollte . Auch in der ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts gehörte das Verabreichen von Brechmitteln noch zur medizinischen Standardtherapie .38 Daran konnte auch Hahnemann in seinem Feldzug gegen die Allopathie nichts ändern, nachdem er im Zusammenhang mit der Entdeckung des Ähnlichkeitsprinzips 1790 eine therapeutische Kehrtwende vollzogen und sein homöopathisches System entwickelt hatte, das auf solch starke Mittel bewusst verzichtete . In der Einleitung zur fünften und auch zur sechsten Auflage seines Hauptwerks „Organon“ findet er deutliche Worte gegen ein

33 34 35 36 37 38

Medicinisches Hand-Lexikon (1782), S . 167 . Störck (1776), S . 155 . Vogel (1789), S . 91 f . Selle (1791), S . 414 . Hufeland (1831), S . 7 . Arnold (1840), S . 300 .

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Verfahren, das er früher akzeptiert hatte, wie seine hier erstmals abgedruckte Prüfschrift zeigt: Es war hohe Zeit, daß der weise und gütige Schöpfer und Erhalter der Menschen diesen Gräueln Einhalt that, Stillstand diesen Torturen gebot und eine Heilkunst an den Tag brachte, die das Gegentheil von allem diesem, ohne die Lebenssäfte und Kräfte durch Brechmittel, jahrelanges Darmausfegen, warme Bäder und Schwitzmittel oder Speichelfluß zu vergeuden, oder das Lebensblut zu vergießen, ohne auch durch Schmerzmittel zu peinigen und zu schwächen, ohne den Kranken mittels langwierigen Aufdringens falscher, ihrer Wirkung nach ihnen unbekannter Arzneien angreifender Art, statt die an Krankheiten Leidenden zu heilen, ihnen neue, chronische Arzneikrankheiten bis zur Unheilbarkeit aufzuhängen, ohne selbst durch heftige Palliative, nach dem alten beliebten Wahlspruche: Contraria contrariis curentur, die Pferde hinter den Wagen zu spannen, kurz ohne die Kranken, wie der unbarmherzige Schlendrian thut, statt zur Hülfe, den Weg zum Tode zu führen, – im Gegentheile, die der kranken Kräfte möglichst schont, und sie auf eine gelinde Weise, mittels weniger, wohl erwogener und nach ihren ausgeprüften Wirkungen gewählter einfacher Arzneien in den feinsten Gaben, nach dem einzig naturgemäßen Heilgesetze: similia similibus curentur, unbeschwert, bald und dauerhaft zur Heilung und Gesundheit bringt; es war hohe Zeit, daß er die Homöopathie finden ließ .39

Hahnemanns Qualifikationsarbeit zur Frage der Verabreichung von Brechmitteln an Schwangere weist insofern bereits Bezüge zu seinen späteren Anschauungen zur „heroischen“ Medizin seiner Zeit auf . Bibliographie

Ammerer, Gerd: Anatomische Sektionen und Gerichtsmedizin . Zur Rolle der Ärzte in den Strafverfahren und den Diskursen um den Kindsmord im 18 . Jahrhundert . In: Helm, Jürgen; Stukenbrock, Karin (Hg .): Anatomie . Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 19 . Jahrhundert . Stuttgart 2003, S . 241–268 . Arnold, Johann Wilhelm: Das Erbrechen, die Wirkung und Anwendung der Brechmittel . Eine physiologische, pathologische und therapeutische Monographie . Stuttgart 1840 . Büttner, Christoph Gottlieb: Vollständige Anweisung wie durch anzustellende Besichtigungen ein verübter Kindermord auszumitteln sey: nebst Acht und Achtzig beygefügten eigenen Obductions-Zeugnissen, zum Nutzen derer neuangehenden Aerzte und Wundärzte . Königsberg; Leipzig: Zeis; Hartung 1771 . Dehmel, Johann Karl [Praes .: Johann Heinrich Schulze]: Dissertatio Inauguralis Medica Qua problema, an umbilici deligatio in nuper natis absolute necessaria sit, in partem negativam resolvitur . Halle: Johann Christ . Hilliger 1733 .

39

Hahnemann: Organon-Synopse (2001), S . 141 .

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Dürwald, Wolfgang (Hg .): Gerichtliche Medizin im 19 . Jahrhundert . Bd . 3: Kindstötung . Leipzig 1990 . Fischer-Homberger, Esther: Medizin vor Gericht . Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung . Bern 1983 . Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 134 . Stück (8 . November 1755), S . 1229–1232 . Habermas, Rebekka (in Verbindung mit Tanja Hommen) (Hg .): Das Frankfurter Gretchen . Der Prozess gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt . München 1999 . Hahnemann, Samuel: Gesammelte kleine Schriften . Hg . von Josef M . Schmidt und Daniel Kaiser . Heidelberg 2001 . Hahnemann, Samuel: Organon-Synopse: die 6 Auflagen von 1810–1842 im Überblick . Bearbeitet und hg . von Bernhard Luft und Matthias Wischner . Heidelberg 2001 . Haller, Albrecht von: Vorlesungen über die gerichtliche Arzneiwissenschaft . Aus einer nachgelassenen lateinischen Handschrift übersezt . Bd . 2, 2 . Teil . Bern: Neue typographische Gesellschaft 1784 . Hammer, Elke: Kindsmord . Seine Geschichte in Innerösterreich 1787 bis 1849 . Frankfurt/Main 1997 . Hartwig, Gustav: Friedrich Christian Samuel Hahnemann . Der Begründer der Homöopathie als Arzt in Gommern . In: Magdeburger Blätter . Jahresschrift für Heimat- und Kulturgeschichte im Bezirk Magdeburg (1983), S . 50–54 . Hufeland, Christoph Wilhelm: Die drei Heroen der Heilkunst . In: Journal der practischen Heilkunde 72=65 (1831), 1 . Stück ( Januar), S . 7–65 . Jütte, Robert: Samuel Hahnemann . Begründer der Homöopathie . 3 . Aufl . München 2007 . Lang, Christoph J .: Samuel Hahnemann’s doctoral dissertation of 1779 . In: Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 75 (2004), S . 1742 . Lang, Christoph J .: The four medical theses of Samuel Hahnemann (1755–1843) . In: Journal of Medical Biography 24 (2016), S . 243–252 . Lewin, Louis: Die Fruchtabtreibung durch Gifte und andere Mittel: Ein Handbuch für Ärzte, Juristen, Politiker, Nationalökonomen . 3 ., vermehrte Aufl . Berlin 1922 . Ludwig, Christian Gottlieb: Anleitung zur rechtlichen Arzneikunde, nach der zwoten vermehrten Ausgabe des Herrn D . Ernsten Boses übersetzt . Leipzig: Gleditschens Buchhandlung 1779 . Medicinisches Hand-Lexikon, worinn alle Krankheiten, die verschiedenen, und jeder Krankheit insbesondere eigenthümlichen Kennzeichen, die sichersten Vorbauungs- und wirksamsten Heilungsmittel wider dieselbe, sammt einem vollständigen Unterrichte, um im Nothfalle ein eigener Arzt seyn zu können, auf eine jedermann faßliche Art vorgetragen werden . Alles aus den Werken der berühmtesten Aerzte gesammelt, und mit einer Menge specifischer Arzneyen wider viele Krankheiten versehen . Nach der vierten französischen Auflage übersetzt . Bd . 1 . Augsburg: Im Verlage der Joseph-Wolffischen Buchhandlung 1782 . Mende, Ludwig Julius Caspar: Kurze Geschichte der gerichtlichen Medizin . In: Mende, Ludwig Julius Caspar: Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin . 1 . Teil . Leipzig 1819, S . 1–474 . Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord . Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft . München 1995 . Müller, Johann Valentin: Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft nach juristischen und medicinischen Grundsätzen für Geistliche, Rechtsgelehrte und Ärzte . Bd . 1 . Frankfurt/Main: Andräische Buchhandlung 1796 .

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784

Pharmacopoea Helvetica, in duas partes divisa, quarum prior materiam medicam, botanico-physico-historico-medica descriptam, posterior composita & praeparata, modum praeparandi, vires & usum exhibit . Basel: Im-Hof & Söhne 1771 . Röderer, Johann Georg: Elementa artis obstetriciae: in usum praelectionum academicarum aucta et emendata . 2 . Aufl . Göttingen: Vandenhoeck 1759 . Röderer, Johann Georg: Anfangsgründe der Geburtshülfe mit einer Vorrede, Anmerkungen und Zusätzen vom Hofrath Dr . Stark aus dem Lateinischen übersetzt von Doctor Henckenius . Jena: Akademische Buchhandlung 1793 . Rouhau[l]t, [Pierre Simon]: Von der Nabelschnur . In: Der Königl . Akademie der Wissenschaften in Paris Anatomische, Chymische und Botanische Abhandlungen . Vierter Teil, welcher die Jahre von 1712 bis mit 1717 in sich hält . Aus dem Französischen Übersetzet von Wolf Balth . Adolph von Steinwehr . Breslau: Johann Jacob Korn 1753, S . 316–327 . Schael, Christian Ludwig [Praes .: Johann Georg Röderer]: Dissertatio inauguralis medico-legalis de funiculi umbilicalis deligatione non absolute necessaria [Göttingen, 1 .11 .1755] . In: Roederer, Johann Georg (Hg .): Opuscula medica sparsim prius edita, nunc demum collecta aucta et recusa . Göttingen: Bossiegelius 1763, S . 441–464 . Schlumbohm, Jürgen: Lebendige Phantome: Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830 . Göttingen 2012 . Selle, Christian Gottlieb: Medicina Clinica oder Handbuch der medicinischen Praxis . 5 ., verbesserte Aufl . Wien: Johann Edlen von Trattnern 1791 . Störck, Anton von: Medicinisch-praktischer Unterricht für die Feld- und Landwundärzte der österreichischen Staaten . Wien: Trattner 1776 . Stukenbrock, Karin: Abtreibung im ländlichen Raum Schleswig-Holsteins im 18 .  Jahrhundert: eine sozialgeschichtliche Untersuchung auf der Basis von Gerichtsakten . Kiel 1993 . Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland . München 1990 . Unterricht für die pfälzischen Hebammen: zum Gebrauch der Vorlesungen in der Ammenschule zu Mannheim . 2 ., vermehrte Aufl . Mannheim: Schwanische Buchhandlung 1782 . Urgicht und Peinliches Urtheil, über Anna Barbara Gackstätterin, von Zellrüglingen gebürtig […] . [Ansbach]: Johann David Messerer 1776 . Vogel, Samuel Gottlieb: Handbuch der practischen Arzneywissenschaft zum Gebrauche für angehende Aerzte . 3 . Aufl . Stendal: Daniel Christ . Franzen und Grosse 1789 . Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, 35 . Stück (18 . September 1773), S . CCXLI–CCXLIV .

Robert Jütte, Prof. Dr. Dr. h. c.

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart robert .juette@igm-bosch .de Christoph Lang, Prof. Dr.

Christoph .Lang .extern@uk-erlangen .de

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ROBERT JÜTTE / CHRISTOPH LANG

Anhang

Quelle Nr. 1 Friedrich August40 Churfürst Lieber getreuer . Uns ist zwar aus deinem, wegen der bey Uns von der medicinischen Facultaet zu Wittenberg geführten Beschwerde, daß der ohnlängst angestellte AmtsPhysicus zu Gommern, Dr . Samuel Hahnemann, zu dem im Mandate vom 13den Septbr . 1768 . vorgeschriebenen Tentamine sich nicht gestellet, unterm 15den mens . pr . [mensis praevii] erstatteten unterthänigsten Berichte und zurückfolgenden Actis geziemend vorgetragen worden, was besagter Dr Hahnemann, als ein auswärtiger Promotus, zu seiner Legitimation wegen Ausübung der Praxeos medicae in hiesigen Landen, angezeiget, auch dabey gebeten hat . Wir begehren aber hierauf, du wollest mehrgedachten Dr . Hahnemann, daß er sich annoch in Ansehung des erlangten Amts Physicats, dem 5ten 8pho [octavo] vorangezogenen / Mandats gemäß zu bezeigen habe, bedeuten . Mochtens dir nicht bergen und geschiehet daran Unsere Meynung . Datum Dreßden, den 1sten Septbr . 1783 . An den Beamten zu Gommern .

40

Kurfürst Friedrich August III ., ab 1806 König Friedrich August I . von Sachsen (1750–1827) .

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Quelle Nr. 2 Magnifice! Wohlgeboren! Hochzuverehrende Herren! Blos Unkunde der inländischen Einrichtungen, denn mehrere Jahre lebte ich außer Sachsen, und eine schuldlose Misdeutung der gnädigsten chürfürstlichen Medizinalpatente waren Ursache, daß ich mich nicht vor Antritt des hiesigen Physikats Dero Untersuchung gebührend unterworfen habe . Daß es aber nachgehends auf Dero Verlangen von mir nicht hat geschehen können, daran sind meine häuslichen Umstände vielmehr, als sonst irgendetwas, Schuld gewesen, die sich wegen der hier zu machenden Einrichtungen, der beträchtlichen Installazionsunkosten und des höchst geringen hiesigen Verdienstes bisher ziemlich im Gedränge befanden . Hochdieselben werden diese leicht glaublichen und äußerst wahren Ursachen meiner bisherigen Verzögerung als hinlängliche Entschuldigung von meiner Seite gütigst annehmen, da es wohl dem schwächsten Kopfe nicht zuzutrauen seyn würde, sich als Physikus seiner Fakultät entziehen zu wollen . In dieser Absicht / und um der mir obliegenden Schuldigkeit nun Genüge zu leisten, gehet meine gehorsamste Bitte dahin, mich wo möglich des diesfals zu machenden Aufwandes, wenigstens eines Theils, zu entledigen und in Hinsicht meiner hiesigen geringen Lage das zu diesem Behuf einzureichende Quantum so viel möglich zu mildern, mich überdies der deshalb zu unternehmenden Reise, welche Gewogenheit auch meinen Freunden Lieberkühn41 und Bodenstein42 wiederfahren ist, gütigst zu überheben und schriftliche Ausarbeitung der mir aufgegebenen Thesium dafür anzunehmen . Ich will durch diese meine gehorsamste Bitte Dero Gütigkeit Schranken zu sezzen mich nicht unterstehen, vielmehr habe ich die Ehre, in Hofnung einer gütigsten Resoluzion mich Dero Wohlgewogenheit angelegentlichst zu empfehlen . Magnifice Wohlgeboren Hochzuverehrende Herren

Gommern, dt . 18n Nov . 1783 .

Dero gehorsamster Diener D . Samuel Hahneman

41 Vermutlich Benjamin Lieberkühn (1715–1789), der als Arzt in Halberstadt tätig war und in Leiden promoviert wurde . 42 Nicht zu ermitteln .

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Quelle Nr. 3 [Briefpapier mit Kronenprägung links oben] Heute sind endlich Herrn D .[oktor] Hanemanns aus Gommern litterae excusatoriae [Entschuldigungsschreiben], nebst den Legitimationen seiner vormaligen Promotion bey mir eingelaufen, die ich Ew . Magnificenz und Denenselben hiermit gehörig communicire . Wenn es Dieselben allerseits belieben, so könnte derselbe von einer Anheroreise zwar dispensirt werden, doch werde demselben mit Dero Erlaubniß einige Thesis zur Elaboration zuschicken . Ob ihm aber von dem gnädigst bewilligten honorario etwas zu remittiren seyn möchte, überlaße ich lediglich Dero Entschließung, ohnerachtet ich es anderer übler Folgen wegen eben nicht für gut finde . Doch überlaße ich es alles wie gesagt Dero Gutbefinden, welches ich mir zu notificiren gehorsamst ausbitte . D Nürnberger43 . p . t . [pleno titulo] Decan .

Quelle Nr. 4 Unter den Umständen in dem H[err] D . Hanneman würkl . in Leipzig als ein externus promotus examiniert und nostriert worden ist, kann man demselben ein anderweitiges examen erlaßen, und mit ausarbeitung eines speciminis zu frieden seyn; auch aus dem Grunde, w . dann derselbe doch gewis in Leip[z]ig rite honorarium p [pro] examine bezahlen mußte, glaube ich, wir können nicht 20 fordern nur 10 Th . [Thaler] von ihm verlangen, nehmlich so viel, als ein physicus zahlet, welcher auf hiesi- / ger Universitaet promoviert hat; indem Er durch das Leipziger examen diesen gleichgemacht worden . Ew Spectabilitaet aber werden beydes als eine Gefälligkeit der Fakultaet anführen können wohl auch auf eine manirliche Art mit reichlichstem Besten, daß wir nun desto eher seine methodum medendi zu erforschen, befugt wären, da man verschiedentl ., und die nicht immer zu seinem Vortheil davon sprechen gehöret . Die

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Dr . Christian Friedrich Nürnberger (1744–1795), Professor für Anatomie an der Universität Wittenberg .

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Fakultaet hat ehedem nur 1 höchstens 2 Thesen übersandt, und ich solte auch meynen, daß mehrere nicht nöthig wären D Böhmer44 Das Diploma hilten wir zurück, die Abschrift vom Testimonio aber u . die Disput[at]ion wird, zu den Acten genommen . Ich freue mich, daß meine Bußermahnung einen so reuigen und bußfertigen Sünder getroffen hat, der jedoch seine Fehler auch wohl frei zu entschuldigen weiß . Auch Meo Voto wird ihm die Wallfahrt zu uns erlassen, und die Ausarbeitung einer Thesis nebst der Erlegung von den gewöhnl . Zehen Thalern mögen ihn zur Physikatsverwaltung berechtigen . D Leonhardi45

Quelle Nr. 5 [Prägung links oben] Comparuit coram Ordine nostro hodierna die Vir Praenobilissimus atque Experientissimus Dominus D . Samuel Hahnemann Misenensis, in academia Erlangensi promotus, in Comitatu Mannsfeldensi artem facturus, atque in potioribus argumentis practicis tentatus ad quaestiones propositas ita apte atque expedite respondit, ut ipsum boni et rationalis medici officia cum fructu expleturum, nulli dubitemus . Cujus rei fidem, subscripto Decani nomine atque Facultatis nostrae sigillo addito, fecimus . Lipsiae [Leipzig] d . XXVIII . Apr . MDCCLXXX . [18 .4 .1780] L . S .

D . Antonius Guilielmus Plaz . Facult . Med . Decanus .

Georg Rudolf Böhmer (1723–1803), Professor für Botanik an der Universität Wittenberg . Johann Gottfried Leonhardi (1746–1823), Professor für Pathologie und Chirurgie an der Universität Wittenberg . 44 45

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Praemissam copiam producto suo Originali concordare praevia collatione, testor ego Churf Sächs·Ambt· Gommern·

Augustus Carolus Ludovicus Gutbier . Praef: [Praefectus] Gommer . u . Act: [actuarius] jur . [juridicus]

Übersetzung der lateinischen Beglaubigung der Erlanger Dissertation durch die Universität Leipzig vom 18 .4 .1780 (Übersetzer: Christoph Lang) Es erschien am heutigen Tage vor unserem Senat der höchst Erlauchte und Erfahrene Herr Dr . Samuel Hahnemann aus Meißen, der an der Erlanger Universität promoviert wurde, in der Grafschaft Mansfeld praktizieren möchte und der, einer Prüfung über wichtige praktische Stoffe unterzogen, auf die vorgegebenen Fragen so passend und kundig geantwortet hat, dass wir keinen Zweifel daran hegen, dass derselbe die Pflichten eines guten und vernünftigen Arztes nutzbringend erfüllen wird . Dies beglaubigen wir durch namentliche Unterschrift des Dekans unter Hinzufügung des Siegels unserer Fakultät . Leipzig, den 18 . April 1780 . Platz für das Siegel

Dr . Anton Wilhelm Plaz46 Dekan der medizinischen Fakultät

Dass die vorliegende Kopie mit dem beigelegten Original nach vorheriger Vergleichung übereinstimmt, bezeuge ich Kurfürstl . sächs . Amt Gommern

46 47

August Karl Ludwig Gutbier47 . Gommerscher Beamter und Fakultätsschreiber

Dr . Anton Wilhelm Plaz (1708–1784), Professor für Anatomie an der Universität Leipzig . Lebensdaten konnten nicht ermittelt werden .

Samuel Hahnemanns (1755–1843) geburtshilfliche Dissertation von 1784

Quelle Nr. 6a Lateinischer Originaltext der beiden Thesen Samuel Hahnemanns vom 15 .1 .1784 Transkription: Christoph Lang 1 . Prior, qua mihi ab illustri Facultate medica proposita fuit thesis, in eo versatur, ut exponam, an funiculi umbilicalis deligatio in recens natis absolute sit necessaria et quale sit ejus de intermissione in foro ferendum judicium . Nemo, qui vel tantillum anatomiae degustavit elementa, ignorat funiculum umbilicalem cum esse foetus partem, quae venam ex placenta uterina exeuntem et in hepar foetus per umbilicum penetrantem una cum arteriis binis, quae vulgo ex arteriis iliacis foetus per umbilicum progressae secundinas petunt, in funem quasi colligit, interposito contentu celluloso . Funiculus itaque est ille communis sanguiductus qui per quem ex matre sanguinem et nutrimentum foetui advehit, et eum, qui ipsi usui fuit, revehit in placentam sanguinem; per funiculum itaque vita foetus sustinetur, quamdiu aut in matrice haeret, aut in lucem editus nondum inspiravit . Per respirationem enim alia foetus animalis recte diceretur, vita incipit vegetali illa, quam in utero ducebat, jam cessante . Quae cum ita sint, multa invenio, quae funiculi umbilicalis foetualem partem ante dissectionem deligare suadeant, non ita multa, quae deligationem negligi posse probent . Ex priori quidem genere haec sunt 1) Foetus vegeti, qui jam respiravit, maxime autem ejus, qui nondum respiravit, funiculus brevis praecisus non raro duas sanguinis radios ad insiggnem distantiam ejaculatur, id quod summi viri observarunt . 2) Arteriae funiculi non semper ex iliacis oriuntur, sed interdum, nec ita raro, ex aorta progrediuntur, dissectus inde funiculus, nec subligatus factus lethalem inferre potest haemorrhagiam . 3) Arteriae funiculi non semper duae sunt, sed, quamvis raro, una tantum . Non expectandum ideo, tam magni oris arteriam abscissam, ita per

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se posse occludi, dum in contextum cellulosum funiculi se recepit, et sane funesta est timenda haemorrhagia . 4) funiculi praecisi, parvula pars relicta arterias in contextum cellulosum rite rececedere abscondi itaque occludi vix sinit, paucos si excipiamur casus contrarii . 5) multo minus funiculus, penitus ex abdomine revulsus, hoc fieri patitur . Non vero semper tam absolutae esse necessitatis funculi subligationem, haec probare videntur . 1) arteriae funiculi, quando ex iliacis oriuntur plerumque sub musculis abdominalibus rectis ad umbilicum foetus reptant, ita ut, si per respirationem pectus expanditur, abdomenque comprimitur, arteriarum nostrarum canalis occludatur plerumque per se . Inde fit, ut rariores sint hemorrhagiae letales ex funiculo ad aliquot pollices praesecto parvulorum, qui jam respirarunt . 2) Si in praesectione funiculi ejus quaedam insignis pars trium vel quatuor pollicum longitudine relinquitur, nec deligata, recipiunt sese arteriae, maxime si ex iliacis ortus trahunt, in contextum cellulosum et pinguiculum funiculi, absconditaque ipsarum ora occluduntur, cui tunc favent non raro arteriarum versus placentalem funiculi partem miri nodi . 3) Id quod eo facilius fit, si funiculus rumpitur, magna ejus ad umbilicum relicta parte . 4) Si frigus accedit, aut alia causa funiculum comprimens, eo minus de haemorrhagia timendum . Quid, quod adeo fieri potest, ut necessitas adsit, funiculum abscissum non deligandi, quando propter capitis incuneationem foetus, partu laborioso enixi, cutis sanguine suffusa est et apoplexiae metus instat tunc enim ex secto funiculo umbilicali aliqualis facta haemorrhagia, venaesectionis instar nato vitam et sanitatem restituere solet . Quando itaque de funiculi umbilicalis neglecta obligatione in foro oritur quaestio Primo erit definiendum, an funiculo non deligati sanguifluxus mortis infantuli fuerit causa . Qua quidem non externa inspectione circumscribi debet disquisitio, sed secandum ante omnia corpus parvuli

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seduloque inquirendum an venarum ramificationes majores sinus durae matris, vena cava et portae, jugulares, ventriculi auriculaeque cordis, caetera sanguine sint vacua . Tunc enim si nulla alia haemorrhagiae lethalis adest causa obvia, per umbilicalem funem, non obligatum, esse facta jure pronuntiamus . Si vero per sedulam sectionem dubium manet, an ex haemorrhagia umbilicali mors fuerit subsecuta, cum sanguinis pars in canalibus venosis adhuc reperiatur, inspicienda ipsa, quae restat, funiculi non deligati portio . Si pars ejus ex abdomine pendula trium vel plurium digitorum transversorum sit longitudine vel abscissa, vel quod majorem facit fidem, abrupta, si arteriae binae sunt et ex iliacis oriundae, minuitur suspicio, aut si alia etiam accedunt, fit improbabile, hac via mortem infantis esse ortam, praesertim cum pulmo in partes dissectus aquae innatet . Si vero, quamvis dubia, sectione praegressa, inveniatur, quam brevissime praecisum nec devinctum esse funiculum, aut ex abdomine plane evulsum, de haemorrhagiae lethalitate jam non dubitandum, praesertim si nullum aliud mortis infantis obvium sit vestigium, nec levi jam puerpera notatur suspicionis macula, maxime si et alia ipsius malae in prolem mentis adstant argumenta . Quamvis porro, sectione instituta, canales venosi majores sanguine plane non exhausti reperiantur et mortis infantuli alia tunc oporteat esse causa quam haemorrhagia per umbilicum lethalis insuperque per alia signa perque pulmonum in aqua subsidentiam constet, jam ante partum fuisse mortuum foetum, tamen quando funiculus umbilicalis aut brevissime praecisus, aut ex abdomine avulsus reperitur, puerpera impiae in prolem mentis non caret suspicione, nisi probet, se primiparam, partus ignaram, impotentem mentis animi deliquio correptam et auxilio viciniae plane destitutam fuisse, cum foetus repentino partu praeceps ex utero rueret, tunc enim ruptura funiculi per se potuit fieri . Si paupercula, partus penitus ignara, puerpera umbilicalem funem quidem deligaverit, pinguicula autem crassiorque ejus substantia ligatura non

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fuerit constricta, haemorrhagia ex funiculo hujus modi parum munito ortu, potuit latuisse matrem, maxime si auxilii expers, et lipothymia correpta impos fuerit post partum mentis, nec [52] tum ejus, sed ignorantiae potius et circumstantiarum erit vitium, si haemorrhagia lethalis prolis fuerit subsecuta, maxime si improbae ceteroquin non arguatur in vitam foetus mentis . Ex his patet non absolute esse necessariam deligationem funiculi, si modo ipse post inceptam respirationem et magna satis parte ejus relicta, abscindatur, tutius tamen subligari ante sectionem; patet etiam quo pacto et quatenus neglecta funiculi umbilicalis deligatio crimen esse possit puerperae . Atque haec quidem de hae quaestione sufficiant disputata .

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2 . Alterius, qua mihi disceptanda fuit proposita, quaestionis, an foeminis gravidis et puerperis vomitoria liceat propinare et quanam limitatione, haec fere erit ratio . Puerperis et gravidis si eo genere morborum corripiuntur, in quibus vomitoria absolute indicantur et ipsis propinanda sunt emetica, ita tamen ut graviditatis et puerperii limitantur symptomatis . Haecce vero sententia, si probe video, in duas dilabitur orationis partes, quae jam sunt expediendae . Quod primum attinet, erit nobis indagandum, in quibus omnino casibus emetica necessario indicentur, secundo, quae obstent interdum in graviditate et puerperis impedimenta, emeseos instituendae . Vomitio, ni fallor, est a rebus ventriculum, praecipue autem stomachum et pylorum quin et pharyngem vellicantibus et acribus excitata diaphragmatis, musculorum abdominalium et pectoralium atque ventriculi annexarumque partium convulsio, aut nisus ad eliminandum illud acre ingestum, per inversam peristalsin . Natura ipsa vomitus excitat, cum materiem valetudini probae noxiam e ventriculo et cystide fellea everrere instituit, quas easdem indicationes secuti medici, natura edocti, idem agunt . Natura vomituritiones excitat in nimia ventriculi repletione, in orgasmis biliosis, quando primae

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ut ajunt, viae materia acri dysenterica, morbillosa, variolacea, scarlatina, aut veneno deglutito infestantur, denique quando per sympathiam ramorum paris octavi, quispiam nervorum, maxime ventris constringitur, vellicatur aut laceratur, eo consilio ut nervos liberet affectos . Ultimum hocce naturae consilium, medicus alia ratione peraget et compendio velut viae scopum attinget, si nervum a causa constringente et irritante immediate liberat et laceratum dissecat . Caeteras indicationes eodem fere modo explet emesi scilicet explet medicus, natura sequax, ratione tamen reliquorum symptomatum habita . Cum enim vomitus a natura excitatus fere non ejusmodi sit, ut materia noxia tuto et sufficienter submoveatur, medicus adest, qui emetica propinando omnem, si fieri licet, saburram e ventriculo et cystide cito exterminat, aut, ut in hysteria, hypochondriasi, vomica, et sputo cruento non raro agendum, vomituritiones spontaneas compescit .

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Primo itaque et in universum si lingua sordida ructus amari, cum praecordiorum oppressione, inflatione hypochondriorum, capitis dolore, nausea et vomituritionibus spontaneis adsunt, emeticum propinandum, nisi quid aliud vetat . Tunc enim aut bilis exasperata et in venenosum qualitate conversa aut materies corrupta acres, putridae, e ventriculo ejici compendiosiori et tutiora via nequeunt, quam per os, si pravitate harum rerum corpus pessime periclitari nolimus . Secundo, caeterorum intestinorum convulsiones ut in tussi convulsiva, in dysenteria, in quibusdam colicae hystericae et hypochondricae, lientericae et diabetis speciebus usu venit, non absque ratione per novum in ventriculo excitatum spasmum, scilicet per vomitum amoliri conamur . Tertio, vasorum infarctus varios et nervorum oppressiones per emesin avertere non sine consilio solemus . Sic refrigerationes et inde orta varia morborum genera, febrium cohors et intermittentium et putridarum et lentarum, tormina, gravedines, asthma pituitosum, lienis et glandularum intestinalium infarctus, lethargus, paralyseos et apoplexiae quaedam species, mania et melancholia, epilepsia nonnulla genera, singultus, raphania, tetani quaedam species, et calorumque oedemata varia, arthritis, erysipelas, suffocatio-

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nes varii generis, syncope et lipothymia vomitu non raro levantur, immo fugantur . Quid, quod et calculi renum et vesicae interdum emeticorum ope removeantur . Quarto, cum corpora peregrina, apepta aut venenosa in pharyngem aut ventriculum illapsa ejici debent vomitoria plerumque omnem absolvunt paginam . His super vomitorio propinando generalioribus praemissis, accedamus ad illas res, quae emesin vetare solent, contraindicantia vocant . In universum abstinemus a vomitu, illa universi corporis non levi convulsione, cum malum per alia remedia mitioris generis compesci, si non citius, tamen tutius potest, quam per vomitoria fieri solet, violentiori modo . Acidum, verbi causa, primarum viarum exaestuans, acidum absorbentibus, febres biliosas acidis, vegetabilibus, lithiasin aut lithotripticis aut cultello, convulsiones quasdam per sopientia et sic porro curamus . Abstinemus porro ab emeticis, si vomitus gravius malum allaturus videtur, quam illud est, quod emeticis oppugnare conamur . Nervorum nimia irritabilitas, in vomitu spontaneo hysterico et eo qui in podagra et arthritide vaga observatur, plethora, morbus mere inflammatorius, varia hydropis genera vomica, alvus constipata, volvulus, hernia incarcerata, sputi cruenti metus, nimia virium debilitas, et graviditas abortui et haemorragiis obnoxia, ea sunt, quae generatim emesin prohibere videntur . Graviditas autem et puerperium quatenus vomitum vetare queant, nunc venit paulo uberius docendum . Graviditas et puerperium, per se considerata, nihil habent, quod vomitum lenem, debito modo, et in tempore excitatum, prohibere possit, neque enim sunt morborum genera, gestare in utero et edidisse foetum . Foeminae in recta valetudine constitutae uterus et partes annexae adeo valent, ut neque extranea neque interna vis mediocriter impellens, aut concutiens, nocere, id est abortum aut haemorrhagiam periculosam ciere ullo modo queat . Substantia enim uteri ipsa tam firma et pro tempore gestationis crassa et elastica est, ut resistat et cedat, pro re nata, causae cuivis mediocriter impellenti et oris uteri non levis consistentia totam sustinet molem et coercet, inexpugnabili fere ante partum robore . Validis dein matrix suspenditur ligamentis, quae ipsam in situ firmiter tuentur . Neque negligendum est, quid

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ossa pelvis sustentaculum afferant utero, qui illis nititur [55] graviditatis tempore vario modo . Nec praetermittenda ovi humani id est embryonis velamentorum concinna fabrica, qua elapsum

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foetus praematurum mirabili modo prohibent, praecipue ob liquoris, quem intima harum tunicorum continet, inque quo natat foetus, naturam, resistit itaque quaqua versum et foetum defendit a vi irruente, ita fere, ut acini uvae a pulpa foventur ut nihil dicam de integumentorum abdominalium tutamine . Haecce vero praesidia ante partum satis idonea esse, ad gravidam, si recte plane valet, ab abortu defendendam, etiamsi vomitus et aliae violentiores abdominis concussiones accedant, inde licet videre, quod alioquin fere nulli neque meretricolarum partus nothi in lucem procrearentur, neque in universum ulla foemina abortu careret, cum priores non raro funesto consilio vomitum ciere soleant, caeterae autem fere omnes foeminae spontaneo vomitu interdum excrucientur, praesertim intra priores gestationis menses . Accedit, quod diaphragma a vomitu convulsum, non nisi superne feratur nec magna inde subjacentibus partibus instet violentia . Liceat itaque naturam imitari et, qui mitior et efficacior, quam spontaneus esse solet, vomitum instituere, si causa morbi in primis viis gravior, maxime autem si in ventriculo haeret . Per vomitum enim, quod mihi semper summum fuit argumentum, morbi exstirpari radicitus interdum possunt, qui abortum procreare et matri simul periculum mortis praesentaneum afferre per se solent . Quid enim aliud moliendum credamus, quam vomitu ventriculum exonerare si aut nimia repletio et ingestorum corruptio, si non mortem matris, tamen pessimum morbum minantur, aut si veneni acris deglutitio instans periculum afferat, aut febris putrida ingravescit, aut dysenteria, quamdiu ejus causa adhuc maxime in ventriculo subsidet, dirum significat fatum . Nonne tunc, etiamsi abortum timere liceat, emesis instituenda, ne mater una cum sobole intereat, ex duobus malis mitius eligendo . Nihil enim tam nobis aliud curae esse debet, quam ne mater sputo cruento, vomica rupta aut haemorrhagia uteri pessima intereat, quando his malis jam alias fuit obnoxia . Hic enim mitiora eligimus remedia, his quatuor inimicis utcunque paria, diluentia, laxantia, antiputrida . Venenorum autem quaedam genera et summus morborum gradus, eorum in quibus emetica absolute inidicari proposui, emetica flagitant ita, ut nulla re prohiberi posse videantur .

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Neque tamen in universum tuto consilio molimur in ceteris morbis emeses, quam vel intra prioris gestationis menses, vel si gravior morbi fomes in ventriculo haeret, salva ceterum corporis firmitate . Si vero contraindicantium emeseos aut generalium, quae infra proposui, ut specialium, quae gravidas ipsas ab emesi retinere jam dixi, plura simul instant, in mitioribus qualibus cumque morbis, quos nominatim paulo supra recensui, mitiora quoque eligimus remedia, ne nimis agenda nocuisse videamur . Si e contrario plura desint contraindicantia aut generalium aut specialium, nec quidquam in caeteris illis passionibus vel mutare vel boni afferre nobis liceat ulla alia re, tunc demum in quolibet gestationis tempore ad vomitoria, sed mitiora, ascendendum, si scilicet foemina corporis validi, abortum vixdum passa, et sputo cruento et haemorrhagiae uteri non obnoxia, ======================= reperiatur . Si porro nec vomica jam aut hernia incarcerata laboret, si vomitus hystericus aut hydrops saccatus absit, caetera . Aliquando et solae vomituritiones paginam absolvunt, et lentiori quidem modo, est tutiori interdum, quam emetica ipsa . Vomituritiones hujus modi per unum vel duo Ipecacuae granis cum sex ad decem magnesiae granis pro dosi, aliquoties per diem repetita, excitatae, fomitem in ventriculo haerentem et bilem exasperatam mobilem reddunt, atque exturbant – et irritatione revulsiva, ut ita dicam, interdum prosunt, tutissime denique vomitui substituuntur, si casus exigit . Puerperarum autem paulo alia est ratio . Debilitas enim corporis, exinanitio abdominis et haemorrhagiae uteri post partum, praesertim laboriosum et praeternaturalem, timendae, paulo cautius, nos agere et vomitoria non nisi in summa necessitate porrigere jubent, maxime statim post partum . Periculum autem a vomitu in puerperis timendum magnopere restringitur et mitescit, si vires validae sunt, partus fuit naturalis et gravioribus symptomatibus exemtus, si tempus aliquod post partum praeterlapsum est, intra quod matrix justum suum volumen contraxit et si valetudinis caeterae signa non contraindicant . Caveas autem ne horroris lactifera tempore emeticum ingeras .

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Dantur et symptomata quaedam puerperii, quae vomitum exigere videntur, quale est dira illa et funesta syncope, qua inprimis mulierculae hystericae aliquando, post partum corripiuntur . Tunc enim si frictiones, si ingesta cardica et animum refocillantia, narcotica spiritus volatilis salis amoniaci et aether vitrioli aut nitri, si denique, quando plethora adest, venaesectiones justae nil proderant, emesis instituenda, et ad vires et vim morbi modulanda . Quid quod et febris puerperalis, quae ante aliquot annos epidemica est facta, non parum levanimis ex vomitoriis petebat, venaesectione praegressa . In universum, si vomitus gravidarum aut puerperarum absolute indicatur, et plethora, quamvis non ita maxima adesse videtur, venaesectione corpus muniendum, antequam vel lenis excitetur vomitus . Vomitoria autem ita fere propinare soleo, ut tartari emetici grana tria aut quatuor pro re nata in aquae drachmis quatuor solvam et dimidia quaque hora aliquantulum sumere jubeam, ratione tamen progressiva . Primo enim tempore v . c . [verbi causa] hujus solutionis 40 guttas secundo termino 60, tertio 100, quarto 180 guttas in aquae tepidae uncias quatuor stillare et deglutire jubeo, ea ratione ut medicina seponatur, quamprimum justus oritur effectus . Et hac quidem lege tutissime emesin instituto, cum si prior dosis remedii suffecerit, altera jam non ebibatur, si duae priores aut tres portiones non sufficiant, tertia aut quarta non opus sit . Non enim ita hypercatharsis oritur et effectus certissime subsequitur . Remedium dilutum ventriculi parietes aequaliter ac mite ad vomitum stimulat, intervallo temporis, semihorae, vires medicaminis observare sinunt et effectus expectare et dosis hac ratione sensim sensimque aucta vomitum certissime ciet, nec per inferiora dilabi sordes ventriculi patitur, raro itaque dejectiones, nec tum frequentes, movet . Est enim alvus per vomitoria mota, dolorosa et torminosa quam maxime, ut experientia docet, nec tantum levat, quam vomitus rite procedens, quando scilicet hic absolute indicatur .

