Medizin, Gesellschaft und Geschichte 35 3515118330, 9783515118330

Über kaum ein Thema wird in den Medien so häufig berichtet wie über Ernährung – ob es nun die Gefahren falscher Essgewoh

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German Pages 194 [198] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Anschriften der Verfasser
Editorial
I. Zur Sozialgeschichte der Medizin
Themenschwerpunkt: Gender, Ernährung und Gesundheit
Gender, Ernährung und Gesundheit – Einleitende Überlegungen
Genderspezifische Ernährung in der spätmittelalterlichen Subsistenzkrise? Die Große Hungersnot in England (1315–1318/22)
Gender issues? Die Ernährung weiblicher und männlicher Strafgefangener im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Ernährung im österreichisch-ungarischen Heer: Militärwissenschaftlicher Diskurs, Ernährungsvorschriften und Ernährungspraxis (1868–1914)
Leibliches Erleben in Krankheitspraktiken der Anorexie
»Gründet Frauen-Vereine und Bauet Wöchnerinnen-Asyle«. Geschichte der Wochenbettpflegerinnen im Deutschen Reich und ihre Situation in Stuttgart von 1880 bis 1950
II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Willmar Schwabe – Apotheker und Großhersteller homöopathischer Arzneimittel
Filling the blank in the map: institutionalisation of
homeopathy in Argentina
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte 35
 3515118330, 9783515118330

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 35

Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte Band 35

Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 35 (2017) herausgegeben von Robert Jütte

Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart www.steiner-verlag.de/medgg Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-undgeschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-11833-0 (Print) ISBN 978-3-515-11834-7 (E-Book)

Inhalt Anschriften der Verfasser Editorial I.

7 9

Zur Sozialgeschichte der Medizin Themenschwerpunkt: Gender, Ernährung und Gesundheit Ole Fischer Gender, Ernährung und Gesundheit – Einleitende Überlegungen

11

Maximilian Schuh Genderspezifische Ernährung in der spätmittelalterlichen Subsistenzkrise? Die Große Hungersnot in England (1315–1318/22)

17

Ulrike Thoms Gender issues? Die Ernährung weiblicher und männlicher Strafgefangener im 19. und frühen 20. Jahrhundert

37

Elisabeth Berger Ernährung im österreichisch-ungarischen Heer: Militärwissenschaftlicher Diskurs, Ernährungsvorschriften und Ernährungspraxis (1868–1914)

67

Isabella Marcinski Leibliches Erleben in Krankheitspraktiken der Anorexie

97

Anja Waller »Gründet Frauen-Vereine und Bauet Wöchnerinnen-Asyle«. Geschichte der Wochenbettpflegerinnen im Deutschen Reich und ihre Situation in Stuttgart von 1880 bis 1950

113

II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Christoph Friedrich und Ulrich Meyer Willmar Schwabe – Apotheker und Großhersteller homöopathischer Arzneimittel

139

Silvia Waisse Filling the blank in the map: institutionalisation of homeopathy in Argentina

175

Anschriften der Verfasser Elisabeth Berger, MMag. Universität Salzburg Fachbereich Geschichte Rudolfskai 42 A-5020 Salzburg [email protected]

Maximilian Schuh, Dr. Universität Heidelberg Historisches Seminar Grabengasse 3–5 69117 Heidelberg [email protected]

Ole Fischer, Dr. Universitätsarchiv Hamburg Mittelweg 177 20148 Hamburg [email protected]

Ulrike Thoms, Dr. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Forschungsprogramm Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Boltzmannstr. 22 14195 Berlin [email protected]

Christoph Friedrich, Prof. Dr. Philipps-Universität Marburg Institut für Geschichte der Pharmazie Roter Graben 10 35032 Marburg [email protected] Isabella Marcinski Freie Universität Berlin Institut für Philosophie Sprembergerstr. 1 12047 Berlin [email protected] Ulrich Meyer, Prof. Dr. Salumed Verlag GmbH ℅ Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Kladower Damm 221 14089 Berlin [email protected]

Silvia Waisse, Dr, MD, PhD Professor, Post Graduate Program in History of Science, PUC-SP, Brazil Dr Brasilio Machado, 418, apt. 31 São Paulo – SP 01230–010 Brazil [email protected] [email protected] Anja Waller, Dr. Universität Hohenheim Schloss Hohenheim 1C (Museumsflügel) 70593 Stuttgart [email protected]

Editorial Über kaum ein Thema wird in Zeitungen und anderen Medien so viel berichtet wie über Ernährung – ob es nun die Gefahren für die Gesundheit sind, die von einer falschen Ernährung ausgehen, oder Ratschläge, wie man sein Körpergewicht durch Diät reduzieren kann. Doch die gegenwärtige Diskussion, welche Rolle das Geschlecht bei der Ernährung spielt, hat durchaus auch historische Vorläufer. Ole Fischer, der zur Geschichte des Veganismus forscht, gibt einen Überblick über neuere Ansätze in der Geschichtswissenschaft, die sich mit genderspezifischer Ernährung befassen. Ob dem weiblichen Geschlecht in Zeiten, in denen zahlreiche Menschen in Europa von Subsistenzkrisen aufgrund von Ernteausfällen betroffen waren, weniger Nahrungsmittel zugestanden wurden, dieser Frage geht Maximilian Schuh am Beispiel der Großen Hungersnot in England zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach. Welche geschlechterspezifischen Unterschiede man in der Gefangenenkost im 19. und frühen 20. Jahrhundert beobachten kann, das arbeitet Ulrike Thoms aus einer Vielzahl von Quellen heraus und kommt dabei zu bemerkenswerten Einsichten und Ergebnissen. Wenn ein männlicher Körper gut ernährt sein musste, dann war es vor allem der des Soldaten, denn von ihm wurde nicht nur in Kriegszeiten einiges an physischer Leistung abgefordert; dies vor allem in einer Zeit, in der eine Motorisierung der Lebenswelt fehlte. Wie die Ernährungsvorschriften und die Praxis der Versorgung von Soldaten mit ausreichender und schmackhafter Nahrung selbst in Friedenszeiten auseinanderklafften, untersucht Elisabeth Berger mit Quellen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus der Donaumonarchie. Frauen leisteten damals bekanntlich keinen Wehrdienst; so ist der Fokus auf den Männerkörper gerichtet, den es unter schwierigen logistischen Bedingungen gesund und kampffähig zu erhalten galt. An Anorexie leiden heutzutage immer noch überwiegend junge Frauen, auch wenn Männer durchaus betroffen sein können, wie Isabella Marcinski aufzeigt. Ihr geht es vor allem um einen adäquaten methodischen Zugang, mit dem man das leibliche Erleben dieser Krankheit analysieren kann. Neben dem Themenschwerpunkt »Ernährung« findet man in der sozialgeschichtlichen Sektion noch einen Beitrag von Anja Waller zur Geschichte eines wenig bekannten Berufes, den der Wochenbettpflegerin. Die zweite Sektion dieser Zeitschrift, die traditionsgemäß Aufsätzen zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen vorbehalten ist, enthält zwei Beiträge, eine Biographie und eine regionale Fallstudie. Christoph Friedrich und Ulrich Meyer, die erst kürzlich die Geschichte der Firma Schwabe in einer Festschrift ausführlich abgehandelt haben, präsentieren in ihrem Aufsatz zum Firmengründer Dr. Willmar Schwabe neue Quellenfunde zu Leben und Werk des bedeutenden Leipziger Apothekers. Silvia Waisse zeichnet die Professionalisierungsgeschichte der Homöopathie in Argentinien nach  – einem Land, in dem die Homöopathie auch heute noch eine große Rolle spielt. Stuttgart, im Frühsommer 2017

Robert Jütte

I.

Zur Sozialgeschichte der Medizin

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 11–16, FRANZ STEINER VERLAG

Themenschwerpunkt: Gender, Ernährung und Gesundheit Gender, Ernährung und Gesundheit – Einleitende Überlegungen Ole Fischer Es bedarf keiner langen und ausgefeilten Argumentationskette, um weitgehende Einigkeit darüber herzustellen, dass das Nahrungsmittelangebot für einen großen Teil der Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nie zuvor erreichte Reichhaltigkeit in quantitativer und qualitativer Hinsicht erlangte.1 Unabhängig von der zunehmenden Vernichtung zahlreicher Nutzpflanzen und auch unabhängig von dem Interesse an einer Homogenisierung des Geschmacksempfindens, das einigen Nahrungsmittelkonzernen nachgesagt wird2, war es für die breite Masse der Menschen in der Geschichte kaum je zuvor so einfach, sich für eine gesunde Ernährung zu entscheiden und die je eigene Ernährung bewusst und aktiv als Instrument der Gesundheitsoptimierung sowie zur medizinischen Prävention einzusetzen3. Doch gesunde Ernährung ist auch in der Gegenwart ein Privileg, und der Mangel an Nahrungsmitteln erscheint global betrachtet keinesfalls als schräger Anachronismus. Selbst in der vom Überfluss an Nahrungsmitteln geprägten westlichen Welt der Gegenwart sind die Fragen, ob und wie ein Mensch die Vielfalt des kulinarischen Angebots nutzt und ob er oder sie dies zur Optimierung der eigenen Gesundheit tut, von einem komplexen Gefüge an verschiedenen Einflussfaktoren abhängig. Unter diesen Einflussfaktoren spielen die finanziellen Möglichkeiten einer Person eine gewichtige Rolle. Hinzu kommen kulturelle Faktoren, die kaum zu unterschätzen sind. In welchem Umfeld und mit welchen Überzeugungen eine Person sozialisiert wird, welche Speisen den familiären Esstisch schmücken, ob es überhaupt einen solchen gibt usw. – all diese Faktoren haben Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten eines Menschen,

1 2 3

Vgl. Kraack/Lorenzen-Schmidt (2010), S. 14. Vgl. beispielsweise Liebrich (2016). Zur Bedeutung der Ernährung im Kontext präventivmedizinischer Überlegungen vgl. beispielsweise Tanner (2010), S. 36.

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Ole Fischer

auf die Herausbildung individueller Geschmackspräferenzen, aber auch auf den individuellen Stellenwert einer gesunden Ernährung.4 Gerade in dem reichhaltigen Spektrum an Einflussfaktoren, das die Genese individuellen Ernährungsverhaltens prägt, liegen die Schwierigkeiten begründet, will man sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler mit den konkreten Ernährungspraktiken von Menschen insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert auseinandersetzen. Denn durch das Ende der Subsistenzwirtschaft in Europa und die für viele Menschen neue Möglichkeit, weitgehend selbst über die Zusammensetzung des eigenen Speiseplans entscheiden und dabei (in historischer Perspektive) vergleichsweise unbeeinflusst von ökonomischen Schranken aus einem reichhaltigen Angebot an Nahrungsmitteln wählen zu können5, gewinnen Entscheidungskriterien an Relevanz, denen zuvor allenfalls in Einzelfällen eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Unabhängig von allgemeinen Bedürfnissen hinsichtlich der Ernährung wird der Geschmack als Ergebnis der geschilderten Entwicklung immer stärker auch ein Instrument der bewussten und ebenso der unbewussten Darstellung individueller Selbstkonzepte. Das bereits im frühen 19. Jahrhundert verortete Diktum Jean Anthelme Brillat-Savarins, dem zufolge man sei, was man esse, erlebt seit knapp 30 Jahren eine Renaissance im Kontext identitätsfokussierter Forschungen. Die spezifischen Zusammenhänge zwischen Identität und Geschmack im allgemeinen Sinne brachte Pierre Bourdieu bereits vor über 20 Jahren in seiner mittlerweile zum Klassiker avancierten Studie »Die feinen Unterschiede« auf den Punkt: »Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat – Personen und Sachen –, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird.«6 In poststrukturalistischer Zuspitzung und somit historisch verortet in der Zeit seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert betonte in diesem Sinne auch Donna Haraway, dass der Körper aufgehört habe, »eine stabile, räumliche Kartierung normalisierter Funktionen zu sein«.7 Stattdessen entstehe »ein hoch mobiles Feld strategischer Differenzen«.8 Nun mag man einem solchermaßen vollzogenen Versuch der Auflösung biologisch-anthropologischer Körpervorstellungen kritisch begegnen oder nicht, festzuhalten bleibt, dass dem Geschmack auch oder sogar gerade in physiologischer Zuspitzung als Beziehungsgefüge von Nahrung, Zunge, Gehirn etc. eine herausgehobene Stellung im Rahmen menschlicher Selbstkonzepte zukommt. Ausgehend von dieser Erkenntnis gilt es insbesondere dem Wechselspiel des Geschmacks mit anderen identitätsstiftenden Faktoren Aufmerksamkeit zu schenken. Und auf dem Spielfeld der Faktoren, denen Einfluss auf 4 5 6 7 8

Zum Zusammenhang von Ernährung und Sozialisation vgl. beispielsweise Reitmeier (2013). Vgl. Kraack/Lorenzen-Schmidt (2010), S. 14. Bourdieu (1993), S. 104. Haraway (2014), S. 152. Haraway (2014), S. 152.

Gender, Ernährung und Gesundheit – Einleitende Überlegungen

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individuelle Ernährungspräferenzen zugeschrieben wird, ist das Geschlecht in der Gegenwart zweifellos einer der Topspieler. Der US-amerikanische Kulturwissenschaftler C. Wesley Buerkle beschreibt in diesem Sinne das Ernährungsverhalten als ein zentrales geschlechtsspezifisches Distinktionsmittel in einer Zeit der Pluralisierung männlicher (und weiblicher) Identifikationsangebote: »Despite changes in concepts of masculinity that include a broader acceptance of men’s participation in the home and of equality with women, men’s eating behaviors remain a characteristic assumed to be biologically driven, a point of gender distinction beyond cultural change.«9 Dabei sind die Perspektiven auf dieses Thema durchaus heterogen. In der Populärkultur beispielsweise begegnen uns überwiegend stereotype Aussagen zum Verhältnis von Geschlecht bzw. Gender und Ernährung, die im stetigen Wechselspiel mit Marketingstrategien eher eine Reifizierung bestehender Vorurteile betreiben als eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Handlungen ermöglichen.10 Eine Folge dieser Entwicklung ist die Zunahme des Angebots an geschlechtsspezifisch beworbenen Nahrungsmitteln.11 Und die Zeiten, in denen lediglich latent gegenderte Produkte wie etwa Bier und Fleisch davon betroffen gewesen sind, haben wir lange hinter uns gelassen. Heute gibt es »geschlechtergerechte« Schokolade, Kartoffelchips, Erfrischungsgetränke und vieles mehr. Im Ergebnis genießen viele Nahrungsmittel in der Gegenwart eine Bedeutung bei der Inszenierung der Geschlechterdifferenz im Sinne eines Doing Gender.12 Bereits der Mediendiskurs positioniert die vermeintlich geschlechtsspezifischen Ernährungspraktiken im Kontext medizinisch-diätetischer Überlegungen, denn während die weibliche Ernährung häufig als gesundheitsförderlich dargestellt wird (z. B. als kalorienarm und pflanzenlastig), kennzeichnet Vorstellungen von einer männlichen Ernährung nicht selten die explizite Missachtung diätetischer Empfehlungen. In enger Verbindung damit stehen weibliche und männliche Körperideale und idealtypische Körperwahrnehmungen, die sich lange Zeit durch das Gegenüber von Mangel und Fülle, Hunger und Sättigung ausgezeichnet haben.13 Damit wiederum verbunden waren die entsprechenden Krankheitsbilder Anorexie und Adipositas, die sich ebenfalls durch ausgeprägte geschlechtsspezifische Zuschreibungen auszeichneten bzw. noch immer auszeichnen. Diese Phänomene werden im öffentlichen Gesundheitsdiskurs, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion verschiedener Disziplinen angeregt debattiert. Im Spannungsfeld von Natur und Kultur steht einmal mehr die biologisch-medizinische Untersuchung geschlechtsspezifischer Bedürfnisse hinsichtlich der Ernährung im Fokus. Diese Forschungen verharren vielfach 9 10 11 12

Buerkle (2009), S. 78. Vgl. Fischer (2014), S. 43 f. Vgl. dazu die bereits 1989 erstmals erschienene Studie Adams (2010). Zum praxeologischen Doing Gender-Konzept vgl. Hagemann-White (1993) sowie West/ Zimmerman (1987). 13 Vgl. dazu beispielsweise McGann (2002).

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Ole Fischer

auf der abstrakten Ebene statistisch auswertbarer Datenkonglomerate und aus diesen induzierter Ergebnisse. Ein anderes Mal untersuchen eher kulturwissenschaftlich orientierte Forscherinnen und Forscher insbesondere die Auswirkungen soziokultureller Faktoren. Sie stützen sich bewusst auf sozialkonstruktivistische Ansätze und betonen durch den Rückgriff auf den semantisch umfangreicheren Begriff »Gender« schon sprachlich ihre Abgrenzung vom naturwissenschaftlichen Ansatz.14 Während diverse akademische Disziplinen bereits intensive Forschungen zu diesem Themenkomplex unternommen haben, wurde der Faktor »Gender« in ernährungshistorischen Studien bisher allenfalls marginal in Betracht gezogen.15 Dies ist nicht nur einer unter Historikerinnen und Historikern möglicherweise besonders ausgeprägten Innovationsresistenz geschuldet16, sondern auch der Schwierigkeit, aussagekräftige Quellen zur Beantwortung geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen in den Archiven und Bibliotheken ausfindig zu machen. Davon betroffen sind insbesondere sozialhistorische Forschungsansätze, die sich gezielt den Ernährungspraktiken bzw. im weiteren Sinne den Konsumkulturen vergangener Zeit zuwenden möchten. Wenn es also darum geht, zu fragen, was Frauen und Männer vergangener Zeiten tatsächlich gegessen haben, welche Faktoren das jeweilige Essverhalten beeinflusst und wie sich Gewohnheiten geändert haben, stehen wir bisher häufig ohne befriedigende Antworten da. Vor diesem Hintergrund sollten im Rahmen einer Tagung am Stuttgarter Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung einige Schlaglichter auf die historischen Wandlungen des Verhältnisses von Gender, Ernährung und Gesundheit geworfen werden. Drei Themenkomplexe standen dabei besonders im Fokus: Erstens sollte dem Zusammenspiel von medizinisch-diätetischen Aussagen und geschlechtsspezifischen Ernährungspraktiken Aufmerksamkeit zukommen. In historischer Perspektive sollten dabei insbesondere die Entwicklungsprozesse beleuchtet werden, also beispielsweise die Frage, wann welche Lebensmittel besonders stark geschlechtsspezifisch markiert waren. In enger Verbindung mit diesem Themenkomplex sollte zweitens die Bedeutung der Ernährung als geschlechtsspezifische Subjektivierungspraktik zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen sozialen Kontexten untersucht werden. Hinterfragt wurde beispielsweise die Funktion der Ernährung im Kontext multirelationaler Identitätskonstruktionen, wobei auch den subversiven Praktiken hohe Aufmerksamkeit zukam. Drittens wurde die Bedeutung der Ernäh-

14 Vgl. einführend zum Begriff »Gender« Opitz-Belakhal (2010), S. 11–18. 15 Vgl. dazu Ulrike Thoms’ Ausführungen zum Forschungsstand in ihrem Beitrag. 16 Bereits 1992 haben Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms darauf hingewiesen, dass insbesondere die ernährungshistorische Forschung »in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle traditionalistisch« bleibe und daher »den aktuellen theoretischen Ansätzen vor allem der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften deutlich unterlegen« sei (vgl. Reinhardt/Spiekermann/Thoms (1992), S. 7). Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren wurden zunehmend neuere methodische Ansätze in der Ernährungsgeschichte rezipiert.

Gender, Ernährung und Gesundheit – Einleitende Überlegungen

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rung als körperliche Praxis zur Repräsentation von Geschlechtervorstellungen insbesondere im Kontext pathologisierter Körperbeschreibungen hinterfragt. Vier ausgewählte Beiträge zu dieser Tagung liegen nun mit diesem Band in Druckfassung vor. Sie repräsentieren verschiedene soziale und zeitliche Kontexte sowie methodische Zugänge, denen im Rahmen der Tagung Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Maximilian Schuh (Heidelberg) analysiert in seinem Beitrag die Bedeutung von Gender in einer spätmittelalterlichen Subsistenzkrise am Beispiel einer Hungersnot in England (1315–1317). Er kann plausibel darlegen, dass sich die Hypothese von der systematischen Benachteiligung weiblicher Betroffener in Ernährungskrisen in diesem Zusammenhang kaum aufrechterhalten lässt. An diese Feststellung anknüpfen kann Ulrike Thoms (Berlin), die die Rationierung von Nahrungsmitteln in Haftanstalten des 19.  Jahrhunderts hinsichtlich der Bedeutung geschlechtsspezifischer Verteilungskriterien untersucht hat und die in diesem Zusammenhang analysierten Praktiken in Beziehung zu den ernährungswissenschaftlichen Thesen dieser Zeit setzt. Elisabeth Berger (Wien/Salzburg) hingegen untersucht im homosozialen Kontext des Militärs um 1900 das Verhältnis von zeitgenössischen (und geschlechtsspezifischen) Ernährungsidealen und individuellen Geschmackspräferenzen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Zusammenstellung der Verpflegungspläne. Dabei kann sie unter anderem zeigen, in welchem Maße zeitgenössische und auch gegenwärtige Idealvorstellungen einer männlichen Ernährung durch die bewusste Berücksichtigung von Geschmacksvorlieben unterlaufen wurden. Eine gänzlich andere Perspektive auf das Thema Gender, Ernährung und Gesundheit bringt hingegen Isabella Marcinski (Berlin) ein. Mit einem leibphänomenologischen Ansatz untersucht Marcinski die Selbstbeschreibung weiblicher und männlicher Anorektiker. Sie beschreibt dabei unter anderem die zunehmende Auflösung geschlechtsspezifisch pathologisierten Ernährungsverhaltens, verweist aber auch auf die fortwährende Relevanz dezidiert männlicher und weiblicher Strategien zur Rechtfertigung des Umgangs mit dem je eigenen Körper. Die vier an dieser Stelle versammelten Aufsätze skizzieren die Wandelbarkeit des Verhältnisses von Gender, Ernährung und Gesundheit, sie werfen aber lediglich einzelne Schlaglichter auf diesen reichhaltigen Themenkomplex. Neben den im Rahmen der Tagung erneut deutlich gewordenen Grenzen, die der Geschichtswissenschaft durch die schwierige Quellenlage insbesondere hinsichtlich der Ernährungspraktiken gesetzt sind, blieb die Erkenntnis, dass eine geschlechterbewusste Ernährungsgeschichtsschreibung viel nachzuholen hat, um anachronistischen Annahmen und geschlechter- und gesundheitspolitischen Fehlschlüssen entgegenzuwirken.

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Ole Fischer

Bibliographie Adams, Carol J.: The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory. 3. Aufl. London; New York 2010. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1993. Buerkle, C. Wesley: Metrosexuality Can Stuff It: Beef Consumption as (Heteromasculine) Fortification. In: Text and Performance Quarterly 29 (2009), S. 77–93. Fischer, Ole: Männlichkeit und Fleischkonsum. Historische Annäherungen an eine gegenwärtige Gesundheitsthematik. In: Medizinhistorisches Journal 50 (2014), S. 42–65. Hagemann-White, Carol: Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht. In: Feministische Studien 11 (1993), H. 2, S. 68–78. Haraway, Donna: Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs des Immunsystems. In: Folkers, Andreas (Hg.): Biopolitik. Ein Reader. Frankfurt/Main 2014, S. 134–188. Kraack, Detlev; Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim: Essen und Trinken in Schleswig-Holstein. Wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Annäherungen. In: Kraack, Detlev; Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim (Hg.): Essen und Trinken. Zur Ernährungsgeschichte Schleswig-Holsteins. (=Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 46) Neumünster 2010, S. 7–37. Liebrich, Silvia: Rettet die Vielfalt unseres Essens! In: Süddeutsche Zeitung vom 9.9.2016, online unter http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ernaehrung-rettet-die-vielfalt-unseresessens-1.3154872 (letzter Zugriff: 1.2.2017). McGann, Patrick: Eating Muscle. Material Semiotics and a Manly Appetite. In: Tuana, Nancy u. a. (Hg.): Revealing Male Bodies. Bloomington 2002, S. 83–99. Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechtergeschichte. (=Historische Einführungen 8) Frankfurt/ Main; New York 2010. Reinhardt, Dirk; Spiekermann, Uwe; Thoms, Ulrike: Vorwort. In: Reinhardt, Dirk; Spiekermann, Uwe; Thoms, Ulrike (Hg.): Neue Wege der Ernährungsgeschichte. Frankfurt/Main u. a. 1993, S. 7 f. Reitmeier, Simon: Warum mögen wir, was wir essen. Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung. Bielefeld 2013. Tanner, Jakob: Lebensmittel und neuzeitliche Technologien des Selbst: Die Inkorporation von Nahrung als Gesundheitsprävention. In: Lengwiler, Martin; Madarász, Jeannette (Hg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld 2010, S. 31–54. West, Candace; Zimmerman, Don H.: Doing Gender. In: Gender & Society 1 (1987), S. 125– 151.

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 17–35, FRANZ STEINER VERLAG

Genderspezifische Ernährung in der spätmittelalterlichen Subsistenzkrise? Die Große Hungersnot in England (1315–1318/22) Maximilian Schuh Summary Gender-specific diets in the late medieval subsistence crisis? The Great Famine in England (1315–1318/22) Based on the modern research into famines this contribution discusses whether proof can be found of gender-specific nutritional differences during the Great Famine in England (1315–1318/22). After a brief characterization of the research landscape and the development of the famine, this contribution therefore explores and discusses sources regarding gender-specific diets and other approaches to nutrition in normal times and in times of crisis. Among other testimonies, food assignments in monasteries, manorial accounts, the contemporary historiography and manorial court records are examined. In conclusion, the insights gained from analysis of the thirteenth and fourteenth century documents are compared with modern theses on gender-specific dietary differences in times of crisis.

Einführung Zu Beginn des 14. Jahrhunderts, von ca. 1315 bis 1318/22, herrschte im Europa nördlich und zum Teil auch südlich der Alpen die wohl schwerste Hungersnot der Vormoderne.1 Diese herausragende Krise eignet sich als Untersuchungsfeld für die Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Ernährung. Aufgrund der im Vergleich zu Kontinentaleuropa umfassender erhaltenen Überlieferung bietet sich das spätmittelalterliche Königreich England als Untersuchungsraum an. Denn die zugängliche Quellenbasis erlaubt detaillierte Einblicke nicht nur in die Ursachen, den Verlauf und die Konsequenzen dieser Ausnahmesituation, sondern auch in ihre gruppenspezifischen und individuellen Auswirkungen. Im Folgenden steht die Frage im Mittelpunkt, ob und in welcher Form sich das Ernährungsverhalten während der Großen Hungersnot geschlechtsspezifisch unterschied. In einem ersten Schritt werden die Deutungen des 14. Jahrhunderts in der britischen Forschung sowie die Hungerkrise selbst knapp skizziert. Zudem werden die Positionen der modernen Hungerkrisenforschung unter Berücksichtigung geschlechtergeschichtlicher Perspektiven charakterisiert. Im Hauptteil werden, soweit fass1

Curschmann (1900), S. 208–217; Lucas (1930); Kershaw (1973); Jordan (1996).

18

Maximilian Schuh

bar, die zeitgenössischen Erwähnungen geschlechtsspezifischer Ernährungsgewohnheiten und weitere Praktiken des Umgangs mit Nahrung in Normal- und Krisenzeiten diskutiert. Abschließend gilt es, die aus der Überlieferung des 14. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnisse an die Thesen der Forschung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Ernährung während Krisenzeiten zurückzubinden. Umweltgeschichte des spätmittelalterlichen England und Hungerkrisen: Zugänge der Forschung Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts erfuhr das englische Königreich tiefgreifende Umgestaltungen und prägte wichtige Elemente vormoderner Staatlichkeit aus.2 Diese Veränderungen erklärte die britische Forschung vor allem mit der Rechts- oder mit der Kriegsthese.3 Gemeinsam ist beiden Erklärungen die Monokausalität des anthropozentrischen Begründungsansatzes. Die law state theory wertet die sich seit dem 13.  Jahrhundert etablierende königliche Gerichtsbarkeit in Verbindung mit der professionalisierten Anwendung des common law als den wichtigsten Motor der Veränderungen.4 Sie betraf nicht nur die Eliten des Königreichs, sondern alle Schichten der Bevölkerung, wie die Akzeptanz der königlichen Gerichte und die Zahl der dort verhandelten Fälle zeigen.5 Die war state theory hingegen sieht in den fortwährenden dynastisch motivierten Kriegen der englischen Krone gegen Schottland, Wales und Frankreich sowie in den damit verbundenen Maßnahmen der militärischen, fiskalischen und herrschaftlichen Mobilisierung die Hauptursache gesellschaftlichen Wandels.6 In Verbindung mit der nachlassenden Bewahrung der Rechtsordnung führte das in der Deutung Richard W. Kaeupers zur Ablösung des law state des 13. Jahrhunderts durch den war state des 14. Jahrhunderts.7 Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien hielten diesen Interpretationen die Bedeutung der Agrarproduktion für die mittelalterliche Gesellschaft entgegen.8 Seit den 1940er Jahren richteten Michael Postan und seine Schüler das Interesse auf die Preise von Getreide als dem wichtigsten Nahrungsmittel. Bevölkerungsentwicklung wurde mit sich ändernden Getreidepreisen in Zusammenhang gesetzt. Letztlich wurde aus einer malthusianischen Perspektive Wandel mit dem durch steigende und abnehmende Ernteerträge und Bevölkerungszahlen veränderten Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von Nahrung und Arbeitsleistung sowie der Verschiebung von Grundbesitz erklärt.9 Diese Sichtweise musste Umwelteinflüsse auf die Produktion von Ge2 3 4 5 6 7 8 9

Harriss (2005), S. 650–653. Rexroth (2007), S. 385 f. Putnam (1929); Robert C. Palmer (1993); Musson (1996); Musson/Ormrod (1999). Walker (2006). Allmand (2001); Prestwich (2006); Curry (2003). Kaeuper (1988), S. 381–392; Kaeuper (2013). Vgl. dazu Rexroth (2007), S. 385 f. Postan (1954). Postan/Titow (1958/59); Postan (1966); Titow (1972).

Genderspezifische Ernährung in der spätmittelalterlichen Subsistenzkrise?

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treide in ihre Deutung des 14. Jahrhunderts miteinbeziehen, denn Ernteausfälle aufgrund von zu starken Regenfällen, Frost oder Dürren hatten massiven Einfluss auf Getreidepreise.10 Diesen marktwirtschaftlich argumentierenden Ansatz wies die marxistische Geschichtswissenschaft jedoch zurück und betonte die Innovationsfeindlichkeit in feudalen Herrschaftssystemen, die bestehende Strukturen von Besitzrechten und Unterordnung bewahrte.11 Der Wirtschaftshistoriker Bruce Campbell griff die Dimension Umwelt in seiner Deutung des spätmittelalterlichen England auf und erklärte in provokanter Zuspitzung Natur zu dem historischen Protagonisten.12 Er sieht in klimatischen und biologischen Einflüssen wie Regen, Schafs- und Rinderseuchen sowie der Pest die Hauptgründe für sozialen Wandel im 14., aber auch in späteren Jahrhunderten.13 Diese Sicht auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die Geschichte Englands im Spätmittelalter vertritt in der gegenwärtigen Forschungslandschaft vor allem Philip Slavin.14 Die Konzentration der britischen Geschichtsschreibung auf Rechtswesen und Krieg dominiert bis heute Gesamtdarstellungen sowie Zeitschriften und drängt die Bedeutung anderer Faktoren für gesellschaftlichen Wandel im 14.  Jahrhundert weitgehend an den Rand. Die Erkenntnisse sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Ansätze werden in diesem Zusammenhang kaum berücksichtigt und die Bedeutung von Umwelteinflüssen auf die spätmittelalterliche Gesellschaft weitgehend ignoriert. Das kann den komplexen Gegebenheiten des 14.  Jahrhunderts kaum gerecht werden. Es scheint daher vielversprechend, die verschiedenen Deutungsangebote nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie in einer umfassenderen Interpretation zusammenzuführen. Die Berücksichtigung der Ergebnisse der Paläoklimaforschung erlaubt, diesen Ansatz durch die Einbeziehung der ›Archive der Natur‹ zu erweitern. Die Analyse von in Grönland gezogenen Eisbohrkernen und vor allem die Untersuchung der Jahrringe von Bäumen auf den Britischen Inseln weisen für die Jahre von 1314 bis 1317 auf heftige Niederschläge hin. Diese gingen vermutlich auf die von einem erhöhten Ausstoß von Sonnenenergie ausgelöste Erwärmung des Oberflächenwassers im Nordatlantik zurück. Das wärmere Oberflächenwasser konnte von der Luft besser aufgenommen werden und regnete dann über Nordeuropa ab.15 Der auf der Analyse von Baumringbreite beruhende relative Feuchtigkeitsindex für die Monate Juni, Juli und August, der die Grundlage des »Old World Draught Atlas« darstellt, zeigt für diese Jahre starke Veränderungen an. Ab 1314 sind erhöhte Niederschläge zu beobachten, die 1315 ihren Höhepunkt erreichten. 1316 gingen sie leicht

10 11 12 13 14 15

Titow (1959/60); Titow (1970). Brenner (1976). Vgl. dazu Aston/Philpin (1990). Campbell: Nature (2010). Campbell (2009); Campbell: Physical Shocks (2010); Campbell (2011); Campbell (2016). Slavin (2014). Dawson u. a. (2007).

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zurück, um 1317 wieder auf durchschnittliche Werte zurückzufallen.16 Diese Daten bestätigen jenseits der schriftlichen Überlieferung den erheblichen wetterbedingten Feuchtigkeitsüberschuss der 1310er Jahre. Gerade während der letzten Wachstumsmonate im Sommer sind Getreide und insbesondere der in den erzählenden Quellen dominierende Weizen empfindlich gegenüber Niederschlag.17 Die lang andauernden heftigen Regenfälle hatten daher ab 1314 aufeinanderfolgende, schwere Missernten zur Folge, die nicht nur in England, sondern auch im gesamten Europa nördlich der Alpen zu ungebremst steigenden Getreidepreisen, einer allgemeinen Preissteigerung und in der Folge zu der schwersten Hungersnot der Vormoderne führten. Die Ursache für die Krise ist jedoch nicht alleine in Wetterextremereignissen zu suchen. Zeitgleich geführte Kriege, der Aufstand der adeligen Opposition gegen den englischen König Edward II. und unabhängige Preisentwicklungen waren in gleichem Maße für die Verschärfung der Situation verantwortlich. Grundherrliche Rechnungsakten belegen Ertragseinbrüche und Preissteigerungen. Königliche Urkunden zeugen von den verzweifelten, jedoch weitgehend wirkungslosen Gegenmaßnahmen der Obrigkeit. Gerichtsakten zeigen für 1316 einen starken Anstieg der Verhandlungen von Eigentumsdelikten an, die vor allem Nahrungsdiebstahl betrafen. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung schließlich zeichnet ein Schreckensbild dieser Jahre, das von Missernten, Teuerung, Krankheit, sozialen Unruhen und Todesfällen geprägt ist.18 Im Folgenden werden Überlegungen dazu vorgestellt, wie sich diese Subsistenzkrise auf die Ernährungssituation der Bevölkerung auswirkte und inwieweit dabei geschlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten sind. Um den theoretischen Rahmen für diese Fallstudie abzustecken, werden zunächst verschiedene Deutungsangebote der modernen Hungerkrisenforschung diskutiert. In diesem Forschungsfeld stand auch nach der Überwindung malthusianischer Vorstellungen lange die Überzeugung im Mittelpunkt, dass Hungerkrisen und Hungersnöte alleine durch den mehr oder weniger drastischen Rückgang des Nahrungsangebotes ausgelöst wurden. Je nach Größe der Bevölkerung führte dieser Rückgang zu aus Nahrungsmangel resultierender Sterblichkeit.19 Für agrarisch geprägte Gesellschaften der Vormoderne wurden vor allem Umwelteinflüsse wie Wetterextremereignisse als Auslöser für Missernten, für daraus resultierende Preissteigerungen und in der Folge für Hungersnöte gewertet.20 Dies ist eine klimadeterministische Deutung, da die Ursachen für den Ausbruch der Krise außerhalb des Verantwortungsbereichs menschlichen Handelns und ökonomische und soziale Adaptionen nur als Reaktionen auf natürliche Einflüsse gedacht werden. Zudem werden die sozio-ökonomischen Vor16 Cook u. a. (2015), S. 3. Vgl. dazu auch die Karten zu den entsprechenden Jahren im »Old World Draught Atlas« (OWDA): http://kage.ldeo.columbia.edu/TRL/OWDA/ (letzter Zugriff: 7.4.2017). 17 Pfister (2005), S. 62–66. 18 Kershaw (1973); Jordan (1996), S. 8–23; Slavin (2014), S. 88 f. 19 Vgl. Ó Gráda (2009); Campbell: Nature (2010); Collet (2012), S.  13 f.; Engler (2012), S. 68–70; Alfani (2010). 20 Abel (1974).

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bedingungen weitgehend vernachlässigt. Krisen, die nicht auf Umwelteinflüsse zurückgehen, lassen sich mit diesem Modell nur schwer erklären.21 Für das koloniale und postkoloniale Afrika und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg warf dieser Ansatz kaum lösbare Probleme auf, da trotz des technologischen Fortschritts und verbesserter Transportmöglichkeiten immer wieder von natürlichen Einwirkungen verursachte schwere Hungerkrisen zu entstehen schienen.22 Daher entwickelte Amartya Sen in den 1970er Jahren aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive ein neues Modell für die Analyse von Hungerkrisen.23 Die Hungersnot in Bengalen 1943, die drei Millionen Todesopfer forderte, war nämlich ebenso wie spätere Krisen in Äthiopien und der Sahel-Zone nur in Teilen mit dem Rückgang des Nahrungsmittelangebots zu erklären. Zwar gab es in Südasien widrige Wettereinflüsse, aber die Reisernte von 1943 übertraf den Ertrag der vorangegangenen Jahre.24 Zentral in Sens Analyse sind daher die als entitlements bezeichneten Ansprüche des bzw. der Einzelnen auf Nahrung.25 Im spätkolonialen Indien waren diese entitlements extrem ungleich verteilt. Die Beamten der britischen Verwaltung, britische Soldaten und die indische Oberschicht etwa wurden mehr als ausreichend versorgt, während vor allem einheimische Lohnarbeiter im Agrarsektor und für den Markt produzierende Handwerker von enormen Preissteigerungen betroffen waren und in der Konsequenz verhungerten bzw. an von Nahrungsmangel mitausgelösten Erkrankungen starben.26 Diesen Ansatz bezeichnete Sen als food entitlement decline, um die neue Zugriffsweise von bis dahin dominierenden Erklärungen abzusetzen, die er unter den Begriff food availability decline fasste.27 Entitlements auf Nahrung sind je nach Rasse, Klasse, Beruf, Wohngegend, Geschlecht und anderen Kategorien ungleich verteilt, was zu der sozialen Selektion von Hungernden führt.28 Dieser nach sozialen Kategorien differenzierende Ansatz weckte das Interesse der geschlechtergeschichtlichen Forschung. Sugata Bose betonte in einer vergleichenden Untersuchung von Hungersnöten der 1940er Jahre in China und in Indien, dass innerhalb der von der Hungersnot besonders betroffenen sozialen Gruppen insbesondere die Frauen eines Haushalts kaum entitlements auf Nahrung hätten geltend machen können.29 Ihre knappen Belege deuten aber eher darauf hin, dass dies für Kinder der Fall war, die aufgrund ihrer körperlichen Verfassung weitaus empfindlicher auf Nahrungsmangel reagierten.30 Die Parallelität der besonderen Betroffenheit von Frauen in den Krisen des 20. Jahrhunderts mit Hungersnöten des vorindustriellen Zeitalters betonte 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Engler (2012), S. 69. Collet (2012), S. 16. Sen (1976). Sen (1981), S. 52–63. Engler (2012), S. 70. Sen (1981), S. 64–75. Sen (1981), S. 162–166. Sen (1981), S. 45–51; Bose (1990), S. 721. Bose (1990), S. 721–724. Bose (1990), S. 723 f.

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in den frühen 1990er Jahren Claudia Ulbrich.31 Auch dort hätten die Auswirkungen der Umwelteinflüsse nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen, sondern erst im Zusammenspiel mit der durch die ständische Gesellschaftsordnung bedingten mangelnden Verteilungsgerechtigkeit vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung getroffen.32 Frauen hatten in dieser Sicht seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa besonders unter der zunehmenden Bedeutung von Lohnarbeit und der daraus resultierenden Pauperisierung zu leiden. Oft alleine für die Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts zuständig, mussten sie schlechtbezahlter Gelegenheitsarbeit nachgehen und konnten schon in normalen Jahren kaum ausreichend Geld verdienen. Während Krisenzeiten waren sie daher besonders von Preissteigerungen und in der Folge von Hunger betroffen. Das galt besonders in Fällen, in denen sich Männer der Verantwortung für Frau und Kinder durch Migration entzogen. Neben verzweifelten Versuchen, durch Prostitution Geld für ausreichend Nahrung verdienen zu können, wurde diese Entwicklung durch stärkere obrigkeitliche und kirchliche Fürsorgemaßnahmen für Frauen aufgefangen.33 Für das Mittelalter sieht Ulbrich diese Konstellationen noch nicht gegeben. Auf diesen Wegen näherte sich die historische Forschung bisher der Frage nach den geschlechtsspezifischen Auswirkungen vormoderner Nahrungskrisen. Genderspezifischer Zugang zu Nahrung im England des 13. und 14. Jahrhunderts Um mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ernährung während der Großen Hungersnot in England zu Beginn des 14. Jahrhunderts konkret zu diskutieren, werden im Folgenden verschiedene Quellengattungen in den Blick genommen. Einen ersten Einblick in die Ernährung der Bevölkerung des späten 13. und frühen 14.  Jahrhunderts erlauben klösterliche Lebensmittelzuweisungen sowie grundherrliche Rechnungsakten, die über die Nahrungsversorgung von Bewohnern der Klöster, von Bediensteten des Hofes und von frondienstleistenden Grundholden Auskunft geben. Im spätmittelalterlichen England übergaben zahlreiche über Besitz verfügende Einzelpersonen und Ehepaare zum Ende ihres Lebens hin Klöstern oder Stiften Land und erhielten dort im Gegenzug bis zu ihrem Lebensende Kost und Logis. Adam von Fleyburgh und seine Frau Emma etwa überließen der bedeutenden Abtei Selby (Lincolnshire) in Nordengland im Januar 1272 ein größeres Stück Land und empfingen im Gegenzug Lebensmittelzuweisungen.34 Dieses Rechtsgeschäft wurde von einem königlichen Gericht in einem sogenannten foot of fines festgehalten, um die Besitzübertragung verbindlich zu dokumentieren. Das Ehepaar war in der Versorgung mit Nahrungsmitteln 31 32 33 34

Ulbrich (1991); Ulbrich (1993), S. 167 f. Ulbrich (1993), S. 168–174. Ulbrich (1993), S. 174–177. Foster (1920), Nr. 130, S. 274 f.

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den Mönchen des Klosters weitgehend gleichgestellt. Die beiden erhielten täglich jeweils zwei Laibe hochwertigen Weißbrots, bestes Ale sowie zusätzlich noch einen Laib braunen Brotes. Außerdem aßen sie dreimal in der Woche Fleisch.35 Ferner versorgte das Kloster einen Bediensteten mit täglich einem Laib schlechteren Brotes und weniger Bier.36 Zudem wurde ihnen jährlich ausreichend Käse, Butter, Fisch, Kleidung, Geld und Adam Hafer, Heu, Stroh, Brennholz, Wachs, Tierfett und eine Wiese zugeteilt.37 Durch die Übertragung seines Landbesitzes an das Kloster konnte sich das Ehepaar einen gut versorgten Lebensabend sichern.38 Dabei wurde bei der Zuweisung von Lebensmitteln kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht. Weniger Essen von schlechterer Qualität erhielt lediglich der Bedienstete der beiden. Nach dem Tod Adams sollte Emma zwar auf Brennmaterialien, Hafer, Heu, Stroh, Brennstoffe, Wachs, Tierfette und die Wiese verzichten müssen39, an Menge und Art der ihr zugewiesenen Lebensmittel änderte sich aber auch nach Ableben ihres Mannes nichts. Der deutlich weniger vermögende William von Shelford und seine Frau Mariota, die einen Hof in Lincolnshire besaßen, übergaben dem kleinen Stift Thurgarton 1250 deutlich weniger Land als Adam und Emma. Dieser Vor-

35 Foster (1920), Nr. 130, S. 274: »And the abbot has granted for himself and for his successors and his church that they shall henceforth render every year to Adam and Emma, for the life of both of them, two monks’ corrodies to wit, two monastic white loaves, two gallons (lagenas) of monastic beer; two messes (fercula) and two pittances; in such wise, to wit, that when flesh is eaten they shall recieve [sic!] messes of flesh thrice a week; and, besides the corrodies, every day one brown (bisum) loaf such as the ploughmen (carucatores) of the abbey recieve.« 36 Foster (1920), Nr. 130, S. 274: »And that they shall give Adam and Emma every day, for the life of both of them, one groom’s (garcionis) corredy [sic!] to wit, one esquire’s loaf, one mess and one gallon of the second beer.« 37 Foster (1920), Nr. 130, S. 274: »And that they shall give them every year at the feast of the Nativity of St. John the Baptist 6 stones of cheese and 3 stones of butter for their suppers (cenaculis); and that they shall give them, for the life of both of them, every year at the feast of the Nativity of St. John the Baptist 2 marks and 12s. 8d.; and that they shall give them yearly at the feast of St. Michael two pairs of monastic boots (botarum). […] And, moreover, the abbot has granted for himself and his successors and his church that they shall henceforth render Adam, for his life, 10,000 turfs, together with 10 cartloads of firewood, to be received at the feast of St. Michael at the messuage which remains by them with this fine; and that they shall give Adam every year 7 quarters of good oats, 4 cartloads of good hay at the feast of St. Michael and 3 cartloads of wheat-straw and half a quarter of salt, to be received at the feast of St. Michael; and that they shall give Adam every year 2 stones of tallow (cepi) and two pounds of wax and half a stone of hog’s grease, to be received at the feast of St. Martin in winter. And likewise, the abbot has granted to Adam, for his life, 1 acre of meadow […].« 38 Hallam (1988), S. 826. 39 Foster (1920), Nr. 130, S. 274 f.: »And likewise after the death of Adam, the abbot and his successors and his church shall be quit of the payment of the turfs, firewood, oats, hay, straw, salt, tallow, wax and grease, for ever. And likewise the meadow shall revert to the abbot and his successors, quit of the heirs of Adam, for ever.«

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gang wurde ebenfalls vor Gericht in einem foot of fine bestätigt.40 Im Gegenzug erhielt das Paar eine jährliche Zuweisung von Weizen, Gerste und Bohnen sowie ein Schwein und 500 Heringe.41 Ihre Ernährung war weitaus weniger stark von tierischen Proteinen geprägt. Besonders das Fehlen von Käse und Butter in der Zuweisung fällt auf. Diese wurden durch Bohnen als pflanzliche Proteinlieferanten ersetzt. Auch Mariota sollte im Falle des Todes ihres Mannes genau die Hälfte der bisherigen gemeinsamen Ration erhalten.42 Für diese Gruppe von bäuerlichen Landbesitzern unterschiedlicher Vermögensklassen sind aus der erhaltenen Überlieferung keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Nahrungszuweisung erkennbar. Der Blick auf andere Stifte und Klöster zeigt, dass die Stellung des Empfangenden in der mittelalterlichen Gesellschaft für Art und Menge der Nahrung ausschlaggebend war. Im Stift St. Peter in Sele (Sussex) erhielt Robert Curteling, der Dienst als Pförtner leistete, täglich einen Laib weißen und einen Laib dunklen Brots, Ale sowie Fleisch und Fisch an den Tagen der Woche, an denen auch den anderen Mitgliedern des Stifts diese Speisen serviert wurden. Dies entsprach der einfachen Versorgung von Bediensteten der Gemeinschaft.43 Sir Hugh, der ehemalige Kaplan von St. Leonard in Sele, erhielt hingegen 1269 vom Stift eine Zuweisung, die der der Kanoniker entsprach. Sie umfasste für ihn und seinen Stalljungen zwei Laibe Weißbrot und zwei Laibe weniger guten Brotes sowie zwei Gallonen Ale von unterschiedlicher Qualität. An Fleisch- und Fischtagen erhielt er die gleiche Menge Fleisch wie ein Kanoniker bzw. vier Heringe oder fünf Eier, sein Junge entsprechend der Versorgung von Bediensteten des Stifts lediglich zwei Heringe oder drei Eier.44 40 Foster (1920), Nr. 128, S. 88: »Between Richard prior of Thurgarton, querent, […] and William son of Gilbert de Shelford and Mariota his wife, impedients, of 1 messuage and 2 bovates of land in Tymberlund. […] William and Mariota have acknowledged to be the premises to be the right of the prior and his church of Thurgarton, as those which they have of their gift.« 41 Foster (1920), Nr. 128, S.  89: »And for this the prior has granted for himself and his successors and his church that they shall henceforth render every year to William and Mariota for William’s life 3 quarters of wheat, 2 quarters of barley, half a quarter of beans, 1 hog (baconem) and 500 herrings.« 42 Foster (1920), Nr. 128, S. 89: »And if it happen [sic!] that Mariota shall outlive William, then half of the corn, hog and herrings shall remain to her, and the other half of the corn, hog and herrings shall be withdrawn.« 43 Salzman (1923), Nr. 121, S. 73: »We Walter prior of Sele and the monks, have given to our beloved and faithful Robert Curteling’ for his service the office of our portership (porterie) of Sele to have for all his life. Moreover we have granted him to receive from our store (celario) every day of his life one white wheaten loaf and one black loaf of household bread, a gallon of the convent ale and meat and fish from our kitchen, namely on a day when we have meat meat and on a day when we have fish fish, as much as one servant of our free household receives daily.« 44 Salzman (1923), Nr. 122, S. 73: »We, Walter de Coleuile prior of Sele and the monks, have granted to Sir Hugh formerly chaplain of St. Leonard […] the livery of one monk and of one groom (garcionis) all the days of his life, namely four wheaten loaves, of which two shall be white and two of second-class bread, and two gallons of ale, of which one shall be of the best ale and one of the second-class ale, and every day when we eat flesh

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Im Gegensatz zu seinem Herrn wies man ihm kein Fleisch und auch nur ungefähr die Hälfte der Fische bzw. Eier zu, die ein vollwertig versorgtes Mitglied des Stifts bekam. Sozialer Stand und Zugang zu Nahrungsmitteln waren hier untrennbar miteinander verbunden, wobei auch das Alter des Stalljungen eine Rolle gespielt haben könnte. Im Stift Dunstable in Bedfordshire spiegelte sich die standesspezifische Einteilung der Bewohner in drei Gruppen ebenfalls in unterschiedlichen Nahrungszuweisungen wider. Brot und Bier wurden in drei Güteklassen und Suppe in zwei verschiedenen Ausführungen serviert. Dazu kamen Fleisch oder Fisch sowie Belag für das Brot.45 Die Kanoniker, Konversen (Laienbrüder) und die bessergestellten männlichen und weiblichen Bewohner erhielten ohne Differenzierung sieben Laibe Weißbrot in der Woche, sieben Gallonen besten Biers, Belag für das Brot, Fleisch oder Fisch sowie die beste Brühe. Das zeigen zwei 1234 ausgestellte Urkunden für Walter von Kyrkeby und seine Frau Emma.46 Entsprechende Regelungen wurden 1210 für Roger von Seghen und seine Frau Alicia getroffen.47 Die zweite Gruppe, die Frauen von niedrigerem Rang und einen herausgehobenen freien Diener umfasste, erhielt je nach ihrem persönlichen Stand weißes und dunkles Brot in unterschiedlichen Mischverhältnissen sowie Bier und Suppe in unterschiedlicher Qualität. Dabei kam es zu verschiedenen Kombinationen der Güteklasse von Nahrungsmittelgruppen. So erhielt zum Beispiel Matilde von Hare sonntags die Ration Brot, Bier, Fleisch und Suppe, die den Kanonikern zustand, an anderen Wochentagen jedoch lediglich Mischbrot und zweitklassiges Bier, dafür aber erstklassige Suppe.48 Daneben finden sich noch andere Zusammensetzungen, die zur Hälfte aus weißem und dunklem Brot, erst- und zweitklassigem Bier sowie bester Suppe bestanden.49 Die Gruppe der Bediensteten der Zuweisungsemp-