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Quelle Nr. 6b Deutsche Übersetzung der beiden Thesen Samuel Hahnemanns vom 15 .1 .1784 Übersetzer: Christoph Lang 1 . [49] -1Zunächst werde ich zu der mir von der Hohen Medizinischen Fakultät vorgeschlagenen These Ausführungen machen, bei der es darum geht, ob die Abbindung der Nabelschnur bei Neugeborenen unbedingt notwendig und wie deren Unterlassung unter rechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist . Jeder, der auch nur ein bisschen in die Grundlagen der Anatomie hineingeschmeckt hat, weiß, dass die Nabelschnur als Teil des Fetus die aus der Plazenta herausführende und durch den Nabel in die Leber des Fetus eindringende Vene mit den paarigen Arterien, die üblicherweise aus den Iliakalarterien des Feten durch den Nabel hindurch die Nachgeburt erreichen, gewissermaßen zu einem Strang bündelt, wobei sich zwischen ihnen eine gallertige Masse [Wharton-Sulze] befindet . Die Nabelschnur ist also jener gemeinsame Blutleiter, der durch den aus der Mutter dem Fetus Blut und Nahrung zuführt und, nachdem dieser sie genutzt hat, das Blut wieder in die Plazenta zurückleitet; durch die Nabelschnur wird somit das Leben des Feten aufrechterhalten, solange er sich entweder noch fest in der Gebärmutter befindet oder zur Welt gebracht wurde und noch nicht geatmet hat . Durch die Atmung nämlich beginnt ein anderes Leben, das zu Recht ein beseeltes genannt wird, nachdem jenes vegetative, das er im Uterus führte, aufgehört hat . Da dem so ist, finde ich viel, was dafür spricht, den fetalen -2Teil der Nabelschnur vor seiner Durchtrennung abzubinden, dagegen nicht so viel, was belegen könnte, dass die Abbindung vernachlässigt werden kann . Argumente für die erste Annahme sind: 1) Die kurz abgeschnittene Nabelschnur eines lebenskräftigen Fetus, der bereits geatmet hat, zumal aber eines Fetus, der noch nicht geatmet hat, stößt nicht selten zwei Blutstrahlen über eine beträchtliche Entfernung aus, etwas, was bedeutendste Männer beobachtet haben . 2) Die Nabelschnurarterien entspringen nicht immer den Iliakalgefäßen, sondern sie nehmen zuweilen, gar nicht so selten, ihren Ausgang aus der Aorta; wird daher die Nabelschnur durchschnitten, ohne dass eine Unterbindung erfolgt ist, kann dies eine tödliche Blutung hervorrufen .

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3) Es gibt nicht immer zwei Nabelschnurarterien, sondern, obgleich selten, mitunter nur eine . Man kann daher nicht erwarten, dass, wenn eine so großkalibrige Arterie abreißt, so sie sich von selbst verschließt, indem sie sich in das gallertige Gewebe der Nabelschnur zurückzieht, und damit ist in der Tat eine unheilvolle Blutung zu befürchten . 4) Ein winziger zurückgelassener Teil der abgeschnittenen Nabelschnur [50] -3lässt kaum zu, dass die Arterien sich wie üblich in das gallertige Gewebe zurückziehen, sich darin verbergen und verschließen, wenn man die wenigen anders gelagerten Fälle ausnimmt . 5) Umso weniger kann dies bei einer Nabelschnur geschehen, die gänzlich aus dem Abdomen herausgerissen wurde . Dass es aber nicht immer zwingend notwendig ist, die Nabelschnur abzubinden, belegt offensichtlich Folgendes: 1) Die Nabelschnurarterien, wenn sie aus den Iliakalgefäßen entspringen, ziehen meistens unter der geraden Bauchmuskulatur zum Nabel des Fetus, und zwar derart, dass, wenn sich der Brustkorb durch die Atmung ausdehnt und das Abdomen komprimiert wird, sich das Lumen dieser Arterien meist von selbst verschließt . So kommt es, dass tödliche Blutungen aus einer Nabelschnur, die auf die Länge einiger Daumen gekürzt wurde, bei Säuglingen, die bereits geatmet haben, eher selten sind . 2) Wenn beim Abschneiden der Nabelschnur ein hervorstehender etwa drei oder vier Daumen langer Teil verbleibt und nicht abgebunden wird, so ziehen sich die Arterien, am ehesten dann, wenn sie aus den Iliakalarterien entspringen, in das gallertige und fetthaltige Gewebe der Nabelschnur zurück, und durch die Abdeckung ihrer Öffnungen verschließen sie sich, was dann die eigentümlichen Knotenbildungen der Arterien am plazentaren Teil der Nabelschnur nicht selten begünstigen . -43) Was umso leichter geschieht, wenn die Nabelschnur reißt, wobei ein großer Teil von ihr am Nabel zurückgelassen wird . 4) Wenn Kälte hinzukommt oder eine andere Ursache, die die Nabelschnur komprimiert, ist umso weniger eine Hämorrhagie zu befürchten . Was so leicht geschehen kann, dass die Notwendigkeit besteht, die abgerissene Nabelschnur nicht abzubinden, wenn wegen der Einkeilung des Kopfes des Feten, der unter mühsamen Wehen zur Welt kommt, die Haut unterblutet wird und ein Schlaganfall zu befürchten ist, dann nämlich wird aus der abgeschnittenen Nabelschnur gewissermaßen eine Hämorrhagie, die so gut ist wie ein Aderlass, welcher gewöhnlich dem Neugeborenen Leben und Gesundheit wiederherstellt . Woraufhin sich somit die Frage stellt, wie die Unterlassung der Nabelschnurabbindung in juristischer Hinsicht zu bewerten ist .

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Zunächst wird zu definieren sein, ob eine Blutung aus der nicht abgebundenen Nabelschnur die Ursache des kindlichen Todes gewesen ist . Diese Untersuchung muss nicht nur durch äußere Inaugenscheinnahme geführt werden, sondern es ist vor allem eine Sektion des kindlichen Leichnams und eine intensive Suche erforderlich, ob die größeren Verzweigungen der Sinusvenen, die Hohlvene und die Pfortader, die Jugularvenen, die Vorhöfe und Kammern des Herzens und alles Übrige blutleer sind . Dann nämlich, wenn es keinen offensichtlichen anderen Grund für eine tödliche Blutung gibt, [51] -5wird man zu Recht konstatieren, dass dies durch einen nicht unterbundenen Nabelstrang geschehen ist . Wenn aber auch durch eine gewissenhafte Sektion ein Zweifel bleibt, ob der Tod die Folge einer Nabelschnurblutung war, da noch teilweise Blut in den venösen Blutleitern gefunden wird, muss der verbliebene Stumpf der nicht abgebundenen Nabelschnur selbst in Augenschein genommen werden . Wenn deren aus dem Abdomen herausragender Teil eine Länge von drei oder mehr Querfingern aufweist oder abgerissen ist oder, was eine noch sicherere Beurteilung zulässt, ganz herausgerissen ist, wenn die Arterien paarig sind und aus den Iliakalgefäßen entspringen, dann vermindert sich der Verdacht, oder wenn noch etwas anderes hinzukommt, dann wird es unwahrscheinlich, dass der Tod des Kindes auf diese Weise zustande kam, zumal wenn die in Teile zerschnittene Lunge auf dem Wasser schwimmt . Wenn aber, obwohl noch Zweifel bestehen, mit fortschreitender Sektion gefunden wird, dass die Nabelschnur äußerst kurz abgeschnitten und nicht abgebunden wurde oder dass sie gänzlich aus dem Abdomen herausgerissen wurde, so ist an einer tödlichen Blutung nicht mehr zu zweifeln, vor allem dann, wenn es keine sonstige naheliegende Erklärung für den Kindstod gibt und wenn bei einer schon als leichtsinnig bekannten Gebärenden der Makel eines Verdachts bemerkt wird, insbesondere wenn es noch weitere Hinweise auf eine üble Gesinnung ihrer selbst gegenüber dem Nachwuchs gibt . Wenn ferner, nach begonnener Sektion, die größeren -6venösen Blutleiter nicht vollkommen entleert vorgefunden werden und daher offensichtlich etwas anderes die Todesursache des Kleinkinds war als eine tödliche Blutung aus dem Nabel und darüber hinaus durch andere Symptome und das Absinken der Lungen im Wasser feststeht, dass der Tod des Fetus bereits vor der Geburt eingetreten ist, dennoch aber die Nabelschnur entweder äußerst kurz abgeschnitten oder aus dem Abdomen herausgerissen vorgefunden wird, so nährt sich der Verdacht auf eine frevelhafte Gesinnung der Gebärenden gegenüber dem Nachwuchs, sofern sich nicht erweist, dass sie Erstgebärende ist, geburtsunerfahren, eine geistige Umnachtung erlitten oder keinerlei Hilfe von ihrer Umgebung erfahren hat, wenn der Fetus durch eine Sturzgeburt kopfüber aus der Gebärmutter austrat; dann konnte ein Riss der Nabelschnur auch von selbst geschehen .

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Wenn eine bedauernswerte Gebärende, die überhaupt nichts von der Geburt versteht, immerhin die Nabelschnur abgebunden, die Ligatur aber die dickeren und fetthaltigen Anteile ihrer Substanz nicht richtig abgeschnürt hat, dann kann eine Blutung aus einer derart nicht richtig gesicherten Öffnung der Mutter verborgen bleiben, insbesondere wenn sie ohne Hilfe und durch eine Ohnmacht beeinträchtigt nach der Geburt ihrer Sinne nicht mächtig ist und es dann nicht ihr Fehler, [52] -7sondern vielmehr der ihrer Unkenntnis und der Umstände ist, wenn daraus eine tödliche Blutung des Feten resultiert, zumal wenn ihr ansonsten nicht vorgeworfen wird, üble Gedanken gegenüber dem Leben des Feten zu hegen . Aus alledem geht hervor, dass es nicht unbedingt notwendig ist, die Nabelschnur abzubinden, wenn sie gleich nach Ingangkommen der Atmung und nachdem ein ausreichend großer Teil von ihr zurückgeblieben ist, abgetrennt wird; dennoch ist es sicherer, sie vor der Durchschneidung zu unterbinden; es ist klar, dass auf diese Weise und insoweit eine vernachlässigte Abbindung der Nabelschnur eine Straftat im Zusammenhang mit der Geburt sein kann . Dies nun soll zur Erörterung dieser Frage ausreichen . 2 . Für die andere Frage, die mir zur Erörterung aufgegeben wurde, ob man Schwangeren oder Wöchnerinnen Brechmittel verabreichen darf und in welchem Ausmaß, will ich folgende Überlegung anstellen: Den Wöchnerinnen und Schwangeren selbst, wenn sie durch eine Art von Krankheiten befallen werden, bei denen Brechmittel unbedingt angezeigt sind, müssen Emetika eingeflößt werden, allerdings derart, dass sie durch die Symptome der Schwangerschaft und des Wochenbetts ihre Begrenzung finden . Diese Erörterung nun -8zerfällt, wenn ich es recht sehe, in zwei Teile, die es im Folgenden auszuführen gilt . Erstens werden wir untersuchen müssen, in welchen Fällen überhaupt Brechmittel als notwendig angezeigt sind, zweitens, welche Hinderungsgründe zuweilen bei Schwangerschaft und Geburt gegen die Einleitung von Erbrechen bestehen . Das Erbrechen ist, wenn ich nicht irre, einer jener Vorgänge, die den Magen, vor allem aber die Speiseröhre und den Mageneingang, aber auch den Rachen reizen, durch Schärfe erregen und hierdurch eine plötzliche Zusammenziehung von Zwerchfell, Bauch- und Brustmuskeln und der mit dem Magen verbundenen Teile auslösen, um jenes verschluckte Scharfe durch eine umgekehrte Peristaltik wieder loszuwerden . Die Natur selbst ruft Erbrechen hervor, wenn sie beginnt, eine Substanz, die einer guten Gesundheit schädlich ist, aus dem Magen und der Gallenblase zu entfernen, was aus gleicher Indikation die naturgelehrten Ärzte ebenso handhaben .

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Die Natur ruft Würgen bei Überfülle des Magens hervor, bei heftiger Gallenkolik, wenn der Verdauungstrakt, wie man sagt, durch eine scharfe Substanz bei Verdauungsstörungen, Masern, Scharlach oder verschlucktem Gift gefährdet wird, [53]

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schließlich, wenn durch die Einbeziehung der Äste des achten Nervenpaars [N . vestibulocochlearis], oder beliebiger anderer, sich der Magen heftigst kontrahiert, gereizt oder verletzt wird, in der Absicht, die Nerven von diesen Zuständen zu befreien . Dies ist der letztendliche Plan der Natur; der Arzt wird nach anderer Überlegung handeln und sein Ziel gewissermaßen über eine Abkürzung erreichen, wenn er den Nerven sofort von einer kontrahierenden und reizenden Ursache befreit und das Zerrissene zerschneidet . Die übrigen Indikationen erfüllt der Arzt natürlich in ähnlicher Weise erfüllt durch das Erbrechen, der Natur gemäß, jedoch unter Berücksichtigung der übrigen Symptome . Wenn nämlich das von der Natur ausgelöste Erbrechen nicht wirklich von der Art ist, dass die schädliche Substanz sicher und hinreichend entfernt wird, so hilft der Arzt, der durch die Einflößung von Brechmitteln allen Ballast – wenn es denn möglich ist – aus dem Magen und der [Gallen-]Blase rasch hinausbefördert oder, wie es bei der Hysterie, der Hypochondrie, dem Abszess und beim blutigen Auswurf nicht selten zu geschehen hat, spontanes Würgen unterdrückt . Erstens ist es somit und im Allgemeinen hilfreich, wenn die -10Zunge von bitterem Aufstoßen belegt ist, bei Druck auf der Brust, Blähung des Oberbauchs, Kopfschmerz, Übelkeit und spontanem Würgen, ein Brechmittel zu verabreichen, sofern es nicht etwas anderes verbietet . Dann nämlich können entweder mit der Galle aufgewühlte und zu etwas Giftigem verwandelte oder verdorbene scharfe oder eitrige Stoffe nicht auf sichererem Weg, etwa über den Mund, aus dem übervollen Magen herausbefördert werden, wenn wir durch die Verdorbenheit dieser Dinge den Körper nicht einem höchst üblen Risiko aussetzen wollen . Zweitens kommt es vor, dass wir die Krämpfe der übrigen Eingeweide, wie bei konvulsivischem Husten, Dysenterie, bei gewissen hysterischen und hypochondrischen Koliken, bei Durchfallerkrankungen und den Diabetesformen, nicht ohne reifliche Überlegung durch einen neuen im Magen erzeugten Spasmus, das heißt durch ein Erbrechen, zu beseitigen versuchen . Drittens wenden wir gewöhnlich verschiedene Gefäßinfarkte und Nervenschwächen nicht ohne reifliche Überlegung ab . So werden Abkühlungen und daraus entstehende verschiedene Arten von Krankheiten, die Gruppe der Fieber, sowohl der intermittierenden wie der eitrigen und schleichenden, Leibschmerzen, Mattigkeit, verschleimendes Asthma, Infarkte der Milz und der inneren Drüsen,

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Lethargie, Lähmung und gewisse Arten der Apoplexie, [54] -11Manie und Melancholie, Epilepsie zahlreicher Formen, Schluckauf, Ergotismus [Raphanie], gewisse Arten von Tetanie, und von Hitzen verschiedene Ödeme, Arthritis, Erysipele, Erstickungen unterschiedlicher Art, Synkope und Ohnmacht nicht selten durch Erbrechen gelindert, wenn nicht gar vertrieben . So wie auch zuweilen Nieren- und Blasensteine mit Hilfe von Brechmitteln entfernt werden . Viertens, wenn unverdaute oder giftige Fremdkörper, die in den Rachen oder den Magen gelangt sind, ausgeworfen werden müssen, lösen Brechmittel meistens das Problem . Dies über orale Brechmittel im Allgemeinen vorausgeschickt, wollen wir nun zu dem kommen, was gewöhnlich das Erbrechen verbietet und was man Kontraindikationen nennt . Generell nehmen wir vom Erbrechen Abstand, jener im Allgemeinen nicht leichten Kontraktion des Körpers, wenn ein Übel durch andere leichtere Mittel beherrscht werden kann, wenngleich nicht schneller, so doch sicherer, als es durch Brechmittel auf gewaltsamere Weise zu geschehen pflegt . Die Säure, die sozusagen aus dem Verdauungstrakt herausquillt, die Säure heilen wir durch Adsorbierendes, die Gallenfieber durch pflanzliche Säuren, Steinleiden entweder durch Steinzertrümmerung oder Skalpell, gewisse Krämpfe durch Betäubungsmittel und so weiter . Wir nehmen ferner von Brechmitteln Abstand, wenn Erbrechen ein schwerwiegenderes Übel herbeizuführen droht als das, welches wir durch Brechmittel zu bekämpfen -12versuchen . Eine allzu große Reizbarkeit der Nerven wird beim hysterischen Spontanerbrechen und dem, das beim Gichtanfall und der Arthritis vorherrscht, beobachtet; eine Blutfülle, eine rein entzündliche Krankheit, verschiedene Arten von eitrigen Schwellungen, Stuhlverhalt, Darmverschlingung, inkarzerierte Hernie, Furcht vor blutigem Auswurf, eine übermäßige Schwächung und eine dem Abort und Blutungen unterworfene Schwangerschaft, das ist es, was gemeinhin das Erbrechen zu hindern scheint . Die Schwangerschaft aber und das Kindbett, soweit sie das Erbrechen verbieten können, müssen jetzt etwas ausführlicher erläutert werden . Schwangerschaft und Kindbett haben an und für sich nichts an sich, was ein mildes Erbrechen, auf gebührende Weise und zur rechten Zeit hervorgerufen, hindern könnte, und einen Feten in der Gebärmutter zu tragen und geboren zu haben, ist kein krankhafter Zustand . Der Uterus und die Adnexe einer Frau, die bei guter Gesundheit ist, sind so kräftig, dass sie weder durch eine äußere noch innere mäßig einwirkende Kraft oder Erschütterung Schaden nehmen, das heißt, auf irgendeine Weise einen Abort oder eine gefährliche Hämorrhagie erleiden können . Die Substanz der Gebärmutter ist nämlich so fest und zur Zeit der Schwangerschaft so dick und elastisch, dass sie jeder beliebigen Ursache, die mäßig dagegen andrängt, je nachdem, Widerstand leistet oder nachgibt, und die feste Konsistenz des Muttermundes stützt die ganze Masse und hält sie zusammen,

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vor der Geburt mit fast unüberwindlicher Kraft . Darüber hinaus ist die Gebärmutter an kräftigen Bändern aufgehängt, die ihr in ihrer Position einen guten Schutz bieten . Man darf auch nicht vergessen, dass die Beckenknochen, auf denen der Uterus im Verlauf der Schwangerschaft [55] -13in unterschiedlicher Weise aufsitzt, eine Stütze liefern . Außerdem darf man die aus Häuten zusammengesetzten Gewebe des menschlichen Eis, das heißt des Embryos, nicht außer Acht lassen, die den vorzeitig abgegangenen Fetus auf wunderbare Weise schützen, vor allem aufgrund der Natur der Flüssigkeit, die die innerste dieser Hüllen enthält, und in der der Fetus schwimmt, die Widerstand leistet und so gegen sie gerichtet auch den Feten vor einer hereindrängenden Kraft bewahrt, etwa dergestalt, wie die Kerne der Traube vom Fruchtmark eingebettet werden, ganz zu schweigen vom Schutz der Bauchdecken . Diese Schutzvorrichtungen nun sind vor der Geburt hinreichend geeignet, die Schwangere, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, vor einem Abort zu bewahren, auch wenn Erbrechen und andere heftigere Erschütterungen des Bauches hinzukommen, was man klar daraus ersehen kann, dass im Übrigen sonst kaum weder das uneheliche Kind einer Prostituierten das Licht der Welt erblicken würde noch generell irgendeine Frau keinen Abgang hätte, da man früher nicht selten aufgrund eines schädlichen Rates Erbrechen hervorzurufen pflegte, nahezu alle sonstigen Frauen aber zuweilen von Spontanerbrechen geplagt werden, zumal in den ersten Schwangerschaftsmonaten . Hinzu kommt, dass sich das Zwerchfell, das sich durch das Erbrechen kontrahiert, lediglich nach oben bewegt und auf die darunterliegenden Teile keine große Kraft ausübt . Es dürfte daher erlaubt sein, die Natur zu imitieren und, da es sanfter und wirksamer ist, als es spontan zu geschehen pflegt, Erbrechen einzuleiten, wenn die gravierendere Ursache des Leidens im Verdauungstrakt, insbesondere aber im Magen gelegen ist . Denn durch das Erbrechen kann man, was mir immer das Wichtigste war, -14manchmal den Grund des Leidens radikal beseitigen, das grundsätzlich einen Abgang herbeiführen und die Mutter zugleich einer konkreten Lebensgefahr aussetzen kann . Wenn wir nämlich glauben, etwas anderes bewirken zu müssen, als durch Erbrechen den Magen zu entlasten, so droht entweder eine Überfüllung oder ein Verderben des Gegessenen, wenn nicht gar der Tod der Mutter, somit die denkbar schlimmste Krankheit, oder wenn das Verschlucken eines scharfen Giftes eine unmittelbare Gefahr heraufbeschwört, wenn ein eitriges Fieber sich verschlimmert oder eine Verdauungsstörung, solange ihre Ursache hauptsächlich im Magen gelegen ist, ein schlimmes Schicksal verheißt . Es ist trotzdem, auch wenn offensichtlich ein Abgang zu befürchten ist, Erbrechen einzuleiten, damit die Mutter nicht gleichzeitig mit ihrem Nachwuchs zugrunde geht, indem man von zwei Übeln das kleinere wählt . Denn nichts anderes muss uns so sehr am Herzen gelegen sein, als die Mutter davor zu bewahren, an blutigem Auswurf,

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einem geplatzten Abszess oder einer verheerenden Uterusblutung zugrunde zu gehen, wenn sie diesen Übeln zusätzlich ausgesetzt war . In diesem Fall wählen wir also die sanfteren Mittel, die diesen vier Feinden, so gut es geht, ebenbürtig sind, Verdünnungs- und Abführmittel und Eiterhemmendes [Antiinfektiosa] . Gewisse Arten von Giften und das ärgste Stadium von Krankheiten, diejenigen, bei denen ich die Anwendung von Brechmitteln unbedingt vorgeschlagen habe, bekämpfen Brechmittel dergestalt, dass offensichtlich nichts ihre Anwendung verbieten kann . Dennoch erzeugen wir im Allgemeinen aufgrund von [56] -15Sicherheitserwägungen bei den übrigen Krankheiten kein Erbrechen, außer vielleicht in den früheren Schwangerschaftsmonaten oder wenn der Erreger einer schwerwiegenderen Krankheit im Magen sitzt, bei im Übrigen unbeeinträchtigter körperlicher Gesundheit . Wenn aber mehrere oder generelle Kontraindikationen gegen das Erbrechen gleichzeitig bestehen, die ich unten aufgeführt habe, oder spezielle, die, wie schon gesagt, die Schwangeren selbst vom Erbrechen abhalten sollen, so wählen wir bei den jeweils leichteren Krankheiten, die ich namentlich etwas weiter oben besprochen habe, auch jeweils leichtere Mittel, damit wir nicht offensichtlich durch ein Zuvieltun geschadet haben . Wenn im Gegensatz dazu mehrere generelle oder spezielle Kontraindikationen fehlen und es uns nicht erlaubt ist, bei jenen übrigen Leiden auf irgendeine andere Weise entweder etwas zu ändern oder zu nützen, dann schließlich greifen wir in jeder beliebigen Schwangerschaftsphase zu Brechmitteln, aber zu milderen, natürlich nur, wenn die Frau sonst in gesunder körperlicher Verfassung ist, keinen Abgang erlitten hat und erwiesenermaßen keinem Bluthusten oder einer Uterusblutung ausgesetzt ist . Wenn sie ferner an keinem Abszess oder einer inkarzerierten Hernie leidet und kein hysterisches Erbrechen oder eine Wassersucht und so weiter vorliegen . Irgendwann löst auch Würgen allein das Problem, und zwar auf eine sanftere, d . h . auch sicherere Weise als Brechmittel selbst . Würgen dieser Art wird durch ein oder zwei Gran [1 Gran48 = 0,06 g] Ipecacuana -16mit sechs bis zehn Gran Magnesia pro dosi hervorgerufen, mehrmals täglich wiederholt, dies mobilisiert Erreger, die im Magen sitzende und aufgewühlte Galle, und verjagt sie sozusagen durch einen Gegenreiz, nützt zuweilen und tritt schließlich in äußerst sicherer Weise an die Stelle des Erbrechens, wenn es der Fall erfordert .

48 Alle Gewichtsangaben für Sachsen nach Kahnt, Helmut; Knorr, Bernd: Alte Maße, Münzen und Gewichte . Mannheim u . a . 1987 .

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Für die Wöchnerinnen gilt aber eine etwas andere Überlegung . Die körperliche Schwäche nämlich, die aufgrund der Entleerung des Bauches und des Blutverlustes aus der Gebärmutter nach der Geburt zu befürchten ist, vor allem einer mühseligen und unnatürlichen Geburt, verlangt ein etwas vorsichtigeres Vorgehen und danach, dass wir Brechmittel nur bei zwingender Erfordernis verabfolgen, zumal unmittelbar nach der Geburt . Die bei Wöchnerinnen aber durch das Erbrechen zu befürchtende Gefahr wird dadurch erheblich begrenzt und gemildert, dass die Frau bei Kräften ist, dass es sich um eine natürliche und von schwerwiegenderen Symptomen freie Geburt handelte, dass einige Zeit nach der Geburt verstrichen ist, innerhalb derer sich die Gebärmutter auf ihr richtiges Volumen kontrahieren konnte und dass sonstige gesundheitliche Anzeichen dem nicht entgegenstehen . Man möge sich aber davor hüten, bei Fieberschauern während der Stillzeit [Kindbettfieber] ein Brechmittel zuzuführen . Es gibt auch gewisse Symptome während des Kindbetts, die [57] -17ein Erbrechen zu fordern scheinen, wie es die furchtbare und unheilvolle Synkope ist, durch die vor allem schwächliche hysterische Frauen irgendwann einmal nach der Geburt befallen werden . Dann nämlich, wenn Abreibungen, die Einflößung von herzstärkenden und die Lebensgeister weckenden Substanzen, der betäubende Geist des flüchtigen Ammoniaksalzes und Vitriol- oder Natronäther, wenn schließlich, falls es zur Blutfülle kommt, korrekt durchgeführte Aderlässe nichts nützen, dann muss ein Erbrechen eingeleitet und versucht werden, die Macht der Krankheit nach Kräften zu beeinflussen . Was der Grund dafür ist, dass das Kindbettfieber, das vor einigen Jahren epidemisch wurde, ziemlich viel durch leichtfertig gegebene Brechmittel forderte, wobei ein Aderlass voranging . Im Allgemeinen, wenn ein Erbrechen der Schwangeren oder Wöchnerinnen absolut indiziert ist und ein Blutstau, wenngleich nicht von maximaler Ausprägung, vorhanden zu sein scheint, ist der Körper durch einen Aderlass zu schützen, bevor auch nur ein leichtes Erbrechen hervorgerufen wird . Ich pflege aber Brechmittel etwa folgendermaßen zu verabreichen, dass ich drei oder vier Gran Brechweinstein, je nachdem, in vier Drachmen [1 Drachme = 3,65 g] Wasser auflöse und halbstündlich eine kleine Menge davon einzunehmen anordne, bei steigender Konzentration . Zunächst nämlich ordne ich an, z . B . 40 Tropfen dieser Lösung, dann 60, beim dritten Mal 100, beim vierten Mal 180 Tropfen in vier Unzen [1 Unze = 29,32 g] lauwarmes Wasser zu träufeln und zu schlucken, in der Absicht, dass die Medikation ausgesetzt wird, sobald der gewünschte Erfolg eintritt . Unter diesem gesetzmäßigen Vorgehen leite ich äußerst vorsichtig das Erbrechen ein; wenn eine frühere Dosis des Arzneimittels -18ausgereicht hat, dann muss eine weitere nicht genommen werden; wenn zwei oder drei frühere Portionen nicht reichen, dann bedarf es auch keiner dritten oder vierten . Auf diese Weise entsteht nämlich keine übermäßige Entleerung [Hyperkatharsis] und der Erfolg tritt mit größter Sicherheit ein . Die verdünnte Arznei regt die Magenwände gleichermaßen und mild zum Erbrechen an, nach einem Zeitintervall von einer halben Stunde lassen sich die Wirkungen des Medikaments beobachten und die

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Effekte abwarten, und die Dosis, die auf diese Weise nach und nach gesteigert wird, ruft das Erbrechen mit größter Zuverlässigkeit hervor, und der verdorbene Mageninhalt läuft nicht Gefahr, im unteren Verdauungstrakt zu zerfallen, und deshalb ruft er selten Durchfall hervor, und falls doch, dann nicht oft . Es wird nämlich der Stuhlgang durch Brechmittel mobilisiert, auf äußerst schmerzhafte und kolikartige Weise, wie die Erfahrung lehrt, und es erleichtert nur, wenn das Erbrechen ordnungsgemäß fortschreitet, d . h . natürlich, sofern es hier absolut indiziert ist . Die Zahlen in eckigen Klammern bezeichnen die handschriftliche Paginierung der Originalquelle, Erläuterungen stehen ebenfalls in eckigen Klammern Zeilen- und Seitenumbruch wurden beibehalten Die Durchstreichungen finden sich im Original Quelle Nr. 7 Wohlgebohrne! Hocherfahrne! Hochzuverehrende Herren! Ich habe die Ehre Ihnen die Ausarbeitung der mir aufgegebenen Thesen hiermit gehorsamst zu überreichen . Daß sie nicht kürzer werden konnte hinderte die Reichhaltigkeit der Materien und um sie nicht größer zu machen, befahl die Kostbarkeit Ihrer Zeit . Kömmt Ihnen die Sprache nicht fließend vor, so erinnern Sie sich, daß der Verfasser über 8 Jahre von den Studien entfernt, alle Volubilität verlor . Ist Ihnen aber, wie ich wünsche, die Durchlesung dieser Bögen nicht unangenehm, so bitte ich des Verfassers eingedenk zu seyn, der hier so wenig Gelegenheit hat, Gutes zu wirken, von Pfuschern umringt und vielleicht weniger Charlatan als er hier sein solte, ungeachtet bleibt, dessen Unterhalt größtentheils uneinträgliche Schriftstellerarbeit ist, und der sich ein besseres Amt, als das hiesige ist, sehnlich wünscht . Sie, die Väter der Gesundheit eines so ansehnlichen Theils von Sachsen, werden Gelegenheit finden, diese Bitte zu erhören, und mir eine bessere Versorgung vorzuschlagen . Indes, und um die mir bisjezt obliegende Pflicht zu beobachten, muß ich in Betracht des hiesigen Medizinalwesens Meldung thun Daß, so nöthig auch hiesigen Orts eine Apotheke ist, dennoch, der hiesige privilegirte Apotheker Peters49, schon seit verschiedenen Jahren, dergestalt heruntergekommen ist, daß sein Kram für keinen Schein einer Apotheke zu achten .

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Lebensdaten konnten nicht ermittelt werden .

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Sobald ich im vorigen Jahre hier ankam, so überzeugte ich mich gar bald von der Untauglichkeit seiner Apotheke, indem ich zu verschiedenen Zeiten Peruanischen Balsam, Kampfer u . s . w . verlangte, aber nicht erhielt . Gefärbter Brantwein und verlegnes Rhabarberpulver ist schier das einzige, womit er handelt, und dies giebt nicht er, sondern sein Knabe aus, er weist zugl . den Holzhandel, den einzigen Zweig seiner Nahrung . Dieser höchst notorische Zustand seiner Apotheke, denn man sucht bei mir Walrath, Mandeloel, Manna, gute Rhabarber u . s . w ., da man bei ihm durchaus nichts bekommen kann, dieser höchst bekante Verfall seiner Apotheke, sage ich, und der fürchterlich hämische Charakter des gesunkenen Besizzers, lassen mich die Bitte an Ew . Wohlgeboren thun, mich von der legalen und persönlichen Visitazion derselben womöglich zu dispensieren . Nicht als ob ich nicht in einigen Minuten mit dem ganzen Besuche fertig seyn sollte, sondern um mich nicht der Rache eines so bösen und verzweifelten Mannes blos zu stellen, der seine etwaige Deplacirung mir zur Last legen mögte . Fände es aber Ew . Wohlgeboren dennoch für gut und wollten mich nicht von der persönlichen Visitazion dispensieren, so bitte ich nur, „Mir ausdrüklichen Befehl dazu zu überschicken“, um mich desto sicherer damit befassen zu können . Die Dispensazion von meinem persönlichen Tentamen u die Kostenminderung erkenne ich mit lebhaftestem Dank . Ich bin mit der vorzüglichsten Hochachtung und unausgeseztem Respekt Wohlgeborne Hocherfahrne Hochzuverehrende Herren Dero Gommern, dt . 15 . Januar 1784 .

gehorsamster Diener D . Sam . Hahneman Amtsphysikus

Quelle Nr. 8 S . M . [Seine Majestät]50 Heute ist endlich Herrn D Hahnemans Legitimation eingelaufen, welche ich die Ehre habe hiermit zu communiciren . Auf den Brief will ich sogleich antworten und dem Herrn Doctor den Admissionsschein zuschicken, wozu

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Kurfürst Friedrich August III ., ab 1806 König Friedrich August I . von Sachsen .

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ich mir aber ein Formular ausbitte . Übrigens will ich diesen guten Mann wegen seiner angebrachten Beschwerden so viel ich kann, trösten . An Gelde schicke Denenselben hierbey 5 . rt . 8 . gl . nehml . 3 . rt . 8 . gl . pro rata von Herrn D Hahnemann . 2 . rt . für ein Examen welches ich heute mit dem Herzberger Apotheker Herrn Roesler51 privatim angestellet, und ihn bereits expediert habe . Bey einem meiner Hochgeehrtesten Herren Collegen muß sich noch die Antwort vom Herzzberger Rathe befinden welche ich auch mir gehorsamst wieder ausbitte . D Nürnberger P . P . [praemissis praemittendis] Das Geld habe erhalten . H D . Hahneman erhält nunmehr den Admissions=Schein . Formular hierzu findet sich in den Acten Dahme oder Guterberger betreffend; welche sich aber auch anhier befinden . Die Antwort vom Herzberger Rathe habe ich nicht . D Böhmer Die Antwort vom Herzb . Rath ist unversehens bei mir liegen geblieben . Hin folgl hir . Das Geld habe ich erhalten Zu gleich übersendereiche ich hiermit das Stück Acten, wo das Physicatsadmissionsscheinformular drinnen befindlich D Leonhardi . Demnach der bey dem Churfürstl . Sächsl . Amte Gommern designirte Physicus Herr D . Samuel Hahnemann dem gnädigsten Generali d . d . 13 . Septembr . 1768 zufolge nicht nur seiner zu Erlangen erfolgten Promotion halber sich vor unserer Facultaet gehörig legitimiert, sondern auch die Ihm aufgegebenen Specimina gelehrt und gründlich elaboriert einfolglich von seinem in der theoretischen sowohl als praktischen Arzneiwissenschaft verlangten gründlichen Prüfungen auch sonst die gewöhnlichen praestanda praestiert hat sattsame Proben abgeleget, also wird in deßen zum AmtsPhysicate vorzunehmende Verpflichtung hiermit gewilligt und ist Ihm hierüber gegenwärtiger AdmissionsSchein ausgestellet worden .

51 Es handelt sich um Christian Heinrich Rösler (Lebensdaten unbekannt), dessen Sohn Medizin studierte und 1808 in Leipzig promoviert wurde .

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Urkundlich mit unserer Facultaet [Siegel {überschrieben mit Decanus}] besiegelt . So geschehen zu Wittenberg . d . 16 . Jan . 1784 L . S .

[Locus sigillae]

D . Xst . [Christian] Friedr . Nurnberger . p . t . [pleno titulo] Facult . med . Decanus

Decanus, Senior auch übrige Doctores und Assessores der medicinischen Facultaet bey der Universitaet .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen HANS-MICHAEL BERENWENGER / PIERRE PFÜTSCH Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 139–179

Emil Berenwenger (1868–1945) and the tropical healing forces Abstract: Emil Berenwenger can be considered a typical representative of naturopathy in the early

twentieth century . The son of a merchant, he initially considered a business career, but in his early youth – a period that decisively impacted his entire life – he came across the diverse manifestations of the Life Reform Movement . During a sojourn in Adolf Just’s “Jungborn” (fountain of youth), he not only engaged with naturism and vegetarianism, but also established contacts, for instance with August Engelhardt, that were to be important for his later life . Berenwenger went on to found his own naturopathic institute in Charlottenburg near Berlin and developed his own therapy based on the administration of tropical plant substances . This essay gives an outline of Berenwenger’s life and aligns his work within the naturopathic movement in Germany in the early twentieth century .

Einleitung

Emil Berenwenger war ein vielseitig interessierter Mensch, insbesondere die Musik und die Medizin prägten sein Leben . Seine Ansichten, Entdeckungen und Leistungen faszinierten die ganze Familie . Der Enkel, Hans-Michael Berenwenger, hat durch jahrzehntelange, mühsame Forschungsarbeit das Leben Emils in weiten Teilen rekonstruiert . Neben den teilweise recht abenteuerlich klingenden Erzählungen zu seinem Großvater animierte ihn v . a . sein Vater, Paul Berenwenger, dazu, sich anhand der überlieferten Unterlagen ein eigenes Bild von Emils geistiger Hinterlassenschaft zu verschaffen . Dabei stand die eigene Lebens- und Ausbildungsplanung zunächst jedoch im Vordergrund des Interesses von Hans-Michael Berenwenger . Dennoch verlor er die „Holzkiste“ mit den über den Krieg hinweg geretteten Briefen und Aufzeichnungen Emils nicht aus den Augen . Die latent bestehende Neugierde, konkrete Hinweise

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auf die Leistungen des Großvaters zu finden, stieß dabei zunächst auf die Schwierigkeit, die verschiedenen Handschriften und Stenographien nicht oder nur mühsam entziffern zu können . Erst die systematische Erarbeitung der Texte machte es möglich, Zusammenhänge zu erkennen . Gleichzeitig erfolgte eine zeitliche Zuordnung und es wurde damit begonnen, Zeitzeugen zu ermitteln, um ein möglichst objektives Bild über das Leben Emil Berenwengers zu bekommen . Mit fachkundiger Unterstützung des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung konnten die umfangreichen Aufzeichnungen Hans-Michael Berenwengers geordnet und in einen medizinhistorisch relevanten Kontext gebracht werden .1 Das Material ist jedoch so umfangreich, dass sich weitergehende Forschungen lohnen würden .2 Über die Geschichte der Naturheilkunde im 19 . und 20 . Jahrhundert in Deutschland ist bereits viel geforscht und geschrieben worden .3 Dabei standen aber zumeist die großen und bekannten Vertreter ihrer Zeit, wie Friedrich Eduard Bilz4, Vincenz Prießnitz5 oder Sebastian Anton Kneipp6, im Mittelpunkt des Interesses . Die Naturheilkunde hatte jedoch um die Jahrhundertwende solche Ausmaße erreicht, dass sie längst nicht mehr nur von den großen Namen getragen wurde – sie war zu einer regelrechten Bewegung geworden .7 Zeitgenössisch wurde von Seiten der etablierten Mediziner von einer „Durchseuchung des Volkes“ mit naturheilkundlichen Ideen gesprochen .8 Wenn man die agitatorische Absicht der Aussage außen vorlässt, ist ihr Kern dennoch richtig . Die Naturheilkunde hatte zwischenzeitlich alle Lebensbereiche erfasst . Als Behandlungsmethode wurde sie ausgehend vom gutsituierten Bürgertum von immer mehr gesellschaftlichen und sozialen Kreisen in Anspruch genommen . So ließen sich überall auch weniger bekannte Laienheiler nieder und entwickelten ihre ganz eigenen Heilverfahren . Emil Berenwenger kann als ein solcher gelten . Er entstammte keiner Arztfamilie, interessierte sich aber dennoch früh für Medizin . Allerdings hatte er mit der Musik noch ein weiteres Steckenpferd . Sein Leben hätte also durchaus auch in einer künstlerischen Richtung verlaufen können . Es waren wohl persönliche Begegnungen mit Vertretern der Naturheilkunde in einer Phase seines Lebens, in der er ohnehin auf der Suche nach dem rechten Lebensweg war, die ihn beeinflussten und aufs tiefste prägten . Berenwenger studierte jedoch nie Medizin, er hörte lediglich einige medizinische Vorlesungen an der Universität Leipzig und bildete sich durch Lektüre und

Wir danken Florian Mildenberger für Vorarbeiten und Literaturhinweise . Dafür können die Unterlagen und Aufzeichnungen auf Anfrage im Privatarchiv von Hans-Michael Berenwenger eingesehen werden . 3 Grundlegend Regin (1995), Jütte (1996), Dinges (1996) sowie Heyll (2006), Mildenberger (2012) und Mildenberger (2018) . 4 Vgl . Helfricht (2012) . 5 Vgl . Helfricht (2006) . 6 Vgl . Ortner (1994) . 7 Zu einer Nebenfigur beispielsweise Faltin (1996) . 8 Reissig (1902), zit . n . Regin (1996), S . 39 . 1 2

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

Vorträge fort . Daher muss er als Laienheiler gelten . Für solche Laienheiler in der Naturheilkunde setzte sich der Begriff „Naturheilkundiger“ durch .9 Ziel des folgenden Beitrages ist es, Berenwengers Lebensweg als Naturheilkundiger nachzuvollziehen, sich seinem tropenheilkundlichen Behandlungsverfahren anzunähern und dies im Spannungsfeld verschiedener medizinischer Richtungen zu beleuchten . Als Quellen dazu dienen in erster Linie Briefe, Patientenberichte und autobiographische Schriften Berenwengers, die er am Ende seines Lebens verfasst hat . Den Autoren ist bewusst, dass diese Auswahl nur eine sehr eingeschränkte Sicht auf Berenwengers Leben zulässt . Daher sind, wo immer möglich, andere korrespondierende Quellen als mögliches Korrektiv herangezogen worden . Herkunft, Geburt und Ausbildung

Emil Berenwenger wurde am 2 . April 1868 in Gütersloh geboren . Nur gut zwei Wochen später wurde er auf den Namen Heinrich Emil Robert getauft . Sein Vater, Wilhelm Bärenfänger (1841–1897)10, war Architekt und verdiente sein Geld in den unterschiedlichsten Bereichen: als Zechenführer im Bergwerk, als Vermessungsingenieur oder als Aufsichtsratsmitglied der Spar- und Leihbank Gütersloh . Darüber hinaus war er Betriebsleiter und Prokurist der Gruben- und Bauholzfirma Ludwig Ruhenstroth . Dass er jedoch mit Geld nicht unbedingt gut umgehen konnte, lässt sich daran ersehen, dass er sich mit Bergwerkspapieren verspekulierte und dabei so viel Kapital verlor, dass Emil nach seiner Schulzeit auf dem elterlichen Grundstück Kohle verkaufen und seinem Vater bei der Arbeit in der Verwaltung einer Krankenkasse helfen musste . Der schwierige Umgang mit Geld scheint in der Familie gelegen zu haben, denn auch Emils Großvater, David Wilhelm Bärenfänger (1814–1858), „verlor […] durch Vernachlässigung seines Betriebes den größten Teil seines Vermögens“ .11 Der Vater galt bei Emil als streng und wurde von ihm selbst rückblickend als „eigenartig“12 bezeichnet . Eine bessere Beziehung pflegte Emil zu seiner Mutter . Helene Dopp, am 27 . Februar 1838 in Neuss geboren, wechselte aus Liebe zu ihrem Mann vom katholischen zum evangelischen Glauben . Emil war der Meinung, dass er von seinem Vater die westfälische Durchsetzungskraft und von seiner Mutter die rheinische Frohnatur geerbt habe .13

9 Vgl . Regin (1993), S . 179 . 10 Soweit es sich aus den Briefen entnehmen ließ, hat Emil zumindest zwischen ca . 1897 und 1917 versucht,

eine Schreibweise des Familiennamens zu finden, die seinem ästhetischen Sinn entsprach . Ausgehend vom ursprünglichen Namen Bärenfänger veränderte sich die Schreibweise zu Berenfenger, Behrenwenger und endgültig zu Berenwenger . Bereits 1902 erhielt Emil Briefe mit der späteren endgültigen Schreibweise . 11 HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Jugendzeit, 1944 . 12 HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Jugendzeit, 1944 . 13 Vgl . HMB, Paul Berenwenger Biographieentwurf, S . 4 .

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Seine früheste Kindheit verlebte Emil unter einfachen Verhältnissen, bevor seine Familie 1878 ein eigenes Haus bezog . Ebenso wie sein älterer Bruder Otto (1865–1933) besuchte er das 1851 entstandene evangelische Privatgymnasium in Gütersloh . Emil galt als guter Schüler, insbesondere in den Fächern Geographie und Naturwissenschaft hatte er sehr gute Noten .14 Dabei zeichnete er besonders gern Karten, auch für die Südseeregion interessierte er sich zu dieser Zeit bereits . Im Alter von 15 Jahren wurde er konfirmiert . Religion sollte für ihn immer ein wichtiger Bestandteil seines Lebens bleiben . Bereits in seiner Schulzeit soll er mit Schülern aus „tropischen Regionen“15 zusammengetroffen sein . Sowohl Emil als auch Otto wurden in den Chroniken der Schule nicht offiziell als Abiturienten aufgeführt, was dafür spricht, dass beide sie mit dem „Einjährigen“ – das entsprach der mittleren Reife – verließen . Bereits in seiner Schul- und Jugendzeit kam Emil Berenwenger mit den Themen, die sein späteres Leben prägen sollten, in Kontakt . In seinen späteren Ausführungen wies er z . B . besonders darauf hin, dass er von seinem Vater im Alter von zehn Jahren zu Weihnachten die Bücher der beiden Afrikaforscher Henry Morton Stanley und David Livingstone erhalten hatte .16 Die Schriften hätten sein Interesse an der Medizin geweckt . In seiner Schulzeit legte er 1882/83, wie in dieser Zeit allgemein üblich, ein Herbarium an . Während der Bauholzeinkäufe seines Vaters für die Firma Ludwig Ruhenstroth beschäftigte er sich im Wald mit dem Auffinden von Tieren und Pflanzen . Berenwenger erwähnte später außerdem, im Alter von 15 Jahren (1883) an Diphtherie erkrankte Kinder behandelt zu haben, die von den Ärzten bereits aufgegeben worden waren .17 Er hätte in der Jugendzeit öfter selbst unter „Diphtheritis“ gelitten . Allerdings fanden sich keine Hinweise, woher er die Kenntnisse bezogen haben will, wie und womit die Behandlungen durchzuführen seien – wenn dem überhaupt so war . Denn es darf als höchst unwahrscheinlich gelten, dass ein 15-Jähriger ohne medizinische Kenntnisse Behandlungen an Kindern durchführte, die Ärzte bereits aufgegeben hatten . An dieser Stelle zeigt sich deutlich der notwendige quellenkritische Umgang mit Berenwengers schriftlichem Nachlass . Die Aufzeichnungen entstanden am Ende seines Lebens und dienten dazu, seinen Taten und Handlungen einen gewissen Sinn im größeren Kontext seines Lebens zu verleihen . Ein zentrales Motiv wird auch die Selbststilisierung gewesen sein, wozu die Episode über die Behandlung an Diphtherie erkrankter Kinder sicherlich beitrug . Des Weiteren entstanden die Aufzeichnungen in einem großen zeitlichen Abstand zu den tatsächlichen Ereignissen . In der Zwischenzeit wurden die Erlebnisse sicher oftmals ins Gedächtnis zurückgerufen, mit neuen Erfahrungen angereichert, umgedeutet etc ., so dass die rückblickende Erzählung nicht mehr zwangsläufig mit dem tatsächlichen Erlebnis übereinstimmen muss, es aber 14 15 16 17

Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Schule, 1944 . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Ausbildung, 1944 . Dabei könnte es sich beispielsweise um Stanley (1878) und Livingstone (1858) gehandelt haben . Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Ausbildung, 1944 .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

durchaus kann . Das ist ein ganz normaler Vorgang menschlicher Erinnerungskultur und wird zwischenzeitlich von einer ganzen Wissenschaftsdisziplin  – den Memory Studies – erforscht .18 Nach dem Abgang von der Schule wollte Berenwenger einen einjährigen Militärdienst ableisten . Bei der Musterung wurde allerdings festgestellt, dass sein Brustumfang nach der damaligen Anforderung wenige Zentimeter zu gering war . Welchen Grund er hatte, sich in der Kaiserzeit freiwillig zu einem einjährigen Militärdienst, der im Regelfall auch noch auf eigene Kosten bestritten werden musste, zu melden, ist nicht bekannt . Vielleicht wollte er sich dadurch nur die Möglichkeit verschaffen, gesellschaftliches Renommee zu erlangen, oder er wollte damit belegen, dass er den Abschluss der mittleren Reife, das „Einjährige“, erreicht hatte, denn dies berechtigte zur Ableistung des einjährigen Militärdienstes . Der königliche Musikdirektor Karl Wilhelm Frese (1831–1903) hat später bedauert, dass Berenwenger nicht gedient hatte, da er ihn sonst für den Posten eines Armee-Musik-Inspizienten hätte vorschlagen wollen . Die Musik spielte neben der Medizin eine weitere wichtige Rolle im Leben Emil Berenwengers . Bereits mit vier Jahren erhielt er Klavierunterricht .19 Da er und sein Bruder Otto mit viel Verve dabeiblieben, besorgte ihnen ihr Vater sogar ein eigenes Klavier . In späteren Jahren ließ Emil sich auch an anderen Instrumenten ausbilden oder brachte sie sich im Selbststudium bei . Während seiner Schulzeit war er zeitweilig Dirigent des Gymnasialstreichorchesters .20 Später versuchte er sich als Musiklehrer in Detmold und Berlin . Berenwengers große Leidenschaften, das hatte sich inzwischen herauskristallisiert, galten der Musik und der Medizin . Seine Mutter hätte gewünscht, dass er zunächst, wie sein Bruder Otto, die Lehrerlaufbahn einschlägt . Auf Geheiß seines Vaters und um ihn zu unterstützen, übte Emil jedoch in den ersten Berufsjahren vorwiegend kaufmännische Tätigkeiten in Dortmund und in Gütersloh aus . 1891 verlobte er sich mit der gerade volljährig gewordenen Johanna21 Wulfhorst (1870–1945), welche er schließlich 1898 ehelichte . Vor allem die Schwiegereltern hatten bei ihrem künftigen Schwiegersohn zunächst Bedenken, da er über kein sicheres Einkommen verfügte, zeitweilig Musikunterricht erteilte und auch in gesundheitlicher Hinsicht nicht stabil war . Der Heirat vorausgegangen war 1897 der Tod seines Vaters und nur drei Monate später seiner Mutter . Damit musste er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen . Er beendete die kaufmännische Tätigkeit in der Krankenkasse und ging als privater Musiklehrer nach Detmold . Im Jahr 1900 immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig im

Zur Problematik rückblickender Erinnerung siehe Winter/Sivan (1999), S .  11–13, 15 f ., sowie Winter (2011), S . 219 f . 19 Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Jugendzeit, 1944 . 20 Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Jugendzeit, 1944 . 21 In der Taufeintragung steht der Vorname Johanna Catharina Luise, in der Ehe- und Sterbeurkunde Johanne Berenwenger . 18

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Fach „Cameralia“ . Berenwenger wählte wohl Leipzig als Studienort, weil er dort seine Kompositionen drucken lassen wollte und die Stadt als europäische Musikmetropole ersten Ranges galt . Offiziell belegte er mehrere als „publice“ angekündigte Vorlesungen, z . B . „Die Philosophie Kants“, „Geschichte der neueren Philosophie von Bacon bis Kant“ oder „Geschichte der Musik des 19 . Jahrhunderts“ . Nach seinen Markierungen in den Vorlesungsverzeichnissen und autobiographischen Ausführungen besuchte er in dieser Zeit vermutlich auch medizinische Vorlesungen: [A]uf der Universität zu Leipzig besuchte ich die Kollegs der Herren: Geheimrat Prof . Dr . Hennig [1825–1911] (privatissime Chirurgie) Geheimrat Prof . Dr . Zweifel [1848–1927] (privatissime Gynäkologie) (über 100 Fälle bei Prof . Zweifel einwandfrei diagnostiziert) Ferner die Kollegs der Herren: Geheimrat Prof . Dr . Schröter [1840–1930] (privat) Geheimrat Prof . Dr . Lange [1866-?] (privat) Freiherr Geheimrat Prof . Dr . von Lesser [1846–1925] (publice Kriegs-Chirurgie)22

Die Wahl der Universität Leipzig als Studienort war wohl auch deswegen gefällt worden, weil der Plan bestand, dort einen „Lehrstuhl für Naturheilkunde“ einzurichten . Sachsen galt als Hochburg der Naturheilbewegung, was u . a . mit der Gründung des „Zentralvereins für Naturheilkunde in Sachsen“ im Jahr 1872 zusammenhing . Der Verein wuchs stetig und firmierte ab 1888 unter „Deutscher Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise“ .23 Von diesem Verein gingen auch die Vorstöße zur Gründung eines naturheilkundlichen Lehrstuhls in Leipzig aus, was sogar bei den Ortskrankenkassen Unterstützung fand . Ziel war es, die Naturheilkunde der Schulmedizin24 gleichzustellen . Dies führte allerdings zu langen und heftigen Auseinandersetzungen mit den approbierten Medizinern und wurde letztlich nie umgesetzt .25

HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Ausbildung, 1944 . Vgl . Lienert (1996), S . 62 . Der Begriff „Schulmedizin“ entstand im 19 . Jahrhundert als Kampfbegriff von Kritikern der etablierten Medizin und wurde erstmals von Homöopathen verwendet . Anhänger bezeichneten sie eher als „naturwissenschaftliche Medizin“ . „Schulmedizin“ setzte sich allerdings schnell durch und fand um die Jahrhundertwende auch mehr und mehr Eingang in die Schriften der Befürworter . Ab diesem Zeitpunkt wurde der Begriff – und wird es bis heute – wertneutral verwendet . Vgl . Jütte (1996), S . 35 f . 25 Lienert (1996), S .  77 f . Weiterführend zur Institutionalisierung der Homöopathie an deutschen Universitäten Lucae (1998) . 22 23 24

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Abb. 1 Johanna Wulfhorst und Emil Berenwenger im Oktober 1896 (Quelle: HMB)

1902 wurde Johanna schwanger und Berenwenger entschied, für seine künftige Familie einen dauerhaften Wohnsitz einzurichten . Er mietete eine Wohnung in der damals noch selbständigen Stadt Charlottenburg westlich von Berlin . Die Hauptstadt des Deutschen Reichs war zu dieser Zeit nicht nur das Zentrum der deutschsprachigen wissenschaftlichen Medizin, sondern auch viele alternativ denkende Menschen versuchten, sich in Berlin zu verwirklichen .26 Im darauffolgenden Jahr wurde Sohn Paul geboren . Johanna war häufig mit Paul bei ihrer Familie in Gütersloh . Obwohl Berenwenger durch die getrennten Wohnungen nur zeitweise die Entwicklung seines Sohnes verfolgen konnte, gab er seiner Ehefrau umfangreiche schriftliche Anweisungen bezüglich der Ernährung und der körperlichen Ertüchtigung von Paul . Die Empfehlungen basierten offensichtlich auf seinen in den Jahren zuvor im „Jungborn“ (dazu später ausführlicher) bei den Gebrüdern Just, Pastor Felke (1856–1926), Carl Huter (1861–1912) und den Professoren in Leipzig gewonnenen Erkenntnissen: Für den kleinen Kerl sind Sonnenbäder sehr angebracht in der Weise, dass vorläufig der Kopf geschützt wird u . alle Seiten des Körpers den Sonnenstrahlen ca . 8 Min . (für jede Seite gerechnet) ausgesetzt werden; später darf die Zeit etwas ausgedehnt werden . Nach dem Sonnenbad darf eine kurze kühle Abwaschung in der Weise gemacht werden, dass man mit den flachen Händen ins Wasser taucht und dann schnell über den Rücken, Brust, Arm u . Beine streicht u . hinterher leicht abtupft .-27

Und zur Ernährung von Paul schrieb er: Du kannst jetzt Männe schon 1/3 Hafergrütze + 2/3 Milch und vom 6 . Monat an 1/2 Hafergrütze und 1/2 Milch zu trinken geben .

26 27

Zur Naturheilbewegung in Berlin siehe Mildenberger (2015) . HMB, Brief von Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom Sommer 1903 .

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Plätzchen oder Zwieback laß noch einstweilen beiseite . Der Saft von frischen Früchten (namentlich von Heidelbeeren u . späterhin von Äpfeln) ist unbedingt anzuraten . Darm u . Blase scheinen ja momentan gut zu arbeiten .28

Emil Berenwenger als Anhänger der Naturheilkunde

Noch vor dem Tod der Mutter begab Emil Berenwenger sich im April 1897 auf seine erste Rundreise durch den Harz, die ihn nach Blankenburg, Goslar, Halberstadt und Wernigerode führte . Mit dem Ausbau der Eisenbahn entwickelte sich der Harz zu einem beliebten Wander- und Erholungsgebiet für die Gütersloher Bevölkerung . Es ist gut möglich, dass Emil bereits zu diesem Zeitpunkt mit Naturheilkundigen zusammentraf . Nach dem Tod der Mutter und den Erb-Auseinandersetzungen mit seinem Bruder – es gab Uneinigkeiten über den Wert des Elternhauses29 – trat Emil Berenwenger im Juli 1897 eine Erholungskur in Borkum (Villa Pirola) an . Vielleicht hat er dort seine ersten Kontakte zu den Licht-Luftbädern bekommen, die zur Jahrhundertwende modern waren . Am 22 . Juni 1900 besuchte Berenwenger im Rathaussaal von Wiesbaden, wo er an den jährlichen Musikfesttagen teilnahm, den Vortrag Carl Huters, den er wahrscheinlich schon zuvor kennengelernt hatte, über „Suggestion, Hypnotismus, Magnetismus und die Heilkraft der Helioda“ . Huter machte eine Ausbildung als Porträtmaler, beschäftigte sich jedoch immer wieder mit Psychologie, Philosophie, Kunst- und Naturwissenschaften sowie Phrenologie . Er gilt als Begründer der Psycho-Physiognomik und hielt dazu Schulungen und Vorträge ab .30 Nach Aufforderung von Huter meldete sich Emil Berenwenger wegen seiner anhaltenden hochgradigen rechtsseitigen Zahnschmerzen als Versuchsobjekt, um dessen Fähigkeiten am eigenen Leib zu erfahren . Huter hielt nur einige Sekunden lang seine Hände oberhalb des Kopfes in kurzer Entfernung und strich dann ohne jede Berührung mit gestreckten Händen in der Längsrichtung des Körpers von oben nach unten . Nach wenigen Strichen verspürte Berenwenger eine strahlenartige Einwirkung, welche von den Fingerspitzen Huters ausging, und ein wohltuendes Ziehen und Prickeln . Nach acht Streichungen waren die Zahnschmerzen verschwunden .31 Berenwenger war von diesem Erfolg so beeindruckt, dass er seinen an Huter gerichteten Brief am 2 . Juli 1900 bei der Königlichen Polizei-Direktion Wiesbaden beglaubigen ließ . Unter Naturheilkundigen war es allgemeine Gepflogenheit, beglaubigte Erfolgsberichte von Patienten abzudrucken . Berenwengers Brief an Huter wurde erstmalig in der eigens von diesem herausgegebenen Zeitschrift Der 28 29 30 31

HMB, Brief von Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 25 .7 .1903 . Vgl . HMB, Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 15 .6 .1897 . Weiterführend zu Huter: Aerni (1986) . Vgl . Behrenwenger (1900), S . 36 .

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Hochwart im August 190032 veröffentlicht . Emil und Johanna belegten daraufhin die Kurse von Huter in Detmold . Carl Huter, der in Detmold eine Naturheilanstalt u . a . mit Kurbädern aufbaute, stand bereits einige Jahre mit August Bethmann (1864–1906), einem späteren „Sonnenbruder“, in Verbindung .33 Als ein Anhänger des Vegetarismus sah Bethmann die Kokosnuss als die „heilige Frucht“ an . Er bezeichnete sich ab 1896 selbst als Fruchtesser (Frugivor) . Angeblich radelte er täglich 130 km durch das Bergische Land . Ab ca . 1901 leitete er auch am Kurfürstendamm in Charlottenburg ein „Licht-Luft-SportBad“ („Deutscher Verein für intelligente Leibeszucht“) . Spätestens seit Sommer 1899 stand auch Emil mit Bethmann in brieflichem Kontakt . Vermutlich auf Anraten von Carl Huter oder August Bethmann begab sich Berenwenger im September 1899 zur Kur in den „Jungborn“, um zur innerlichen Ruhe zurückzufinden . Die Sehnsucht nach Ruhe galt vielen Zeitgenossen als wichtige Antriebsfeder im beginnenden „Zeitalter der Nervosität“ .34 Der „Jungborn“ wurde am 21 . Juni 1896 von Adolf Just (1859–1936) an der Nordseite des Harzes im Eckertal bei Stapelburg als „Heimstätte und Musteranstalt für reines Naturleben“ eröffnet . Just litt seit seiner Kindheit unter großer Nervosität und Kopfschmerzen . Da ihm die damaligen Medikamente nicht halfen, suchte er nach Wegen, sich selbst durch Kräfte der Natur zu helfen . Er befasste sich mit der Naturheilkunde und studierte das Leben der Naturvölker .35 In seinem Werk „Kehrt zur Natur zurück!“ beschrieb er das Verhältnis des Menschen zur Natur und die naturgemäße Lebensweise . Die Prinzipien basierten auf „Licht“, „Luft“, „Lehm“ und „Wasser“ .36 Dazu gehörten viel Bewegung (Wanderungen und Gymnastik) mit und ohne Bekleidung (Lichtlufthäuser), Wasseranwendungen (Sitzbäder) in unterschiedlichen Temperaturen mit und ohne Heilerdenbehandlung (Luvos-Heilerde – feingemahlene Lösserde) sowie gesunde fleischlose Ernährung, bestehend aus Obst und Nüssen aus eigener Erzeugung . Im „Jungborn“ lernte Berenwenger zudem August Engelhardt (1875–1919) kennen, der für seine spätere Auseinandersetzung mit tropischen Pflanzenstoffen von entscheidender Bedeutung werden sollte . Berenwenger schien von den Prämissen des Lebens im „Jungborn“ überzeugt . Es gelang ihm auch, die Familie seines Bruders Otto von der „justschen Lebensweise“ zu überzeugen, da dieser am 5 . September 1901 mitteilte: Die Kuren haben wir nun schon 10 Wochen nach Deiner Vorschrift durchgeführt und fühlten uns alle sehr wohl dabei . Besonders hatte sich das Leiden bei meiner lieben Frau zu unserer Freude so gut gebessert, dass ein Husten kaum noch zu merken und das Röcheln 32 33 34 35 36

Vgl . Behrenwenger (1900) . Vgl . Aerni (2017), S . 781 . Radkau (1998) . Ausführlicher zum „Jungborn“: Stolzenberg (1964) . Vgl . Just (1896) .

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in der Brust gänzlich verschwunden waren . Mit Eintritt der kühleren und feuchter gewordenen Witterung nun hat sich das Leiden, wenn auch nicht in so heftiger Weise wie früher, wieder eingestellt . Luftbäder, welche ihr sehr gut bekommen, kann sie nun wegen der kälteren Witterung nicht mehr nehmen . Sonnenbäder nur vereinzelt .37

Aus den erhaltenen Büchern und Schriften und den darin vorgenommenen Markierungen ließ sich schließen, dass sich Berenwenger auch nach seinem Aufenthalt im „Jungborn“ unter dem Einfluss von Adolf Just, August Bethmann und Carl Huter vor allem mit der zu dieser Zeit starken Zulauf findenden „Naturheilkunde“ in all ihren Varianten beschäftigte .38 Die Naturheilkunde entstand im ersten Drittel des 19 . Jahrhunderts v . a . als Abwehrreflex gegen die gebräuchliche „Giftmedizin“ der naturwissenschaftlichen Medizin .39 Sie bot den Patienten weniger gefährliche Alternativen, die sie dankbar annahmen .40 Der Begriff „Naturheilkunde“ wurde um 1850 vom Militärarzt Lorenz Gleich (1798–1865) geprägt .41 Die Lehre wurde – im Gegensatz zu anderen alternativmedizinischen Heilverfahren wie etwa der Homöopathie – nicht durch Ärzte, sondern durch medizinische Laien entwickelt und ausgebaut .42 Das geschah aber nicht bewusst, sondern eher aus der Not heraus, da sich kaum Ärzte für die Naturheilkunde interessierten . Ab den 1880er Jahren schossen Naturheilvereine im ganzen Reich wie Pilze aus dem Boden .43 Vereine waren im 19 . Jahrhundert eine neu aufkommende Möglichkeit, soziale, aber auch politische und gesellschaftliche Bedürfnisse auszudrücken und zu kanalisieren .44 Da die Ärzteschaft sich größtenteils nicht dafür interessierte, übernahm die Naturheilkundebewegung nach und nach einen großen Teil der gesundheitlichen Volksbelehrung .45 Sie wollte die naturwissenschaftliche Ärzteschaft

HMB, Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 5 .9 .1901 . Hervorhebungen im Original . Dazu gehörte auch Huters Buch „Die neueste Heilwissenschaft oder die psycho-physiologische Naturheilkunde“ . Eine Prachtausgabe schenkte er seinem Schwiegervater Heinrich Wulfhorst am 22 . Juli 1900 mit dem Vermerk „Dem lieben Vater zum Geburtstage“ . Besonderes Interesse brachte er dabei der Sexualkunde entgegen, u . a . las er die Schriften von Anna Fischer-Dückelmann . Dies könnte auch im Zusammenhang mit seiner damaligen persönlichen Familienplanung gestanden haben . Das bekannteste und erfolgreichste Nachschlagewerk seinerzeit, welches sich ebenfalls in Berenwengers Besitz befand, war das von Friedrich Eduard Bilz (1842–1922) herausgegebene Buch „Bilz – Das neue Naturheilverfahren“ . Bilz hatte in diesem mehrfach neu aufgelegten Buch alle ihm bekannten naturheilkundlichen Heilmethoden zusammengetragen . Er betrieb selbst in Radebeul bei Dresden mehrere Kureinrichtungen . 39 Vgl . Regin (1995), S . 24 . 40 Anschauliche Beispiele über die Gefährlichkeit der damaligen Medizin liefert Fitzharris (2017) . 41 Vgl . Rothschuh (1981), S . 185 ff . 42 Vgl . Regin (1995), S . 26 . 43 Vgl . Regin (1995), S . 37 . 44 Vgl . Dinges (1996), S . 13 . Zum Vereinswesen: Spitzer (2001) . Zu systematischen Aspekten des Gesundheitsvereinswesens: Walther (2017) . Zu Laienverbänden im Nationalsozialismus: Karrasch (1998) . 45 Vgl . Regin (1995), S . 35–40 . 37 38

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aber nicht grundlegend bekämpfen . Langfristiges Ziel war es, die Naturheilkunde mit ihren Ideen in die Schulmedizin zu integrieren .46 Die Naturheilbewegung lässt sich als ein Element der übergeordneten Lebensreformbewegung verstehen, die in kritischer Auseinandersetzung mit den Folgen der Industrialisierung entstand .47 Sie verklärte das Landleben und forderte die Wiederherstellung vorindustrieller Lebensweisen . Der Vegetarismus und die Nacktkultur, die beide auch von Berenwenger propagiert wurden, waren neben der Naturheilkunde weitere Ausprägungen der Lebensreform . Dass Berenwenger sich ihr ausgerechnet in der Adoleszenz zuwandte, ist sicher kein Zufall, galt die Lebensreform doch auch als eine typische Jugendbewegung .48 Den vermutlich in den Jahren 1901 bis 1904 angefertigten umfangreichen Studienaufzeichnungen (drei Kladden mit zusammen ca . 1 .400 Seiten, inkl . Listen erfolgreich behandelter Patienten) zu naturheilkundlichen Themen ist zu entnehmen, dass sich Berenwenger intensiv insbesondere mit verschiedenen Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge in seiner Zeit befasste, die nicht der Schulmedizin zuzurechnen waren . Auch das war ein typisches Merkmal der Naturheilkunde in jener Zeit: Sie setzte einen besonderen Fokus auf Vorbeugung .49 Bei den Medikamenten beschränkte er sich auf die den Naturheilkundlern erlaubten pflanzlichen und mineralischen Stoffe . Er bezog aber auch Ernährungsempfehlungen in seine Therapien mit ein . So stellte er z . B . Teerezepte für seine Patienten zusammen: Bei Fieber Schweißtreibendes Verfahren mit feuchten oder trockenen Schwitzpackungen Lindenblätter oder Fliederblätter 1 gehäufter Teelöffel wird mit einem 1/5 ltr . Wasser aufgebrüht, 6–8 Min . ziehen lassen, mit Zucker und Zitronensaft trinken möglichst heiß . Dieses Verfahren ist auch empfehlenswert bei frischen Erkältungen und Schnupfen, Husten, Gliederschmerzen und fehlendem oder geringen Fieber und kann bei chronischem-fieberhaftem Rheumatismus öfter wiederholt werden . Bei Husten (Luftröhren- und Bronchialkatarrh) Alaunwurzel Eibischwurzel Süßholzwurzel

10 g 10 g 10 g

Vgl . Regin (1993), S . 179 . Grundlegend zur Lebensreformbewegung: Fritzen (2006); Barlösius (1997); Bollmann (2017); Bartz (2015); Buchholz u . a . (2001) . 48 Weiterführend: Braun/Linzner/Khairi-Taraki (2019); Siegfried/Templin (2019) . 49 Vgl . Regin (1995), S . 28 . 46 47

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Königsberger (Blüten) Huflattich (Blätter) Spitzwegerich (Blätter) Lungenkraut Knöterich (Kraut) Island Moos Fenchel (Körner)

6g 6g 6g 6g 6g 6g 6g

1 Eßl . 1 große Tasse (1/5 ltr .) kochendes Wasser 8–10 Min . ziehen lassen mit Kandiszucker süßen . Tgl . 2–3 Tassen Nervenleiden: Baldrian (Wurzel) Engelwurz (Wurzel) Kamille (Blüte) Hopfen (Blüte, Zapfen) Rosmarin (Blätter) Kümmel (Früchte) Zu gleichen Teilen 1 Eßl ., in 1 Tasse (1/6 ltr .) kochendes Wasser 6–8 Min . ziehen lassen mit Zucker und Zitronensaft nehmen . Mehrmals tgl . 1 Tasse trinken50

In den Monaten Januar und September 1901 hielt sich Berenwenger jeweils für einige Wochen in Dresden auf, welches als Hochburg der Naturheilkunde und Homöopathie galt .51 Es ist davon auszugehen, dass er sich dabei auch mit den dortigen Vertretern der Naturheilkunde in Verbindung setzte und Erfahrungen sammelte . In Berenwengers Kladden finden sich zahlreiche Hinweise auf die Schriften von Heinrich Lahmann (1860–1905), der vor den Toren der Stadt Dresden im Ort „Weißer Hirsch“ bereits seit 1888 ein renommiertes Sanatorium betrieb .52 Sein Behandlungskonzept basierte auf gesunder Ernährung, Wasseranwendungen, Luftbädern, Bewegung in der freien Natur und Sport . Lahmann nannte dieses Konzept „Physiatrie“ . Die Sanatoriumsanlage hatte bis zu 400 Betten und bis zu 7 .400 Patienten im Jahr . Zu den bekanntesten Kurgästen zählten Maximilian Bircher-Benner (1867–1939), Thomas Mann (1875–1955), Franz Kafka (1883–1924) und Rainer Maria Rilke (1875–1926) . Besonderes Interesse brachte Berenwenger auch den diagnostischen und therapeutischen Methoden des Schweden Thure Brandt (1819–1895) entgegen . Brandt hatte als

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HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger Therapie Tee . Hervorhebungen im Original . Vgl . Lienert (2002), S . 157 . Genauer zu Lahmann: Böttger u . a . (2015); Lienert (2005); Lienert (2002), S . 33–64 .

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Major eine dreijährige Ausbildung am von Pehr Henrik Ling (1776–1839) gegründeten Königlich-gymnastischen Zentralinstitut in Stockholm absolviert, welches sich mit der Heilgymnastik auseinandersetzte .53 Er diagnostizierte durch innere und äußere Untersuchungen des weiblichen Unterleibs . Brandt führte in gleicher Weise Unterleibsmassagen durch, um gynäkologische Krankheiten zu heilen .54 Er beschränkte sich aber nicht nur auf Frauenkrankheiten, sondern wandte auch spezielle Massagen und Grifftechniken am ganzen Körper sowohl von Männern als auch Frauen an . Welche Behandlungsmethoden Berenwenger aus seinen vielfältigen Studien in sein eigenes Programm aufnahm, ließ sich nicht genau ermitteln . Vermutlich beschränkte er sich, soweit dies den Selbstauskünften und den Patientenbriefen zu entnehmen ist, neben den Licht-Luft-Sonnenbädern auf Wasseranwendungen, pflanzliche Packungen und „Heiltrünke“ . Aber auch Verhaltensempfehlungen und Anweisungen zu vegetarischer Ernährung gehörten dazu . Berenwenger war nach seinem Umzug nach Charlottenburg im Januar 1902 zunächst bei Mizislaus Schulz55 in der am Kurfürstendamm betriebenen Kurklinik für „chronische und unheilbare Krankheiten“ tätig . Doch schnell machte er sich selbständig und gründete mit dem „Kurinstitut des Westens – für chronische und unheilbare Leiden“ seine eigene Einrichtung . Damit befand er sich in illustrer Gesellschaft . Gesundheit wurde seit Ende des 18 . Jahrhunderts im bürgerlichen Tugendkanon ein immer wichtigerer Wert und die Oberschicht war bereit, dafür auch hohe Preise zu zahlen .56 Dieser Umstand machte für die Naturheilkundigen den Betrieb eines eigenen Behandlungsinstituts durchaus lukrativ .57 Berenwenger hatte sich offenbar einige Grundgedanken des „Jungborns“ zu eigen gemacht, da er sich im Juli 1903 für 36 Mark eine Luft- und Sonnenbadanlage kaufte .58 Auf einem zunächst noch unbebauten Grundstück in der Nähe seiner neuen Wohnung bot er Sonnenbäder an . Mit der zunehmenden Bebauung des Gebiets war das Grundstück nun wohl von außen einsehbar und die Sonnenbäder mussten daher wieder eingestellt werden . Um sich bei potentiellen Patienten bekannt zu machen, setzte Berenwenger unter der Firmierung „Kurinstitut des Westens“ in der damals üblichen Form Anzeigen in die Zeitungen .

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Zur Entstehung der Heilgymnastik in Schweden siehe Geraedts (2019), S . 13–15 . Zur Debatte über die Thure-Brandt-Massage in Deutschland vgl . Mildenberger (2008) . Über Mizislaus Schulz konnte nichts in Erfahrung gebracht werden . Vgl . Frevert (1984), S . 28–36 . Zu Zahlen über Laienheiler im Deutschen Reich siehe Faltin (1997), S . 88–90 . Vgl . HMB, Brief von Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 25 .7 .1903 .

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Abb. 2 Anzeige für das „Kurinstitut des Westens“ im Anzeiger für das Havelland vom 18.1.1903

Einer seiner ersten Patienten war Wilhelm Ising aus Krombach bei Siegen . Berenwenger hatte die angehenden Maschinenbauingenieure Wilhelm und Fritz Ising 1899 während seines Kuraufenthaltes im „Jungborn“ kennengelernt . Mit Beginn der naturheilkundlichen Praxistätigkeit im Herbst 1902 wandte sich Wilhelm Ising wegen multipler Beschwerden, die offenbar auf einer nervlichen Grundproblematik beruhten, an Berenwenger und bat ihn um Hilfe . Die Behandlung erfolgte mit Bädern, Badetinkturen, Tees und von Emil zusammengestellten „Heiltrünken“ . Die mehrere Wochen dauernde Kur brachte Verbesserungen des Schlafs, der Konzentrationsfähigkeit, der Darmprobleme und des Hautausschlags sowie ein Nachlassen der Kopfschmerzen . Vor Belastungen wie Prüfungen und Praktika ließ sich Ising immer wieder den von ihm so geschätzten „Kaisertrunk“ schicken .59 Auch sein Bruder Fritz Ising ließ sich daraufhin von Berenwenger erfolgreich behandeln . Ein Dankesschreiben von ihm wurde in Ewald Paul’s Zeitschrift für Hygiene, dem Publikationsorgan des Deutsch-Italienischen Hygiene-Instituts, abgedruckt . Dieses Institut verlieh Berenwenger aufgrund seines eingesandten Informationsmaterials und der wissenschaftlichen Arbeiten 1912 das Ehrendiplom und ernannte ihn zum Ehrenmitglied .60 Vor Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 wurde Emil auch der „Dr . der Physiatrie“ verliehen . Da Italien 1915 in den Krieg gegen Österreich und Deutschland eintrat, erklärte Berenwenger später, dass er den Doktortitel zu diesem Zeitpunkt wieder zurückgegeben hätte . Allerdings ließ er es dennoch zu, dass er von seinen Patienten mit „Doktor“ angesprochen wurde .