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in the priory one mess (ferculum) of flesh as a monk and every day on which we eat fish four herrings or five eggs, and for Hugh’s groom, as long as Hugh is alive every day two herrings or three eggs.« Fowler (1926), S. 13 f.; Hallam (1988), S. 827. Fowler (1926), S. 149, Nr. 468 [1234]: »Carta Walteri dy Kyrkeby. Quod exibebimus eum in victu sicut Canonicus vel conversus dum fuerit in habitu seculari […].« Fowler (1926), S. 149 f., Nr. 469 [1234]: »Carta Emme uxoris eius: Unum conredium plenum in pane et cervisia et companagio et potagio percipiendum singulis septimanis de Celario et Coquina nostra scilicet septem albas michas et septem galonas cervisie et fercula et potagia de coquina quanta damus Canonicis et conversis nostris […].« Vgl. Fowler (1926), S. 107 f., Nr. 307 f. Fowler (1926), S.  114 f., Nr. 333: »Pro Matilde de Hare. Matildi de Hare i conredium scilicet singulis diebus dominicis i panem et i galonam servisse et i ferculum de carne vel piscibus et potagium de coquina qualia in eodem die nobis in conventu apponuntur. Pro aliis six diebus sex suras michias et sex gallonas de cervisia caretariorum et de potagio canonicorum.« Vgl. etwa Fowler (1926), S.  95, Nr. 279 [ca. 1234]: »Uxoris J. de Wadlowe: […] habebit quatuor albas michas et septem suras et quatuor galonas servisie et tres obulos pro companagio et potagium […].« Fowler (1926), S. 189, Nr. 693: »Conredium Emme de Bradeburna. Inveniemus Emme domum ad manendum et sustentabimus eam et habebit singulis septimanis iiii albas michas et ix de suris et iiii galonas de servicia [sic!] cano-

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fänger wurde mit dunklem Brot und der zweitklassigen Suppe versorgt.50 Bier ist für sie nicht dokumentiert. Erhielten in der ersten Gruppe Männer und Frauen noch dieselben Nahrungsmittel, werden für die beiden anderen Gruppen geschlechtsspezifische Unterschiede erkennbar. Grundsätzlich differierte in Dunstable in erster Linie die Qualität der den drei Gruppen zugewiesenen Nahrungsmittel, was als Kennzeichen ständischer Abgrenzung zu verstehen ist. Auf einer zweiten Ebene spielte auch die Menge der Nahrung eine Rolle. Für Basilea, die Tochter Walters von Kyrkeby, wurde 1234 ausdrücklich auf die Abhängigkeit der Nahrungszuteilung von Alter und Person verwiesen.51 Solche Unterschiede in der Qualität der Nahrungsmittel lassen sich auch in der Abtei Oseney beobachten, wo Andreas Moriz für das von ihm übergebene Land Zuweisungen für zwei Kanoniker, einen freien Diener und einen Stalljungen zugesprochen wurden. Erwähnt werden Brot und Bier in verschiedenen Qualitätsklassen, die den drei Gruppen zugeteilt wurden.52 In allen angeführten Fällen spielten die aus Getreide hergestellten Nahrungsmittel Brot und Bier die größte Rolle. Auch über größeren Besitz verfügende Bauern sowie Mönche und Kanoniker ernährten sich überwiegend davon. Geschlechtsspezifische Unterschiede gab es hier kaum, Qualität und Menge der zugänglichen Speisen hingen in erster Linie von der Standesgruppe des Empfängers bzw. der Empfängerin und möglicherweise auch vom Alter ab, weniger vom Geschlecht. Vor allem für die jeweils höchste Gruppe ist die gleichmäßige Versorgung von Mann und Frau festzustellen. Das zeigt die Bedeutung von Nahrung als Mittel der ständischen und nicht der geschlechtlichen Abgrenzung wenigstens in den privilegierteren Teilen der mittelalterlichen Bevölkerung. In den Jahren, in denen keine Umwelteinflüsse die landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigten, sind hier kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beobachten.

nicorum et iii de servisia servientium. Et singulis diebus unum ferculum sicut canonicis exibetur in carne vel pisce et potagium de potagio canonicorum.« 50 Fowler (1926), S. 92, Nr. 275 [ca. 1202/27]: »De conredio Radulfo de Chaure: […] Preterea concessimus ad opus servientis dicti Radulfi septem suras michias singulis ebdomanis de cellario nostro recipiendas et singulis diebus potagium de coquina.« Fowler (1926), S. 149, Nr. 469 [1234]: »Carta Emme uxoris eius [Walter de Kyrkeby]: […] Et ad opus unius servientis singulis septimanis inveniemus ei quatordecim panes scilicet iiii de suris michis et x de cobbis et potagium de potagio servientis.« 51 Fowler (1926), S. 150, Nr. 473 [1234]: »Carta Basilee filie W. de Kyrkebi: Quod manucepimus invenire Basilee filie Walteri de Kyrkebi victum et vestitum etati et persone sue competentem […].« 52 Salter (1935), Nr. 738, S. 251: »Et idem abbas concessit pro se & successoribus suis & ecclessia sua predicta […], quod invenient ei tota vita sua hospicium decens infra abbathiam de Oseney et singulis diebus corredia duorum canonicorum, unius liberi servientis & unius garcionis, scilicet duos panes qui vocantur magne michie, unam bisam micchiam, unam salam micchiam & unum grossum panem, duas lagenas de meliori cervisia, unam lagenam de secunda cervisia & unam lagenam de tercia cervisia, & de coquina sicut duo canonici, unus liber serviens & unus garcifer de stabulo abbatis percipiunt.«

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Genderspezifische Ernährung während der Großen Hungersnot (1315–1318/22)? Aus grundherrlichen Rechnungsakten eines in Melbourn (Cambridgeshire) gelegenen Hofes wird deutlich, dass zu Beginn des 14. Jahrhunderts die Ernährung der sieben männlichen Bediensteten dort vor allem aus Getreidegrütze zum Frühstück und aus acht Laiben dunklen Brots in der Woche zum Mittagund Abendessen bestand.53 1317, während der Hungersnot, versuchte der Vogt, der den Hof leitete, die verteilten Mengen aufrechtzuerhalten und stattdessen das Verhältnis der Getreidemischung zu verändern. Statt der üblichen Mischung aus Roggen, Erbsen, Weizen und Gerste wurde minderwertigeres Getreide verwendet.54 In diesem Zusammenhang werden geschlechts- und altersspezifische Unterschiede erkennbar. Die nun erwähnte Frau und ein heranwachsender Junge erhielten ein Fünftel weniger Brotgetreide als die Männer, allerdings die gleiche Menge an Hafer für Getreidegrütze.55 Verschiedene Rechnungen zeigen zudem, dass mit der Aufzucht, Pflege und Nutzung von Tieren betraute Hofbewohner spezielle Rationen Milch, Käse oder Schweinefleisch erhielten. Da Frauen insbesondere als Milchmägde tätig waren, sind bei ihnen Milch und Käse überdurchschnittlich oft als zusätzliche Nahrung erwähnt.56 Mit diesen Zuweisungen sollte dem Diebstahl der entsprechenden Produkte vorgebeugt werden. Insgesamt war die von Herbert E. Hallam aus zahlreichen grundherrlichen Rechnungen des 14. Jahrhunderts rekonstruierte Nahrung der in der landwirtschaftlichen Produktion tätigen Bediensteten karg. Zu weiten Teilen bestand sie aus Brot und Hafergrütze. Tierische Proteine wurden hauptsächlich von in geringen Mengen verzehrtem Käse und Milch geliefert, pflanzliche Proteine von Hülsenfrüchten. Frauen und Heranwachsende erhielten zum Teil, aber nicht immer, weniger Nahrung als Männer. Allerdings waren ihre Rationen höchstens um ein Fünftel reduziert.57 Für die Krisenjahre von 1315 bis 1318/22 sind jedoch keine Veränderungen in der Verteilung von Nahrungsmitteln zwischen Männern und Frauen im Vergleich zu anderen Zeiten zu beobachten. Die Versorgung von während der Erntezeit zur Frondienstleistung Herangezogenen gestaltete sich hingegen extrem üppig und reich an tierischen Proteinen. Neben ausreichend Brot, Bier und Suppe erhielten die Arbeiter Fisch, Käse, Eier und gelegentlich Fleisch. Die großen Mengen, die verteilt wurden, deuten darauf hin, dass hier möglicherweise auch Frauen und Kinder der Grundholde mit Nahrung versorgt wurden.58 Es handelte sich um eine jährliche Ausnahmesituation. Die Rechnungen des Bischofs von Winchester 53 54 55 56 57 58

William Mortlock Palmer (1925/26), S. 33. William Mortlock Palmer (1925/26), S. 34 f. William Mortlock Palmer (1925/26), S. 35; Hallam (1988), S. 828. Hallam (1988), S. 831. Hallam (1988), S. 829–833. Hallam (1988), S. 833–839. Vgl. etwa für Winchester Page (1996), S. 149 (Adderburry): »Harvest-time: In expenses of 1 boon-work of 199 men reaping 140 acres of corn at harvest-time, in bread, ale, meat and cheese bought 16 s. 7 d., or 1 d. of food each day.«

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zeigen, dass Grundherrn und ihre Vögte auch in Krisenjahren darauf bedacht waren, diese überdurchschnittliche Versorgung aufrechtzuerhalten. Ab dem Rechnungsjahr 1314/15 erhöhten sich aufgrund der Preissteigerungen für Getreide während der Krise die Kosten für die Verpflegung der Fronarbeiter und des Hofpersonals zur Erntezeit. Diesen Umstand mussten die Vögte, die den einzelnen Höfen vorstanden, gegenüber der bischöflichen Zentrale rechtfertigen.59 In Hambledon verwies man auf die Teuerung des Getreides, das regnerische Wetter und die daraus resultierende Verlängerung der Erntezeit.60 1315/16 brachte der Vogt dieses Argument erneut vor.61 In der Rechnung des Hofkomplexes East Meon Church erscheint es ebenfalls.62 Offenbar erachtete man die ausreichende Versorgung während der Erntezeit für so wichtig, dass die erhöhten Ausgaben akzeptiert wurden. Die Nahrungsverteilung wurde nicht grundsätzlich angetastet, um Proteste und Widerstand zu vermeiden. Die vorhandene Überlieferung erlaubt jedoch nicht, hier geschlechtsspezifische Unterschiede beim Zugang zu Nahrung zu erkennen. Während die grundherrlichen Rechnungsakten vor allem den Rückgang der Getreideerträge und die Preissteigerungen der Jahre von 1314 bis 1318/22 sehr deutlich aufzeigen, geben sie nur spärliche Informationen zu der veränderten Ernährungssituation in der Krisenzeit. Für diese Frage aufschlussreicher sind die in zeitlicher Nähe zu den Ereignissen entstandenen erzählenden Quellen. Die im Kloster St. Albans abgefasste Chronik des Benediktinermönchs Johannes von Trokelowe und die von einem anonymen Säkularkleriker verfasste »Vita Edwardi secundi« stellen in diesem Zusammenhang die ausführlichsten Schilderungen dar.63 Beide beziehen sich zwar auf die Krise, räumen aber den politischen und kriegerischen Ereignissen dieser Jahre, wie den Aktionen der baronialen Opposition gegen Edward II. und den Kämpfen gegen Schottland und Wales, wesentlich mehr Raum ein als der Hungersnot. Johannes von Trokelowe betont in seiner Schilderung nicht nur den durch Regen reduzierten Ernteertrag64, sondern auch die mangelhafte Qualität des doch noch geernteten Korns: »Und Brot hatte nicht den gewohnten Nährwert, da das Getreide nicht ausreichend von der Sommersonne gestärkt worden war. Daher wurden die, die es auch in großen Mengen aßen, innerhalb kürzester 59 Titow (1959/60), S. 360 f.; Schuh (2016). 60 Hampshire Record Office, Winchester, 11M59/B1/70 (1314/15), m. 22d (Hambledon): »Custus autumpni: […] iiii lib. ii s. x d. omnibus hoc anno et tantum propter caristiam bladi in autumpno et pro tempore pluvioso, quia autumpnum durabat usque ad festum sancti Michaelis [29. September].« 61 Hampshire Record Office, Winchester, 11M59/B1/71 (1315/16), m. 33r (Hambledon): »Custus autumpni: […] et tantum propter caristiam bladi.« 62 Hampshire Record Office, Winchester, 11M59/B1/71 (1315/16), m. 32r (East Meon Church): »Custus autumpni: […] et tantum hoc anno pro caristia cibi.« 63 Grandsen (1982), S. 4–8, 31–37; Lucas (1930); Kershaw (1973). 64 Riley (1866), S. 93: »Dicta quidem caristia mense Maio, anno Domini millesimo trecentesimo quinto-decimo, incepit, et usque ad festum Nativitatis Beatae Mariae [8. September] duravit. Pluviae enim aestivales in tantum abundabant, quod fruges maturescere non poterant.«

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Zeit wieder hungrig.«65 In der agrarischen Gesellschaft des 14. Jahrhunderts war auch einem privilegierten Mönch der Zusammenhang von Intensität der Sonneneinstrahlung und Qualität des Getreides und des daraus hergestellten Brots bewusst. Als ein Ausweg aus dieser Mangelsituation wird das Ausweichen auf Ersatznahrung geschildert: Grobes Brot im Wert von vier Denaren reichte nicht aus, um einen normalen Mann für einen Tag zu ernähren. Die üblichen, für den Verzehr erlaubten Fleischsorten gab es kaum. Pferdefleisch war kostbar, wie auch fette Hunde gestohlen wurden. Wie viele bestätigen, aßen sowohl Männer als auch Frauen an vielen Orten heimlich ihre eigenen und sogar fremde Kinder.66

Erscheint der Verzehr von Pferden und Hunden noch glaubhaft, relativiert der Verfasser selbst die Erwähnung von Kannibalismus durch den Verweis auf Hörensagen. Solche Referenzen auf den Verzehr von Menschenfleisch, die durch keine andere Quellengattung Bestätigung finden, werden in der Forschung als literarisches Motiv gewertet, das nach alttestamentlichem und antikem Vorbild die Ausnahmesituation der Hungerjahre verdeutlichen soll.67 Die »Vita Edwardi secundi« verweist in der Schilderung der Ereignisse des Jahres 1316 ebenfalls auf das Ausweichen auf Ersatznahrung: »Während dieser Zeit des Mangels entstand eine große Hungersnot, und nach der Hungersnot kamen schwere Seuchen, an denen viele Tausende an verschiedenen Orten starben. Ich habe sogar gehört, dass in Northumbria Hunde, Pferde und anderes Unreines als Nahrung konsumiert wurden.«68 Der anonyme Verfasser relativiert die Aussage ebenfalls durch die Berufung auf Hörensagen und verortet solche Praktiken zudem in Gebieten weit im Norden Englands, die in dieser Konzeption als zivilisationsfern und von schottischen Angriffen bedrängt dargestellt werden.69 Die Bezüge auf Kannibalismus während der Hungersnot sind in der »Vita« nur indirekt. Für das Jahr 1318, in dem das Ende der Hungersnot verortet wird, greift der Verfasser die Geschichte der Belagerung Samarias aus dem Buch der Könige auf. Die Hungersnot während dieser Belagerung, in der nach der Schilderung des Alten Testaments Kinder verzehrt wurden, dient als historische Folie für die Ereignisse im England 65 Riley (1866), S.  93: »Nec habebat panis robur nutritivum, seu virtutem substantialem more solito in se, pro eo quod grana a calore solis aestivi nutrimentum non habebant. Unde comedentes ex eo, licet magnum exinde sumerent quantitatem, brevi elapso intervallo famelici remanebant.« 66 Riley (1866), S. 95: »Quatuor autem denariatus de grosso pane non sufficiebant uni simplici homini in die. Carnes quidem communes et ad vescendum licitae, strictae erant nimis; sed carnes equinae pretiosae eis fuerant, qui canes pingues furabantur; et, ut multi asserebant, tam viri quam mulieres parvulos suos, et etiam alienos, in multis locis furtim comedebant.« 67 Marvin (1998); Jordan (1996), S. 148–150. 68 Childs (2005), S. 120: »Porro durante penuria creuit et fames ualida, et post famen dura pestelencia, ex qua moriuntur in diuersis locis plus quam milia. A quibusdam eciam audiui relatum, quod in partibus Northumbrorum canes et equi et alia immunda sumebantur ad esum.« 69 Marvin (1998), S. 77.

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der vorangegangenen Jahre.70 Denn die Preissteigerungen scheinen dem biblischen Vorbild zu entsprechen, was impliziert, dass es ebenfalls zu Kannibalismus gekommen sein könnte. In Samaria wie auch in England beendete göttliche Gnade die außerordentliche Situation und stellte die zwischenzeitlich verlorengegangene gesellschaftliche Ordnung wieder her.71 Die Darstellungen beider Geschichtsschreiber verweisen auf verschiedene, sonst unübliche Ersatznahrungsmittel als verzweifelte Maßnahmen der Bevölkerung. Allerdings geben sie keinerlei Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ernährung während der Krisenzeit. Johannes von Trokelowe nennt bei der Erwähnung von Kannibalismus ausdrücklich Männer und Frauen. Das kann man als Hinweis darauf werten, dass es in der Krisensituation der Hungersnot keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der verzweifelten Suche nach Nahrung gab. Inwieweit die beiden Historiographen, die einer sicher nicht an Hunger leidenden privilegierten sozialen Gruppe angehörten, allerdings über die Nöte und Nahrungsstrategien der einfachen Bevölkerung und insbesondere der Frauen informiert waren, ist fraglich. Diese Gruppen standen nicht im Blick- und Interessensfeld der beiden Autoren. Insofern ist die Abwesenheit konkreter Bemerkungen und Differenzierungen kaum verwunderlich. Abschließend wird eine Quellengattung in den Blick genommen, die zwar keine Auskunft über die konkrete Ernährung gibt, dafür aber über die Beschaffung von Lebensmitteln. Neben dem Ausweichen auf Ersatznahrung waren Eigentumsdelikte wie Wildern, Raub und Diebstahl eine weitere Möglichkeit, während der Krise an Nahrungsmittel zu gelangen. Gerichtsakten aus acht englischen Grafschaften zeigen für das Jahr 1316, den Höhepunkt der Hungerkrise, einen starken Anstieg der verhandelten Kriminalfälle. Ihre Zahl wuchs um über 200 Prozent. Eigentumsdelikte machten davon bis zu 90 Prozent aus.72 Sehr oft wurden Einbrüche und der Diebstahl von Lebensmitteln verhandelt. Der manor court in Wakefield (Yorkshire) etwa sah sich am 16. November 1316 gezwungen, aufgrund der zahlreichen Einbrüche und Diebstähle einen gesonderten Gerichtstermin anzusetzen.73 Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren ist für diesen Termin auffällig, dass fast ein Drittel, nämlich zehn der an diesem Termin verhandelten 31 Anklagen von Frauen begangene Diebstähle betraf. In so großer Zahl erscheinen sie sonst nicht in den Akten.

70 Childs (2005), S. 156: »Modius tritici, qui anno preterito pro quadraginta solidis uendebatur, hodie pro sex denariis emptori libenter offeretur. Sic olim tamdiu obsessa Samaria, ut mater filii carnibus uesceretur pro penuria uictualium, recuperauit diuina gratia.« 71 Marvin (1998), S. 78. 72 Hanawalt (1979), S. 238–260; Campbell: Nature (2010), S. 291 f. 73 Lister (1930), S. 153: »Tourn at Wakefield on Tuesday, the feast of St. Edmund the Archbishop [Nov. 16] 10 Edw. II by double juries [inquisiciones gemminiatas] on account of common burglaries and the great number of thieves, as to which the truth can not be ascertained.«

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Zwei Angeklagte hatten Hafer gestohlen, eine weitere Mehl und Fleisch.74 Andere stahlen, zum Teil gemeinsam mit Männern, neben Nahrungsmitteln und Speisen auch Geld, Kleidung, Wertgegenstände und sogar Schafe.75 Da diese Art von Anklagen nach dem Ende der Hungersnot nicht mehr in den Gerichtsakten erscheint76, stellen sich mehrere Fragen. Die Überlieferung zeigt zunächst nur einen Anstieg der verhandelten Anklagen. Das erlaubt nicht unbedingt Rückschlüsse darauf, dass tatsächlich mehr Eigentumsdelikte begangen wurden als in anderen Jahren. Es belegt vielmehr, dass bestimmte von der Bevölkerung geübte Praktiken der Nahrungsbeschaffung nun inkriminiert wurden. Möglicherweise gingen die Mitglieder der von der Hungersnot betroffenen Gemeinschaft jetzt dazu über, bisher geduldetes Verhalten nicht mehr zu tolerieren und vor dem Hofgericht anzuzeigen. Selbst vom Mangel der Hungerjahre betroffen, wollten sie den Diebstahl von Lebensmitteln, den man sonst in anderem Rahmen regelte, nicht mehr akzeptieren.77 Das wird besonders deutlich, wenn traditionelle Praktiken der Nahrungsbeschaffung, wie die Nachlese der abgeernteten Felder, zur Anklage gebracht werden.78 Solche Maßnahmen deuten eher auf eine Änderung des Deutungsrahmens des Akzeptierten als auf einen reinen Anstieg der Eigentumsdelikte hin.79 Möglicherweise erscheinen daher auch Frauen deutlich öfter in den Gerichtsakten, als das sonst der Fall war. Ihrem Verhalten wurde zu anderen Zeiten mehr Verständnis entgegengebracht. Die Wirksamkeit der Verurteilungen durch das Hofgericht muss jedoch fraglich bleiben. Denn die wegen Nahrungsmitteldiebstahl Verurteilten konnten die angesetzten Strafen sicherlich nicht bezahlen und entzogen sich den Konsequenzen wahrscheinlich durch Abwanderung in einen anderen Gerichtsbezirk. Dort begann der Kreislauf von Delikt, Anzeige und Bestrafung von neuem.80 Diese Probleme, die es bei der Auswertung von Gerichtsakten zu berücksichtigen gilt, erlauben keine definitiven Aussagen, weisen aber auf ein weiteres zu wenig bearbeitetes Feld der Hungerkrisenforschung hin. 74 Lister (1930), S. 154 f.: »Ellen dau. of Richard Cosyn, to be taken for stealing 2 bushels of oats, worth 12 d. from John Patrik’s grange. […] Agnes, wife of Nicholas of Bateley to be attached for stealing 12 sheaves of oats belonging to Robert of Wyverumthrope, worth 6 d. […] Maud, dau. of Richard of Ker, to be attached for stealing flour and meat from Robert the Leper’s house, to the value of 6 d.« 75 Lister (1930), S. 154 f.: »Adam Varpunient of Wlveley and Agnes Spire, to be taken for burgling the house of Robert Allayn of Bretton, and stealing woollen and linen clothes, meals and other goods to the value of 5 marks. […] Order to take Marjory, dau. of Richard Cosyn, for burgling the house of Marjory, dau. of Hugh, son of Emma of Emmeley, and stealing 6 s. in money, a tunic and a surcoat, worth 9 s. 6 d., and a silver buckle, worth 2 s. […] Richard of Blakebourne and Eva his wife to be attached for suspicion of sheep-stealing and other petty larcenies.« 76 Moisà (1995), S. 20. 77 Moisà (1995), S. 18. 78 Lister (1930), S. 155: »Alice, dau. of Emma the Longe, to be attached for furtively cropping the corn of the said Robert, to the value of 1 d.« 79 Moisà (1995), S. 19. 80 Moisà (1995), S. 18 f.

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Fazit Ausgehend von modernen Forschungsansätzen wurde zu Beginn die Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Ernährung während der Großen Hungernot in England zu Beginn des 14. Jahrhunderts formuliert. Sie ist trotz der umfangreichen Überlieferung kaum zu beantworten. Dennoch sind einige bemerkenswerte Befunde festzuhalten. Die ausgewerteten Quellen des 13. Jahrhunderts weisen vor allem auf die ständische Verteilung von entitlements auf Nahrung hin. In der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung kam der Kategorie Geschlecht eine geringere Bedeutung zu als dem sozialen Stand. Das galt vor allem für die höchste gesellschaftliche Ebene. Grundherrliche Rechnungsakten zeigen, dass in der landwirtschaftlichen Produktion tätige Frauen durchaus um ein Fünftel kleinere Nahrungszuteilungen als Männer erhalten konnten. Für die Krisenzeit selbst weist diese Überlieferung jedoch keine geschlechtsspezifischen Veränderungen oder Unterscheidungen auf. Vielmehr wird das Bemühen deutlich, trotz erhöhter Kosten traditionelle Zuweisungen für Frondienstleistende zu erhalten, um Proteste und Widerstand zu vermeiden. Weitere Hinweise lassen sich hier kaum finden. Die von männlichen Klerikern und Mönchen verfasste zeitgenössische Geschichtsschreibung unterscheidet bei der Beschreibung der Hungersnot nicht zwischen weiblichen und männlichen Strategien der Nahrungssuche und des Überlebens. Das liegt möglicherweise an dem mangelnden Interesse an Frauen, wahrscheinlich aber eher an dem Schicksal der ärmeren Bevölkerung insgesamt. Der galt die Aufmerksamkeit nur am Rande, während Kriege und politische Ereignisse die Darstellungen dominierten. Der Anstieg von vor Gericht verhandelten Eigentumsdelikten, an denen 1316 überdurchschnittlich viele Frauen beteiligt waren, ist wahrscheinlich eher ein Hinweis auf veränderte Vorstellungen von akzeptierten Nahrungsbeschaffungspraktiken als der alleinige Ausdruck von erhöhter Bereitschaft zu kriminellen Handlungen. Möglicherweise waren Frauen in der Krisenzeit strukturell nicht benachteiligt. Der Wirtschaftshistoriker Cormac Ó Gráda etwa, der seine These mit Quellen der irischen Hungersnöte des 18. und 19. Jahrhunderts belegt, weist die in der Hungerforschung vermutete Benachteiligung von Frauen nachdrücklich zurück. Aufgrund der physiologischen Gegebenheiten, vor allem der Einlagerung von anteilig mehr Körperfett, hatten Frauen statistisch betrachtet bessere Chancen, in Krisenzeiten nicht zu verhungern.81 Fehlende Aussagen zu der Ernährung und zu den Überlebensstrategien von Frauen erlauben es nicht, eine angenommene Benachteiligung ohne weiteres auf das 14.  Jahrhundert zu übertragen. Die Gründe für dieses Fehlen kann man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive allerdings intensiv diskutieren.

81 Ó Gráda (2009), S. 99–101.

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 37–66, FRANZ STEINER VERLAG

Gender issues? Die Ernährung weiblicher und männlicher Strafgefangener im 19. und frühen 20. Jahrhundert Ulrike Thoms Summary Gender issues? Nutrition of female and male prisoners in the nineteenth and early twentieth century The history of nutrition has always emphasized the central role played by women in food preparation, while the image of women as consumers of food has remained pale and strongly normative. It became apparent that the early nutritional sciences were almost exclusively interested in men. Their aim was to maintain and possibly increase men’s strength in the interest of the state and of the economy. This was reflected practically in budgets and official statistics, in which women’s consumption was not separately assessed. This essay uses data from prisons in order to fill this gap. It demonstrates that it was not until the nineteenth century that different dietary standards were introduced for male and female prisoners. Women were not included, however, in the comprehensive scientific surveys on nutrition so that the standardization was based on assumptions and analogical conclusions. Overall it emerged that the gap between male and female consumption widened increasingly since the end of the nineteenth century. Foods of animal origin, meat in particular, were excluded from this, however, and they are said to be mostly consumed by men.

Einführung In modernen Gesellschaften gilt Essen als ein probates Mittel zur Inszenierung von Geschlechterdifferenz, die sich in Nahrungspräferenzen, Essstilen, Ritualen der Nahrungsdistribution äußert.1 In sozialkonstruktivistischer Perspektive wird hervorgehoben: »Geschlechterdifferentes Ernährungsverhalten hängt nicht vom geschlechtlichen Körper ab, sondern ist eine Ausdrucksform des jeweiligen Geschlechterverhältnisses«, von Doing Gender.2 Auch in der Literatur zur Ernährungsgeschichte ist das Thema Geschlecht häufig thematisiert worden, was vor allem damit zusammenhängt, dass die Hausarbeit und Kochen traditionell Sache der Frauen sind. Kritische historische Arbeiten zur geschlechtstypischen Verteilung von Arbeit haben sich dementsprechend in1 2

Setzwein (2004), S. 168. So stellte jedenfalls Jana Rückert-John auf der Basis eines konstruktivistischen Ansatzes auf dem 12. aid-Forum zum Thema »Männer wollen mehr, Frauen wollens besser! – Ernährungskommunikation unter Gender-Aspekten« am 6.5.2009 prägnant fest, vgl. Männer wollen mehr (2009). Zum Konzept des Doing Gender vgl. West/Zimmerman (1987).

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tensiv mit der Geschichte der Hausarbeit3, mit der Rolle der Frau als Einkäuferin und Nahrungsmittelproduzentin befasst4. Doch wo nicht die Geschichte der Produktion, sondern der Konsum von Nahrung im Vordergrund steht, sieht der Befund schon deutlich anders aus. Nicht zu Unrecht ist der Konsumgeschichte vorgeworfen worden, Genderaspekte zu vernachlässigen5, und tatsächlich finden sich auch in der Ernährungsgeschichte erstaunlich wenig Arbeiten zu Geschlechtsunterschieden in der Ernährung6. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, wie intensiv sie andere Fragen der sozialen Differenzierung behandelt hat. So hat die International Commission for Research into European Food History (ICREFH) keines ihrer 13 Symposien den Geschlechteraspekten gewidmet7, und auch die systematische Durchsicht der einschlägigen Fachzeitschriften Food History bzw. Food and Foodways fördert nur vergleichsweise wenige einschlägige Titel zutage, während kein einziger Beitrag der jüngst neuerschienenen, sechsbändigen »Cultural History of Food« sich explizit und zentral diesem Thema widmet8. Im Hinblick auf soziale Differenzierungen dominieren Schicht und Klasse das Feld der Ernährungsgeschichte, wogegen neben dem Geschlecht auch das Alter deutlich vernachlässigt worden ist.9 Das hat auch dazu geführt, dass die wenigen vorliegenden Arbeiten zur Ernährung von Frauen im 19. Jahrhundert, die die Ernährungssituation von Arbeiterfrauen und ihre Rolle als Ernährerinnen der Familien untersuchen, dabei wiederum soziale Aspekte in den Vordergrund stellen.10 3

Einen der Ausgangspunkte der Frauengeschichte bildete die Auseinandersetzung mit den Geschlechtsstereotypen als Basis gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wonach die Aufzucht der Kinder und die Sorge für das leibliche Wohl der Familie dem Wesen der Frau entspreche. Bezeichnenderweise griff die feministische Zeitschrift L’Homme nach ihrer Gründung bereits in ihrem zweiten Heft die einschlägigen Fragen auf, behandelte Ernährung aber nicht als passiven Konsum, sondern als Teil der Familienarbeit; vgl. Sandgruber (1991); Bandhauer-Schöffmann/Hornung (1991); Schlegel-Matthies (1995); Hanawalt (1999). Ohne dezidierte Reflexion geschlechtsspezifischer Aspekte dagegen der opulente Band Andritzky (1992). 4 Lummel/Deak (2005); Eifert (2011); Schneider (2010); Duran (2007); Fischer (2010); McIntosh/Zey (1988/89); McIntyre/Thille/Rondeau (2009). 5 Sandgruber (2004), S.  391, hat dies für die von Siegrist, Kaelble und Kocka herausgegebene »Europäische Konsumgeschichte« konstatiert; im 2009 von Haupt und Torp herausgegebenen Handbuch zur Konsumgeschichte gibt es immerhin einen Artikel zur Öffentlichkeit des Konsums bei Frauen, vgl. Carter (2009), S. 154. 6 An Vorhandenem sei verwiesen auf Spiekermann (2002); Wirz (1997); Sandgruber (1991); Sandgruber (1983). 7 Vgl. die Website der ICREFH unter http://www.vub.ac.be/SGES/ICREFH.html (letzter Zugriff: 22.2.2017). 8 Parasecoli/Scholliers (2014). 9 Bezüglich des Alters muss hier allerdings differenziert werden, weil zahlreiche Studien zur Geschichte der Säuglingsernährung vorliegen. Einen Eindruck von der relativen Bedeutung dieser beiden Themenfelder erweckt das Tagungsprogramm der International Commission for Research into European Food History, das auf einen call for papers zurückzuführen ist. In den Sektionen zur Säuglings- und Kinderernährung wurden insgesamt neun Vorträge gehalten, denen vier Beiträge zur Ernährung alter Menschen gegenüberstanden; siehe auch die Bestandsaufnahme in Thoms [in Vorbereitung]. 10 Plössl (1983); Eifert (1985).

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Blickt man dagegen auf die zahlreichen Beiträge der Körpergeschichte, trifft das Gegenteil zu: Denn die Impulse, die in den 1990er Jahren von der Körpergeschichte bzw. von den Arbeiten zur sozialen Konstruktion von Geschlecht ausgingen, haben zahlreiche Publikationen über Körpernormen hervorgebracht, in denen sich die Ernährungsnormen spiegeln. Insbesondere die Arbeiten zur Geschichte von Schlankheit und Fettleibigkeit schärften den Blick für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Körper- und Ernährungsnormen, für Männer und Frauen und für die ungleich größere Rigidität dieser Regeln für Frauen11, wodurch sich auch das Interesse an anthropologischen wie soziologischen Fragestellungen intensivierte12. Zwar zielte das Ideal der weiblichen Schlankheit seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert zunehmend auf Gesundheit. Dennoch wurde der schlanke weibliche Körper immer auch als schwach, der männliche Körper dagegen als stark und muskulös imaginiert. Entsprechend wurden Nahrungsmittel entlang der Linien stark/männlich bzw. schwach/weiblich codiert. Insbesondere Fleisch erlangte hier symbolische Kraft, die in Vorstellungen vom Fleisch als natürliche Kost des Kriegers einging.13 In jüngster Zeit und wohl auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Vegetariern macht sich ein verstärktes Interesse für die Zusammenhänge der Bilder von Männlichkeit mit dem Fleischkonsum bemerkbar.14 Schließlich entdeckten auch Medizinsoziologie und die Gesundheitssystemforschung den Einfluss des Geschlechts auf Mortalität und Morbidität und begannen, ihn intensiver zu analysieren. Daraufhin richteten Ernährungserhebungen ihr Interesse zunehmend auf geschlechtsspezifische Unterschiede des Gesundheits- und Ernährungsverhaltens. Die Ergebnisse sind heute Allgemeingut, sie lassen sich in dem knappen Satz zusammenfassen: »Mann isst Fleisch, Frau isst gesund.«15 Die Pole dieser stereotypen Sichtweise liegen bei Obst, Gemüse, Süßem, Kaffee, Tee, Kakao und Milch für Frauen bzw. bei Fleisch, Alkohol und starken Gewürzen als Symbolen von Männlichkeit, denen die Attribute Stärke, Potenz und Macht zugeordnet werden.16 Wenn die vorhandenen Arbeiten bevorzugt auf der Diskursebene verbleiben, liegt das auch daran, dass in historischer Perspektive valide und konsistente statistische Daten zur Ernährung von Frauen auf breiter Basis fehlen: Die volkswirtschaftlich orientierte Verbrauchsstatistik berechnet den durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum ohne Rücksicht auf das Geschlecht, und die 11 Die Literatur dazu ist inzwischen fast unüberschaubar, hier sei nur verwiesen auf Eric (1995); Stearns (1997); Thoms (2000); Bordo (2003); Gilman (2008); Rothblum/Solovay (2009); Oddy/Atkins/Amilien (2009); Csergo (2009); Gilman (2010); Thoms (2013). 12 Setzwein (2004); Fleitz (2011); Luis (2012). 13 Im »Dritten Reich« blieb dieser Zusammenhang trotz der Sympathien der Nationalsozialisten für den Vegetarismus und die Vollwerternährung so bewusst, dass es schon aus psychologischen Gründen als unmöglich galt, Soldaten vegetarisch zu ernähren; dazu Thoms (2010). Zur Symbolkraft von Fleisch Mellinger (2000). 14 Dazu etwa Buerkle (2009); Sobal (2005); Parasecoli (2005). 15 Ballwieser (2013). 16 Setzwein (2004), S. 131.

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Haushaltsrechnungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfassten den Verbrauch von Frauen nicht gesondert. Vielmehr wurden die Anteile der verschiedenen Familienmitglieder in der Regel nur als Anteil der männlichen Rationen geschätzt. Solche Berechnungen führen allerdings nicht zu wirklich belastbaren Ergebnissen.17 Hinzu kommt, dass die Haushaltsrechnungen die entsprechenden Mengen oft nicht hinreichend genau spezifiziert haben, weswegen ernährungshistorische Arbeiten sich oft auf die Berechnung der Ausgabenrelationen beschränkten.18 Unter diesem Mangel an nach Geschlecht differenzierenden Daten zum Nahrungskonsum leidet auch die historische Anthropometrie, die mit Hilfe aufwendigster und hochdifferenzierter statistischer Erhebungen die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftslage und biologischem Lebensstandard untersucht und als Indikator dafür die Entwicklung der Körpergröße gewählt hat. Die entsprechenden Untersuchungen gehen davon aus, dass dieser Standard primär von der Ernährungsweise und insbesondere von der Ernährung der Mutter und der Höhe des Proteinverzehrs in Kindheit und Jugend bestimmt ist und daher Auskunft über die langfristige Entwicklung des biologischen Lebensstandards geben kann.19 Eigentlich thematisiert wurden Genderaspekte in den anthropometrischen Arbeiten bislang aber kaum.20 Der Hauptgrund dafür liegt vor allem darin, dass die entsprechenden Studien zumeist auf Musterungsergebnisse als Quelle zurückgreifen, in denen eben nur die Daten junger Männer berücksichtigt und ausgewertet werden.21 Angesichts dieser dürftigen Forschungslage stellt sich die Frage, ob die soziologischen Befunde für die Gegenwart nicht anachronistisch rückübertragen werden. Gerade wenn man von davon ausgeht, dass die soziale Kategorie Gender sozial konstruiert wird, dass sie aus der Praxis des Doing Gender hervorgeht, 17 Dazu sowie allgemein zum Quellenwert von Haushaltsrechnungen Spiekermann (1993), hier S. 76. 18 Stockhaus (1994); Spiekermann (1996). 19 Als quantitative Messgröße der Ernährung werden freilich nur die Getreidepreise zugrunde gelegt, nicht etwa faktische Verzehrsmengen. Ganz allgemein ist Fleisch der Marker für sozialen Status, vgl. dazu die Bemerkungen bei Krug-Richter (1994), S. 123. 20 So bei Wall (1994). 21 »Das Thema Geschlecht, das bisher bei der Analyse des Lebensstandards fast völlig übersehen worden war, wurde ebenfalls in die Diskussion eingeführt. Beim heutigen Stand der Forschung gibt es keinen Grund für die Annahme, daß die Veränderungen im Lebensstandard bei beiden Geschlechtern identisch gewesen sind. Ganz im Gegenteil weisen alle bisherigen anthropometrischen Studien auf bedeutende Unterschiede im biologischen Lebensstandard der Geschlechter in Zeiten wirtschaftlicher Veränderung hin. Im England des frühen 19. Jahrhunderts war der Ernährungsstand von Frauen zum Beispiel schlechter als der von Männern. Bei den Sklaven in Maryland war dies ebenso der Fall; möglicherweise aufgrund von Veränderungen des Zahlenverhältnisses von Männern und Frauen. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg der Ernährungsstatus von Frauen in Pittsburgh viel langsamer an als der von Männern. Im Gegensatz zu den männlichen Einwohnern Wiens scheinen die Frauen ihren Ernährungsstand im späten 19. Jahrhundert überhaupt nicht verbessert zu haben. Außerdem gibt es Belege, die darauf hinweisen, daß Frauen in einer Krisenzeit früher als Männer unter schlechter Ernährung leiden und sich bei einem wirtschaftlichen Aufschwung langsamer wieder erholen.« Komlos (1993), S. 12.

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die auch die Ernährung betrifft, ist anzunehmen, dass soziologische Befunde historischem Wandel unterliegen. Der vorliegende Aufsatz nutzt Daten aus Gefängnissen zur Überprüfung der landläufigen Annahmen zur Ernährung von Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dies bietet sich aus verschiedenen Gründen an: Im Zuge der Entwicklung der um 1800 europaweit einsetzenden Gefängnisreform und der Entstehung von Gefängniskunde oder -wissenschaften traten Leibesstrafen zunehmend in den Hintergrund. Doch wer Straftäter erfolgreich resozialisieren wollte, musste auch Sorge tragen, dass sie das Gefängnis arbeitsfähig verlassen konnten, weil sie ausreichend ernährt und im Krankheitsfall auch versorgt worden waren. Dies führte zu intensiven, öffentlich geführten Auseinandersetzungen über das Ernährungsminimum, das zur Sicherung der Gesundheit der Gefangenen ausreichte, zugleich aber auch keinen Anreiz bot, das Gefängnis als einen bequemen Ort der Versorgung zu betrachten, was wenig vorbildlich auf das hart arbeitende Proletariat gewirkt hätte. Insofern lässt sich die diskursive Verhandlung der Kostsätze als biopolitischer Aushandlungsprozess verstehen, in dem sich auch die faktische Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards spiegelte.22 Die Rolle, die man der Ernährungsweise zuschrieb, führte aber nicht nur zu intensiven öffentlichen Debatten, sondern auch dazu, dass die Strafinstitutionen im 19. Jahrhundert exakt Buch über Art und Menge der ausgegebenen Nahrungsmittel führten und diese Buchführung in Form detaillierter Statistiken veröffentlichten. Damit steht eine Quelle zur Verfügung, die es erlaubt, nachzuverfolgen, inwieweit die wissenschaftlich formulierten und gesellschaftlich ausgehandelten Ernährungsnormen umgesetzt wurden und ob sich die Konstruktion des männlichen bzw. weiblichen Geschlechtskörpers auch empirisch niederschlug. Diesen Zusammenhängen werden die folgenden Ausführungen nachgehen. Sie behandeln drei Problemkomplexe: Erstens fragen sie, ob Geschlechterdifferenzen in der Normierung der Gefängniskost überhaupt eine Rolle spielten, zweitens, ob und wie sich die reale Ernährung von weiblichen und männlichen Gefangenen unterschied, und schließlich, wie sich die Ernährungssituation veränderte. Dazu wird auf ein umfangreiches Korpus gedruckter und archivalischer Quellen zurückgegriffen, das sich zeitlich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckt.23 Es umfasst Kostordnungen, Verpflegungs- und Speiseetats, d. h. Vorschriften für die Verpflegung von Anstalten, sowie Statistiken aus dem Zusammenhang der Verwaltung von Anstalten. Im Zentrum wird dabei die Untersuchung der Entwicklung in Preußen stehen. Eine solche Fokussierung empfiehlt sich schon deswegen, weil regionale Unterschiede groß waren, aber auch, weil die Strukturen politischer Gliederung wie der amtlichen Verwaltungspraxis von Anstalten sich erheblich unterschieden. Die Konzentration auf das Fallbeispiel Preußen ergibt auch insofern Sinn, als Preußen gemein22 Klassisch dazu nach wie vor Foucault (1989). 23 Es bildete schon die Grundlage für meine Dissertation, die Geschlechtsdifferenzen aber nur am Rande behandelte, vgl. Thoms (2005).

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sam mit Baden die Diskussion um die Reform des Strafvollzugs und eben auch die Reform der Ernährung bestimmte. Hinzu kommt, dass für die preußischen Strafanstalten und Gefängnisse in der Verwaltung des Ministeriums des Innern eine äußerst detaillierte Statistik zur Verfügung steht, die zwischen 1869 und 1903 den Nahrungsmittelverbrauch für jede einzelne Anstalt nachweist.24 Im Folgenden wird ein kurzer Abriss zur Geschichte des Strafvollzugs wie des Frauenstrafvollzugs kurz in den Kontext der Gefängnisgeschichte einführen, bevor die Normierung und die Normen der Ernährung behandelt und schließlich an den Statistiken geprüft werden. Die Entwicklung des Frauenstrafvollzugs Ursprünglich hatten Gefängnisse nur die Aufgabe gehabt, Verbrecher bis zur Verurteilung zu Leib- und Lebensstrafen zu verwahren. Nachdem schon im ausgehenden 17.  Jahrhundert Arbeits- und Zuchthäuser entstanden waren, deren Insassen zu einem ordentlichen Lebenswandel erzogen werden sollten, setzte sich Gefängnishaft erst im Laufe des 18. Jahrhunderts als überwiegende Strafform durch. Während die Rechtsgeschichte dies mit der Humanisierung des Strafrechts erklärte, betonte die Sozialgeschichte die Aspekte von Armenpflege und Sozialpolitik. In dieser Deutung dienten die neuen Anstalten mit ihren Prinzipien von Arbeitsdisziplin, Ökonomie und Rationalität der Durchsetzung der Disziplinargesellschaft.25 Die Aufklärung trug dazu bei, den Gedanken der Besserung populär zu machen, der dann das Allgemeine Landrecht mit seinem System differenzierter Strafen prägte. Allerdings hielten die vorhandenen Anstalten nicht Schritt mit dieser Entwicklung. Nach einem Bericht über den Zustand sämtlicher preußischer Strafanstalten, den Friedrich Wilhelm III. 1799 angeordnet hatte, beherbergten sie sowohl Arme und Kranke, Mörder wie schwer erziehbare Kinder. Zumeist überbelegt und oft baufällig, sorgten die miserablen hygienischen Bedingungen und die schlechte Versorgung für eine hohe Mortalität und Morbidität, so dass der Aufenthalt durchaus eine Variante der Leibstrafe darstellte. Seit den 1830er Jahren argumentierte auch die sich formierende Gefängniswissenschaft für Verbesserungen, insbesondere für die allgemeine Einführung der Einzelhaft, und traf damit in der Öffentlichkeit auf große Resonanz.26 Bürger schlossen sich zu Besserungs- und Unterstützungsvereinen für entlassene Sträflinge zusammen, 24 Auf den Dualismus zwischen Anstalten, die dem Innenministerium, und Anstalten, die dem Justizministerium unterstanden, will ich hier aus Zeitgründen nicht weiter eingehen. Uns soll hier genügen, dass die längeren und schwereren Strafen, bei denen die Ernährung überhaupt gesundheitliche Effekte haben konnte, in Anstalten des Justizministeriums verbüßt werden sollten, während die Anstalten des Innenministeriums vor allem an Gerichte angegliederte Gefängnisse für Kurzzeitstrafen waren; vgl. Thoms (2005), S. 66. 25 Dazu Foucault (1989), vgl. auch die Skizze in Thoms (2005), S.  47–69, und die Überblicksdarstellung aus juristischer Sicht bei Krause (1991). 26 Vgl. Nutz (2001).

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die sich der Idee ihrer Eingliederung in die Gesellschaft verschrieben.27 Allerdings standen die Verbesserungsbemühungen dem Problem der heillosen Zersplitterung des Strafvollzuges zwischen Justiz- und Innenministerium, zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften und Verwaltungseinheiten sowie einem durch das Bevölkerungswachstum verursachten, permanenten Anstieg der Insassenzahlen gegenüber. Dies behinderte eine Umsetzung der als ideal betrachteten Einzelhaft ebenso wie die angestrebte Klassifizierung der Insassen. Schon wegen des Zwanges zur Bewältigung des täglichen Alltags blieb Disziplin das alles beherrschende Element der Strafanstalten. Trotzdem wurde der Körper des Gefangenen immer unangreifbarer; sollte die Gefängnisstrafe nicht doch wieder zur Leibstrafe werden, durfte den Gefangenen kein bleibender Schaden zugefügt werden. Dafür sprach schon das Argument, dass eine Resozialisierung nur möglich war, wenn die Insassen die Anstalt voll arbeitsfähig und nicht etwa unterernährt oder krank verließen. In diesem Kontext spielte die Ernährung eine große Rolle. Die klassische Literatur zur Gefängnisreform von John Howard, Nikolaus Heinrich Julius und Heinrich Balthasar Wagnitz berücksichtigte sie detailliert in den Berichten über einzelne Anstalten wie auch im generellen Teil. Da die Ausgaben für Ernährung in den 1840er Jahren 70 Prozent der Unterbringungskosten ausmachten28, hatten die Verwaltungen schon aus ökonomischer Sicht ein lebhaftes Interesse an der Minimierung des Ernährungsstandards, einmal ganz abgesehen von ihrer Bedeutung als Erziehungs- und Strafmittel. So sollte den Insassen der Strafcharakter der Unterbringung stets bewusst bleiben; auf keinen Fall sollten sie besser versorgt sein als die sogenannten freien, ihren Lebensunterhalt mit mühsamer Tätigkeit verdienenden Arbeiter. Spezielle Strafanstalten für Frauen entwickelten sich erst spät, zumal die Mädchen und Frauen nur etwa ein Drittel der verurteilten Straftäter ausmachten. Der Anteil der weiblichen Gefangenen lag in den preußischen Strafanstalten und Gefängnissen schon 1869 bei nur 15 Prozent und sank bis 1913 sukzessive auf nur noch acht Prozent.29 Hier machten sich die Auswirkungen des Prozesses bemerkbar, den Karin Hausen so treffend als »Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹« gekennzeichnet hat.30 Frauen galten als das tendenziell friedlichere Geschlecht, das wegen seiner angenommenen Eigenschaften auf die Innenwelt des Hauses verwiesen wurde. Schon deswegen hatten sie weniger Gelegenheiten zu Straftaten; faktisch begingen sie signifikant weniger Kapitalverbrechen, dafür mehr sogenannte Sittlichkeitsverbrechen, wohinter sich zumeist Prostitution verbarg. Auf der anderen Seite brachte die Festschrei27 Schauz (2008). 28 Dieser Prozentsatz lässt sich etwa für das Münstersche Zuchthaus berechnen; vgl. Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Regierung Münster, Nr. 317, Bl. 35 f., 93. Der entsprechende Quellenbestand wurde vor der Umbenennung des Staatsarchivs Münster in Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen bearbeitet. Aus dieser Zeit stammen auch die Signaturen, die evtl. abweichen können. 29 Die Kriminalitätsziffer nach Franzmann (2016); der Anteil der Frauen an den Gefängnisinsassen ist berechnet nach Statistik (1871–1918). 30 Hausen (1976).

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bung der Geschlechtscharaktere gesellschaftliche Gefahren mit sich: Da die Frauen für Aufzucht und Erziehung der künftigen Generationen verantwortlich waren, verlangte man ihnen auch besondere sittliche Qualitäten ab und fürchtete den schlechten Einfluss von Straftäterinnen auf ihren Nachwuchs. So argumentierte der Jurist Hermann von Valentini (geb. 1845) im Jahr 1869: »Gerade hier im Gefängniß für Weiber, das lasse man doch nicht aus den Augen, da wachsen die Köpfe des künftigen Verbrecherthums nach, weit mehr als das im Männergefängniß der Fall ist. Bei den Männern handelt es sich um sie selbst und um die Gegenwart, bei den Weibern um folgende Generationen und um die Zukunft.«31 Als gefährlich galt insbesondere die vermeintlich leichte Beeinflussbarkeit der Frauen, die der Anstaltsarzt Abraham Adolf Baer (1834–1908) mit den folgenden Worten beschrieb: Die gegenseitige moralische Ansteckung und Verschlechterung findet in den Anstalten für Weiber in noch viel höherem Grade statt als in den Männeranstalten. Ist es bei den Männern die Bösartigkeit und die Schlechtigkeit, so ist es hier die moralische Versunkenheit und Gemeinheit, die die Herrschaft führt, hier führt diejenige das Wort, die in Gemeinheit und Schamlosigkeit das Meiste zu leisten versteht.32

Weil sie »verschmitzter, aller Ränke voll« seien und die »Verstellungskunst herrlich« verstünden, ging man davon aus, dass weibliche Gefangene strenger beaufsichtigt werden müssten. Aus den genannten Gründen standen in den Diskussionen des Frauenstrafvollzuges die Aspekte der strikten Beaufsichtigung (durch weibliche Aufseherinnen) und der moralischen Besserung im Vordergrund.33 Gleichzeitig galten Frauen als schwächer, erhielten dementsprechend weniger schwere Arbeiten übertragen und im Fall der Übertretung der Hausordnung auch weniger harte körperliche Disziplinarstrafen.34 Eine breitere Diskussion um die Errichtung spezieller Frauenanstalten setzte dennoch erst um 1830 ein. Wie Sandra Leukel in ihrer Dissertation über die Geschichte des deutschen Frauenstrafvollzugs im 19. Jahrhundert überzeugend argumentiert hat, richtete sich diese Diskussion aber nicht so sehr auf die Verbesserung des Frauenstrafvollzugs, um etwa den besonderen Bedürfnissen der Frauen Rechnung zu tragen. Vielmehr ging es darum, die bestehenden Anstalten durch die Ausgliederung der Frauen aus den Männeranstalten zu entlasten, um die Unterbringung und die Möglichkeiten zur Klassifikation und Sonderung der verbliebenen Männer zu verbessern.35 Zudem sollte die Tren31 Valentini (1869), S. 246. 32 Baer (1871), S.  333. Dem Strafvollzug an Frauen widmete Baer ganze sieben von 355 Seiten; zudem war dieses Kapitel das zweitletzte seines Buches, gefolgt nur noch von Ausführungen zum Strafvollzug an Jugendlichen: Baer (1871), S. 340–355. 33 So die Feststellung des Buchhalters der Strafanstalt zu Bruchsal aus dem Jahr 1852, zit. n. Leukel (2010), S. 89. In einem Handbuch hieß es: »Wol [sic!] ist es richtig, daß das Mißtrauen gegen weibliche Verbrecher viel größer ist, und zwar der Regel nach mit Recht.« Vgl. Haenell (1866), S. 149. 34 Bech (1848), S.  26. Diese Züge finden sich im Wesentlichen noch in den Texten des frühen 20. Jahrhunderts zu den Besonderheiten des Frauenstrafvollzuges wieder, vgl. nur Ellering (1928), bes. S. 357; so im Grunde auch noch Einsele (1976), S. 91 f. 35 Leukel (2010).