59 60

Vgl . HMB, Brief von Wilhelm Ising an Emil Berenwenger vom 2 .4 .1904 . Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Medizin, 1944 .

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Abb. 3 Berenwengers Visitenkarte „Dr. der Physiatrie“ (Quelle: HMB)

Spätestens ab 1904 kam Emil Berenwenger mit der Anthroposophie in Kontakt und blieb ihr über Jahrzehnte verbunden . Gemeinsam mit seiner Frau besuchte er Vorträge von Rudolf Steiner in Berlin und erwarb viele seiner Schriften . Später wurde er auch Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft . Gemeinsam nahmen sie an Tagungen in Dornach bei Basel teil .61 Auch Verwandte ließen sich von Emil Berenwenger behandeln . Mit seinem Bruder Otto, der ebenfalls gegenüber der etablierten Medizin kritisch eingestellt war, tauschte er sich in zahlreichen Briefen über gesunde Lebensweise und Ernährung aus . Otto empfahl ihm z . B . die Lektüre des Buches „Der Materialismus in der Medizin“ .62 Der Bruder war aber auch gegenüber Emils Fähigkeiten durchaus kritisch eingestellt .63 Erst nachdem er sich durch Patientenbefragungen von dessen Behandlungsmethoden überzeugt hatte, schickte er seine Frau Alwine, seinen Sohn Siegfried und seinen Schwager Denninghoff in die Behandlung von Emil .64 Auch Otto selbst wurde 1933 kurz vor seinem Tod noch von seinem Bruder behandelt .65 In den drei Wochen der Therapie konnte Emil allerdings kaum noch etwas für Otto tun, so dass dieser am 25 . August in Detmold – vermutlich infolge einer Krebserkrankung – verstarb . Die zunehmende Zahl von Naturheilern und die Bildung von Kurinstituten in der Kaiserzeit66 führten dazu, dass die approbierten Mediziner die Naturheilkundigen Vgl . HMB, Steiner: Dornach Korrespondenz ab 1927 . Kleinschrod (1908) . Vgl . HMB, Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 3 .12 .1909 . Vgl . HMB, Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 3 .12 .1909 . Vgl . HMB, Brief von Otto Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 19 .6 .1933 . Nach Auskunft des Heimatarchivs Berlin-Charlottenburg hatte der damals eigenständige Ort Anfang des 20 . Jahrhunderts die meisten privaten Krankenanstalten auf dem Gebiet des heutigen Berlin . 61 62 63 64 65 66

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im Hinblick auf die wachsende Konkurrenz mit dem Vorwurf der Kurpfuscherei bekämpften . Die Zeiten änderten sich schnell . 30 Jahre vorher wurden die Anhänger der Naturheilkunde noch belächelt . Um die Jahrhundertwende nahm man sie aber bereits als Bedrohung der eigenen Stellung wahr . Daher führten die Gegner der Naturheilkunde schwere Geschütze auf . Im Jahr 1903 wurde in Berlin die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums“ gegründet, „die mit einem volkstümlich gehaltenen Periodikum, Vortragsveranstaltungen und Kurpfuscherei-Ausstellungen das Publikum von Besuchen bei einem Laienpraktiker abzuhalten versuchte“ .67 Der Begriff „Kurpfuscher“ löste ab den 1880er Jahren andere ärztliche Kampfbegriffe wie „Medizinalpfuscher“ oder „Quacksalber“ ab . Die Mediziner nutzten fortan „Kurpfuscher“ als Sammelbegriff für alle Personen, die andere behandelten, ohne approbiert zu sein .68 Nach Ansicht der Ärzte waren Kurpfuscher „Schädiger der Volksgesundheit, […] denen nur noch mit polizeilichen Mitteln, zumindest mit strenger Kontrolle, am besten mit Verbot und effizienter Unterdrückung beizukommen ist“ .69 Daher wurde nunmehr auch auf dem Rechtsweg versucht, der Naturheilkunde den Kampf anzusagen . So kam es zu immer mehr Anklagen gegen Naturheiler . Der „Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ bewertete dieses Vorgehen 1914 folgendermaßen: Wer diese Prozesse verfolgt hat, in denen oft die Aerzte, die den Kranken behandelt haben, zugleich als Sachverständige gegen den angeklagten Naturheilkundigen auftraten, kann sich dem Eindruck kaum entziehen, daß es sich um ein systematisches Kesseltreiben handelt . Es scheint so, als ob nur auf die Gelegenheit gewartet wird, um Heilkundige auf die Anklagebank zu bringen und sie dann unter dem Aufgebot eines großen Zeugen- und Sachverständigenapparates bestrafen zu lassen . Man hofft wohl, auf diese Weise nach und nach eine bessere Statistik der Bestrafungen zu gewinnen, um sie als Unterlage für neu zu erlangende Erdrosselungsgesetze benutzen zu können .70

In diesem Zusammenhang steht der 1903 gestellte Strafantrag der Ärztekammer Berlin beim Landgericht I gegen den Naturheilkundigen Mizislaus Schulz und den Privatgelehrten Emil Berenwenger wegen unlauteren Wettbewerbs . Vermutlich bezog sich der Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs auf die in Zeitungsanzeigen versprochene Erfolgsgarantie bei Krankheiten wie Krebs, Asthma, Herz-, Leber- und Nervenleiden, schwerste Gicht etc . In der Berufungsverhandlung wurde Schulz zu 400 Mark Geldstrafe oder 40 Tagen Gefängnis und Emil Berenwenger zu 200 Mark oder 20 Tagen

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Regin (1996), S . 51; darüber hinaus Mildenberger (2011), S . 21–28 . Vgl . Jütte (1996), S . 38 f . Spree (1989), S . 111 . Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise (1914), S . 50 .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

Gefängnis verurteilt .71 Berenwenger identifizierte sich allerdings nicht mit der marktschreierischen Methode, wie er im Prozess aussagte . Er habe von der Anzeige nichts gewusst . In dieser Zeit erschienen in der Tagespresse häufig Annoncen, in denen Händler von Naturheilprodukten und Naturheilkundige die erfolgreichen Behandlungen und die Namen der geheilten Patienten mit voller Adresse als Referenz anführten . Auf solche Maßnahmen waren sie auch angewiesen, denn als nicht approbierte Naturheilkundige waren sie von der Behandlung von Patienten der Krankenkassen ausgeschlossen . Ihre Einkünfte basierten damit auf der Gewerbeordnung von 1871 und unterlagen der Umsatzsteuer . Auch diese Möglichkeit der Ausübung als Gewerbe war noch relativ neu . Erst 1869 führte man im Norddeutschen Bund, 1871 dann im Deutschen Reich eine Gewerbeordnung ein, die de facto die Kurierfreiheit zur Folge hatte . Vorher war die Ausübung des Heilgewerbes an einen Befähigungsnachweis, wie die Approbation, gebunden gewesen . Von nun an war es erlaubt, auch ohne Ausbildung oder Approbation Personen gegen Entgelt zu behandeln .72 Das machte es v . a . für Naturheilkundige einfacher, sich zu etablieren . Das Gerichtsverfahren löste bei Emil im Nachhinein zunehmend Misstrauen gegenüber Personen aus, die sich zu sehr für Einzelheiten seines Behandlungsverfahrens interessierten . Er fürchtete, dass ihm von den approbierten Ärzten Patienten zugeschickt würden, die ihn auskundschaften sollten . Dies drückte sich z . B . in einem Rechtfertigungsschreiben des Berliner Patienten Richard Gnuschke vom 29 . Februar 1904 aus: „Ihren Verdacht, den Sie heute Morgen gegen mich ausgesprochen haben, kann ich verstehen, da Sie, von Gerichten versetzt, sich bei meiner Anfrage erinnern mochten, dass ich mich seinerzeit öfter günstig über meinen früheren Spezialarzt, Herrn Dr . Schreiber, geäußert habe .“73 Das Thema Kurpfuscherei blieb weiterhin virulent, weshalb Emil Berenwenger auch eine umfangreiche Sammlung von Berichten über derartige Fälle und ärztliche Kunstfehler anlegte . Im Jahr 1909 musste er sich erneut gerichtlich damit auseinandersetzen . Dabei ging es um die Heilung von Tabes (Syphilis) und Krebs . Berenwenger selbst berichtete dazu: Der erste Untersuchungsrichter, der mich in Köln vernahm, wurde von mir wegen seines brutalen Verhaltens mir gegenüber sofort abgelehnt . Auf meine Beschwerde hin trat ein zweiter Untersuchungsrichter in Funktion, der sich mir gegenüber in durchaus anständiger Form bewegte . Vor der Vernehmung sagte er zu mir „Setzen Sie bitte Ihren Hut auf “, worauf ich ihm erklärte: „Hier in Ihrem Vernehmungszimmer, wo ich dem Gesetz gegenüber stehe, wage ich nicht meinen Hut aufzusetzen, doch würde ich bereit sein auf dem Korridor gern Ihrem Befehle nachzukommen“ . Der Herr Untersuchungsrichter lächelte

71 Vgl . Berliner Tageblatt vom 26 .2 .1904; Berliner Börsen Zeitung Nr . 95 (1904); Deutsche Apotheker Zeitung (1904), S . 144; Pharmazeutische Zeitung 49 (1904), Nr . 18, S . 184 . 72 Vgl . Groß (2005); Huerkamp (1985), S . 254–261 . 73 HMB, Brief von Richard Gnuschke an Emil Berenwenger vom 29 .2 .1904 .

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und sagte zu mir: „Sie haben doch hoffentlich verstanden, wie es von mir gemeint war[“], jawohl sagte ich, ich habe es genau verstanden, ich weiß, dass Sie hierdurch nur die große Achtung mir und meinem Verfahren gegenüber ausdrücken wollten . Der Herr Untersuchungsrichter nickte bejahend und sagte: „Kein Angeklagter dürfe sich erlauben bei ihm in seinem Vernehmungszimmer den Hut aufzusetzen“, ich bilde hier eine Ausnahme und dürfe ohne weiteres meinen Hut aufsetzen . Zum Schluss bat er mich den Herrn KreisPhysikus [alte Bezeichnung für Amtsarzt] vor meiner Abreise aus Köln unbedingt zu besuchen, da er sein Unrecht voll und ganz eingesehen hätte . Nach erfolgtem Freispruch hat mich der Landesgerichtspräsident sehr gelobt, indem er äußerte, dass sämtliche Zeugnisse – mündliche wie schriftliche – über meine Person und Verfahren glänzend ausgefallen seien . Der Untersuchungsrichter trat in diesem Prozess selbst als Zeuge für mich auf, da er von der großen Wahrheit meiner Sache überzeugt war . Bei der Behandlung in der Kölner Klinik hatten sich sowohl der Herr Richter wie auch der Staatsanwalt von der Güte und Wahrheit meines Verfahrens hinlänglich überzeugt . Meine Substanzen wurden gerichtsseitig sowohl chemisch als mikroskopisch aufs Genaueste untersucht, aber in Köln ebenso wenig wie derzeit in Berlin gefunden und beschränkte man sich darauf nur festzustellen, ob Gifte vorhanden . Ärzte wie Apotheker behaupteten zwar zu Anfang, dass Stoffe darin vorhanden seien, welche durch Geruchssinn wahrnehmbar und den früheren Kaiserlichen Verordnungen [apothekenpflichtige Substanzen entsprechend der Apothekenordnung vom 18 . Februar 1902] unterlägen, stützen jedoch später ihre Behauptungen nur auf Vermutungen mit der Motivierung, dass solche prägnanten Stoffe sich nie genau feststellen ließen[ .]74

Wer das Verfahren angestrengt hatte und welcher konkrete Vorwurf Berenwenger gemacht wurde, war den Quellen nicht zu entnehmen . Möglicherweise hatten ein unzufriedener Patient oder die Ärztekammer eine Anzeige erstattet . Aus dem Brief eines Berliner Patienten, Siegismund Markmann, ist zu entnehmen, dass Berenwenger in Köln kurzfristig inhaftiert wurde . Vermutlich handelte es sich um eine Untersuchungshaft, da nach den Ausführungen von Emil bereits der Untersuchungsrichter bei der Vernehmung von seiner Unschuld überzeugt war . Markmann bot sich wegen seiner erfolgreichen Behandlung der Knochenfraß-Erkrankung auch als Zeuge zugunsten von Berenwenger an . In aller Ausführlichkeit schilderte Berenwenger einen weiteren Vorfall, bei dem ihm große Schwierigkeiten in der Ausübung seiner naturheilkundlichen Tätigkeit gemacht wurden . Allerdings ließ sich der Zeitpunkt aufgrund fehlender Angaben nicht zuordnen . Lediglich einem Brief aus dem nahen Freundeskreis vom 20 . Januar 1913 konnten Hinweise entnommen werden, die einen Zusammenhang mit Emils eigenen Ausführungen vermuten lassen . Berenwenger berichtet über den Fall:

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HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Köln 1909, 1944 .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

Der Fall mit einem Arzt aus München muss hier unbedingt erwähnt werden . Der Herr ließ mich auf Veranlassung eines von der Tabes-Krankheit [drittes Stadium der Syphilis] geheilten Patienten nach München zur Untersuchung kommen, da keiner der hinzugezogenen Autoritäten die Krankheit richtig zu diagnostizieren vermochte . Alle behaupteten eine Tabes-Krankheit vor sich zu haben, während ich als der Einzige Gliom feststellte unter Berücksichtigung aller der hierbei aufgetretenen Erscheinungen . Eine Diagnose, wie sie dem Herrn Mediziner auch voll und ganz einleuchtete, denn an Tabes-dorsalis hatte er als Mediziner niemals recht glauben können . Als ich dem Herrn Mediziner am folgenden Tage der Untersuchung durch meine weitere Kontrolle und Behandlung zur Evidenz bewies, dass ich mit meiner Diagnose ganz im Recht sei und er sich auch soweit wie irgend möglich davon überzeugt hatte, sagte er, ich sei ein großer Künstler, sonst wäre so etwas nicht denkbar, er sähe jetzt als Mediziner immer mehr ein, dass man zum Arzt geboren sein müsse . Für die Untersuchung zahlte der Münchner Arzt freiwillig RM 300,- und fragte mich sodann, wann die Kur beginnen könnte, er hätte große Eile damit, um später nach seiner Gesundung für meine Sache in entsprechender Weise in Deutschland und den anderen Ländern wirken zu können . Ich erklärte ihm, dass wegen der anderen Patienten eine Behandlung vorläufig nicht möglich sei und er so lange warten müsse, bis er von mir Bescheid erhalte . Hierbei beruhigte sich aber der Herr Mediziner nicht, sondern sattelte nach Ablauf kurzer Zeit einfach auf und zog mit Mutter und Pflegerin nach Berlin, um so gewissermaßen auf meine Person besser einen Druck ausüben zu können . Zu seinen Angehörigen äußerte er immer: Dr . Berenwenger oder Sterben . Mediziner sollen mir nicht mehr ins Haus kommen! Hier in Berlin nun ließ er mich eines Tages rufen, ich begab mich auch in Begleitung meiner Frau zu ihm und der Herr Mediziner erklärte dann, dass ich ihn innerhalb 14 Tagen behandeln müsse, andernfalls er wieder nach München fahren und alles Weitere keinen Zweck mehr haben würde . Ich sagte ihm in Gegenwart meiner Frau nochmals dasselbe, was ich ihm schon in München derzeit nach der Untersuchung gesagt hatte, nämlich dass vorderhand eine Behandlung wegen der anderen Patienten unmöglich sei und ich ihn ja auch nicht gerufen habe zu kommen . Der Herr Mediziner beruhigte sich aber hierbei nicht, sondern sandte nach Ablauf dieser 14 Tage seine Pflegerin zu mir mit dem Auftrage mir für die Behandlung M 50 .000,- und mehr zu bieten, falls ich mich bereit erklärte, meine sämtlichen Patienten zu entlassen und mich ihm allein zu widmen (Der Herr Mediziner dachte wahrscheinlich, ich könne sonst zu viel verdienen, daher die Anordnung über die Entlassung sämtlicher Patienten) . Dieses an mich gestellte unerhörte Ansinnen musste ich in Rücksicht auf meine Patienten ablehnen und aus diesem Grunde auf die mir in Aussicht gestellte Summe Verzicht leisten . Nun kommt das Unliebsame . Der Herr Mediziner versuchte nun einen Zwang auf mich auszuüben, indem er durch eine ihm bekannte Persönlichkeit ein Ultimatum stellen ließ: Innerhalb 24 Stunden die Behandlung zu übernehmen, andernfalls die Konsequenzen daraus zu ziehen . Als er nun einsah, dass auch dies nichts nutzte, ließ er sofort Anzeige erstatten . Mir wurde darauf hin – man höre und staune – der Schrank mit meinen Medikamenten seitens des PolizeiPräsidiums versiegelt und im Übrigen eine Haussuchung vorgenommen . Erst nach Ab-

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lauf eines halben Jahres ließ man die Siegel entfernen und konnte ich alsdann ungehindert wieder weiter behandeln . Mir ist dieses Vorgehen seitens der Behörden bis heute rätselhaft und unerklärlich geblieben, zeigt jedoch zur Genüge, mit welchen Mitteln in gewissen Fällen vorgegangen wird . Wie niederträchtig der Herr Mediziner gehandelt hat, geht auch weiterhin daraus hervor, dass er die ihm aus reiner Gefälligkeit überlassenen Substanzen nachher dem Gerichte ohne weiteres ausgeliefert hat, nachdem er zugegeben, einen wie großen Nutzen er durch diese Substanzen gehabt habe . (Hier wir überall also: „Undank ist der Welt Lohn“)75

Im Nachgang zu den gegen ihn geführten Verfahren ließ sich Berenwenger am Ende der Selbstauskünfte von den Patienten immer schriftlich bestätigen, dass sie über sein besonderes Behandlungsverfahren aufgeklärt worden seien und sich auf eigenes Risiko in seine Therapie begeben hätten . Um sich noch weiter abzusichern, schloss er mit seinen Patienten später schriftliche Vereinbarungen . Diese mussten Folgendes unterschreiben: 1 . Die Behandlung ist möglicherweise mit Schmerzen verbunden . 2 . Ein Versprechen auf Heilung oder bestimmte Aussicht auf Besserung wird nicht gegeben . 3 . Die Dauer der Kur kann nicht von vornherein angegeben werden . Es ist mir jedoch anheimgestellt, die Kur jederzeit zu beenden, wenn ich keinen Erfolg sehe . 4 . Sollte ich Beeinträchtigungen an meinem Körper oder an meiner Gesundheit wahrnehmen, die ich auf die Kur zurückführen zu können glaube, so werde ich Herrn Berenwenger in keiner Weise verantwortlich machen . 5 . Von Operationen wird grundsätzlich nicht abgeraten . 6 . Die Kosten der Untersuchung und Behandlung sind mir im Voraus mitgeteilt worden . Für angewandte Substanzen leiste ich, wie ich hiermit besonders anerkenne, keine Vergütung . 7 . Festgesetzte Honorare sind gleich nach der Untersuchung bzw . Behandlung zu entrichten . In Kenntnis aller vorstehend aufgeführten Umstände wünsche ich von Herrn Berenwenger nach seinem mir bekanntgemachten Verfahren untersucht und behandelt zu werden .76

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HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Fall München, 1944 . HMB, Behandlungsvertrag Entwurf 1924 .

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Abb. 4 Krankenbericht von Christoph-Hartmann Graf von Hochberg vom 25.7.1929, ausgefüllt von Leonore Gräfin von Hochberg auf dem Formular von Emil Berenwenger (Quelle: HMB)

Dieser doch sehr restriktive Patientenvertrag diente in erster Linie dazu, Berenwenger abzusichern . Dazu mussten die Patienten eine Vielzahl ihrer Rechte abtreten . Einzig das Recht, die Behandlung abzubrechen, wurde ihnen eingeräumt . Wer sich also bei ihm in Therapie begab, musste schon großes Vertrauen haben . Emil Berenwenger und die Heilkräfte der Tropen

Nach seinen späteren Ausführungen zu urteilen, begann Berenwenger um die Jahrhundertwende nicht nur mit allgemeinen naturheilkundlichen Behandlungen, sondern auch bereits mit der Anwendung tropischer Pflanzenstoffe . Er hatte sich hierzu ausführlich mit pflanzenheilkundlichen und homöopathischen Büchern befasst . Dabei ist besonders das 1898 erschienene Handbuch „Die Heilpflanzen der verschiedenen Völker und Zeiten: ihre Anwendung, wesentlichen Bestandtheile und Geschichte“77 von Georg Dragendorff (1836–1898) zu erwähnen . Das Buch war und ist eines der bedeutendsten Werke in Bezug auf Herkunft und Gebrauch von Heilpflanzen . Berenwenger stellte von diesem Handbuch eine nach Indikationen geordnete Arzneipflanzenliste als sein eigenes Nachschlagewerk zusammen . Die Pflanzensäfte erhielt er zunächst von August Engelhardt78, seinem Bekannten aus dem „Jungborn“, mit dem er letztmals 1901 in Berlin zusammentraf . Engelhardt reiste am 10 . Mai 1902 über Sydney nach Apia auf Samoa . Wahrscheinlich bezog Berenwenger von dort aus bereits Pflanzenextrakte . Engelhardt erwarb die Insel Kabakon

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Dragendorff (1898) . Ausführlich zu Engelhardt: Klein (2001) .

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und ließ sich dort nieder . Auf Kabakon setzte er seine Vorstellungen von naturverbundener Lebensführung in die Realität um . Engelhardt war zunächst der einzige Weiße unter 40 Melanesiern . Er baute sich Hütten aus Kokosnusshölzern und -blättern, verzichtete vollständig auf Kleidung und ernährte sich ausschließlich vegetarisch, vorwiegend von Kokosnüssen . Er begründete damit den sogenannten Kokovorismus . In seiner Einsamkeit schrieb er zahlreiche Briefe und Postkarten an alle seine Bekannten und Freunde in Deutschland und versuchte, sie für ein gemeinsames Leben auf der Insel zu gewinnen . Am 20 . Dezember 1903 kamen die drei ersten neuen „Brüder des Sonnenordens“ auf Kabakon an . Allerdings ging es allen schnell gesundheitlich immer schlechter, der Erste starb nach nur sechs Wochen . Engelhardt selbst war schließlich in einem so miserablen Zustand, dass er im Januar 1906 ins Krankenhaus von Herbertshöhe (Kokopo) gebracht wurde . Er wog bei 166 cm nur 39 kg . Durch die vollwertige Ernährung im Krankenhaus nahm er innerhalb von drei Wochen 16 kg zu . Insgesamt etwa 30 „Sonnenbrüder“ kamen mehr oder weniger lange nach Kabakon . Dazu zählte auch der Berenwenger aus dem „Jungborn“ bekannte August Bethmann, der allerdings 1906 unter ungeklärten Umständen auf der Insel verstarb .79 Berenwengers Interesse an den Heilkräften der tropischen Pflanzenstoffe wurde wohl durch Engelhardt und Bethmann geweckt . Emil Berenwenger entwickelte auf Grundlage des Einsatzes der tropischen Pflanzenstoffe ein eigenes Behandlungsverfahren, welches er „Klein- und Groß-Organ Zellgewebserneuerung“80 nannte . Bei den aus den Pflanzensäften zur innerlichen und äußerlichen Anwendung gewonnenen Präparaten handelte es sich nicht um Stoffe, die einem Verdünnungsprozess unterzogen und nach einer individuellen Krankheitssymptomatik ausgewählt wurden (wie es z . B . in Homöopathie oder anthroposophischer Medizin der Fall ist) . Auch hatte Berenwenger seine Erkenntnisse nicht aus eigenen Wirkstoffanalysen gewonnen . Vielmehr dürfte es sich um überliefertes Erfahrungswissen aus den Herkunftsländern gehandelt haben, welches durch seine Kenntnisse über die Naturheilkunde ergänzt wurde . Berenwenger war der Meinung, dass bei Tropenkrankheiten auch Giftstoffe eingesetzt werden müssten, während bei der Behandlung von chronischen Krankheiten es auf Heilstoffe aus den Tropenpflanzen ankomme, die völlig ungiftig und für einen gesunden Organismus ungefährlich seien . Leider sind keine Unterlagen erhalten geblieben, aus denen das genaue Diagnose- und Behandlungsverfahren entnommen werden könnte . Berenwenger selbst berichtete über sein Verfahren nur Folgendes: Die Behandlung mit tropischen Substanzen ist nicht zu verwechseln mit der bekannten Tropen-Medizin . Hiermit hat die Behandlung nichts zu tun . Diese Tropenmedizin behandelt hauptsächlich tropische Krankheiten und verwendet unter anderem auch Giftstoffe .

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Vgl . Baumann (2008), S . 497 . HMB, Briefe von Emil Berenwenger an Willy Lademann vom 15 .10 .1942 und 21 .4 .1944 .

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Mit dem Verfahren werden chronische sog . unheilbare Krankheiten, wie schwere HerzGehirn-Knochen-Leiden sowie Leukämie, Tabes, Carcinom, Syphilis etc . behandelt . Es werden ausschließlich ungiftige Substanzen verwendet . […] Sekrete selbst der tiefliegenden Organe werden ohne chirurgische Eingriffe an die Oberfläche der Haut befördert durch Dilatation der Haut- und Knochenporen und den nachfolgenden Applikationen . Bei Untersuchungen und Behandlungen (Dilatation und Applikation) dringen die betreffenden Pflanzensäfte und Mineralstoffe bis zu dem Krankheitsherde durch, ohne auf dem Wege dorthin auch nur irgendein gesundes Gefäßchen oder Gewebsteilchen anzugreifen . Die bisher nach diesem Verfahren geheilten Krankheiten sind nicht wieder in die Erscheinung getreten . Die betr . Substanzen dringen bei gesunden resp . völlig geheilten Körpern nicht mehr ein; ein eklatanter Beweis für den Heilerfolg, wohingegen bei kranken Stellen im Organismus die betr . Stoffe eindringen und je nach der Funktion der Nerven eine oder geringer auch keine Empfindung hervorrufen und eine Markierung mit entsprechenden FarbenNuancen auf der Haut hinterlassen .81

Einen weiteren Eindruck von der Anwendungspraxis der Pflanzensäfte bekommt man u . a . aus einem Brief, den Emil am 18 . Dezember 1914 von seinem Sohn Paul für seine erkrankte Schwiegermutter in Gütersloh schreiben ließ .82 Vermutlich litt Johanna Wulfhorst mit 85 Jahren in dieser Jahreszeit unter einer massiven Erkältung . Daneben bestand eine offene entzündete Beinwunde: Liebe Mutter! Der jüngste Assistenzarzt läßt Dir für Großmutter folgende genaue Anweisung zugehen: 1 . Täglich einmalige Waschung der Wunde mit Oxyd und Wasser (Ein Teil Oxyd83 und 2 Teile Wasser) . Das Wasser hierzu besser warm wie kühl evtl . abgekocht . 2 . Betupfen der Wunde mit ziemlich warmem Wasser, danach mit kühlem Wasser (hierzu Wattebausch nehmen) . 3 . Die nächste Umgebung der Wunde mit der roten Flüssigkeit (besser noch halb rote Flüssigkeit und halb Zitronensaft) pinseln . 4 . Die weitere Umgebung der Wunde mit der gelben Flüsssigkeit (Fg) pinseln (hierzu einen großen Pinsel nehmen) .

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HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Tropenmedizin, vom 17 .9 .1924 und 17 .8 .1944 . Vgl . HMB, Brief von Paul und Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 18 .12 .1914 . Gemeint ist Wasserstoffperoxid .

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5 . Wunde mit X, Y, oder Z kurz betupfen (mit oder ohne Wasser Zusatz) . Die Bedeutung von X, Y oder Z kennst Du ja . In diesem Fall ist X gleich Y oder Z . 1 bis 2 malige tägliche Betupfung mit dieser Flüssigkeit X, Y oder Z ist genügend . 6 . Verbinden der Wunde und zwar Desinfektions-Umschlag (abgekochtes Wasser mit einigen Tropfen Oxyd oder Essenz (Essenz allein genügt in diesem Falle auch – natürlich mit Wasser) . Geruchlose Tafelwatte darin ausgewrungen und aufgelegt . Darauf mit einem kleinen Gummibällchen die rote Flüssigkeit mit Wasser vermischt spritzen, namentlich die Geschwürstelle . Darüber trockene Watte und dann verbinden .84

Emil Berenwenger ergänzte auf dem Brief: Die für die Lunge verordnete Flüssigkeit zum Einnehmen darf nur solange angewendet werden als kein besonderes Fieber vorhanden ist . Gegen den Husten kann auch außer der Flüssigkeit, welche Du mitgenommen hast, noch mit Fg . gegurgelt werden und zwar einige Tropfen in ein viertel Glas Wasser (warm oder lau nicht kühl), soviel Tropfen von Fg . bis das Wasser sich milchig färbt .85

Darüber hinaus stehen nur die von den Patienten aufgeschriebenen eigenen Beobachtungen zu Berenwengers Verfahren zur Verfügung . Sie können zumindest einen Eindruck von seiner Arbeitsweise vermitteln . Emil interessierte sich für sehr unterschiedliche Behandlungsprinzipien – ob er während seines ganzen Berufslebens von allen gleichermaßen überzeugt war, lässt sich jedoch kaum erkennen . Allerdings wird in den Berichten seiner Patienten deutlich, dass es Berenwenger nicht nur um die Heilung einer einzelnen akuten und/oder chronischen Krankheit ging, sondern um die Gesundung des gesamten Menschen mit all seinen physischen und psychischen Leiden . Er verfolgte damit einen ganzheitlichen Ansatz . Der Generaldirektor Fritz Cremer berichtete 1934 über seine Behandlung durch Emil Berenwenger: Ich muss nun etwas über die interessante Diagnose sagen . Dr . B . stellt seine Diagnosen vermittels der Pflanzensäfte . Jede kranke Stelle des Körpers reagiert bei der Untersuchung in kurzer Zeit und das Krankheitsbild erscheint in verschiedenen Farbtönen, je nach Art und Schwere der Erkrankung auf der Hautoberfläche . Gesunde Stellen bleiben vollkommen unberührt und reagieren in keiner Weise . Die Diagnose ergibt sich durch Applikation der Pflanzensäfte, die den einzelnen Organen entsprechend zusammengestellt werden müssen . Den Grad der Erkrankung, wie weit sie fortgeschritten ist, den genauen Sitz der Erkrankung, alles das zeigen die Pflanzensäfte mit absoluter Sicherheit und Genauigkeit an . Kein Knochen bietet den Strahlen der Pflanzensäfte Widerstand, sie durchdringen alles bis zu den erkrankten Stellen . Wenn bei Lungenkranken die vorderen Lungenflügel gesund, die Lungen im Rücken aber krank sind und Dr . B . appliziert die Brustseite, so dringen die

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HMB, Brief von Paul und Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 18 .12 .1914 . HMB, Brief von Paul und Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 18 .12 .1914 .

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Strahlen bis zu den erkrankten Lungenflügeln im Rücken durch und das Krankheitsbild erscheint auf der Haut im Rücken, ohne dass der Rücken mit den Säften in Berührung gekommen ist . Bei meiner ersten Behandlung bei Dr . B . traten die Sekrete schon nach 15 Minuten durch die starken Schädelknochen hindurch an die Außenfläche und in der Nacht drangen die Mengen der Sekrete durch zwei Verbände und 7 Tücher durch, einen Geruch ausströmend, wie Leichengeruch . Bei der Schwere meiner Erkrankung machte ich noch viele Behandlungen mit und erlebte Dinge, die wirklich an das Wunderbare grenzen und doch ist die ganze Sache ein natürlicher Vorgang . Im Laufe der Behandlung beobachtete ich, dass wenn die Pflanzensäfte noch gar nicht die Haut berührt hatten, die Ausstrahlungen bereits durch den Schädelknochen durchdrangen und die kranken Stellen erfasste, ein Beweis dafür, dass es sich um von den Pflanzensäften ausgehende Strahlen handelt, Strahlen die der Wissenschaft noch nicht bekannt sind, obwohl man heute ja weiß, dass Pflanzen Strahlen aussenden . Bei der Behandlung wirken die Strahlen nicht etwa langsam, sondern dringen blitzartig durch die Knochen zu der erkrankten Stelle hin und erreichen sogar die kranken Stellen, die im Moment gar nicht behandelt werden, das deutlich fühlbar ist, wenigstens habe ich diese Beobachtung bei meiner Gehirnbehandlung öfters gemacht . Kaum haben die Säfte die Stirn berührt, so ist es als ob ein Strahlenfeuer den ganzen Kopf durcheilt . Nach einigen Sekunden ist es vorbei und man atmet ordentlich erleichtert auf und fühlt die wohltätige Wirkung . Die Behandlung ist gut auszuhalten, selbst Kinder vertragen sie . Nach der Behandlung fühlt man sich wohl und munter und kann sich wie in meinem Falle vergnügt eine Zigarre anstecken . Von meinen früheren Ärzten war mir Rauchen streng verboten, bei der Behandlung von Dr . B . bedarf [es] eines solchen Verbotes nicht .86

Paul, der von der Therapiemethode seines Vaters fasziniert und überzeugt war, berichtete 1929 über das Verfahren: Die Methode besteht in der äußeren Applikation der sehr zahlreichen und geschickt kombinierten Pflanzenextrakte auf die äußere Haut, die nur an den Stellen, an denen ein innerlicher Krankheitsherd besteht, darauf mit Epidermis Ablösung und Wunden Bildung reagiert . Durch längere Zeit fortgesetzte meist tägliche Behandlung dieser Wunden mit den Extrakten ist es möglich, diese an den Krankheitsherd heran- und gleichzeitig die Sekrete zum Abfluss zu bringen . Nach Beseitigung des krankhaften Prozesses schließt sich die Wunde von selbst . Bisweilen kommt auch eine gleichzeitige innerliche Behandlung mit ähnlichen Stoffen in Frage . Das Verfahren sucht demnach von einer gänzlich anderen Seite, als bisher geübt, der Krankheitsursache Herr zu werden . Es ist eine durchaus kausale Therapie, die nach er86

HMB, Brief von Fritz Cremer an das Henry Ford Hospital in Detroit vom 24 .9 .1934 .

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folgter Durchführung das schädigende Agens endgültig aus dem Körper des betr . Patienten entfernt hat; dabei auf absolut wissenschaftlicher Grundlage aufgebaut ist . Weitere Ausführungen, insbesondere über die durch das Verfahren mögliche absolut sichere und exakte Diagnosestellung – eine unerlässliche Vorbedingung für die Durchführung dieser Methode – sowie über die meinem Vater fernerhin dadurch gewordene tiefere Erkenntnis der Krankheitsvorgänge kann ich hier natürlich nicht machen .87

Seine Faszination lässt sich wohl auch damit erklären, dass Paul selbst zweimal Patient seines Vaters war . Emil behandelte ihn zunächst, als er während des Medizinstudiums in Heidelberg war und plötzlich erkrankte: Als ich mit dem Zug am 29 . Juni 1926 nachts 2 Uhr in Heidelberg eintraf, erklärte man mir im Hotel, mein Sohn läge bereits im Sterben und die Mutter sei bei ihm in der Klinik . Ich also schnellstens hin zu ihm, um zu sehen und wenn möglich ihn noch zu retten .- Der Herr Geheimrat nahm meinen Sohn nicht mehr in Behandlung, das sagte mir genug und ich wußte, daß er also eigentlich nicht mehr zu retten war . Jetzt hieß es für mich arbeiten – arbeiten, beweise was du kannst, u . so ist es mir dann in der Tat gelungen, Paul mit der Tropenmedizin noch zu retten . Der Todesschweiß stand ihm schon auf der Stirn . Meine Frau und ich sind 14 Tage nicht aus den Kleidern herausgekommen . In der ersten Nacht nahm ich gleich eine Application mit Tropenmedizin vor, um zu sehen, ob das Todeszeichen an seinem Körper erschiene u . richtig es zeigte sich sofort . Nun hieß es aber mit verdoppelter Kraft arbeiten, um ihn zu retten . Den ersten Tag habe ich für diejenigen der 4 Infekte angesetzt, welche ihm als die ersten den Tod bringen mußten u . so ist es mir dann gelungen innerhalb 10 Tagen soweit zu kommen, daß ich sagen konnte, die größte Gefahr war überwunden . Ich habe dann mit meiner Frau durchgearbeitet u . Paul soweit gebracht, daß er Mitte Juli sich zum ersten Male wieder so langsam aufrichten konnte . Johanne gebührt großer Dank, daß sie die ganze Zeit hindurch so tapfer Beistand geleistet hat, wiewohl es oft sehr schwer war in solch verzweiflungsvollem Falle die Tränen zu unterdrücken . Heute nun ist Paul wieder vollends wohlauf u . kann seiner Arbeit wieder in Ruhe nachgehen .88

Im darauffolgenden Wintersemester in Berlin kam es während des Pathologiekurses bei Paul zu einer Infektion durch Leichengift . Diese breitete sich vom rechten Zeigefinger sehr schnell über den ganzen Körper aus und führte zu einer lebensbedrohlichen Situation . Emil behandelte seinen Sohn erneut mit seinen Tropensäften: Paul hatte sich im Dez . v . J . beim Sezieren mit Leichengift derartig infiziert, daß Zeigefinger u . l . Hand binnen Kurzem in den Verwesungszustand übergingen,- ein penetranter Geruch – Knochen deutlich sichtbar – da eben das Fleisch wegfaulte . Nun hieß es Amputation oder eben qualvollen Tod . Was also tun . Mir schoß nur ein Gedanke durch den Kopf,

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HMB, Brief von Paul Berenwenger an Dr . Kroker vom 9 .7 .1929 . HMB, Brief von Emil Berenwenger an Otto Berenwenger vom 27 .8 .1926 .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

genau wie bei der Infektion in Heidelberg sofort u . ohne Zaudern die Tropenmedizin in Anwendung zu bringen u . hat auch in diesem Falle wieder mein Verfahren den Sieg davon getragen .- Gott allein die Ehre!89

Sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie spielten Farben für Berenwenger eine große Rolle . Mit der Applikation der Tropensäfte waren Farbveränderungen an der Hautoberfläche verbunden, die Rückschlüsse auf die Erkrankung und den Therapieerfolg zuließen . Im Rahmen der ergänzenden Behandlung setzte Berenwenger folgende Farben ein: rot bei Fieber, grün für Erkrankungen des Gehirns, blau bei Lungenerkrankungen, rot und gelb bei Blinddarmentzündungen .90 Wie genau dies allerdings funktionierte, ist nicht überliefert . Da Paul Berenwenger so von den Leistungen und Entdeckungen Emils überzeugt war, wandte er sich bereits nach Aufnahme des eigenen Medizinstudiums 1922 an mehrere Institutionen, um Unterstützung und Anerkennung für das Behandlungsverfahren seines Vaters zu erreichen . Hierzu gehörte das amerikanische Henry Ford Hospital in Detroit, welches weltweit nach wirksamen Krebsbehandlungsmethoden suchte . Das Krankenhaus lud Emil Berenwenger zu einer Vorstellung seines Verfahrens nach Detroit ein .91 Aufgrund der damaligen Finanz- und Wirtschaftskrisen ruhte dieses Vorhaben jedoch für einige Jahre . Emils Unterstützer und Förderer unternahmen immer wieder Vorstöße, Berenwenger zu dieser Reise zu bewegen . Bereits während seiner Zeit als Musiklehrer in Detmold hatte er mit seinen Schülerinnen, den kaiserlichen Hofdamen, auch Gespräche über die Erkrankung von Kaiser Friedrich III . geführt, der 1888 an Kehlkopfkrebs verstarb .92 Berenwenger gab an, dass dies ihn veranlasste, später über Krebs zu arbeiten .93 Bereits in seinen Anzeigen zu Beginn seiner naturheilkundlichen Tätigkeit 1903 bot er die Behandlung von Krebskranken an . In seinen autobiographischen Ausführungen erwähnte er, 1906 nicht nur den Krebserreger, sondern auch ein Mittel gegen den Krebs gefunden zu haben, welches er aus den Pflanzensäften, die er aus der Südsee bezog, gewonnen hätte .94 Nach den erhalten gebliebenen Zeitungsausschnitten und den darin gemachten Markierungen informierte sich Berenwenger regelmäßig auch in der Tagespresse über neuere medizinische Erkenntnisse zum Thema Krebs . Dazu gehörten insbesondere die wissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Krebsforschung . Um 1912 erschienen zahlreiche Berichte über Vorträge und Kongresse, auf denen Forscher und Privatpersonen behaupteten, den Krebserreger gefunden zu haben . Bereits 1911 brachte das „Deutsche

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HMB, Brief von Emil Berenwenger an Otto Berenwenger vom 15 .4 .1927 . Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Therapie Stichworte 1 Farben, vermutlich 1927 . Vgl . HMB, Brief des Sekretariats von Henry Ford an Paul Berenwenger vom 16 .4 .1922 . Zur Krebserkrankung von Friedrich III .: Hitzer (2020), S . 183–200 . Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Behandlungen 2, 1944 . Vgl . HMB, Aufzeichnungen Emil Berenwenger, „Krebsvorträge“ 1934 .