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nung der Geschlechter jene »Unordnungen« verhindern, die in gemischten Anstalten durch den Umgang zwischen Männern und Frauen entstanden.36 Stärker und früher als bei den Männern wurden die sozialen Hintergründe der Straffälligkeit erkannt; ihnen begegnete man vor allem mit moralischen Appellen und dem Konzept einer Erziehung zu »echt weiblichem«, sittlichem Verhalten.37 Daraus resultierte auch eine intensivere persönliche Betreuung. Frauen galten als sensibler, weswegen die Einzelhaft für sie als gefährlicher angesehen wurde.38 Die Normierung der Kost weiblicher Gefängnisinsassen So viel Aufmerksamkeit, wie man den psychischen Aspekten zuwandte, so wenig Aufmerksamkeit schenkten die Reformer den physiologischen Bedürfnissen von Frauen. Dies steht in starkem Kontrast zu den intensiven Bemühungen, die Anstaltskost mit den modernen Methoden der experimentellen Physiologie zu durchleuchten und zu verbessern, welche sich seit 1850 in zahlreichen Einzeluntersuchungen niederschlug.39 Dabei war den Medizinern sehr wohl bewusst, dass Frauen anders aßen. So war beispielsweise in Johann Feilers Diätetik aus dem Jahr 1821 zu lesen, dass Frauen im Durchschnitt mehr, aber weniger solide Speisen äßen als die Männer, was allerdings für diejenigen aus der »fein und zur sitzenden Lebensart erzogene[n] Klasse« nicht gelte. Nach Feilers Meinung war der weibliche Körper saftreicher und fetter als derjenige der Männer, woraus er folgerte, dass es »einem Frauenzimmer im Allgemeinen nicht zuträglich sein kann, in Speise und Trank mit den Männern gleichen Schritt zu halten«.40 Doch wie viel oder was eine Frau essen sollte, wird hier ebenso wenig mitgeteilt wie in den Kost- und Verwaltungsordnungen für Zucht- und Arbeitshäuser aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Wie das »Reglement zur Verwaltung des in der Stadt Herford anzulegenden Zucht- und Arbeits-Haußes« aus dem Jahr 1776 sprachen diese im Kontext der Ausführungen zur Kost nur von »den« Züchtlingen, die täglich 1,5 Pfund guten Roggenbrots und täglich zweimal Grütze, Graupen, Hülsenfrüchte und sonstige Gerichte bekommen sollten.41 Daraus, dass Frauen in der Regel kleiner und leichter sind als Männer, resultiert ein physiologisch gesehen geringerer Nahrungsbedarf. Doch obwohl dieses Faktum offensichtlich war, wurde es 36 Zum eingeschlechtlichen Vollzug, seiner Entwicklung und Rechtfertigung vgl. StöckleNiklas (1989). 37 Dazu anschaulich Gélieu (2014), S.  53–55, 66–73. Nicole Rafter machte schon 1985 darauf aufmerksam, dass sich auch darin die Vernachlässigung des Frauenstrafvollzuges äußerte – denn diese Maßnahmen waren von allen denkbaren jedenfalls die billigsten, vgl. Rafter (1985). 38 Haenell (1866), S. 118. 39 Moleschott (1859); Voit (1872). 40 Feiler (1821), S. 84 f. 41 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Regierung Minden-Ravensberg, Nr. 661, Bl. 23 f., 28.

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nicht zur Realisierung möglicher Einsparungen genutzt: Als in Herford 1814 der sogenannte »Speisecontract« neu vergeben wurde, kritisierte die Königliche Regierungskommission in ihrem Begleitschreiben zum Jahresbericht zwar, dass die Kost der Gefangenen in allen Anstalten des gesamten Regierungsbezirks billiger als in Herford war42, verwendete aber keinen Gedanken auf die Möglichkeit, mit geringeren Kostsätzen für die weiblichen Insassen Einsparungen zu erzielen. Was sich in einzelnen Kostordnungen allenfalls findet, sind Unterschiede in den Größen der Brotportionen: So waren für die männlichen Insassen des Zuchthauses Gotha 1792 2 Pfund Brot pro Tag und Kopf vorgesehen, für die weiblichen Insassen aber nur 1,5 Pfund.43 Diese Mengen galten auch im Arbeitshaus Tapiau, nachdem man für die Männer die bis dato einheitliche Ration von 1,5 Pfund auf 2 Pfund erhöht hatte.44 Tatsächlich war die Unterscheidung zwischen den Armen, Kranken, Kindern und Arbeitshäuslern aber wichtiger als diejenige nach dem Geschlecht. So sollten die barmherzig zu behandelnden armen und kranken Insassen des Zucht- und Armenhauses Potsdam nach einer Bestimmung aus dem Jahr 1788 Bier erhalten, die zu disziplinierenden Arbeitshäuslinge aber leer ausgehen.45 Doch die Regelungen waren uneinheitlich: Im nahe gelegenen Stadtvogteigefängnis Berlin bekamen alle Bier, Männer allerdings 1,5 Quart, Frauen dagegen nur 1 Quart (=1,16 l).46 Zudem haben die Kostordnungen als normative Quellen ihre Tücken. Ihre Festlegungen und deren Veränderungen verweisen zwar auf den etwaigen Regelungsbedarf, an dem sich zeitgenössische Problemlagen ablesen lassen. Doch ist damit noch nichts über die Praxis der Ernährung gesagt. Skeptisch stimmt in jedem Fall, dass etwa der Verwaltungsbericht des Regierungsbezirks zu Münster für das Münsteraner Zuchthaus der Jahre 1837–1843 zwar keine verschiedenen Verpflegungsformen für Männer und Frauen nachwies, wohl aber verschieden hohe Verpflegungskosten.47 Dies spricht deutlich dafür, dass zwar in den Vorschriften kein Unterschied gemacht wurde, wohl dagegen in der Praxis, indem man an Frauen geringere Mengen an Nahrungsmitteln ausgab. Faktisch wurden Kostordnungen gemäß den praktischen Erfahrungen angewandt und flexibel angepasst, etwa in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit stark steigenden Getreidepreisen oder wenn die Mittel der betreffenden 42 So betrug er im nahen Sparenberg wie in Bielefeld nur 43 bzw. unter 50 Cent, vgl. Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Zivilgouvernement, Nr. 423, Bl. 29 f., Königliche Regierungs-Commission an das Königliche Civil-Gouvernement, 8.2.1814. 43 Wagnitz (1792), S. 97. Nach der in Preußen am 16. Mai 1816 eingeführten neuen »Maaßund Gewichtsordnung« entsprach ein Pfund 467 g, vgl. Eytelwein (1817), S. 11 f. 44 Meißner (1940), S. 33 f. Diese Differenzierung gab es im Zuchthaus zu Bremen schon im Jahr 1769, vgl. Grambow (1910), S. 39–41. 45 Wolf (1963), S. 24 f. 46 GStA PK, Rep. 96, Nr. 246C, Bl. 1–6, Nachweisung von der täglichen Verspeisung der Arrestanten in der Stadtvogtei zu Berlin. 47 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Regierung Münster, Nr. 318, Bl. 331, Acta die Verwaltungs-Berichte im Ressort des Ministerii des Innern und der Polizei betreffend 1837–1843; so auch für die folgende Periode: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Regierung Münster, Nr. 319, Bl. 35, Acta die Verwaltungs-Berichte im Ressort des Ministerii des Innern und der Polizei betreffend 1843–57.

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Anstalt erschöpft waren. Über körperliche Bedürfnisse der Insassen wurde dabei nicht diskutiert, eher schon über Aspekte der Anstaltsverwaltung oder -ordnung. Solche Änderungen der Kostordnungen konnten aber auch aus disziplinarischen Gründen erfolgen. Dies war zum Beispiel im Zuchthaus Herford der Fall, wo 1821 die Brotportion für Frauen gekürzt wurde, was aber nicht etwa damit begründet wurde, dass sie diese gar nicht verzehren konnten, sondern damit, dass daraus »Unordnung« entstand. Dass diese Maßnahme keine sichtbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach sich zog, wurde als Zeichen für ihre Unschädlichkeit bewertet. So berichtete die Anstaltsleitung: Die Weiber, welche nicht im Stande waren, ihre Brod-Portionen zu verzehren, dachten auf Mittel, das übrige Brod zu verhandeln, oder zu verkaufen, und entwickelten sich häufig Einverständnisse zwischen den männlichen und weiblichen Gefangenen, damit erstere von den letzteren Brod erhalten und bei der größten Aufmerksamkeit der Beamten waren Unordnungen nicht zu vermeiden. Nach der Zeit aber, wie die Brod-Portionen der Weiber auf 1 ¼ Pfund festgesetzt sind, haben alle Unordnungen aufgehört und die Weiber sind ebenso gesund und arbeiten noch mehr […] in dem sie durch das Verbringen des Brodes keine Zeit mehr verlieren.48

Auch die Trennung der Geschlechter bei den Mahlzeiten und das Verbot, in den Arbeitssälen zu essen, wurden mit dem Gebot besserer Ordnung gerechtfertigt.49 Waren die Anstalten lange frei gewesen, die Kostordnungen ad libitum festzusetzen, änderte sich dies zu Beginn der 1830er Jahre. In dieser Zeit stieg der Getreidepreis, was einerseits einen Anstieg der Kleinkriminalität und damit der Insassenzahlen nach sich zog, andererseits aber auch die Anstalten unter enormen ökonomischen Druck setzte und die Anstaltsträger nach Einsparmöglichkeiten suchen ließ. Deutlich wird dabei, dass die Ernährung im Gefängnis am allgemeinen Lebensstandard gemessen wurde. Am 18. November 1832 schrieb etwa der Preußische Minister des Innern an die Oberpräsidenten der Regierungsbezirke und erläuterte ihnen, der Aufenthalt in den Zucht- und Landarmen-Anstalten sei »so wenig abschreckend, daß dieser Umstand mit dazu beiträgt, die Zahl der Rückfälligen zu vermehren«. Er erläuterte sodann, dass in vielen Anstalten die Verpflegung ungleich besser sei als die des Handwerkers, und stellte schließlich fest: »Besonders ist dies bei den weiblichen Detinierten der Fall, die nur leichte Handarbeiten, als Stricken, Nähen u. s. w. zu verrichten haben.« Mit anderen Worten: Es wurde eine direkte Verbindung zwischen Arbeit und Ernährung hergestellt, der Ernährungsstandard entlang des körperlichen Bedürfnisses egalisiert und zugleich reduziert, um den Strafcharakter 48 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2610, Bd. 1, Bl. 16r, Goesen: Bericht über den Zustand des Zuchthauses zu Herford, 2.9.1821. Auch andere westfälische Zuchthäuser sahen unterschiedlich große Brotportionen vor, vgl. z. B. den Etat der Strafanstalt Hamm 1826: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2611, Bd. 1, Bl. 14. 49 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2610, Bd. 1, Bl. 16r, Goesen: Bericht über den Zustand des Zuchthauses zu Herford, 2.9.1821.

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spürbar zu machen.50 So ordnete der Minister an, die Speiseetats überall zu überprüfen. Rückfällige sollten nur noch dreimal pro Woche warmes Essen, sonst aber nur Brot und Wasser erhalten.51 Im Endergebnis wurde in Preußen 1833 ein Speiseetat erlassen, der ganz klar auf die Minimierung und Uniformierung der Kost setzte: Das bisher sehr unterschiedliche Versorgungsniveau der Provinzen sollte angeglichen werden, Fleisch gab es künftig nirgends mehr. Nach dem Etat sollten Männer und Frauen die gleichen Mengen an Nahrungsmitteln zur Zubereitung der Speisen erhalten, Unterschiede wurden nur bei den Mengen gemacht, die für Männer 1,5 Pfund, für Frauen 1 Pfund betrug. Doch blieben die Unterschiede zwischen den Provinzen zunächst noch groß, was Uwe Spiekermanns These bestätigt, die Region, nicht soziale Kriterien seien entscheidend für die Differenzierung der Ernährung gewesen.52 So sollte ein Gefangener in der Provinz Posen pro Jahr 466 kg Kartoffeln erhalten, in den Provinzen Sachsen und Rheinland dagegen nur 146 kg. Ähnlich groß waren die Differenzen bei Mehl, Graupe und Grütze sowie Hülsenfrüchten. Geringer, aber immer noch bemerkenswert waren sie bei tierischen Fetten.53 Als in den 1850er Jahren die Belegung der Anstalten zurückging, eröffnete dies nicht nur finanziell neue Spielräume, sondern auch Möglichkeiten für die Perfektionierung der Anstaltsverwaltung und deren Kontrolle mittels Statistik. 1858 wurden neue Vorschriften zu einheitlichen Verwaltungsübersichten erlassen, die unter anderem die Rubrik Verpflegungskosten pro Kopf und Tag nachwiesen; seit 1859 hatte nicht nur der Anstaltsdirektor, sondern auch der Arzt und der Seelsorger auf standardisierten Bögen Monatsberichte an die Regierung zu erstatten.54 Dies verdeutlicht, wie die Medikalisierung des Gefängnisaufenthaltes voranschritt, die sich auch am Erscheinen entsprechender Publikationen in Buchform oder in Form von Beiträgen zu medizinischen Zeitschriften ablesen lässt, wie sie seit den 1850er Jahren verstärkt erfolgten.55 Insbesondere Skorbut galt unter Fachleuten als typische Gefängniskrankheit, die auf übermäßige Arbeitsanforderung, psychisch deprimierende Einflüsse, aber vor allem auf »Kosteinförmigkeit, besonders ausschließlich stärkemehlhaltige Nahrungsmittel, schweres, schlecht gebackenes, mangelhaftes Brod, […] Mangel aller animalischer und frischer vegetablischer Kost oder gehöriger Würze und Zuthat von Salz« zurückgeführt wurde.56 Damit stiegen die Ärzte zur 50 Dazu insbesondere Rabinbach (1992). 51 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2607, Bl. 218, Der Minister des Innern und der Polizei an das Oberpräsidium zu Münster, 18.11.1832. 52 Spiekermann (1997). 53 Berechnet nach: Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat (1853), S. 482 f. 54 Vgl. die Schreiben des Ministeriums des Innern vom 27.  November 1858 bzw. vom 20. Januar 1859 an sämtliche Königliche Regierungen in: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bl. 77–79 und Bl. 95 f. Vgl. Anmerkung 28. 55 Vgl. exemplarisch Leubuscher (1852); Paul (1855). 56 Paul (1855), S. 135. Speziell dieser Bericht ist nachweislich von den Ministerialbehörden zur Kenntnis genommen worden, vgl. die Notiz in Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, Bl. 66. Vgl. Anmerkung 28.

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entscheidenden Instanz in Ernährungsfragen auf, und in Zweifelsfällen erstattete die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen Gutachten.57 Diese sorgten auch dafür, dass die Kostsätze nun als unhintergehbares Minimum akzeptiert wurden. Ganz auf dieser Linie beurteilte das Ministerium des Innern im Jahr 1861 gegenüber den Regierungsbezirken die Praxis, rückfälligen Straftätern die Kost zu schmälern, um sie härter zu bestrafen, offiziell als nicht zweckmäßig, da schon bei der Aufstellung der normalen Kost nur das »zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit Unerläßliche gewährt worden sei« und eine weitere Kürzung auf einen merklichen Verlust an Arbeitskraft und auf gesundheitliche Schäden herauslaufen müsse. Doch unterstrich es: »Weder das Eine noch das Andere kann dem Interesse der Strafvollstreckung entsprechen« und setzte die entsprechende Bestimmung außer Kraft. Dagegen wurden den Kranken und den Insassen mit Verdauungsstörungen 1865 ärztliche Extraverordnungen an Brot zugestanden58, und im folgenden Jahr führte man beim Nahen der Cholera-Epidemie sogar zwei Fleischrationen pro Woche ein, um den Ernährungsstatus der Insassen zu verbessern und sie widerstandsfähiger gegen die Cholera zu machen. Weil sich dies bewährte und weil die »Vermehrung der Kosten nach den aufgestellten Berechnungen verhältnismäßig nur unbedeutend« sei, blieb diese Anordnung auch weiterhin in Kraft.59 An diesen Vorgängen lässt sich ablesen, dass die Dinge grundsätzlich in Bewegung geraten waren. Schließlich ordnete das Innenministerium 1868 eine fundamentale Reform des in Grundzügen immer noch geltenden Speiseetats von 1833 an und rechtfertigte dies ausdrücklich mit den häufig auftretenden Verdauungsstörungen, mit Blutarmut, Skropheln und Tuberkulose. Von den Regierungen forderte es Berichte über die Zahl von Arbeitszulagen, den Zukauf von Nahrungsmitteln aus eigenen Mitteln sowie Änderungsvorschläge an. Sogar die zu erwartenden Mehrkosten schreckten nun nicht mehr, vielmehr argumentierte die Regierung, dass diese sich möglicherweise durch den Wegfall von besonderen Kostverordnungen an Kranke und die höhere Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Gefangenen decken ließen.60 Zum 1. März 1872 trat dann ein neuer, erstmals für alle Provinzen einheitlicher Speiseetat in Kraft, der strikt war, aber explizit Spielraum für die Ernährungsgewohnheiten in den verschiedenen preußischen Provinzen ließ. Die Portionsansätze wurden 57 So etwa in der Frage, ob Kochtöpfe und Speisenäpfe aus Zink gesundheitlich bedenklich seien, vgl. Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, Bl. 128, Ministerium des Innern an die Königliche Regierung zu Münster, 31.12.1860. 58 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, Bl. 164, Ministerium des Innern an die Königlichen Regierungen, 28.4.1865. Vgl. Anmerkung 28. 59 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, Bl. 198, Ministerium des Innern an die Königlichen Regierungen, 21.6.1867. Vgl. Anmerkung 28. 60 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, Bl. 206, Ministerium des Innern an die Königlichen Regierungen, 27.4.1868. Vgl. Anmerkung 28. Auch in: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2602, Bd. 1, Bl. 226 ff.

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deutlich erhöht, regelmäßige Fleischgaben wurden eingeführt, die Arbeitszulagen dagegen gekürzt.61 Die eigentliche Neuerung bestand jedoch darin, dass in der Kost nun erstmals systematisch nach Frauen und Männern unterschieden wurde, nachdem 1868 bereits Unterschiede bei den Gewürzen gemacht worden waren.62 Interessant daran ist, dass den Frauen die gleiche Menge Fleisch zugestanden wurde; lediglich die Sätze für Graupen, Gries, Gemüse und Fett sowie für die Gewürze Senf und Essig fielen geringer aus, ebenso die Menge der Mittagsportion.63 Wie ernst es den Behörden mit diesen Regelungen war, lässt sich auch daran ablesen, dass Speisen jetzt nach Möglichkeit für Männer und Frauen getrennt zubereitet werden sollten.64 Die Kost, wie sie sich daraus für die Frauen ergab, war nicht spezifisch weiblich. Sie unterschied sich nicht strukturell, sondern nur in den Mengen und in der Mittagskost. Man kann also davon sprechen, dass Männer und Frauen nach gleichen Prinzipien, aber mit unterschiedlichen Quantitäten ernährt wurden. Die Unterschiede wurden weder im Erlass selbst noch durch ergänzende Erlasse und Verordnungen kommentiert oder gar ärztlich begründet. Dabei gab es inzwischen Strafanstaltsärzte, die eine ausgesprochene Expertise in Ernährungsfragen entwickelt hatten, wie etwa Abraham Adolf Baer, der 1869 Gefängnisarzt am Zuchthaus zu Naugard geworden, 1872 an das Strafgefängnis Plötzensee versetzt worden war und zum internationalen Fachmann der Gefängnishygiene avancierte. Dazu trug vor allem seine Publikation »Die Gefängnisse, Strafanstalten und Strafsysteme, ihre Einrichtung und Wirkung in hygienischer Beziehung« aus dem Jahr 1871 bei, die ein ausführliches Kapitel zur »Beköstigung der Gefangenen« enthielt. Darin bezog er sich auf chemische und physiologische Forschungen zur Ernährung, war aber für Differenzierungen nach Region und Alter offen. Insbesondere setzte er sich für die Individualisierung der Kost ein. Dazu sollte der Anstaltsarzt Krankenkost für jene Gefängnisinsassen verordnen können, die mit der allgemeinen, recht schweren Gefängniskost nicht zurechtkamen. Doch obwohl Baers Standardwerk explizit auf die höheren Mortalitäts- und Morbiditätsraten der weiblichen Gefangenen einging, die er mit den »sexuellen Eigenthümlichkeiten des weiblichen Organismus, die so häufig und bedeutungsvoll sein ganzes somatisches und psychisches Verhalten beeinflussen und beherrschen«, erklärte65, ging er auf diese nicht weiter ein und zog daraus auch keine Folgerungen für 61 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2602, Bd. 1, Bl. 273, Ministerium des Innern an die Königlichen Regierungen, 20.1.1872. 62 Bei der Zubereitung von sauren Speisen waren für Frauen 0,03 l Essig vorgesehen, für Männer dagegen 0,04 l, vgl. Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2602, Bd. 1, Bl. 226 ff. 63 Vgl. die Etats über Speisung, Bekleidung, Lagerung und Reinigung für die zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörigen Straf- und Gefangen-Anstalten [sic!] vom 20. Januar 1872 in: Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 1, abgedruckt bei Buettner (1880), S. 21 f. 64 So festgelegt unter Punkt 16 des Speiseetats von 1874, vgl. Berlin im Juli 1887 (1887), S. 69. 65 Baer (1871), S. 338.

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die Ernährung weiblicher Strafgefangener. Darin unterschied er sich nicht von der Praxis der zeitgenössischen Ernährungsforscher wie Carl von Voit, der die Ernährung an seinem (männlichen) Labordiener erforscht und dann zur allgemeinen Norm erklärt hatte. So wie Voit Frauen nicht berücksichtigte, sprach auch Baer in seiner Darstellung ausschließlich von »dem Mann«, dem »Gefangenen«. Nun mag man einwenden, dass Baer die entsprechenden Erfahrungen fehlten, da er nur Dienst an Männeranstalten getan hatte. Wie sein immerhin siebenseitiges Kapitel zur Ernährung weiblicher Gefangener zeigte, sah er sich aber dennoch in der Lage, einige allgemeine Bemerkungen zum Frauenstrafvollzug zu machen. In späteren Publikationen bezog er sich sogar auf die Ernährungssituation in englischen Strafanstalten, wo die Verpflegung deutlich nach Geschlechtern differenziert wurde.66 Seinen Blick auf die preußische Gefängniskost für Frauen änderte dies nicht. Selbst Gefängnisärzte an Frauenanstalten gingen nicht dezidiert auf dieses Problem ein, sondern sprachen wie Baer von der Kost »des« Gefangenen, während weiterhin Soldaten und Arbeiter die entscheidende Bezugsgröße für die Frage der Nützlichkeit von Ernährungsstandards und Ernährungserhebungen waren.67 Reformen der Kost blieben explizit auf Männer bezogen: Als der Strafanstaltsdirektor Karl Krohne 1884 eine neue, sparsamere Kostordnung vorschlug, welche die großen Mengen ballaststoffreicher Nahrungsmittel reduzierte, dafür aber die Eiweißmengen erhöhte, erwähnte auch er dabei mit keinem Wort die Verpflegung von Frauen. Die praktischen Versuche mit dem von ihm ausgearbeiteten Etat fanden ausschließlich in Männeranstalten statt (d. h. die Strafanstalten zu Wehlheiden, Wartenburg, Naugard, Rawicz, Moabit, Brandenburg, Cassel und Werden68), die in der Statistik der Gefängnisse besonders hervorgehoben wurden. Doch ist es bemerkenswert, dass männliche und weibliche Gefangene die gleichen Fleischmengen erhalten sollten, wird dies doch angeblich vorrangig von Männern verzehrt. Wie erwähnt, hatte man es daher bei der herrschenden Cholera-Epidemie als Stärkungsmittel eingeführt, dann aber ohne weiteren Kommentar mit einer wöchentlichen Menge von 100 g, also 5,2 kg pro Jahr, zum regelmäßigen Bestandteil der Kost gemacht. Grundsätzlich war Eiweiß in Form von Fleisch teuer und galt schon deswegen als Prestigeprodukt, über dessen Verabreichung die Gefangenen stets argwöhnisch wachten. In den Folgejahren intensivierten sich die Diskussionen um das Eiweißminimum, insbesondere um die Rolle von tierischem Eiweiß als Quelle der Muskelkraft. Daher stellte es den Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen um die Qualität einer Nahrung dar. War mit der Kostordnung von 1872 ein jährlicher Konsum von 11,5 kg Fleisch festgesetzt worden, kamen in den folgenden Jahren weitere Quellen tierischen Eiweißes hinzu, auch sie in gleichen Portionssätzen für die Frauen: 1884 wurden Hering, Magerkäse und Milch eingeführt. Im Gegenzug 66 Baer (1889), S. 32 f. Das Kapitel zur Ernährung weiblicher Strafgefangener in Baer (1871), S.  333–340. Zur Geschlechtsdifferenzierung der englischen Gefängniskost vgl. Prison Dietary Committee (1883) und Johnston (1985), S. 123, 131, 137, 147. 67 Böhm (1869). 68 Krohne (1884); Andreä (1888), S. 235.

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Ulrike Thoms

wurden die Brot- und Cerealienmengen gekürzt. Nur als man 1887 Seefisch in die Kost aufnahm, war für Männer eine Portion von 250 g, für Frauen eine Portion von 200 g pro Kopf vorgesehen.69 Im Gegenzug wurde die Fleischmenge leicht gekürzt.70 Nachdem Baer schon 1884 auf dem internationalen Gefängniskongress über die Ernährung gesprochen hatte, stellten 1888 verschiedene Sachverständige ihre Gutachten auf der 8. Versammlung der Deutschen Strafanstaltsbeamten vor. Die Ernährung weiblicher Gefangener kam hier nicht vor.71 1905 befasste sich die Hauptversammlung der Deutschen Strafanstaltsbeamten in Dresden wiederum mit der Ernährung, und nun stand erstmals explizit die Ernährung der weiblichen Gefangenen auf der Tagesordnung, wenngleich nur in Form einer Beschlussvorlage. Diese lautete: »Für weibliche Gefangene gelten 5/6 der unter 1. angegebenen Sätze; bei Gefangenen mit 8 Tage überschreitenden Strafzeiten kann die Tagesportion um 1/3 der angegebenen Sätze vermindert werden.«72 Doch immer noch fand keine Erläuterung oder gar Erörterung dieser Vorlage statt. Vielmehr gab es nur einen einzigen Redner, der in seinem Diskussionsbeitrag überhaupt auf die Ernährung der weiblichen Gefangenen Bezug nahm, indem er knapp auf die Gefahr der Entstehung von Bleichsucht (Eisenmangelanämie) als Folge der neuen, knappen Verpflegungssätze verwies.73 Ein weiterer enthielt sich explizit eines Kommentars, weil er sich als Arzt einer Männerstrafanstalt nicht sachkundig fühlte. Dennoch war er sich sicher, dass die neue Regelung »ernsten Widerspruch nicht finden werde«.74 Baer teilte diese Meinung und konstatierte knapp, dass die »Zusammensetzung der Gefangenenkost kein Streitobjekt mehr sei«.75 Andere betonten erneut die Notwendigkeit zur Individualisierung und zur Berücksichtigung regionaler Unterschiede, doch hinsichtlich der Ernährung der Frauen blieb es bei Vermutungen: »Dass die Reduktion bei weiblichen und bei ganz kurzstrafigen Gefangenen möglich ist, wird wohl auch keinen Widerspruch finden.«76 Tatsächlich reduzierte die neue Kostordnung die Sätze aller Nahrungsmittel für Frauen um 20 Prozent  – außer bei Fleisch, Fett, Fisch und Käse.77 Ausgenommen davon waren auch Sauerkohl und Kartoffelsuppe, bei denen die gleichen Mengen an Sauerkraut und Kartoffeln vorgesehen waren. Männern bereitete man aus den zugeteilten Zutaten ein Mittagsgericht, von dem sie 1–1,25 l erhalten sollten; für Frauen waren dagegen 0,75–1 l vorgese-

69 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 2, Bl. 325, Nachtrag zum Speise-Etat, 12.7.1887. 70 Thoms (2005), S. 546. 71 Andreä (1888); Baer (1884); Baer (1889). 72 Einladung (1906), S. 20. 73 Allerdings kam dieser Redner aus der Anstalt Hagenau im Elsass, also nicht aus preußischen Kernlanden; vgl. Levy (1906). 74 Pollitz (1906), S. 93, ebenso auch Thierfelder/Rubner (1908). 75 Baer (1906), S. 109. 76 Schwandner (1906), S. 97. 77 Erlaß (1905).

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hen. Wie noch zu zeigen sein wird, entfielen Arbeitszulagen für Frauen künftig weitgehend bzw. wurden auf Kaffee reduziert.78 Diese Praxis, Empfehlungen für Frauen aus experimentell gewonnenen Kostsätzen abzuleiten, nicht jedoch im physiologischen Versuch zu untersuchen, war weithin üblich. In ihrem populären Handbuch zur Ernährung rechtfertigten die Physiologen Munk und Uffelmann diese Praxis 1887 mit den Worten: »Das Nährstoffbedürfnis der leicht arbeitenden Frau ist, da dieselbe in der Regel 8–10 Kilo leichter ist als der Mann und zumeist mehr Fett am Körper besitzt, wodurch die Zersetzungsgröße beschränkt wird, auf etwa 4/5 des arbeitenden Mannes zu veranschlagen, also auf etwa 90 Grm. Eiweiss, 40 Grm. Fett, 400 Grm. Kohlehydrate.«79 Sie schätzten, dass eine nicht arbeitende Frau sogar schon mit 350 g an Kohlenhydraten auskommen könne.80 Ausführlicher beschäftigten sich die Physiologen nur mit der Ernährung stillender Frauen, bei denen es auf die Versorgung des Kindes ankam. Allerdings konstatierten sie, es sei weder theoretisch festzustellen noch bisher durch den Versuch ermittelt, »wie viel mehr von den einzelnen Nährstoffen einer säugenden Frau gegeben werden muss, als einer nicht stillenden«.81 Die Erfahrung sprach allerdings für ein größeres Nahrungsbedürfnis, weswegen ein Maß von 150–160 g Eiweiß, 100 g Fett und 400 g Kohlenhydrate empfohlen wurde. Zu geringe Eiweißzufuhr käme allerdings selbst bei Frauen der wohlhabenderen Klassen vor; sie führe zu Anämie und Muskel- wie Nervenschwäche.82 Bezüglich des höheren Flüssigkeitsbedarfs wurde noch auf die Erfahrung mit milchenden Haustieren verwiesen, wonach »eine reichlichere Tränkung erforderlich ist«.83 Näher und mit den Methoden der modernen Physiologie erforscht wurde der Bedarf der Schwangeren allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei es im Kontext der pronatalistischen Geburtenpolitik freilich weniger um die Mutter als um das Kind ging.84 Entsprechende Bestimmungen für die preußischen Strafanstalten und Gefängnisse blieben vage und dem Arzt überlassen, während für die Gerichtsgefängnisse pauschal festgelegt wurde, dass stillende Frauen ein Drittel mehr an Nahrung erhalten sollten. Damit waren sie den Gefangenen mit anstrengenden Arbeiten gleichgestellt.85 Insgesamt war der medizinisch-physiologische Blick auf den weiblichen Körper vom Bild der Schwäche bestimmt. So betonten Munk und Uffelmann, dass Frauen »im Allgemeinen einen etwas weniger widerstandsfähigen und reizbaren Verdauungstractus besitzen, als die Männer«, weswegen sie »derbconsistente Nahrungsmittel sowie die scharfen Gewürze zu meiden hätten«.86 78 Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Oberpräsidium Münster, Nr. 2606, Bd. 2, Bl. 16, Etat von 1886/87. 79 Munk/Uffelmann (1887), S. 205. 80 Munk/Uffelmann (1887), S. 207. 81 Munk/Uffelmann (1887), S. 221. 82 Munk/Uffelmann (1887), S. 257. 83 Munk/Uffelmann (1887), S. 222. 84 Haselhorst/Plaut (1924); Eisen (1937); Effects (1927); Keller (1927). 85 Klein (1905), S. 88, 318, 320. So auch Wollenzien (1890), S. 88. 86 Munk/Uffelmann (1887), S. 368.

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Ulrike Thoms

Durch Versuche erhärtet waren diese Angaben nicht; sie beruhten allein auf ärztlichen Erfahrungen und waren damit primär von den zeitgenössischen Vorstellungen, was angemessen sei und was nicht, bestimmt. Die allgemeine Auffassung, Frauen verrichteten nur leichte oder mittelschwere Arbeit, sollte sich im Übrigen bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs halten. Erst 1949 wiesen Heinrich Kraut und seine Mitarbeiter, die die allzu schmalen Rationen in ihren Wirkungen aus eigenem Augenschein kannten, mit Hilfe exakter Stoffwechselversuche nach, dass der Kalorienbedarf von Frauen bisher zu niedrig geschätzt worden war. Lag der Bedarf schon unter normalen Verhältnissen bei 2400–2800 Kalorien, stieg er bei einer Haupttätigkeit der Hausfrau, dem Putzen, auf Werte, die demjenigen des männlichen Schwerarbeiters durchaus entsprachen.87 Die Folgen für die weiblichen Strafgefangenen waren weitreichend. Seit 1905 wurden ihnen keine Arbeitszulagen mehr zugestanden, die dem höheren Kalorienverbrauch Rechnung getragen hätten. Die Ernährung weiblicher Gefangener im Spiegel der Statistik Die Statistik der Gefängnisse und Strafanstalten unter der Verwaltung des Ministeriums des Innern belegt das behördliche Interesse, die Ernährungsweise der Gefangenen zu beobachten und zu dokumentieren. Kurz nachdem im Zusammenhang mit der nahenden Cholera in Preußen die Diskussion um die Gefängniskost eingesetzt hatte, begann das Ministerium des Innern für seine Strafanstalten und Gefängnisse jährlich eine detaillierte Statistik herauszugeben. Für jede einzelne Anstalt wurden die Zahl der Verpflegungstage, die Dauer der Strafen und eben auch die Mengen der verbrauchten Nahrungsmittel nachgewiesen, ebenso kleinteilig führte man zwischen 1869 und 1903 Buch über die Zusatznahrungsmittel, die sich die Gefangenen aus eigenen Mitteln kauften, die Zahl an Zulagen, die der Anstaltsarzt für bedürftige Kranke verordnete, wie die Zulagen, die Gefangene für besonders schwere Arbeiten erhalten konnten. Allerdings änderten sich Erfassung und Rubrizierung der Angaben: So ist der Brotverzehr nur für 1869 bis einschließlich 1893 detailliert verzeichnet. Während die zur Zubereitung der Mittags- und Abendkost verwendeten Cerealien, Hülsenfrüchte und Gemüse bzw. Fett und Fleisch bis einschließlich 1883 nur in je einer Rubrik zusammengefasst waren, wurden zusätzlich von 1884 bis einschließlich 1903 Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen), Cerealien (Graupe, Grütze, Hirse, Mehl, Reis), Kartoffeln, frisches Gemüse und Sauerkraut, Fleisch, Fett und Milch, seit 1888 dann auch Hering und seit 1896 der neu eingeführte Seefisch je gesondert verzeichnet. Vermutlich geschah dies, um die Einhaltung des neuen Etats zu beobachten, was sich aber nicht belegen lässt. Wenn Brot ab 1894 nicht mehr nachgewiesen wurde und Fleisch und Fett seit 1894 wieder in einer Rubrik zusammengefasst wurden, geschah dies offenkundig, weil der Etat nicht mehr grundsätzlich zur Diskussion stand und die Verbrauchsmengen sehr konstant waren. 87 Droese/Kofranyi/Kraut (1949/52); Kraut/Schneiderhöhn/Wildemann (1955/57).

Gender issues? Die Ernährung weiblicher und männlicher Strafgefangener

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Aus diesen äußerst detaillierten Angaben wurden die täglichen Verzehrsmengen für die reinen Frauenanstalten (Rhein, Anclam, Fordon, Sagan, Delitzsch, Lingen, Jauer, Luckau und bis 1871 auch Eberbach) zur Erleichterung von Vergleichen auf den Jahresverbrauch hochgerechnet. Da dieser Aufwand nicht für alle Männeranstalten geleistet werden konnte, beschränken sich die Vergleiche daher im Wesentlichen auf die Jahre, die jeweils auf den Erlass neuer Kostordnungen folgten, was angesichts der Konstanz der Mittelwerte aller Anstalten vertretbar erscheint. Eine Ausnahme stellt nur der Brotkonsum dar, da dieser gesondert erfasst war, was die Auswertung erleichtert. Hier zeigt sich eine Angleichung der zwischen den Anstalten anfangs um fast 100 g auseinanderliegenden Tagesverzehrsmengen, wie sie die Verwaltung aus grundsätzlichen Überlegungen seit 1833 gezielt verfolgt hatte. Doch während der Verzehr der Männer zwischen 1869 und 1874 von 224 auf 240,2 kg Brot pro Kopf und Jahr anstieg, um dann bis 1893 auf 210,2 kg zu sinken, ging der Verbrauch der Frauen von Beginn an kontinuierlich zurück von 173 kg im Jahr 1869 auf 151 kg im Jahr 1893. Hatten die Frauen 1869 noch rund 77 Prozent der Brotmengen der Männer verzehrt, waren es 1893 nur noch 72 Prozent. Dadurch ging die Schere zwischen Männern und Frauen, die nie jene in der Faustformel genannten 80 Prozent des Verzehrs der Männer erreicht hatten, noch weiter auseinander. Mit anderen Worten: Der Abschlag lag de facto rund zehn Prozent höher als die vorgesehenen 20 Prozent.

300 250

200 150 100

Frauenanstalten Männeranstalten

50 0

Abb. 1: Der Brotverzehr in den Strafanstalten des Preußischen Ministeriums des Innern 1869–1893 nach dem Geschlecht (in kg pro Kopf und Jahr) Quelle: Statistik (1871–1918)

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Ulrike Thoms

Tab. 1: Der Konsum weiblicher Gefangener in den Strafanstalten unter der Verwaltung des Preußischen Ministeriums des Innern 1869–1903 (in kg bzw. l pro Kopf und Jahr) Brot

Cerealien, Hülsenfrüchte, Gemüse

1869

172,9

545,0

1870

170,5

527,0

1871

167,5

518,0

1872

164,4

465,0

1873

174,8

514,0

1874

173,0

493,0

1875

171,6

503,0

1876

171,2

507,0

1877

168,2

492,0

1878

168,6

492,0

1879

167,9

495,0

1880

166,8

507,0

1881

167,5

514,0

1882

166,8

528,0

1883

165,7

527,0

1884

166,0

1885

Hülsenfrüchte

Cerealien

Kartoffeln

Gemüse

Milch

523,0

28,1

46

304,0

45,7

42,3

165,9

437,0

26,9

46

308,9

45,6

45

1886

165,2

438,0

27,9

44

312,6

44,5

43,8

1887

156,4

398,0

28,2

36

296,4

31,7

49,9

1888

151,5

381,0

25,9

27

291,0

31,4

50,6

1889

146,8

387,0

25,8

26

292,6

34,2

43,8

1890

147,2

384,0

25,2

26

292,3

32,6

46,4

1891

151,3

379,0

26,4

26

287,4

31,5

36,5

1892

149,5

374,0

24,5

26

295,3

28,2

44,8

1893

148,3

381,0

23,6

26

297,5

27,5

35,5

1894

377

24,4

27

296,2

25,3

50,1

1895

374

25

26

292,6

26

44,3

1896

376

23,8

26

296,1

27,5

55,8

1897

381

23,4

26

297,9

30,1

57,9

1898

377

24,2

26

297,8

28,6

56,8

1899

385

26

27

308,1

22,9

62,1

1900

392

26

27

311,2

24,6

61,5

57

Gender issues? Die Ernährung weiblicher und männlicher Strafgefangener Cerealien, Hülsenfrüchte, Gemüse

Hülsenfrüchte

Cerealien

Kartoffeln

Gemüse

Milch

1901

380

27

26

304,2

22,6

66,7

1902

387

27,4

26

305,0

27,4

69,4

1903

390

27,4

26

306,0

28,3

68,8

Brot

Quelle: Statistik (1871–1918) Tab 2: Nahrungsmittelverbrauch männlicher und weiblicher Gefangener in den Strafanstalten und Gefängnissen unter der Verwaltung des Preußischen Ministeriums des Innern im Vergleich 1873–1888 (kg pro Kopf und Jahr, gerundet)

1873 1875

1888

Brot

Cerealien, Gemüse und Kartoffeln

Fleisch und Fett

Sonstiges, Kräuter, Gewürze

M

239

474

23

172

F

175

421

21

172

M

237

417

19

142

F

172

419

22

164

Brot

Hülsenfrüchte

Getreideprodukte

Kartoffeln

Gemüse

Fleisch

Fett

Hering

Magerkäse

Kaffee

Zichorie

M

209

36

30

331

34

11

15

5

5

31

4,7

F

152

26

27

291

31,4

11

13

5

5

29

6,6

Quelle: Statistik (1871–1918)

Insgesamt zeigt sich im Untersuchungszeitraum eine deutliche Verringerung des Verzehrs von Cerealien und Gemüse, während der zeitweilig rückläufige Konsum an Hülsenfrüchten ab der Jahrhundertwende wieder in die Höhe ging. Die gleiche Entwicklung zeigt sich beim Kartoffelverzehr. Allerdings verbergen sich hinter diesen Zahlen gewisse Unterschiede zwischen den Anstalten, die jedoch allmählich zurückgingen. Dabei blieb der Verzehr an Hülsenfrüchten, Cerealien und Gemüse nicht wesentlich hinter dem Verzehr der Männer zurück. Noch Mitte der 1880er Jahre lag er bei 95 Prozent des Verzehrs der Männer; die vorgesehenen Abschläge gegenüber der Männerkost wurden hier also de facto kaum vorgenommen. Dies gilt insbesondere für Fleisch und Fett, wo die Mengen seit 1873 nahezu identisch waren, wenn man einmal von der Anstalt zu Rhein absieht, die im gesamten Zeitraum rund 20 Prozent hinter dem Durchschnittsverbrauch der anderen Frauenanstalten zurückblieb. Gründe dafür sind aus den Statistiken nicht zu ersehen, während im Ministerialschriftgut entsprechende Überlieferungen fehlen. Vermutlich hängt dieser Befund mit der Lage der Anstalt im Osten zusammen, wo die Nahrung generell dürftiger und fleischärmer war. Auffällig ist in jedem Fall der deut-

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liche Rückgang des Verzehrs an Gemüse seit 1884. Zwar galten Sauerkraut wie frisches Gemüse bei den Gefangenen als Festspeise, doch war ihr Wert als Vitaminlieferant noch nicht bekannt, weswegen die Physiologen sie als Ballast werteten. Der Verbrauch von Milch dagegen, die erst 1884 als regulärer Kostbestandteil eingeführt worden war, nahm zwischen 1884 und 1903 von 42,3 auf 68,8 l zu, also um rund 60 Prozent, wobei erhebliche Unterschiede bestehen blieben, die mit der örtlichen Verfügbarkeit von Milch etwa aus eigener Landwirtschaft zusammenhängen dürften. So tranken die Luckauer Sträflinge 1903 0,32 l Milch am Tag, während die Insassen der Fordoner Anstalt nach wie vor nur 0,1 l erhielten. Tatsächlich wurde die 20-Prozent-Klausel nur bei den Hülsenfrüchten wirksam, vermutlich weil sie als schwerverdaulich bekannt waren, während bei Kartoffeln, Getreideprodukten und Gemüse nur ein Abschlag von zehn Prozent zu verzeichnen war. Die Statistik zeigt in jedem Fall, dass die Frauen das volle Fleischquantum erhielten und bei gewissen örtlichen Schwankungen grundsätzlich auch das gleichbleibend stabile Quantum an Magerkäse und Hering bzw. Seefisch, das sich auf 5,1 kg pro Jahr belief. Als Träger tierischen Eiweißes, dem erst im Zuge langwieriger und kontroverser Verhandlungen ein Platz gesichert wurde, war die Menge von vornherein grammgenau auf das angenommene Eiweißminimum berechnet, so dass sich Verkürzungen schon aufgrund der intensiv debattierten, physiologischen Vorzüge verbaten. Das Bild, das sich aufgrund der Statistik ergibt, zeigt uns insgesamt eine Kost, deren Varianz durch die Aufnahme tierischer Nahrungsmittel erheblich gewachsen war; zugleich ging ihr enormer quantitativer Umfang durch die Reduktion billiger Kalorienträger zurück. Dadurch verbesserte sich die Qualität der Ernährung, was sich unter anderem auch in einer Verbesserung des Gesundheitszustandes niederschlug. Die Zahl der sogenannten Krankenverpflegungstage, an denen Kranke vom Arzt als arbeitsunfähig bezeichnet wurden und eine besondere Krankenkost erhielten, ging deutlich zurück. Dennoch lag die Zahl der Krankentage bis auf ein einziges Ausnahmejahr (1874) bei den Frauen stets über denen der Männer. Hier machte sich auch die ärztliche Bereitschaft bemerkbar, den Frauen eher als den Männern Krankenverpflegung zu verordnen, wenn sie das reguläre Essen nicht vertrugen. Diese Zahlen dürften aber auch Folge der geringeren Zukäufe an Nahrungsmitteln sein. Hier zeigen sich ebenso wie bei den Arbeitszulagen signifikante Veränderungen. Schon seit jeher hatten die Frauen nur rund zehn Prozent aller Arbeitszulagen erhalten, doch mussten sie deutlich stärkere Einschnitte hinnehmen als Männer. Bis zum Speiseetat von 1884 lagen die Zukäufe bei Männern und Frauen im Verhältnis zu den Verpflegungstagen gleichauf; doch seit 1888 sank er bei den Frauen signifikant stärker: Damit wurden ihre Möglichkeiten, die Ernährung wenigstens hie und da etwas individueller zu gestalten, viel stärker beschnitten als bei den Männern. Während die Zahl der Arbeitszulagen für Männer absolut stieg, stagnierte sie bei den Frauen. Tatsächlich blieben Arbeitszulagen für Frauen eine ganz große Ausnahme, die nur in wenigen Fällen gewährt wurde, während die Männer im Verhältnis zu den Gesamtverpflegungstagen dreimal so viele Arbeitszulagen

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16,0

14,0 12,0

Männer

10,0

Frauen

8,0 6,0 4,0

2,0

1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903

0,0

Abb. 2: Die Zahl der Krankenverpflegungstage von männlichen und weiblichen Insassen der Strafanstalten und Gefängnisse unter der Verwaltung des Preußischen Ministeriums des Innern 1869–1903 (Anteil an den Gesundenverpflegungstagen in Prozent) Quelle: Statistik (1871–1918)

16000 14000 12000

10000 8000

Männer

6000

Frauen

4000 2000 1911

1908

1905

1902

1899

1896

1893

1890

1887

1884

1881

1878

1875

1872

1869

0

Abb. 3: Arbeitszulagen an die Insassen der Strafanstalten und Gefängnisse unter der Verwaltung des Preußischen Ministeriums des Innern 1869–1913 nach Geschlecht (abs.) Quelle: Statistik (1871–1918)

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bekamen. Zudem waren Frauen von bestimmten Arbeitszulagen ganz ausgeschlossen. Weil man sie schlicht nicht als Schwerarbeiter einstufte, erhielten sie ab 1904 in der Hauptsache nur noch Kaffeezulagen. Zusammenfassung Die sorgfältige Buchführung des Preußischen Ministeriums des Innern über die zur Gefangenenverpflegung verwandten Nahrungsmittel belegt grundsätzlich eine große Aufmerksamkeit für die Ernährung. Denn seit dem Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Zufügung körperlicher Schäden dem Besserungsgedanken widerspricht und auch eine schlechte Ernährung letztlich als Form der Leibesstrafe betrachtet werden kann. Nur so sind die Bemühungen um die Normierung und Verbesserung der Gefängniskost zu verstehen. In der Diskussion um die Gefängniskost wurde der Ernährung von Frauen allerdings keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dies kam allenfalls ins Spiel, wenn es um die Rolle der Frau in der Produktion und Aufzucht von Nachkommen ging. Vor diesem Hintergrund erhielten Stillende Ernährungszulagen. Als systematisches Differenzierungskriterium für die Ernährung wurde das Geschlecht erst mit der Kostordnung von 1872 eingeführt. Nun mag man argumentieren, dass die Zahl weiblicher Gefangener relativ gering war, so dass das Problem weniger Relevanz besaß. Sieht man sich allerdings die erbitterten Diskussionen um die Einführung von Käse und Fisch und die Erhöhung der Fleischsätze um nur wenige Gramm im Jahr 1884 an, ist diese Ignoranz doch bemerkenswert. Zudem spricht die Statistik ihre eigene Sprache, da sie erhebliche Differenzen nachweist, die aber eben nicht als Folge der diskursiven Konstruktion von Ernährungsminima zustande kamen. Eine solche diskursive Konstruktion lässt sich in der einschlägigen Literatur zur Gefängnishygiene und -reform schlicht nicht nachweisen. Die Ernährung weiblicher Gefangener war also kein eigentlicher gender issue, weil es die entsprechende Diskussion darüber schlicht nicht gab. Wohl aber gab es eine Praxis des Doing Gender in der Ernährung: Anfangs bestand sie vor allem in Unterschieden bei den Brotmengen. 1872 setzte der Speiseetat die Ernährungssätze für Frauen grundsätzlich um 20 Prozent unter denen der Männer an. Doch waren insbesondere die tierischen Nahrungsmittel davon ausgenommen. Zugleich belegt die Statistik, dass diese Reduktion für die verschiedenen Nahrungsmittel ganz unterschiedlich umgesetzt wurde. Beim Brot wurde die vorgesehene Kürzung deutlich überschritten, auch kauften Frauen grundsätzlich weniger Zusatznahrungsmittel und erhielten weniger Arbeitszulagen. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass ihr Arbeitsverdienst dafür nicht mehr hinreichte. Ein weiterer Grund könnte sein, dass Frauen generell viel seltener erlaubt wurde, Brot und andere Nahrungsmittel aus ihrem Arbeitsverdienst hinzuzukaufen. Für eine biopolitische Deutung spricht, dass das Kriterium für die Zumessung der Kost der durch Arbeit bestimmte körperliche Bedarf war. Da Frauen nicht als Arbeitende gesehen wurden, hatten sie hier keine Ansprüche zu machen. In jedem

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Fall bemerkenswert ist die Normtreue bei den animalischen Nahrungsmitteln, die abgesehen von Milch in der Ernährungsgeschichte als eher männlich konnotiert gelten. Aus all dem spricht die Tatsache, dass Frauen mit Blick auf die tierischen Nahrungsmittel qualitativ besser dastanden, mit Blick auf die Gesamtnahrungsmenge aber deutlich schlechter; zudem hatten sie weniger Gestaltungsfreiräume, weil ihre Körper allenfalls in Hinsicht auf Schwangerschaft und Stillzeit als produktiv galten. Doch dies ist ein Prozess des 19. Jahrhunderts, der sich unter dem Einfluss der modernen Medizin und Ernährungsphysiologie vollzog und sich im Übrigen auch in der Aneignung des Hungers und des Hungerns bei der Etablierung des modernen Schlankheitsideals wie der Magersucht als Krankheitsdiagnose zeigt. Dass Hunger gerade von Frauen als einziges, oft letztes Mittel eingesetzt wurde, um sich eine Stimme zu verschaffen und sichtbar zu machen, verdeutlicht vor allem die Rolle des Hungerstreiks als Kampfmittel der Suffragetten.88 Doch das ist ein anderes Thema. Hier gilt es festzuhalten, dass die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« eben nicht immer diskursiv erfolgt oder sich in Diskursen nachvollziehen lässt. Genauso bedeutend sind Kräfte, die ohne ausgedehnte Diskussionen Tatsachen schaffen. Bibliographie Archivalien Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen, Münster – Oberpräsidium Münster, Nr. 2602, Nr. 2606, Nr. 2607, Nr. 2610, Nr. 2611 – Regierung Minden-Ravensberg, Nr. 661 – Regierung Münster, Nr. 317, Nr. 318, Nr. 319 – Zivilgouvernement, Nr. 423 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK) – Rep. 96, Nr. 246C

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 67–96, FRANZ STEINER VERLAG

Ernährung im österreichisch-ungarischen Heer: Militärwissenschaftlicher Diskurs, Ernährungsvorschriften und Ernährungspraxis (1868–1914) Elisabeth Berger Summary Nutrition in the Austro-Hungarian army: scientific discourse, food regulations and nutritional practice (1868–1914) The food question affected the lives of the soldiers directly and because of its standardization and relevance to the contentment of the soldiers it played a very important role in the army. So far, the topic of nutrition and the army has been mainly investigated for the world wars, while its role in times of peace has been neglected. The present contribution examines this question as part of a study into the nutrition of soldiers in the Habsburg Monarchy. Examination of the internal military discourse, of food standardization and the nutritional practice shows that nutrition was organized and negotiated in a field of tension between health-related considerations and the soldiers’ nutritional preferences. One essential influencing factor was the social, ethnic and religious heterogeneity of the army as a result of compulsory military service. In retrospect the development of the Austro-Hungarian military diet can be divided into two phases: during the second half of the nineteenth century the food volume improved gradually. This increase was the result of healthcare considerations with regard to the physical and mental strength of soldiers and consequently the strength potential of the state. After 1900, the nutritional optimization of the menus became increasingly important. In this second phase it emerged that the inclusion of scientific insights in the planning of the soldiers’ diet was impeded by the principle of subsidiarity and by the consideration of nutritional preferences as one of the guiding principles. At the same time it was this flexibility within the standardization that made it possible to adapt to regional requirements and to the heterogeneity of the shared army. There was consequently no uniform military diet and the relative homogeneity within the bodies of troops aided the emergence of specific army kitchens.

Einführung »Drei Jahr bin ich Soldat, hab oft kein bissen [sic!] Brot«, notierte Infanterist Thomas Rauter aus Kärnten im Jahr 1886 als Textzeile des »DragonerLied[s]!«.1 Die Ernährung, das Leben jedes Soldaten unmittelbar betreffend, 1

KLA, 118, A-21/12 St., Aufzeichnungen des Infanteristen Thomas Rauter vom K. K. Infanterie Regiment Freiherr von Dahlen Nr. 7 (Gedichte, Liebes-, Scherz-, Jäger-, Soldaten-, Heimatlieder), S. 144 (nachträgliche Paginierung).

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taucht in Gedichten und Liedern als Teil eines mühsamen und entbehrungsreichen Soldatenlebens auf. Eingebunden in organisatorische Strukturen, entzog sie sich weitgehend der individuellen Einflussnahme und war über ihre primäre Funktion hinausgehend im Alltag der Soldaten präsent: Sie strukturierte den Tagesablauf, war Ablenkung vom militärischen Dienst, Sehnsuchtsort der Geborgenheit und vermittelte ein Stück Heimat. Gleichzeitig war die Frage der Ernährung innerhalb des Militärs von Bedeutung, einerseits aufgrund ihrer Normierung und der damit verbundenen Frage der ›richtigen‹ Ernährung, andererseits wurde ihr hinsichtlich der Zufriedenheit der Soldaten hohe Relevanz zugeschrieben. Bisher wurde dem Themenkomplex Ernährung und Militär für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wenig Aufmerksamkeit geschenkt.2 Dies trifft auch auf Österreich-Ungarn zu: Spezifische Studien, wie der Beitrag von Karin Winter über die Ernährung in der Marine und jener von Christoph Tepperberg über die Entwicklung der Verpflegung im habsburgischen Heer seit dem 18. Jahrhundert, stellen Ausnahmen dar.3 Arbeiten zur Geschichte der Ernährung beschränken sich auf kurze Verweise, wie etwa den möglichen Einfluss von Garnisonen auf städtische Verbrauchsstatistiken.4 Allerdings ist die Ernährung im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht, wie viele andere Lebensbereiche, nicht nur für die Erforschung der Militarisierung der Gesellschaft von Interesse. Im spezifischen Kontext der Ernährung stellt sich auch die Frage nach einer möglichen langfristigen Verbrauchslenkung – sowohl durch die Beeinflussung von Ernährungsgewohnheiten und Wertvorstellungen, wie etwa im Fall des täglichen Fleischkonsums, als auch durch Ernährungserziehung während des Militärdienstes im Sinne der Armee als ›Schule des Volkes‹.5 Zudem nahm die Ernährung von Soldaten, wie Ulrike Thoms in ihrer grundlegenden Studie zur Anstaltskost in Deutschland zeigen konnte, für zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Gefängnisse auch eine Vorbildfunktion ein.6 2

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Zur soldatischen Ernährung in Deutschland im 19.  Jahrhundert vgl. die Studie von Kirn (2009), S.  152–177, über das Soldatenleben in Württemberg.  – Dagegen erhielt das Thema Ernährung in Kriegszeiten größere Beachtung. Vgl. etwa Zweiniger-Bargielowska/Duffett/Drouard (2011), wobei vor allem auf die Beiträge über die Ernährung der Soldaten während des Ersten Weltkrieges in den deutschen (Lummel; Schouten) und britischen Streitkräften (Duffett) verwiesen sei. Ich danke Ulrike Thoms für den Literaturhinweis. Tepperberg (1987); Winter (2011). Vgl. etwa Teuteberg (1972), S. 117 und S. 118. Vgl. Thoms (2006), S. 208. Verbunden mit der allgemeinen Wehrpflicht und diese auch legitimierend war das Konzept der ›Schule der Nation‹ – im österreichisch-ungarischen Fall aufgrund der Multiethnizität des Vielvölkerstaates die ›Schule des Volkes‹. So sollten den Wehrpflichtsoldaten in ihrer Dienstzeit nicht nur Primärkompetenzen wie Schreiben, Lesen und Rechnen vermittelt werden, sondern ebenso diverse bürgerliche Sekundärtugenden, wie etwa Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre, aber auch Sparsamkeit, Ordnungssinn, Sauberkeit und Hygiene. Vgl. Hämmerle (2004), S. 192; ausführlich: Frevert (2001), S. 103–120. Damit verbunden war die Vorstellung der ›Schule der Männlichkeit‹. Hierzu vgl. Frevert (1997); Hämmerle (2005). Vgl. Thoms (2005), S. 332–334.

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Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch im Bereich der Ernährung eine Periode grundlegender Veränderungen. Durch die gestiegene Agrarproduktion und die effizienteren Transportmöglichkeiten verbesserte sich die Ernährungslage breiter Bevölkerungsschichten entscheidend: Auch wenn die Ernährungssituation der sozialen Unterschichten noch prekär war, stellte sich erstmals eine grundsätzliche Ernährungssicherheit ein, die durch das Fehlen von Hungersnöten beobachtet werden kann.7 Gleichzeitig nahm die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ernährung zu und eine moderne Ernährungswissenschaft formierte sich, deren Forschungsergebnisse im Kontext der sozialen Frage auf eine breite öffentliche Resonanz stießen und auch hinsichtlich der Ernährung der Soldaten rezipiert wurden.8 Der wissenschaftliche Fortschritt ermöglichte zudem die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion, wobei die modernen Massenheere als Beförderer dieser Entwicklung angesehen werden können. Die Anforderungen an ihre Kriegsverpflegung – lange haltbare, gut transportierbare und schnell zu bereitende Produkte – begünstigten eine Offenheit gegenüber neuen technischen Produktionsverfahren9, zugleich fand die entstehende moderne Lebensmittelindustrie im militärischen Sektor einen stabilen und großen Absatzmarkt für ihre Produkte10. Vor diesem allgemeinen Hintergrund stellt der vorliegende Beitrag die Frage, wie die Ernährung der Soldaten in der Habsburgermonarchie gestaltet und ausgehandelt wurde. Die Soldaten des österreichisch-ungarischen Heeres 7

Zur allgemeinen Entwicklung der Ernährung im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert vgl. Teuteberg (1972); Teuteberg (1976); Wiegelmann (1972). Hinsichtlich Verbrauchsanalysen für Österreich vgl. Sandgruber (1982), S. 131–267, und für Wien etwa Nagele/Uschmann (2014). 8 Für einen Überblick über die Ernährungslehre im 19. Jahrhundert vgl. Mani (1976). 9 So wurden etwa die verschiedenen Konservierungsformen und die Herstellung von Konserven in den militärwissenschaftlichen Zeitschriften diskutiert sowie ihre Verwendung als Teil der Kriegsverpflegung. Vgl. Beckerhinn (1877); F. J. B. (1874); Gürth (1893); Kirchenberger (1884); Kirchenberger (1885); Ubl (1884); Walter (1894). 10 Dass die Armee als Absatzmarkt für die moderne Lebensmittelindustrie höchst attraktiv war, belegen auch die Angebote von Firmen direkt an Truppenkörper bzw. ihre Bemühungen um Zulassung ihrer Produkte durch das Kriegsministerium  – wie etwa im Falle der Pflanzenfette »Kunerol« und »Ceres«. Vgl. ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 35, Erlass, Abt. 14, Nr. 992, 18.4.1903, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 17, 1.5.1903, J 2776L; ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Erlass, Abt. 12, Nr. 3341, 12.12.1908, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 110, 24.12.1908, J 14823. – Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Armee führte auch zu politischen Interventionen von Seiten der ungarischen Reichshälfte. So wurde grundsätzlich bestimmt, dass die Truppen sich innerhalb des Militärterritorialgebiets, zumindest aber innerhalb des Staatsgebiets (Österreich vs. Ungarn), in welchem sie stationiert waren, versorgen sollten. Zudem kam es zu Interventionen für die stärkere Verwendung einzelner Lebensmittel wie etwa Schafskäse/Liptauerkäse und Schweinefleisch in der Soldatenverpflegung. Vgl. Erlass, Abt. 12, Nr.  3433 ex 1899, 13.1.1900, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4174; Erlass, Abt. 12, Nr. 1269, 7.6.1902, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 4872; Erlass, Abt. 13, Nr. 490, 11.7.1904, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr.  5433; Erlass, Abt. 12, Nr.  1293, 25.5.1908, zit. n. Rubin: Normaliensammlung  2 (1913), Nr. 6552; Erlass, Abt. 12, Nr. 1835, 31.7.1908, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 6554.

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waren hinsichtlich ihrer sozialen, ethnischen und religiösen Zusammensetzung eine höchst heterogene Gruppe. Infolge der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1868 spiegelte sich in der Mannschaft der gemeinsamen Armee die Heterogenität des Vielvölkerstaates wider11: So kamen auf hundert Soldaten durchschnittlich 25 Deutsche, 23 Magyaren, 13 Tschechen, neun Serben und Kroaten, je acht Polen und Ruthenen, sieben Rumänen, vier Slowaken, zwei Slowenen und ein Italiener12, wobei aufgrund des Ergänzungssystems – jedem Infanterieregiment war ein fester Ergänzungsbezirk zugewiesen – die Truppenkörper der ethnischen Zusammensetzung ihres jeweiligen Ergänzungsbezirkes entsprachen, unabhängig von wechselnden Stationierungen in der Monarchie13. Durch die Untersuchung des innermilitärischen Diskurses sowie der Normierung der Ernährung und der Ernährungspraxis kann der Einfluss dieses spezifischen Charakteristikums der gemeinsamen Armee auf die Ernährung der Soldaten analysiert werden. Vor dem Hintergrund einer sich formierenden modernen Ernährungswissenschaft und der Vereinheitlichungs- und Zentralisierungstendenzen innerhalb des Heeres wurde die Ernährung in einem Spannungsfeld von gesundheitlichen Überlegungen und Ernährungspräferenzen der Soldaten ausgehandelt, so dass eine uniforme soldatische Kost nicht existierte und die vergleichsweise relative Homogenität innerhalb der Truppenkörper die Herausbildung spezifischer Truppenküchen begünstigte. Hierbei werden vorwiegend Quellen herangezogen, deren zentrales Thema die Ernährung der Soldaten in Friedenszeiten ist: militärwissenschaftliche Fachzeitschriften, Vorschriften und Verwaltungsschriftgut, die sich mit den in Garnisonen zur Verfügung gestellten Nahrungsmitteln befassen, wodurch Sonderverpflegung und private Verpflegung unberücksichtigt bleiben.

11 Im Fokus dieser Untersuchung steht das gemeinsame Heer, das seit der Errichtung der Doppelmonarchie im Jahr 1867 zusammen mit den organisatorisch unabhängigen Landwehren und Landstürmen der beiden Reichshälften die österreichisch-ungarischen Landstreitkräfte bildete. Die Wehrpflichtdauer betrug zwölf Jahre, wobei drei Jahre im aktiven Dienst (ab 1912: zwei Jahre) abzuleisten waren. Vgl. Wagner (1987), S. 491 und S. 493. 12 Vgl. Allmayer-Beck (1987), S. 93. Für das Jahr 1910 vgl. Deák (1995), S. 216, Tabelle 10.4. 13 Ein Infanterieregiment (Truppenkörper) gliederte sich ab 1883 in den Regimentsstab, vier Bataillone zu je vier Kompanien (Unterabteilungen) und einen Ersatz-BataillonsCadre. Vgl. Wagner (1987), S. 433. Aufgrund der festen Bindung der Infanterieregimenter an die Ergänzungsbezirke fokussiert die Untersuchung auf die Infanterie, der über 50 Prozent der Rekruten zugeteilt waren. Vgl. Melichar/Mejstrik (2010), S. 1291. Eine ungefähre Vorstellung von der Heterogenität innerhalb der Truppenkörper vermittelt das System der Regimentssprachen (d. h. Umgangssprache von mindestens 20 Prozent der Soldaten): So gab es 142 Truppenkörper mit einer Regimentssprache, 163 mit zwei, 24 mit drei und einige Truppenkörper mit vier bzw. fünf Sprachen. Vgl. Allmayer-Beck (1987), S. 98.

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Soldatische Ernährung im Spiegel militärwissenschaftlicher Zeitschriften In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Ernährung der Soldaten zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen. Die österreichischungarischen Militärs beschränkten ihr Engagement jedoch nicht nur auf die Rezeption wissenschaftlicher Forschungsergebnisse: Sie führten auch eigene wissenschaftliche Studien sowie Ernährungsversuche durch14 und nahmen an Ausstellungen und Kongressen teil15. In den führenden militärwissenschaftlichen Periodika der Habsburgermonarchie war die Frage der Ernährung der Soldaten ein anhaltendes Thema auch abseits derjenigen der Kriegsverpflegung.16 Die Beiträge, vornehmlich von Regimentsärzten und Mitgliedern des Sanitätskomitees verfasst, stützten sich primär auf zivile ernährungsphysiologische Forschungen und thematisierten Überlegungen hinsichtlich gesundheitlicher Aspekte und Ernährungspräferenzen der Soldaten sowie Nahrungsmittel, etwa Fleisch und Alkohol. Da die Soldaten zunächst nur eine Mittagsmahlzeit erhielten und Frühstück und Abendmahlzeit erst 1884 bzw. 1899 normiert wurden, war die dominante Thematik bis zur Jahrhundertwende die quantitative Verbesserung der Ernährung der Soldaten. Ihre Notwendigkeit wurde argumentativ mit der allgemeinen Wehrpflicht verknüpft: So seien aufgrund der kürzeren Dienstzeit als vor deren Einführung die physischen Leistungsanforderungen höher, auch sei die körperliche Entwicklung der Rekruten nicht abgeschlossen; zudem dienten infolge der allgemeinen Wehrpflicht die »kräftigsten und gesündesten Söhne[] des Landes« als Soldaten, ihre Ernährung sei somit auch von staatsökonomischer Relevanz.17 Die Verbesserung der Ernährung sollte durch eine »ausreichende« und »schmackhafte« Kost erreicht werden, wobei diese Adjektive zugleich auf jene Pole verweisen, zwischen denen die soldatische Ernährung ausgehandelt wurde: gesundheitliche Überlegungen und Ernährungspräferenzen. So wurde 14 So wurde beispielsweise im Jahr 1910 ein Versuch über den Einfluss von Zucker auf die Leistungsfähigkeit durchgeführt. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/347, Erlass, Abt. 12, Nr. 3156, 29.12.1899, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), 10.1.1900, MA 9; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/347, Regimentskommandobefehl (IR27), Nr. 143, 23.5.1900, Art. I. 15 Vgl. etwa o. A. (1893); Poppović (1874); Williger (1905). 16 Für die Untersuchung herangezogen wurden: Streffleur’s Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), Organ der Militär-wissenschaftlichen Vereine (Organ) und Der Militärarzt. Internationales Organ für das gesammte Sanitätswesen der Armeen (Militärarzt). Die offiziöse ÖMZ war das bedeutendste militärwissenschaftliche Periodikum des österreichisch-ungarischen Heeres. Das Organ diente als zentrales Publikationsmedium der monarchieweit entstandenen militärwissenschaftlichen Vereine vor allem dem Austausch von wissenschaftlich interessierten Offizieren und Gleichgestellten. Der Militärarzt erschien zweimal monatlich als Beilage zur Wiener Medizinischen Wochenschrift und wurde aufgrund seiner spezifischen Fachausrichtung ausgewählt. 17 Zerbes (1880), S. 262. Vgl. etwa auch Anonym: Verpflegung (1874), S. 105; Johann Schöfer (1893), S. 36.

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argumentiert, dass nur Speisen, welche für die Soldaten »schmackhaft« seien, auch gerne und vollständig konsumiert und nicht verschwendet würden. Hierfür sei neben einer verbesserten Zubereitung und einer abwechslungsreichen Kost vor allem die Berücksichtigung der Ernährungspräferenzen von Bedeutung, die als entscheidend für die Akzeptanz angesehen wurde. So stellte ein Autor gegenüber der Auffassung, dass die Ernährungspräferenzen der Soldaten eine zu große Berücksichtigung fänden, fest: Dies zugegeben, möchten wir doch bemerken, dass die Geschmacksrichtung ein Moment ist, auf das auch in der Soldatenküche entschieden Rücksicht genommen werden muss. Bei einem Truppenkörper, wie z. B. in der Sanitätsabtheilung, in welchem Soldaten aus den verschiedensten Ergänzungsbezirken zusammenkommen, kann man so recht sehen, eine wie grosse Rolle auch beim Manne das sogenannte »Gusto« spielt; so gibt es, um nur Eines zu erwähnen, Leute aus polnischen Distrikten, welche freiwillig kein getrocknetes Gemüse essen und, wenn sie unbemerkt sind, dies immer wegschütten.18

Die Forderung nach einer »ausreichenden Kost« verweist auf die gesundheitlichen Überlegungen in der soldatischen Ernährung trotz unzureichender finanzieller Mittel. So argumentierte Oberarzt Dr. Peter Zerbes: »Ungenügende Ernährung macht den Soldaten, wie jeden anderen Menschen, schlaff und matt an Körper und Geist, raubt ihm Energie, Muth, Beharrlichkeit und Ausdauer, wie gegensätzlich gute, hinreichende Nahrung den Mann dienstwillig, pflichteifrig und gesund erhält.«19 Die Speiseordnung stehe aufgrund der geringen Nahrungsmenge und ihrer Darreichung in nur einer Mahlzeit im Widerspruch zur wissenschaftlichen Diätetik; denn zur körperlichen Entwicklung der Rekruten, zur Erhaltung der physischen und psychischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit sei nicht nur eine ausreichende Ernährung erforderlich, sondern auch mehrere, über den ganzen Tag verteilte Mahlzeiten zur Unterstützung der Aufnahme von Nährstoffen.20 Demnach waren die dominanten Forderungen hinsichtlich gesundheitlicher Überlegungen die Einführung eines Frühstücks und einer Abendmahlzeit und in Bezug auf die Ernährungspräferenzen der Soldaten die Berücksichtigung regionaler Kochtraditionen.21 Das empfohlene diätische Konzept war neben der Ausgabe von täglich drei Mahlzeiten eine abwechslungsreiche Mischkost. Da die tägliche Fleischportion jener Teil der Soldatenkost war, 18 19 20 21

Schm. (1889), S. 181. Zerbes (1880), S. 261. Vgl. etwa Zerbes (1880), S. 262; Kury (1883), S. 240. Zur Umsetzung ihrer Forderungen wurden von den Autoren teilweise elaborierte Vorschläge unterbreitet, welche sich partiell auch im Bereich der Normierung und Praxis der soldatischen Ernährung wiederfinden. Auf der Ebene der Beschaffung diskutierte man vor allem die Frage der effizienteren Nutzung der begrenzten finanziellen Mittel. So wurden hinsichtlich des Einkaufs etwa die Möglichkeiten des gemeinsamen Großeinkaufs und hinsichtlich der Produktion die Anlage eigener Gemüsegärten und der Betrieb eigener Fleischregien thematisiert. Auf der Ebene der Herstellung und Bearbeitung von Speisen wurden zum Teil detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie Speisen schmackhafter und nahrhafter zubereitet werden könnten. Vgl. etwa Anonym (1883); Brunner (1873); Freund (1913); Sander (1892); Johann Schöfer (1893), S.  47–57; Uexküll-Gyllenband (1875).

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welcher weder gekürzt noch substituiert werden durfte, wurde die Notwendigkeit des Fleischkonsums nicht diskutiert und seiner Steigerung keine Priorität zugeschrieben. Hingegen betonten mehrere Autoren den Wert pflanzlicher Nahrungsmittel, wie etwa Regimentsarzt Dr. Michaelis, der in seiner Argumentation für die »Natürlichkeit« der Mischkost feststellte: »[…] die Ansicht, dass die pflanzenreichen Stoffe keine Kraft geben, [ist] durchaus irrig, denn wir sehen Bauernfamilien des kräftigsten Schlages, welche nur zuweilen oder selten an ihrem Tische Fleisch finden.«22 Während die Zusammensetzung der Ernährung hinsichtlich der Nährstoffe zunächst nicht wesentlich debattiert wurde, lässt sich um die Jahrhundertwende eine beginnende Diskussion des erforderlichen Anteils von Protein und Fett in der Ernährung, und damit implizit der Höhe des Fleischkonsums, beobachten. So vertrat etwa Oberst Victor Tilschkert die Meinung, dass seit den Forschungen des Chemikers Justus von Liebig die Bedeutung von Kohlenhydraten und Fett unterschätzt würde und tierische Proteine für die Leistungsfähigkeit nur im geringen Umfang notwendig seien.23 Während von Seiten des Kriegsministeriums nach 1900 die Erhöhung des Anteils tierischer Proteine in der Ernährung angestrebt wurde, ist in der Zeitschrift Der Militärarzt eher eine beginnende Relativierung der Notwendigkeit eines hohen Fleischkonsums zu beobachten.24 Die Frage nach einer fleischreichen oder -armen Kost wurde in den militärwissenschaftlichen Zeitschriften primär im sozialen und kulturellen Kontext verortet und im Falle der Habsburgermonarchie auch in den regionalen Unterschieden. Während sich die Autoren im Militärarzt diesbezüglich auf kurze Verweise als Beleg für die unterschiedlichen Ernährungspräferenzen beschränkten, fanden in den Zeitschriften ÖMZ und Organ kulturhistorische Skizzen zur Verortung des Fleischkonsums Eingang. So sah Zerbes in seinem Vortrag in Hermannstadt die Art der Ernährung als eine Folge der sozialen Verhältnisse und schlussfolgerte nach einem Vergleich der verschiedenen Ernährungsweisen in der Geschichte: So entwickelt sich unsere Frage, ob der Mensch seine Nährmittel dem Pflanzenreiche allein oder auch dem Thierreiche entnehmen solle, zu einer reinen Culturfrage im strengsten Sinne des Wortes, die unbekümmert um den Streit, um die Zustimmung oder Verurtheilung wissenschaftlicher Gelehrter oder Nichtgelehrter, zu ihrem allgrößten Theile in den socialen Verhältnissen ihre Lösung findet.25 22 Michaelis: Conservation 2 (1862), S. 178. 23 Tilschkert vertritt die These, dass animalisches Eiweiß zur Erhaltung der physischen Leistungsfähigkeit nicht unbedingt notwendig sei. Vgl. Tilschkert (1899), S. 475–477, 480, 485–488. Zu Justus von Liebigs Forschungen und ihrem dominierenden Einfluss auf die Ernährungswissenschaft vgl. Mani (1976), S. 37. 24 So wurden unter anderem im Bericht von der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Breslau (1905) ausführlich die Thesen des Befürworters der vegetarischen Ernährung, Stabsarzt Dr. Sickinger, dargelegt. Vgl. Williger (1905), S. 9. Stabsarzt Dr. Heinrich Freund sprach sich wiederum für die Einführung eines fleischfreien Tages in der Woche aus. Vgl. Freund (1913), S. 124. 25 Zerbes (1880), S. 259.

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Während Zerbes die Ernährung also eher als Ausdruck der Lebensweise betrachtete – und damit stellvertretend für die Mehrheit der Autoren gesehen werden kann  –, nahm Regimentsarzt Dr. Julius Kury in seinem Vortrag in Temesvár einen Einfluss der Ernährung auf die soziale und kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft an. So brächte eine fleischreiche Kost »muthige, entschlossene, energische, widerstandsfähige Menschen« hervor, während eine pflanzenreiche Ernährung »Sanftmuth und Ruhe, aber auch Muth- und Kraftlosigkeit, Feigheit und geringe Widerstandsfähigkeit zur Folge hat«.26 Die naheliegende argumentative Verknüpfung der Notwendigkeit des täglichen Fleischkonsums der Soldaten mit Vorstellungen von Männlichkeit und Soldatentum wurde jedoch nicht hergestellt.27 Neben Fleisch wird vor allem Alkohol mit der soldatischen Konsumkultur verbunden und auch mit Vorstellungen von Männlichkeit assoziiert. Während in den Zeitschriften ÖMZ und Organ der soldatische Alkoholkonsum weitestgehend unbeachtet blieb, thematisierten ihn die Autoren des Militärarztes um die Jahrhundertwende, wobei sie die Argumente der Abstinenzbewegung aufgriffen.28 Die zeitgenössischen Erklärungsmuster deuteten den Alkoholkonsum als Folge mangelnder Ernährung und Langeweile, falscher medizinischer Vorstellungen über die Wirkungsweise von Alkohol und des Militärdienstes selbst, wobei ein übermäßiger Konsum bei Soldaten nicht konstatiert wurde und die Verknüpfung mit Vorstellungen eines soldatischen Habitus oder von Männlichkeit nicht beobachtbar ist.29 Wenngleich alkoholinduzierte physische und psychische Erkrankungen in den Artikeln teilweise ausführlich besprochen wurden, erachteten die Autoren die Folgeerkrankungen des Alkoholmissbrauchs aufgrund der vergleichsweise kurzen aktiven Dienstzeit (drei, ab 1912 zwei Jahre) nicht als ein akutes Problem.30 Jedoch entstehe durch eine degenerative Wirkung des Alkohols auf die 26 Kury (1883), S. 231. Dies sei auch die Ursache für die unterschiedliche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von Staaten: »Bekannt ist endlich die Energie und der ungemein rasche Cultur-Fortschritt der reichlich Fleisch consumirenden Bevölkerung der vereinigten Staaten Nordamerika’s, sowie der auffallende Abstand in physischer und geistiger Beziehung zwischen den hauptsächlich von Kartoffeln sich nährenden Bewohnern Irlands und der reichlich Fleisch essenden Bevölkerung Englands etc. etc.« Die Vorstellung eines Einflusses der Ernährung auf den Charakter von Individuen, aber auch auf jenen von Völkern und Nationen, verbunden mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, war nicht neu. Vgl. Wirz (1997), S. 440; Mani (1976), S. 41. 27 Dies überrascht, denn kulturhistorisch wird die Zuordnung des Fleisches zur männlichen Konsumkultur und Physiologie als besonders stark erachtet und ist des Weiteren mit der Vorstellung des Jägers und Kriegers verbunden. Vgl. Sandgruber (2004), S.  387–389; Setzwein (2004), S. 118–124 und S. 130–133; Wirz (1997), S. 440–443. 28 Eine Gegenposition zur kritischen Beurteilung des Alkoholkonsums nahm Regimentsarzt Dr. Michaelis ein. Für seine ausführliche Darlegung einer Notwendigkeit des Alkohols in der soldatischen Verpflegung und seiner Verwendung als Teil der Kriegsverpflegung vgl. Michaelis: Conservation 3 (1862), S. 268–275. 29 Vgl. etwa Anonym: Alkoholismus (1874), S. 130. 30 Vgl. Freund: Alkoholfrage 2 (1904); Zerbes: Alkohol 2 (1899); Zerbes: Alkohol 3 (1899); Zerbes: Alkohol 4 (1899). Der Alkoholkonsum wirke sich vor allem negativ auf die Disziplin aus und stehe so im Kontext von Disziplinarstrafen, Gerichtsverfahren sowie Kör-

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Nachkommenschaft, die unökonomische Nutzung des Ackerlandes wegen der Alkoholproduktion und die negative Wirkung auf Moral und Ethik der Menschen ein gesamtgesellschaftlicher Schaden durch den Alkoholkonsum.31 Regimentsarzt Dr. Heinrich Freund verknüpfte diese Argumentation direkt mit der allgemeinen Wehrpflicht: Er führte den Anstieg der Militäruntauglichkeit auf die Zunahme des Alkoholmissbrauchs zurück, wodurch die moralische und physische Leistungsfähigkeit der Armee herabgesetzt sei.32 Der übermäßige Alkoholkonsum wurde in dieser Interpretation zu einem die staatliche Sicherheit bedrohenden Akt stilisiert, welcher von der Armee eingedämmt werden müsse und das Engagement der Militärärzte fordere, die »im Alkohol einen Feind vor [sich haben], der [sie] noch viel dringender als andere Seuchen und andere Krankheitsursachen zum Kampfe herausfordert«.33 Jedoch wurde eine Alkoholabstinenz oder ein Verbot des Alkohols als unrealistisch erachtet, denn der »Gebrauch narkotischer Mittel ist ein Bedürfnis für den Menschen«, und »der Militärdienst braucht wegen seiner Strenge und Selbstverleugnung reaktiver Fröhlichkeit und des Vergessens und daher auch des Alkohols«.34 So wurde anstelle von Abstinenz Mäßigung propagiert: Der Alkoholkonsum sollte durch eine ausreichende Ernährung sowie die Steigerung des Tee- und Kaffeekonsums verringert werden. Zudem sollten die Soldaten sowohl über die gesundheitlichen Folgen als auch hinsichtlich veralteter medizinischer Vorstellungen der Leistungssteigerung durch Alkoholkonsum aufgeklärt werden.35 So wurden etwa die Truppenärzte des 3. Militärterritorialbezirks angewiesen, anlässlich der Belehrung über Krankheiten ebenso die »schädlichen Folgen des Alkoholmissbrauches in moralischer, disziplinärer und gesundheitlicher Beziehung in gemeinverständlicher Weise zu erörtern«.36 Dahingehend wurde auch die Instruktion für den Gesundheitsunterricht in den Mannschaftsschulen aus dem Jahr 1894 überarbeitet, wobei sich die Argumentationspunkte mit jenen in den militärischen Zeitschriften deckten; zudem wurden in dieses Dienstbuch erstmals ernährungsphysiologische Überlegungen aufgenommen.37 Die zahlreichen thematischen Parallelen zwischen militärwissenschaftlichen Zeitschriften und der Ebene der Regulierung legen ei-

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perverletzungen und Selbstmorden. Vgl. Freund: Alkoholfrage 2 (1904), S. 139; Zerbes: Alkohol 1 (1899), S. 33. Freund kam bei einer Untersuchung der Gerichtsverfahren und Disziplinarstrafen in seinem Regiment für das Jahr 1902 zu folgendem Ergebnis: Neun von 20 gerichtlich verfolgten Fällen und ein Drittel der Disziplinarstrafen (insg. 197) seien im Kontext eines übermäßigen Alkoholkonsums zu verorten. Vgl. Freund: Alkoholfrage 3 (1904), S. 158. Zerbes: Alkohol 5 (1899), S. 81. Vgl. Freund: Alkoholfrage 2 (1904), S. 140. Zerbes: Alkohol 5 (1899), S. 83. Freund: Alkoholfrage 3 (1904), S. 159 und S. 158. Vgl. Anonym: Alkoholismus (1874), S. 131; etwa auch in der Zeitschrift Organ: Zerbes (1880), S. 271. ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 24, 16.3.1910, MA 2355 K. Vgl. Instruktion (1894), S. 5–11; Instruktion (1909), S. 10–21.

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nen Einfluss wissenschaftlicher Überlegungen auf die Ebene der Normierung soldatischer Kost nahe. Zudem zeigt sich im Bereich der Ernährung deutlich das Konzept der allgemeinen Wehrpflicht als ›Schule des Volkes‹ und hier weniger in der Vermittlung abstrakter bürgerlicher Werte, sondern in jener von Primärkompetenzen. Normierung der Ernährung: Regulierung und Organisation Im Bereich der Normierung sind sowohl das Bemühen nach einer qualitativen und quantitativen Verbesserung der soldatischen Ernährung als auch der Einfluss wissenschaftlicher Überlegungen zu beobachten. Während vor 1900 primär Maßnahmen zur substantiellen Verbesserung der Ernährung gesetzt wurden – Einführung eines Frühstücks (1884) und Abendessens (1899), Reorganisation der Marketendereien (Kantinen) in den Kasernen für den preisgünstigen Verkauf von Speisen und Getränken (1877), Veröffentlichung eines Normal-Kochbuchs (1880) zur Verbesserung der Zubereitung von Speisen und Regulierung der Ausbildung von Köchen  –, lag nach 1900 der Fokus der Bemühungen auf der Verbesserung der Zusammensetzung der Ernährung. Dienstbücher, interne Verwaltungsvorschriften und Erlässe eröffnen die Perspektive der Regulierung und Organisation der soldatischen Kost auf der Ebene der Normierung.38 Während eine Verpflegung durch die Heeresverpflegsanstalten nur für Kriegszeiten vorgesehen war, oblag die Versorgung der Soldaten in Friedenszeiten den Truppenkörpern als autonomen Wirtschaftskörpern.39 Der materielle Anspruch der Soldaten bestand in einer täglichen Brotration von 840 g und einer Kostgebühr, in der Garnison in Form des Menagegeldes40; dieses wurde nicht ausbezahlt, sondern von den Unterabteilungskommandanten einbehalten und verwaltet. Die Höhe des Menagegeldes wurde auf Basis des Normalküchenzettels ermittelt, welcher als wöchentliche Ernährung 190 g Rindfleisch (täglich), 190 g Weizenkochmehl (zweimal wöchentlich), 140 g Hülsenfrüchte (zweimal wöchentlich), 140 g Gerstengraupen, 280 g Sauerkraut (oder saure Rüben), 560 g Erdäpfel, 2 cl Essig (zweimal wöchentlich), 20 g Sudsalz oder 15 g Steinsalz (täglich), 10 g Schweineschmalz oder 20 g Kernfett, 10 g Zwiebeln oder Knoblauch oder 0,5 g Pfeffer vorsah.41

38 Die Regelung der Ernährung erfolgte durch grundsätzliche Bestimmungen im Dienstreglement, den im Gebührenreglement festgelegten Verpflegsansprüchen und ihre Umsetzung durch die Verpflegsvorschriften. Während sich diese grundsätzlichen Bestimmungen im Untersuchungszeitraum kaum änderten, erfolgten aktuelle und punktuelle Anpassungen und Empfehlungen durch Erlässe des Kriegsministeriums, insbesondere durch die Abteilung 12 (Verpflegssachen). 39 Vgl. Vorschrift (1884), 1. Teil, I. Hauptstück, § 2. 40 Menage bezeichnet die soldatische Speisegemeinschaft, vor allem die gemeinschaftlich bereitete Kost. Vgl. Schreiber (1914). 41 Vgl. Gebührenvorschrift (1895), I. Teil, 2. Hauptstück, § 28.

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Der Normalküchenzettel diente als Grundlage zur Berechnung des Menagegeldes, war jedoch in seiner Zusammenstellung – mit Ausnahme der täglichen Fleischportion von 190 g – nicht bindend. Die Höhe des Menagegeldes wurde monatlich für jeden Garnisonsort anhand der üblichen Ortspreise der Nahrungsmittel (mittlerer Qualitätsstufe) im Kleinverschleiß ermittelt.42 Die Normierung eines qualitativen und quantitativen Ernährungsumfangs mit der Option der Substitution anstelle einer festgelegten monetären Gebührenhöhe wirkte sich auf die Ernährung der Soldaten vorteilhaft aus: Erstens wurde eine größere Unabhängigkeit gegenüber Preisschwankungen erreicht sowie eine erhöhte Flexibilität gegenüber regionalen Unterschieden innerhalb der Monarchie. Dies verhinderte, dass Soldaten aufgrund der unterschiedlichen Preisniveaus etwa in Wien eine geringere Fleischportion als in peripher gelegenen Garnisonen erhielten. Aber nicht nur die Preise von Lebensmitteln variierten zwischen den Garnisonsorten, sondern auch ihre Verfügbarkeit – einzelne Lebensmittel wie etwa Schafskäse oder Leinöl waren nicht in allen Regionen der Habsburgermonarchie marktgängig. Zugleich bot das Vorgehen einen Schutz vor Inflation und plötzlichen Preisanstiegen, so dass die Ernährung der Soldaten von der wirtschaftlichen Entwicklung, wie etwa infolge der Missernten 1909/10, die in Wien in den Septemberunruhen von 1911 kulminierten43, relativ unabhängig war. Zweitens ermöglichte dieses System durch einen rationellen Einkauf der Lebensmittel – Auswahl der Nahrungsmittel abhängig vom Marktpreis und preiswerter Einkauf bei Großhändlern, Produzenten und Genossenschaften – eine Versorgung über den normierten Ernährungsumfang hinaus. Der Einkauf der Nahrungsmittel erfolgte in größeren Garnisonsorten durch Zentralmenagewirtschaften. Während sich ihre Funktion primär auf die preiswerte Bereitstellung der Verpflegsartikel für ihre Mitglieder – die vor Ort stationierten Truppenkörper – beschränkte44, oblag den Menagewirtschaften der Truppenkörper die konkrete Ausgestaltung der Verpflegung, wie etwa die Zusammenstellung der Speisepläne. Mitglieder der Menagewirtschaften auf der Ebene der Truppenkörper waren unter anderem die gewählten Vertreter 42 Vgl. Vorschrift (1884), 1. Teil, I. Hauptstück, § 5, und XIII. Hauptstück, § 490 und § 494; Gebührenvorschrift (1895), I. Teil, 2. Hauptstück, § 28, Punkt 2. 43 Vgl. Maderthaner/Musner (2000), S. 17–37; Maderthaner/Mattl (1986). Festgesetzte monetäre Gebühren führten immer wieder zu Problemen bei der ausreichenden Ernährung der Soldaten. Vgl. etwa für Kursachsen im 18. Jahrhundert Kroll (2006), S. 282; für Österreich-Ungarn bis zur Einführung der flexiblen Form im Jahr 1846 Tepperberg (1987), S. 92. 44 Die Einführung des ›Einkaufes en gros‹ im Jahr 1865 löste die früher übliche Organisation der Menage auf Ebene der Unterabteilung ab. Zur Verbesserung des Systems wurden ab 1875 in größeren Garnisonsorten Zentralmenagewirtschaften, welche die Selbständigkeit der Menagewirtschaften auf der Ebene der Truppenkörper nicht aufhoben, gebildet. Vgl. Reskript, Abt. 12, Nr.  3461, 28.12.1875, zit. n. Rubin: Normaliensammlung  1 (1913), Nr. 4639; Erlass, Abt. 12, Nr. 575, 30.3.1877, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4641. Als Beispiel für die Organisation einer Zentralmenagewirtschaft vgl. Statuten (1902).

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des Mannschaftsstandes, sie sollten die Wünsche der Soldaten einbringen.45 Die Durchführung der Menage und die Verwaltung der Gelder oblagen der Menagegemeinschaft auf der Ebene der Unterabteilung. Durch den zentralisierten Einkauf sowie gegebenenfalls die Bestellung oder den Betrieb von Gemüsegärten und Schlachtereien46 konnten die Unterabteilungen Menageersparnisse bilden, welche wiederum für die Verbesserung der täglichen Ernährung, höherwertige Speisen an Feiertagen und zusätzliche Nahrung bei Übungen verwendet wurden47. Die Menageersparnisse variierten selbst innerhalb eines Truppenkörpers deutlich, so lagen sie etwa im Infanterieregiment Nr. 27 (Ergänzungsbezirk Graz) im Mai 1890 zwischen 57,52 fl. (10. Kompanie) und 128,62 fl. (11. Kompanie).48 Diese Unterschiede verweisen auf den nicht unerheblichen Einfluss der Truppenoffiziere auf die Ausgestaltung der Ernährung der Soldaten und belegen, dass sich diese selbst innerhalb von Truppenkörpern unterschied. Die Zubereitung der Speisen erfolgte kompanieweise durch Soldaten ohne Dienstgrad.49 Um ihre Qualität zu verbessern, drängte das Kriegsministerium Mitte der 1870er Jahre auf eine systematische Ausbildung der Köche, damit sie »wirtschaftlich, schmackhaft und darum nahrhaft zu kochen« lernen50: Die Soldaten sollten sich nicht mehr nur gegenseitig anlernen, sondern auch von den Marketendern ausgebildet werden51. Zur weiteren Verbesserung der Qualität der Zubereitung wurde 1880 ein Normal-Kochbuch herausgegeben, mit 45 Im Infanterieregiment Nr. 27 wurde auf der Ebene des Bataillons pro Charge ein Vertreter gewählt; aus den gewählten Soldaten wurde pro Charge ein Vertreter in die Menagekommission berufen, während die Übrigen als Ersatzmänner fungierten und bei größeren Beratungen beigezogen werden sollten. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/183, Statuten für die Ausführung des Menage-Einkaufes im Großen (IR27), 12.6.1880, § 3. 46 Berichte über und Hinweise auf Gemüsegärten und Schlachtereien von Truppenkörpern bzw. in Garnisonsorten finden sich sowohl in den administrativen Quellen als auch in den militärischen Zeitschriften, wenngleich das Ausmaß ihrer Verbreitung unklar bleibt. Vgl. etwa Statuten (1902), § 8; Uexküll-Gyllenband (1875); Brunner (1873); C. v. H. (1876). So sahen auch die Statuten der Menagewirtschaft des Infanterieregiments Nr. 27 den Betrieb eines eigenen Gemüsegartens vor, und für die Station Graz war die Errichtung einer eigenen Fleischregie geplant, welche jedoch – vermutlich aus wirtschaftlichen Überlegungen – nicht durchgeführt wurde. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/183, Statuten für die Ausführung des Menage-Einkaufes im Großen (IR27), 12.6.1880, § 12; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/59, Reserve-Commando-Separat-Befehl (IR27), Nr. 6, 17.6.1877. 47 Die Menageersparnisse mussten als materieller Rechtsanspruch der Soldaten bis zum Mannschaftswechsel im Herbst aufgebraucht werden. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/70, Schreiben des 2. Bataillons an das Regimentskommando (IR27), 29.9.1890. 48 Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/96, Offiziersbefehl (IR27, 4. Feld-Batallion), Nr.  2, 2.6.1890. Ebenso in den Jahren 1896 und 1900, vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/266, Dienstzettel, Jänner 1896; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/353, Dienstzettel, 28.1.1900. 49 Vgl. Dienst-Reglement (1873), 1. Teil, VI. Abschnitt, § 30, Punkt 236  – ein Umstand, der hinsichtlich der Qualität der Zubereitung Skepsis hervorrief. Vgl. Anonym (1867), S. 261; Freund (1913), S. 122. 50 Reskript, Abt. 12, Nr.  3461, 28.12.1875, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4639. 51 Vgl. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4641.

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detaillierten und erklärenden Kochanleitungen, deren Fokus vor allem auf der »schmackhaften« Zubereitung der Speisen lag.52 Wenngleich von einzelnen Truppenkörpern und Militärstationen ähnliche Initiativen gesetzt wurden, dürfte das tradierte Kochen ohne Anleitungen dominierend gewesen sein, wodurch die mögliche Herausbildung bzw. das Fortbestehen einer individuellen Truppenküche befördert wurde.53 Die flexible Normierung der Ernährung erlaubte nicht nur die Adaption an die regionalen Unterschiede in der Habsburgermonarchie, sondern auch hinsichtlich der Heterogenität innerhalb der gemeinsamen Armee. Beide Aspekte, ergänzt um gesundheitliche Überlegungen, waren die zentralen Einflussfaktoren für die Ernährung der Soldaten: [Das Menagegeld ist] den örtlichen Verhältnissen entsprechend zu verwenden. Bei der Wahl der Nahrungsmittel ist nicht nur den Neigungen der Mannschaft, sondern vorwiegend auch den mit Rücksicht auf die sanitären Verhältnisse gestellten Anträgen der Militär-Aerzte Rechnung zu tragen, und es müssen sich die Truppen- und Abtheilungs-Kommandanten hierin unter angemessener Belehrung der Soldaten den entscheidenden Einfluss vorbehalten.54

Dieser zentrale Passus des Dienstreglements formulierte das für die Organisation und Durchführung der Ernährung leitende Prinzip, das nicht nur die faktischen Gegebenheiten anerkannte, sondern den Einfluss der Ernährungspräferenzen auf die Ausgestaltung der Ernährung bestätigte. Zudem war ebenfalls die Berücksichtigung religiöser Gebräuche der Soldaten vorgesehen, indem Einzelpersonen für die betreffenden Tage das Menagegeld bar ausgezahlt werden sollte.55 Jedoch zeigten sich hinsichtlich der Religionsgemeinschaften unterschiedliche Vorgehensweisen: Soldaten islamischen Glaubens führten eigene Menagegemeinschaften, und Feldimame kontrollierten die Einhaltung der Speisevorschriften. Ebenso waren für sie in den Kasernengebäuden – so zumindest in Graz – Kaffeehäuser augenscheinlich als Äquivalent zu den Marketendereien eingerichtet.56 Diese organisatorische Sonderstellung war durch die Bildung religiös homogener Unterabteilungen bei Truppenkörpern aus Bosnien-Herzegowina möglich. Dagegen wurde im Jahr 1874 das 52 Vgl. beispielsweise die Anleitung für grünen Salat: »Ist Schnittlauch erlangbar, so ist etwas davon klein zu schneiden und auf den Salat zu streuen, wodurch dessen Aussehen und Geschmack gewinnt.« Normal-Kochbuch (1880), S. 33. 53 Bereits vor dem Normal-Kochbuch wurde von der Garnisons-Menage-Kommission in Budapest eine Instruktion für die Bereitung der Mannschaftsmenage verfasst, welche durch ein Reskript allgemein bekanntgemacht wurde. Johann Schöfer wiederum verfasste im Jahr 1903 ein Militärkochbuch mit einer stärkeren ernährungsphysiologischen Perspektive. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/183 und 388, Reskript, Abt. 12, Nr.  3461, Beilage des Regiments-Separat-Befehls (IR27), Nr.  6, 27.2.1876; ÖStA/KA/ Terr., Befehle, Kt. 35, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 17, 1.5.1903, J 2578. 54 Dienst-Reglement (1873), 1. Teil, VI. Abschnitt, § 30, Punkt 233 (Hervorhebung durch die Autorin). 55 Vgl. Dienstreglement (1904), 1. Teil, VI. Abschnitt, § 30, Punkt 239. 56 Vgl. etwa ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 34, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr.  20, 10.5.1896, MA 2656; ÖStA/KA/Terr., GKG, Mba, TR, Kt. 30, Linear-Skizze der neuen Dominikanerkaserne in Graz.

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Ansuchen einer jüdischen Kultusgemeinde in Galizien zur Einrichtung einer gesonderten Menage für jüdische Soldaten mit der Begründung abgelehnt, dass dies nur bei einer ausreichenden Anzahl betroffener Soldaten eines Truppenkörpers und abhängig vom Kasernengebäude möglich sei.57 Für Soldaten römisch-katholischen Glaubens verkündete der apostolische Feldvikar jährlich in einem Hirtenbrief einen Dispens für alle Fasttage und Abstinenztage bis auf den Karfreitag und den 24. Dezember.58 Die verschiedenen Einflussfaktoren  – regionale Verhältnisse und Ernährungspräferenzen – behinderten eine Dominanz von gesundheitlichen Überlegungen auf dem Gebiet der Ernährung. So strebte das Kriegsministerium etwa ab 1905 eine Steigerung des Konsums von Milchprodukten an, unterließ jedoch letztlich eine einheitliche Regulierung aufgrund der »Verschiedenheit der Produktions- und Preisverhältnisse, dann der Geschmacksrichtung der Mannschaft«.59 Der materielle Rechtsanspruch der Soldaten, wodurch nur mit ihrer Zustimmung über das Menagegeld verfügt werden konnte, erschwerte die Durchsetzung ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse.60 So sollten die Soldaten über gesundheitliche Überlegungen bei der Zusammenstellung der Menage belehrt werden, wobei der grundlegende Einfluss auf die Ernährung der Soldaten und die zweckmäßige Verwendung des Geldes durch den Menagezwang – gemeinsames Menagieren in der Kaserne – gesichert wurde. Ernährungspraxis: Frühstück, Mittag- und Abendessen Infolge der Flexibilität bei der Normierung im Bereich der Ernährung sowie der Autonomie der Truppenkörper und ihres Gestaltungsspielraums ist für die Darlegung der Ernährungspraxis im österreichisch-ungarischen Heer vor allem die faktische Ausgestaltung des Frühstücks, Mittag- und Abendessens auf der untersten Ebene der Truppenkörper entscheidend. Exemplarisch wird hierzu das Verwaltungsschriftgut des 27. Infanterieregiments und 3. Korpskommandos (Herzogtümer Kärnten, Steiermark und Krain sowie das sog. Küstenland – Görz und Gradisca, Triest und Istrien) herangezogen als auch die in der zeitgenössischen Studie von Hans Schöfer (1889) abgedruckten Menageaufzeichnungen, um in einer vergleichenden Perspektive zwischen den Truppenkörpern die Rolle der Ernährungspräferenzen zu beleuchten.61 57 Vgl. Tepperberg (1987), S. 103. 58 Vgl. etwa ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 35, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr.  9, 15.12.1901, MA 893. 59 Vgl. ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Erlass, Abt. 12, Nr. 2089, 26.8.1909, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 74, 14.9.1909, J 9755 (k). 60 Vgl. Erlass, Abt. 11, Nr.  21, 12.2.1898, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 2852. 61 Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 21–128. Für seine Studie berücksichtigte Schöfer 715 Menagezettel (Aufzeichnung der Menage eines Tages) verschiedener Truppenkörper aus dem Jahr 1888. Zur Untersuchung der Ernährungspraxis wurden die Aufzeichnungen von 48 Unterabteilungen (jeweils sieben oder 14 Tage) herangezogen. Auswahlkriterien

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Anton Kowatsch aus Leopoldskirchen/San Leopoldo Laglesie im Kanaltal/Val Canale, im Jahr 1876 in das 2. Genieregiment (Krems) eingerückt, schilderte in seiner Autobiographie die prekäre Situation der Soldaten vor der Einführung des Frühstücks und der Abendmahlzeit: Das Essen war erst am nächsten Tag um 12 Uhr mittags, weil dazumal nur einmal zu essen war. Wer kein Geld in der Tasche hatte, der konnte volle 24 Stunden warten. Was war nachher das Essen, wenn er so ausgehungert war  – er hat ja leicht zwei Menage weggegessen. Das Essen war zwar nicht schlecht, war in Suppe eingekochtes Fleisch und Zuspeise und ein Laib Kommissbrot alle Tage. Für mich war es genug, weil ich Geld gehabt habe und mir etwas zum Frühstück und zum Nachtmahl gekauft habe. Aber wer nichts hatte, sondern nur Mittagessen, der hat oft die Sterne gesehen bei Tag.62

Beschränkt auf eine Mittagsmahlzeit und 840 g Roggenbrot täglich63, waren die Soldaten unzureichend verpflegt  – Brotzubußen wurden nur vorübergehend im Einzelfall genehmigt, und die Löhnung war gering64. Zugleich war eine familiäre Unterstützung, wie etwa durch Lebensmittelpakete und Geldsendungen, nur für einen Teil der Soldaten möglich.65 Als erste Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährung wurden 1877 die Marketendereien in den Kasernen reorganisiert, deren Pächter vertraglich verpflichtet wurden, Esswaren und Getränke zu niedrigeren Preisen als in den umliegenden Geschäften und Lokalen zu verkaufen.66 Die mangelhafte Ernährung wurde aber auch hinsichtlich des Alkoholkonsums der Soldaten kritisch bewertet: So beklagte etwa Zerbes, dass Soldaten als Frühstücksersatz Spirituosen konsumierten, wiewohl die Verbreitung

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waren: Waffengattung Infanterie, gemeinsame Armee (unberücksichtigt: Landwehr), in Garnison (unberücksichtigt: Manöver, Bosnien und Herzegowina). Die ethnische Zuordnung der Unterabteilungen auf Basis der Mehrheit der Soldaten wurde von Schöfer übernommen. Die im folgenden Teil des Beitrages dargelegten Charakteristika in der Ernährung der Soldaten nach Truppenkörper basieren auf der Auswertung dieser ausgewählten Aufzeichnungen. Zit. n. Hämmerle (2012), S. 107. Die Qualität, Verträglichkeit und vor allem Schmackhaftigkeit des Militärbrotes wurde immer wieder debattiert. Im Allgemeinen wurde festgestellt, dass Soldaten je nach sozialer und regionaler Herkunft im ersten Dienstjahr mit dem Brot durchaus zufrieden seien und auch Brotzubuße verlangten, in ihrer späteren Dienstzeit das Brot jedoch zur Finanzierung von besserem Brot verkauften. Vgl. Anonym (1883); Lawner (1905); Johann Schöfer (1893), S. 42. Erst im Jahr 1911 wurde das Brot qualitativ verbessert und hierzu die Menge auf 700 g verringert. Vgl. Erlass, Abt. 12, Nr. 3281, 31.10.1911, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 7843. Im Jahr 1912 erhielt etwa ein Soldat ohne Mannschaftsgrad eine Löhnung von 16 Hellern. Vgl. Erlass 4264, Abt. 11, 1910, vermerkt in: Gebührenvorschrift (1895), I. Teil, 2. Hauptstück, § 27. Dies dürfte eine übliche Praxis im Falle der Stationierung außerhalb des Heimatortes gewesen sein. Vgl. für das Infanterieregiment Nr. 27 die tägliche Auflistung von einlangenden Geldsendungen und Paketen in den Regimentskommandobefehlen des Jahres 1909: ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/219. Vgl. Erlass, Abt. 12, Nr.  575, 30.3.1877, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4641; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/59, Bestimmungen über die Sicherstellung, Ausführung und Überwachung des Marketenderei-Betriebes in den aerarischen Kasernen.