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Zentralkomitee zur Erforschung und zur Bekämpfung der Krebskrankheit e . V .“ ein erstes Merkblatt zur Aufklärung des Volkes über die Krebskrankheit heraus . Mitglied war u . a . Gustav von Bergmann (1878–1955), Direktor der II . Medizinischen Klinik der Charité Berlin . Da die verschiedenen Behandlungsversuche in der Anfangsphase nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen führten und es zu Misserfolgen kam (z . B . Strahlenschäden), sah Berenwenger sein Verfahren als eine geeignete Alternative an . Er machte allerdings keine näheren Angaben über seine bei der Krebsbehandlung eingesetzten Pflanzensäfte .95 Im Jahr 1934 war es dann so weit und Berenwenger reiste in die USA . Er erhoffte sich wohl davon nicht nur eine Anerkennung bezüglich seines Verfahrens, sondern auch Unterstützung auf der Suche nach Quellen für geeignete Pflanzensäfte . Am 17 . August 1934 stellte Berenwenger sein Krebsbehandlungsverfahren bei Arthur B . McGraw (Chirurg der Tumorklinik) im Henry Ford Hospital vor . Vor einer eventuellen Förderung erkundigte sich McGraw bei den von Emil als Zeugen für sein Verfahren benannten Patienten . Leonore Gräfin von Hochberg, Christoph Graf von Hochberg und Fritz Cremer erteilten ausführlich Auskunft über ihren Behandlungsverlauf . Allerdings konnten sie zur Behandlungsmethode selbst keine Informationen geben . Als Berenwenger einräumen musste, dass ihm zu diesem Zeitpunkt der Zugang zu den bis 1918 erfolgreich eingesetzten Pflanzensäften fehlte, sank das Interesse bei McGraw offensichtlich . Für den Fall einer erfolgreichen Beschaffung der erforderlichen Substanzen stellte er eine erneute Kontaktaufnahme in Aussicht . Die von den Patienten gemachten Schilderungen ihrer Behandlungen und deren Beobachtungen bezüglich der Wirkungen der Pflanzensäfte waren offenbar für die Ärzte des Henry Ford Hospital zu phantastisch, um sich an der Wiederauffindung der Pflanzen in Neuguinea finanziell zu beteiligen . Der Schwerpunkt der von McGraw geleiteten Abteilung lag zudem auf Operationen . Außerdem dürfte er die konkreten Schilderungen der durchgeführten Krebstherapien vermisst haben . Das von Fritz Cremer gemachte Angebot, das Behandlungsverfahren durch Berenwenger vor Ort zu demonstrieren, kam nicht mehr zustande . Ab 1919 bekam Berenwenger mehr und mehr gutsituierte Patienten aus Industrie und Adel, die ihn nicht nur gut honorierten, sondern ihn sowohl materiell als auch ideell unterstützten . Wichtig war ihm dabei in erster Linie die Suche nach den für sein Verfahren richtigen Heilstoffen der Tropen . Da August Engelhardt im Jahr 1919 verstorben war, versiegte spätestens ab diesem Zeitpunkt eine bedeutende Quelle . Mit weiteren tropischen Pflanzenextrakten, die er sich auf anderen Wegen beschaffte, hatte er oftmals keinen Behandlungserfolg mehr . Seine Patienten unterstützten ihn bei der 95 Mit der am 15 . Mai 2018 gegründeten gemeinnützigen „Sylvia und Dr . Hans-Michael Berenwenger Stiftung“ setzen Berenwengers Enkel und dessen Frau den Weg Emils fort und fördern „die Wissenschaft und Forschung in der Krebstherapie unter besonderer Berücksichtigung der Naturheilmedizin aus Pflanzenstoffen“ .

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Suche durch Empfehlungsschreiben, Korrespondenzen und sogar der Finanzierung von Expeditionen .96 Berenwenger setzte sich auch dafür ein, die Bibliothek und die erhaltenen Unterlagen von Engelhardt zu bekommen, um gegebenenfalls auf diesem Weg etwas über die richtigen Pflanzen herauszubekommen . Obwohl Engelhardt seine Bibliothek Berenwenger testamentarisch vermacht hatte, war dies ein schweres Unterfangen . Letztendlich erhielt er nach langer Zeit zumindest noch einige Akten und Pflanzenwurzeln . Diese zeigten jedoch nicht mehr den gewünschten Erfolg . Nachdem die Auswertung der erhaltenen Restakten von August Engelhardt keine Hinweise auf die dringend gesuchte Wurzel, die Berenwenger nur unter dem Eingeborenennamen „pavava“ bekannt war, ergab, versuchte er, die noch wenigen vorhandenen Rhizome von Botanikern bestimmen zu lassen . Doch weder die Angestellten noch der Direktor des Botanischen Gartens in Berlin, Ludwig Diels (1874–1945), konnten Berenwenger entscheidend weiterhelfen . Sie empfahlen, die Wurzeln zur Bestimmung und Auffindung vor Ort direkt nach Papua-Neuguinea oder an den Botanischen Garten in Buitenzorg/Bogor auf Java zu schicken . Die direkten Verbindungen nach Papua-Neuguinea waren nach der Annektierung der deutschen Kolonialgebiete in der Südsee durch die Australier blockiert . Daher versuchten die Patienten Fritz Cremer und Christoph von Hochberg über die dort vertretenen Missionsstationen Kontakt aufzunehmen . Pater Gerhard Peekel (1876–1949), Missionar von der Herz-Jesu-Mission aus Hiltrup bei Münster, befand sich schon seit 1904 in Vunapope bei Rabaul im damaligen Bismarckarchipel, und es bestand die Möglichkeit, dass er August Engelhardt bereits aus dieser Zeit kannte . Pater Peekel baute zunächst eine Missionsstation in Namatanai in Süd-Neuirland (Neu-Mecklenburg) auf und ging dann 1911 nach Nord-Neuirland, um in Kavieng eine weitere Station zu gründen . Neben seiner Missionstätigkeit beschäftigte er sich mit der Kultur der Melanesier . Später arbeitete er auch als Laien-Botaniker . Pater Peekel versuchte nun anhand der übersandten Pflanzenzeichnungen und Musterwurzeln die gesuchte Pflanze aufzufinden . Er schickte im Lauf der Zeit einige ähnliche Wurzeln, die er jeweils mit einer Nummer und den Eingeborenennamen versah, ohne sie botanisch einzuordnen . Auch Pater Peekel konnte nicht alle gefundenen Pflanzen identifizieren, da er von den Ureinwohnern nur deren Bezeichnungen genannt bekam . Einige von ihm neu entdeckte Pflanzen wurden mit seinem Namen verbunden . Nach dem Zweiten Weltkrieg war Peekels botanische Arbeit wegen des Verlusts seiner gesamten Bibliothek zwangsweise beendet .

96 Eine solche Expedition wurde von der Familie Schröder, die bei Emil in Behandlung war, finanziert . In ihrem Auftrag fuhr am 13 . Dezember 1924 der Ingenieur Christian Sand (1890–1926) mit einem Musterpalmenblatt und einem genauen Suchauftrag nach Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens . Der Suchauftrag bezog sich auf das Sammeln von Kronensaft verschiedener Palmen- und Zedernarten und von Wurzelsaft von Tamariskenwacholder und Araucarien . Nach der Beschaffung der Pflanzen wurden diese in mühsamer Kleinarbeit gepresst und nach Europa verschifft . Auf der zweiten Reise im Mai 1925 wurde Sand sogar vom Sohn Hans des Generaldirektors Fritz Cremer begleitet .

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Berenwenger bezog offenbar nicht nur von Kabakon, sondern auch von dem Insel-Atoll Ontong Java (Lord-Howe-Atoll), einer Inselgruppe der Salomonen, Pflanzensäfte . Mit Beginn des Ersten Weltkrieges waren die Verbindungen in die Südsee unterbrochen und konnten trotz aller Bemühungen auch während der nachfolgenden Jahre nicht wieder in der gewohnten Form aufgenommen werden . Der Vorrat an Pflanzensäften verringerte sich infolgedessen, so dass sogar immer wieder Patienten abgewiesen werden mussten . Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden Versuche unternommen, mit Hilfe noch vorhandener einzelner Musterwurzeln in den subtropischen Urwäldern Südamerikas vergleichbare wirksame Pflanzenprodukte ausfindig zu machen, die an die früheren Behandlungserfolge anknüpfen sollten . Ausgehend von den Siedlungsräumen der deutschen Einwanderer in Brasilien – z . B . im Bundesstaat Santa Catarina – wurden Expeditionen in den Urwald gestartet . Einzelne Pflanzenprodukte, die sich für die Behandlungsmethode von Berenwenger eigneten, konnten wohl auch gefunden werden . Dies drückte sich in den erhaltenen Briefen darin aus, dass die unterschiedlichen Qualitäten der Lieferungen beanstandet wurden .97 Besondere Probleme bereitete die Konservierung der Pflanzensäfte, die auf dem langen Transportweg in Gärung übergingen und die Behältnisse (z . B . unglasierte Tonkrüge) zum Bersten brachten . Da Berenwenger von den entscheidenden Wurzeln aus der Südsee oft nur die Bezeichnungen der Eingeborenen und nicht die botanischen Namen kannte, war es für die aus der Ferne beauftragten Personen praktisch unmöglich, die wirksamen Pflanzen aufzufinden . Paul hatte zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater und suchte ständig dessen Anerkennung . Da er ihn für einen ausgezeichneten Mediziner hielt und insbesondere seine tropenmedizinischen Behandlungsweisen ihn faszinierten, wollte er einen ähnlichen Lebensweg einschlagen und ihn dadurch stolz machen . Paul begann eine Ausbildung am homöopathischen Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart bei Prof . Dr . Alfons Stiegele (1871–1956) .98 Zu Weihnachten 1930 erhielt er von Stiegele das 1929 erschienene Buch „Symptomen-Verzeichnis […] zur homöopathischen Arzneimittellehre“99 von Karl Stauffer mit einer persönlichen Widmung . Oberarzt war zu dieser Zeit der spätere Homöopathie-Kritiker Fritz Donner (1896–1979) . Dieser zog 1930 nach Berlin, unweit der Wohnung von Paul . Der Kontakt bestand auch durch die gemeinsame Mitgliedschaft im Berliner homöopathischen Verein fort .100 Außerdem besuchte Paul einen Apothekenkurs für homöopathische Ärzte, der es ihm er97 Vgl . HMB, Brief von Fritz Cremer an Arthur Vanselow in Blumenau Sta . Catharina Brasilien vom 22 .5 .1930 . 98 Umfassend zur Geschichte der Homöopathie am Robert-Bosch-Krankenhaus: Faltin (2002) . 99 Stauffer (1929) . 100 Paul war vor und nach dem Krieg aktives Mitglied des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte . Nach dem Krieg wurde er 1953 Kassenprüfer, anschließend Mitglied des Vorstandes und von 1955 bis 1958 auf Vorschlag von Hanns Rabe (Vorsitzender der homöopathischen Liga) zum Vorsitzenden des Vereins gewählt .

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laubte, für seine eigenen Patienten entsprechende Arzneimittel zusammenzustellen . Im Dezember 1932 richtete er sich die erste Hausapotheke in seiner Praxis ein .101 Mit der homöopathischen Ausbildung allein konnte Paul jedoch seinen Vater noch nicht überzeugen . Seine Mutter schrieb 1931: Vater sagt, unter allen Umständen musst Du vorher eine ziemlich genaue Diagnose schon stellen können bevor Du an seine Sache herangehst und das ist doch nur möglich durch Praxis . Die Gaben die Vater besitzt lassen sich natürlich nicht übertragen . Das Verfahren an sich erfordert 1 . Intuition, 2 . künstlerisches Geschick, 3 . feinste Beobachtung . Sobald V . von Deiner Fähigkeit überzeugt ist, ist er nicht abgeneigt Dir das zu übertragen was möglich ist . Irgendein Versprechen gibt V . nicht, da er nicht bedrängt werden will . Dass wir im Übrigen Dein Bestes wollen und nicht Dein Unglück ist doch wohl selbstverständlich, früher oder später wirst Du das sicher einsehen .102

Zeit seines Lebens wurde Paul trotz mehrfacher Versuche nie von seinem Vater in dessen Behandlungsverfahren eingeweiht . Die späten Lebensjahre

Mit Verabschiedung des Heilpraktikergesetzes im Jahr 1939 wurden auch wieder Fragen zur Kurpfuscherei lauter . Das Gesetz erkannte zwar erstmals den Berufsstand der Heilpraktiker an, gleichzeitig wurde aber die Ausübung der Laienheilkunde an eine notwendige behördliche Erlaubnis geknüpft .103 Am 18 . Februar 1939 trat die Durchführungsverordnung des neuen Heilpraktikergesetzes in Kraft . Ziel dieses Gesetzes war es, die Kurierfreiheit aufzuheben und zu überprüfen, ob Heilpraktiker die Grenzen ihrer Behandlungsberechtigung, insbesondere bei Geschlechtskrankheiten, kennen . Nur in besonders begründeten Ausnahmefällen sollte eine Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde erteilt werden . Am 14 . März 1939 stellte Berenwenger den Antrag auf Erteilung der Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung als Arzt, am 26 . Oktober wurde dieser Antrag vom Polizeipräsidenten von Berlin an das Hauptgesundheitsamt weitergeleitet . Die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung am Gesundheitsamt in Berlin-Charlottenburg bei Dr . Starkowski, die am 18 . April 1940 stattfand, hatte zunächst zum Ergebnis, dass durch die Tätigkeit von Emil Berenwen-

Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 verlegte Paul vorsorglich seine Praxis von Berlin nach Stuttgart-Bad Cannstatt . Von 1962 bis 1983 betrieb er dort eine homöopathische Allgemeinpraxis . 101 Auf der Grundlage eines preußischen Apothekengesetzes vom 20 . Juni 1843 war es den homöopathischen Ärzten erlaubt, in den preußischen Gebieten für die eigenen Patienten Medikamente zu dispensieren . Dieses Recht blieb dort auch nach der Reichsgründung bestehen . 102 HMB, Brief von Johanne Berenwenger an Paul Berenwenger vom Oktober 1931 . 103 Vgl . Faltin (2005), S . 554 .

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ger als Heilpraktiker keine Gefahr für die „Volksgesundheit“ ausgehen würde . Im Bericht werden folgende Ausführungen gemacht: Der Heilpraktiker Emil Berenwenger, der der Vater des homöopathischen Arztes Dr . Paul Berenwenger aus Charlottenburg, Gervinusstr . 1 ist, ist hier auf Vorladung erschienen . Es handelt sich um einen fast 72-jährigen Mann, der geistig sehr rege ist, jedoch schwer hört . Die Flüstersprache wurde bei abgewandtem Ohr links nur in etwa 1 m, rechts in 3 m Entfernung wahrgenommen . Auch bei einer Unterhaltung am Tisch wurde die normale Umgangssprache sehr häufig nicht verstanden, sondern nur erheblich gesteigerte Umgangssprache vorgetäuscht . Berenwenger ist über den Zweck der Vorladung nicht orientiert und glaubt, als „Wissenschaftler und Forscher“, wie er sich bezeichnet, eine Anerkennung seiner Tätigkeit erhalten zu sollen, die er angeblich fast 40 Jahre durchführt . Berenwenger will bis Kriegsanfang 1914 auch einen deutsch-italienischen Doktortitel innegehabt haben, den er nach Ausbruch des I . Weltkrieges jedoch zurückgegeben haben will . Nach zahlreichen Papieren, Anerkennungsschreiben, auch aus der jüngsten Zeit, wird B . grundsätzlich mit „Doktor“ angeredet, so dass der Verdacht besteht, dass er sich den Patienten gegenüber als „Doktor“ ausgibt . Auf Fragen über seine Behandlungsart geht Berenwenger nicht ein, sondern wird sehr redselig und verweist immer wieder auf vorgelegte Dankschreiben hoher und höchster Persönlichkeiten wie eines Ministerialrates aus dem Luftfahrtministerium, eines Geheimen Regierungsrates Freiherrn von Dörnberg, gräfliche Familien und dergleichen . Auffallend ist, daß die mir vorgelegten seitenlangen Dankschreiben derartiger Persönlichkeiten ins Englische übersetzt sind, so dass Verdacht besteht, dass Berenwenger diese Dankschreiben im Ausland zur Reklame benutzt . Berenwenger bestreitet es, gibt aber zu, dass die Korrespondenz nicht von ihm persönlich, sondern von seinem Sekretariat erledigt wird . Im Laufe der Unterhaltung stellt sich heraus, dass das „Sekretariat“ ein von ihm früher wegen Paranoia behandelter ehemaliger Generaldirektor einer Gummifabrik, Fritz Cremer, Berlin Wartburgstr . 53, ist, der nicht direkt als Angestellter bezeichnet werden kann, der aber die Korrespondenz mit den Patienten führt, obwohl Fritz Cremer mit den Patienten nicht in Berührung kommt, sondern nur alle paar Tage von B . zur Erledigung der Sachen empfangen wird . Berenwenger ist äußerst redselig . Als Ziel seiner Behandlung gibt B . an, jede Operation möglichst auszuschalten . Zur Behandlung werden grundsätzlich tropische Pflanzen und deren Stoffe benutzt, die nicht mehr einführbar sind, deren letzte Einfuhr etwa 1929 erfolgt ist, deren Haltbarkeit etwa 10 Jahre anhält und dann allmählich nachlässt … Nach einer Mitteilung des behandelnden Facharztes ist anzunehmen, dass die Schwerhörigkeit des B . auf sklerotischer Grundlage beruht . Gegen die weitere Tätigkeit als Heilpraktiker habe ich z. Zt. keine Bedenken.

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Ich mache noch darauf aufmerksam, dass B . in einem Schreiben vom 14 .3 .1939 an die Polizei als „Dr .“ unterschrieben hat (Bl . 1 der Polizeiakten) .104

Ab dem Jahreswechsel 1940/41 hielten sich Emil und Johanna bis zum Vorrücken der Roten Armee im Januar 1945 vermehrt in Schlesien auf, u . a . im Schloss Hochweiler . Anlass hierfür waren zunächst die längerfristigen Behandlungen der Patienten aus den Familien von Hochberg und von Romberg .

Abb. 5 Porträt von Emil Berenwenger während des Zweiten Weltkrieges. Es wurde von einem Maler Schäffer nach einem Foto von Emil Berenwenger gefertigt (Quelle: HMB)

Am 3 . Juli 1941 erfolgte der Erlass der zweiten Durchführungsverordnung . Daraufhin kam es 1942 zu Überprüfungen der zuvor erteilten vorläufigen Erlaubnis zur Heilpraktiker-Tätigkeit . Für den 19 . Juni wurde Berenwenger erneut beim Gesundheitsamt Charlottenburg vorgeladen . Mit dem Hinweis auf dringende Patientenbesuche in Schlesien und sein hohes Alter versuchte er diese Vorladung zu verhindern . In der Vorstellung, dass auch in dieser Zeit die Patientenberichte ein ausreichender Beweis seiner Fähigkeiten sein müssten, verwies er in seinem Antwortschreiben vom 17 . Juni 1942 erneut auf seine zahlreichen Referenzen .105 Nachdem Berenwenger dreimal – wegen der dringend von ihm zu behandelnden Patienten – zur Überprüfung nicht erschienen war und das Gespräch beim Kreisarzt in Breslau am 9 . Oktober 1942 ungünstig ausgefallen war, wurde ihm mit Datum vom 104 LAB, Rep . 12, Nr . 258 (15 .10 .1937) und Nr . 260 (1939–1944), Senatsverwaltung für Gesundheit . Hervorhebung im Original . 105 Vgl . HMB, Brief von Emil Berenwenger an das Hauptgesundheitsamt Berlin vom 17 .6 .1942 .

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24 . November 1942 durch das Hauptgesundheitsamt in Berlin die vorläufige Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde vom 17 . Mai 1939 wieder entzogen . Berenwenger legte gegen diesen Bescheid in einem neuerlichen ausführlichen Schreiben am 18 . Februar 1943 Einspruch ein, der am 7 . September endgültig abgelehnt wurde . In dem Antwortschreiben wurde ausgeführt, dass er die Kenntnisprüfung nicht bestanden habe: Den Einspruch des Emil Berenwenger gegen den Bescheid meines Polizeiamtes Charlottenburg vom 24 .11 .1942, durch welchen ihm die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde versagt worden ist, weise ich nach Anhörung des Gutachterausschusses gemäß § 3 (3) und § 11 (3) der Ersten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung als Arzt vom 18 .2 .1939 zurück . Der Beschwerdeführer hat die gesetzlich vorgeschriebene Kenntnisprüfung nicht bestanden . Das Überprüfungsprotokoll lässt erkennen, dass ihm ein solides Wissen um die Vorgänge im menschlichen Körper, seine Krankheiten und ihre Beeinflussung fehlt . Er hat sich, wie er selber sagt, ein Märchenland der Medizin aufgebaut, das keinerlei logischen Aufbau noch wissenschaftliche Gründlichkeit erkennen lässt .106

Alle nachfolgenden Versuche, mit Unterstützung von Rechtsanwälten eine Aufhebung dieses Verbots zu erreichen, blieben erfolglos . Es wurde ihm sogar abgeraten, die Sache während des Krieges weiterzuverfolgen, und geraten, auf andere Zeiten zu warten . Die Einhaltung des Praxisverbots wurde von der örtlichen Polizei durch Wohnungsbesuche überprüft . Am 4 . April 1944 fand eine letzte Kontrolle statt . Mit dem Entzug der Erlaubnis war Berenwenger zur beruflichen Untätigkeit gezwungen . Er nutzte die Zeit, um seine Sachen zu ordnen, Listen anzulegen und erste Entwürfe seiner Biographie zu verfassen . Unter Verkennung der Lebensbedingungen in Berlin beauftragte er seinen Sohn in der Korrespondenz mehrfach, die Aufbewahrungsorte seiner ausgelagerten Gegenstände (medizinische Präparate, Bücher, Geräte, Ausarbeitungen) zu überprüfen und Bestandslisten anzulegen . Noch im Mai 1944 ließ er einen Großteil seiner Möbel einschließlich seines erst 1938 erworbenen Bechsteinflügels nach Schlesien bringen . Im Sommer 1944 zeigten sich auch in und um das Schloss Hochweiler in Schlesien die ersten Vorboten der herannahenden Ostfront . Das letzte Weihnachten verbrachten Emil und Johanna zusammen mit der Gräfin von Hochberg bei Kälte und umgeben von viel Schnee in aller Stille und Besinnlichkeit . Nach diesen letzten Tagen der trügerischen Ruhe begann am 13 . Januar 1945 der russische Vormarsch in Schlesien . Am Freitag, den 19 . Januar, fuhren Johanna und Emil auf Pferdekutschen mit dem Wirschkowitzer Treck unter Umgehung von Breslau zum Bruder der Gräfin im weiter westlich liegenden Schloss Rohnstock . Der Hochweiler Nachbarort Militsch an der

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HMB, Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin an Emil Berenwenger vom 7 .9 .1943 .

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polnischen Grenze wurde drei Tage später von der Roten Armee besetzt . Nach einem kurzen Aufenthalt in Rohnstock trennten sich Emil und Johanna von der Familie von Hochberg, da diese weiter nach Bayern flüchtete . Am 24 . Januar wurden ihnen im Bahnknotenpunkt Liegnitz die Flüchtlingsausweise ausgestellt . In den frühen Morgenstunden des 28 . Januar trafen Johanna und Emil Berenwenger erschöpft in BerlinCharlottenburg ein . Unbeeindruckt von den anhaltenden Luftangriffen war Berenwenger nur schwer dazu zu bewegen, bei Alarmen in den Luftschutzkeller des Hauses zu gehen . Er traf meistens erst dort ein, wenn schon die ersten Bomben fielen . Als er nach einem Luftangriff aus dem Keller in das Schlafzimmer kam und die Glassplitter auf den Betten sah, bestand er darauf, sofort nach Gütersloh zu fahren . Der letzte Aufenthalt von Johanna und Emil in Berlin dauerte damit weniger als zwei Wochen . Nach einigen Fahrtunterbrechungen wegen Tieffliegerangriffen und Streckenstörungen trafen sie am 10 . Februar 1945 um 19 Uhr mit dem Zug in Gütersloh ein .107 Das Patenkind von Johanna Berenwenger, Martha Honigmund, war bereit, sie vorübergehend in dem an einen Soldaten vermieteten Zimmer während dessen Abwesenheit unterzubringen . Bei einem großen Luftangriff auf Gütersloh traf eine Fliegerbombe am 14 . März das Haus in der Siegfriedstraße . Johanna und Emil Berenwenger wurden dabei tödlich verletzt . Fazit

Als Emil Berenwenger nach dem Verlust der Eltern im Alter von 29 Jahren die wirtschaftliche Möglichkeit bekam, sich seiner eigentlichen Berufung, der Musik, und später auch der Naturheilkunde zuzuwenden, strebte er nach den von ihm selbst formulierten „Idealen“ . Diese waren maßgeblich von den in den Gründerjahren der Kaiserzeit aufkommenden Strömungen geprägt . In der Musik war dies der von der italienischen Oper beeinflusste „Verismus“, wie dies vor allem in der 1890 uraufgeführten Oper „Cavalleria rusticana“ von Pietro Mascagni zum Ausdruck kam . In der Naturheilkunde orientierte er sich an den Lehren der Lebensreformbewegung und an der Kritik an der damaligen naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Schulmedizin . Berenwenger beschäftigte sich intensiv mit denjenigen Vertretern der Naturheilkunde, die den ganzen Menschen in den Mittelpunkt ihrer therapeutischen Maßnahmen stellten . Er begegnete den Gebrüdern Just im „Jungborn“, besuchte Kurse von Carl Huter in Detmold, studierte u . a . die Schriften von Carl Buttenstedt, Minna Kube, Friedrich Eduard Bilz oder Otto Nägeli . Die Erkenntnisse hatte Berenwenger so weit verinnerlicht, dass sie auf die Lebensführung in der Familie ausstrahlten . Im Jahr

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Vgl . HMB, Brief von Emil Berenwenger an Paul Berenwenger vom 11 .2 .1945 .

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1902 gründete er in Charlottenburg ein eigenes Institut und folgte damit auch beruflich dem Weg der Naturheilkunde . Emil Berenwenger ist als typischer Vertreter der Naturheilkunde seiner Zeit zu sehen . Wie viele andere Laienheiler erwarb er durch den Besuch von Vorlesungen, die Teilnahme an Kursen und die Lektüre zahlreicher Schriften ein beachtliches Wissen, das er sich zunutze machte . Durch die Verwendung von tropischen Pflanzenstoffen in seiner Therapie hob er sich aber maßgeblich gegen die große Konkurrenz auf dem Naturheilermarkt ab . Die Verwendung der Stoffe basierte auf dem Wissen der Heiler aus den Herkunftsländern und seinen eigenen naturheilkundlichen Erfahrungen . Er entwickelte mit der „Klein- und Groß-Organ Zellgewebserneuerung“ sogar ein eigenes Behandlungsverfahren . Dieses Wissen ging durch sein Misstrauen innerhalb und außerhalb der Familie und durch kriegerische Ereignisse in den beiden Weltkriegen weitgehend verloren . Anhand einiger erhalten gebliebener Zeitungsausschnitte ließ sich außerdem ableiten, welche Interessen Berenwenger hatte, die über die Gebiete Musik und Medizin hinausgingen . Die christliche Prägung hatte Einfluss auf die Reisen nach Rom und Palästina . Er ließ sich aber auch von dem allgemein beginnenden Tourismus beeinflussen und besuchte Norwegen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Italien und die Schweiz . Da er in die deutsche Kaiserzeit hineingeboren wurde und den größten Teil seines Lebens in dieser Epoche lebte, hatten alle Informationen, die mit dem Kaiserhaus und dem Kaiserreich verbunden waren, eine große Bedeutung für ihn . Nicht nur wegen des beruflichen Kontakts mit Patienten aus Adelshäusern sammelte er Berichte von adeligen Personen, die ihm wichtig erschienen . Und obwohl er sich zumindest in jungen Jahren ausschließlich vegetarisch ernährte, war Berenwenger kulinarischen Genüssen gegenüber durchaus aufgeschlossen . Auffällig war aber auch, dass ihn Personen interessierten, die Veränderungen in der Gesellschaft, Kirche und Medizin anstrebten . Hierzu gehörten der Pfarrer Carl Jatho (1851–1913), der Naturphilosoph Carl Christian Planck (1819–1880), der Verleger Paul Cassirer (1871–1926), aber auch die Frauenrechtlerin Minna Cauer (1841–1922) . Eine geistige Verbindung fand er zur Anthroposophie . Zusammen mit seiner Frau besuchte er in Berlin die Vorträge von Rudolf Steiner von der ersten Stunde an und nahm häufig an den Herbsttagungen in Dornach teil . Durch seine Vielseitigkeit und die damit verbundenen Kontakte lernte er zahlreiche bekannte Persönlichkeiten seiner Zeit kennen . Berenwengers Perfektionismus bei der Umsetzung seiner angestrebten Ideale beschränkten ihn in den Möglichkeiten, ein ausgeglichenes Familienleben zu führen . Der daraus entstandene Konflikt mit dem einzigen Sohn Paul wurde bis zu seinem Lebensende nicht ganz überwunden .

Emil Berenwenger (1868–1945) und die Heilkräfte der Tropen

Bibliographie Quellen

Unveröffentlichte Quellen Landesarchiv Berlin (LAB) Rep . 12, Nr . 258 (15 .10 .1937) und Nr . 260 (1939–1944), Senatsverwaltung für Gesundheit

Privatarchiv Hans-Michael Berenwenger (HMB) Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Ausbildung, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Behandlungen 2, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Fall München, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Jugendzeit, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Köln 1909, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, „Krebsvorträge“ 1934 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Medizin, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Schule, 1944 Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Therapie Stichworte 1 Farben, vermutlich 1927 Aufzeichnungen Emil Berenwenger Therapie Tee Aufzeichnungen Emil Berenwenger, Tropenmedizin, vom 17 .9 .1924 und 17 .8 .1944 Behandlungsvertrag Entwurf 1924 Brief des Sekretariats von Henry Ford an Paul Berenwenger vom 16 .4 .1922 Brief von Emil Berenwenger an das Hauptgesundheitsamt Berlin vom 17 .6 .1942 Brief von Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom Sommer 1903 Brief von Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 25 .7 .1903 Brief von Emil Berenwenger an Otto Berenwenger vom 27 .8 .1926 Brief von Emil Berenwenger an Otto Berenwenger vom 15 .4 .1927 Brief von Emil Berenwenger an Paul Berenwenger vom 11 .2 .1945 Brief von Fritz Cremer an Arthur Vanselow in Blumenau Sta . Catharina Brasilien vom 22 .5 .1930 Brief von Fritz Cremer an das Henry Ford Hospital in Detroit vom 17 .8 .1934 Brief von Fritz Cremer an das Henry Ford Hospital in Detroit vom 24 .9 .1934 Brief von Johanne Berenwenger an Paul Berenwenger vom Oktober 1931 Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 15 .6 .1897 Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 5 .9 .1901 Brief von Otto Berenwenger an Emil Berenwenger vom 3 .12 .1909 Brief von Otto Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 19 .6 .1933 Brief von Paul Berenwenger an Dr . Kroker vom 9 .7 .1929 Brief von Paul und Emil Berenwenger an Johanne Berenwenger vom 18 .12 .1914 Brief von Richard Gnuschke an Emil Berenwenger vom 29 .2 .1904 Brief von Wilhelm Ising an Emil Berenwenger vom 2 .4 .1904 Briefe von Emil Berenwenger an Willy Lademann vom 15 .10 .1942 und 21 .4 .1944 Paul Berenwenger Biographieentwurf

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Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin an Emil Berenwenger vom 7 .9 .1943 Steiner: Dornach Korrespondenz ab 1927

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Literatur

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berenwenger@t-online .de Pierre Pfütsch, Dr.

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart pierre .pfuetsch@igm-bosch .de

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Doors Unlocked by Medicine Homoeopathy in the Mission Field MELVYN LLOYD DRAPER Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 181–214

Von der Medizin geöffnete Türen Homöopathie in der Mission Kurzfassung: Im 19 . und 20 . Jahrhundert trugen Hunderte von homöopathischen Ärzte-Missiona-

ren, von denen viele an der Londoner Missionary School of Medicine (MSM) ausgebildet worden waren, Samuel Hahnemanns therapeutisches System in alle Teile der Welt . Während über koloniale Missionierung und die Rolle der Medizin im missionarischen Austausch mit nichtwestlichen Kulturen eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur vorliegt, wurde der homöopathisch-medizinischen Missionsarbeit bisher recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt . Der vorliegende Artikel soll hier Abhilfe schaffen, indem er einen vorläufigen Überblick über die Begegnung von Homöopathie und evangelikalem Christentum in der Missionsmedizin, vor allem mit Blick auf die MSM, bietet . Betont wird insbesondere, dass die Homöopathie als Paradigma des Heilens selbst eine Berufung darstellte und dass die homöopathische Medizin neben dem Christentum überzeugend für sich beanspruchen konnte, ein wirklich universalisierendes Glaubenssystem zu sein . Durch die Vereinigung des Weltlichen, Geistlichen und Medizinischen verbreiteten diese Missionare die Homöopathie in der ganzen Welt und vermittelten so mit den Evangelien von Christus und Hahnemann eine zweifache Bekehrungsbotschaft .

Introduction

In 1955 the London-based Sudan United Mission (S . U . M .) published a small booklet titled “Doors Unlocked By Medicine .” Written by one of its missionaries, Christine Helen Cheal (1905–1985), the slim 24-page volume highlighted the pioneering role of early twentieth century Christian missions in bringing modern western health and medicine to the peoples of northern Nigeria . What made Cheal’s booklet particular-

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ly noteworthy was that its foreword was provided by none other than Sir John Weir GCVO (1879–1971) . Physician Royal to five monarchs, including Queen Elizabeth II, Weir was the esteemed grandee of British homoeopathy . This vitalist, “alternative” medical system, predicated on the curative principle of “like cures like,” was first developed in the 1790s by German physician Samuel Hahnemann (1755–1843), before spreading rapidly across Europe and beyond .1 Besides attending to his royal and aristocratic patients, Sir John Weir was also president of the Faculty of Homoeopathy and held the Compton-Burnett Professorship of Materia Medica at the Royal London Homoeopathic Hospital (RLHH) . As with many of his fellow medical homoeopaths Weir was a devout Christian, and this led to him also serving as honorary treasurer of the Missionary School of Medicine (MSM) . This teaching center, affiliated with the RLHH, offered courses in medicine for missionaries preparing for overseas service . It was while teaching at the MSM that Weir met Helen Cheal who became one of more than fifteen hundred students that would graduate from the school during its ninety-three year existence .2 Although the MSM was not the only metropolitan medical training facility for missionaries, nor the sole source of homoeopathic ministry, the school was instrumental in helping to prepare hundreds of students to deliver the dual gospels of Christ and Hahnemann to numerous communities around the world throughout the twentieth century . Across Africa, South America, Eurasia, and Oceania, the MSM thus played an important role in extending homoeopathy along the same pathways laid down by Christian missionaries . An extensive scholarly literature exists on the colonial-era missionary enterprise and the part played by medicine in missionary exchanges with non-western cultures .3 However, very little attention has been given to homoeopathic medical missionary work, or to the role of the MSM in providing medical training for missionaries .4 This paper will provide some remediation for this by offering a preliminary survey of the intersection of homoeopathy and evangelical Christianity in missionary medicine during the late nineteenth and twentieth centuries, with a special focus on the MSM and its role in the dissemination of homoeopathic medicine in colonial spaces .5 At the core, I want to elucidate how homoeopathy itself was a calling, a paradigm of healing

1 For a collection of essays about Hahnemann and his conception of homoeopathic medicine see Morrell (2003); a scholarly biography of Hahnemann is Jütte (2005) . 2 MSM/4/37 AR 1983, p . 5 . This figure was given by long-time MSM secretary Jean Hayward-Lynch in her editorial . 3 An outstanding history of British protestant missions is provided by Porter (2004) . On evangelical missions in particular, see Bebbington (2003) . 4 One of the few notable investigations into homoeopathy in a missionary context is Baschin (2010) . Another recent contribution that examines the role of colonial era missionaries in bringing homoeopathic medicine to China is Lu (2019) . 5 For a brief history of the MSM see Davies (2007) . There is also an official chronicle of the MSM, compiled at the end of its life by a former student, Canon Philip Price (2003) .