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dieser Gewohnheit unklar bleibt.67 Wenngleich es bereits in den 1870er Jahren bei einzelnen Truppenkörpern üblich war, aus den Menageersparnissen eine Einbrenn- oder Kümmelsuppe als Frühstück zu finanzieren, erfolgte die generelle Einführung eines Frühstücks durch zusätzliche finanzielle Mittel erst im Jahr 1884 in Form einer Frühstückssuppe (50 cl), bestehend aus 26 g Weizenmehl, 10 g Schmalz, 1,5 g Kümmel und Salz, wobei auch hier eine Substitution möglich war.68 So wurde im Jahr 1888 jeweils in der Hälfte der Truppenkörper schwarzer Kaffee bzw. Einbrennsuppe, davon ein Viertel mit einer Suppeneinlage wie Gries oder Reis, als Frühstück ausgegeben. Jedoch zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Truppenkörpern: Während Soldaten aus Ergänzungsbezirken mit mehrheitlich deutsch-, tschechisch- und slowenischsprachiger Bevölkerung in zwei Dritteln der Fälle schwarzen Kaffee als Frühstück konsumierten, war dies bei jenen aus Regionen mit mehrheitlich ungarischer, rumänischer und serbo-kroatischer Bevölkerung bzw. aus Oberungarn (Slowakei) nur bei weniger als einem Drittel der Fall.69 Die generelle Einführung von Kaffeekonserven als Frühstück im Jahr 1904 aufgrund der »vielfachen Klagen gegen die Bekömmlichkeit der Suppenkonserven«70 kann somit auch als ein Indiz für eine generelle Veränderung von Geschmackspräferenzen innerhalb der Habsburgermonarchie gewertet werden71. Zur Verbesserung der Ernährung der Soldaten wurde in den militärischen Zeitschriften die Ausgabe eines zumindest bescheidenen Abendessens angemahnt und Beispiele zur Umsetzung und Finanzierung mittels Menageersparnissen unterbreitet. Diesbezügliche systematische Versuche, veranlasst durch das Kriegsministerium im Jahr 1895, verliefen jedoch nicht erfolgreich, wobei die Berichte der einzelnen Kompanien des Infanterieregiments Nr.  27 über diesen Versuch deutlich das unterschiedliche Interesse und Engagement der einzelnen Offiziere bei der Frage der Ernährung der Soldaten aufzeigen.72 67 Vgl. Zerbes (1880), S. 271. 68 Vgl. Gebührenvorschrift (1895), I. Teil, 2. Hauptstück, § 28, Punkt 1. 69 Vgl. Anmerkung 61. Als Alternative zu schwarzem Kaffee und Einbrennsuppe wurde bei zwei Unterabteilungen mit mehrheitlich polnisch-ruthenischen Soldaten Milch ausgegeben. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 54 und S. 60. 70 Eine Kaffeekonserve bestand pro Portion (23 g) aus 3,01 g Bohnenkaffee, 12,08 g Zucker, 5,02 g Gerstenkaffee und 3,04 g Feigenkaffee. Bei diesen »neuen« Kaffeekonserven wurde der Anteil von Zucker, Bohnen- und Gerstenkaffee erhöht, wobei man ausdrücklich betonte, dass bei der Zuckermenge den »vielseitig geäusserten Wünschen der Truppen Rechnung getragen« wurde. Tatsächlich dürfte es bezogen auf den Geschmack der Soldaten eher die Mindestanforderung gewesen sein; so legen die Menagezettel bei Hans Schöfer (1889) eine Zuckerportion von 15 bis 35 g nahe. 1909 wurden Kaffeekonserven, die aus 13 g Zucker, 6 g Bohnenkaffee und 4 g Feigenkaffee bestanden, erprobt. Vgl. ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 35, Erlass, Abt. 12, Nr.  1741, 8.8.1904, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK) Nr. 39, 15.8.1904, J 6437; ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Erlass, Abt. 12, Nr. 1332, 1909, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 28, 30.4.1909, J 4759. 71 So stieg etwa der Pro-Kopf-Verbrauch von Bohnenkaffee zwischen 1870 und 1910 von 0,74 auf 1,14 kg in der österreichischen Reichshälfte. Vgl. Sandgruber (1982), S.  197, Tabelle 40. 72 Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/318.

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Aufgrund der schwierigen Finanzierung dürfte die Ausgabe eines Abendessens vor seiner Normierung im Jahr 1899 nur bei sehr wenigen Truppenkörpern üblich gewesen sein.73 Als Speisen waren Suppen, Gemüse- oder Mehlspeisen oder frisches Gemüse vorgesehen.74 Es wurden aber auch Kaffeekonserven zubereitet, welche gegenüber den Gemüsekonserven bei den Soldaten beliebter waren, jedoch vom Kriegsministerium aufgrund des Nährwertes kritisch beurteilt und abgelehnt wurden. Erst im Jahr 1911 wurde es freigestellt, als Nachtmahlkonserven anstelle der Gemüse- ausschließlich Kaffeekonserven auszugeben.75 Hinsichtlich einer möglichen Speisenzusammenstellung sei exemplarisch auf den Speisezettel des Infanterieregiments Nr. 27 für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 1908 verwiesen76: Montag: Fisolensuppe mit Nudel oder Einbrenn- oder Erdäpfelsuppe Dienstag: Gemüse- oder Kaffeekonserven Mittwoch: Erdäpfel- oder Einbrennsuppe Donnerstag: Erbsen-, Fisolen-, Gersten- oder Gulyassuppe Freitag: Gemüse- oder Kaffeekonserven Samstag: Lingerl-, Fleck- oder Einbrennsuppe Sonntag: Kaffee

Auch nach der Einführung des Frühstücks und Abendessens blieb das Mittagessen die Hauptmahlzeit des Tages und bestand zumeist aus einer Fleischsuppe mit Einlage, gekochtem Rindfleisch und einer Zuspeise. Bei den Zuspeisen wurde unterschieden zwischen Gemüse, wozu auch Erdäpfel gezählt wurden, grünem Gemüse (etwa Sauerkraut, saure Rüben, Salat) und Mehlspeisen, wobei der Begriff Mehlspeise noch nicht auf die süßen Mehlspeisen verengt war. Ein Speisezettel des Infanterieregiments Nr. 27 für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1908 sah beispielsweise täglich Rindfleisch und an jedem zweiten Sonntag Selchfleisch vor. Rindfleisch- bzw. Selchfleischsuppe, als Nebenprodukt der Fleischzubereitung, wurde mit oder ohne Reis, Gries, Nudeln oder Graupen gereicht. Als Zuspeise waren vorgesehen77: 73 Beispiele finden sich etwa bei Hans Schöfer (1889), S. 84 und S. 115; Johann Schöfer (1893), S. 39 und S. 47; Schorr: Ernährung 1 (1897), S. 84; Schorr: Ernährung 4 (1897), S. 142. 74 Vgl. Tepperberg (1987), S. 100. 75 Vgl. ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Erlass, Abt. 12, Nr. 1525, 30.5.1911, verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 56, 9.6.1911, J 6508. 76 ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/377, Beilage zum Regimentskommandobefehl (IR27), Nr. 39, 8.2.1908. Zum Vergleich: Der Speisezettel des Infanterieregiments Nr. 51 (Ergänzungsbezirk Klausenburg) sah für den Zeitraum vom 10. bis 16. November 1895 folgende Abendessen vor: Fleischgemüse-Konserven (zweimal), Maismehl mit Käse, gesäuerte Erdäpfel, Einbrennsuppe, Bohnen, Kraut und Erdäpfel. Vgl. Schorr: Ernährung 1 (1897), S. 83. 77 ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/377, Beilage zum Regimentskommandobefehl (IR27), Nr. 39, 8.2.1908.

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Elisabeth Berger Montag: eingebrannte Erdäpfel, Fisolen oder Linsen, saure Erdäpfel oder Fisolen, später grüner Salat Dienstag: Erdäpfelnudel, Powidlnudel, Bröselnudel oder abgeschmalzene Knödel Mittwoch: Grenadiermarsch oder Grieszweckerl Donnerstag: Powidlnudel, Leberreis oder Zuckermais Freitag: saure Fisolen, Erdäpfel, Linsen oder Krautsalat, eingebrannte Erdäpfel oder Fisolen, grüner Salat Samstag: Semmelknödel mit Zwiebelsauce, Erdäpfelnudel oder Bröselnudel Sonntag: Powidltalken, Schmarren, Reiskrapfen, Zwetschkentalken oder Schinkenfleckerl

Dass an jedem Tag mehrere Zuspeisen möglich waren, erhöhte die Flexibilität: Einerseits konnte damit auf aktuelle Marktpreise von Lebensmitteln reagiert werden, andererseits ermöglichte es zumindest eine, wenn auch geringfügige, Abwechslung in der wöchentlichen Kost der Soldaten trotz dreimonatiger Gültigkeit des Speiseplanes sowie eine Adaption der Speisen an die Ernährungspräferenzen der Soldaten einer Kompanie. So konnten sich selbst die Menagen innerhalb eines Truppenkörpers unterscheiden – wohl ein Hauptgrund für die teils erheblichen Unterschiede in der Höhe der Menageersparnisse einzelner Kompanien innerhalb eines Regiments. Die Zuspeise sollte laut Normal-Kochbuch »[…] die in der Kost nötige Abwechslung bieten und den von Haus aus an größere Speisemengen gewöhnten Soldaten auch sättigen; sie muß daher in einer der nationalen Geschmacksrichtung der Mannschaft zusagenden Weise bereitet sein, damit sie gerne genossen wird […].«78 Als Portionsgröße der Zuspeise wurden etwa bei Salat 1 bis 1,5 Häuptel pro Person veranschlagt bzw. kann bei gekochtem Gemüse eine Portionsgröße von 50 cl angenommen werden.79 Dass die »nationalen Geschmacksrichtungen« der Soldaten berücksichtigt wurden, zeigen die in Schöfers Studie von 1889 abgedruckten Menagezettel und belegen zugleich die teilweise erheblichen Unterschiede in der Kost der Soldaten. So wurden etwa in Unterabteilungen aus mehrheitlich tschechischsprachigen Ergänzungsgebieten durchschnittlich an beinahe zwei Dritteln der Tage Knödel, oft kombiniert mit Zwetschken-, Dillen- und Zwiebelsauce sowie Sauerkraut als Zuspeise, gereicht.80 Zudem finden sich in verschiedenen Menagen landesübliche Gerichte, wie etwa in mehrheitlich polnisch-ruthenischen Unterabteilungen Barszcz, Pączki, Topfennudeln, Pirogen gefüllt mit Topfen und Mamaliga mit Topfen.81 78 79 80 81

Normal-Kochbuch (1880), S. 7. Vgl. Normal-Kochbuch (1880), S. 33, und Johann Schöfer (1892), S. 311. Vgl. Anmerkung 61. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 53–62. Die Speisepläne dieser Unterabteilungen zeichnen sich auch durch einen häufigeren Gebrauch von Milchprodukten aus, welche sich in Form von Milchreis und -gries sowie Topfennudeln, -täschchen und -haluschken häufig in der Menage von Truppenkörpern aus Oberungarn finden. Landesübliche Speisen in mehrheitlich ungarischen Unterabteilungen sind neben dem Gulasch ebenso Topfennudeln und -fleckchen sowie Lekvárnudeln und -täschchen. Lekvárnudeln und Lekvárgombócz sind wie Mamaliga, Polenta, Palatschinken, Schafskäsenudeln und Turtie charakte-

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Jedoch ist die Begrifflichkeit »nationale Geschmacksrichtung« eher im Sinne von regionalen Kochtraditionen aufzufassen. So finden sich etwa tschechischsprachige Unterabteilungen, bei denen Knödel nahezu täglich als Zuspeise gereicht wurden, aber auch solche ohne diese charakteristische Zuspeise. Auch ist der Speiseplan des Infanterieregiments Nr. 27 für ein deutschsprachiges Regiment eher untypisch und würde aufgrund der Powidl- und Zwetschkengerichte eher zu tschechischsprachigen Truppenkörpern passen. Zudem waren süße Mehlspeisen insgesamt für deutschsprachige Truppenkörper wie für serbo-kroatische und polnisch-ruthenische eher untypisch und häufiger in der Menage von Unterabteilungen mit mehrheitlich tschechischund rumänischsprachiger Mannschaft bzw. aus Ergänzungsbezirken Oberungarns oder slowenisch-italienischer Gebiete.82 Was die Fleischgerichte betrifft, war die primäre Zubereitungsart des Fleisches das Kochen, und nur äußerst selten finden sich Alternativen, wie etwa Fleischlaibchen oder Eintopfgerichte bei mehrheitlich tschechisch- bzw. rumänischsprachigen Truppenkörpern.83 Als Fleischsorte dominierte eindeutig Rindfleisch, wohl auch aus finanziellen Überlegungen – so waren die Portionen bei anderen Fleischsorten teilweise bis zu 80 g geringer.84 Abgesehen vom Gulasch, das häufig mit Schweine- und Rindfleisch kombiniert zubereitet wurde, finden sich sehr selten Schweine-, Selch- und Kalbsfleischgerichte in der Menage, und dies vornehmlich bei mehrheitlich tschechisch-mährischen, rumänischen und deutschen Truppenkörpern.85 Hinsichtlich der Größe der Fleischportionen zeigen sich zum Teil erhebliche Unterschiede – so variierte die Portionsgröße bei Rindfleisch von 139 g bis 306 g86, wenngleich zumeist 200 g erreicht wurden87. Größere Fleischportionen können am häufigsten bei mehrheitlich ungarischen und rumänischen Truppenkörpern beobachtet werden, während mehrheitlich slowenisch-italienische, serbo-kroatische Unterabteilungen sowie jene aus Oberungarn und ein Teil der mehrheitlich

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ristisch für die Menage mehrheitlich rumänischer Truppenkörper. Bei den mehrheitlich slowenisch-italienischen Unterabteilungen finden sich landesübliche Gerichte wie Heidensterz, Reiskrapfen und Brein mit Zwetschken. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 143–147. Vgl. Anmerkung 61. Da die Speisebezeichnung nur bedingt Aufschluss gibt – heute übliche Süßspeisen wie etwa Milchreis wurden teilweise noch ungesüßt zubereitet –, wurde die Einschätzung anhand der auf den Menagezetteln vermerkten Zuckermengen bzw. anhand des Einsatzes von Pflaumenmarmelade vorgenommen. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 42, 90. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 35 und S. 42. Dagegen sieht das Normal-Kochbuch im Fall der Verwendung anderer Fleischsorten als Rindfleisch eine größere Portionsgröße vor. Vgl. etwa Normal-Kochbuch (1880), S. 44 und S. 49–51. Dies könnte auf die Annahme eines geringeren Nährwertes von Schweinefleisch gegenüber Rindfleisch zurückzuführen sein. Vgl. Erlass, Abt. 12, Nr. 3433 ex 1899, 13.1.1900, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 1 (1913), Nr. 4174. Vgl. Anmerkung 61. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 26 und S. 53. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 137.

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deutschsprachigen Truppenkörper eher durch kleinere Fleischportionen charakterisiert sind.88 Von Speiseplänen und Menagezetteln nicht erfasst, können auch Unterschiede und Geschmackspräferenzen hinsichtlich der Zubereitung und Würzung der Speisen angenommen werden, welche die Menagen zusätzlich in regionalen Kochtraditionen verorteten. So verweist beispielsweise das Normal-Kochbuch auf so unterschiedliche Suppengewürze wie Paprika, Ingwer, Safran, Pfeffer und Gewürznelken.89 Ebenso beschwerte sich die 11. Feldkompanie des Infanterieregiments Nr. 27 nach ihrer Transferierung nach Laibach/ Ljubljana, dass das dortige »zur Ausgabe gelangende Tafelöl, dem Leinöl, welches die Compagnie von der Menage=Verwaltung in Graz erhielt an Geschmack bedeutend nach« stehe.90 Spannungsfeld: Gesundheit und Ernährungspräferenz Maßgebend für die gesundheitliche Beurteilung der Ernährung von Soldaten in der Habsburgermonarchie wurde die Studie Hans Schöfers von 1889, welche anlässlich eines wissenschaftlichen Wettbewerbs zur Beurteilung der Mannschaftskost aus ernährungswissenschaftlicher Sicht entstand. Schöfer berechnete unter der Annahme, dass die gewöhnliche Beschäftigung eines Soldaten in der Garnison mindestens neun Arbeitsstunden einer mittleren Beschäftigung eines kräftigen Arbeiters entsprach, den Nährstoffbedarf eines Soldaten und kam dabei auf 120 g Proteine (davon 42 g tierischen Ursprungs), 56 g Fett und 500 g Kohlenhydrate91, wodurch bereits bei der gebührenmäßig vorgesehenen Ernährung (121 g/35 g Proteine, 46 g Fett, 528 g Kohlenhydrate) ein Defizit an Fett und Proteinen tierischen Ursprungs zu konstatieren sei92. 88 Vgl. Anmerkung 61. Zwar stieg im 19.  Jahrhundert der Anteil des Fleisches an der Ernährung, jedoch zeigen sich weiterhin regional sehr unterschiedliche Konsummuster. So war etwa der Fleischverbrauch in den östlichen deutschsprachigen Gebieten der Habsburgermonarchie (Wien, Ober- und Niederösterreich) wesentlich höher als in westlichen Regionen; dies korrespondiert ebenso mit der größeren Vielfalt von Mehlspeisengerichten in Westösterreich. Zudem war der Fleischkonsum in Städten, auch jener der Unterschicht, ausgeprägter als in ländlichen Gebieten. Vgl. Sandgruber (1982), S. 142, 153–171. 89 Vgl. Normal-Kochbuch (1880), S. 10. 90 ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/88, Schreiben der 11. Feldkompanie an das Regimentskommando (IR27), 15.11.1893. 91 Schöfer nimmt an, dass pflanzliche Nahrungsmittel über eine Portionsgröße von 500 g hinaus nicht verwertet werden könnten und so ein Plus an Nährwerten nur durch Fett und Proteine erreichbar sei, wobei sich Fett und Kohlenhydrate bis zu einem gewissen Maß substituieren und beide durch Proteine ganz oder zum Teil ersetzt werden könnten. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 8–11. 92 Die Berechnung basiert auf der Annahme, dass eine Fleischportion von 190 g aus 83 Prozent Muskelgewebe, neun Prozent Fettgewebe und acht Prozent Knochen bestehe. Sich hierbei auf eine Untersuchung der Sanitäts-Instruktionsabteilung Nr. 1 in Wien stützend, merkte Schöfer jedoch an, dass es sich wohl um sehr optimistische Werte handele. Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 129 und S. 138 Berichte des Infanterieregiments Nr. 27 legen

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Hinsichtlich der Nährstoffe der von ihm gesammelten und analysierten Menagezettel konstatierte er in der Mehrzahl ebenso ein Defizit an tierischen Proteinen und Fett, dessen Ursache er jedoch nicht in ökonomischen Verhältnissen begründet sah, sondern in den regionalen Kochtraditionen. So sei etwa der besonders geringe Anteil tierischer Proteine und von Fett in den Menagen deutschsprachiger Truppenkörper aus der Alpenregion – unter anderem blieb die Fleischportion beim Infanterieregiment Nr. 7 (Ergänzungsbezirk Klagenfurt) täglich unter den normierten 190 g – auf die traditionell fleischarme Ernährung der Gebirgsländer zurückzuführen.93 Schöfer resümierte hinsichtlich des Einflusses von gesundheitlichen Überlegungen und Ernährungspräferenzen auf die Ernährung der Soldaten: […] dass oft eine allzu große Rücksichtsnahme auf gewisse Geschmacksliebhabereien zu Zusammenstellungen von Menagen führt, welche dem thatsächlichen Bedarfe des Soldaten an Nahrungsstoffen nicht entsprechen und bei strengerer Berücksichtigung dieses Bedarfes um denselben Preis rationeller und daher ausgiebiger hergestellt werden könnten, ohne dabei nationale Geschmacksgewohnheiten völlig außer Acht lassen zu müssen.94

Der Grundsatz, dass die Soldaten der gemeinsamen Armee ihre gewohnte zivile Ernährung auch in ihrer Militärzeit unabhängig von ihrer Stationierung in der Habsburgermonarchie erhalten sollten, wurde also nicht nur in den militärischen Zeitschriften gefordert und in den Dienstvorschriften verankert, sondern entsprach auch der gelebten Praxis. Auch Garnisonswechsel von Truppenkörpern nahmen auf die Zusammenstellung der Ernährung nur einen geringfügigen Einfluss. So belegen die Menagezettel der Unterabteilungen der Infanterieregimenter Nr. 55 und 89 (Ergänzungsbezirk Brzeżany bzw. Gródek-Jagielloński) vor und nach ihrem Wechsel von Wien nach Galizien, dass die Auswahl der Speisen unabhängig von ihrem Stationierungsort vorgenommen wurde.95 Dies zeigt sich ebenso bei der Dislozierung von dreien der vier Bataillone des Infanterieregiments Nr. 27 nach Laibach/Ljubljana im Jahr 1893. Bereits kurz nach der Ankunft meldete die 11. Feldkompanie an das Regimentskommando, »dass in der Garnison Laibach die Zubereitung ebenso nahe, dass das Verhältnis zwischen Muskelgewebe, Fett und Knochen oft wesentlich ungünstiger gewesen sein dürfte. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/5, Schreiben 8. Feldkompanie an das Regimentskommando (IR27), 16.1.1899; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/259, Schreiben 10. Feldkompanie an das Regimentskommando (IR27), 27.9.1889; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/267, Offiziersbefehl (IR27, 3. Feld-Bataillon), Nr. 3, 26.1.1889. Auch das Kriegsministerium beanstandete 1905, dass zu oft »schlechte Qualität genommen und für Gute bezahlt« würde und deswegen bei der Übernahme des Fleisches verstärkt im Soldatenstand befindliche Fleischhauer anwesend sein sollten. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/79, Erlass, Präs., Nr. 4729, 4.8.1905, auszugsweise verlautbart in: Regimentskommandobefehl (IR27), Nr. 270, 27.9.1905, Artikel 1. 93 Vgl. Hans Schöfer (1889), S.  137–142. Ein Wertverhältnis zwischen Kohlenhydraten, Fett und Proteinen von 1 : 3 : 5 annehmend, errechnete Hans Schöfer (1889), S. 139, eine Reihung der ›nationalen‹ Küchen wie folgt: Ungarn (337), Rumänen (330), Polen und Ruthenen (326), Tschechen und Mähren (320), Serbokroaten (312), Deutsche (302), Oberungarn (301) sowie Slowenen und Italiener (290). 94 Hans Schöfer (1889), S. 139. 95 Vgl. Hans Schöfer (1889), S. 55–60.

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einer schmackhaften und abwechslungsreichen Mannschaftskost auf mannigfache Schwierigkeiten stoßt [sic!]«. Als Gründe wurden angegeben, dass in der Laibacher Garnisons-Menagen-Verwaltung die Lebensmittel »gedörrte Zwetschken, Topfen und Eier nicht erhältlich [sind], was zur Folge hat, dass der Mannschaft die beliebten Speisen als: Zwetschkentalken, Topfennudel und Eierschmarren nicht verabfolgt werden können«.96 Auch wurde der Marketender vor Ort verpflichtet, Bier der Marke Reininghaus (Grazer Stadtbier) auszuschenken.97 Dass der Einfluss der Soldaten auf ihre Ernährung, institutionell verankert durch die gewählten Soldatenvertreter in der Menageverwaltungswirtschaft, nicht nur eine theoretische Möglichkeit war, zeigt etwa die Änderung des Regimentsspeisezettels im Jahr 1894 aufgrund einer Bitte der Mannschaft der 7. Feldkompanie, an Samstagen anstelle eines Gulaschs eine Mittagskost mit Suppe zu erhalten.98 Der Berücksichtigung der Ernährungspräferenzen standen die gesundheitlichen Überlegungen hinsichtlich der Ernährung von Soldaten gegenüber. Laut Dienstreglement war es die Pflicht der Truppen- und Unterabteilungskommandanten, »sich von der tadellosen Beschaffenheit der Menage öfters persönlich zu überzeugen und vorkommende Anstände zu beheben«.99 So wurde im Infanterieregiment Nr.  27 mit Berufung auf das Dienstreglement auch die regelmäßige Anwesenheit eines Offiziers bei der Ausgabe der Menage sowie der Frühstückssuppe kontrolliert, denn der Kompaniekommandant trage »die volle Verantwortlichkeit für die Erhaltung des Mannes […]: kurz für die volle Schlagfertigkeit derselben [sic!]«100, und »um dem zu entsprechen ist es unbedingt notwendig, daß man sich in erster Linie um das tägliche Essen des Mannes eingehend sorgt«101. Die Frage der Ernährung der Soldaten wurde als entscheidend für die militärische Leistungsfähigkeit beurteilt, und so wirkten die verschiedenen Ebenen – Regimentskommando, Korpskommando und Kriegsministerium – nicht nur bei der faktischen Ausgestaltung der Ernährung mit, sondern ebenso bei ihrer Kontrolle: Die Zusammenstellung der Menage sowie die Anwesenheit der Offiziere, die wirtschaftliche Gebarung inklusive Menageersparnisse und die Lebensmittelqualität sowohl der Menageverpflegung als auch der Marketendereien unterlagen einer ständigen Kontrolle durch Inspizierungen, Berichte und Dokumentationspflicht. Die gesundheitlichen Überlegungen hinsichtlich der Ernährung der Soldaten standen im Fokus der Verpflegsabteilung des Kriegsministeriums, wenngleich diese weder das Prinzip der Berücksichtigung von Ernährungspräferenzen noch die Autonomie der Truppenkörper grundsätzlich in Frage stellte. 96 ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/88, Schreiben der 11. Feldkompanie an das Regimentskommando (IR27), 15.11.1893. 97 Vgl. ÖStA/KA/Terr., GKG, Präs., Kt. 2223, Präs. Nr. 3523, 30.10.1908. 98 Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/158, Schreiben der 7. Feldkompanie an das Regimentskommando (IR27), 13.10.1894. 99 Dienst-Reglement (1873), 1. Teil, VI. Abschnitt, § 30, Punkt 238. 100 Dienst-Reglement (1873), 3. Teil, XXIII. Abschnitt, § 13, Punkt 90. 101 ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/325, Offiziersbefehl (IR27, 3. Feld-Bataillon), Nr.  2, 10.2.1891.

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So wurden vor allem nach 1900 mehrere die Ernährung der Mannschaft betreffende Erlässe publiziert, die Missstände aufzeigten, Verbesserungen einmahnten und Empfehlungen aus gesundheitlicher Perspektive aussprachen. Die grundsätzliche Feststellung war, dass die Zusammenstellung der Menage nicht immer dem »Nahrungsbedürfnisse des jungen und physisch angestrengten Soldaten« entspräche, die gleichmäßige Verteilung der Nahrung innerhalb einer Woche mangelhaft und das Verhältnis von Qualität und Quantität nicht ausgewogen sei. So werde in einigen Truppenkörpern zu häufig schwarzer Kaffee als Frühstück und Abendmahl bereitet  – dies sei jedoch nicht nur aufgrund des Nährwerts unzureichend, sondern wirke sich infolge der hohen Kosten für Kaffee und Zucker ungünstig auf das Mittagsmahl aus. Ähnlich wurde hinsichtlich der bei einigen Truppenkörpern beliebten süßen Mehlspeisen argumentiert, deren hohe Materialkosten nur über die Portionsgrößen zu kompensieren seien.102 Diese zu große Berücksichtigung der Geschmackspräferenzen sowie die Vorliebe eines Teils der Mannschaft für eine große Portion Zuspeise103 verhindere die Steigerung des Fleischkonsums trotz der wirtschaftlichen Möglichkeit und obwohl darin ein wesentlicher Aspekt zur Verbesserung der Mannschaftskost läge, so dass allgemein eine tägliche Fleischportion von 220 g anzustreben sei104. Zudem drängte das Kriegsministerium nach 1900 auf eine stärkere Verwendung von Milchprodukten zur Steigerung des Anteils an tierischen Proteinen in der Mannschaftskost: So wurden etwa die Ausgabe von Milchkaffee, mit Magermilch bereiteten Mehlspeisen sowie Milchsuppe, Topfen oder Käse als Nachtmahl empfohlen, sofern »die Mannschaft dies wünscht«.105 Relativ unberührt von gesundheitlichen Überlegungen und Ernährungspräferenzen blieb der Konsum von Nahrungsmittelkonserven als Teil der soldatischen Ernährung. Ab 1876 waren Lebensmittelkonserven Bestandteil des ›eisernen Vorrats‹ des österreichisch-ungarischen Heeres106, und aufgrund 102 Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/79, Erlass, Präs., Nr.  4729, 4.8.1905, auszugsweise verlautbart in: Regimentskommandobefehl (IR27), Nr. 270, 27.9.1905, Artikel 1; Erlass, Abt. 12, Nr. 2518, 17.11.1906, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 6376. 103 Eine Präferenz zugunsten eines großen Speisenvolumens wurde vor allem bei Rekruten angenommen, die in ihrem zivilen Leben vorwiegend pflanzliche Nahrungsmittel konsumiert hätten, »so dass ihnen in der ersten Zeit ihrer militärischen Ausbildung der regelmäßige Fleischgenuss erst angewöhnt werden muss«. Erlass, Abt. 12, Nr. 1293, 25.5.1908, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 6552. 104 Vgl. Erlass, Abt. 12, Nr. 2518, 17.11.1906, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr.  6376. Das 3. Korpskommando kam anlässlich einer Inspizierung zur gleichen Schlussfolgerung: Häufig würde nur eine Fleischportion von knapp 190 g erreicht; dies sei nicht auf ökonomische Gründe zurückzuführen und in Kombination mit der häufigen Bereitung von schwarzem Kaffee zum Nachtmahl ungünstig für die Ernährung der Soldaten. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/347, Vdg. 3. Korpskommando, J Nr. 12.457, 27.10.1906, verlautbart in: Regimentskommandobefehl (IR27), Nr.  356, 26.12.1906, Art. I, und wiederholt in Nr. 251, 1911, Art. XIII. 105 Erlass, Abt. 12, Nr.  1293, 25.5.1908, zit. n. Rubin: Normaliensammlung 2 (1913), Nr. 6552. 106 Vgl. Wagner (1987), S. 562

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ihrer noch relativ geringen Haltbarkeit war zur kontinuierlichen Erneuerung die Konsumation des Kriegsreservevorrats binnen sechs Monaten eine unumgängliche Notwendigkeit107. Aufgrund dieses Konsumzwangs waren Soldaten jener Teil der Bevölkerung, der regelmäßig Produkte der modernen Lebensmittelindustrie konsumierte.108 Während Kaffeekonserven als Genussmittel von der Mannschaft geschätzt wurden, waren Gemüse- und Suppenkonserven zumindest bei einigen Soldaten unbeliebte Nahrungsmittel. Anlässlich der Einstellung des Gemüsekonservenkonsums bei einem Truppenkörper, »weil sie angeblich einen widerlichen Geschmack besitzen, Übelkeiten bereiten oder Durchfall hervorrufen«, konstatierte das 3. Korpskommando nach der qualitativen Überprüfung: »Die von der Mannschaft etwa zum Ausdrucke gebrachte Abneigung gegen diese Konserven muß daher als ein augenscheinlich von der älteren Mannschaft auf die jüngeren Soldaten übertragenes unbegründetes Vorurteil bezeichnet werden, welchem entgegengetreten werden muß.«109 Die teilweise geringe Akzeptanz der Lebensmittelkonserven wurde auch in den militärischen Zeitschriften thematisiert, wobei Ressentiments bei einem Teil der Mannschaft sowie die mangelhafte und häufige Zubereitung ohne Variationen als Ursache gesehen wurden.110 107 Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/375, Regiments-Kommando-Reservat-Befehl (IR27), Nr. 10, 22.4.1892. Hierzu wurde die erforderliche monatliche Konsumhöhe festgelegt; die Auswahl der Konservensorten (Mehlkonserven) oblag den Unterabteilungen. Um die Jahrhundertwende konnte zwischen 1. Erbsen-, Linsen-, Bohnenkonserven, 2. Erbsenkonserven mit Reis, Gries oder Graupen und 3. Reis-, Gries-, Graupenkonserven mit Einbrenn gewählt werden. Erbsenkonserven bestanden beispielsweise aus Erbsenmehl, Rindfett, Salz, Zwiebeln, Pfeffer, Paprika und Lorbeerblättern. Mit Wasser aufgekocht ergaben Suppenkonserven eine Portion von 50 cl. Vgl. ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/200, Belehrung über die Gebarung mit den Suppenconserven im k. und k. Heere (Zu Abt. 12, Nr. 617, 1892); ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/297, Nachweisung des Gemüseconservenerfordernisses; Tilschkert (1903), S. 444. 108 So waren etwa im August 1894 für die Garnison Graz 39.160 Portionen Suppenkonserven für den Konsum bestimmt; bei rund 4.360 Mannschaftsangehörigen in der Station ergab sich eine Pro-Kopf-Quote von zwei Portionen in der Woche. Hinzu kamen die täglichen Kaffeekonserven. Die Werbebroschüren von Lebensmittelfirmen an Truppenkörper sowie die Veröffentlichung ihrer Angebote in den Korpskommandobefehlen legen zudem die Schlussfolgerung nahe, dass neben dem Konsum des Kriegsreservevorrates teilweise zusätzliche Lebensmittelkonserven verzehrt wurden. Vgl. Parth (1998), S. 166; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/341, Beilage zu Korpskommandobefehl (3. KK), 4.8.1894, J 6070; ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 33, 10.4.1911, Aviso; ÖStA/KA/AdT, IR27, Kt. 255/52, Broschüre »Das Frühstück und Nachtmahl des Mannes«. 109 ÖStA/KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr.  2, 7.1.1911, J 12269 ex 1910. 110 Vgl. Hladík (1910); Freund (1913), S.  122; Walter (1894), S.  300. Die Akzeptanz der Kaffeekonserven sowie die Angebote von Firmen legen ebenso nahe, dass sich die Abneigung der Mannschaft vor allem auf die ärarischen Gemüsekonserven bezog und nicht unbedingt generell auf Konservennahrung. Zudem entsprachen die Angebote der Privatfirmen eher einer geschmacklich abwechslungsreicheren Kost, wie etwa im Falle der Nährmittelfabrik Kalmar aus Wien: »Makkaroni mit Kraut«, »Schokolade mit Makkaroni«, »Grenadiermarsch«, »Risi-bisi mit Fleisch«, »Semmelbröselnudel mit Fleisch«,

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Schlussfolgerungen Die Entwicklung der soldatischen Ernährung im österreichisch-ungarischen Heer lässt sich rückblickend in zwei Phasen teilen: Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich der Ernährungsumfang sukzessive; Meilensteine und sichtbarste Zeichen dieser Entwicklung sind die Einführung des Frühstücks und der Abendmahlzeit. Die Steigerung des Ernährungsumfanges geschah im Kontext von gesundheitlichen Überlegungen, die sich auf die physische und psychische Leistungsfähigkeit der Soldaten und damit der militärischen Leistungsfähigkeit des Staates bezogen. Nach 1900 liegt der Fokus verstärkt auf der ernährungsphysiologischen Optimierung der Zusammenstellung von Speiseplänen. Spätestens in dieser zweiten Phase der Ausgestaltung wird deutlich, dass die Durchsetzung von wissenschaftlichen Überlegungen in der Ernährung der Soldaten durch das Subsidiaritätsprinzip in ihrer Organisation und die Verankerung der Ernährungspräferenzen als eines der leitenden Prinzipien erschwert wurde. Zugleich ermöglichte diese flexible Gestaltung der Normierung die erforderliche Adaptierung an die regionalen Erfordernisse sowie an die Heterogenität innerhalb der gemeinsamen Armee und wirkte sich hinsichtlich der Ernährungssicherheit der Soldaten unabhängig ihres Stationierungsortes und der wirtschaftlichen Entwicklung vorteilhaft aus. Spätestens nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war die gemeinsame Armee der Habsburgermonarchie mit der ethnischen, religiösen und sozialen Heterogenität des Vielvölkerstaates konfrontiert. Die Berücksichtigung der regionalen Kochtraditionen und teilweise auch der religiösen Gebräuche in Form von spezifischen Truppenküchen anstelle einer uniformen soldatischen Kost – trotz der Tendenzen zur Vereinheitlichung und Zentralisierung der gemeinsamen Armee im Zeitraum von 1848 bis 1914111 – kann als Anerkennung dieser Heterogenität gesehen werden. Die ›Einheit in der Vielfalt‹ in der bedeutendsten gesamtstaatlichen Einrichtung der Doppelmonarchie – auch hinsichtlich ihrer unmittelbaren Präsenz in der Bevölkerung – entfaltet angesichts des Anspruchs der gemeinsamen Armee als integrative Kraft im Vielvölkerstaat und als ›Schule des Volkes‹, in der die Wehrpflichtigen zu Staatsbürgern erzogen werden sollten, auch eine politische Dimension. Schlussendlich ist zu hinterfragen, wie die Soldaten ihre Ernährung erlebten und bewerteten, ob sich ihre Ernährungspräferenzen verschoben und welche Erfahrungen sie von ihrer Dienstzeit in ihr ziviles Leben mitnahmen. Der Militärdienst wurde von Seiten der Soldaten, wie Christa Hämmerle feststellte, auch hinsichtlich der materiellen Bedingungen und Chancen bewertet.112 So mögen Soldaten aus prekären Lebensverhältnissen den täglichen Fleischkonsum als eine Aufwertung ihrer täglichen Ernährung und ihres sozialen Status empfunden haben. Dies ist nicht nur im Kontext der Militarisierung der Ge»Schinkenfleckerl«, »Milchreis«, »Gulyaskartoffel« und »Gemüsemelange«. Vgl. ÖStA/ KA/Terr., Befehle, Kt. 36, Korpskommandobefehl (3. KK), Nr. 33, 10.4.1911, Aviso. 111 Vgl. Melichar/Mejstrik (2010), S. 1271–1275. 112 Hämmerle (2005), S. 113.

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sellschaft im 19. Jahrhundert von Interesse, sondern ebenso hinsichtlich einer Kulturgeschichte der Ernährung. So konnte etwa der tägliche Fleischkonsum der Soldaten die dichotome Zuordnung von Nahrungsmitteln in die männliche und weibliche Konsumkultur und Physiologie stützen und befördern und womöglich rückwirkend auch zur Konstruktion von geschlechtlicher Identität beitragen. Soldaten waren zudem jener Teil der Bevölkerung, der mehrmals wöchentlich konservierte Nahrungsmittel konsumierte. So ist die soldatische Ernährung ebenso hinsichtlich einer langfristigen Verbrauchslenkung von Interesse. Bibliographie Archivalien Österreichisches Staatsarchiv – Kriegsarchiv, Wien (ÖStA/KA) – Archiv der Truppenkörper (AdT), Infanterie, Infanterieregiment Nr. 27 (IR27), Kt. 255/5, 52, 59, 70, 79, 88, 96, 158, 183, 200, 219, 259, 266, 267, 297, 318, 325, 341, 347, 353, 375, 377, 388 – Territorialkommanden (Terr.), Generalkommando Graz, Präsidium (GKG, Präs.), Kt. 2223 – Territorialkommanden (Terr.), General-, Korps- und Militärkommanden Befehle (Befehle), Kt. 34, 35, 36 – Territorialkommanden (Terr.), Generalkommando Graz, Militärbauabteilung, Topographische Reihe (GKG, Mba, TR), Kt. 30 Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt (KLA) – Geschichtsvereins-Handschriften (118), A-21/12 St.

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 97–112, FRANZ STEINER VERLAG

Leibliches Erleben in Krankheitspraktiken der Anorexie Isabella Marcinski Summary Lived experience in anorectic practices of illness Based on descriptions in autobiographical texts, mostly of former anorexia sufferers, it can be shown that subjective lived experience is fundamental to establishing and maintaining anorectic practices of illness. Starting from a philosophical point of view, I will explore the approach taken by the phenomenology of the body that focuses on this experience which has so far remained a desideratum in research. However, the phenomenology of the body does not sufficiently reflect the significance of the historical and socio-cultural context, particularly in anorexia. Scientific and societal discourses, socio-cultural (gender) standards as well as culturally available body- and self-practices inform lived experience and the way anorexics describe their illness. I will extend the phenomenology of the body by aspects of medical history, sociology and cultural science that assume the dependence of experiences on socio-cultural influences. My sources consist in a selection of autobiographical texts written by anorexics in North America and Western Europe. There are only few texts so far by men about their anorexia. These will be cursorily investigated in conclusion as to their differences to the narratives of women with anorexia.

Einleitung Die Essstörung Anorexia nervosa, auch Magersucht genannt, gilt als ein kulturspezifisches Syndrom, das vor allem bei jungen weißen Frauen der westlichen Mittelschicht auftritt. 1873/74 als Diagnose eingeführt, breitete sie sich seit den 1960er und 1970er Jahren aus und wurde zu einer »Modekrankheit«.1 Derzeit wird beobachtet, dass auch Männer zunehmend von Magersucht betroffen sind.2 Charakteristisch für die Anorexie ist eine massive Selbstaushungerung, bei der eine strikte Diät zu einem teilweise völligen Nahrungsverzicht führen kann und schließlich mit einem starken Gewichtsverlust und Untergewicht einhergeht. Die für die Psychiatrie und Psychotherapie geltenden Diagnosemanuale des ICD-10 und DSM-V legen die weiteren Kriterien fest, die die Betroffenen erfüllen müssen, damit ihre Selbstaushungerung als Anorexia nervosa dia1 2

Margolis (1985), S. 8. Die epidemiologische Forschung geht davon aus, dass circa 90 Prozent der Betroffenen Frauen sind. Vgl. Kersting (2007).

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Isabella Marcinski

gnostiziert wird. Neben Hyperaktivität und exzessivem Sport gilt die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Körpermaße als zentrales Symptom. Hierunter fällt die Annahme, Anorektikerinnen und Anorektiker würden sich als zu dick wahrnehmen, was meist mit dem Bild einer sich im Spiegel betrachtenden jungen Frau verdeutlicht wird. Als weitere Diagnosekriterien werden ein Streben nach Schlankheit, Ängste, dick zu werden, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und schließlich eine immense Bedeutung des Körpers für das eigene Selbstwertgefühl genannt. Alle diese Merkmale werden auch als Körperschema- und Körperbildstörung zusammengefasst.3 Die bisherige human- und sozialwissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf diese körperliche und psychische Krankheitssymptomatik. Die Frage nach dem subjektiven leiblichen Erleben stellt bisher eine Lücke in der Forschung dar. Aus philosophischer Perspektive kann mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz diesem Erleben der Betroffenen nachgegangen werden.4 Problematisch an phänomenologischen Ansätzen und auch bei Hermann Schmitz ist, dass historische und soziokulturelle Kontexte meist nur ungenügend in die Beschreibung der Phänomene einbezogen werden. Diese Kontexte sind aber gerade für die Betrachtung der Anorexie zentral, ist sie doch gebunden an kulturell spezifische Körper- und Selbstpraktiken sowie wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse zu Essstörungen, die das Erleben und Erzählen der Betroffenen prägen. Daher werde ich in meiner Beschrei3

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Das ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und ist das international wichtigste Diagnoseklassifikationssystem für die Medizin. Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird von der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung publiziert. Beide Klassifikationssysteme sind seit ihren Anfängen zahlreicher Kritik ausgesetzt. Diese betrifft vor allem die positivistische Klassifizierung von Krankheitsentitäten, die durch eine Liste von Symptomen identifizierbar seien. – Vgl. zu den Diagnosekriterien American Psychiatric Association (2013); Halmi (2000); Kersting (2007); WHO (2010), S.  216–218. Der für eine Diagnose notwendige Gewichtsverlust wird unterschiedlich angegeben. Statt der Abmagerung geriet außerdem zunehmend die Angst vor dem Dicksein in den Vordergrund. Dies verweist auf die Dominanz der Körperbildstörung und damit der affektiven Dimensionen als Diagnosekriterien, die im DSM-V, das im Mai 2013 erschienen ist, im Fokus liegen. Dort wird außerdem die Amenorrhoe nicht mehr als Diagnosekriterium genannt, was unter anderem mit der Gültigkeit der Kriterien für Männer begründet wird. Vgl. ausführlich Marcinski (2014). Hermann Schmitz wurde bisher allein im deutschsprachigen Raum in der Psychiatrie und Psychotherapie rezipiert, und auch hier nur vereinzelt. In den englischsprachigen Ansätzen einer phänomenologisch orientierten Psychiatrie greifen die Autorinnen und Autoren vor allem auf Martin Heidegger, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre zurück. Der Fokus der Untersuchungen, sowohl im deutschsprachigen als auch englischsprachigen Raum, liegt bisher auf der Schizophrenie und Depression. Vgl. beispielsweise Fuchs (2000) und Ratcliffe (2008). Hannah Bowden und Fredrik Svenaeus beschreiben zwar das subjektive Erleben von Anorektikerinnen und Anorektikern aus phänomenologischer Perspektive, beziehen sich in ihren Überlegungen allerdings auf die Theorien von Heidegger, Merleau-Ponty und Sartre. Vgl. Bowden (2012) und Svenaeus (2013).

Leibliches Erleben in Krankheitspraktiken der Anorexie

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bung der Magersucht die leibphänomenologischen Überlegungen um medizinhistorische, soziologische und kulturwissenschaftliche Perspektiven erweitern und von der zentralen Bedeutung von Diskursen, Normen, Praktiken und gesellschaftlichen Transformationen für die Erfahrung in der Anorexie ausgehen. Schließlich wird die Leibphänomenologie praxeologisch gewendet, wenn nach der Bedeutung sozialer Praktiken für das leibliche Erleben in der Krankheit gefragt wird. Der Begriff der Krankheitspraktiken ersetzt dabei den der Symptome und soll darauf verweisen, dass für die Anorexie spezifische soziale Praktiken konstitutiv sind. Im Folgenden wird zunächst kurz auf das Genre der autobiographischen Texte eingegangen, die der Beschreibung als Quellen dienen. Im Hauptteil des Aufsatzes erfolgt die exemplarische Rekonstruktion des leiblichen Erlebens in der Anorexie. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, ob sich bei magersüchtigen Männern Unterschiede im Vergleich zu betroffenen Frauen in den Krankheitspraktiken, dem Selbstverständnis und Erleben finden. Autobiographisches Schreiben über die Anorexia nervosa Seit den 1980er Jahren schreiben Frauen in Westeuropa und Nordamerika über ihre Anorexie autobiographische Bücher, in denen das intensive Spüren von Hunger, Schmerz, Ekel und Kälte viel Raum einnimmt. Diese Texte wurden teilweise zu Bestsellern und haben sich über die Jahre stark verändert. In den 1980er Jahren artikulierten die Autorinnen noch meist ein politisches Verständnis ihrer Essstörung, begriffen sich als Feministinnen, wiesen Krankheitszuschreibungen von sich und beschrieben ihre Anorexie stattdessen als Hungerstreik. Andere wiederum wussten nichts von der Existenz einer Krankheit namens Anorexia nervosa.5 Ab den 1990er und vor allem den 2000er Jahren wandelten sich die Texte zunehmend zu einer Ratgeberliteratur, die den Weg der Heilung aus der als Krankheit verstandenen Essstörung weisen möchte. Damit zusammenhängend haben sich auch die Schilderungen der Erfahrung der Krankheit gewandelt. Die wissenschaftlichen Krankheitsdefinitionen und -deutungen sind zu beständigen Referenzpunkten der Erzählungen von Betroffenen geworden. Sie begreifen sich selbst als Anorektikerinnen und beschreiben sich und ihre Symptomatik in ständiger Abgleichung mit der wissenschaftlichen Literatur, die oft in Fußnoten oder in einem Literaturverzeichnis beigefügt wird. Über den Rekurs auf wissenschaftliche Diskurse vollzieht sich die Herstellung einer spezifischen Krankheitsidentität. Es findet eine positive Identifikation mit dem Krankheitsverständnis statt, die für die Texte in den 1980er Jahren noch undenkbar war. Dieser Trend wird in den letzten Jahren immer stärker, so dass

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Hier wären folgende Texte als Beispiele zu nennen: Erlenberger (1980); Graf (1985); MacLeod (1983); Margolis (1985); Valère (1989).

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sich die autobiographischen Texte zunehmend gleichen und sich lesen wie ein Lehrbuch zur Anorexia nervosa.6 An den Transformationen der Narrationen der Autorinnen zeigt sich, wie sehr das Erleben in der Anorexie strukturiert ist durch das Wissen rund um Essstörungen und die damit verbundenen konstitutiven Krankheitspraktiken. Die leibphänomenologische Analyse hat dieses, das Erleben und Erzählen prägende, kulturelle Wissen zu reflektieren, was jedoch meist unterlassen wird. Die Bücher sind größtenteils während oder nach der Genesung geschrieben, was darauf zurückgeführt werden kann, dass im unmittelbaren leiblichen Erleben und Betroffensein von der Anorexie keine Distanzierung und Reflexion der eigenen Erfahrungen möglich ist. Die Autorinnen nutzen allerdings oft schon während ihrer Anorexie das Schreiben, um sich dem leiblichen Ausgeliefertsein gegenüber der Krankheit teilweise zu entziehen. In der folgenden Rekonstruktion des Erlebens in den Praktiken der Magersucht werde ich diese Texte in einen kritischen Dialog mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz stellen, die um kulturwissenschaftliche und historische Überlegungen ergänzt ist. Denn auch wenn unser Zugang zum Leib immer schon durch Sprache vermittelt ist und unsere Leiberfahrungen durch soziokulturelles Wissen konstituiert sind, nivelliert dies nicht die Intensität des eigenleiblichen Spürens. Leibliches Erleben in Körperpraktiken der Anorexie Einige Vorbemerkungen Die Leibphänomenologie nimmt die Leiblichkeit des Menschen als Ausgangspunkt und fragt danach, »was Menschen am eigenen Leibe spüren«.7 Phänomenologische Forschung habe die Aufgabe, so Hermann Schmitz, das alltägliche unmittelbare Leiberleben aufzuspüren und dem Denken und Sprechen zugänglich zu machen. Das eigenleiblich Gespürte lasse sich dabei nicht auf Körperliches oder Seelisches zurückführen, sondern konstituiere einen eigenen Phänomenbereich mit einer spezifischen Struktur. Als leiblich charakterisiert Hermann Schmitz all dasjenige, was unabhängig von den fünf Sinnen, vor allem dem Seh- und Tastsinn, in der Gegend des eigenen Körpers gespürt wird. Er entwickelt ein eigenes Kategoriensystem, um dieses leiblich Spürbare zu beschreiben. Die Kategorien der Enge und Weite begreift er dabei als fundamental für die gesamte Dynamik des leiblichen Befindens, da es sich immer zwischen diesen Polen abspielt. Zentral für die Charakterisierung des Erlebens 6

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Exemplarisch sind hier: Bowman (2007); Fechner (2007); Hornbacher (2010); S. (2006); De Rossi (2011). Es handelt sich ausschließlich um Texte von jungen Frauen, auf die ich mich in diesem Abschnitt wie auch der nachfolgenden Rekonstruktion beziehe, da von betroffenen Männern bisher nur sehr wenige Berichte existieren und diese daher eigens im abschließenden Teil des Beitrags betrachtet werden. Schmitz (1965), S. XIII.