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if you like, that offered care and cure according to a medical philosophy that differed profoundly from that of conventional medicine . While orthodox or allopathic medical missionaries cared deeply about the spiritual welfare of their patients, they were “preachers” of both medicine and religion, more concerned with treating and converting their patients than listening to them . Hence, their approach was from doctor to patient . In contrast, homoeopathy encouraged patients to narrate their own illness, thereby allowing the physician or lay healer to diagnose and prescribe based on a dialogic, whole patient philosophy . This had more in common with Freud’s individuated “talking cure” that came into vogue in the late nineteenth century than the impersonal, top-down practices often found in western, pharmaceutical medicine .6 It was this differentiation of homoeopathy from orthodox western medicine that set it apart and, for many missionary candidates trained at the MSM, the calling to preach the gospel was accompanied by a conversion to the gentle healing approach of homoeopathic medicine . This was then relayed in the mission field, the unique character of homoeopathy also proving attractive to many non-western peoples . This dual conversion impulse, then, undermines the conventional narrative of top-down colonial power relations mediated through the medical mission . Instead, the pages to follow will show how, alongside the Christian religion, homoeopathic medicine could make a convincing claim to be a truly universalizing belief system . By fusing the secular, the spiritual, and the medical, a proliferation of ardent missionary activity extended homoeopathy across the globe, trained and prepared by the MSM to communicate the coadjacent gospels of Christ and Hahnemann .7 Missions background

In the autumn of 1903, the recently formed British Homoeopathic Association (BHA), in conjunction with the RLHH, instituted a program of lectures for missionaries who had expressed an interest in becoming acquainted with basic medical theory and practice .8 Missionary fervor in Britain had accelerated in the wake of Dr . David Livingstone’s

6 While many homoeopaths dismissed the connections with Freudian and Jungian thought, some acknowledged that similarities existed . In a 1953 lecture on the subject Bristol-based homoeopath Dr . Bodman looked back on the advance of the mind sciences and explained that while he “was not an analyst in the Freudian sense” he “used psycho-analytic principles in discussing with the patients the situations in which they found themselves .” Bodman (1953), p . 34 . 7 Homoeopathy as a calling or mission dates back to Hahnemann himself . In the “Organon” he stated that “The physician’s highest and only calling is to restore health to the sick, which is called healing .” Hahnemann (1879), p . 65 . Emphasis in the original . 8 The British Homoeopathic Association, a new organization for the promotion of homoeopathy in Britain, was announced at a foundation meeting held at Stationers’ Hall, London, on Friday, April 25th, 1902 . See Morrell (1998) .

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famous adjuration at Cambridge in 1857: “I go back to Africa to try to make an open path for commerce and Christianity . Do you carry on the work which I have begun? I leave it with you!”9 The result was the establishment by members of Oxford, Cambridge, Dublin, and Durham of the Universities’ Mission to Central Africa (UMCA) . However, the disastrous 1861 UMCA expedition along the Zambezi river and Lake Nyasa in Malawi highlighted the susceptibility of white missionaries to tropical illness . Thirty years later in her history of the UMCA, A . E . M . Anderson-Morshead attributed the failure of that pioneering mission to the absence of both medical training and supplies . All missionaries, she urged, must avoid repeating those mistakes and take on board the lesson “that carelessness of life, and of the precautions for preserving health, is not wise for this world or the next .” Further, she noted, “none, however strong, can afford to play with a tropical climate; that certain rules of health can and must be kept,” and that “to remain needlessly in a hotbed of fever, slighting the proper remedies, is not trusting, but tempting, Providence .”10 Heeding Anderson-Morshead’s words, requests for medical training by missionaries either preparing for their first posting or on furlough increased . Efforts to semi-professionalize the hitherto amateur medical missionary led to the opening of new institutions and courses of instruction geared specifically for the medical training of missionaries .11 In 1873, the London Missionary Society (LMS) established its own Livingstone College in London to give missionaries rudimentary instruction in medical care and, from 1903, the same year that MSM was founded, Livingstone College began providing more advanced classes in surgery and medicine . The result was that the “messy process of Christianization,” as Elizabeth Prevost has described it, became far more coherent . It was in this context that the MSM was established .12 The MSM was originally named the London Missionary School of Medicine but, at the request of the much older LMS, dropped the “London” so as to avoid any confusion between the two organizations . Based initially at the RLHH in Great Ormond Street, London, in 1925 the need for more space to accommodate students and to consolidate the administration of the school in one place led to MSM relocating around the corner to what would be its permanent home for the next 70 years at Hahnemann House, 2, Powis Place . Under the stewardship of its founder and first Dean, Dr . Edwin Awdas Neatby (1858–1933), Physician for the Diseases of Women at RLHH and Consulting Physician at the Buchanan and Leaf homoeopathic hospitals, and its first chairman, Dr . George Burford (1856–1937), Consulting Physician for the Diseases of Women at the RLHH, the MSM immediately set about offering “the elements of medicine, surgery, and some of their specialties to missionaries working in foreign lands .” No 9 Quoted in Anderson-Morshead (1899), p . 4 . See also Jeal (1973/2013), p . 225 . 10 Anderson-Morshead (1899), p . 43 . 11 See Ingram (2015) . 12 Prevost (2010), p . 1 . For the Livingstone College see Johnson (2010) .

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doubt with Anderson-Morshead’s exhortation in mind, a very clear set of objectives were laid out: “to teach missionaries how to take care of their own health; to enable them, when far away from ‘qualified’ medical aid, to look after one another when ill; and, in uncivilized lands, to treat the sick and suffering natives, who are totally without medical knowledge, and who always expect the white man to know everything .”13 This concise and clear statement of purpose emphasized the necessity for missionaries to be able to diagnose and treat themselves, their families, and their associates, thereby allowing for more effective missionizing in the field . But it was not only one’s family, or the communities one was ministering to, where the ability to provide some kind of medical care was vital . As former student Reverend Cyril Chilvers (1870–1946) reminded the school’s 1936 annual meeting: “The Mission Field is the place of the unexpected . You just never know when you may be called upon to render assistance to some who are in desperate need .” In the most remote areas where a doctor might be days away, Chilvers observed, “It is not only the natives but traders and State officials who almost invariably turn to the nearest mission station .”14 A secondary, interconnected objective implicit in Burford’s 1924 statement of purpose was for homoeopaths to deliver their own distinctive brand of scientific medicine to peoples who either lacked easy access to modern western medicine or were suspicious of it . One example of how indigenous apprehension – of both foreign intrusion and of western medicine, homoeopathic or orthodox – was overcome was provided by missionary Arthur Gladstone Clarke (1887–1976) in an address given to the school’s annual meeting in June, 1946 . A graduate of the 1913–14 MSM class, Clarke spent more than three decades as a missionary in Shandong Province, China . A staunch proponent of homoeopathy, he authored “Decachords,” a lay manual to aid MSM students in prescribing homoeopathic remedies that was later published by the school, one of only a small number of books so issued .15 In his address to the 1946 meeting Clarke extolled the value of the medical and surgical training he’d received at the school, not only for himself and his family, but also for opening hitherto closed doors in China . In one unspecified village he ministered to, the principal family were, he explained, “believers in Confucianism and were of the old, proud type with no use for a foreign Gospel .” Nevertheless, when their son fell ill and native doctors were unable to effect a cure, the family grudgingly turned to him . “I treated him with the appropriate Homoeopathic remedies and with such an effect that people were astonished, the result being that that home, and indeed the village, was open to the Gospel . The wall of resistance had been completely broken down,” Clarke enthused .16

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London Homoeopathic Hospital (1924), p . 21 . MSM/4/08 AR 1936–7, p . 12 . Arthur Gladstone Clarke (ca . 1942) . MSM/4/13 AR 1946, pp . 14–15 .

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Successful interventions such as this highlight the confidence held by missionaries that western medicine, orthodox or homoeopathic, could provide an effective means to access local communities for the purpose of evangelizing . This confidence was reinforced by the rapid advances in western medicine in the decades after 1850 that meant Burford’s Kipling-esque rhetoric was standard fare at the time for many Europeans . Indeed, as imperial and postcolonial scholarship has shown, this salvatory articulation of the “white man’s burden” was intrinsic to the evangelizing ideology of the European missionary impulse in the era of the new imperialism . For medical missionaries in particular the dutiful obligation to minister to societies considered less developed was often underpinned by the pervasive view that indigenous healing practices were, at best, deficient, and typically detrimental .17 This was encapsulated in his inaugural speech to the school given by the new MSM President, Reverend W . H . Aldis, in July, 1935 . Aldis, a former missionary in China, stressed that any mission worker with even a rudimentary knowledge of western medicine would be “vastly superior to that of the native practitioner whose treatment was frequently appalling,” and worryingly, he noted, “so often the remedy was worse than the disease .” To illustrate his point, Aldis recounted the tragic case of an indigenous Christian he knew personally who had contracted typhus . To his dismay, Aldis was obliged to stand aside and watch as the man’s relatives consulted eight different Chinese physicians who arrived one after the other, to attend to the suffering patient . These men prepared their medicines on the spot, Aldis recalled, in “a large basin containing a horrible concoction .” He then described the denouement when “the ninth doctor came with his bag of medicines on his back, the contents of which he emptied onto the earth floor, and then went on his knees and processed to grub amongst the collection to find the medicine that was to heal the dying man of his typhus . He then prepared and administered his concoction .” However, it was clear that even this last physician was unable to aid the dying man and the healer was ushered away by the family . The reason, Aldis explained, was that according to Chinese custom the relatives would have been required to pay the physician if he was present when his patient died as compensation for the injury to his reputation .18

Although not a homoeopath himself, an example of this widespread attitude was provided by Dr . Walter Russell Lambuth (1854–1921) . A Chinese-born American Bishop and missionary to China and Japan, he wrote in his defense of medical missions how: “Those who stand in greatest need of medical aid are found in all the non-Christian lands, but especially in tropical and sub-tropical areas […] They suffer from diseases, unrelieved by medical or surgical help, which reduce resisting power . For the most part, they lack even an elementary knowledge of sanitation, hygiene and diet values . They are preyed upon by fear, which saps vital force even more than does physical pain .” Lambuth (1920), pp . 5–7 . 18 MSM/4/06 AR 1934–5, pp . 26–27 . 17

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Homoeopathy and healing in overseas missions

Aldis’ depiction of an unappealing and ineffective Chinese traditional medicine – and his non too subtle critique of the compensatory transactions within indigenous Chinese medical culture – contrasted with the more receptive attitudes to non-western healing practices that persisted until the mid-19th century . As David Hardiman has noted, prior to the 1860s many Protestant missionary organizations generally recognized that western medicine was simply inadequate and even compared poorly to indigenous healing systems such as those of China and the Indian subcontinent . However, after mid-century the rapid advances in western medical theory and practice transformed perspectives, imbuing colonial agents and missionaries alike with a growing assuredness in the healing powers of western medicine .19 As such, Aldis’ account typified the assumed superiority of western medical personnel – and medical missionaries – when juxtaposed with non-western healing practices . Scholarship has generally approached this as a persistent clash between Enlightenment-derived western, scientific medicine, and unscientific, non-western, healing . Interestingly, a similar and not unrelated tension was also reproduced in the juxtaposition between orthodox, or scientific medicine, and unorthodox, or alternative healing practices, such as that between mainstream, allopathic medicine and homoeopathy . More recent scholarship, however, has reassessed the trajectory and characteristics of such binaries . In challenging older narratives of western versus non-western medicine, some scholars have suggested that the commingling of western medical ideas and practices with local healing traditions during the age of European colonialism should be viewed as reconstructionist phenomena, rooted in a complex, synergistic, transnational modernity . Looking at the histories of non-western medical modernity, Hormoz Ebrahimnejad, for example, has proposed that rather than being a passive recipient of western scientific medicine or, alternatively, the trenchant holdout of a supposedly unadulterated, indigenous healing culture, “in the (re)construction of modern medicine, local knowledge, or medicine of the periphery, is fully involved .” In his view, the healing culture of a colonial society participated as an active element in the formation of a new, modern, local healing system that blended both western and traditional medicine . Read this way, homoeopathic medical evangelizing might then be considered not as an exogenous, alien imposition but, rather, as a transactional modern ministry, one in which the dialectical exchange of knowledge and practice shaped and remade the contours of healing at local and transnational levels, all within an increasingly interconnected world .20

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Hardiman (2006), pp . 5–57; Bynum (1994) . Ebrahimnejad (2009), p . 5 .

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At the core a Christian commitment to care for the sick, whether at home or abroad, remained one of the salient features of later Victorian bourgeois society . This integration of faith and healing was embraced and embodied by many within the British homoeopathic medical community during the 19th and 20th centuries and was a major factor leading to the creation of the MSM . In 1924, to celebrate its “coming of age,” the MSM issued a small book that outlined the school’s history and raison d’être . Looking back on the first two decades of the school, Dr . Burford reiterated the importance of this concatenation of Christianity and homoeopathy, observing that: “it was very desirable to spread the practice of medical missionaries, qualified to bring ease to the body in healing, as an introduction to the Christian Faith .” Referring specifically to the MSM, Burford reflected on how: “The work done in this particular institution was of great value; it was the most striking instance of the association of homoeopathy and the religion taught by Christ .”21 What set the MSM apart from other medical missionary training establishments was its intimate association with the RLHH . The school council was not alone in recognizing the benefits arising from being, quite literally, connected to a major, central London hospital . A feature article on the school published by The Christian magazine in 1916 and reprinted in the MSM annual report for 1917 highlighted its distinctive character: “While the School shares its missionary character with other institutions, its unique significance lies in the fact that it is the only missionary School in this country which is housed in a large, modern, perfectly equipped general hospital, and whose students receive almost the whole of their practical instruction in its wards .”22 Further setting the MSM apart from other medical missionary training institutions was its offering of both an intensive, year-long main program and single-term course options, with incentives to fully participate and complete the course . As The Christian article observed, “Its freedom from red-tape admits of short courses for those who cannot give the full time, and a system of examinations and prizes secures the healthy stimulus which irregular students at general hospitals entirely lack .” No other medical missionary training center had ready access to such a facility – or the eminent medical staff who voluntarily gave their time to providing instruction to MSM students . Such a unique situation gave the school a tremendous advantage in appealing to the myriad missionary societies to serve as the venue for training their missionary candidates in medicine .23 Although the close association with the hospital strengthened the position of the MSM when recruiting students, a number of missionary societies harbored reservations that the school might intrude on their own work of saving souls . As far back as 21 Quoted in Price (2003), p . 28 . On Christianity and medicine see Ferngren (2009); see also Williams (1982) . 22 MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1917, p . 7 . 23 MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1917, p . 7 .

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1904, MSM Secretary (and later, Dean) E . A . Neatby had written to the committee of the Baptist Missionary Society, reassuring them that what the school offered was complimentary, not competitive: “The course does not entitle students to assume the position of medical missionaries,” Neatby clarified, “nor does it compete in any way with medical missionary societies or work . It is intended to supply to the non-medical missionary elementary knowledge, which is, however, vastly better than none .”24 Almost thirty years later a letter to Neatby from one of the council members of the Ceylon & India General Mission cast light on some of these reservations . The author notified him that due to “our peculiar circumstances we cannot look forward to sending our young people to the School as a matter of course .” The reason provided was that “our position as a Missionary Society working in India was somewhat different from Societies working in lands like China or Africa .” The letter further explained that the society council had discussed how in their field of operations “there is a fairly efficient Government Medical Service” where “Hospitals are within reach of all of our Missionaries .” Evidently completely unaware of Neatby’s clearly expressed statement in 1904, the Ceylon & India General Mission council also determined that “with regard to doing any but the simplest Medical work […] that Missionaries attempting such unless they were fully qualified might find themselves in trouble .”25 This was an example of one of a small number of missionary societies that chose not to send candidates for training at the MSM . The justifications provided for their refusal indicates their misunderstanding of the nature of the training given, as well as a parochial reticence to redistribute resources outside their own organization . Another related concern that the school sought to allay was that students might forget their main purpose was that of saving souls . In the MSM annual report for 1928 the editorial observed that “In some missionary circles it has been feared that a missionary ‘so trained’ might be liable to the temptation to give up a very large proportion of time to medical work to the detriment of his or her primary function .” To assuage these concerns the report included a reprint of a page from the previous year, entitled “Spiritual Values .” In this the editorial sought to soothe any anxieties that students at the school would lose focus on their calling and become preoccupied with matters medical: It will be specially gratifying to those in whose hearts the evangelistic and spiritual side of a missionary’s work ranks easily first, to know that while in training at this School the students are encouraged to hold meetings to maintain their spiritual tone . For many years this has been regularly done . In the privacy of our own lecture room, prayer, praise and Bible meetings are held .26

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Neatby (1904), p . 84 . MSM/1/4 Letter to Neatby, April 15, 1932 . MSM/4/02 AR 1927–8, p . 11 . Reprint from previous year .

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Despite such affirmations of commitment to the evangelical mission, the secular, bodily-focused instruction provided by the MSM clearly remained an ongoing issue . Just seven years later Aldis, the school president, reminded his listeners at the 1935 annual meeting to avoid becoming too preoccupied with healing, for “there had been cases where the missionary had been so much absorbed with attention to the body that he forgot that the patient had a soul,” although he acknowledged “that did not happen often .” With correct focus, Aldis emphasized, missionary healing was of inestimable value in following the lead of Christ as teacher-healer . This was made abundantly evident to him after examining hundreds of candidates for baptism in China where he had “been impressed time and again by the fact that the first step towards the Savior had been through the ministry of healing .” His prayers then, he assured the audience, were directed to God “to help in the coming days those going out to do this work, to preach the gospel through the ministry of healing .”27 Non-sectarianism

From the outset the MSM was conceived of as a non-sectarian institution, created and staffed by devout and dedicated physicians imbued with a missionary zeal to heal . The extent of this toleration was made clear in the “Basis of Faith” contained in the school’s 1908 Constitution that stated: “The benefits of the School shall be available to all persons otherwise eligible, provided that their beliefs and teaching conform to those commonly associated with Protestant religion, and no other persons shall be eligible .”28 The instruction the MSM provided for the hundreds of students that passed through its doors during its 93-year existence was also non-denominational, combining both homoeopathic and orthodox medical training . The inclusive nature of the education provided, both in terms of religion and medical training, was clearly outlined by the school’s first Dean . In a letter to the editor of The Hospital journal in January, 1912, Neatby, a devout Christian, informed the editor and his readers that “the school is non-sectarian from a medical as well as from a religious point of view .” Many British homoeopaths, including Sir John Weir, hailed from non-conformist religious backgrounds, and this may account for their tolerant attitude towards other non-Catholic Christian denominations .29 Neatby’s clarification of tolerance and diversity was an important statement, particularly given the stigma homoeopathic medicine still retained . Throughout its histo-

MSM/4/06 AR 1934–5, p . 28 . Quoted in MSM/4/07 AR 1935–6, p . 8 . Neatby (1912), p . 417 . The Hospital was a weekly journal established in 1886 as a platform for Sir Henry Burdett (1847–1920), the driving force in the creation in 1884 of the Hospitals Association . It ran, with several name changes, until 1991 . 27 28 29

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ry homoeopathy had been subjected to relentless opposition and denigration, not least from influential figures within the orthodox, allopathic medical community, notably the vituperative editor of The Lancet, Thomas Wakley . By the turn of the 20th century much of the disdain towards homoeopathic doctors within the British medical profession had abated . In large part this was because the 1858 Medical Act had required that all professional medical men and women, orthodox or homoeopathic, hold credentials from approved medical schools . This meant that from the mid-19th century British medical homoeopaths and allopaths all shared a common professional background . Nevertheless, homoeopathy continued to be perceived by many, physicians and lay people alike, as esoteric or even quackery . At the 1928 MSM annual meeting Neatby defiantly went on the offensive, informing the audience that although: there are quite a lot of people who keep away from us because we teach homoeopathy […] we are not a bit ashamed of it . It is one of the very grandest assets we have . We teach everything else that other schools teach, and all the resources of the medical sciences are at our command, and those who study here go out wonderfully equipped, quite apart from homoeopathy . The position of homoeopathy in this School is that it is an addendum to all that is taught in other schools that have the same object as ourselves .30

Neatby’s impassioned defense of homoeopathy and its value in the missionary medical toolbox was echoed by Mrs . Buchanan, a graduate of the MSM class of 1912, who worked as a missionary in India . There, she informed the meeting, homoeopathy was central to her successful efforts in combating cholera and plague among the villages she attended . With that in mind she urged the students “not to give up homoeopathy .” Certainly, she acknowledged, “there are those who will ridicule it, but go on patiently,” and “that in any circumstances when it fails I can honestly say that it is my bad prescribing and not homoeopathy .”31 Similar sentiments were repeatedly expressed in the pages of the MSM reports, as are numerous “conversion” tales where missionaries hitherto unfamiliar with homoeopathy discover – often to their surprise – a new-found appreciation for Hahnemann’s system of therapeutics . One such was Miss Vyvyan Winn, who had been a student at the school in 1930–31 before proceeding to serve with the Bible Churchmen’s Missionary Society at Indaw, Myanmar (then Burma) . Winn spoke at the school’s 1937 meeting where, the report noted, she described how when she first arrived at the MSM she “was prejudiced and ignorant, and was determined to learn everything she could but Homoeopathy .” However, “as she listened to the lecturers she suddenly became very interested, and she felt that if God had sent her to the School, He had sent her for a pur-

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MSM/4/02 AR 1927–8, p . 39 . MSM/4/02 AR 1927–8, pp . 43–45 .

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pose – she began to study for herself and found the knowledge acquired was absolutely invaluable on the ‘field .’ ”32 Vyvyan Winn’s faith-inflected endorsement of the training received at MSM when applied directly in the mission field was shared by almost every graduate who corresponded with the school . At the MSM annual meeting seven years earlier, Gladstone Clarke had been unequivocal, pointing out how “experience in the field amply proves not only the value of homoeopathy, but the thoroughness of the course provided by the School .” Further, he revealed, “Qualified medical missionaries to whom I have shown a copy of the curriculum are surprised at the wide range of subjects covered .”33 If such reports as those submitted by Vyvyan Winn and Arthur Gladstone Clarke are accepted at face value, then the training in homoeopathy that MSM students received clearly resonated for many missionaries, and the peoples they came into contact with . One explanation for the apparently positive reception of homoeopathy among colonized peoples was its marked therapeutic distinction from orthodox, allopathic, western medicine . From the outset, homoeopathy set itself apart from the aggressive and often unpredictable character of orthodox medicine by virtue of its gentle, holistic, individuated approach to patient treatment . This, combined with Hahnemann’s vitalist philosophy, helps explain how homoeopathic medicine came to be so readily adopted in the Indian subcontinent, particularly in Bengal, where it resonated for many who were opposed to the materialism of British colonial modernity . As a paradigm of scientific medicine, homoeopathy was distinct from orthodox western medicine . This has been noted by Shinjini Das who highlighted the fact that homoeopathy was a “pragmatically hybrid science […] compatible with indigenous ways, yet also equipped with western scientific credentials .” Rather than posing an epistemological and cultural threat to traditional, Ayurvedic healing practices in the subcontinent, homoeopathy was often viewed as a congruent and kindred approach to healing, rather than a western, colonial imposition .34 Exemplifying the unique appeal of homoeopathy in India, along with an embrace of the gospels, was 1930 MSM graduate Mrs . Probhaboti Sircar . Described as “an earnest Christian lady” and possessing “a most beautiful Christian character,” Sircar was a Bengali who, according to veteran Bihar-Orissa Baptist missionary Ruth Daniels, had converted from Hinduism at the age of 13 .35 By the 1920s Sircar had become a renowned speaker and leading figure among north Indian Christians, concentrating her mission in Bihar state where, she observed, “there were 26,000 people without any medical or Gospel help .” In 1929, without affiliation to any of the existing missionary societies,

MSM/4/08 AR 1936–7, p . 15 . Emphasis in the original . MSM/4/03 AR 1929–30, p . 5 . Das (2014) . See also Bhardwaj (1973); Hausman (2002); Arnold/Sarkar (2002) . For a recent history of Ayurvedic medicine see Varier (2020) . 35 Roadarmel (1931), p . 20; Daniels (1936), p . 3; Daniels (1940), p . 6 . 32 33 34

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Sircar had traveled to London, imbued with “a yearning desire to learn something to enable her to help her own people .” As she acknowledged to the attendees at the MSM annual meeting held at RLHH on Friday June 27, 1930, she was already familiar with the rudiments of homoeopathy, taking with her as she traveled around Bihar a small chest of homoeopathic medicines and a repertory book describing the remedies and their uses, confident in the knowledge that “homoeopathic medicine would kill no one and was quite safe!” She began administering cures, with the assistance of prayer, and was encouraged by the results . However, being unable to perform basic surgical procedures and, acknowledging that she was not a doctor, it became apparent that she needed actual medical knowledge to be able to offer effective treatment in her ministry . Thanks to the generosity of an unnamed “kind friend,” Mrs . Sircar was provided with the funding to attend and complete a two-term course of instruction at the MSM before returning to her mission .36 Curriculum and instruction

By 1953 something in the region of 1300 missionaries had been trained at the MSM . Students enrolled either for the complete nine-month course, which ran from October to July and was divided into three terms, or they attended for a single term . From the start the school encouraged students to take the entire program . This rested on a foundation of theory delivered in the first few weeks that was built upon with more specialized instruction in the months that followed . The school also set out to provide a challenging instructional environment with much of the work graded as it would have been for actual medical students . This not only enhanced perceptions of the school as a professional institution but also motivated students to throw themselves into the program, as the school reports repeatedly demonstrate . Throughout its history the average MSM cohort numbered twenty four students, a figure Neatby informed the audience at the 1932 annual meeting was considered optimal for the effective running of the school .37 In 1925, this had been calculated at £ 800 per annum, of which just £50 was secured through subscriptions and another £ 127 from investments, leaving a shortfall of £ 623 that needed to be made up by student fees .38 Attendances, however, were variable, and it was not unusual during the first four decades of its existence for enrollment to be double that, as in 1907–8 when the school recorded forty-three registered students and, following a pronounced wartime dip, a high in 1947 of forty-eight graduates . Not even global economic crises or the eruption of world conflict in 1914 and 1939 caused the School to cancel or close, the 1916–1917 36 37 38

MSM/4/03 AR 1929–30, pp . 23–24 . MSM/4/04 AR 1931–2, p . 23 . MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1925, p . 40 .

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session still registering fourteen students, equally divided between women and men, seven of whom were enrolled for the full-time course .39 We lack precise figures to determine the ratio of full to single term enrollees, or of female to male students, but a notable feature of the school from its inception was the significant proportion of female students . As early as 1906, the school’s annual report had approvingly observed how “The world’s work is no longer monopolised by men and this is nowhere more true than in the Mission Field . Accordingly the course has been thrown open to women .”40 This egalitarian characteristic of the MSM ensured women missionary candidates were able to have access to high quality, practical medical education during a transformative period in modern history when women were still finding such opportunities restricted . What was not a surprise to the hospital faculty, a significant number of whom were women, was that female students continuously achieved high grades in the school examinations and were frequently recipients at the annual prize giving, Neatby noting in the 1925 Annual Report that “As usual the ladies had come out top in the examinations .”41 I have written elsewhere about the appeal homoeopathic medicine had for women because of its gentler and holistic approach to healing, and the opportunities for professional careers that homoeopathy permitted .42 From the 1860s, women were very much at the forefront of missionary work, the women’s international missionary movement growing to become the largest mass movement of the era with an estimated three million women working in the mission field at its fin de siècle height . Neatby’s observation regarding the preponderance of women students at MSM was therefore a recognition of the ongoing engagement with missionary work by women as healers of souls . It also shows that among leading homoeopaths there was an appreciation that the presence of so many women undergoing medical training at the school, albeit as lay healers rather than professional physicians, helped cast a favorable light on the progressive character of the MSM and homoeopathic medicine .43 This co-educational medical training was held at the school, conducted in several classrooms at Powis Place, with clinical observation provided primarily on the wards at the adjacent RLHH . Flexibility was crucial to allow for the uninterrupted work of the hospital and to accommodate the requirements of the school . Anticipating similar inclusive and accessibility initiatives by more than a century, Neatby emphasized how “practical work in the wards and outpatient department of the hospital is arranged to

MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1917, p . 3 . MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1906, p . 4 . MSM/4/01 AR 1906–1927, AR 1925, p . 37 . See Draper (2019) . On the development of the women’s missionary movement see Hill (1985) . See also Levine (1990), pp . 62–63 . 39 40 41 42 43

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suit the needs of the students and the time at their disposal .”44 This innovative and student-centred approach was outlined more fully in the 1924 history of the school: each student receives a personal timetable, allotting him to a particular teacher or section in the out-patient department, wards, daily dressings-room, operating theatres, etc . In the out-patient rooms the students sit with the doctors, hear the patients’ accounts of their ailments and the doctors’ questions, see and take part in the examination of the case, see and hear the treatment and notice the progress of the patient at subsequent visits . The students are encouraged to ask questions . As the hospital exists for the patients and not for the students, and as the out-patient clinics are crowded and busy, if they do not ask questions they may miss valuable opportunities .45

The difficulties of providing a crash course in medical training to lay people, most of whom were more attuned to matters spiritual than surgical, should not be underestimated, and so from the outset virtually every staff member associated with the RLHH gave their support to the school . The first lecturer to teach first aid was Dr . Edward John Hawkes of Ramsgate, whilst former RLHH House Surgeon Dr . Edith Neild, then based at Tunbridge Wells, provided lectures on midwifery “to the women students .”46 The caliber and prestige of the physicians who donated their time to MSM instruction was impressive, and it is important to recall that all British homoeopathic physicians were fully qualified medical doctors who had incorporated homoeopathy into their repertoire of curative skills . Three such doctors on the teaching staff at MSM would later be appointed as Royal physicians: Sir John Weir, Margery Grace Blackie, and Ronald Davey . Other accomplished RLHH physicians who were also involved in the early history of the school included Dr .’s Margaret Lucy Tyler (1857–1943), Charles Edwin Wheeler (1868–1946), Octavia Lewin (1869–1955), Edith Hall (1896–1957), William Harold Dodd (1899–1987), Queenie Muriel Francis Adams (1902–1999), and Kathleen Priestman (1911–2006) . Having the services of such eminent physicians enhanced the prestige and quality of the instruction at MSM, as did its wholehearted embrace of the very latest in modern medical theory and practice . According to Michael Worboys, scholarship has shifted away from the older, heroic model of germ theory as constituting a “bacteriological revolution .” Nevertheless, the rapid and wide ranging advances in medical knowledge, along with the emergence of laboratory medicine and increasing professionalization and specialism in the late nineteenth century completely reshaped approaches to health and medicine throughout the industrialized world .47 This was reflected in the MSM syllabus where, according to the 1924 history of the school, a perusal of the 44 45 46 47

Neatby (1912), p . 417 . London Homoeopathic Hospital (1924), pp . 35–36 . London Homoeopathic Hospital (1924), p . 13 . Worboys (2007) .

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first printed timetable of lectures reveals that “from the first the organization was fairly complete .” The curriculum rested on a “foundation of anatomy,” to which a course of physiology was added .48 Priority, though, was given to first aid and lessons in tropical health and hygiene . One of the most significant consequences for health and medicine of the new imperialism was the emergence of tropical medicine as a distinct field of research within the broader medical transformations of the era, a field that exemplified the cooperation of the international scientific community prior to World War I . For the students engaging in missionary work an understanding of tropical medicine and hygiene was a crucial and welcome addition to their training .49 One initial obstacle confronting MSM students, however, was the lack of opportunities for clinical observation, making teaching about tropical illnesses difficult . In the early years of the school there were only two specialist centers for the treatment of tropical diseases in Britain, the Liverpool School of Tropical Medicine (established 1898) and London School of Hygiene & Tropical Medicine (1899) . At the latter, Dr . George Carmichael Low (1872–1952), the founder of the Royal Society of Tropical Medicine and Hygiene, received MSM students who he personally directed around the wards and demonstrated diseases and their treatments .50 It was only with the opening of Henry Wellcome’s Museum of Tropical Medicine and Hygiene in 1914 and the new Hospital for Tropical Diseases in 1919 that MSM students were able to benefit from the philanthropic and state investments in the development of tropical medicine .51 Autumn Term: Anatomy and Physiology. Hygiene. Medical terms, First Aid and Nursing. Elementary Medicine, Surgery and Dentistry. Homoeopathic Materia Medica and Pharmacology.

Spring term: Tropical Medicine and Hygiene. Elementary Medicine and Materia Medica (continued). Diseases of Ear, Eyes and of Children. Bacteriology, Microscopy. Tropical Nursing.

London Homoeopathic Hospital (1924), pp . 27–29 . On the transnational nature of late nineteenth century tropical medicine, with a focus on sleeping sickness, see Neill (2012) . 50 MSM/4/05 AR 1932–3, p . 3 . The Hospital for Tropical Diseases evolved out of the Dreadnought Seamens Hospital in Greenwich . It relocated to the former Red Cross hospital in the Endsleigh Palace Hotel, 25 Gordon Street, in 1919 where, until 1929, both clinical and scientific research into tropical medicine cohabited . See Cook (1990) . For the early development of the field of tropical medicine see Haynes (2001) . 51 London Homoeopathic Hospital (1924), pp . 27–29 . 48 49

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Summer term: Minor Surgery and Dentistry. Dispensing and General therapeutics. Diseases of Women. Infant Welfare. Anaesthetics. Surgical Nursing.

Fig. 1 MSM Syllabus 1950 (Source: MSM/4/53 (June 1950), p. 17)

Instruction at the MSM was initially constrained by the lack of textbooks for non-professional medical students . To that end in 1923 the school compiled its own textbook, written by the Dean, Edwin Awdas Neatby, and his cousin, fellow homoeopath, author, and later vice-president of the Bible Churchmen’s Missionary Society, Thomas Miller Neatby (1866–1944) .52 Financed by the Honyman Gillespie Trust, the 700-page “A Manual of Tropical Diseases and Hygiene for Missionaries” contained “all that is of known usefulness, both general and homoeopathic .” To make the information digestible for students without prior knowledge, “short sections explain the theory of homoeopathic practice and its application to the treatment of tropical diseases .”53 Recognizing the need for an expanded textbook devoted to homoeopathic medical theory and application, in 1927 Edwin Neatby and his partner in private practice, Dr . Thomas George Stonham (1857–1952), authored the 1000-page “A Manual of HomoeoTherapeutics” . In the introduction Neatby explained that this new book was not geared towards experienced practitioners of homoeopathy but, rather, was intended to serve as “a primer or stepping-stone” for both “professional readers” new to homoeopathy and “to the students of the Missionary School of medicine .”54 Together these two texts comprised the foundation for all homoeopathic classes at the MSM . Finding the balance between offering accessible, digestible instruction for non-medical students and a comprehensive foundation in both homoeopathic and orthodox medicine remained a challenge . In the 1924 history of the school the editorial acknowledged that “It is possible that in the early days of the School there was a tendency to make the lectures too advanced .”55 Partly to avoid pitching instruction at too high a level and to remain up to date, the school council ensured that the curriculum was constantly revised and updated, “to keep abreast with present day requirements on the Mission Field .” One example of this was mentioned in the 1935 annual report where the contribution of Dr . Muriel Radford (1889–1983), a public health expert who specialized in maternity and pediatrics, was

52 The Neatby family had a long association with both homoeopathy and nonconformism . Thomas Miller Neatby’s father, Thomas, was also a qualified physician and a London-based Brethren minister . 53 London Homoeopathic Hospital (1924), p . 31 . 54 Neatby/Stonham (1927), p . 1 . 55 London Homoeopathic Hospital (1924), p . 38 .

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recognized for adding a greater emphasis on hygiene and infant welfare to the school’s instruction . Maternity and infant welfare had become an increasingly important field in western healthcare from the 1920s . According to the report, the instruction Radford had given was immediately applied in the field, an unnamed MSM student from the previous 1934 session having subsequently returned to Africa with funding secured from their mission society to set up a new infant welfare centre .56 For all the oversight and revision of the curriculum the MSM did continue to offer advanced training arguably more appropriate for medical students than the missionary candidates enrolled there . In his 2003 chronicle of the school former student Canon Philip Price reminisced about some of the surprising medical work the students were permitted to engage in, such as tooth extractions, intra-muscular injections, urine testing and treatment of minor wounds and accidents . Price pondered: “Would all this have been possible today? Were we fortunate? I think we were!” He also noted the occasional consternation of the RLHH staff at the failure of the students to absorb all that was being taught, at times alongside the hospital’s postgraduate medical students . Dr . Twentyman “was amazed ‘no one, not even one, had remembered the cold sweat of Veratrum Album .’ Of course, we have all remembered it ever since! After all, we were, in a sense competing with fully trained doctors .” Price’s recollections serve as a reminder of the substantial challenges facing both instructors and students at the MSM: that those enrolled in the courses were missionaries, not physicians, and certainly not homoeopathic physicians . Learning the rudiments of first aid and even foundational medical theory and practice was one thing . A crash course in a sophisticated, advanced therapeutic system such as homoeopathy with its extensive materia medica and complex diagnostic and prescribing method was something else entirely . It is a testament to the commitment of both faculty and students that so many successfully completed the course at MSM and proceeded to apply what they had learned in the mission field .57 The Keswick influence

Homoeopathic medical missionary instruction at the MSM also benefited from the spiritual and organizational leadership of its presidents . Its first president was Captain James Cundy J . P . (1822–1909) . A council member of the Church Missionary Society and on the board of management at RLHH, Cundy was instrumental in shaping the

MSM/4/06 AR 1934–5, p . 5 . Along with her husband Dr . Maitland Radford, Dr . Muriel Ann Radford, an influential member of the Maternity and Child Welfare Group of the Society of Medical Officers of Health, was a notable interwar public health officer and proponent of birth control . They counted such figures as George Bernard Shaw, D . H . Lawrence, and Eleanor Farjeon as friends . For a recent comparative analysis of the exportation of metropolitan maternity and infant welfare policy to colonial Africa see Lindner (2014) . 57 Price (2003), pp . 68–70 . 56

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early identity of MSM . In particular, he was responsible for forging the close links between the school and the hospital . His death in 1909 was described as “a serious loss to the School,” although his widow continued to remain a subscriber to the MSM, her financial commitment to the school demonstrating the importance of familial connections in sustaining British homoeopathy .58 Cundy was a man of profound Anglican conviction and during his life engaged in a variety of faith-driven philanthropic and charitable endeavors, including his term serving as president of the MSM . The centrality of Christian duty in this role was even more clearly embodied by the men who succeeded Cundy . Indeed, the next three presidents of the school all served terms as chair of the evangelical Keswick Convention . Beginning in 1875, Keswick, an English Lake District town, played host to what became an annual, multi-denominational, tent-revival gathering of Christians inspired by the American Methodist holiness movement .59 The first of these Keswick MSM presidents, and Cundy’s immediate successor, was the renowned preacher, John Stuart Holden (1870–1934) . Prior to his appointment at MSM, between 1900–1905 Holden had served as a staff member of the Anglican Church Parochial Mission Society, visiting China, South Africa and South America in missionary service . On his return to London in 1905 he was appointed vicar of St Paul’s Church in Portman Square, and over the next decade employed his considerable public speaking gifts as one of the leading figures in the Keswick movement . Holden’s reputation for oratory resulted in an invitation to speak at the evangelical Men and Religion Forward Movement’s Christian Conservation Congress at Carnegie Hall, New York City, in April 1912 . Providentially, or so he later wrote, the day before he was due to set sail his wife took ill, necessitating Holden to remain at home to nurse her, leaving him as the possessor of two canceled first class tickets for the RMS Titanic .60 As the new president of MSM, Holden also maintained his commitment to missionizing, serving as Honorary Home Director of the China Inland Mission (CIM) .61 This had an obvious benefit for the school as Holden brought with him both an intimate understanding of missionary education and a personal belief in the value of providing medical and surgical training for missionary candidates . Holden, as spiritual and administrative figurehead, was the driving force behind the MSM expansion after the First World War, and he oversaw the school’s move into its new premises at Powis Place in 1925 .

London Homoeopathic Hospital (1924), p . 16 . For the authorized history of the Keswick Convention see Pollock/Randall (1964/2006) . On Keswick’s role in reshaping Anglican evangelicalism see Randall (2014) . On the Holiness movement see Boardman (1858) . 60 Eaton (2008) . 61 Founded in 1865 by Englishman James Hudson Taylor (1832–1905), the CIM was a non-sectarian, faith-mission society with a primary evangelizing focus on China and east Asia . 58 59

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Holden died in 1934 and the following year was succeeded as MSM president by his curate at St Paul’s, William Henry Aldis (1871–1948), who remained incumbent at the school until 1948 . Described as “the best known and most loved man in Evangelical Christendom,” at the time Aldis was invited to become president he was also serving as the Home Director of the CIM .62 In this capacity Aldis provided the school with even greater direct access to one of the largest and well-respected missionary organizations, with the added advantage of also having firsthand experience of applying homoeopathic medical practice in the mission field . On his first voyage to China in 1897, Aldis recounted how he had carried with him a box full of homoeopathic medicines and an instruction book given by his uncle . He noted that his own parents had been homoeopaths, but he had not yet picked up the family tradition . Nevertheless, once on station in China he had put the remedies provided by his uncle to good use, referring to the book to aid him in prescribing . One of Aldis’ first official functions was to address the School’s thirty-second annual meeting and student prize giving, held at the RLHH on the afternoon of Friday June 28, 1935 . In his speech Aldis commended the school for the invaluable instruction it gave to missionary candidates, and wryly wondered at the adage “a little knowledge is a dangerous thing .” Only a doctor could have originated such a saying, he joked, “and it must have been said as a protection to the profession .” Aldis clearly knew his audience, for although the school faculty members in attendance, including Sir John Weir, were all fully qualified and highly experienced medical doctors, the opprobrium attached to homoeopathy was a professional stigma all would have been only too familiar with . What was indisputable though, Aldis emphasized, was that the adage was simply not the case with mission work where “any little knowledge possessed by a Missionary of the art of healing was better than none, and it was little short of tragic for anyone to go out to the mission field without any knowledge whatever of how to heal the sick .”63 Following Aldis was another Keswick chairman, Alfred Timothy Houghton (1896– 1993), himself a graduate of the MSM, who had gone on to pioneering missionary work in upper Burma (Myanmar) . While on station there in 1927, Houghton wrote to the school to express his gratitude for his training, and also made a revealing admission: I can never be too thankful for my year’s course at the M . S .M in 1923–24 . I went with the intention of getting all the good out of the course, while studiously avoiding anything to do with homoeopathy, but my interest was soon aroused and I felt I had come, not to a colony of cranks (!) but to people who really knew what they were talking about .64

Houghton’s initial hesitancy regarding homoeopathy and the perception that it might be a “colony of cranks” was all too familiar to the medical women and men who in62 63 64

Macbeath (1949), p . 12 . MSM/4/06 AR 1934–5, pp . 24–28 . MSM/4/02 AR 1927–8, pp . 13–14 .

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corporated Hahnemann’s system in their professional repertoire . Although the bilious hostility towards homoeopathy from within the orthodox medical community had largely died down in the early years of the 20th century, there were still many doctors and lay people who remained vocal in their disdain . As the editorial remarks prefacing Houghton’s letter made clear, the MSM had also encountered opposition from some missionary organizations owing to the inclusion of homoeopathy in the curriculum . Nevertheless, Houghton’s reaction, as with so many former skeptics, was telling: “As I watched the clinics I was amazed at some of the successes, but I have been very much more amazed by the successes I myself have experienced out here! I should not have thought it possible that a complete amateur like myself could prove so useful .” One such successful case Houghton recounted in his letter was that of a Burmese woman who sought help for severe chest pains . He noted that she looked seriously ill and that “She said she had already had about forty different medicines and only came to the dispensary as a last resort,” an indication that she was not only dissatisfied with the efficacy of orthodox western remedies but that she also recognized homoeopathy as a different paradigm . Houghton treated her homoeopathically with arsenicum at 30c potency, whereupon very rapidly “she recovered, and for the first time for months felt nearly well .”65 As a result of this successful demonstration of the power of both homoeopathy and Christianity, Houghton triumphantly revealed that the woman “showed her gratitude by bringing many other patients along .” It was clear, as far as he was concerned, that the homoeopathic training he had received at the school had indeed opened a door to the local populace, and he was unhesitating in his recommendation that “every intending missionary student should go to the M . S . M .” However, the true objective, he reminded those reading his missive, should never be overlooked: “Of course I regard all this as a means to an end – the evangelization of the people .”66 It was at the 1928 Keswick Convention where Christine Cheal resolved to dedicate her life to the mission path . Five years later, at the MSM annual general meeting held at the Royal Institute of Public Health in London in June, 1933, she was one of several former students invited to address the board .67 She paid tribute to the school, noting the “great value of the course,” before recounting how, on her arrival in Nigeria in 1930, she discovered a large medical mission “with a good homoeopathic background” already present . This had been established for the Cambridge University Mission Party by Margaret Compton-Burnett, sister of the novelist Ivy and daughter of influential British homoeopathic physician James Compton-Burnett (1840–1901) .68 The use

MSM/4/02 AR 1927–8, pp . 13–14 . MSM/4/02 AR 1927–8, pp . 13–14 . MSM/4/05 AR 1932–3, p . 19 . On mission and medicine in the Jos region of British colonial Nigeria see the Ph . D . thesis by Abdullahi (2019), pp . 154–160 . 65 66 67 68

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of homoeopathy at the mission was continued by Cheal and her colleague Elsie M . Webster, with Cheal reporting to the meeting on the many successes they had, most notably during the jigger infestations that had then lately arrived on the plateau . The parallel work of introducing non-Christians to the word of God similarly prospered, as Cheal explained: “Although the jiggers were a tremendous plague to the people, in some sense they were a blessing in disguise for mission work, because they brought people who would never otherwise have been reached, and they were thus able to hear the Gospel message .”69 Extending networks

Like Cheal, many of the school’s graduates, male and female, went on to highly successful careers in the mission field where they utilized the medical training they had received . In the debut class of 1903, for example, MSM’s first registered student was Reverend Arthur Stuart McNairn (1873–1953) . Upon graduation McNairn would leave for mission work in Peru, where his healing skills were frequently called on . He would later go on to become General Secretary of the Evangelical Union of South America (EUSA) . In a letter to the school it was McNairn who would write a sentence encapsulating the impact of the school and its students that would later become the unofficial MSM motto, “You are touching the ends of the earth .”70 Exemplifying this phrase, and the importance of the missionary network that spread out from the school, was Mrs . Sircar . In her address to the 1930 meeting Mrs . Sircar had noted that, in addition to her medical training, her time at the MSM had also been of tremendous value in creating fellowship with her fellow students, nurses, professors and doctors . Such connections were instrumental in fostering a collegiality that sustained MSM graduates in the field and helped maintain ties to the school and to the broader, international homoeopathic community . In 1934 this was formalized in the shape of a new Students Fellowship Association, created at the urging of Reverend Stanley Franklin, a 1913 graduate of MSM and Congregationalist missionary with the EUSA . The Fellowship and its bi-annual magazine were intended to connect past and present MSM students, and to that end an annual Fellowship Day was held in London . The MSM Student Fellowship bureau also aided its graduates in the field by dispatching packages of remedies, medical texts, and equipment .71

MSM/4/05 AR 1932–3, p . 20 . EUSA was formed at the Keswick Convention in 1911 after 1910 World Missionary Conference held in Edinburgh RBMU (Regions Beyond Missionary Union) decided against ministering to Catholic dominated areas . 71 MSM/4/06 AR 1934–5, p . 7; MSM/4/62 (1935), p . 3 . 69 70

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The affective bond forged between students and the school would often endure for decades . Emily Rowntree (1922–2014), who received an M . B . E . in 1981 for nursing services to the community in Angola, had originally attended MSM in 1948 . She returned for a refresher course three decades later and at the 1979 meeting described her experiences at the two mission hospitals she helped run at Cazambo and Cavungo, and later in neighbouring Zambia . Supplies for the mission had “always been irregular” she recalled, “but one has been most grateful to the Lord for a knowledge of Homoeopathy .” Recourse to homoeopathic remedies was not only by design but also, as Rowntree explained, by necessity, for “on many occasions we would have had to close our hospital had we not been practising Homoeopathy, as no other drugs were available .” So efficacious were these remedies that patients traveled hundreds of miles for treatment, “and often leave the government hospital for some of our ‘little sugar pills .’ ” Underscoring the non-sectarian training MSM students received, Rowntree reiterated the benefits of homoeopathy when orthodox western medicine faltered, explaining that “Every patient receives Homoeopathy and we find it a great help as an addition to the conventional medicines for Tuberculosis .” Emily Rowntree concluded by acknowledging the great privilege she had in returning to the MSM for “a few months” and thanked the school staff “who have been so faithful in teaching all down the years .” Echoing the appreciation of countless MSM alumni before her, Rowntree gratefully noted “Their help has been so invaluable to so many of us working in isolated areas .”72 Another graduate of the program who would not only retain a life-long affinity with the school but also, briefly, become its president, was Leonard C . J . Moules F . R . G . S . (1912–1978) . A member of the Worldwide Evangelisation Crusade established in 1913 by the cricketer, missionary and proponent of muscular Christianity, Charles Studd, Moules worked in India, Nepal, and Tibet after attending the MSM in 1930 .73 Following a period assisting in cataract operations on the Tibetan border Moules resolved to write to the MSM Student Fellowship bureau to request his own set of cataract surgical instruments before embarking on a new mission to Tibet the following year . He certainly made good use of the homoeopathic medical training he had received at the school, recording with satisfaction how he had successfully used the remedies Bryonia and Phosphorus to treat two Indian women suffering from pneumonia, as well as a case of malaria which he treated with Natrum Muriaticum . He acknowledged his debt of gratitude to the school, writing that:

Quoted in Price (2003), p . 108 . The Worldwide Evangelisation Crusade was founded as the Heart of Africa Mission in 1913 by former England test cricketer and one of the Cambridge Seven missionaries to China, Charles Thomas Studd (1860–1931) . 72 73

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I cannot praise God enough for the great value of the MSM course . Through the knowledge imparted to me, the great closed doors of Nepal opened on four occasions to allow me to enter to treat sick men and women . This not only afforded opportunity for practice but it allowed the glorious Gospel to be left by the spoken and printed word .74

Moules was not the only graduate of MSM to gain entry into otherwise inaccessible territories . Scottish missionary, activist, filmmaker and friend of the Dalai Lama, George Patterson (1920–2012), had studied at MSM prior to leaving for China and Tibet as a missionary in 1946 . Another was Mildred Cable (1878–1952), a vice-president of the British and Foreign Bible Society, who was with the China Inland Mission and, along with Francesca and Eva French, spent more than two decades preaching in China, Mongolia and Tibet . Cable addressed meetings at MSM twice, in 1932 and again in 1950, when she described how she had given a homoeopathic remedy to the son of a Tibetan princess and upon his recovery was permitted to continue her travels unhindered in western China .75 The benefits of MSM medical training would vary according to the mission location . In the first half of the twentieth century large areas of Africa, Asia and South America still had relatively limited medical provision, particularly outside of urban centers . In these regions the homoeopathically-trained missionaries often found little in the way of competing orthodox western medical practitioners and had much greater latitude for diffusing homoeopathic knowledge . In other parts of the world local regulations curtailed their medical services . A 1947 graduate of MSM, Raymond Lower, who went on to conduct missionary work in Nagoya, Japan, observed that in “Japan, which has a very good medical and dental service, no one is allowed to practice medicine or dentistry without being officially qualified .”76 In contrast, an MSM trained missionary in Northern Rhodesia wrote a letter of thanks that was published in the journal Homoeopathy in February, 1935 for providing lay practitioners such as himself with valuable homoeopathic information . This supplemented the basic instruction he had received in London at the school, noting in particular the value of the “drug pictures” that so helped aid diagnosis . He explained that due to the presence of a government doctor who took care of the bulk of the sick at the Fort Rosebery station (Mansa, Zambia), he and his colleagues did not do as much dispensary work as when they were on “trek .” However, he explained, when the government doctor is: baffled, as he nearly always is in the matter of babies (for all he has to give is Grey powder and Quinine) he sends the baby to us saying, “Go over to the mission for they have

74 75 76

Quoted in Price (2003), p . 30 . For a biography of Moules’ see Wraight (1981) . MSM/4/05 AR 1932–3, pp . 22–26 . MSM/4/38 AR 1984, pp . 12–13 .

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got another ‘muti’ (medicine) which will help you!” So we have here a very large practice among all the babies of the locality for the natives know that they will get very little from the doctor to help them – but the mission – !77

Although we only have this report, penned by an unidentified former MSM student, as evidence, the “grey powder” referred to here was almost certainly calomel, a “heroic” remedy prepared with mercury chloride that was used widely for a range of maladies during the 19th century . Calomel’s toxicity became apparent in the 1890s but, through a combination of the effective advertising of patent remedies in the powerful new mass media and the reticence of medical practitioners to abandon the remedy, it continued to be prescribed, often being given to infants to alleviate teething, until 1948 .78 Such injurious but commonly used pharmaceuticals as “grey powder” were precisely the orthodox remedies Hahnemann and his homoeopathic devotees categorically rejected and accounts such as this also help to explain why, according to the MSM and its supporters, colonial peoples appeared to favour homoeopathic remedies . This was for both minor ailments and serious cases alike, with local peoples seemingly possessing a strong belief in the efficacy of the homoeopathic missionary medicine, preferring it over the orthodox, western medicine offered by the government doctor . As the Fort Rosebery MSM graduate revealed: when epidemics of influenzal colds and the like come along, they never think of going to the Hospital for the doctor’s attention . They say, “It is no use, we never get much help from his medicine, but yours cures us in the one day!” And so true is this that if they are not better the next day after having the “wee sweeties” they come back frightened thinking that their “disease” must be very serious indeed!79

The actual receptivity among indigenous peoples to these homoeopathic missionaries and their dual evangelism is difficult to accurately determine, and the correspondence of MSM graduates, invariably laudatory, clearly only provides a partial perspective . One way to gauge the extent to which the homoeopathic missionaries successfully promulgated their dual message is to determine how extensively homoeopathy persisted in post-colonial societies . Perhaps surprisingly the numbers of homoeopathic practitioners, hospitals, and dispensaries in many formerly colonized lands remains high . One of these areas is the Solomon Islands in the Pacific Ocean, where as recently as 2009 there were more than 150 dispensers of the “Water Medicine,” as homoeopathy continued to be known there, and it is estimated by homoeopath Jane Lindsay that between 40–80,000 people are treated annually with homoeopathy .80 The introduc77 78 79 80

Anonymous (1935), p . 67 . Dally (1997) . Anonymous (1935), p . 67 . Lindsay (2010) .

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tion of homoeopathy to the Solomon Islands began in 1908 with the arrival of John Northcote Deck (1875–1957) as medical officer to the South Seas Evangelical mission, and was continued through the 1970s and 1980s by MSM graduate Margaret Bartlett . In between, in 1951 a nurse, Sister Schrader, working in the Solomon Islands, described the interactions between mission and islanders that typified homoeopathic ministry as it occurred across time and place, and which frequently resulted in the embrace of both Christianity and homoeopathy by indigenous peoples: Here we have a Homoeopathic Mission Dispensary and during the last three years I have been alone, the nearest doctor being 300 miles away […] The medical knowledge and homoeopathic medicines have been a wonderful help and through the use of them I have been privileged to lead many people to Christ . All the national evangelists are trained in the use of homoeopathic medicines and they are wonderful in their prescribing; often their results are better than mine!81

This transmission of homoeopathic knowledge to indigenous students was a crucial instructional extension of the MSM ministry in the field and we see repeated evidence of this in the published correspondence . In a letter to the school printed in the 1935 annual report, former students Edith and Percy Moules, a missionary couple with the Worldwide Evangelisation Crusade in the Belgian Congo, described how useful their training had proven . Echoing other medical missionaries, “We have found medical work to be a means to an end,” they explained . Although “the physical condition of the native is terrible,” the Moules wrote, “homoeopathy has been proved with great success” in the daily practice of their ministry .82 The most prevalent conditions the Moules’ encountered at their station in the Ituri Forest were venereal disease, yaws, and leprosy, with much of their focus on the latter . Typifying the healing ministries of so many MSM graduates, they used homoeopathic remedies in conjunction with orthodox pharmaceutical medicines . “The leper patients,” they explained, “are treated daily by injections, with the result that many advanced cases are relieved, and each year a goodly number leaves the compound, symptom-free, and also bearing a bright testimony for Christ .”83 As evidence of their achievement in bringing souls to Christ and medical knowledge to the local population, they concluded their letter with an enthusiastic update in which they explained that “the use of natives in the dispensary has proved a remarkable success, for a common native boy out of the village is soon able to attend to common complaints .”84 Quoted in Price (2003), p . 58 . MSM/4/06 AR 1934–5, p . 10 . The injections used by the Moules were presumably chaulmoogra, a hit or miss remedy for leprosy that dated back to fourteenth century India but was first developed as an injectable by Alice Ball, a young chemistry professor at the College of Hawaii in 1915 . See Parascandola (2003) . 84 MSM/4/06 AR 1934–5, p . 10 . Brief accounts of Edith and Percy Moules in the Congo can be found in Roseveare (1974) . 81 82 83

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This training of indigenous healers was not always straightforward . Nurse Schrader in the Solomon Islands highlighted a discursive obstacle when it came to lay homoeopathic prescribing, observing that: “When patients come to the dispensary it is often difficult to get the symptoms correctly as they speak in ‘pidgin English’ and a description of the pain may go like this, ‘The pain go up leg belong me’ or, ‘Belly belong me sore’ or, ‘All down arm belong me!’”85 Even for a fully trained homoeopathic physician deciphering this would be tricky, although their diagnostic expertise would, to a certain extent, offset such communication noise as translation and linguistic dissonance . In an article on tropical medicine published in the December, 1945, edition of the British Homoeopathic Journal, Dr . Carl K . Becker of the Africa Inland Mission emphasized the vital importance of correct diagnosis in determining whether to use native cures, homoeopathic remedies or orthodox treatment: if I pretend to treat a patient without making a possible diagnosis, or if I prescribe a drug without knowing its specific effect on the disease in question or its possibilities of harm, then I feel justified in placing myself (or our native helpers) in a class with the witch-doctor . We do no more good . We may do just so much more harm as our remedies are more potent .86

Becker of course was a doctor, not a lay minister serving in the mission field with rudimentary medical knowledge . Nevertheless, his emphasis on the critical importance of diagnosis was one of the fundamentals of homoeopathic practice, and one of the key lessons imparted to students at the MSM from its earliest days . Decline

In the immediate post-Second World War period there was cause for much optimism at the school, with repeatedly record enrollment figures through the late 1940s . But, by the Jubilee year, 1953, enrollments had declined enough to warrant editorial attention on the first page of the annual report, with president Houghton conjecturing whether the school fees might represent a significant obstacle inhibiting prospective students . The MSM Council resolved to ensure that all “suitable” students should be able to attend, regardless of ability to pay . To help facilitate this the school launched a drive for what became the Jubilee Bursary Fund, “by which it is hoped to offer a number of entirely free places and very generous reductions in other cases .”87 Similar fundraising schemes had been initiated in the past, with varying degrees of success, but the financial situation of the school, and concerns over the ability of 85 86 87

Quoted in Price (2003), p . 58 . Becker (1945), pp . 119–120 . MSM/4/19 AR 1953, p . 4 .

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the students and their missionary societies to pay for the program, were only part of a much broader series of challenges the MSM faced . Although during the 1960s there would be episodic surges in the school’s annual enrollments, such as the high of twenty seven students, including nine missionaries on furlough, in the fifty-eighth session, 1960–1961, a precipitous overall decline in student enrollments affected the school throughout the decade . This appears to have been the result of both local and global historical trends over which the school had no control . In part, the diminishing numbers of students can be seen as a reflection of the wider crisis of faith, “The Death of Christian Britain”, as Callum Brown has provocatively argued, that occurred in the 1960s .88 Coincidentally, the mid-1960s was also characterized by a changing of the guard as the school lost several devoted and influential staff . In 1965, the esteemed Honorary Secretary, Sir John Weir, retired . He was joined that same year by the long-standing school Warden, Miss Elizabeth J . Bargh, who had held the position since 1931, and her assistant of eighteen years, Miss Iveson . Contemporaneously, the post-colonial creation of national healthcare and medical training systems, staffed by qualified indigenous medical personnel, meant that from the mid-1960s the training offered by the MSM became less and less in demand . To compound matters, the rationalization of the National Health Service in Britain in the 1970s and especially the 1980s seriously impacted the RLHH, with cutbacks forcing the closure of the hospital operating theatre and several surgical wards . At the same time there was a marked decrease in the number of RLHH staff willing to volunteer their time to the school . Philip Price has calculated that the number of professional faculty at the hospital who gave their services to the school in 1950 was thirty four, falling to a mere thirteen by 1984 . This meant that MSM students faced increasingly limited opportunities for instruction and observation .89 The school administration responded to the falling numbers with a mixture of alarm and pragmatism . In 1975, the nine-month, three-term structure of the curriculum was altered for the first time in almost eight decades . Intended to appeal to increasingly time and cost-conscious students, the main MSM course of instruction was henceforth condensed into a three month program, with a recommendation that students take an additional practical month if possible . Despite this streamlining of the school curriculum the slow decline continued and throughout the 1980s student numbers were negligible . With insufficient income from student fees, only the combination of donations, legacies and investments allowed the MSM to remain afloat . In 1990, school president Dr . Kathleen Priestman wryly noted how the MSM had been “like Elijah – in a state of drought for these past few years, with decreasing numbers of students and a dwindling income .”90 However, the following 88 89 90

Brown (2000) . Price (2003), p . 116 . MSM/4/43 AR 1990 .

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year the school recorded a total of ten students, seven for the January to April course and three for the September to December session, more than at any time since the 1970s . This offered hope that there remained a need for the school and a rebranding was decided upon, culminating in the school name being changed to Medical Service Ministries .91 The surge in student numbers, however, proved to be a false dawn and in 1992 not a single student enrolled at the school . Not even the appointment of the Reverend T . Omri Jenkins (1915–2003), Director of the European Missionary Fellowship, as new school president in 1993 failed to halt the slide . In 1996, the MSM announced the cessation of all instruction, transitioning the MSM into a grant-awarding entity and, on June 19, the Warden and Head of Studies, Mrs . Jean Hayward-Lynch, locked the doors for the final time as the school vacated 2 Powis Place . Conclusions

One of the limitations of this article is its reliance on the restricted internal dialogue of the sources . Just as with Philip Price’s chronicle of the school, much of the evidence here is taken from the surviving MSM annual reports . By their very nature, these are curated editorial documents intended to promote the organization and present it in its best light . With that being noted, the pages of testimonies and editorials contained in the annual reports spanning more than seventy years of the school’s history do shine a light on the institutional objectives of the MSM, and the beliefs and attitudes of its staff and students . What is revealed is that the Christian mission “to heal and to pray” was a sincerely held conviction that prompted highly qualified medical personnel, homoeopathic and orthodox, to voluntarily give their time and expertise in the service of the school . Equally, this conviction drove the hundreds of students, representing scores of different missionary societies and hailing from dozens of different countries, to diligently immerse themselves in the comprehensive and meticulously planned curriculum of study and enthusiastically participate in the spiritual and social fellowship provided by the school . The MSM was not the only source of homoeopathic medical ministry; unaffiliated and independent homoeopaths carried Hahnemann’s healing system to all corners of the globe throughout the nineteenth and twentieth centuries . But as a coherent and systematic institutionalization of homoeopathic medical outreach the MSM was unrivalled, serving for more than ninety years as the launch pad and forum for the diffusion of homoeopathy as it was taken into the field by more than a thousand missionaries and their families .

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Price (2003), pp . 119–120 .

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Just four years after the establishment of the MSM, Dr . John Henry Clarke, president of the British Homoeopathic Society, provided one of the clearest statements of how homoeopathy itself was a calling, one that aligned precisely with the colonial era missionizing obligation to heal and to save that inspired the creation of the MSM .92 Drawing to the end of his valedictory address on October 3, 1907, Clarke acknowledged the work of the Society’s secretary, none other than Dr . Edwin Awdas Neatby . Clarke then bade farewell with an unequivocal declaration: The mission of homoeopathy is to civilise, I might also say to spiritualise, medical practice . When we think what the millions of suffering humanity – and the suffering animal world, too, for that matter – are daily losing for the want of the help which homoeopathy is ready to give, all smaller questions fade into nothingness beside the one great question which burns in our hearts, the desire to make the truth we know prevail for the salvation of the world from disease and suffering . This is our mission .93

Bibliography Archives

SOAS Medical Service Ministries (ex Missionary School of Medicine), London (MSM) Miscellaneous Correspondence and Committee Meeting Minutes MSM/1/4 Letter to Neatby, from St Peter’s Vicarage, Southborough, Tunbridge Wells (April 15, 1932), in Executive Committee and Council Minutes, 18 Jun 1925–20 Feb 1934

Annual Reports (AR) MSM/4/01 AR 1906–1927 MSM/4/02 AR 1927–8 “Solicited Testimonies” MSM/4/03 AR 1929–30 “Nine Out of Ten” MSM/4/04 AR 1931–2 “Prejudice Breaks Down” MSM/4/05 AR 1932–3 “Winning Confidence” MSM/4/06 AR 1934–5 “An Effectual Door”

92 The British Homoeopathic Society, founded in 1844, is the professional body for medical homoeopaths in the UK . On its centenary the name was changed to the Faculty of Homoeopathy, and in 1950 it was incorporated by an Act of Parliament . For a short history see Smyth (2019) . 93 John Henry Clarke (1907), p . 345 .

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MSM/4/07 AR 1935–6 “Preparation for the Field” MSM/4/08 AR 1936–7 “A Wonderful Key” MSM/4/13 AR 1946 “Reinforcements” MSM/4/19 AR 1953 “Fifty Years!” MSM/4/37 AR 1983 “Eighty Years 1903–1983” MSM/4/38 AR 1984 “Sent Ones” MSM/4/43 AR 1990 MSM/4/53 The MSM Chronicle: The Organ of the Missionary School of Medicine ( June 1950) MSM/4/62 The Fellowship Chronicle: The Organ of the Students’ Fellowship 1 .1 (1935)

Primary sources

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mldraper@ucdavis .edu

“We Support Vaccination, and They Don’t” Victorian Homoeopaths and Smallpox Vaccination, 1860–1882 JU-YI ROSHNII CHOU Medizin, Gesellschaft und Geschichte 40, 2022, 215–239

„Wir unterstützen Impfung, sie tun es nicht“ Viktorianische Homöopathen und die Pockenimpfung, 1860–1882 Kurzfassung: Komplementär- und Alternativmedizin (CAM), insbesondere die Homöopathie,

werden seit langer Zeit mit Impfskeptizismus in Verbindung gebracht . Diese Assoziation ist merkwürdig, wenn man sich die Ähnlichkeit zwischen Impfung und homöopathischen Prinzipien vor Augen führt . Die vorliegende Studie untersucht die Auseinandersetzung viktorianischer Homöopathen mit der Impfdebatte auf dem Höhepunkt der Impfgegner-Bewegung von 1860 bis 1882 und findet mindestens drei verschiedene, gleichzeitig bestehende Ansichten zum Thema Impfen . Angesehene Homöopathen führten Anti-Impf-Kampagnen an, während die Mehrheit der qualifizierten Homöopathen eine verbesserte Impfmethode befürwortete, die später zum nationalen Standard wurde . Die Anhänger Hahnemanns dagegen lehnten das Impfen ab, weigerten sich allerdings, mit der Anti-Impf-Bewegung zusammenzuarbeiten . Dieses komplexe Bild legt nahe, dass wohl keine Begründung gegeben ist, Homöopathie und CAM mit einer skeptischen Haltung dem Impfen gegenüber in Zusammenhang zu bringen .

Dr George Wyld’s Epiphany

One bleak London evening in 1877 . Dr George Wyld (1821–1906) was walking home, alone, agonizing over his lost medical practice and ruined reputation . He surely was

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not expecting the revelation that would turn him into a catalyst for a vaccination reform in Britain .1 At the age of 56, he had believed in mesmerism for 36 years and practised spiritualism for 22 years . He had witnessed many séances, but none could compare with his recent encounter with the American slate-writing medium Henry Slade (1835–1905) . During Slade’s London tour in August 1876, Wyld paid him three visits and conducted about 20 experiments, acting as a sceptic . In one session he held Slade’s hands and feet tightly and fixed the slate below the flap of the table firmly . Three loud raps immediately occurred . He carefully and slowly drew out the slate and found this message: “Let this convince you .” Wyld was convinced . So much so, that when Slade was accused of fraud in October, Wyld rose to testify for him in the Court alongside Alfred Russel Wallace (1823–1913) and collected funds from spiritualists to cover Slade’s legal costs . Apparently, a Zoology professor at University College in London, Edwin Ray Lankester (1847–1929), went to Slade as a real sceptic and had stage magicians as his consultants . They found pre-written slates . After days of debates between believers and sceptics, Slade was eventually sentenced to three months in the House of Correction, which he never served, and soon left England amid his “deteriorated health” for the States and continued his travels and demonstrations in good shape .2 The highly-publicised court case made Wyld a laughingstock among the medical profession and the newspapers, and Wyld’s medical practice at once began to suffer . One could only imagine this Victorian professional gentleman’s distress, especially when he was coming from a family not short of distinguished citizens and connected with the Gladstones .3 But he did not expect what was to follow that evening, as he recalled, when close to the Marble Arch, it suddenly seemed to be said to me, ‘Take up Vaccination from the Calf ’ My wife and children were then at Eastbourne; and Mrs . Wyld knowing of my anxieties […] was writing a letter to me in which she said: ‘Why don’t you take up Vaccination from the Calf?’ I received this letter the following morning, and I at once wrote to Belgium for some calf lymph; and on its arrival I got a calf from my butcher and at once proceeded to vaccinate it . I then wrote to the leading newspapers that I was prepared to supply the profession with ‘Vaccine Lymph direct from the Calf .’ The result was that I got

1 The description of the incident below is largely based upon Anonymous (1883); Wyld (1903), pp . 66–68; Lavoie (2014), pp . 5–8; Oppenheim (1985), pp . 231–232 . 2 Slade was exposed several times throughout his career and died in poverty . The most publicised investigation was done by the Seybert Commission, consisting of the faculty members of the University of Pennsylvania . See University of Pennsylvania Seybert Commission for Investigating Modern Spiritualism (1887) . 3 The Wylds intermarried with the Gladstones, both from Lancashire . Wyld’s brother-in-law was Scottish scholar and university reformer John Stuart Blackie, who translated Goethe’s “Faust .” Wyld (1903), p . 1 .

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in one week 400 letters begging for Calf Lymph; and thus was inaugurated this great sanitary reform in Great Britain .4

Indeed an epiphany befitted a distressed spiritualist . During the height of the Victorian anti-vaccination movement in the 1870s, Wyld’s endeavour greatly improved smallpox vaccine safety and ensured a continuous vaccine supply at a time when the most common way for administering vaccine was the armto-arm method – first developed by Edward Jenner (1749–1823), but vulnerable to viral diseases such as syphilis . On the eleventh of June, 1880, the House of Commons resolved that the National Vaccine Establishment should make arrangements to supply animal lymph . The British Medical Journal triumphantly announced that “[t]he goal for which we have been striving has at last been reached; and we have good grounds for supposing that an increase both in the amount of vaccination and the quality of the protection afforded will be the result .” Wyld was openly thanked along with seven other individuals .5 He retired with great satisfaction from the laborious work of producing calf lymph in 1882 . We will come back to Dr Wyld and his calf lymph later; meanwhile, there is another important aspect in the episode above: Dr George Wyld was a homoeopath . He was the president of the British Homoeopathic Society in 1876 . Were Victorian Homoeopaths for or against the Smallpox Vaccine?

Complementary and Alternative Medicines (CAM) have long been associated with contemporary vaccine hesitancy or vaccine resistance6, especially homoeopathy7 . Historical studies of anti-vaccination movements also seem to confirm that this association can be traced back to the nineteenth century . According to these studies, the anti-vaccination movement could be summed up as homoeopaths, chiropractors and hydropaths fighting alongside other medical, political and religious nonconformists, who shared similar views of medical liberty and body politics, against the hegemonic policy of Wyld (1903), pp . 68–69 . Emphases in the original . Anonymous: The Official Introduction (1880), pp . 932–933 . A typical example is Wolfe and Sharp’s identification of four types of Victorian anti-vaccinationists, amongst them “proponents of alternative medical practice and theory, especially homoeopaths, chiropractors, and hydropaths .” This well-cited article from the British Medical Journal testified to the contemporary medical professionals’ assumption that CAM is linked to vaccine hesitancy . Wolfe/Sharp (2002), Box B . 7 According to Ernst’s research in 2001, British homoeopaths, especially non-medically trained ones, tend to advise their clients against vaccination on the grounds that it goes against the early philosophy laid down by Hahnemann and the general approach of homoeopathy . Ernst (2001) . In another research, Ernst showed that among the 53 % of the homoeopaths who responded to the survey, 74 out of 77 of them gave advice against MMR vaccination over the Internet, much higher than other CAM practitioners, such as chiropractors . Ernst/Schmidt (2003) . 4 5 6

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compulsory vaccination .8 But then how could we explain that George Wyld, a spiritualist, practical mesmerist, Swedenborgian, Theosophist, homoeopath, and later a Liberal Unionist would introduce and promote a new vaccine method in the heyday of the Victorian anti-vaccination campaign? And that his campaign, as I will show later, was inspired by another homoeopath, and well-received amongst his homoeopath peers? To answer, we need to distinguish two different sets of questions: (1) Who were Victorian anti-vaccinators and what did they have in common? (2) What were British homoeopaths’ attitudes towards vaccination? As an anti-vaccination stance – if any – could not have developed overnight, how did these attitudes come about and change over time? Most studies of anti-vaccination movements have asked the first set of questions, but to understand the association between homoeopathy and vaccine hesitancy we need to consider both . These questions require examining historical events from two different perspectives: the former of anti-vaccination movement or regular medicine, and the latter of homoeopaths . While most studies resumed the former perspective, adopting a homoeopathic frame of reference has proven to be fruitful in understanding the complexity of antivaccinationism . Wolff ’s thorough examination of late-nineteenth-century American homoeopathic literature revealed that most homoeopaths, albeit aware of possible side effects of the smallpox vaccine, did not reject the practice let alone actively campaign for its abolition . Anti-vaccinationism was actually a minority sentiment, often borrowing ideas from their British and German counterparts .9 Davidovitch went further to identify a wide range of views toward vaccination coexisted amongst different groups of American homoeopaths, and that anti-vaccination sentiment only gradually gained presence between the nineteenth and twentieth centuries .10 This awareness of pluralism of vaccine-related stances has found correspondence in meta-analyses of the contemporary interface between CAM and vaccination .11 As a result, instead of “anti-vaccination,” more encompassing concepts, such as vaccine hesitancy, vaccine resistance, or vaccine reluctance, have gained more ground in public health policy at least in the UK and USA since 2010 .12 Contemporary vaccine-related issues campaigners, such as National Vaccination Center in the USA, also actively emphasize that they are not “anti-vaccine” and consciously acknowledge variances of stances amongst their sympathizers after the 1970s, in contrast to a more dichotomic approach in the early years .13 8 Durbach (2005), pp . 38–70; Kaufman (1967); Leavitt (1976); Porter/Porter (1988) . 9 Wolff (1996) . 10 Davidovitch (2004) . 11 Wardle et al . (2016); Filice et al . (2020) . Both disputed a straightforward association

between CAM and vaccination . 12 For example, in the UK, the SAGE (Strategic Advisory Group of Experts) Working Group of Vaccine Hesitancy has been developing a matrix to understand the complexity of the phenomena since 2014 . 13 Johnston (2004) .