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in der Anorexie sind außerdem noch die Kategorien der protopathischen und epikritischen Tendenz sowie der privativen Weitung.8 Hermann Schmitz entwickelt von Beginn an mögliche Anwendungen seiner Neuen Phänomenologie in der Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Bei psychischen Krankheiten sei von spezifischen, in der Leiblichkeit verorteten Krankheitsgründen und Symptomen auszugehen, die vor allem auf eine Zersetzung und Erstarrung in der leiblichen Dynamik zurückzuführen seien. Die Anorexie dient Schmitz bereits 1965 in dem Band Der Leib als Beispiel solcher Störungen der Leiblichkeit. Er widmet ihr einen ganzen Abschnitt, in dem er sich intensiv mit dieser damals noch relativ neuen und unbekannten Krankheit auseinandersetzt, der erst ab den 1970er Jahren eine öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte.9 Die Schmitzsche Perspektive ist jedoch zu ergänzen, da das Leiberleben in der Anorexie eng an Praktiken der Körper- und Selbstbildung gebunden ist, zu denen vor allem ein restriktives Essverhalten bzw. Diäten und Sport gehören. Mittels dieser Krankheitspraktiken greifen die Betroffenen in das leibliche Erleben ein, versuchen es zu gestalten und so aktiv die Erfahrung von Hunger zu verstärken. Im Hunger, aber auch in weiteren Empfindungen wie Schmerz, Ekel und Frieren, spüren sie sich ganz intensiv. Vor allem der Hunger ermöglicht schließlich eine spürbare Selbstgewissheit und fungiert damit als eine Technologie des Selbst im Sinne Foucaults.10 Diese Überlegungen möchte ich nun anhand einiger Punkte in den autobiographischen Schilderungen der Betroffenen ausführen. Hunger, Schmerz und Ekel Das Erleben in der Anorexie ist geprägt durch ein intensives und permanentes Spüren von Hunger, Schmerz und Ekel, das durch spezifische Praktiken sowohl evoziert als auch reguliert wird. Die Autorinnen beschreiben in den Erfahrungsberichten, dass ihnen Nahrung, ihr Geruch und ihre Konsistenz sowie das Beobachten von Menschen beim Essen ein unerklärliches und hartnäckiges Ekelgefühl verursachen. Das Ekelhafte wird dabei als verschwommen, formlos und schwammig charakterisiert. Der gesättigte Körper wird schließlich sogar mit Tod und Fäulnis assoziiert. Vor allem das eigene Fleisch scheint jedoch als das schlechthin Ekelhafte erlebt zu werden, als eine unförmige Masse. Für Sheila MacLeod 8

Das Alphabet der Leiblichkeit umfasst noch weitere Kategorien, mit denen sich das leibliche Befinden rekonstruieren lässt, doch beschränke ich mich hier auf diejenigen, die für die Anorexie zentral sind. 9 Die leibphänomenologische Rekonstruktion der Anorexie, auf die ich mich im Folgenden beziehe, erfolgt in Schmitz (1965), S. 263–268. Zentral sind außerdem die Abschnitte zum Hunger und Ekel: Schmitz (1965), S. 230–236 und S. 240–245. 10 In den Kulturwissenschaften und der Soziologie existiert eine breite Diskussion zu zeitgenössischen Körper- und Selbsttechniken, die sich vor allem an die Überlegungen von Michel Foucault und Marcel Mauss anlehnt. Vgl. Foucault (1993) und Mauss (1975).

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ist »weibliches Fleisch« der Inbegriff von allem »Geschwollenem, Verunreinigtem, Schmutzigem« und daher als ekelhaft Abgewehrtem.11 Der Bauch steht dabei im Fokus der Aufmerksamkeit, so dass sich in den Erfahrungsberichten vielfältige Schilderungen einer unangenehm aufdringlichen Fülle in der Bauchgegend finden. Die Autorinnen beschreiben ein »schier unerträgliches Völlegefühl« nach dem Essen, das ihnen Ekel einflößt und dazu führt, dass sie es irgendwann überhaupt nicht mehr ertragen, etwas im Magen zu haben.12 Jenefer Shute beschreibt, ihr Bauch beginne anzuschwellen, sich zu wölben und zu spannen, wenn sie Nahrung zu sich nehme, sei schließlich »obszön prall«.13 Sie fühle sich dann unerträglich »aufgedunsen«.14 Sheila MacLeod nimmt Abführmittel, um dieses »Gefühl der Schwere und Völle«, das sie sofort nach dem Essen überfalle, loszuwerden.15 Um sich von diesen »Auswüchsen des Fleisches« zu befreien, greifen die Betroffenen auf diverse Diät- und Sportpraktiken zurück.16 Shute beschreibt den Vorgang plastisch als ein »[H]erausätzen« des »skelettalen Ich[s]« aus einer »verschwommenen, aus den Rändern ausblutenden Masse«.17 Der durch Diäten und Sport in Form gebrachte dünne Körper wird schließlich als »sauber«, »wohlgeformt und ordentlich« erlebt.18 Der Ekel wird von den jungen Frauen jedoch sehr zwiespältig erfahren, indem er teilweise auch selbst herbeigeführt und genossen wird, wie beispielsweise Jenefer Shute schildert: »Meine Oberschenkel waren […] schwabbelig. Ich entwickelte die Gewohnheit, heftig von unten auf sie einzuschlagen, um das bebende Fleisch zu sehen, um mir Widerwillen einzuflößen.«19 Diese charakteristische Ambivalenz hinsichtlich des Ekelerlebens zeigt sich auch in Bezug auf Hunger, Schmerz und Frieren. Das Ekelhafte spiegele, so Schmitz, das Protopathische des eigenen Leibes, das er als die Neigung ins Diffuse und Verschwommene versteht. Das Epikritische sei dagegen die Neigung des leiblichen Befindens zum Spitzen und klar Umrissenen. Normalerweise seien beide Tendenzen im leiblichen Spüren wirksam, doch in der Anorexie dominiere die epikritische Tendenz, und das Protopathische werde in Form des Ekels abgelehnt und abgespalten.20 Diese Ablehnung des formlosen und schwammigen Körpers verweist, so ist allerdings zu ergänzen, auf entsprechende kulturelle Diskurse, die das Leiberleben prägen, als Teil der eigenen Erfahrung am Leib gespürt und über diesen Weg allererst als problematisch erlebt werden können.21 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

MacLeod (1983), S. 90. Fechner (2007), S. 65. Shute (1994), S. 42. Shute (1994), S. 108. MacLeod (1983), S. 97. MacLeod (1983), S. 100. Shute (1994), S. 235. MacLeod (1983), S. 100. Shute (1994), S. 142. Vgl. Schmitz (1965), S. 240–245 und S. 263–268. Ute Gahlings führt dies am Beispiel der Brüste aus. Vgl. Gahlings (2006), S. 657.

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Die strenge Diät und der Sport lassen die Betroffenen irgendwann ihre spitzen und kantigen Knochen spüren, was im Rahmen des Schmitzschen Verständnisses ebenfalls zu einem Primat der epikritischen Tendenz im leiblichen Erleben beiträgt. Die Autorinnen schildern, dass sie »eckiger und eckiger« werden.22 Fechner stellt fest: »Mein Körper ist hart, kantig und kompakt. Es gibt dort nichts Weiches, Rundes, und das soll auch so bleiben, bis in alle Ewigkeit, Amen.«23 Jenefer Shute beschreibt sich letztlich mit folgenden Worten: »Nur noch Knochen, kein entstellendes Fleisch mehr, nur noch reine, klare Gestalt. Knochen.«24 Das in den Texten geschilderte Erleben widerspricht damit der Annahme einer Körperschema- und Körperbildstörung als diagnostische Kriterien und verweist vielmehr auf eine grundlegende Ambivalenz. Die Diagnosekriterien gehen davon aus, dass die Betroffenen sich ihrer Magerkeit nicht bewusst seien, sich als zu dick erleben. In Form des Ekels und der damit verbundenen Ablehnung der protopathisch schwammigen Tendenz des Leibes kann dies auch leibphänomenologisch bestätigt werden. Doch die Betroffenen schildern ebenso eindringlich, dass sie spüren können, wie ihre Knochen hervortreten, außerdem den Schmerz, mit dem dieses Spüren der Knochen verbunden ist. Sie können daher nicht anders, als sich ihrer Magerkeit unmittelbar bewusst zu sein, da sie sie tagtäglich qualvoll spüren. Hier zeigt sich auch, dass Schmerz Teil des alltäglichen anorektischen Erlebens ist. Ab einem gewissen Grad der Abmagerung verursacht jede Bewegung Schmerzen. Der Körper ist übersät mit blauen Flecken, und auch beim Gehen schmerzen die Fußsohlen. Annika Fechner schildert, dass dadurch Schlaf ebenfalls kaum möglich ist: Schlafen kann ich, wenn überhaupt, nur noch flach auf dem Bauch liegend, mit Kissen unterhalb der Beckenschaufel, die hart und spitz hervorragt. In jeder Position reiben schon nach kurzer Zeit die Knochen schmerzhaft aufeinander. An den Knöcheln ist die Haut wundgescheuert, und entlang der Wirbelsäule reiht sich ein blauer Fleck an den nächsten. Es sieht aus, als wollten sich meine Knochen durch die Haut bohren.25

Die Texte sind durchzogen von solchen Schmerzschilderungen, die aufgesucht und genossen werden, regelmäßig aber auch an Grenzen des Erträglichen stoßen, was zu Versuchen führt, sie zu minimieren, beispielsweise durch das Tragen dicker Wollsocken oder mehrerer Lagen Kleidung. Neben Ekel und Schmerz steht schließlich das intensive Spüren des Hungers im Zentrum des anorektischen Erlebens. Die Betroffenen sehnen sich danach, führen den Hunger gezielt herbei und erhalten ihn aufrecht. In den Erfahrungsberichten wird das Hungererleben als ein ganzheitliches »Lebensgefühl« charakterisiert, das den Autorinnen Halt gibt.26 Hornbacher resümiert, dass sie sich nur noch auf das Spüren des Hungers konzentriert habe: 22 23 24 25 26

Erlenberger (1980), S. 115. Fechner (2007), S. 173. Shute (1994), S. 18. Fechner (2007), S. 278. Erlenberger (1980), S. 137.

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»Ich erforschte das Ausmaß des Hungers. Der Hunger war mein Ziel, mein Daseinsgrund.«27 Maria Erlenberger konstatiert, dass der Hunger das für sie dominante Gefühl wurde: »Ich hatte ein Gefühl. Das Hungergefühl.«28 Sie gab sich dem Hunger hin und konnte irgendwann nicht mehr ohne ihn sein: »Der Hunger wurde mein Gefährte. […] Er war mein Begleiter an jedem Tag. Ich tat alles, daß er mich nicht verließ, ich hätte ihn sonst vermisst.«29 Der Hunger geht mit einer starken Enge einher, die den Leib zusammenziehe, wie Schmitz ausführt. Üblicherweise sei das leibliche Spüren charakterisiert durch ein Wechselverhältnis von Enge und Weite. Der anhaltende Hunger in der Anorexie führe jedoch zu einem leiblichen Ungleichgewicht, bei dem die Enge schließlich überwiege.30 An den autobiographischen Schilderungen lässt sich darüber hinaus aufzeigen, dass Hyperaktivität, Sport und spezielle restriktive Ernährungspraktiken als Körper- und gleichzeitig Krankheitspraktiken dazu dienen, einen Ausgleich gegenüber diesem Ungleichgewicht herbeizuführen. Die Hyperaktivität zählt zu den diagnostischen Kriterien einer Anorexie und wird von der Forschung auf den Versuch zurückgeführt, Kalorien zu verbrennen. Sie äußert sich in einer generellen Ruhelosigkeit, Bewegungsdrang und exzessivem Sporttreiben. Jenefer Shute berichtet beispielsweise, dass es ihr schwerfiel, ein paar Minuten stillzusitzen, denn ihr »Körper schrie nach Bewegung«.31 Auch Lena S. gesteht: »Ständig bin ich überdreht. Immer hibbelig, kribbelig, immer schaffend, machend, nicht ein Moment Ruhe, immer am Rand des Zusammenbruchs, aber niemals innehaltend, niemals ruhend, niemals still.«32 Aus leibphänomenologischer Perspektive kann diese »krampfhafte Vielgeschäftigkeit« als Folge des Hungers beschrieben werden, der sich nicht nur durch eine massive Enge im leiblichen Befinden auszeichne.33 Diese stehe vielmehr in Konflikt mit der ebenfalls im Hunger wirksamen protopathischen Tendenz, was schließlich zu der typischen Zerstreutheit und Nervosität bei den Betroffenen führe. Im Sport versuchen sie, so lässt sich über Schmitz hinausgehend an den autobiographischen Erzählungen zeigen, dieser protopathischen Engung systematisch entgegenzuwirken und den Konflikt damit aufzulösen. Historisch lässt sich nachweisen, dass der Sport aber erst ab den 1970er Jahren, also mit dem Fitnesstrend, zu einem wesentlichen Teil der anorektischen Krankheitspraktiken wird.34 Entsprechend sind es vor allem Joggen und Aerobic, die als Sport ausgeübt werden. Auch in den Erfahrungsberichten taucht er anfangs nur vereinzelt auf. Der Sport bildet damit eine erst 27 28 29 30 31 32 33 34

Hornbacher (2010), S. 280. Erlenberger (1980), S. 119. Erlenberger (1980), S. 73. Vgl. Schmitz (1965), S. 230–236 und S. 263–268. Shute (1994), S. 155. S. (2006), S. 24. Schmitz (1965), S. 232. Vgl. Brumberg (1992). Schmitz erwähnt den Sport daher nicht.

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seit Kurzem zur Verfügung stehende Möglichkeit, in Form spezifischer sozialer Praktiken einen Ausgleich herbeizuführen und die Unruhe zu mildern. Die Betroffenen hören in der Anorexie nicht gänzlich auf zu essen, sondern verändern vielmehr grundlegend ihre Ernährungspraktiken. Die Autorinnen berichten beispielsweise, dass sich bestimmte Nahrungsmittel, wie Karotten und Äpfel, geradezu anbieten, um ein Sättigungsgefühl allein über das Beißen und Kauen herzustellen. Fechner schreibt in diesem Sinne über Karotten: »Sie sind so hart, dass man getrost eine ganze Weile an ihnen nagen und knabbern kann, man beißt, raspelt, zerkleinert, hackt, kaut und schluckt, der ganze Kiefer ist im Dauereinsatz. So schafft man sie, die perfekte Attrappe einer langwierigen Mahlzeit, ohne tatsächlich eine nennenswerte Nährstoffmenge in den Magen zu bekommen.«35 Neben diesen speziellen Nahrungsmitteln können daher auch das Kauen von Kaugummi, Rauchen und Trinken in großen Mengen die Funktion einer solchen Ersatznahrung erfüllen.36 Schmitz erklärt passend dazu, dass die protopathische Engung im Hunger nicht durch Nahrungsmittel selbst, sondern über den Essensakt aufgelöst werde, genauer: über die leiblichen Veränderungen, die durch das Kauen und Beißen herbeigeführt werden.37 Die Betroffenen fangen zudem an, langwierige und ausgefallene Rituale der Nahrungsaufnahme zu entwickeln, bei denen die Nahrung in winzige Portionen eingeteilt und jeder einzelne Bissen langsam und lange gekaut wird. Sie lassen dabei jeden Bissen auf ihrer Zunge zergehen, um ihn möglichst lange zu schmecken. Die Konzentration auf das Essen  – die Tätigkeit, den Geschmack und die Konsistenz der Nahrung  – ermöglicht eine besondere Intensität des Erlebens. Die Autorinnen beschreiben schließlich Erlebnisse der Schwerelosigkeit und des ›High-Seins‹ in den Krankheitspraktiken der Anorexie, ein Gefühl des Schwebens und Hinweggleitens, ganz ähnlich wie ein Drogenrausch. Lena S. berichtet von der Leichtigkeit, Euphorie und dem Hochgefühl, in das sie das Hungern versetzt habe und von dem sie nicht mehr lassen konnte.38 Hornbacher zieht eine Verbindung zu Suchtverhalten generell39, und Karen Margolis vergleicht das Erleben nicht nur mit Drogen, sondern auch mit demjenigen von Mystikerinnen und Mystikern: »Warum preisen wohl Mystiker die euphorischen Zustände des Fastens? Wenn man nichts ißt, fühlt man sich nach einiger Zeit wirklich wie auf Wolken. Es ist, als ob man ›high‹ wäre, ohne Drogen zu brauchen, und den ›Trip‹ zieht man aus der eigenen Fähigkeit, die Erdenschwere zu überwinden.«40 Die bisherige Forschung und Betroffene deuten diese Erfahrungen meist als Loslösung vom Körper und einem damit verbundenen Erleben von Auto35 36 37 38 39

Fechner (2007), S. 261. Der Begriff der Ersatznahrung findet sich bei S. (2006), S. 45. Vgl. Schmitz (1965), S. 233 f. Vgl. S. (2006), S. 38. Vgl. Hornbacher (2010), S. 280. Auch in der fachwissenschaftlichen Literatur wird die Anorexie als Sucht diskutiert. 40 Margolis (1985), S. 91.

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nomie. Andere beziehen sich auf biomedizinische Ansätze und erklären das typische Hochgefühl physiologisch mit der Ausschüttung von Endorphinen beim Fasten. Schmitz bezeichnet diese Zustände als privative Weitung des Leibes und führt sie auf die Enge im lang anhaltenden Hunger zurück. Diese könne so massiv werden, dass sich Enge und Weite, die sonst miteinander verflochten seien, teilweise voneinander lösen. Die sich dabei ereignende privative Weitung bezeichnet einen Zustand, der als eine Befreiung von der Enge und daher als erleichternd bis hin zur Schwerelosigkeit erlebt werde.41 Lena S.’ Beschreibungen illustrieren geradezu exemplarisch diese privative Weitung in der Anorexie: Hinübergetreten in eine andere Welt. Meine Füße kommen mir unheimlich weit entfernt vor, wie überhaupt mein ganzer Körper zu schweben scheint. Die Proportionen stimmen nicht mehr, alles fliegt, nichts passt mehr zusammen. […] Völlig entrückt. Auf Stelzen gehen. Du gehst wie auf Stelzen. […] Dein Kopf ist leer. Fühlst dich frei. Vogelfrei. […] Dieses Gefühl, dieser Moment ist es wert, ist alle Mühe wert. Du bist auf dem richtigen Weg, du alleine, und du fühlst dich, als müsstest du ewig so weitermachen, als wolltest du ewig so weitermachen, um die Schwerkraft völlig zu verlieren, um immer dieses Gefühl der Schwerelosigkeit zu fühlen, das dich berauscht wie nichts anderes berauschen kann. Du schaust in den Himmel und gehst darin auf, bist eins damit.42

Neben diesen ekstatischen Erlebnissen eröffnet die Anorexie den Betroffenen auch die Möglichkeit, sich selbst intensiv zu spüren. Sie erfüllt damit die Funktion einer Selbstvergewisserung, die zentral ist für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Krankheitspraktiken. Vor allem der Hunger, aber auch Ekel, Schmerz und starkes Frieren erschüttern das leibliche Gleichgewicht. Robert Gugutzer hat das Hungern in der Anorexie daher als eine Grenzerfahrung beschrieben, die eine leiblich spürbare Selbstgewissheit möglich mache, da sie als spürbare Enge die Betroffenen auf den Leib zurückwerfe.43 Die Autorinnen geben an, zur Zeit ihrer Anorexie sehr intensiv in der Gegenwart gelebt und sich nie lebendiger gefühlt zu haben. Vor allem das eigenleibliche Spüren des Hungers wird dabei als konstitutiv für einen Selbstbezug beschrieben. Erlenberger erschien das Hungern sogar als der letzte mögliche Zugang zu sich selbst: »Einmal wollte ich mich fangen. Ich mußte diesen Weg gehen, ich wäre mir sonst für immer entschlüpft.«44 Marya Hornbacher berichtet ganz ähnlich, es habe sie zu Beginn ihrer Anorexie eine »unersättliche Neugier« erfasst, »die Grenzen meines Selbst auszuloten«.45 Der Hunger ermöglicht die Erfahrung, dass sie existieren. Er wird zur notwendigen Überlebensbedingung, wie Erlenberger feststellt: »Ich lebte vom Hunger, wie andere 41 Vgl. Schmitz (1965), S. 230–236 und S. 263–268. 42 S. (2006), S. 38 f. 43 Karl Jaspers hat den Begriff der Grenzsituation geprägt, um Situationen zu bezeichnen, die uns ein Bewusstsein für unsere eigene Existenz vermitteln, indem sie unsere Selbstverständlichkeiten erschüttern und uns aus der Fassung bringen. Vgl. dazu Fuchs (2008). Robert Gugutzer bezeichnet »Hungern, Heißhungerattacken und freiwillig herbeigeführtes Erbrechen« allesamt als Grenzerfahrungen. Gugutzer (2005), S. 343 f. 44 Erlenberger (1980), S. 205. 45 Hornbacher (2010), S. 344.

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Menschen vom Essen leben.«46 Sie hält fest, dass sie sich im Spüren verloren habe – und damit in gewisser Weise aber auch gefunden: »Das Hungern war zu meiner Person geworden.«47 Die Anorexie verweist somit schließlich auch auf die Bedeutung des leiblichen Spürens für einen grundlegenden Selbstbezug. Neben körperdisziplinierenden und -optimierenden Praktiken prägen auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse das Selbstverständnis und die leibliche Erfahrung in der Anorexie. Dies lässt sich am Beispiel betroffener Männer zeigen, auf das ich nun eingehen möchte. Anorexie und die Frage nach der Bedeutung von Gender Die Anorexie gilt als sogenannte ›Frauenkrankheit‹, die darüber hinaus auch kultur-, schicht- und altersspezifisch codiert ist. Diese kulturellen Codierungen haben Einfluss darauf, wer auf die anorektischen Krankheitspraktiken zurückgreift und sie als Möglichkeiten des Ausdrucks von Leid begreift. Ich möchte im Folgenden einige Hypothesen zu der Frage formulieren, warum Männer zunehmend von Anorexie betroffen sind und in welcher Form Gender die Krankheitspraktiken, Narrative und das Erleben beeinflusst. Männer und geschlechtsspezifische Unterschiede rücken derzeit verstärkt in den Fokus der Forschung zu Essstörungen. Die wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit trägt zu dem Eindruck bei, dass sie auch zunehmend Männer betreffen. Auffallend ist jedoch, dass die Anorexie weiterhin als gender- und schichtgebunden beschrieben wird und die attestierte Ausweitung der Essstörungen über die Grenzen von Gender, Schicht, Alter und Kultur hinweg demnach vor allem bulimische Praktiken und Binge Eating betrifft.48 Die in den letzten Jahren vermehrt auftauchenden Erfahrungsberichte von Männern über ihre Magersucht bewirken gleichermaßen eine zunehmende Sichtbarkeit. Diese Texte beziehen sich stark auf den wissenschaftlichen Diskurs zu Essstörungen, konzentrieren sich auf die individuell psychische Ebene und verbleiben in ihrer Kritik an medialen Darstellungen und männlichen Schönheitsidealen auf einer sehr rudimentären politischen Ebene. Die Bezüge zur Forschung legitimieren die eigenen Beschreibungen und tragen zur Konstruktion einer anorektischen Identität bei. Diesbezüglich, wie auch in den Schilderungen des Erlebens von Hunger, Schmerz und Ekel, lassen sich keine wesentlichen Differenzen zu den Texten betroffener Frauen feststellen.49 Die Unterschiede zeigen sich darin, dass die Anorexie als eine Krankheit beschrieben und erlebt wird, die mit Annahmen bezüglich Geschlecht und 46 47 48 49

Erlenberger (1980), S. 168. Erlenberger (1980), S. 74. Vgl. Kersting (2007), aber auch die diversen Lehr- und Handbücher zur Gender-Medizin. Es sind immer noch sehr wenige autobiographische Texte von betroffenen Männern publiziert. Die prominentesten Beispiele, auf die ich mich im Folgenden auch beziehe, sind Frommert (2013); Wappis (2005); Grahl (2007); Krasnow (1996). Im Fokus wird vor allem das Buch von Frommert stehen.

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sexueller Orientierung einhergeht, die als problematisch erfahren werden. Die Autoren begreifen ihre Berichte daher als Interventionen in den Diskurs zu Essstörungen, der noch zu sehr davon ausgehe, dass Anorexie vor allem Frauen oder homosexuelle Männer betreffe. Den Autoren geht es um eine Reformulierung der männlichen anorektischen Identität. Dabei reklamieren sie eine sexuelle und geschlechtliche Normalität für sich, die durch ihre Anorexie nicht in Frage gestellt werde.50 Dieses konfliktgeladene Erleben hat eine Ursache im »Gender-Bias«51 der Diagnosekriterien für die Anorexie, wie sie im DSM und ICD zu finden sind und bei denen die junge Patientin als Norm fungiert. Die psychiatrische Forschung geht davon aus, dass anorektische Männer im Vergleich zu Frauen weit pathologischer seien, häufiger Persönlichkeitsstörungen sowie sogenannte Störungen der sexuellen und geschlechtlichen Identität aufweisen würden. In diesen Rahmen gehört die Annahme, männliche Homosexualität sei ein Risikofaktor für Anorexie, die implizit voraussetzt, dass Heterosexualität die gesunde und erwachsene Form von Sexualität – und ganz besonders männlicher Sexualität – sei.52 Die Diagnosekriterien gehen demnach nicht nur von der Patientin als Maßstab aus, sie sehen vielmehr auch den Anorektiker als Abweichung von einer angenommenen männlichen Norm. Das zentrale geschlechtsspezifische Kriterium einer ausbleibenden Menstruation wurde im DSM-V nun jedoch fallengelassen und damit voraussichtlich die Möglichkeit einer zunehmenden Diagnostizierung von Männern eröffnet.53 Kulturwissenschaftliche und soziologische Ansätze in der Forschung zu Essstörungen argumentieren, dass neben der grundlegenden Bedeutung von Normen, Diskursen und Praktiken auch gesellschaftliche Transformationen wesentlich sind. Für die Zunahme von Essstörungen bei Männern könnte demnach die Infragestellung von bürgerlichen Männlichkeitsnormen, -bildern und Identitäten zentral sein, wie die Soziologen Michael Meuser und Robert Gugutzer ausführen.54 Christian Frommert erwähnt in seinem erfolgreichen autobiographischen Buch »›Dann iss halt was!‹. Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe  – wie ich überlebe« ebenfalls eine solche als verunsichernd erlebte Krise von Männlichkeitsvorstellungen und damit verbundenen Sinn50 51 52 53

Vgl. besonders Krasnow (1996) gleich in der Einleitung, S. 1 f. Kersting (2007), S. 181. Vgl. Grabhorn u. a. (2003). Dieser Wandel der Diagnosekriterien erschließt auch Kinder und Frauen nach den Wechseljahren als neue Patientinnen- und Patientengruppen. Grabhorn u. a. (2003) weisen darauf hin, dass viele Anorektiker gar nicht erst in Kliniken aufgenommen werden, da sie nicht die vollständige Symptomatik aufweisen und dies eine der Voraussetzungen der Behandlung und der kassenärztlichen Abrechnung sei. Außerdem sehen sich Kliniken oft überfordert, da die Therapien auf junge Frauen ausgerichtet sind. Interessant sind hierzu auch die Erfahrungen von Frommert in Therapieeinrichtungen. Vgl. zum Beispiel Frommert (2013), S. 120. 54 Vgl. Gugutzer (2005), S. 335, und Meuser (2007). In der Männergesundheitsforschung beobachtet Meuser dabei einen Defizitdiskurs, der davon ausgehe, dass die männliche Geschlechterrolle krank mache. Das Gesundheitsverhalten von Frauen werde zum Maßstab erhoben, an dem sich Männer messen lassen müssen. Vgl. Meuser (2007), S. 79–81.

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zusammenhängen: »Männer wissen heute anders als früher nicht, wie und wer sie sein sollen, wofür sie stehen.«55 Hier finden sich Parallelen zur Ausbreitung von Essstörungen unter Frauen zur Zeit der Frauenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren. Essstörungen könnten folglich als Umgangsweisen mit gesellschaftlichen Veränderungen und damit einhergehenden Verunsicherungen aufgefasst werden. Mein Verständnis der Anorexie als Form leiblich spürbarer Selbstvergewisserung unterstreicht einen solchen Zusammenhang. Die anorektischen Krankheitspraktiken ermöglichen demnach angesichts erlebter Verunsicherungen einen Halt im Spüren und können daher eine die Identität stabilisierende Funktion erfüllen. Essstörungen entwickeln sich aus alltäglichen Diät- und Sportpraktiken heraus – und zwar ganz wesentlich über das Medium des Spürens. Das Auftreten von Essstörungen unter Männern nimmt auch zu, so lässt sich vermuten, da im Rahmen eines allgemeinen Körperbooms der männliche Körper mehr Aufmerksamkeit erhält und das körperliche Kapital auch für Männer an sozialer Bedeutung gewinnt. Die Arbeit am Körper mittels Diäten, Sport und anderen Praktiken rückt in den Fokus und wird als identitätsstiftend erfahren. Männlichkeit wird (auch) im, am und über den Körper hergestellt.56 Wie ausgeführt wurde, ist der Sport seit den 1970er Jahren zu einem wesentlichen Teil der Anorexie geworden. Es ist anzunehmen, dass dies dazu beigetragen hat, dass auch Männer auf anorektische Krankheitspraktiken zurückgreifen. Die Forschung zur Magersucht geht davon aus, dass betroffene Männer exzessiven Sport ausüben, während bei Frauen Diäten eine wichtigere Rolle einnehmen. Der Einstieg in die Essstörung erfolge bei Männern ebenfalls zumeist über den Sport. Dies wird damit erklärt, dass Diätpraktiken eine für Frauen sozial akzeptierte Praxis der Gewichtsreduktion darstellen, während bei Männern der Sport die für sie sozial legitime Maßnahme zur Körperveränderung ist. Über die jeweiligen Körperpraktiken erfolgt demnach auch ein Doing Gender. Ziel ist bei Männern jedoch meist nicht der schlanke, sondern vielmehr ein athletischer und muskulöser Körper, der als Schönheitsideal gilt.57 Vor allem im amerikanischen Sprachraum werden daher die Bezeichnungen reverse anorexia oder bigorexia nervosa verwendet, die sich auf die als pathologisch gefasste Überzeugung beziehen, über zu wenig Muskelmasse 55 Frommert (2013), S. 126. 56 Michael Meuser bemerkt, dass eine vermehrte Nachfrage durch Männer auch bezüglich der Schönheitschirurgie und Kosmetikindustrie beobachtbar sei. Vgl. Meuser (2003), S. 177. 57 Vgl. Kersting (2007); Grabhorn u. a. (2003); McCabe/Ricciardelli (2004). Kersting kritisiert, dass sich diese unterschiedliche Ausgestaltung von Essstörungen nicht in den Diagnosekriterien niederschlage. Diese gehen immer noch von dem Streben nach Schlankheit aus. Die bisherigen Studien zur Körperzufriedenheit von Männern sind ebenfalls problematisch, da diese, um die (Un-)Zufriedenheit mit dem eigenen Körper zu messen, bisher meist lediglich danach fragen, ob der Wunsch nach Schlankheit bestehe. Es ist jedoch eine differenziertere Betrachtung notwendig, die auch andere Möglichkeiten einer Unzufriedenheit aufweist, beispielsweise die Ausrichtung an dem Ideal eines muskulösen Körpers. Vgl. hierzu auch McCabe/Ricciardelli (2004).

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zu verfügen. Diese Überzeugung führe dann dazu, zwanghaft durch Sport entsprechende Muskeln aufbauen zu wollen.58 Außerdem wird in der Forschung die Überlegung formuliert, Männer würden statt zu Essstörungen vermehrt zu einer Abhängigkeit von Sport neigen im Sinne einer Sportsucht.59 Erfahrungen leiblich spürbarer Selbstvergewisserung werden folglich in sozial akzeptierten Praktiken gesucht, die oft geschlechtsspezifisch codiert sind. In den Texten von magersüchtigen Männern wird der Sport entsprechend als zentral für ihre Essstörung geschildert, da er es ihnen ermöglicht, sich intensiv zu spüren. Christian Frommert zeichnet das Bild einer obsessiven Liebesbeziehung mit der Anorexie, die mit dem Sport begann: »Ich traf sie erst spät in meinem Leben. Wir begegneten uns beim Sport. […] Ich fuhr Rad, ich rannte, und ich hungerte, so lange, bis wir uns zwangsläufig treffen mussten.«60 Er bezeichnet diese Verbindung von Hunger, Radfahren und Laufen als den ganz speziellen »Frommert-Triathlon«.61 Frommert verweist hier, wie so oft, auf die Forschung zu Essstörungen, die davon ausgeht, dass bei betroffenen Männern der Sport eine sehr große Rolle spielt: Männer neigen eher dazu, extrem viel Sport zu treiben, um abzunehmen, darum sind wir, wie bereits erwähnt, auch in viel größerer Gefahr, in die Sportanorexie abzugleiten. Also die Magersucht durch Überanstrengung in Kombination mit Nahrungsverzicht, Sporthungern. Es ist kein Zufall, dass die wenigen bekannten Fälle männlicher Magersucht unter Leistungssportlern auftraten, noch dazu in Sportarten, in denen das Gewicht eine Rolle spielt.62

Es bleibt festzuhalten, dass eine eindeutige Grenzziehung von geschlechtsspezifischen Praktiken der Körperveränderung gar nicht so klar möglich ist, da exzessiver Sport meist schnell mit restriktivem Essverhalten einhergeht – und umgekehrt restriktives Essverhalten mit Sport. Die Konzentration einiger Betroffener auf Sport als zentral für die eigene Anorexie dient vielmehr auch der Herstellung einer spezifisch männlichen anorektischen Identität. Der Anstieg von Essstörungen bei Männern verweist schließlich auf einen Wandel der kulturellen Codierung von Diäten als Körperpraktiken. Ein kontrolliertes Essverhalten drückt Disziplin, Leistungsbereitschaft und einen hohen sozialen Status aus. Es verkörpert darüber hinaus einen gesunden Lebensstil und einen verantwortlichen Umgang mit dem eigenen Körper und sich selbst. Diäten verändern sich damit von einer weiblich konnotierten Praktik zu einer sozialen Norm, über die moderne Subjekte hergestellt werden. Inwieweit diese Transformationen mit einem Wandel der Anorexie und ihrer geschlechts-, schicht- und altersspezifischen Verortung einhergehen, wird zu untersuchen sein. 58 Vgl. Kersting (2007). 59 Vgl. McCabe/Ricciardelli (2004). Es gibt Anhaltspunkte, dass eventuell fünf Prozent der jungen Männer als sportsüchtig gefasst werden könnten und 15 Prozent in die Risikogruppe fallen. Dies entspricht den Zahlen zu Essstörungen bei Frauen. 60 Frommert (2013), S. 25. Frommert spricht von der Anorexie auch als seiner ›Geliebten‹. 61 Frommert (2013), S. 188. 62 Frommert (2013), S.  122. Frommert erwähnt hier exemplarisch den Skispringer Sven Hannawald und den Ruderer Bahne Rabe.

Leibliches Erleben in Krankheitspraktiken der Anorexie

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 113–137, FRANZ STEINER VERLAG

»Gründet Frauen-Vereine und Bauet Wöchnerinnen-Asyle«.1 Geschichte der Wochenbettpflegerinnen im Deutschen Reich und ihre Situation in Stuttgart von 1880 bis 1950 Anja Waller Summary »Form women’s associations and build maternity asylums!« The history of maternity nurses (»Wochenbettpflegerinnen«) in the German Reich and their situation in Stuttgart from 1880 to 1950 This essay looks at the history of maternity nurses. Up until the end of the nineteenth century maternity care was primarily the task of relatives, midwives, unlearned »Wickelfrauen« (swaddling women) or »childbed nurses« in the women’s own home. Until the end of the nineteenth century, giving birth was, aside from tuberculosis, the most common cause of female deaths in Germany. From around 1880, physicians and politicians made every effort to improve the situation by making sure that neonatal nurses were qualified. Training centres for maternity care were founded as well as homes and asylums for women in childbed, providing a cleaner environment for giving birth and neonatal care than their private homes did. Improving maternity care took several decades and was not without controversy and setbacks. Although most physicians pleaded for a uniform training, state recognition of maternity nurses did not become a reality until 1943, under the Nazis, and for a long time the demand for nursing staff exceeded the number of qualified maternity nurses available. The situation of maternity nurses is discussed in more detail based on a case study in Stuttgart (Württemberg). What training, career and income opportunities did they find in Stuttgart? By the 1950s these »Wochenbettpflegerinnen« gradually disappeared from maternity care in a process of suppression that is discussed in conclusion with a view to the role these specialist nurses played in the interests and aims of physicians and politicians.

Einleitung 98,52 Prozent der Frauen in Deutschland haben im Jahr 2014 ihre Kinder im Krankenhaus geboren.2 Die erste Zeit des Wochenbetts verbringen die Wöchnerinnen und ihre Neugeborenen unter ärztlicher Obhut und professionell getakteter schwesterlicher Pflege. Den Vater und die Geschwister sieht das 1 2

Brennecke (1913), S. 189. http://www.quag.de/quag/geburtenzahlen.htm (letzter Zugriff: 1.3.2017).

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Neugeborene zu den Besuchszeiten, das gemeinsame Zuhause erst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Das war nicht immer so. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Geburt und die Pflege im Wochenbett vornehmlich Sache der Familienangehörigen, Hebammen, ungelernter »Wickelfrauen« oder »Wochenwärterinnen« in häuslicher Umgebung. Zugleich war die Entbindung neben der Tuberkulose bis Ende des 19. Jahrhunderts die häufigste Todesursache für Frauen in Deutschland.3 Ein Fünftel der Säuglinge verstarb vor dem ersten Geburtstag.4 In den Augen der Ärzte waren dafür die ungelernten Kräfte verantwortlich, die die Wöchnerinnen ohne fundiertes Fachwissen im Wochenbett pflegten. Johannes Benjamin Brennecke (1849–1931), Gynäkologe aus Magdeburg, der sich besonders für eine Reformierung des Hebammen- und Wochenpflegerinnenwesens einsetzte, bezeichnete 1894 »die Wickelfrauen in ihrer bisherigen Verfassung als hygienisches Uebel«5, andere nannten sie »wilde Pflegerinnen«6 oder gar »Pfuscherinnen«7. Aus der Sicht der Ärzte konnte dieser Zustand nur durch reichsweit einheitlich geschulte Wochenbettpflegerinnen verbessert werden. Zwar gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert bereits Ausbildungsstätten für diese Tätigkeit, doch die Mehrzahl der Wochenbettpflegerinnen arbeitete, ohne je eine Ausbildung absolviert oder ein Diplom erworben zu haben. Die ab ca. 1880 mehrere Jahrzehnte dauernden Anstrengungen der Ärzte und Politiker zur Verbesserung der Wochenbettpflege führten zu mannigfaltigen Veränderungen in der geburtlichen und nachgeburtlichen Praxis, für die Wochenbettpflegerinnen eine entscheidende Rolle spielten. Die Professionalisierung der Ausbildung ließ zwar die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sinken, verdrängte aber auch über Generationen weitergegebenes Wissen und Praktiken von Frauen und vergrößerte den Machteinfluss der Ärzte. Nicht alle Ärzte waren der Meinung, dass die Pflege im Wochenbett einheitliche Rahmenbedingungen erfordere, zu groß erschienen einigen die regionalen Unterschiede und Bedürfnisse im Reich.8 Zudem wurde bereits beim Medicinal-Collegium 1892 in Koblenz die Befürchtung laut, dass durch die qualitative Verbesserung der Wochenbettpflege Hebammen aus ihren Arbeitsbereichen Geburt und Wochenbett verdrängt würden, besonders wenn sich Arzt und Wochenbettpflegerin zusammentäten.9 Tatsächlich fand ein Verdrängungsprozess statt. Zum einen wurden ungelernte »Pfuscherinnen«, »Wartefrauen« und »Wickelfrauen« vom Wochenbett verbannt. Geprüfte Kräfte nahmen ihre Positionen ein. Zudem verlagerte sich der Ort der Pflege von der heimischen Wohnung in die Domäne des Arztes: in das Krankenhaus. Zum anderen verwies die Einführung von geprüften 3 4 5 6 7 8 9

Shorter (1984), S. 119. Butke/Kleine (2004), S. 17. Brennecke (1913), S. 177. Walther (1906), S. 102. Beaucamp (1896), S. 31. Schatz (1905). Frank (1899), S. 863 f.

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Wochenbettpflegerinnen Hebammen auf ihre Kernaufgaben der Geburtshilfe und Nachsorge. 1943 wurde die Ausbildung zur Wochenbettpflegerin reichsweit einheitlich geregelt. Allerdings verlor die Tätigkeit zur selben Zeit an Bedeutung. Ein Grund könnte die Zunahme der Krankenhausgeburt sein, die die Wochenbettpflegerinnen – vorerst aus der häuslichen Pflege – verdrängte. Aber auch in den Kliniken konnten sich die Wochenbettpflegerinnen offenbar nicht dauerhaft verankern. Möglicherweise spielten dabei die besser qualifizierten Säuglingsschwestern eine Rolle, deren staatliche Anerkennung bereits 1917 beschlossen wurde.10 Zudem ist zum einen denkbar, dass die (Kinder-) Krankenschwestern die Aufgaben der Wochenbettpflegerinnen auf den Wöchnerinnenstationen der Krankenhäuser übernahmen. Zum anderen drängt sich die Frage auf, ob die Hebammen durch den Bedeutungsgewinn unter den Nationalsozialisten zurück in die Wochenpflege strebten. Oder machten schlussendlich die immer besser werdenden hygienischen Zustände in den Krankenhäusern Wochenbettpflegerinnen verzichtbar(er)? Forschungsstand Bis auf eine Bachelorarbeit11 war die Geschichte der Wochenbettpflegerinnen bisher nicht Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Der Begriff der Wochenbettpflegerin findet zwar in einigen Arbeiten zur Pflegegeschichte Erwähnung, eine tiefergehende Erarbeitung des Berufsbilds und seiner Geschichte ist aber – anders als z. B. für Krankenschwestern oder Hebammen – bislang nicht vorgelegt worden. Quellenlage Die gedruckten Quellen bestehen zu einem großen Teil aus (medizinischen) Fachartikeln aus dem Zeitraum von ca. 1880 bis 1940, in denen hauptsächlich Ärzte, aber auch Politiker und zum Teil Pflegende selbst aus dem Berufsalltag und vom Bemühen um eine Verbesserung der Wochenbettpflege berichten. Ein weiterer Teil der gedruckten Quellen sind Lehrbücher für Wochenbettpflegerinnen, die den Verlauf der Ausbildung, Inhalte und Prüfungsbedingungen der einzelnen Schulen beschreiben. Auch Vereine legen mit ihren Jahresberichten und anderen Veröffentlichungen ihre Arbeit und Position im Ringen um eine Verbesserung der Pflege im Wochenbett und eine Senkung 10 HStAS, Bestand E 40/78 Bü 128, Auszug aus der Bekanntmachung des Ministeriums des Inneren, 4.10.1917, und Lempp (1922), S. 140. 11 Moghaddam Aslanpoor (2013). Moghaddam Aslanpoor befasst sich in ihrer Bachelorarbeit (Universität Stuttgart) mit der Professionalisierung, dem Tätigkeitsfeld und der Anerkennung der Wochenbettpflegerin vom Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Dafür zieht sie ausschließlich Artikel verschiedener Zeitungen und Zeitschriften als Quellen heran.

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der Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate12 dar. Außerdem existieren diverse Artikel aus Frauenzeitschriften13, die den Beruf der Wochenbettpflegerin aus weiblicher Perspektive vorstellen. Nur vereinzelt gibt es Tagebücher und Erzählungen von Frauen, die von ihrer beruflichen Tätigkeit als Wochenbettpflegerinnen berichten.14 Anhand dieser gedruckten Quellen lässt sich die Entstehung einer neuen Berufsgruppe und die Arbeit der Wochenbettpflegerinnen aus erster Hand nachvollziehen. Jedoch handelt es sich dabei hauptsächlich um Quellen der Verwaltung, der Ärzteschaft und der Lehrenden. Ego-Quellen von Wochenbettpflegerinnen selbst gibt es nur in geringer Zahl. Neben den gedruckten Quellen existieren verschiedene archivalische Quellen. Auch hier handelt es sich in erster Linie um Unterlagen der oberen und unteren Verwaltungsbehörden sowie Vereinsberichte und Korrespondenzen von Einrichtungen für Wöchnerinnen oder Wochenbettpflegeschulen. Zwar gibt es wenige Quellen von Wochenbettpflegerinnen selbst, meist in Form von Briefen, aber nur vereinzelt beschreiben diese darin ihre Ausbildung oder ihre berufliche Tätigkeit. Erkenntnisinteresse und Aufbau Zunächst sollen grundlegende Fragen zur Wochenbettsituation im Deutschen Reich im ausgehenden 19.  Jahrhundert erörtert werden: Wie sah das übliche Wochenbett einer gerade niedergekommenen Frau aus? Welche Art von Pflege erhielt die Wöchnerin und von wem? Welche Ausbildung besaß eine außerfamiliäre Pflegerin? Darauf aufbauend soll das leitende Erkenntnisinte12 Säuglingssterblichkeit bezeichnet hier die Sterblichkeit vom Tag der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Sie machte im 19. Jahrhundert einen erheblichen Teil der Gesamtsterblichkeit aus und lag in den Industriestädten über dem Gesamtdurchschnitt. Im Reichsdurchschnitt erlebte ein Fünftel der Säuglinge seinen ersten Geburtstag nicht. In Württemberg lag die Säuglingssterblichkeit 1871 bei 34,1 Prozent, sank bis 1912 auf 13,8 Prozent, erlebte 1913 einen leichten Anstieg auf 14,0 und 1914 auf 14,5 Prozent. Vgl. dazu Butke/Kleine (2004), S. 17 f., und Lempp (1918), S. 15. Die Müttersterblichkeit blieb trotz des Fortschritts in der Asepsis und Antisepsis Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich stetig hoch. In Württemberg starben noch immer 0,24 Prozent (in Bayern 0,191 Prozent, in Sachsen 0,22 und in Preußen 0,448 Prozent) der Frauen im Wochenbett am sogenannten Kindbettfieber (Puerperalfieber). Vgl. dazu Anonym (1898), S. 267 (Zahlen von Württemberg, Bayern und Sachsen aus dem Jahr 1894, von Preußen aus dem Jahr 1893). 13 In folgenden Frauenzeitschriften erschienen Artikel zur Wochenbettpflege bzw. zu Wochenbettpflegerinnen: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit, Frauenberuf. Blätter für Fragen der weiblichen Erziehung, Ausbildung, Berufs- und Hilfstätigkeit und Die Frauenbewegung. 14 Über ihre Erfahrungen als Wochenbettpflegerin in den 1950er Jahren in der Schweiz erzählt Lotte Kaufmann-Gehrig 2012 in ihrem Buch »Lorette. Ein Frauenleben diesseits und jenseits des Röschtigrabens«. Zudem liegt im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen das Tagebuch einer Frau, in dem diese auch über die Ausbildung zur Wochenbettpflegerin berichtet.

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resse die aufkommende Debatte der Ärzte, Politiker und des Fachpersonals zur Verbesserung der Pflege im Wochenbett sein. Welche Ziele verfolgten die Beteiligten konkret? Und welche davon konnten tatsächlich verwirklicht werden, welche nicht? Diese das Deutsche Reich betreffenden Fragen sollen anhand einer Fallstudie zur Situation der Stuttgarter Wochenbettpflegerinnen im selben Zeitraum konkretisiert werden. Welche Ausbildungsmöglichkeiten fanden sie in Stuttgart vor, welche Möglichkeiten der beruflichen Ausübung, Karriere- und Verdienstperspektiven gab es? Spätestens in den 1950er Jahren verschwanden die Wochenbettpflegerinnen nach und nach aus der Wochenbettpflege. Die ausgebildeten Wochenbettpflegerinnen, die zuvor ihre ungelernten Kolleginnen verdrängt hatten, wurden nun selbst ersetzt. Im Fazit werde ich diesen Verdrängungsprozess im Hinblick auf die Rolle der Wochenbettpflegerinnen für die Interessen und Ziele von Ärzten und Politikern diskutieren. Geburts- und Wochenbettsituation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und ihre öffentliche Diskussion Hilfe im Wochenbett Im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts war es üblich, dass die Mutter nach der häuslichen Geburt zwar regelmäßig von der Hebamme zur Nachsorge besucht wurde, die tägliche Pflege sowie die Versorgung des Haushaltes und der Kinder aber von weiblichen Angehörigen oder sogenannten »Wickelfrauen« bzw. »Wochenwärterinnen« erledigt wurden. Außerfamiliäre Pflegerinnen, die gegen Bezahlung in der Privatwohnung Mutter und Kind während des Wochenbetts betreuten und pflegten, kamen wohl Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Sie ersetzten damit die familiäre Pflege oder ergänzten diese.15 Der Begriff der Wochenbettpflegerin etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts und taucht von da an in zahlreichen Lehrbüchern zur Wochenbettpflege, in Aufsätzen der (medizinischen) Fachzeitschriften zur Wochenbettpflege oder Hebammenarbeit und in Ratgebern für Mütter auf.16 Die vom Arzt und der Hebamme verschriebene Schonzeit – das Wochenbett – dauerte circa sechs bis acht Wochen. Im Wochenbett sollten die Frauen eine mehr oder weniger strenge Bettruhe und spezielle Wöchnerinnendiät einhalten und sich ausschließlich der Stärkung und Rückbildung widmen. In der Praxis unterschied sich die Länge und Art des Wochenbetts von Frau zu Frau und nach Stand. Manche Frauen erledigten nur wenige Stunden oder Tage nach der Niederkunft wieder alle häuslichen Tätigkeiten, andere hatten in den ersten zehn Tagen des Frühwochenbetts Hilfe durch Verwandte oder ungelernte Pflegerinnen oder über Wochen eine gelernte Pflegerin an ihrer 15 StALB, Bestand E 163 Bü 996, Artikel Neues Tagblatt, März 1903. 16 Vgl. dazu z. B. Winckel (1893) und Schaeffer (1900).

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Seite. Letzteres war sicherlich die Ausnahme und nur Frauen aus gehobeneren Schichten der Städte vorbehalten. »Die Armen der meisten Städte entbehren eine Hilfe im Wochenbette, und auf dem Lande sind die ›GemeindeWochenpflegerinnen‹17 wohl noch überall in Deutschland unbekannt […].«18 Probleme und Maßnahmen in der Wochenbettpflege Qualifizierung der Wochenbettpflege Viele Ärzte beschuldigten die ungelernten Pflegerinnen, verantwortlich für die hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate im Deutschen Reich zu sein. Alte Bräuche und das Fehlen von Hygieneregeln machten die Pflegerinnen in ihren Augen zu einer Gefahr für Leib und Leben. Als Gegenmaßnahme entwickelte sich der Standpunkt, die Wochenbettpflege durch die Etablierung einer reichsweit einheitlichen Ausbildung zu verbessern. Große Teile der Ärzteschaft und mit ihr Politiker und Verwaltungsbeamte, aber auch Pflegevereine waren sich einig, dass neben der Einrichtung von Wöchnerinnenheimen und -asylen19, in denen Frauen die Möglichkeit geboten werden sollte, in einer sauberen Umgebung zu gebären, die Professionalisierung und Vereinheitlichung der Ausbildung zur Wochenbettpflegerin unabdingbar sei. Ende des 19. Jahrhunderts boten nur wenige Kliniken und Hebammenschulen eine Ausbildung zur Wochenbettpflegerin an. Dazu gehörte die Landeshebammenschule in Stuttgart.20 Die Bedingungen zur Aufnahme, Inhalte, Dauer und Prüfungsregularien der Ausbildung unterschieden sich enorm, und damit auch die Qualität der Wochenbettpflege.21 Die meisten Pflegerinnen boten ihre Dienste zur Pflege der Wöchnerin an, ohne jemals Unterricht auf diesem Gebiet erhalten zu haben oder ein Diplom ihr Eigen nennen zu können. Einige wenige ließen sich zwar von Ärzten einweisen oder unterrichten und erhielten von diesen eine Urkunde als Wochenpflegerin. In der Praxis war

17 (Gelernte) Wochenbettpflegerinnen, die bei der Gemeinde angestellt sind. 18 Rissmann (1905), S. 293. 19 Im Deutschen Reich existierten bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Wöchnerinnenheime, wie zum Beispiel das Heim des Mariannenvereins in Aachen (ca. 1831). Der Großteil der Wöchnerinnenheime und -asyle entstand aber mit Beginn der Debatte über die Verbesserung der Wochenbettpflege. Bis zur Jahrhundertwende wurden mehr als zehn solcher Heime eingerichtet, und weitere waren im Aufbau begriffen: Düsseldorf (1882), Mannheim (1887), Magdeburg (1888), Köln (1888), Elberfeld (1890), Bremen (1890), Karlsruhe (1892), Dortmund (1894), Ludwigshafen am Rhein (1894), Wiesbaden (1896) und Berlin (1897). Vgl. dazu Benckiser (1897), S. 694. 20 Eine der ersten Anstalten muss die Königlich hannoverische Landdrostei gewesen sein, die bereits 1862 Wärterinnenkurse anbot. Vgl. dazu Rissmann (1905), S. 291. 21 Die meisten Ausbildungskurse dauerten zwei oder drei Monate. Gefordert wurde von den Ärzten eine Ausbildungsdauer von bis zu einem halben Jahr. Vgl. dazu Bosse (1902), S. 282, und Gebauer (1913), S. 176.