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Historiography of the anti-vaccination movement has followed a similar trajectory – from adopting dichotomic views towards vaccine issues to acknowledging the coexistence of various stances . Early researchers, such as Kaufman and Beck, adopting a relatively simplistic dichotomic view of “for” or “against” vaccination, tended to see the varieties and changes of stances as inconsistency and weakness amongst “antivaccinators” – they were irrational and anti-science .14 Building upon their works but with a homoeopathic perspective, Wolff and Davidovitch successfully found relevant social, medical and scientific contexts to make sense of the nonsense . Heeding their discoveries of multiple voices, this paper will investigate the journals and writings of three groups of Victorian homoeopaths as well as other periodicals between 1860 and 1882 – when the policy of compulsory vaccination caused great turmoil – in an attempt to address the second set of questions . My main contention is that the meaning of these communications can only be understood by how the authors identified themselves to their audience and one another, i . e . their social identities . Medical periodicals served similar functions of social media accounts in the nineteenth century15, and their contents were curated . Most historical studies concentrate on major publications but lesser publications have shown to be significant participants in medical debates .16 By doing so this paper reveals a complex picture where opinions and actions were shaped by both scientific beliefs and one’s social identities . This picture as well as homoeopaths’ contributions to vaccine development are largely overlooked by medical historians assigning homoeopathy monolithically to the anti-vaccination camp . That British homoeopathy was as diverse as but greatly different from what it is today, and that new theories and practices were adopted by different factions of homoeopaths over the second half of the nineteenth century, make it difficult to give a simple definition of “homoeopathy,” and to identify “homoeopaths .”17 This paper follows my previous framework to study “professed” homoeopaths, i . e ., those who identified themselves as ones by associating themselves with associations and publications related to homoeopathy . The framework adopts two categories – reformer homoeopaths and professional homoeopaths – to distinguish homoeopaths by their social identifications with social reformers or with the medical profession .18 From now on I will limit the use of ‘vaccination’ to its historical meaning as the smallpox vaccination, rather than a particular method of disease prevention .19 Beck (1960), Kaufman (1967) and Leavitt (1976) . An estimated 479 medical journals were published in Britain in the nineteenth century . See Bynum/ Wilson (1992), p . 30 . 16 For example, Marland (2019) . 17 Chou (2016) . 18 Chou (2016), pp . 55–86 . 19 ‘Vaccine’ and ‘vaccination’ were coined by Edward Jenner from Latin vacca, meaning ‘cow,’ to distinguish his method from the then prevalent method ‘variolation’ – from Latin variola meaning ‘pustule .’ In14 15

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Homoeopathy and Vaccination: Theory and Practice

Like cures alike . Minimal dose . Two major characteristics of homoeopathy and vaccination were shared probably by no other medical innovation from the end of the eighteenth century . When considering the relationship between homoeopathy and anti-vaccinationism, the pressing question should be why would homoeopathy refute vaccination? Indeed, contrary to what most homoeopaths today believe20, Hahnemann and early homoeopaths found in Jenner’s vaccine a universal illustration of how following homoeopathic principles could save humanity from the destructive force of epidemics . Hahnemann praised that “since the general distribution of Jenner’s Cow Pox vaccination, human small-pox never again appeared as epidemically or virulently as 40–50 years before .”21 Despite disagreement with vaccination amongst early German homoeopaths22, Victorian British homoeopaths generally held the view that homoeopathy was the fundamental law of vaccination – just like the law of gravitation was fundamental to all things related to matter23, and that vaccination illustrated how homoeopathic principles could benefit humankind . According to probably one of the most popular domestic manuals of homoeopathy in Britain in the nineteenth century, Joseph Laurie’s (1829–1865) “Homoeopathic Domestic Medicine,” which went through 33 editions between 1848 and 1888, vaccination “is an operation purely homoeopathic […] has been frequently quoted by our Great Founder and his disciples, as one of the best illustrations of the immutable law of SIMILIA SIMILIBUS CURANTUR,” and it was recommended for infants of four- to five-month-old, or as early as possible if the chance of infection was high .24 In the 1860s, British homoeopaths were aware that dilutions of vaccine matter taken orally were also experimented with by homoeopaths in Italy, Germany, and America . However, “the internal administration of vaccine lymph” did produce tangible effects on the subjects, but was considered unsuitable for vaccine substitutes as

oculations for various diseases had been experimented with by the end of the nineteenth century, and these methods were sometimes referred as ‘vaccination’ or ‘inoculation .’ During an address regarding vaccination in a regular meeting of the British Homoeopathic Society in 1886, the speaker insisted that they limit the term ‘vaccination’ to cow-pox . “I shall not include in it the modern prophylactic inoculations of other viruses, which for convenience sake are sometimes called vaccinations .” Renner (1886), p . 2 . 20 Many homoeopaths today deny the similarities between homoeopathy and vaccination, see Ernst (2001) . 21 Hahnemann (1849), p . 46 . 22 Simpson (1853), p . 261 . Although Simpson did not specify who disagreed with Hahnemann, I have yet to find British homoeopaths openly expressing this disagreement in the 1840s and 1850s . Therefore I suspect that Simpson was referring to the debates amongst the German homoeopathic community . 23 Here is a typical example of this idea: “The true basis of principle, upon which the success of Vaccination is founded, is, however, as unalterable in physical relations as the Law of Gravitation; not more so indeed, because both, like all laws which affect Matter, may be over powered by other forces .” Laurie (1879), p . 78 . 24 Laurie (1848), p . 494 . Emphasis in the original .

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the symptoms developed in these experiments did not follow the course of symptoms occurring in vaccination .25 We could only imagine many Victorian homoeopaths’ shock (or embarrassment) when they found out some of their colleagues were amongst the “unscientific,” “unprofessional,” and “unhomoeopathic” anti-vaccinators . Reformer Homoeopaths and the Anti-Vaccination Campaign

Between the Vaccination Acts of 1853 and 1898, a state system was gradually built to implement compulsory vaccination for all infants in Britain . Fines and imprisonment were first introduced (1853), and subsequently made cumulative up to the age of fourteen (1867), then finally designated vaccination officers were appointed (1871) . The increasing state control of vaccination was met with corresponding opposition which prevented the strict enforcement of the law . The establishment of the Anti-Compulsory Vaccination League in 1866 at Finsbury, London, under the direction of Richard Butler Gibbs (1822–1871), a noted vegetarian and diet reformer, was generally considered to be the beginning of a more structured movement .26 By 1870, the League claimed 103 branches and 10,000 members . Throughout the rest of the nineteenth century, almost 200 anti-vaccination leagues were organised .27 It was with such massive organised movement, along with difficulties in medical management, that Sir John Simon (1816–1904), the head of the Medical Department of the Government between 1855 and 1876, who established the public health system for vaccination, testified before the Royal Commission in 1889 that between 1853 and 1871 vaccination could not be universally enforced .28 If not every homoeopath was against vaccination, one would assume that the antivaccinators could find their best allies amongst the reformer homoeopaths, such as William Laidler Leaf (1791–1874), Paul François Curie (1799–1853), Thomas Roupell Everest (1801–1855), and John Epps (1805–1869)29, who saw medicine as a means to liberate the poor and the lower classes from the monopoly and oppression of the medical establishment and formed organisations . They printed pamphlets, held enthusiastic public talks and engaged themselves in other social reforms . The most prominent such organisation was the English Homoeopathic Association (EHA), formed in 1845 by homoeopathic supporters, laymen and practitioners with the mission to spread Anonymous: On the Present Doctrine (1868) . Beck reckoned that a structured anti-vaccination movement did not develop until after 1871, while others see the establishment of the Anti-Compulsory Vaccination League as the starting point of large-scale anti-vaccination protest . Beck (1960) . 27 Durbach (2005), p . 38 . 28 Beck (1960), p . 311 . 29 Chou (2016), pp . 68–85 . 25 26

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homoeopathy far and wide . The Honorary Secretary of the EHA, Dr Charles Thomas Pearce (1815–1883), edited and published the Homoeopathic Record from Northampton between 1851 and 1862 . The publication soon became the primary communication channel of the reformer homoeopaths . On the other hand, the British Homoeopathic Society (BHS), set up 13 months before the EHA with the mission to “convert” and promote homoeopathy amongst the medical professionals, has published The British Journal of Homoeopathy since 1843 . In fact, before 1853, reformer homoeopaths frequently used “vaccination” and its history as rhetoric tools for justifying homoeopathy . Homoeopathy was rejected because “[a]buse and persecution have generally followed the discoveries of genius . The immortal William Harvey (1578–1657), who was called ‘the circulator,’ had his share; and Dr Jenner, who introduced vaccination, did not escape .”30 In the meetings of the EHA, vaccination was seen as an illustration of infinitesimal doses .31 The early history of vaccination and Harvey also proved that the medical profession and the Royal Society hindered medical progress, and therefore the mission of the EHA was justified . “As with vaccination so with homoeopathy, it is to the public, not to the profession, that success is owing .”32 Similar opinions were common amongst early reformer homoeopaths33, and these opinions were publicly discussed34 . However, the reformer homoeopaths’ opinions started to shift quickly after 1853 . The Vaccination Act, along with the fact that Parliament had since been discussing the Medical Professional Bill (later announced as the Medical Act 1858), which would regulate the qualifications of practitioners in medicine and surgery, alarmed the reformer homoeopaths that the public’s medical liberty was in threat .35 At first, their faith in vaccination remained; they simply maintained that the state had no right to insist on compulsory vaccination of the poor .36 But a well-circulated letter written by John Gibbs (1811–1875) – the cousin of the founder of the later Anti-Compulsory Vaccination League – and addressed to the President of the Board of Health, titling Anonymous (1852), p . 302 . Anonymous (1851) . Epps (1875), p . 309 . Another example, E . V . N . (1852) . For example, John Epps delivered a well-received and humorous address in the library hall of the Athenaeum, Manchester, where he said “Gall was a humbug when he discovered that the brain and the mind were connected together . Harvey was a humbug when he proclaimed the circulation of the blood . Jenner was a humbug when he said vaccination was protective against smallpox . And every man is a humbug to those who have previously humbugged the community . (Loud cheers .)” Quoted in Anonymous (1853), p . 385 . 35 In protest against the new medical reform bill, Pearce led a Medical Liberty League, whose aim was to “unite all classes, medical and non-medical – an eclectic body, including not homoeopathists only, but hydropathists, medical botanists, and any other, even mesmerists, yea, those who have no medical creed at all, but who jealously regard their own liberties, and would lend a helping hand to save the country from a state medical priesthood .” Anonymous (1858), p . 65 . 36 Anonymous (1856), pp . 101–104 . 30 31 32 33 34

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“Compulsory Vaccination Briefly Considered, in Its Scientific, Religious, and Political Aspects,” where numerous examples were given to prove that the effect of vaccination was doubtful in preventing smallpox37, encouraged further investigation in the effectiveness of vaccination at the scale of public health and stirred up doubts over reformer homoeopaths’ faith in vaccination . The editorial of the Homoeopathic Record first agreed that many smallpox patients were previously vaccinated, but it was due to the ignorance of the legislators that the vaccine failed . “[B]elieving, as we do, that vaccination, properly performed with pure lymph is preventive of small-pox ”38 This view was soon further modified in the following issue of the Record, where hydropath Horace Edward Johnson39 traced the history of smallpox and claimed that the disease was already in decline when Jenner discovered vaccination40 . The argument was later re-stated by Charles Thomas Pearce with statistics .41 Charles Thomas Pearce’s statistical denial of vaccination

When Charles Thomas Pearce, the editor of the Homoeopathic Record and once the Honorary Secretary of the EHA, held his first public debate about vaccination, addressing a working-class crowd in Northampton in 1860, he probably did not expect that in eight years he would deny vaccination completely, and Northampton would become a centre of resistance to the compulsory vaccination law .42 Pearce was a Victorian man of science . He was the secretary of Sir Richard Rawlinson Vyvyan (1800–1879), a Fellow of the Royal Society, geologist, metaphysician and Tory politician .43 Pearce was likely involved in Vyvyan’s scientific experiments and researches on light, heat, and magnetism .44 Notes about their joint research on the magnetism of the Moon’s rays were recorded in “The Weather Guide-Book,” published by Pearce’s son, Alfred John Pearce (1840–1923), in 1864 .45 Incorporating his knowledge on how Gibbs (1856) . Anonymous (1856), p . 113 . Emphasis in the original . Although I cannot identify Horace Edward Johnson’s year of life and death, he was amongst an important family of hydropaths . His father, Edward Johnson (1801–1867), was a pioneer of hydropathy in England, who studied hypropathic practices in Gräfenberg, Austria in person . Horace Johnson’s older brother, Walter Johnson, was also a prominent hydropath, who succeeded their father’s clinic in Malvern Hills after his death in 1867 . 40 Johnson (1856) . 41 Charles Thomas Pearce (1868) . 42 I would like to thank Pearce’s third grand-son, David Charles Manners, for sharing his unpublished biography of Charles Thomas Pearce . Manners (2014) . 43 Pearce’s political stance serves as a complex response to Rankin’s theory that the EHA was related to the Tory political movement . Although he was the secretary of a Tory politician, he stood as a Liberal in an election in 1858 . Manners (2014), p . 54; Rankin (1988) . 44 Manners (2014), p . 64 . 45 Alfred John Pearce (1864) . 37 38 39

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the planets influenced the magnetic fields of human bodies into his diagnosis and prognosis, Pearce became a so-called “medical astrologer,” and his son was also a medical astrologer and almanacist . In this way, Pearce shared with his fellow Victorians the attitude that mysticism and metaphysical phenomena could be understood by experiments and scientific laws . It is then no surprise that Pearce adopted statistics to construct anti-vaccination arguments which gave a scientific boost to the movement . In his first statistical essay against vaccination, “Vaccination: Its Tested Effects on Health, Mortality and Population” (1868), he declared vaccine as valueless, and vehemently criticised the way that the government disregarded the issues of vaccine safety and forcibly exposed the poor to the danger of other diseases, notably syphilis and erysipelas . In 1871, Pearce gave evidence to a Select Committee appointed to inquire into the Vaccination Act of 1867 . In 1877, he published “Vital Statistics Showing the Increase of Smallpox, Erysipelas, etc ., in Connection with the Extension of Vaccination,” where he argued that mortality rates after the introduction of compulsory vaccination in the three smallpox epidemics were much greater than the increase of population would account for . He concluded that instead of checking the spread of smallpox, vaccination might in contrast be harmful and sometimes even fatal .46 Professional homoeopaths’ reactions

Professional homoeopaths did not pay much attention to the anti-vaccination issue before Pearce rose as a prominent advocate of anti-vaccination campaigns, when they became concerned with Pearce’s creating a “negative image” of homoeopathy to the profession .47 Both the British Journal of Homoeopathy (BJH) and the Monthly Homoeopathic Review (MHR)  – publications of professional homoeopaths  – quickly responded to Pearce’s “Vaccination: An Essay” in 1868 to correct the impression “that we homoeopaths are unsound about vaccination .”48 The editors reassured their target audience, the medical profession, that “the great mass of our body, both here and abroad, are as sound in their doctrine and consistent in their practice in regard to vaccination as any of their brethren of the old school .”49 This stance was reiterated throughout the second half of the nineteenth century .50

Charles Thomas Pearce (1877), pp . v–vii . Similar reactions were found amongst American professional homoeopaths, see Wolff (1996) . Anonymous: On the Present Doctrine (1868), p . 223 . Anonymous: On the Present Doctrine (1868), p . 224 . For example, upon the publication of Pearce’s “Vital Statistics” in 1877 . Anonymous (1877); Anonymous (1878) . 46 47 48 49 50

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The professional homoeopaths shared the same opinion of the medical practitioners today that the anti-vaccination campaign was led by those homoeopaths who have taken up homoeopathy, not so much from scientific conviction, as from a tendency to heresy; who follow it as they do mesmerism, phrenology, and spiritualism, to say nothing of religious eccentricities: and to such a habit of mind the denial of the truth of vaccination comes easy enough .51

And the opinions of these dissenters influenced “the more unreflecting and uneducated classes of the community .”52 Right before the Vaccination Act 1893, which finalised the vaccination dispute, the MHR regretted the consequences of the anti-vaccination movement: The baneful influence of the Anti-Vaccination League people upon the superficially informed and more generally ignorant of the population is bearing fruit . The Compulsory Vaccination Act has not been enforced to any conspicuous extent for several years, in obedience to the pressure brought to bear upon the authorities by the same mischievous Association .53

But as we have seen above, Pearce was by no means a man of anti-science . And soon, professional homoeopaths would thank a man of mesmerism, spiritualism, phrenology for his efforts in propagating a new vaccine method and ameliorating their relationship with the medical profession . George Wyld and the Animal Vaccine Reasons for the introduction of the animal vaccine

Although standing by the principle of vaccination and refuting the anti-vaccination campaign, professional homoeopaths were well-aware of the danger and shortcomings of the current vaccination method . The primary way of vaccination then was the “arm-to-arm” method, also known as “human vaccine” or “human lymph .” It was first developed by Edward Jenner and if implemented properly would ensure a continuous supply of vaccine matter locally and eliminate the issues of vaccine logistics, such as transport and preservation . Under the Vaccination Act, an infant would be inoculated with vaccine matter with a lancet and returned to the vaccination station after seven days . A “vesicle” would have formed by then and its pus would be drawn out by a lancet and transferred to the next infant as vaccine material . Common issues included 51 52 53

Anonymous: On the Present Doctrine (1868), pp . 223–224 . Anonymous: Review: Vaccination (1868), p . 364 . Anonymous: Small-Pox (1893), p . 129 .

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that blood could be drawn out with the vaccine matter and thus spread viral diseases, repeated use of the same lancet, or infections resulting from unclean instruments .54 Professional homoeopaths optimistically believed that, in due course, an improved vaccination method would be devised . This attitude welcomed and predicted George Wyld’s experiments and promotion on calf lymph in the late 1870s and 1880s . For Wyld, it was his estrangement with the medical profession that inspired him to experiment with the animal vaccine . Wyld studied medicine in Edinburgh in the early 1850s when homoeopathy caused great division amongst the faculty of medicine . He was not convinced by the new medical approach until his own illness was cured by Robert Dudgeon (1820–1904) with globules of Nux Vomica 1× and Bryonia 1x, low-potency remedies often used by the British professional homoeopaths then . Upon his recovery, Wyld wrote a pamphlet, “Homoeopathy: An Attempt to State the Question with Fairness,” and two thousand copies were quickly sold .55 Nevertheless, in his autobiography written at the age of 82, Wyld regretted that he might have rushed his public announcement of his adopting the new medical system and thus upset his fellow medical men . In after life I sometimes regretted that I had been so precipitate in declaring my views, for my heresy offended many of my valued medical and other friends, and excluded me from all professional interchange of opinions and consultations with the leaders in medicine, and from all orthodox medical societies; and on social and scientific grounds this was a great loss to me . I could not possibly have resisted the conclusions I arrived at as to the immense superiority of the homoeopathic as compared with the heroic treatment of acute disease; but had I called my pamphlet not the homoeopathic treatment of disease, but the treatment of disease by direct specifics in small doses, that might imply the homoeopathic system, but it omitted the word of all words the most offensive to the great bulk of the profession .56

But it was not only homoeopathy that alienated Wyld from the medical profession . His interest in combining science and faith led him to the unknown world of spirits . Wyld encountered mesmerism and the occult as early as the 1830s and joined the London Phrenological Society in 1844 .57 A few years later he started to take interest in mesmerism and was impressed by Daniel Dunglas Home (1833–1886), a Scottish medium who claimed to be able to self-levitate . He later became the Vice President of the British National Association of Spiritualists and in 1881 a member of the Society for Psychical Research .58 He joined the Theosophical Society in 1878 and was the President between

54 55 56 57 58

Anonymous (1878), p . 195 . Wyld (1903), pp . 32–34 . Wyld (1903), pp . 34–35 . Wyld (1903), pp . 30, 59–60 . Oppenheim (1985), pp . 138–140, 221 .

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1880 and 1882, although in the end he found the founder of the society, Helena Blavatsky (more often known as “Madame” Blavatsky, 1831–1891), “too vulgar” for his taste and left the society .59 The incident did not discourage Wyld from his interest in the spiritual world . He proudly claimed in 1884 that he managed to demonstrate by scientific experiments that spirit was the substance of matter .60 Before that inspiring evening in 1877, Wyld had already learned about the animal vaccine from a fellow professional homoeopath, John James Drysdale (1816–1890) . “Animal vaccine,” also known as “calf lymph,” was possibly first developed in 1805, then spread to France, Belgium, Switzerland and Germany . In the 1860s it had become the national system in Belgium .61 However, in the Privy Council Report of 1869, a Dr Seaton vehemently condemned the adoption of calf lymph because it was difficult in operation and apt to spoil . For these reasons the use of calf lymph was under the official ban in Britain .62 To explain the high failure rate of vaccines, as pointed out by the anti-vaccination movement in the 1860s, some physicians put forward the suspicion that the potency of strains of human lymph had declined, and calf lymph was thus suggested as an alternative .63 As “vaccine farms” were established by medical practitioners in Belgium, Germany, France and Switzerland from the 1860s, within a decade some British physicians were aware of the advantages of the animal vaccine: its storage method had improved; it was cheaper than human lymph and could be produced in larger quantities; it was not susceptible in spreading viral diseases . Edward Thomas Wilson (1832–1918), Physician to the Cheltenham General Hospital, wrote in correspondence to the British Medical Journal (BMJ) that “I cannot help feeling, therefore, that the question of using calf-lymph [sic] lies unfairly under the ban of official condemnation .”64 Sir Thomas Watson (1792–1882), President of the Royal College of Physicians between 1862 and 1866, also proposed the return to vaccination from the heifer, or at least to a renewal of vaccine lymph by the introduction of fresh sources of calf lymph from time to time .65 However, the majority of the profession still considered calf lymph dangerous, for it did not show consistent results and its mechanism was not clear . The BMJ hence questioned the statistics of Sir Thomas Watson and cautioned that such an authority figure should not have made a proposal based on insufficient grounds .66

59 60 61 62 63 64 65 66

Wyld (1903), pp . 71–74 . Wyld (1903), p . vi . Didgeon (1963), p . 1370 . Greene (1878) . Didgeon (1963), pp . 1369–1370 . Wilson (1877), p . 216 . Greene (1878) . Greene (1878) .

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Wyld’s production and promotion of calf lymph

Determined to restore his reputation and inspired by the unknown voice, Wyld became one of the first suppliers of calf lymph in Britain in 1877 . He soon visited microbiologist Évariste Warlomont’s (1820–1891) calf lymph production farm in Brabant, Belgium and was one of Warlomont’s first few British visitors . The procedure involved strapping a two-month-old heifer on a bench then scared around 100 spots in a teninch-square area between the thighs, where vaccine matter was rubbed in to form vesicles in one week . The pus collected from the vesicles was then collected and processed as calf lymph .67

Fig. 1 Calf fastened to a tilting table for scarring, taken at the Institut Vaccinal, Paris68

Upon his return, Wyld wrote numerous letters to national and provincial newspapers and leading medical publications . He urged the medical profession to take up the calf lymph method to check the threat of the anti-vaccination movement: “the anti-vacci-

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The College of Physicians of Philadelphia (1896) . Copeman/Thorne (1897), plate 2 .

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nation movement is daily gaining strength, and that its own argument – the danger of erysipelas and syphilis – is at once answered by the use of calf-lymph [sic] .”69 The response was enthusiastic, if not overwhelming . Wyld received four hundred requests for the lymph within a week .70 In February 1878, Wyld and another doctor Thomas Wilson (year of birth and death unknown) opened a new office on Oxford Street to supply even larger quantities of the lymph .71 According to Wyld’s own calculation, between 1877 and 1879, nearly five thousand children and adults had been vaccinated with his calf lymph . The demand had been chiefly from London and the large manufacturing towns, such as Liverpool, Manchester, Leeds, Bristol, and Bradford, where anti-vaccination sentiment was strong amidst their working-class populations . The lymph sent out was likely to be preserved either by drying on ivory ‘points’ or kept in fluid – both were only proven unreliable in the 1890s .72 Wyld admitted that the results of his vaccine lymph seemed to vary a lot . He himself had only had one failed case in the past two years while some of his customers complained that the vaccine never worked . He believed that most failures were due to inappropriate operations . Nevertheless, the demand for the lymph almost always exceeded the supply .73 Wyld’s initiative was immediately welcomed and embraced by the professional homoeopaths . Wyld and Wilson’s calf lymph was considered “a return to the original source of Jennerian lymph” which could replace by then weakened human lymph after countless arm-to-arm transfers .74 The management board of the London Homoeopathic Hospital plunged to adopt calf lymph and have Wyld vaccinating weekly at the hospital with the cheap charge of one shilling from March 1881 .75 The editorial of the MHR predicted that when animal vaccination would be adopted by the British Government in the near future, Wyld’s experiment would make great contributions to the knowledge of its production .76 This eventually indeed happened but not without initial doubts from the medical profession . Between 1879 and 1880, heated debates regarding animal vaccination ensued in the pages of the BMJ, where the opinions had changed from doubtful to positive . Finally in the November 1879 issue of the BMJ, a contributor claimed that “the best authorities now agree that, except under special circumstances, animal vaccination is no more intense than a typically perfect vaccination should be .”77 An Animal Vaccination Bill was discussed during the last session of 1879 in the House of Commons, suggesting

69 70 71 72 73 74 75 76 77

Wyld/Wilson (1878), p . 281 . Wyld (1903), p . 69 . Anonymous (1878), p . 203 . MacNalty/Craigie (1948–1949), pp . 39–40 . Wyld (1881) . Anonymous (1878), p . 204 . Anonymous: Correspondence (1881) . Anonymous: The Vaccination of the Future (1880), p . 262 . Anonymous: Letters (1879), p . 759 .

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the provision of facilities for the option of vaccinating with animal vaccine alongside the arm-to-arm method . Ernest Hart (1835–1898), Chairman of the Parliamentary Bills Committee of the British Medical Association, wrote a ten-page “Preliminary Report on Animal Vaccination in its Relation to Proposed Legislation” in the BMJ, investigating the pros and cons of animal vaccination .78 With the sanction of the Committee, a conference was arranged to be held in December among the members of the medical profession . It was expected that “the results of its deliberations will have an important bearing upon the future of vaccination in this country .”79 Wyld was invited as one of the early pioneers in calf lymph experiments . The consensus of the conference was in favour of animal vaccination and recommended a scheme for the official distribution of calf lymph to public vaccinators from government centres . The Government Animal Vaccine Establishment at Lambs Conduit was thus founded in 1881 allowing parents the option of choosing the animal vaccine .80 The BMJ welcomed their triumph . The goal for which we have been striving has at last been reached; and we have good grounds for supposing that an increase both in the amount of vaccination and the quality of the protection afforded will be the result . […] It cannot be doubted that a large and increasing number of practitioners will avail themselves of this new boon, which promises, indeed, to remove one very solid ground of objection from vaccination altogether; viz ., that of the alleged inoculation of other diseases .81

Wyld was openly thanked along with seven others . With his initiative endorsed by professional homoeopaths, allopaths and even the government, Wyld announced his satisfactory retirement from producing calf lymph in 1882 . A homoeopath amongst allopaths?

The fact that Wyld, a homoeopath previously associated with spiritualism and fraud, successfully managed to win over support from homoeopaths, allopaths and the government suggests that the medical profession’s ostracism of homoeopathy was probably only limited during this time . Wyld’s success was also partly owing to Victorian medical practitioners’ pragmatic attitudes towards therapeutics . Finding effective treatments was more crucial than investigating the theories of treatments and there-

Hart (1879) . Hart (1879), p . 843 . Wyld was also present in the conference . For the details of the conference, see Anonymous: Animal Vaccination (1879) . 80 However, the supply of animal vaccine remained too little and unstable until the official adoption of glycerinated calf lymph in 1898 . Meanwhile the demand for European calf lymph persisted . Hime (1896) . 81 Anonymous: The Official Introduction (1880), pp . 932–933 . 78 79

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fore most discussions of vaccines focused on practical matters such as lymph storage or how to transfer vaccines from one cow to another . Wyld adopted the same type of pragmatic approach with calf lymph by emphasizing the ‘scientificness’ of his procedure which improved the safety of vaccines and offered a reliable constant supply of lymph, without advocating vaccine with any theoretical tenet .82 ‘Homoeopathy’ was never mentioned in Wyld’s letters . In fact, Wyld sought reconciliation between the two camps of medical practitioners . In June 1877, Wyld, as the president of the BHS, requested Sir Benjamin Richardson (1828–1896), an eminent sanitarian who was close friends with John Snow (1813–1858) and President of the Association of Public Sanitary Inspectors of Great Britain, to publish a letter expressing his view on the relationship between homoeopathy and allopathy in the Lancet and the Times . Wyld argued that homoeopathy and allopathy had become so similar in practice that it was unnecessary to have the medical profession divided .83 His opinion was welcomed by the older generation of homoeopaths, angered the younger homoeopaths, and received mixed opinions from allopaths .84 But Wyld’s stance hinted that by the 1870s many professional homoeopaths believed that the ostracism of homoeopaths was political, and no longer based on their views on medical matters . Professional homoeopaths, as Warner pointed out regarding American homoeopathy, identified themselves more as ‘scientific medical practitioners’ rather than ‘homoeopaths .’85 This is probably why professional homoeopaths steered away from any political association with the anti-vaccination movement by focusing their vaccine discussions on medical issues and statistics instead of engaging in debates such as medical liberty . The Hahnemannians and the Anti-Compulsory Vaccination League

While Wyld was promoting calf lymph and trying to unite the medical profession, another group of professional homoeopaths, who called themselves “the Hahnemannians” and vowed to be the true followers of Hahnemann, started their own publication in 1878 to express their views on vaccination, as their opinions were excluded from the BJH and the MHR . The Hahnemannian movement was a form of homoeopathic fundamentalism that originated in America and was taken up by professional homoeopaths such as Thomas Skinner (1825–1906) and Edward William Berridge (1843–1923), who edited the short-lived monthly journal, befittingly titled the Organon, between 1878 and 1879 .

82 Wyld explained his scientific approach to animal vaccination during a public discussion in South Place Chapel, Finsbury, London, on the evening of 28th May, 1878 . See Wyld/Wheeler (1878) . 83 Richardson (1877) . 84 Chou (2016), pp . 293–302 . 85 Warner (1997) .

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The Hahnemannians were the only homoeopaths in the 1870s to consider vaccination by homoeopathic principles, or so they claimed . They acknowledged that “the Jennerian conception and practice of vaccination is founded in the only law of prevention and cure, namely, Similia similibus curentur,” but the current vaccination method differed from homoeopathic principles in that the vaccine material in use was not a genuine diluted form of smallpox  – it was an altered form of cowpox and was neither diluted nor potentised . It was by not following homoeopathic principles that the vaccine efficacy and vaccine safety were compromised . Instead, the editors advocated the use of diluted and potentised forms of vaccinia, collected from the pus as the result of cow-pox, and variola, collected from the pus as the result of smallpox . These homoeopathic remedies were called Vaccinum and Variolinum respectively .86 It is likely that Skinner and Berridge introduced the remedies from America, as they were used by American homoeopaths as safe alternatives to vaccination but rarely mentioned by British homoeopaths other than the Hahnemannians .87 The editors’ criticism of current vaccination was quickly picked up by the AntiCompulsory Vaccination League . The anti-vaccination movement suffered changes after its founder Richard Butler Gibbs’ death in 1871, but the movement was revived by Mary Catherine Hume-Rothery (1824–1885) and her husband William Hume-Rothery after 1876 . However, contrary to Gibbs’ approach of forming alliances with other dissenting movements, the Hume-Rotherys often alienated their working-class supporters and potential allies .88 Just like other professional homoeopaths who sought recognition from the medical profession, maintaining professional identity was important to the Hahnemannians . Their idea of the professional boundary was in direct conflict with Mary HumeRothery’s goal of “the complete, and entire disestablishment and disendowment of the State-chartered medical autocracy .”89 When William Hume-Rothery welcomed their new ally in the February number of the National Anti-Compulsory Vaccination Reporter, he also pointed out the Organon’s ‘mistake’ in recommending a homoeopathic vaccine . The ‘unprofessional’ comment prompted Skinner to send a letter to the League expressing that the article “volunteered some remarks of a strictly professional character, which we cannot allow to pass without comment .”90 In response, Mary Hume-Rothery compared the authority of the medical profession with the pretension of the church and called Skinner’s letter “groundless pretension put forward by medical men .”91

86 87 88 89 90 91

Skinner (1878), p . 166 . Emphases in the original . Davidovitch (2004) . Durbach (2005), p . 39 . Hume-Rothery (1871), p . 15 . Skinner (1878), p . 166 . Quoted in Skinner (1878), p . 167 .

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The editors decided to publish Skinner’s correspondence with Hume-Rothery to clarify that the Hahnemannians were not against the medical profession, and to draw a clear boundary between themselves and the Anti-Compulsory Vaccination League . Skinner regretted that whilst we have the greatest sympathy with the Anti-Compulsory Vaccination cause, we differ in toto from the League in the manner in which it goes about its work . […] [W]e cannot approve of the illogical and ridiculous stand which it takes against the Profession of Medicine as a body; that medical men are the avowed enemies of mankind, and that the benevolent and intelligent Jenner was little short of cut-throat and an imposter, who received £30,000 for massacring the innocents, and such-like twaddle .92

The American Hahnemannians were associated with Swedenborgianism and the use of high-potency remedies .93 Skinner and Berridge, although not Swedenborgians, were also religious dissenters involved in other secret magical societies, while the Hume-Rotherys were Swedenborgians . Nevertheless, it seems that in the matter of vaccination, the opinions about the appropriate boundary between the medical profession and laymen overrode the possible fraternity of religious dissenters . Did Homoeopathy Matter in the Victorian Vaccination Debates?

Under the pressure of large-scale demonstrations, a Royal Commission was formed in 1889 to investigate and finalise the issue of compulsory vaccination . After the seven-year hearing from both opponents and supporters of vaccination, the Royal Commission suggested the new Vaccination Act to remove cumulative penalties and introduced a conscience clause allowing parents who did not want their children to be vaccinated to obtain a certificate of exemption . The Act also banned the arm-to-arm method and made the use of glycerinated calf lymph the standard vaccination procedure . The procedure was an improvement of Wyld’s calf lymph, where glycerin was mixed for its antiseptic property .94 The Vaccination Act 1898, therefore, marked the wane of the Victorian anti-vaccination campaign . The most striking feature of British homoeopaths’ engagement with vaccination after 1860 was a lack of reference to homoeopathy, apart from the Hahnemannians . The reformer homoeopaths never mentioned homoeopathy on vaccine issues . Wyld and Skinner (1878), pp . 164–165 . Emphasis in the original . American Hahnemannians were the ones who persisted through the ‘dark age’ of homoeopathy in the twentieth century . See Kirschmann (2004) . 94 The glycerinated calf lymph method was already adopted by large vaccine establishments in France, Germany, Belgium and Switzerland by the 1890s . In Britain, the glycerinated lymph was studied and promoted by Sydney Monckton Copeman (1862–1947), a vaccine specialist and public health officer . MacNalty/ Craigie (1948–1949); Anonymous (1898) . 92 93

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the majority of professional homoeopaths did not use Hahnemann’s theory to justify their stance even within the homoeopathic community, nor did they resort to vaccination to prove the effectiveness of homoeopathy . In contrast, the Hahnemannians, who emphasised following Hahnemann’s teaching strictly, criticised the smallpox vaccination as not an illustration of “like cures alike” – contrary to Hahnemann and early homoeopaths’ opinions on this matter . In addition, the Hahnemannians’ decision about whether to associate themselves with the anti-vaccination campaign was not based on similarities in medical views but based on their differences in the boundary between the profession and the lay public .

Fig. 2 “Unconscious Homoeopathy.”95 Another explanation of homoeopaths’ lack of reference to homoeopathic law by the sarcastic cartoon magazine, The Punch

Although mainly focused on what I would categorise as American professional homoeopaths, Wolff also observed a similar lack of ‘homoeopathiness’ in American

95

Anonymous (1884) .

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homoeopaths’ engagement in vaccine discussions .96 There are two possible explanations . To begin with, British homoeopathy in the 1870s had become a ‘revised’ form of homoeopathy  – or ‘eclectic’ as historians of American homoeopathy preferred, with Hahnemann’s original ideas and materia medica being re-evaluated during the 1860s and 70s .97 Most British homoeopaths no longer looked to Hahnemann to find therapeutic solutions and therefore, as Wyld pointed out, homoeopathy had become similar to allopathy . It was against this background that the fundamentalists, the Hahnemannians emerged . Another possible explanation for the lack of homoeopathic references, which I agree with Wolff and Warner, was that homoeopaths did not participate in the vaccination debate in the social identity of ‘homoeopaths .’98 Professional homoeopaths participated in the capacity of ‘medical professionals,’ while reformer homoeopaths in the role of ‘social reformers .’ They adopted similar languages as the social groups they identified with; exchanged ideas within their social groups’ main media; and posed in these roles when communicating with non-group members . The lack of communication, if not outright exclusion, between these three groups of homoeopaths throughout the vaccination dispute shows that British homoeopaths were not only an incohesive social group but were also likely divided . This is in great contrast to American homoeopathy, where dialogues of a wide range of opinions amongst the community took place .99 So did homoeopathy matter in the Victorian vaccine debate? What was the relationship, if any, between homoeopathy and the Victorian anti-vaccination movement? On the one hand, there were homoeopaths, such as Charles Thomas Pearce and John James Garth Wilkinson (1812–1899), who spearheaded the anti-vaccination campaigns and testified against compulsory vaccination in Parliament . On the other hand, Wyld and other professional homoeopaths actively encouraged the use of an improved vaccination method . Their missions were both answered by the Vaccination Act of 1898 . Besides these two groups of homoeopaths, there were still the Hahnemannians, who were against vaccination but refused to join the social campaigns of the anti-vaccinationists . Most of them, however, did not resort to homoeopathy in their endeavours . Homoeopathic theories did not seem to matter in the Victorian vaccination debates . If we discover a similar variety of opinions amongst homoeopaths as we do amongst other social groups, then perhaps the investigation of the link between homoeopathy/ CAM and anti-vaccination campaigns is irrelevant for identifying common denominators of anti-vaccinators . This conclusion might be pivotal in the research of vaccine hesitancy as well as public health policymaking . 96 97 98 99

Wolff (1996) . Chou (2016) . Wolff (1996), p . 107; Warner (1997), p . 6 . Davidovitch (2004) .

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Bibliography

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Ju-Yi Roshnii Chou, PhD

Department of Geography, National Taiwan University No . 1 Section 4, Roosevelt Road, Da’an District Taipei City, Taiwan 106 roshnii .chou@gmail .com

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Die in diesem Band enthaltenen Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin reichen von der Frühen Neuzeit bis in die jüngste Zeitgeschichte: Jana Schreiber analysiert medizinische Heilkonflikte anhand der Frankfurter Apothekenordnung von 1500. Robert Jütte zeigt am Beispiel der Pest eindrücklich auf, dass das Gebot des Abstandhaltens nicht erst seit Corona zu den hygienischen Schutzmaßnahmen zählt, und Ralf-Gero C. Dirksen zeichnet die jüngste Transformationsgeschichte einer psychiatrischen Fachklinik nach. Ein zweiter Teil umfasst Beiträge zur Geschichte komplementärer Heilwei-

ISBN 978-3-515-13343-2

9 783515 133432

ISSN 0939-351X

sen und des Pluralismus in der Medizin. Robert Jütte und Christoph Lang machen Dokumente aus den Jahren 1783 und 1784 zugänglich, die Samuel Hahnemann im zeitgenössischen medizinischen Wirken zeigen. HansMichael Berenwenger und Pierre Pfütsch porträtieren das Leben und Wirken des Naturarztes Emil Berenwenger, der überwiegend mit tropischen Pflanzensäften seine Praxis bestritt. Im Beitrag von Melvyn Lloyd Draper wird dem Zusammenhang von Homöopathie und Mission nachgegangen und Ju-Yi Roshnii Chou untersucht die Haltung britischer Homöopathen zur Pockenschutzimpfung.

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