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das aber nicht relevant, da sich jede mit dem nicht geschützten Titel »geprüfte Wochenbettpflegerin« schmücken durfte, was auch viele taten.22 Gemeinsames Ziel aller an der Diskussion Beteiligten – Ärzte, Politiker, Hebammen und die Pflegerinnen selbst – war eine bessere Wochenbettpflege. Der Großteil von ihnen plädierte für mehr Ausbildungsmöglichkeiten, um dadurch, zumindest in den großen Städten, allen Frauen eine fachkompetente Versorgung im Wochenbett anbieten zu können. Ungelernte »Wickelfrauen« sollten nicht mehr herangezogen werden.23 Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert entstanden allmählich mehr Krankenhäuser und Hebammenschulen, die Wochenbettpflegerinnen ausbildeten, es gab jedoch immer noch keine reichsweite einheitliche Ausbildung. Lehrplan und Dauer unterschieden sich nach wie vor erheblich – ein Zustand, den die Ärzte kritisierten. Dr. Fritz Frank, Direktor der Provinzial-HebammenLehranstalt in Köln, forderte 1899, dass jede Wochenbettpflegeschülerin eine sechsmonatige Ausbildung in einer Entbindungsklinik absolvieren und diese mit einem Examen abschließen solle. Außerdem müssten Unterrichtsinhalte und Zulassungsbedingungen überall im Kaiserreich die gleichen sein, eine Nachprüfung sei nach drei bis fünf Jahren Pflicht.24 Solche Forderungen waren bereits sieben Jahre zuvor im Medicinal-Collegium in Koblenz diskutiert worden. Damals wurden sie mit dem Argument zurückgewiesen, dass derlei Bestimmungen einer gesetzlichen Grundlage bedürften. Zudem sei eine Ausbildung zur Wochenbettpflegerin nicht nötig, da diese Aufgaben von Hebammen oder weiblichen Familienangehörigen übernommen werden könnten und Wochenbettpflegerinnen in gutsituierten Familien vom Arzt überwacht würden. Ebenfalls Grund für das zögerliche Verhalten des Medicinal-Collegiums waren Bedenken, dass ausgebildete Wochenbettpflegerinnen selbständig über Art und Weise von Entbindungen und Wochenbettpflege entscheiden würden und es zu berechtigten Beschwerden seitens der Hebammen kommen würde. Diese könnten sich von Wochenbettpflegerinnen und Ärzten weggedrängt und überflüssig sehen.25 Auf der Jahresversammlung des »Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit« im Jahr 1897 widersprachen der Donaueschinger Medizinalrat Dr. Wilhelm Hauser und der Sozialpolitiker und ehemalige Bürgermeister Dr. Emil Münsterberg (1855–1911) aus Berlin in ihren Vorträgen dieser Position. Sie führten an, dass die Wochenbettpflegerin bewusst nicht als Konkurrentin zur Hebamme etabliert werden solle – diese bliebe nach wie vor die zuständige Sachkundige für die Pflege von Wöchnerin und Säugling  –, vielmehr solle die Wochenbettpflegerin ergänzend und unterstützend da tätig werden, wo mehr Pflegebedürftigkeit bestehe, als die Hebamme zu leisten vermag. Im Falle einer an Wochenbettfieber erkrankten Wöchnerin sah der Schwäbische Frauenverein, der über die Jahresversammlung berichtete, die Wochenbett22 23 24 25

Frank (1899), S. 864. Walther (1906), S. 102. Frank (1899), S. 862 ff. Frank (1899), S. 864.

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pflegerin als wichtigste Pflegekraft. Übernähme die Hebamme die Pflege der kranken Wöchnerin, sei eine Verbreitung des Fiebers auf andere Schwangere und Wöchnerinnen nicht auszuschließen.26 Die Hebammen blieben in der Debatte nicht passiv und überreichten dem Reichstag im Jahr 1899 einen »Entwurf für ein Wochenpflegerinnengesetz« – ein Versuch, der ohne Konsequenzen blieb, »was umso auffälliger ist«, so bemerkte der Gynäkologe Rissmann, »weil sich sogar in der vorantiseptischen Zeit schon Vorschriften über die Ausbildung von Wartefrauen vorfinden«.27 Rissmann stand mit seiner Forderung, »ein deutsches Reichsgesetz für Wöchnerinpflegerinnen wie für Hebammen«28 zu erlassen, nicht alleine, nur vereinzelte Kollegen widersprachen ihm in diesem Punkt29. Trotzdem ließ sich eine reichsweite Regelung der Ausbildungsbedingungen für Wochenbettpflegerinnen auch in den Folgejahren30 nicht durchsetzen. Einzelne Länder versuchten deshalb, eigene Gesetze zu etablieren. 1902 beschloss Westfalen eine einheitliche Regelung für Wochenbettpflegerinnen mit Ausnahme der Kursdauer.31 Auch Hessen regelte Anfang der 1910er Jahre das Wochenpflegerinnenwesen.32 Eine einheitliche, staatlich anerkannte Berufsausbildung zur Wochenbettpflegerin wurde erst 1943 unter nationalsozialistischer Herrschaft eingeführt. Für bereits praktizierende Pflegerinnen war es möglich, rückwirkend eine Anerkennung zu beantragen, wenn sie eine mindestens sechsmonatige Ausbildung absolviert hatten. Notwendig dafür waren nicht nur die Vorlage von Zeugnissen und Lebenslauf, sondern auch der Nachweis über »arische« Abstammung.33 In der Verordnung für Wochenpflegerinnen vom 7. Februar 1943 wurde festgelegt, welche Voraussetzungen die Schülerin einer staatlich anerkannten Wochenpflegeschule mitbringen musste. Inhalte und Dauer der Ausbildung und Tätigkeitsfeld der Wochenbettpflegerin wurden wie folgt beschrieben: Aufgabe der Wochenpflegerin ist die Pflege von Wöchnerinnen, Neugeborenen (einschließlich der Frühgeborenen) und Säuglingen, und zwar sowohl in Anstalten wie in der Wohnung. Verrichtungen, die nach den geltenden Vorschriften Hebammen, Kran-

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Anonym (1898), S. 267 f. Rissmann (1905), S. 291. Rissmann (1905), S. 293. Eine Ausnahme war beispielsweise der Rostocker Gynäkologe Friedrich Schatz, der die Wochenbettpflege aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Staaten nicht durch Reichs-, sondern durch Landesgesetze regeln wollte. Vgl. dazu Schatz (1905). Auch rund 20 Jahre nach Rissmanns Forderung wurden Ärzte nicht müde, eine einheitliche Dienstanweisung für Wochenbettpflegerinnen anzumahnen, wie beispielsweise Obermedizinalrat Dr. Ellerbroek aus der Hebammenlehranstalt und Frauenklinik Celle im Jahr 1923. Vgl. dazu Ellerbroek (1923), S. 79 f. Mann (1923), S. 98. Mann (1923), S. 99. HStAS, Bestand E 151/54 Bü 102, Bewerbungsschreiben Sophie Holstein, 30.6.1943, und Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind im Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst (1943), S. 59.

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kenschwestern oder Säuglings- und Kinderkrankenschwestern vorbehalten sind, darf die Wochenpflegerin nicht ausführen.34

Sieht man von den Paragraphen ab, die die nationalsozialistischen Rassegesetze betreffen, so umfasst die Verordnung alle angestrebten Punkte, die Ärzte, Politiker und Wohltätigkeitsvereine seit fast 50 Jahren forderten. Eine eigene Berufsorganisation hatten die Wochenbettpflegerinnen nie. Mit der Verordnung für Wochenpflegerinnen von 1943 wurde festgelegt, dass die Reichshebammenschaft für die zuständig war.35 Verbreitung der Wochenbettpflegerinnen Das Ziel der Ärzte, nur noch geprüfte Wochenbettpflegerinnen in der Wochenpflege einzusetzen, ließ sich durch den Mangel an ausgebildetem Pflegepersonal in der Praxis zunächst nicht verwirklichen. Der Bericht der »Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg« von 1912 zeigt, dass auch circa 25 Jahre nach Beginn der Bemühungen um die Professionalisierung der Wochenbettpflege nicht alle Frauen hygienisch akzeptable Bedingungen im Wochenbett vorfanden, geschweige denn Zugang zu einer geprüften Wochenbettpflegerin hatten. Und dies, obwohl die »Zentralleitung« den Einsatz von Wochenbettpflegerinnen als Mittel der Wahl zur Verringerung der Säuglingssterblichkeit bewertete. Sie fügte jedoch hinzu, dass sich auch Hauspflegerinnen, die während des Wochenbetts lediglich den Haushalt führten, sehr bewährt hätten.36 Die Schwierigkeiten, ausschließlich gelernte Wochenbettpflegerinnen einzusetzen, waren möglicherweise nicht überall im Deutschen Reich gleich oder zeigten sich so deutlich, denn die Vertreterin der Hebammen, Olga Gebauer, schrieb bereits 1913: »Die Zeiten der ungelernten Wochenbettpflegerinnen sind glücklicherweise vorüber«37, und Ärzte und gebildete Patientinnen verlangten nach gut ausgebildeten Pflegerinnen. Der Rückgang der Mütter- und Säuglingssterblichkeit um die Jahrhundertwende und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts lässt sich sicher nicht alleine der Verbesserung von Qualität und Angebot der Wochenbettpflege zuschreiben. In Württemberg entwickelten sich besonders die Verhältnisse in den Städten in diesem Punkt vielversprechend. Trotzdem, so der Stuttgarter Obermedizinalrat Karl Lempp (1881–1960) 1918, »ist [die Säuglingssterblichkeit] keineswegs als besonders günstig zu bezeichnen. Es sterben jährlich 11–12.000 Säuglinge.«38

34 Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind im Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst (1943), S. 58. 35 Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind im Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst (1943), S. 59. 36 StALB, Bestand F 184 I Bü 653, Bericht Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg, 4.12.1912. 37 Gebauer (1913), S. 175. 38 Lempp (1918), S. 15.

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Wochenbettpflegerinnen in Stuttgart Die Ausbildungseinrichtungen (Königlich Württembergische) Landeshebammenschule In Stuttgart bot die Königlich Württembergische Landeshebammenschule am Herdweg als erste Einrichtung die Ausbildung zur Wochenbettpflegerin an. Spätestens ab 1886 wurden dort Wochenbettpflegerinnen qualifiziert.39 Oberstes Ziel der Landeshebammenschule war die Ausbildung von Hebammen. Dafür begaben sich schwangere Frauen schon frühzeitig in die Klinik, um den Hebammenschülerinnen als »Lehrobjekt« zur Verfügung zu stehen. Die Vergünstigungen, die den Frauen dafür eingeräumt wurden, sprachen vor allem unverheiratete Schwangere an.40 Um an der Landeshebammenschule erfolgreich zur Wochenbettpflegerin ausgebildet zu werden, musste man einen sechswöchigen Kurs, hauptsächlich praktischer Art, besuchen und eine anschließende Prüfung bestehen. In der Regel waren die Schülerinnen zwischen 25 und 35 Jahre alt, mussten »körperlich gesund und kräftig, geistig begabt und regsam, von tadellosem, zuverlässigem Charakter, erfahren in allen Haushaltungsarbeiten einschließlich des Kochens«41 sein. Die Ausbildung war für die Schülerinnen kostenlos, für Wohnung und Verpflegung mussten sie selbst aufkommen. Neben dem praktischen Unterricht gab es auch theoretische Einheiten, wobei darauf geachtet wurde, Kenntnisse, die nur für die Arbeit als Hebamme wichtig waren, nicht zu vermitteln. Ausschließlich für Wochenbettpflegerinnen relevante Inhalte waren Gegenstand des Unterrichts.42 Durch den Einsatz der württembergischen Königin Charlotte (1864–1946) erfuhr die Wochenbettpflege in Württemberg maßgeblichen Aufschwung. Unter ihrer Schirmherrschaft führte die »Zentralleitung« Ende des 19. Jahrhunderts eine Umfrage in den württembergischen Oberämtern, Bezirkswohltätigkeits- und Bezirkskrankenvereinen durch und verschaffte sich so einen Überblick über das Angebot und den darüber hinausgehenden Bedarf an Wochenbettpflegerinnen in den Gemeinden.43 »Diese Versuche waren so befriedigend, daß aller Grund vorliegt, auf dem betretenen Wege weiter zu schreiten und eine Verbesserung der Wöchnerinnenpflege durch Ausbildung und Anstellung von Wochenpflegerinnen anzustreben.«44 Infolge der Umfrage suchten einige Gemeinden geeignete Kandidatinnen, um sie in Stuttgart zu Wochenbettpflegerinnen ausbilden zu lassen. Es gab 39 StALB, Bestand F 236 I Bd. 197, Verzeichnis der Kurse für Wochenwärterinnen in Wochenbett- und Säuglingspflege. 40 Vorstand des Charlottenhauses für Wöchnerinnen und unterleibskranke Frauen e. V. Stuttgart (1929), S. 7 f. 41 Anonym (1900), S. 17. 42 StALB, Bestand E 191 Bü 4710, Grundbestimmung für die Wöchnerinnenpflege, o. J. 43 StALB, Bestand E 191 Bü 3338, Wöchnerinnenpflege, Allgemeines und Berichte der Oberämter über Ausbildung und Anstellung von Wochenpflegerinnen, 1897–1916. 44 Anonym (1900), S. 17.

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aber durchaus auch Gemeinden, die keinen Bedarf an Wochenbettpflegerinnen bei sich sahen oder keine geeignete Auszubildende finden konnten.45 In diesem Zeitraum gehörte die 1828 gegründete Landeshebammenschule zu einer der wenigen Einrichtungen im Deutschen Reich, die Wochenbettpflegerinnen regelmäßig ausbildeten. Die diplomierten Pflegerinnen der Landeshebammenschule gehörten damit zu einer Minderheit unter den zumeist unqualifizierten Pflegerinnen.46 Die Auszubildenden der Landeshebammenschule kamen aus ganz Württemberg, Vereine und Gemeinden schickten ihre angestellten Wochenbettpflegerinnen zur Ausbildung nach Stuttgart.47 Eine dieser Frauen war die Krankenpflegerin Elise Nonnenmann aus Nagold. Die gelernte Krankenpflegerin besuchte 1901 einen sechswöchigen Wochenpflegekurs an der Landeshebammenschule und war beim Bezirkswohltätigkeitsverein Nagold als Wochenbettpflegerin angestellt.48 Über die Inhalte der Ausbildung zur Wochenbettpflege an der Landeshebammenschule gibt es nur wenige überlieferte Quellen, wohl aber das Lehrbuch »Die Wochenbettpflege. Leitfaden für Kindbettwärterinnen« von Dr. Albert Wagner49, Assistenzarzt und Lehrer an der Hebammenschule. Sein Leitfaden erschien das erste Mal 1897, wurde nicht nur in Stuttgart, sondern auch an anderen Schulen als Grundlage für den Wochenpflegeunterricht genutzt und später sogar ins Französische übersetzt.50 Gegenstand des Unterrichts waren hauptsächlich »Die Wartung des Kindes« und »Die Pflege der Wöchnerin«. Mit Beginn des Nationalsozialismus fanden ideologische Unterrichtsinhalte Einzug in die Ausbildung. Zudem bekamen die volksdeutschen51 Schülerinnen an der Landeshebammenschule neben dem regulären Fachunterricht zwei Stunden wöchentlich »Elementar-Unterricht in Deutsch, Rechtschreiben, 45 StALB, Bestand E 191 Bü 3338, Auszug aus dem Amtsversammlungs-Protokoll, 10.7.1899, und Brief Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins [d. i. die »Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg« vor ihrer Umbenennung – A. W.], 16.2.1911, sowie Brief Bezirkswohlfahrtsverein Tübingen, 23.4.1914. 46 Beaucamp (1896), S. 31 ff. 47 StALB, Bestand E 191 Bü 4710, Grundbestimmung für die Wöchnerinnenpflege, o. J. 48 StALB, Bestand E 191 Bü 3338, Anzeige Wöchnerinnenpflege, 1901. 49 Wagner (1909). 50 Mit der Professionalisierung der Wochenbettpflege erschienen diverse Lehrbücher für die Ausbildung und berufliche Praxis der Wochenbettpflegerinnen. Meist waren die Leiter der Hebammen- und Wochenbettpflegeschulen Autoren der Werke, die sie für ihren Unterricht verfasst hatten. Außer Wagner waren dies zum Beispiel Franz Winckels »Lehrbuch der Geburtshülfe. Einschliesslich der Pathologie und Therapie des Wochenbettes. Für praktische Ärzte und Studierende« von 1893, Paul Rissmanns »Lehrbuch für Wochenbettpflegerinnen« von 1901, Fritz Manns »Die Pflege der Wöchnerin und des Säuglings. Ein Handbuch für den Unterricht« von 1904 und August Mayers »Wöchnerinnen- und Säuglingspflege. Bd. 1: Lehrbuch der Wöchnerinnen-, Säuglings- und Kleinkindpflege für Pflegerinnen, Schwestern und Mütter« von 1937. 51 Als »Volksdeutsche« wurden im Nationalsozialismus solche Personen bezeichnet, die außerhalb des Deutschen Reiches und Österreichs lebten, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, aber deutscher Volkszugehörigkeit waren.

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Rechnen und Lesen, sowie auch eine Belehrung in deutscher Geschichte und Erdkunde«52. Wie einige Quellen belegen, erhielten alle Hebammenschülerinnen und Wochenbettpflegeschülerinnen an der Landeshebammenschule spätestens seit Anfang 1943 weltanschauliche Schulungen durch die NSDAP. Die Inhalte dieser Schulung reichten von Erb- und Rasselehre über Umsiedelung in die Ostgebiete bis hin zum Thema Frau im Nationalsozialismus, Familie, Erziehung und Volkswohlfahrt.53 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Professor Dr. Reichenmiller ärztlicher Leiter der Wochenpflegeschule an der Landeshebammenschule. Sein Stellvertreter blieb Oberarzt Dr. Franz, der bereits während des Nationalsozialismus unter Dr. Fetzer stellvertretender Oberarzt war.54 Charlottenhaus für Wöchnerinnen und unterleibskranke Personen Im Jahr 1904 erfolgte die Vereinsgründung des Stuttgarter Wöchnerinnenheims, das später in »Charlottenhaus für Wöchnerinnen und unterleibskranke Personen« umbenannt wurde. Verheiratete Frauen aller Schichten konnten im neugegründeten Heim in der Paulinenstraße 37a55 gebären und die Zeit des Wochenbetts dort verbringen. Die Gebühren für Geburt und Aufenthalt während des Wochenbetts richteten sich nach den finanziellen Möglichkeiten der Wöchnerin. Neben der Pflege von Wöchnerinnen hatte sich das Heim die Ausbildung von Wochenbettpflegerinnen zum Ziel gesetzt, um dem Mangel an geeignetem Pflegepersonal für die Wochenpflege entgegenzuwirken. Das Wöchnerinnenheim wurde vom Gemeinderat mit jährlichen Beiträgen unterstützt.56 Die Gründung eines Wöchnerinnenheims mit Ausbildungsstätte für Wochenbettpflegerinnen ging in Stuttgart nicht ohne Diskussionen ob der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung einher. Vor allem die Landeshebammenschule, die eine Konkurrenzsituation fürchtete, bekämpfte die neu zu gründende Einrichtung. Dr. Kleinertz, der spätere ärztliche Leiter des Charlottenhauses, hielt im März 1903 einen Vortrag vor den Mitgliedern der Ortskrankenkasse, um sein Anliegen zu verdeutlichen. Er führte an, dass durch Ignaz Semmelweis’ (1818–1865) Nachweis über die Entstehung des Kindbettfiebers die Sterbe52 StALB, Bestand F 236 I Bü 101, Antrag württembergischer Innenminister, 12.8.1943. 53 StALB, Bestand F 236 I Bü 101, Brief Innenministerium, 23.5.1944, und Schulungsplan 1941. 54 StALB, Bestand F 236 I Bü 114, Brief Württembergisches Innenministerium, 6.4.1949, und Brief Württembergisches Innenministerium, 4.9.1943. 55 Nachdem das Charlottenhaus bereits 1906 in größere Räume in der Silberburgstraße 85 umgezogen war, vergrößerte sich das Wöchnerinnenheim in den 1930er Jahren erneut und zog 1934 in eine herrschaftliche Villa in der Gerokstraße 31, wo sich das Charlottenhaus auch heute noch befindet. Vgl. dazu StadtAS, Bestand 201/1-1171, Niederschrift Gemeinderat, 17.10.1934, und https://www.rbk.de/standorte/klinik-charlottenhaus/dashaus/geschichte.html (letzter Zugriff: 1.3.2017). 56 StadtAS, Bestand 201/1-1171, Protokoll Gemeinderat, 4.6.1904.

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zahlen in den Kliniken durch peinliche Einhaltung der Hygiene bedeutend abgenommen hatten, »in den Privathäusern aber ging die Seuche wie ein Gespenst weiter, da der aseptische Apparat der Klinik nicht ohne weiteres in das Privathaus übertragen werden kann und da es namentlich in ärmeren Familien oft am Allernotwendigsten, nämlich der Reinlichkeit fehlt«.57 Außerdem verwies Kleinertz auf die erfolgreichen Wöchnerinnenasyle anderer Städte, die reichlich frequentiert würden. Ein weiteres Argument führte er für die Gründung an, nämlich die gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind. Erkrankte die Wöchnerin, wurde diese bislang getrennt von ihrem Säugling untergebracht. Vor allem in Hinblick auf die Ernährung des Säuglings wurde das als problematisch angesehen. Mit der Forderung der gemeinsamen Unterbringung standen die Vereinsgründer des Charlottenhauses nicht alleine. Auch die von Johannes Rominger (1815–1891) gegründete »Krippe und Kinderpflege Zoar«58 regte an, eine Einrichtung zu schaffen, die Mutter und Säugling gemeinsam aufnimmt. Die Landeshebammenschule widersprach den von Kleinertz aufgeführten Argumenten. Sie bezweifelte den Nutzen eines Wöchnerinnenasyls und bot an, selbst Wöchnerinnen mit ihren Kindern aufzunehmen. Die Landeshebammenschule plante zu diesem Zeitpunkt eine Erweiterung ihrer Klinik, um in Zukunft auch verheiratete Frauen aufnehmen zu können.59 Die Diskussion über die Gründung eines Wöchnerinnenheims in Stuttgart wurde auch in der lokalen Presse geführt. Dr. Kleinertz begegnete den Bedenken mit einem Leserbrief »Ist in Stuttgart die Errichtung von Wöchnerinnen-Asylen nötig?« im Neuen Tagblatt und bemerkte: »[D]ie Art und Weise, in welcher die Direktion der K. Landeshebammenschule diese Frage verneint, darf nicht unwidersprochen bleiben.«60 Kleinertz führte diverse Städte des Reichs auf, in denen Hebammenschulen, Wöchnerinnenheime und geburtshilfliche Kliniken friedvoll nebeneinander existierten. Und er widersprach der Direktion der Landeshebammenschule, dass nur wenige, »unordentliche« Frauen in ein Wöchnerinnenheim gehen würden. Vor allem die hygienischen Zustände mancher Privatwohnungen, führte Kleinertz an, seien ein Grund, weshalb verheiratete Frauen froh seien, in einem Wöchnerinnenheim gebären zu können. Auch betonte er, dass die Hebammenschule durch die Gründung eines Wöchnerinnenasyls keine Schädigung erfahren werde, da das Asyl verheiratete Frauen aufnehme, die bisher in der Landeshebammenschule keine Aufnahme fänden.61 57 StALB, Bestand E 163 Bü 996, Artikel Neues Tagblatt, März 1903. 58 Die »Krippe und Kinderpflege Zoar« wurde 1878 von dem Kaufmann Johannes Rominger in Stuttgart-Heslach für verwahrloste Jungen und Mädchen des Stadtteils gegründet. Vgl. dazu http://www.romingertagheim.de/pages/geschichte.html (letzter Zugriff: 1.3.2017). 59 StadtAS, Bestand 201/1-1171, Auszug aus dem Protokoll der Abteilung des Gemeinderats für innere und ökonomische Verwaltung, 4.6.1904. 60 StALB, Bestand E 163 Bü 996, Leserbrief Kleinertz, Neues Tagblatt, März 1903. 61 StALB, Bestand E 163 Bü 996, Leserbrief Kleinertz, Neues Tagblatt, März 1903, und Zuschrift Direktion der Landeshebammenschule, Neues Tagblatt, März 1903.

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Die Eröffnung 1904 stellte sich schon bald als richtige Entscheidung heraus. Jährlich stiegen die Zahlen der aufgenommenen Frauen, und der Verein bedauerte darüber hinaus, Frauen aus Platzmangel ablehnen zu müssen. Aber auch finanzielle Probleme begleiteten das Wöchnerinnenheim, so dass es immer wieder um großzügige Spenden bat. Die Spender wurden zum Teil namentlich in den Vereinsberichten genannt. Zudem sicherten auch kleinere Geldspenden oder Naturalabgaben das Überleben des Wöchnerinnenheims.62 Jeweils am 1. April und 1. Oktober begann ein sechsmonatiger Ausbildungszyklus für Wochenbettpflegerinnen. Die Schülerinnen erhielten sowohl Unterricht auf den geburtshilflich-gynäkologischen Stationen als auch theoretische Schulungen. Neben einem Taschengeld bekamen sie freie Kost und Logis.63 In den ersten Jahren des Bestehens wurden pro Zyklus jeweils 15  Schülerinnen ausgebildet, ab 1919 stieg die Zahl auf bis zu 43 in den 1920er Jahren.64 Auch bis 1936 blieben die Zahlen stabil zwischen 36 und 40 Schülerinnen pro Jahr.65 Der leitende Arzt Dr. Kleinertz wurde nicht nur von seinem ständigen Assistenten und den Hebammen, Wochenbettpflegerinnen und dem Wirtschaftssowie Verwaltungspersonal unterstützt, er bekam auch zusätzlich medizinische Hilfe von verschiedenen Ärzten aus Stuttgart. Im Vereinsbericht 1909 wurden dabei besonders Dr. Hugo Levi und Dr. Achilles hervorgehoben.66 Der Erste Weltkrieg brachte für das Wöchnerinnenheim große Veränderungen. Dr. Kleinertz starb während des Krieges im Jahr 1916, und das Heim stürzte in diesen problematischen Zeiten in große ökonomische Schwierigkeiten. Nach Rücksprache mit der Stadt gab das Wöchnerinnenheim einen Teil seines Angebots, die gynäkologischen Operationen, auf und besann sich nunmehr ausschließlich auf die Betreuung der Geburt und des Wochenbetts von armen und mäßig bemittelten verheirateten Frauen und die Ausbildung von Wochenbettpflegerinnen. Mit dem Ableben von Dr. Kleinertz begann ein häufiger Wechsel des ärztlichen Personals. Der bisherige Assistenzarzt Dr. Helferich übernahm vorläufig die ärztliche Leitung, ihm folgte Professor Dr. Karl Baisch, der dieses Amt aber ebenfalls nur wenig später, im Mai 1917, aufgab. Ihn vertrat für kurze Zeit Dr. Hermann Müller, bevor Dr. Helene Söldner als erste Ärztin zwei Jahre lang das Amt begleitete. Als diese jedoch heiratete, übernahm Dr. Marga Wolf vertretungsweise die ärztliche Leitung, bevor Mitte Juni 1919 Otto Mayer den Posten antrat.67

62 StALB, Bestand E 191 Bü 3834, Vereinsbericht Stuttgarter Wöchnerinnenheim, 1909, und StadtAS, Bestand 201/1-1171, Aufruf zur Errichtung eines Neubaus für das Stuttgarter Wöchnerinnenheim, 1914. 63 Charlottenhaus Stuttgart (1984). 64 Vorstand des Charlottenhauses für Wöchnerinnen und unterleibskranke Frauen e. V. Stuttgart (1929). 65 Charlottenhaus für Wöchnerinnen und unterleibskranke Frauen (1930–1935). 66 StALB, Bestand E 191 Bü 3834, Vereinsbericht Stuttgarter Wöchnerinnenheim, 1909. 67 StALB, Bestand E 191 Bü 3834, Vereinsberichte Charlottenhaus e. V. Stuttgart, 1915 bis 1919.

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Im Jahr 1920 brach der Konflikt zwischen der Landeshebammenschule und dem Charlottenhaus erneut aus. Aufgrund seiner problematischen finanziellen Situation, die das Charlottenhaus in seinem Vereinsbericht68 beschrieb, erwartete der Direktor der Landeshebammenschule, Dr. Fetzer, die Gewährung eines weiteren Geldbetrages des Staates an das Charlottenhaus. Das veranlasste ihn, einen Brief an das Württembergische Innenministerium zu schreiben, in dem er darlegte, warum er die Gewährung eines Beitrages nicht nur für unnötig, sondern auch für »staatsschädigend« hielt. In einer Verringerung der Ausbildungsplätze im Charlottenhaus sähe er keine Probleme, da die Landeshebammenschule schließlich auch Wochenbettpflegerinnen ausbilde und diese zudem »über viel bessere und reichere Lehrmittel«69 verfüge. Außerdem schrieb er: Schliesslich möchte ich doch hervorheben, dass der Staat dadurch, dass er in der Landeshebammenschule Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen kostenlos aufnimmt, der Stadt schon ausserordentlich viel Kosten abnimmt, es also nicht recht einzusehen ist, dass er einer Anstalt, die von der Stadt unterstützt wird, auch noch finanziell unter die Arme greifen soll.70

Es ist nicht bekannt, wie die Regierung in Bezug auf die Gewährung eines Geldbetrages an das Charlottenhaus entschied. Im Zweiten Weltkrieg musste der Klinikbetrieb 1944 wegen Bombenschäden geschlossen werden. Erst 1949 durfte die Wochenpflegeschule wieder eröffnen.71 In den 1960er Jahren nahmen an der dann sechs Monate dauernden Ausbildung jeweils zwölf Auszubildende teil. Nur 15 Prozent der Schülerinnen kamen aus Stuttgart selbst.72 In der Jubiläumsschrift zum 80-jährigen Bestehen wird berichtet, dass in acht Jahrzehnten 1.900 Schülerinnen ihr Examen zur Wochenbettpflegerin im Charlottenhaus bestanden haben.73 St. Anna-Klinik Bad Cannstatt Erst Jahrzehnte nach der Gründung des »Charlottenhauses für Wöchnerinnen und unterleibskranke Personen«, nämlich 1950, etablierte sich in Stuttgart eine dritte Einrichtung zur Ausbildung von Wochenbettpflegerinnen: die Wochenbettpflegeschule der katholischen St. Anna-Klinik in Bad Cannstatt. Sie startete mit einer Höchstgrenze von acht Schülerinnen. Leiter der Wochenpflegeschule wurde Dr. Kullmann, der Unterstützung durch den Kinderarzt 68 StALB, Bestand E 191 Bü 3834, Vereinsberichte Charlottenhaus e. V. Stuttgart, 1915 bis 1919. 69 StALB, Bestand EL 20/5 I Bü 280, Brief Fetzer, 19.3.1920. 70 StALB, Bestand EL 20/5 I Bü 280, Brief Fetzer, 19.3.1920. 71 StadtAS, Bestand 19/1-1622, Brief Innenministerium Württemberg-Baden, 31.3.1949, und https://www.rbk.de/standorte/klinik-charlottenhaus/das-haus/geschichte.html (letzter Zugriff: 1.3.2017). 72 StALB, Bestand EL 20/5 I Bü 280, Brief Bürgermeisteramt Stuttgart, 14.11.1963, und Brief Charlottenhaus e. V., 24.9.1963. 73 Charlottenhaus Stuttgart (1984).

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und Lehrer für Säuglingspflege Dr. Bujnoch und die Lehrhebamme Cäcilie Veiglhuber fand.74 Dass katholische Ordensschwestern Wochenbettpflege anboten, mag verwundern; sicher ist im Falle der St. Anna-Klinik nicht, ob Ordensschwestern dort selbst die Wochenbettpflege verrichteten oder die Wochenbettpflegerinnen externe Angestellte waren. Dokumentiert ist jedoch, dass es durchaus katholische Ordensschwestern gab, die dieser Tätigkeit nachgingen. Ein Beispiel dafür sind die Barmherzigen Schwestern in Untermarchtal, die seit 1919 in Schwäbisch Gmünd das Wöchnerinnen- und Säuglingsheim »Margaritenheim für Mutter und Kind« betrieben. Dort wurden katholische Ordensschwestern und Frauen aller Konfessionen zu Säuglings- und Wochenbettpflegerinnen ausgebildet.75 Die Oberin des Margeritenheims, Schwester Leonida Kienzle, war in Düsseldorf ausgebildete Säuglings- und Wochenbettpflegerin.76 Aus dem Jahr 1943 existiert ein Schwesternverzeichnis des Mutterhauses der St. Anna-Schwestern in Ellwangen an der Jagst. Die 17 dort aufgeführten Schwestern hatten bis auf sechs alle eine Ausbildung zur Wochenbettpflegerin absolviert. Mindestens fünf von ihnen erhielten ihre Ausbildung in Stuttgart.77 Bei den Diakonissen war die Wochenbettpflege nicht in jeder Gemeinschaft erlaubt. So kann man in der Ordnung des Diakonissenhauses in Schwäbisch Hall von 1900 Folgendes nachlesen: »Die Pflege der Wöchnerinnen, d. h. die gewöhnliche ›Wochenpflege‹ ist, wie in jedem Diakonissenhaus, unsern Diakonissen verboten.« Und auch: »Solche Dienstleistungen in der Männerpflege, welche mit dem weiblichen Zartgefühl und der guten Sitte im Widerspruch stehen, sind den Diakonissen untersagt.«78 Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung der Wochenbettpflegeschule der St. Anna-Klinik richtete sich nach der Verordnung für Wochenpflegerinnen vom 7. Februar 1943, mit dem Zusatz: »[s]oweit [die Bestimmungen] in politischer Hinsicht heute noch anwendbar sind«.79 Die Arbeitswirklichkeit Tätigkeitsbereiche Auf der Jahresversammlung des »Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit« 1897 in Kiel verständigten sich Ärzte und Politiker nicht nur auf zwei Grundsätze der Wochenbettpflege – die Pflege bedürftiger Wöchnerinnen solle in höherem Maße Gegenstand fürsorgender Tätigkeit sein, und man wolle das Hebammenwesen in Zukunft zweckmäßiger gestalten, um die Wochenbetthygiene zu verbessern  –, sondern auch auf einen dritten  – nicht unumstritte74 75 76 77 78

StadtAS, Bestand 19/1-1620, Brief Innenministerium Württemberg-Baden, 2.9.1950. StALB, Bestand E 162 I Bü 597, Brief Katholischer Frauenbund, 15.4.1919. StALB, Bestand E 162 I Bü 597, Säuglings- und Wöchnerinnenheim, o. D. StALB, Bestand FL 30/1 II Bü 45, Schwestern-Verzeichnis St. Anna Schwestern, 1943. StALB, Bestand F 166 IV Bü 1365, Ordnung des Diakonissenhauses Schwäbisch Hall, 1900. 79 StadtAS, Bestand 19/1-1620, Brief Innenministerium Württemberg-Baden, 2.9.1950.

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nen  – Grundsatz: den geeignetsten Ort für das Wochenbett und damit den Tätigkeitsbereich der Wochenbettpflegerin. Nicht erst während der Versammlung, bereits in der vorangegangenen Diskussion in Fachzeitschriften bestand ein Dissens darüber, ob eine Wöchnerin generell oder nur im Krankheitsfall das Wochenbett in einem Wöchnerinnenheim verbringen solle. Schließlich beschloss man als dritten Grundsatz, dass die Aufgaben der Wochenbettpflege in der Besorgung des Haushalts der Wöchnerin und der sachverständigen Pflege von Wöchnerin und Kind bestehen sollte. Dabei konnte die Wochenbettpflegerin entweder im Haus der Wöchnerin angestellt sein oder in einem Wöchnerinnenheim, das die Wöchnerin während des Wochenbetts aufnahm. In letzterem Falle sollte eine Hauspflegerin den Haushalt der Wöchnerin in deren Abwesenheit versorgen.80 Nach Abschluss ihrer Ausbildung standen den Wochenbettpflegerinnen in Stuttgart damit verschiedene Möglichkeiten für ihre Berufsausübung offen: als angestellte Wochenbettpflegerin in Entbindungskliniken und Wöchnerinnenheimen, bei Gemeinden und Vereinen oder als selbständige freiberufliche Wochenbettpflegerin. Arbeitsmittelpunkt konnten also eine Klinik, ein Heim oder die Privatwohnungen der zu betreuenden Frauen sein. Obwohl die Landeshebammenschule Wochenbettpflegerinnen ausbildete, waren dort selbst nur wenige angestellt. Im Jahr 1906 waren es lediglich zwei ständige Pflegerinnen.81 Neben dem Charlottenhaus gab es in Stuttgart weitere Wöchnerinnenheime, zum Beispiel das in Hedelfingen, dessen Gründung im Jahr 1922 genehmigt wurde. Der ärztliche Leiter, Dr. Schmiedhäuser, stiftete dafür das Haus in der Esslinger Straße 56.82 Auch die (Wochen-)Pflegevereine in Stuttgart stellten Wochenbettpflegerinnen an und gründeten zum Teil auch Wöchnerinnenheime. Besonders das Engagement der »Zentralleitung« Ende der 1890er Jahre hatte für mehr Arbeitsplätze für Wochenbettpflegerinnen gesorgt.83 Diejenigen, die über die »Zentralleitung« vermittelt wurden, bekamen eine »Grundbestimmung für die Wöchnerinnenpflege«, die alle Belange genau regelte, so auch die Unterordnung unter die Anweisung von Arzt und Hebamme. Durch die Vermittlung der »Zentralleitung« war die Wochenbettpflegerin an die Anstellung zunächst gebunden. Beendete sie innerhalb der ersten drei Jahre nach der Ausbildung dennoch ihre Anstellung und arbeitete danach beispielsweise als freiberufliche Wochenbettpflegerin, so war sie verpflichtet, sich nachträglich an den Ausbildungskosten zu beteiligen.84 Es muss davon ausgegangen werden, dass parallel zur Forcierung und Verbesserung der Ausbildung in Stuttgart immer auch Wochenpflege von unge80 Albrecht (1897). 81 Weinberg (1906), S. 237. 82 StadtAS, Bestand 201/1-2975, Auszug aus dem Gemeinderatsprotokoll für innere Verwaltung, 6.3.1923. 83 Anonym (1900). 84 Anonym (1900), S. 18.

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lernten Pflegerinnen oder Pflegepersonal ohne spezifische Ausbildung in der Wochenbettpflege durchgeführt wurde. Die Arbeiterwohlfahrt in Stuttgart bot beispielsweise neben allgemeiner Fürsorge auch Kranken- und Wochenpflege an und erwähnte in ihrem Tätigkeitsbericht 1929 und in ihren Jahresberichten und Briefen zu den Haushaltsplänen 1927 bis 1931 ausschließlich Pflegerinnen für die Wochenbettpflege und wegen der großen Nachfrage auch Aushilfspflegerinnen und verwies zudem auf die steigende Zahl der ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen in der (Wochenbett-)Pflege. Wochenbettpflegerinnen wurden nicht explizit genannt.85 Es ist deshalb anzunehmen, dass zumindest einige dieser Pflegerinnen, vor allem die, die nur aushilfsweise oder ehrenamtlich arbeiteten, keine Ausbildung zur Wochenbettpflegerin absolviert hatten. Dennoch verrichteten sie alle gängigen Aufgaben im Wochenbett: Wirklich gedient ist ja auch nur mit ganztägiger Pflege, besonders bei Wochenpflegen oder wenn die Hausfrau darniederliegt und Kinder versorgt werden müssen. Hier ist unsere Hilfe auch am notwendigsten. Bei ganztägiger Pflege übernehmen unsere Pflegerinnen, soweit es die Inanspruchnahme des Patienten zuläßt, auch die Führung des Haushalts und die Betreuung der Kinder.86

Die katholische Haus- und Wochenpflege »Schwesternheim ›Caritas‹« beschäftigte für die Pflege mindestens sechs bis sieben Schwestern. Unklar ist hier ebenfalls der Ausbildungsstatus der pflegenden Schwestern.87 Während des Ersten Weltkriegs bot auch der »Nationale Frauendienst« Haus- und Wochenpflege an und kümmerte sich um arme kranke Frauen und Wöchnerinnen, die keine familiäre Hilfe hatten, während sich der Ehemann als Soldat an der Front befand. Zu Beginn setzte der »Nationale Frauendienst« dabei auf ehrenamtliche Helferinnen und damit höchstwahrscheinlich auf ungelernte Kräfte, musste einigen von ihnen jedoch aufgrund der großen Nachfrage schon bald ein Taschengeld gewähren und nach und nach Pflegerinnen einstellen.88 Auch hier ist nicht klar, ob und welche Ausbildung sie genossen hatten. Sicher ist jedoch, dass auch die Pflegerinnen des »Nationalen Frauendienstes« die gleichen Aufgaben in den Familien übernahmen wie geprüfte Wochenbettpflegerinnen: »[…] so übernimmt die Pflegerin nicht nur die Pflege der Kranken, sondern auch deren gesamten Pflichtenkreis; sie hat für Ordnung und Sauberkeit im Haushalt zu sorgen, zu kochen, zu waschen und putzen, sowie die Kinder zu versehen.«89 Im ersten Kriegswinter eröffnete der »Nationale Frauendienst« zudem ein Wöchnerinnenheim, das »Entbindungsheim Ottilienheim« in der Rotebühlstraße 79, in dem Ehefrauen von Soldaten aus dem ganzen Land gemeinsam

85 StadtAS, Bestand 10-4330, Tätigkeitsbericht 1929 und Jahresberichte und Briefe 1927– 1931. 86 StadtAS, Bestand 10-4330, Tätigkeitsbericht 1929. 87 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Jugendamt Stuttgart, 20.8.1925. 88 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Nationaler Frauendienst, 8.5.1918. 89 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Dienstanweisung für Pflegerinnen in der Haus- und Wochenpflege, o. J.

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mit ihren Säuglingen stationär versorgt wurden.90 Nach dem Krieg blieb die Haus- und Wochenpflege des »Nationalen Frauendienstes« bis mindestens 1920 weiter bestehen und erhielt finanzielle Unterstützung aus dem Württembergischen Arbeitsministerium.91 Nur wenig später führte der politisch und religiös unabhängige »Verein für Haus- und Wochenpflege« in Stuttgart ein Entbindungsheim in der Rotebühlstraße 79; offensichtlich führte er das Entbindungsheim des »Nationalen Frauendienstes« fort. Zeitgleich bot der Verein die häusliche Pflege von Wöchnerinnen an.92 Für die Finanzierung seiner Pflege erhielt der Verein Gelder vom städtischen Jugendamt.93 Der »Württembergische Verein für Mutterschutz« unterhielt ebenfalls ein Heim. In der Kornbergstraße 36a fanden hilfsbedürftige Frauen vor und nach der Geburt, mit oder ohne ihren Säugling Aufnahme und Hilfe im Wochenbett.94 Außer den genannten Vereinen in Stuttgart gab es im Großraum weitere Vereine für Wochenpflege, die Wochenbettpflegerinnen anstellten, so zum Beispiel das Heim der Wöchnerinnen-Fürsorge des Frauenvereins in Ludwigsburg oder der »Hauspflege- und Wöchnerinnen-Fürsorge Verein Eßlingen«.95 In Stuttgart hatten Wochenbettpflegerinnen damit eine ganze Reihe unterschiedlicher Arbeitsmöglichkeiten. Aufgrund der fehlenden Ego-Quellen ist aber über den Alltag der freien Wochenbettpflegerinnen kaum etwas bekannt. Angebot und Nachfrage Seit Juli 1901 konnten sich bedürftige Familien bei Bedarf an den Bezirkswohltätigkeitsverein wenden, wenn sie die Hilfe einer Wochenbettpflegerin benötigten. Kosten entstanden für die Familien nur, wenn ihre finanziellen Möglichkeiten dies zuließen.96 Das für bedürftige Familien kostenfreie Angebot einer Wochenbettpflegerin einerseits und die immer noch geringe Zahl an ausgebildeten Wochenbettpflegerinnen andererseits ließen ein Ungleichgewicht von Angebot und Bedarf entstehen. Immer wieder wurde von den Vereinen betont, dass die Nachfrage nach Wochenbettpflege ihre Möglichkeiten übersteige. Deutlich 90 StadtAS, Bestand 201/1-1163, Amtsblatt, 5.8.1920, und Brief Städtisches Armenamt, 7.6.1916, sowie StALB, Bestand E 162 I Bü 1388, Gesuch der Abteilung Haus- und Wochenpflege, 22.7.1919. 91 HStAS, Bestand E 361 Bü 194, Brief Verein für Haus- und Wochenpflege, 22.9.1920, und Brief Württembergisches Arbeitsministerium, 11.2.1920. 92 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Jugendamt Stuttgart, 14.12.1922. 93 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Haus- und Wochenpflege, Stuttgart, 12.5.1921, und Brief Haus- und Wochenpflege, Stuttgart, 25.10.1922. 94 StadtAS, Bestand 201/1-1163, Bericht über Schwangeren- u. Wöchnerinnenfürsorge, 25.9.1912. 95 StALB, Bestand E 191 Bü 3305, Vereinssatzung Frauenverein Ludwigsburg, 1912, und StALB, Bestand E 191 Bü 4049, Jahres-Bericht Hauspflege- und Wöchnerinnen-Fürsorge Verein Eßlingen, Mai 1912–1913. 96 StALB, Bestand E 191 Bü 3338, Dienstvertrag der Wochenpflegerin, 1901.

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mehr Frauen suchten demnach nach Wochenbettpflegerinnen, als diese bei den Vereinen zur Verfügung standen. So schrieb die Arbeiterwohlfahrt Stuttgart 1928 an das städtische Wohlfahrtsamt: Trotz des hohen Defizits, das unsere Pflegeabteilung schon zeigt, oder gerade eigentlich deswegen, war es uns leider auch in diesem Jahre nicht möglich, in jedem Falle die gewünschte Wöchnerinnenpflege zu übernehmen. Wir sollten unbedingt weitere Pflegerinnen fest anstellen können.97

Das aber sei ohne weitere finanzielle Zuschüsse nicht möglich. Die meisten der betreuten Familien seien selbst nicht in der Lage, die vollen Pflegesätze aufzubringen. Im Jahr 1935 erfasste das Gesundheitsamt Stuttgart alles Pflegepersonal in der Stadt und zählte 23 Wochenbettpflegerinnen, davon 13 geprüfte. Weitere Zahlen liegen aus dem Jahr 1938 vor. Zu diesem Zeitpunkt soll es bereits 52 Wochenbettpflegerinnen gegeben haben, davon 50 geprüfte. Stuttgart läge damit an der Spitze in Württemberg, gefolgt von Göppingen mit zehn sowie Tübingen und Ludwigsburg mit jeweils sechs Wochenbettpflegerinnen.98 Inwieweit diese Zahlen stimmen, ist schwer zu sagen, eine Verdoppelung innerhalb von drei Jahren und die deutlich bessere Versorgung in Stuttgart im Vergleich zu anderen Gemeinden wirft allerdings Fragen auf. Zum einen entstanden in Stuttgart in dieser Zeit keine weiteren Ausbildungsmöglichkeiten für Wochenbettpflegerinnen, und es gibt keine Hinweise darauf, dass die bestehenden Einrichtungen ihr Ausbildungskontingent derart vergrößerten. Ermöglichte das nationalsozialistische Regime die Anerkennung ohne Ausbildung, aber mit langer praktischer Erfahrung, ähnlich wie dies bei der Einführung der staatlichen Anerkennung 1943 geschah? Oder wurde als Wochenbettpflegerin gezählt, wer in der Wochenbettpflege tätig war, als geprüft, wer wahlweise in einer Wochenbettpflegeschule, bei einem Arzt oder durch eigene Benennung diesen Zusatz trug? Dies würde dennoch nicht die großen Unterschiede zu den anderen württembergischen Städten erklären. Sicher ist jedoch, und das zeigt die Tabelle mit den Daten der Gesundheitsämter sehr deutlich, dass die Versorgung im Wochenbett durch (geprüfte) Wochenbettpflegerinnen in den Städten deutlich besser war als im ländlichen Gebiet. In vielen kleineren Gemeinden gab es in den 1930er Jahren keine einzige Wochenbettpflegerin.99 Man kann also festhalten, dass, obwohl die Ausbildung zur Wochenbettpflegerin bereits um die Jahrhundertwende in vielen großen und mittelgroßen deutschen Städten möglich war und die Quellen den Eindruck erwecken, dass die Gemeinden durchaus bemüht waren, Wöchnerinnenheime und angestellte Wochenbettpflegerinnen zu etablieren, die Nachfrage das Angebot deutlich überstieg – besonders in kleineren Gemeinden und auf dem Land.

97 StadtAS, Bestand 10-4330, Brief Arbeiterwohlfahrt Ortsausschuss Stuttgart, 29.11.1928. 98 HStAS, Bestand E 151/53 Bü 750, Tabelle Krankenpflegepersonen, 1935, und HStAS, Bestand E 151/53 Bü 708, Tabelle Krankenpflegepersonen, 1938. 99 HStAS, Bestand E 151/53 Bü 750, Tabelle Krankenpflegepersonen, 1935.

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Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegschancen Aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsmöglichkeiten für Wochenbettpflegerinnen waren die Verdienstmöglichkeiten sehr ungleich. Die Quellen beziehen sich ausschließlich auf angestellte Wochenbettpflegerinnen, zu den Verdienstmöglichkeiten ihrer freiberuflichen Kolleginnen liegen keine Informationen vor. Das Gehalt von in Vereinen angestellten Wochenbettpflegerinnen schwankte stark zwischen den einzelnen Arbeitgebern, was nicht zuletzt an einer fehlenden Berufsorganisation lag. Die bereits erwähnte Elise Nonnenmann verdiente 1901 als angestellte Wochenbettpflegerin beim Bezirkswohltätigkeitsverein Nagold pro Tag 1,50 RM oder 1 RM pro Nachtwache, »außerdem, wenn Beköstigung im Haus nicht gewährt wird, 50 Pf. für jeden Tag. Das Reisegeld wird der Pflegerin auf Nachweis ersetzt.«100 In Rostock im Jahre 1905 lag das Einkommen einer ausgebildeten Wochenbettpflegerin bei freier Verköstigung bei etwa 15 RM pro Woche und damit bei etwa 60 RM im Monat. Das entsprach etwa der Hälfte des Lohns einer Hebamme vor Ort.101 Die 1912 beim Krankenpflegeverein Münster neuangestellte Wochenbettpflegerin sollte ein Jahresgehalt von 700 RM, knapp 60 RM pro Monat, zuzüglich freier Wohnung und Heizmittel bekommen.102 Über die Einkünfte der Wochenbettpflegerinnen schrieb Olga Gebauer 1913 Folgendes: »Die Entlohnung als Wärterin in den Anstalten beträgt monatlich 20 bis 50 M., in der Privatpraxis pro Tag bei freier Station in den kleinen Städten 1,50 bis 2,50 M., in den mittleren Städten 2 bis 3 M., in großen Städten 3 bis 5 M.«103 Das jährliche Gehalt der 14 festangestellten Pflegerinnen im »Verein für Haus- und Wochenpflege« in Stuttgart lag 1921 zwischen 340 und 400 RM. Angesichts finanzieller Schwierigkeiten beklagte sich der Verein im Rahmen eines »Unterstützungsantrags«, dass immer mehr gute Kräfte aufgrund des niedrigen Lohns abwandern würden, und bat deshalb das Jugendamt um die Bewilligung höherer Beiträge.104 1927 zahlte der »Verein für Haus- und Wochenpflege« seinen inzwischen 18 angestellten Pflegerinnen monatlich 60 RM und bedauerte, dass er den geringen Lohn der Wochenbettpflegerinnen, obwohl deren Arbeit »eine der schwersten und verantwortlichsten von aller Frauenarbeit ist«, trotz privater Beihilfe nicht erhöhen konnte.105 Berufliche Aufstiegschancen boten sich den Wochenbettpflegerinnen so gut wie keine. In der Pflegehierarchie standen sie ganz unten und mussten den 100 StALB, Bestand E 191 Bü 3338, Auszug aus dem Dienstvertrag der Wochenpflegerin des Bezirks Nagold, 1901. 101 Schatz (1905). 102 StadtAS, Bestand 915/747, Zeitungsausschnitt, März 1912. 103 Gebauer (1913), S. 176. 104 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Haus- und Wochenpflege, Stuttgart, 12.5.1921, und Brief Haus- und Wochenpflege, Stuttgart, 25.10.1922. 105 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Haus- und Wochenpflege, Stuttgart, 7.12.1927.

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Anweisungen der Hebammen und Ärzte Folge leisten. Um mehr Verantwortung übernehmen zu können, blieb ihnen nur die Möglichkeit einer weiteren Ausbildung, z. B. zur Hebamme oder Krankenschwester. Fazit: Eine Geschichte der Verdrängung Wie die vorliegende Untersuchung der Geschichte der Wochenbettpflegerinnen aufzeigt, ging mit dem verbesserten Ausbildungsangebot und der Verdrängung von »Pfuscherinnen«, »Wickelfrauen« und ungeprüften Wochenbettpflegerinnen unbestreitbar eine Veränderung in der Wochenbettpflege einher. Zumindest in den Städten hatten Frauen die Option, sich im Wochenbett von einer gelernten Kraft – häufig unentgeltlich – versorgen zu lassen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Qualität der Wochenbettpflege im Vergleich zur früheren Praxis der ungelernten Kräfte durch die Ausbildungen in Kliniken und Wöchnerinnenheimen verbesserte. Außerdem boten die mit der Etablierung einer Ausbildung zur Wochenbettpflegerin einhergehenden Gründungen von Wöchnerinnenheimen und -asylen Frauen die Wahl eines alternativen Ortes für Geburt und Wochenbett. Ungelernte Pflegerinnen wurden trotzdem weiterhin beschäftigt, der große Mangel ließ einen vollständigen Ausschluss, den sich viele Ärzte und Politiker wünschten, in der Praxis nicht zu. Neben den (Wochenbett-)Pflegerinnen, für die sich neue Ausbildungsund Arbeitsmöglichkeiten eröffneten, profitierten vor allem die Ärzte, die an Einfluss gewannen. Sie bestimmten Unterrichtsinhalte, Dauer und Art der Ausbildung und kontrollierten die Arbeit der Wochenbettpflegerinnen in den Kliniken und Wöchnerinnenheimen – Einfluss, den Ärzte bei den spätestens ab 1950 seltener werdenden Hausgeburten und dem häuslichen Wochenbett nicht in diesem Ausmaß hatten. Und der Erfolg gab ihnen recht, die Mütterund Säuglingssterblichkeit nahm – vor allem in den Städten – ab, auch wenn die Einführung von Wochengeld, Wochenpflege und Stillgeld sowie besseren (hygienischeren) Lebensbedingungen sicher ihren Anteil am Erfolg hatten. Wenige Jahrzehnte, nachdem die Wochenbettpflegerinnen ungelernte Kräfte weitestgehend ersetzt hatten, wurden sie Mitte des 20.  Jahrhunderts selbst Opfer von Verdrängung und verschwanden schließlich nach und nach aus den Wochenbettstationen und Wöchnerinnenzimmern. Bereits in den 1930er Jahren, spätestens aber nach 1945 nahm die Häufigkeit der Fachartikel über Wochenbettpflegerinnen deutlich ab, die Diskussion zur Verbesserung der Wochenbettpflege verlor an Bedeutung. Obwohl es die Möglichkeit einer Ausbildung zur Wochenbettpflegerin bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts gab, deutet die abnehmende Zahl der Schülerinnen auf einen Verlust der Wichtigkeit ihrer Tätigkeit hin. Heute ist die Ausbildung zur Wochenbettpflegerin Geschichte, die Wochenbettpflege Teil des Tätigkeitsprofils der Hebamme oder Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegerin. Wo lagen die Gründe für die Verdrängung der Wochenbettpflegerinnen? Zum einen wurden die Säuglings- und Wöchnerinnenvereine Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik. In Stuttgart bot nun das Amt für

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Volkswohlfahrt durch das Hilfswerk »Mutter und Kind« Nachbarschafts- und Haushaltshilfe nach nationalsozialistischen Vorstellungen an. Im Fokus standen dabei »arische« Schwangere, Wöchnerinnen und ihre Säuglinge.106 Nach 1945 konnten die Vereine ihre (selbständige) Arbeit wiederaufnehmen. Dennoch erfuhr die Wochenbettpflege bzw. die Wochenbettpflegerinnen nur noch wenig Aufmerksamkeit. Zum anderen wurde mit dem deutlichen Absinken der Mütter- und Säuglingssterblichkeit die ursprünglich von den Ärzten zugesprochene Funktion der Wochenbettpflegerinnen überflüssig. Und es ist anzunehmen, dass Säuglings- und Krankenschwestern Aufgaben der Wochenbettpflegerinnen auf den Wöchnerinnenstationen übernahmen. Auch ein höherer Hygienestandard und der technische Fortschritt verkürzten die Krankenhausverweildauer der Wöchnerin, die dank Waschmaschine und Kühlschrank ihr Wochenbett nun ohne fremde Hilfe verbringen sollte. Heute schaut manche Frau aus Deutschland voll Neid auf die Niederlande, wo es nach wie vor Wochenbettpflegerinnen (die kraamverzorgster) gibt, die der Wöchnerin in der ersten Zeit nach der Geburt zur Hand gehen und so Raum für »Stärkung und Rückbildung« geben. Bibliographie Archivalien Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) – Bestand E 40/78 Bü 128 – Bestand E 151/53 Bü 708 – Bestand E 151/53 Bü 750 – Bestand E 151/54 Bü 102 – Bestand E 361 Bü 194 Staatsarchiv Ludwigsburg (StALB) – Bestand E 162 I Bü 597 – Bestand E 162 I Bü 1388 – Bestand E 163 Bü 996 – Bestand E 191 Bü 3305 – Bestand E 191 Bü 3338 – Bestand E 191 Bü 3834 – Bestand E 191 Bü 4049 – Bestand E 191 Bü 4710 – Bestand EL 20/5 I Bü 280 – Bestand F 166 IV Bü 1365 – Bestand F 184 I Bü 653 – Bestand F 236 I Bd. 197 – Bestand F 236 I Bü 101 – Bestand F 236 I Bü 114 – Bestand FL 30/1 II Bü 45

106 StadtAS, Bestand 201/1-1730, Brief Amt für Volkswohlfahrt, 28.12.1934.

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Stadtarchiv Stuttgart (StadtAS) – Bestand 10-4330 – Bestand 19/1-1620 – Bestand 19/1-1622 – Bestand 201/1-1163 – Bestand 201/1-1171 – Bestand 201/1-1730 – Bestand 201/1-2975 – Bestand 915/747

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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 139–173, FRANZ STEINER VERLAG

Willmar Schwabe – Apotheker und Großhersteller homöopathischer Arzneimittel Christoph Friedrich und Ulrich Meyer Summary Willmar Schwabe: pharmacist and large producer of homeopathic medicines On the centenary of Willmar Schwabe’s (1839–1917) death the present essay examines the life and work of this pharmacist and manufacturer of pharmaceuticals. Archival research in Dresden, Leipzig and Jena has yielded new insights into Schwabe’s biography, particularly with regard to his family, education and doctorate. We were able to show that his father, Carl Robert Schwabe, was also an entrepreneur and that he had come into contact with homeopathy in Leipzig. The evaluation of lecture notes revealed the influence that the Leipzig professors Christoph Heinrich Hirzel, Otto Bernhard Kühn and Otto Linné Erdmann had on Willmar Schwabe. The file of his doctorate shows that even then he aspired to economic and professional independence. His dissertation, which focused on phytochemistry and was actually written before he started studying, attests to considerable scientific independence. It was possible to analyze in depth not only Schwabe’s education and training but also his further professional development. The present study gives insight into the setting up and expansion of Schwabe’s business and his purchase of other homeopathic pharmacies with the help of straw men. It also examines particularly Schwabe’s struggle for recognition of his pharmacopeia, the »Pharmacopoea Homoeopathica Polyglottica«, for which he appealed to Otto von Bismarck and fought intensely with his opponents, mainly within the German pharmaceutical society (»Deutscher Apotheker-Verein«). In manufacturing homeopathic preparations Schwabe closely followed Hahnemann, but he also supported innovative approaches, such as the use of tablets in homeopathy. Willmar Schwabe was an industrious entrepreneur who invested his capital prudently and looked after his business interests, but he also showed social commitment by supporting health insurance and setting up rehabilitation clinics. Overall, Willmar Schwabe was a typical entrepreneur of the »Gründerzeit«, who made an important contribution to the industrial manufacturing of homeopathic and other complementary medicines (Dr Schuessler Tissue Salts).

Einführung Am 8. Januar 1917 verstarb in Leipzig der Apotheker und Fabrikant Willmar Schwabe (1839–1917). Vier Tage später wurde er auf dem Neuen Johannisfriedhof mit großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt, wobei der die

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Trauerrede haltende Pfarrer Schwabes soziales Engagement hervorhob und seine Predigt unter das Wort der Sprüche Salomo »ein treuer Mann wird viel gesegnet« stellte.1 In der Grabrede heißt es über Schwabe: Was er im Jahre 1866 so schlicht und bescheiden in unserem Leipzig begonnen, zu welch stolzem, die Welt umspannenden Unternehmen hat es sich ausgewachsen. Auch die, die der Homöopathie zweifelnd oder gar in schroffer Feindschaft gegenüber stehen, vor der stets gleich gebliebenen Treue und Gewissenhaftigkeit, die das alles geschaffen, müssen sie das Haupt entblößen.2

Eine ausführliche Biographie Willmar Schwabes blieb bis heute ein Desiderat, lediglich in Darstellungen zur Geschichte der pharmazeutischen Industrie3, der alternativen Heilmethoden4 sowie zur Firma Schwabe finden sich Angaben zu seinem Leben und Wirken5. Neuere Studien zur Geschichte der Firma anlässlich ihres 150. Jubiläums ermöglichten genauere Einblicke in Schwabes Biographie, insbesondere zu seiner Herkunft, Ausbildung, Promotion und zum Aufbau seines Unternehmens. Die Vorfahren Willmar Schwabes Willmar Schwabe wurde am 15. Juni 1839 in Auerbach im Vogtland als Sohn des Apothekers Carl Robert Schwabe (1809–1854) geboren. Die Familie hatte seit dem 18. Jahrhundert in Leipzig gelebt. 1741 ist ein Musikinstrumentenmacher Johann Friedrich Schwabe nachweisbar, der 1766 den Gasthof »Zum goldenen Horn« in der Leipziger Nicolaistraße erwarb. Sein Sohn Johann Gottfried Schwabe führte 1783 die Manufaktur für Blechblasinstrumente weiter, aber auch den Gasthof, den dann sein Sohn, der Großvater Willmar Schwabes, Carl Gottfried Ferdinand (1774–1832), übernahm.6 Dessen Sohn Carl Robert wurde der erste Apotheker in der Familie Schwabe.7

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StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 67 f.: Grabrede des Pfarrers (Maschinenschrift). StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 70: Grabrede des Pfarrers (Maschinenschrift). Huhle-Kreutzer (1989), S. 255–265; Friedrich/Müller-Jahncke (2005), S. 1005–1008. Jütte: Geschichte (1996), S. 211 f. O. A. (1939); O. A. (1941); Jäger (1991), S. 172–176; Willfahrt (1996), S. 280–293; Hofmann (2014), S. 42–71 und S. 197; Meyer/Friedrich (2016), S. 20–31. StAL, Bestand 20706, Nr. 315, Genealogische Untersuchungen zur Familie Schwabe; vgl. auch FAS, Heidi Wächter, geb. Schwabe: Schwabe-Geschichte. Familientag 3. Oktober 2010 (Maschinenschrift), S. 3 f. StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente: Genealogische Aufstellung; vgl. auch Lauterbach/Friedrich (2016).

Willmar Schwabe – Apotheker und Großhersteller homöopathischer Arzneimittel

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Willmar Schwabes Vater, der Apotheker Carl Robert Schwabe Carl Robert Schwabe begann 1823 mit 14 Jahren seine Apothekerausbildung in Neustadt a. d. Orla bei Louis Theodor Saenger.8 1825 kehrte er nach Leipzig zurück, wo er bis 1827 in der Engel-Apotheke bei Heinrich Adolph Täschner (1786–1868) seine Lehrzeit fortsetzte. Täschner zählt zu den bedeutendsten Apothekern Leipzigs.9 Nach dem Apothekerexamen hatte er die Leitung der Adler-Apotheke und drei Jahre später zusätzlich die der Mohren-Apotheke in Leipzig übernommen, die er an den Markt verlegte und in Engel-Apotheke umbenannte. Bereits 1819/20 verklagte er gemeinsam mit dem Besitzer der Salomo-Apotheke, Friedrich Gottlob Bärwinkel (1786–1841), und dem der Löwen-Apotheke, Carl Heinrich August Rohde, den Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann (1755–1843), wegen dessen Selbstdispensierens. In beiden Apotheken Täschners gab es jedoch, wie 1824 anlässlich einer Revision festgestellt wurde, einen Schrank, in dem homöopathische Heilmittel aufbewahrt wurden, die von Leipziger homöopathischen Ärzten hergestellt worden waren. Den Leipziger Apothekern wurde daher bei Strafe von 20 Talern je Fall verboten, von Ärzten zubereitete homöopathische Arzneimittel zu vertreiben.10 Die Herstellung von Homöopathika sollte in den Apotheken selbst erfolgen, so dass Willmar Schwabes Vater in seiner Lehrapotheke erste Einblicke in die Bereitung homöopathischer Dilutionen und Verreibungen erhielt. Die aufwendige Herstellung – damals wurden häufig Hochpotenzen verschrieben, die viele Arbeitsgänge erforderten – brachte Täschner schließlich auf die Idee, 1836 gemeinsam mit zwei Leipziger Apothekenbesitzern eine homöopathische Central-Offizin am Thomaskirchhof zu eröffnen, wobei Täschner als eigentlicher Leiter und Förderer des Unternehmens fungierte.11 Er bescheinigte Carl Robert Schwabe in seinem Zeugnis vom 17. September 1829, dass er bei ihm die Apothecker=Kunst [sic!] und Wissenschaft erlernet hat und sich während dieser Zeit stets sehr folgsam, fleißig und überhaupt so betragen hat, daß ich […] wohl zufrieden gewesen bin. Auch hat derselbe die ihm gegebene Gelegenheit zur Erlernung und Ausbildung Alles dessen, was zu einem brauchbaren wissenschaftlich gebildeten Apotheker gehört, wohl benutzt. Ebenso hat […] genannter Herr Carl Robert Schwabe von Weyh-

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StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 56: Zeugnis Louis Theodor Saengers für Carl Robert Schwabe. 9 StAL, Bestand 20706, Nr.  317, Manuskripte zur Geschichte der Homöopathie, der homöopathischen Apotheke in Leipzig und der Firma Schwabe, fol.  32: Arno Kapp: Heinrich Adolf Taeschner, ein Freund der Homöopathie (Maschinenschrift). 10 StAL, Bestand 20706, Nr.  317, Manuskripte zur Geschichte der Homöopathie, der homöopathischen Apotheke in Leipzig und der Firma Schwabe, fol.  33: Arno Kapp: Heinrich Adolf Taeschner, ein Freund der Homöopathie (Maschinenschrift). 11 StAL, Bestand 20706, Nr.  317, Manuskripte zur Geschichte der Homöopathie, der homöopathischen Apotheke in Leipzig und der Firma Schwabe, fol.  33: Arno Kapp: Heinrich Adolf Taeschner, ein Freund der Homöopathie (Maschinenschrift).

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Christoph Friedrich und Ulrich Meyer nachten 1827 bis dato die 3te Receptur-Stelle in meiner Offizin zu meiner vollen Zufriedenheit vorgestanden [sic!].12

Man darf davon ausgehen, dass zu den Aufgaben des Rezeptars auch die Herstellung homöopathischer Arzneien gehörte und durch das Erzählen von Carl Robert sein Sohn Willmar erste Einblicke in die Homöopathie erhielt.13 In der Gehilfenprüfung, die Carl Robert Schwabe vor dem Stadtphysikus ablegte, wurden ihm »genügliche Kenntnisse« bescheinigt.14 Im Wintersemester 1827/28 studierte er an der Leipziger Universität theoretische und experimentelle Chemie bei Christian Gotthold Eschenbach (1753–1831), der als »Begründer« der Experimentalvorlesung in Leipzig gilt15, und bei Otto Linné Erdmann (1804–1869), dem Herausgeber des Journals für praktische Chemie16. Carl Robert erhielt für die damaligen Verhältnisse, als ein Studium für Apotheker noch gar nicht erforderlich war, eine herausragende Ausbildung, weshalb er auch dafür sorgte, dass sein Sohn Willmar in ähnlicher Weise auf seinen Beruf vorbereitet wurde. Bis Michaelis 1829 war Carl Robert Schwabe in der Engel-Apotheke Leipzig tätig, wechselte dann aber nach Pirna zu Apotheker Johann Gottlieb Abendroth. Im Staatsarchiv Leipzig existieren für den Zeitraum 1828 bis 1831 19 Briefe von Carl Robert Schwabe an seinen Vater Carl Gottfried Ferdinand Schwabe in Leipzig.17 Darin berichtet er minutiös über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Apotheken, in denen er bis 1831 als Gehilfe tätig war. Anschließend belegte er erneut an der Leipziger Universität Vorlesungen und bestand am 24. April 1835 sein pharmazeutisches Examen. Im Zeugnis heißt es: Wir, Decanus Senior und übrigen Doctores und Assessores der medicinischen Facultät in der Universität Leipzig urkunden und bezeugen hiermit, daß der Pharmaceut Herr Carl Robert Schwabe von hier gebürtig, welchem die Administration der Apotheke zu Waldheim übertragen werden soll, in der heutigen Tages mit ihm angestellten pharmaceutischen Prüfung gut bestanden und die zur Übernahme forthaner Stelle erforderlichen Kenntniße und Fertigkeiten in einem vollkommenen Grad dargethan hat.18

Da keiner der Söhne von Carl Gottfried Ferdinand Schwabe das Gasthaus »Zum goldenen Horn« weiterführen wollte, wurde dieses verkauft und der

12 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 54: Zeugnis von Taeschner vom 17.9.1829. 13 Hofmann behauptet, dass der Grund für Willmar Schwabes Hinwendung zur Homöopathie nicht durch Quellen belegbar sei, bezieht aber den Lebensweg von dessen Vater nicht in ihre Untersuchung mit ein. Hofmann (2014), S. 44. 14 StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 16 f.: Gehilfenzeugnis. 15 Beyer/Reinhold/Wilde (2009), S. 17 f. 16 Beyer/Reinhold/Wilde (2009), S. 21 f. 17 StAL, Bestand 20706, Nr.  316, Briefe von Carl Robert Schwabe an seinen Vater Carl Ferdinand Schwabe; vgl. dazu Lauterbach/Friedrich (2016). 18 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 63: Zeugnis vom 24.4.1835.

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Erlös an die Witwe und die drei Söhne verteilt.19 Dieses Erbe ermöglichte es Carl Robert, sich selbständig zu machen. Gründung einer Großhandlung 1834 gründete Carl Robert Schwabe gemeinsam mit dem Kaufmann Franz Ludwig Gehe (1810–1882) in Dresden die Großhandlung Gehe & Schwabe. Wie aus dem zwölf Paragraphen umfassenden Vertrag hervorgeht, verpflichteten sich beide, »gemeinschaftlich eine Droguerie- und Farbewaaren-Handlung« zu errichten. Als Zweck des Unternehmens wird »hauptsächlich der Absatz an die Apothekerkundschaft« genannt. Daneben sollte aber auch eine »eigene Fabrikation chemisch pharmaceutischer Präparate zum Wiederverkauf […] soweit als thunlich, stattfinden«. Dieser Tätigkeit musste sich Schwabe widmen, da Gehe als Kaufmann keine Kenntnisse über die Herstellung pharmazeutischer Produkte besaß. Jeder brachte 8.000 Reichstaler in das Geschäft ein. Die Dauer des »Handlungscontractes« wurde auf acht Jahre festgesetzt.20 Aber bereits zum 1. Mai 1835 schied Carl Robert Schwabe aus der Großhandlung wieder aus, die dann unter dem Namen Gehe weitergeführt wurde und sich zu einem bedeutenden Unternehmen entwickeln sollte. Auch über die Auflösung existiert ein umfangreicher elfseitiger, am 1. Januar 1835 unterzeichneter Vertrag. Aus diesem geht hervor, dass Schwabe 3.000 Taler aus eigenen Mitteln sowie 5.000 von Henriette Bormann geborgte Taler in die Firma eingebracht hatte. Er erhielt nun 333 Reichstaler und 8 Groschen Anteil aus dem bis dahin erzielten Gewinn der Firma, womit aber »alle aus seiner eignen und der Werbthätigkeit seines Capitals im Geschäfte entspringenden Ansprüche für erloschen erklärt« waren.21 Die Erfahrungen als Großhändler und Fabrikant konnte er aber vermutlich später an seinen Sohn Willmar weitergeben. Der nach dem Verkauf seines Anteils an der Firma erhaltene Erlös ermöglichte ihm den Erwerb einer Apotheke in Auerbach im Vogtland. Bereits am 11. Oktober 1836 erhielt er hier einen Bürgerschein22; der Konzessionsschein für die dortige Apotheke stammt vom 12. März 183723. Die Offizin befand sich in einem einstöckigen Wohnhaus, das unten aus Mauern, oben aus Fachwerk mit drei Stuben und einem Holzschuppen be19 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 70: Schreiben des Leipziger Stadtgerichts. 20 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe: Vertrag zwischen F. L. Gehe und C. R. Schwabe vom 4.1.1834. Den Vertrag wie die Transkription stellte freundlicherweise Frau Katrin Bosse-Bringewatt zur Verfügung. 21 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe: Vertrag zwischen F. L. Gehe und C. R. Schwabe vom 1.1.1835. Die Transkription stellte freundlicherweise Frau Katrin Bosse-Bringewatt zur Verfügung. 22 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 78: Bürgerschein. 23 StAL, Bestand 20706, Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe, fol. 86: Concessionsschein.

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stand. 1834 wird Friedrich Wilhelm Janke als Besitzer, 1853 dann Friedrich Ferdinand Hoffe genannt. Im Brand-Versicherungs-Kataster Auerbach von 1839 findet das Haus des Apothekers Carl Robert Schwabe unter KatasterNr. 106 Erwähnung. Das Apothekengebäude lag in der Reichsstraße 2, heute Nicolaistraße 18.24 Um in dem kleinen Städtchen Auerbach existieren zu können, betrieb Schwabe nebenher einen Material- und Weinhandel. Nach seiner Einbürgerung durfte er auch einen Lehrling beschäftigen.25 Carl Robert hatte bereits am 3. November 1836 Caroline Emilie, geborene Diebel (1816–1894), in Auerbach geheiratet. Mit ihr hatte er sieben Kinder: Emilie, verehelichte Schulze, Selma, verehelichte Sichler, Carl, Lina, verehelichte Hoffmann, Bertha, verehelichte Ledig, und Gustav sowie Carl Emil Willmar, der als zweites Kind und ältester Sohn am 15. Juni 1839 in Auerbach geboren wurde. 1851/52 zog die Familie nach Dresden, wo sie in der Bautzner Str. 41b lebte. Den Apothekerberuf hat Carl Robert, der 1854 verstarb, dort nicht mehr ausgeübt.26 Willmar Schwabes Kindheit und Jugend Nach der Volksschule seiner Heimatstadt besuchte Willmar ab 1851 die Realschule in Dresden.27 Seine Apothekerlehrzeit begann er nicht, wie Holm-Dietmar Schwarz behauptet, nach bestandener Reifeprüfung28, sondern bereits am 27. Juni 1853, also mit 14 Jahren, bei dem Pächter der Marien-Apotheke, Otto Eder29. Hier erhielt er nicht nur eine vorzügliche pharmazeutische Ausbildung, sondern gewann auch die Liebe der Tochter seines Lehrherrn, Luise (1850–1906), die er 1870 heiratete. Anteil an seiner hervorragenden Ausbildung hatte auch der Apotheker Friedrich Meurer (1792–1865)30, der zwischen 1830 und 1848 die Verwaltung der Apotheke versehen hatte. Meurer, der 1826 zum Dr. med. promoviert worden war, widmete sich nach 1848 ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten und erteilte bis zu seinem Tode für die Lehrlinge der Dresdner Apotheken Chemieunterricht. Er regte viele Gehilfen zu wissenschaftlichen Studien an. Anlässlich seines 50-jährigen Berufsjubiläums richtete er eine nach ihm benannte Stiftung ein, die die besten Lösungen prämierte, die Apothekerlehrlinge für Preisaufgaben vorschlugen. Diese Stiftung ließ die Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände (ABDA) 1952 wiederaufleben.31 24 Mitteilung des Stadtarchivs Auerbach/Vogtland vom 5.12.2013. 25 FAS, Heidi Wächter, geb. Schwabe: Schwabe-Geschichte. Familientag 3. Oktober 2010 (Maschinenschrift), fol. 3 f. 26 Mitteilung von Tilo Bönicke, Stadtarchiv Dresden, vom 18.12.2015. 27 StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 12–14: Zeugnis der Realschule. 28 Schwarz: Schwabe (1978), S. 614. 29 FAS, Heidi Wächter, geb. Schwabe: Schwabe-Geschichte. Familientag 3. Oktober 2010 (Maschinenschrift), fol. 5, und Mazurek (1969). 30 Schwabe (1860), S. 273. 31 Schwarz: Meurer (1978) und Friedrich (2000), S. 354.

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Nach beendeter Lehrzeit blieb Schwabe noch als Gehilfe32 in der MarienApotheke Dresden und legte danach die Vorprüfung in den Fächern Pharmazie, Chemie, Botanik, Physik und Warenkunde ab. Vom 1. April 1860 bis zum 27. März 1861 konditionierte er in der Aschoff’schen Apotheke in Bielefeld bei Ludwig Adolph Aschoff (1807–1861), einem der Direktoren des »Apothekervereins im nördlichen Teutschland«, der nebenher wissenschaftliche Untersuchungen, vor allem zur Pflanzenchemie, durchführte.33 Aschoff charakterisierte Willmar Schwabe als hoffnungsvollen und interessierten Apothekergehilfen, [der] sich ebenso durch Akuratesse [sic!], wie Interesse am Geschäft in der Rezeptur aus[zeichnete und dessen] wissenschaftliche Kenntnisse und […] practischen Fähigkeiten, Ihn zur […] tüchtigen Defectur befähigten. Sein Fleiß und seine Liebe zur Chemie berechtigt zu den schönsten Hoffnungen, deren Erfüllung ich ihm von Herzen wünsche.34

Student an der Universität Leipzig Am 22. April 1861 – nach insgesamt vierjähriger Gehilfenzeit – begann Willmar Schwabe an der Leipziger Universität das Studium der Pharmazie und blieb bis zum Ende des Wintersemesters 1862/63 immatrikuliert.35 Eine Bescheinigung weist aus, daß Herr Carl Emil Willmar Schwabe aus Auerbach vom 25. Januar 1862 noch ferner bis zu dem heutigen Tage auf hiesiger Universität sich aufgehalten und Pharmacie studirt, auch während dieser Zeit die nachverzeichneten Vorlesungen besucht hat. Im Sommersemester 1862: Organische Chemie und anorganische Salze bei Herrn Prof. D. [Otto Bernhard] Kühn Physik und physikalische Uebungen bei Herrn Prof. D. [Wilhelm] Hankel Praktische Uebungen in botanischen Untersuchungen bei Herrn Prof. D. [Georg Heinrich] Mettenius Logik und Einleitung in die Philosophie bei Herrn Prof. D. [Moritz Wilhelm] Drobisch Geschichte der deutschen Nationalliteratur im Zeitalter Lessings, Göthes und Schillers und Geschichte der französischen Revolution bei Herrn Prof. D. [Ernst Wilhelm Gottfried] Wachsmuth Aesthetik bei Herrn Prof. D. [Johann Ludwig Ferdinand] Flathe Theorien über das Wesen der menschlichen Seele für Rekonvaleszenten bei Herrn Prof. D. [Heinrich] Ahrens. Im Wintersemester 1862/63: Chemisches Laboratorium bei Herrn Prof. D. [Otto Linné] Erdmann.36 32 33 34 35 36

StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 16 f.: Gehilfenzeugnis. Schwarz (1975). StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 22: Zeugnis von Dr. Aschoff. Mitteilung von Petra Hesse, Universitätsarchiv Leipzig, vom 29.1.2014. StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 27 f.: Bescheinigung des Rektors O. L. Erdmann vom 3.2.1863; vgl. auch Verzeichnis (1862).

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Willmar Schwabe hatte also nicht nur pharmazeutische Lehrveranstaltungen, sondern auch philosophische, historische und philologische belegt. Er fand in Leipzig einige hervorragende Lehrer, die seine weitere Entwicklung beeinflusst haben dürften, so Christoph Heinrich Hirzel (1828–1908), der zu den ersten Apothekern gehörte, die in Leipzig lehrten.37 Nach seiner Habilitation 1852 hielt Hirzel hier regelmäßig Vorlesungen zur Quantitativen Analytischen Chemie, Toxikologie, Pharmazie (Chemie der offizinellen Präparate), Reaktionslehre mit Experimenten sowie Repetitorien und Examinatorien zur gesamten Chemie. Daneben las er auch über »Pharmazie mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung und Prüfung der offizinellen chemischen Präparate« und »Ueber die Wertbestimmung und chemische Untersuchung der wichtigsten Nahrungsmittel und Getränke«. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte sich Hirzel mit ätherischen Ölen, trat aber auch als Erfinder von Geräten wie eines Extraktionsapparates hervor, so dass Willmar Schwabe von ihm Anregungen für seine spätere Tätigkeit als pharmazeutischer Fabrikant erhielt. Hirzel edierte von 1850 bis 1858 zudem die Zeitschrift des PharmaceutenVereins und war somit auch als Herausgeber ein Vorbild für ihn.38 Einfluss auf Schwabe hatten gleichfalls der Ordinarius für Allgemeine Chemie, Otto Bernhard Kühn (1800–1863), sowie der für Technische Chemie, Otto Linné Erdmann. Kühn etablierte in Leipzig ein chemisches Praktikum nach dem Vorbild Justus von Liebigs (1803–1873).39 Erdmann bot mit dem von ihm 1834 gegründeten Journal für praktische Chemie und als Herausgeber und Verfasser von Lehrbüchern40 dem jungen aufstrebenden Apotheker Anregungen für seine spätere verlegerische Tätigkeit. Im Staatsarchiv Leipzig findet sich ein in Leder gebundener Band mit Schwabes Vorlesungsmitschriften vom Sommersemester 1861. Die erste Vorlesung, »Reagentienlehre«, hielt der Privatdozent Hirzel, und die Mitschrift zeigt, dass Willmar eine sehr gute Ausbildung in der Analytischen Chemie erhielt. Eine weitere, 50 Seiten umfassende Mitschrift betrifft eine Vorlesung von Otto Bernhard Kühn über anorganische Salze. Sie ergänzte dessen Lehrbuch »System der anorganischen Chemie«, das 1848 erschienen war. Die dritte Vorlesung, die Schwabe 1861 hörte und die gleichfalls von Kühn vorgetragen worden war, widmete sich der Organischen Chemie. Die 109 Seiten umfassende Mitschrift spiegelt ein breites Spektrum wider, beginnend mit der Theorie und dem chemischen Verhalten organischer Stoffe, deren Zersetzung, Umsetzung mit Chromsäure, Salpeter-, Schwefel- und Phosphorsäure, aber auch Hyperoxiden, starken Alkalien, Ammoniumchlorid, Bromiden, Jodiden und Sulfiden. Kühn behandelte auch stickstofffreie Körper wie Oxal-, Essig-, Milch-, Baldrian-, Capron- und Citronensäure sowie Cholesterin. Er erläuterte Methoden wie Siede- und Schmelzpunktbestimmungen, um schließlich auf pharmazeutisch relevante Stoffe wie Salicin, Glycoside, Kohlenhydrate, ätheri37 38 39 40

Drosse/Friedrich (2013). Friedrich (2010). Beyer/Reinhold/Wilde (2009), S. 19 f. Beyer/Reinhold/Wilde (2009), S. 21 f.

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sche Öle, Campher und Harze einzugehen. Diese Vorlesung bot Schwabe Anregungen für seine Arbeit als pharmazeutischer Fabrikant, für den chemischanalytische Kenntnisse von großer Bedeutung waren.41 Im März 1862 legte Willmar in Leipzig das Pharmazeutische Staatsexamen mit der besten Note ab, wobei ihm bescheinigt wurde, dass er »gemäß angestellte[r] pharmaceutische[r] Prüfung, die zur selbständigen Verwaltung einer Apotheke erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im vorzüglichen Grade dargethan und die Prüfung überhaupt so bestanden hat, daß ihm die erste Censur ertheilt worden«.42 Promotion in Jena Willmar Schwabe wurde am 27. Februar 1863 mit der Dissertation »Ueber Chinoidin und β-Cinchonin« in Jena promoviert, da dies in Sachsen für Immature – Schwabe hatte kein Abitur – nicht möglich war. Nur wenige Tage zuvor hatte er sich an die Philosophische Fakultät der Universität Jena gewandt und geschrieben: Gehorsamst Unterzeichneter, welcher vier Semester auf der Universität Leipzig Pharmacie und Chemie studierte, wie aus seinen verschiedenen Examinibus mit den beiliegenden Zeugnissen hervorging, wagt an Ew. hochgelehrte Facultät die unterthänige Bitte zu richten: Ew. hochweise philosophische Facultät bei der Universität Jena wolle geruhen, dem gehorsamsten Unterzeichneten auf beiliegende Arbeit über Chinoidin und β-Cinchonin die Doktorwürde zu verleihen. […] – Sich der Hoffnung hingebend, dass Ew. hochgelehrte Facultät nicht abgeneigt sein werde, vorstehendes untertäniges Gesuch zu berücksichtigen, verharrt mit vorzüglicher Hochachtung Ew. hochweisen Facultät ganz ergebenster Willmar Schwabe.43

Gleichzeitig wandte er sich persönlich an den Dekan und betonte, »daß besagte Arbeit […], mit alleiniger Ausnahme einiger Krystallmessungen, die ich unter Aufsicht des Herrn Professor Dr. Loesche in Dresden ausführte, […] ohne jede fremde Beihülfe entstanden« sei.44 Neben der handschriftlich abgefassten, 38 Seiten langen Dissertation und einem lateinischen Lebenslauf übersandte Schwabe die Zeugnisse über sein Gehilfenexamen mit dem Prädikat »sehr gut« vom April 1857 für Sachsen sowie auch für Preußen vom Mai 1860, zwei Zeugnisse über eine dreijährige Gehilfentätigkeit in Dresden vom März 1860 und eine einjährige in Bielefeld vom März 1861, ein Zeugnis der Leipziger Universität über vier Semester akademischen Studiums (vom April

41 StAL, Bestand 20706, Nr. 232, Carl Emil Willmar Schwabe: Vorlesungsmitschriften Chemie. 42 StAL, Bestand 20706, Nr.  342, Familiendokumente, fol.  23: Zeugnis des Dekans O. B. Kühn vom 17.3.1862. 43 UAJ, Bestand M, Nr.  379, Promotionsakte W. Schwabe, fol.  33: Schreiben Willmar Schwabes an die Philosophische Fakultät vom 18.2.1863. 44 UAJ, Bestand M, Nr.  379, Promotionsakte W. Schwabe, fol.  34v.: Schreiben Willmar Schwabes an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 18.2.1863.

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1861 bis jetzt) sowie das Zeugnis über seine vor dem Dekan der Medizinischen Fakultät abgelegte pharmazeutische Prüfung vom März 1862.45 Da der Dekan, der Historiker Adolf Wilhelm Schmidt (1812–1887), ihm mitgeteilt hatte, dass »die philosophische Doktorwürde an keinen unselbständigen Apotheker ertheilt werde«, antwortete Schwabe am 23. Februar: Hinsichtlich des Nachweises über mein Vorhaben, von Ostern ab selbstständig zu werden, kann ich der Wahrheit gemäß nichts anderes als die auf Gewissen und Ehrenwort gegründete Versicherung beibringen, dass ich eifrig danach trachte, eine meinen zukünftigen Interessen möglichst günstige Uebernahme, sei es nun einer Apotheke oder einer chemischen Fabrik, zu bewerkstelligen. Andererseits muss ich aber offen gestehen, dass es mir ohngeachtet meiner ernsten Bemühungen nicht gelungen ist, bis jetzt hierin Etwas meinen Plänen Entsprechendes zu finden. Doch kann ich versichern, dass ich es meiner Ehre zuwiderlaufend halten würde, als Dr. philos. in irgendeine Stellung untergeordneter Art zu treten.46

Dies zeigt, dass Schwabe damals auf der Suche nach einer Stelle war, die ihm wirtschaftliche und berufliche Selbständigkeit ermöglichte. Die spätere Tätigkeit als Administrator der »Homöopathischen Central-Apotheke Täschner & Co.« in Leipzig, die ihm nur Letzteres bot, war daher von Anfang an eine Zwischenlösung. Der Dekan schrieb an seine Fakultätskollegen, dass der Mangel einer bisher noch nicht selbständigen Stellung »nach unserm bisherigen Usus nur durch eine wirklich tüchtige u[nd] anerkennenswerte Arbeit ersetzt werden könne«.47 Dies zu prüfen war Aufgabe von Ernst Erhard Schmid (1815–1885), von 1843 bis 1885 Professor der Naturgeschichte, Mineralogie und Geologie in Jena, der in seinem Gutachten schrieb: Die vorliegende Abhandlung betrifft eine eigene Entdeckung des Vfs. von wissenschaftlichem Interesse für die Chemie u. von praktischer Bedeutung für die Pharmacie, welche sich nicht nur auf experimentellen Fleiß, sondern auch auf methodische Umsicht begründet. Diese Abhandlung ist ganz geneiget, den Anspruch auf Dispensation von der Nachweisung eines vollen Trienniums zu berechtigen. Dazu kommt aber noch der – von Patenten gar nicht erwähnte – Umstand, dass dieselbe bis auf einige spätere Nachträge bereits 1860 im Archiv der Pharmacie veröffentlicht wurde, also vor dem Übergang des Verfassers zur Universität. Herr Schwabe bezog die Universität schon ausgerüstet mit so viel theoretischer Kenntnis der Chemie und praktischer Übung in derselben, wie sie von Wenigen nach Vollendung der Universitätsstudien zu eigen geworden sind, und benutzte sein akademisches Triennium vorzüglich zu seiner allgemeinen naturwissenschaftlichen und humanistischen Ausbildung. Die sehr guten Zeugnisse, welche Herr Schwabe vorlegt, dürften buchstäblich zu verstehen sein und mit Rücksicht auf seine Versicherung, er werde in eine abhängige Stellung nicht wieder eintreten, zu vertrauen sein. Ich stimme für die Promotion des Herrn Schwabe und empfehle sie Ihnen.48 45 UAJ, Bestand M, Nr. 379, Promotionsakte W. Schwabe, fol. 26r.: Auflistung der Anlagen zum Schreiben von W. Schwabe. 46 UAJ, Bestand M, Nr.  379, Promotionsakte W. Schwabe, fol.  35r.: Schreiben Willmar Schwabes vom 23.2.1863 an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Jena. 47 UAJ, Bestand M, Nr. 379, Promotionsakte W. Schwabe, fol. 26v.: Notiz des Dekans vom 24.2.1863. 48 UAJ, Bestand M, Nr. 379, Promotionsakte W. Schwabe, fol. 26v. und 27v.: Gutachten des Prof. E. E. Schmid vom 26.2.1863.

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Diesem Gutachten schlossen sich die Mitglieder der Fakultät an, und am 27.  Februar 1863 wurde der Beschluss gefällt, dass er promoviert werden konnte.49 Wie erwähnt, hatte Schwabe Teilergebnisse seiner Dissertation bereits 1860 als Apothekergehilfe in Dresden in der Zeitschrift Archiv der Pharmacie unter dem Titel »Betacinchonin. C20H12NO. Ein neues aus Chinoidin erhaltenes Alkaloid« veröffentlicht. Chinoidin wird darin als eine harzartige Masse bezeichnet, »in der sich […] alles vereinigt findet, was aus der von der Fabrikation des Chinins am Ende verbleibenden Mutterlauge noch an basischen Körpern gefällt werden kann«.50 Anlass für seine Untersuchung war die Aufgabe, für das Drogengeschäft seines Prinzipals Otto Eder rohes, käufliches Chinoidin zu reinigen. Dabei fand er ein neues China-Alkaloid. Schwabe hatte seine Analysen unter Aufsicht von Prof. Stein, Dr. Meurer und Apotheker Otto Eder, »der mir Zeit und Gelegenheit gab, diese Arbeit in seinem Laboratorium auszuführen«, zu Wege gebracht.51 Allein die Tatsache, dass die Arbeit in der renommierten Zeitschrift Archiv der Pharmacie erschienen war, zeigt, dass Schwabe bereits vor seinem Universitätsstudium über beträchtliche Kenntnisse und experimentelle Fertigkeiten verfügte. Ausführlich schildert er seine Arbeitsweise, die Isolierung des β-Cinchonins, beschreibt die Eigenschaften der Kristalle, untersucht die Löslichkeit im Vergleich zu den bereits bekannten Alkaloiden wie Chinin und Cinchonin sowie auch die Reaktionen des β-Cinchonins mit verschiedenen Säuren. Abschließend bemerkt Schwabe: »Ausser den bereits angeführten Salzen wurden noch einige Verbindungen, die noch nicht untersucht worden sind, dargestellt.«52 Es sei noch angemerkt, dass seine Arbeit direkt vor der berühmten Publikation des Apothekers Albert Niemann (1834–1861) erschien, in der dieser die Entdeckung des Kokains bekanntmachte.53 Bei der eingereichten Dissertation handelt es sich um eine erweiterte Fassung der Publikation von 1860. Sie entstand ohne akademischen Betreuer und überwiegend vor seinem Studium und war dem damals sehr modernen Gebiet der Alkaloidchemie gewidmet. Vom Administrator der »Homöopathischen Dispensieranstalt« zum pharmazeutischen Fabrikanten Am 1. Juni 1863 übernahm Schwabe die Verwaltung der »Homöopathischen Central-Apotheke Täschner & Co.« in Leipzig, und dies wurde der »entscheidende Wendepunkt« in seinem Leben, denn er widmete sich von nun an in49 UAJ, Bestand M, Nr. 379, Promotionsakte W. Schwabe, fol. 27r.: Schriftliche Rückäußerung der Fakultätsmitglieder mit Beschluss. 50 Geissler/Moeller (1887), S. 692. 51 Schwabe (1860), S. 273. 52 Schwabe (1860), S. 290. 53 Niemann (1860).

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tensiv der Homöopathie.54 Die Geschichte dieser 1836 gegründeten separaten Offizin zur Herstellung homöopathischer Arzneien am Thomaskirchhof hat Michael Michalak ausführlich geschildert. Der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, der sich 1812 in Leipzig habilitiert hatte und hier eine Praxis betrieb, stellte seine Arzneimittel selbst her, da er den Apothekern misstraute. Die Leipziger Apotheker Täschner, Bärwinkel und Rohde sahen dem rund acht Jahre lang geduldig zu, ehe sie sich am 16. Dezember 1819 mit einer Eingabe an den Stadtrat wandten und diesen baten, Hahnemann das Selbstdispensieren zu verbieten. Erst nach langem Hin und Her wurde diesem schließlich das Herstellen seiner homöopathischen Arzneimittel untersagt, und Hahnemann verließ 1821 Leipzig und zog in das anhaltinische Köthen.55 Die Leipziger Apotheker planten, eine separate Offizin zur Herstellung homöopathischer Präparate zu etablieren, die sie auf gemeinschaftliche Rechnung betreiben wollten. Am 3. Mai 1836, noch vor Erhalt der Konzession, eröffneten sie am Thomaskirchhof die »Homöopathische Dispensieranstalt«, die unter dem Namen »Homöopathische Central-Apotheke« firmierte. Willmar Schwabe konnte sich in dieser Offizin Erfahrungen bei der Herstellung homöopathischer Arzneimittel aneignen. Ein Gutachten vom 16. Oktober 1863 zeigt, dass er als Administrator erfolgreich gearbeitet hatte. Der Bezirksarzt Dr. Hugo Sonnenkalb betonte darin, daß Herr Dr. Willmar Schwabe, wie aus dessen […] Zeugnissen hervorgeht, die Qualifikation zur selbständigen Leitung einer Apotheke besitzt. […] Derselbe ist, wie dem geehrten Stadtrate bekannt, vor kurzem als Administrator der hiesigen homöopathischen Dispensier=Anstalt verpflichtet worden und hat in dieser Stellung mehrere zweckmäßige Einrichtungen bewerkstelligt, sich auch sehr schnell in die Darstellung der homöopathischen Heilmittel zu finden.56

Schwabe, der als ehrgeiziger junger Mann nach Selbständigkeit strebte, gab bereits 1865 seine Stelle auf und bat am 2. Mai desselben Jahres den Rat der Stadt Leipzig um Erlaubnis, ein eigenes Grosso- und Exportgeschäft für homöopathische Heilmittel errichten zu dürfen. Er erklärte, dass er keineswegs ein Konkurrenzunternehmen zu seiner bisherigen Arbeitsstelle errichten, sondern vielmehr »Essenzen und Tincturen nach homöopathischen Principien im Großen«57 herstellen wolle, wobei seine Arzneimittel nur zur Abgabe an Apotheker und für den Export nach Frankreich, England und Amerika bestimmt waren. Dies zeigt, dass bereits der 26-jährige Schwabe den Export seiner Arzneimittel beabsichtigte. 1899 entstand die erste ausländische Niederlassung in Holland58, der weitere folgen sollten, und Martin Dinges bezeichnete die 54 f. f. (1917), S. 33. 55 Schreiber (2002), S. 118–129; Jütte: Geschichte (1996), S. 196–199. 56 StAL, Bestand 20706, Nr. 260, Erlangung der Konzession zum Betreiben einer Apotheke, fol. 7: Schreiben des Stadtbezirksarztes Dr. Sonnenkalb vom 16.10.1863. 57 StAL, Bestand 20706, Nr. 260, Erlangung der Konzession zum Betreiben einer Apotheke, fol. 1–6: Gesuch Schwabes; vgl. auch Michalak (1991), S. 102 f. 58 Huhle-Kreutzer schreibt fälschlich 1895: Huhle-Kreutzer (1989), S. 261; Meyer/Friedrich (2016), S. 45–51.

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Firma Schwabe als einzigartiges international agierendes Unternehmen59. Der Bezirksarzt Dr. Hugo Sonnenkalb befürwortete die Einrichtung des beantragten Grossogeschäftes unter der Bedingung, dass es sich »um fabrikmäßige Darstellung nicht der homöopathischen Arznei-Mittel selbst, sondern der für deren Bereitung als Grundstoffe dienenden Tincturen und Essenzen, also um Errichtung einer Fabrik solcher Arzneiwaren« handele.60 Am 8. Dezember wurde die neueröffnete »Firma homöopathische Central=Officin Dr. Willmar Schwabe in Leipzig, Inhaber Herr Dr. phil. Carl Emil Willmar Schwabe daselbst« in das Handelsregister eingetragen. Aber schon 1866 entbrannte ein Streit zwischen Schwabe und den Besitzern der »Homöopathischen Dispensieranstalt der Vereinigten Apotheken zu Leipzig«, die diese nun in »Homöopathische Central-Apotheke in Leipzig« umbenannt hatten. Während Schwabe den Leipziger Apothekern vorwarf, durch das Wort »Central« zu suggerieren, dass sie auch Großherstellung betrieben, unterstellten diese ihm, Patienten beliefern zu wollen, was durchaus zutraf. Denn Schwabe wandte sich am 27. Februar 1866 an den Stadtrat mit der Bitte, »auf hiesigem Platze eine homöopathische Apotheke […] errichten« zu dürfen.61 Während den Leipziger Apothekern die Namensänderung schließlich genehmigt wurde, lehnte man Schwabes Gesuch ab.62 Er kämpfte aber weiter um die Einrichtung einer eigenen homöopathischen Apotheke in Leipzig, und selbst Strafanzeigen, wie die vom 27.  September 1868 durch den Bezirksarzt Sonnenkalb, der ihm vorwarf, aus seiner »Homöopathischen Central-Officin« Medikamente nach ärztlichem Rezept abgegeben und verkauft zu haben, brachten ihn nicht von seinem Vorhaben ab. Er stellte weitere Anträge, wobei er zeitweise sogar das Ziel verfolgte, auch eine allopathische Apotheke einzurichten. Nach immer neuen Eingaben erhielt er schließlich 1870 die Konzession zur Errichtung einer homöopathischen Apotheke für seine Person. Geeignete Räumlichkeiten fand er An der Pleisse  3b, und am 17. Februar 1871 öffnete Schwabes Apotheke »Homöopathische Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann«.63 Damit war es ihm nach 35 Jahren gelungen, das Monopol der »Homöopathischen Dispensieranstalt« zu brechen.

59 Dinges (1996), S. 408. 60 StAL, Bestand 20706, Nr. 317, Manuskripte zur Geschichte der Homöopathie, der homöopathischen Apotheke in Leipzig und der Firma Schwabe, fol. 60: Arno Kapp: Die Entstehungsgeschichte der homöopathischen Central-Officin von Dr. Willmar Schwabe, Leipzig (Maschinenschrift). 61 Michalak (1991), S. 106. 62 StAL, Bestand 20706, Nr. 260, Erlangung der Konzession zum Betreiben einer Apotheke, fol. 16: Abschrift eines Schreibens der Königlichen Kreis-Direction vom 6.11.1866; StAL, Bestand 20706, Nr.  144, Preislisten: Bericht und Preisliste des Grosso- und Exportgeschäftes homöopathischer Mittel [1867], fol. 1; vgl. Michalak (1991), S. 109; Hofmann (2014), S. 45–49. 63 StAL, Bestand 20706, Nr.  321, Handelsregisterauszüge: Eintragung vom 11.1.1871; Michalak (1991), S. 116 f.; vgl. auch Jäger (1991), S. 173.

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»Homöopathische Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann« Am 30. September 1871 fand in Gegenwart des Bezirksarztes Dr. Hugo Sonnenkalb die erste Revision statt. Im Protokoll wird betont, dass die Lage der Apotheke an der Centralstraße und Centralbrücke günstig sei und »sämmtliche Räume, besonders auch die Officin sehr geräumig, trocken, licht und hoch« waren.64 Ordnung und Reinlichkeit bezeichneten die Revisoren durchgängig als sehr gut. Weiter heißt es: »Die Medicamente betreffend, so ergab die Durchsicht der Urtincturen, Verreibungen, Potenzen, Streukügelchen, daß dieselben tadellos erscheinen.« Außerdem wurden chemische Präparate, »besonders die Quecksilberpräparate, in Säuren und Salze untersucht auf Reinheit und waren auch diese tadellos«. Positiv vermerkten die Revisoren, dass Schwabe bei den Preisen der Medikamente »ganz dieselben Sätze berechnet […] wie solche von der homöopathischen Centralapotheke von Taeschner & Co. eingeführt sind«. In der Apotheke war neben Schwabe der Apothekergehilfe Carl Robert Wappler beschäftigt und zur Aushilfe außerdem der Student der Pharmazie Hanno Müller. Das Gesamturteil lautete, dass »sowohl die äußere wie innere Verfassung [der Apotheke] alle[n] Anforderungen, die an solche gestellt werden können, vollkommen entspricht, und die Geschäftsführung ebenso eine sehr gute ist«.65 1873 wurde Schwabes Central-Apotheke in die Kleine Fleischergasse verlegt. Einem Revisionsprotokoll verdanken wir nähere Einblicke. So wurde betont, dass die Übersiedlung eine räumliche Erweiterung der Apotheke ermöglichte. Über die Vorratsräume heißt es, dass diese vollständig abgetrennt und sehr gut eingerichtet [sind]: Waagen und Gewichte waren in vollkommener Ordnung. Ebenso sind alle Vorkehrungen getroffen für die Anfertigung der verschiedenen homöopathischen Medicamente und ist die äußere Verfassung der Centralapotheke als »sehr gut« zu bezeichnen. […] Der Umfang des Geschäfts ist weniger durch Rezeptur und Handverkauf am Orte bedingt, als vielmehr durch die sehr ausgedehnten Engrossgeschäfte nach in- und außereuropäischen Staaten und ist die Geschäftsführung eine musterhafte.66

Am 28. Februar 1882 bat Schwabe um Genehmigung, seine in der Kleinen Fleischergasse 22/24 gelegene homöopathische Apotheke in die Querstraße 3 verlegen zu dürfen67, wo es angeblich größere und hellere Räume für das Laboratorium gab. Für den wirtschaftlich denkenden Schwabe war aber vor allem die Nähe zum Stadtzentrum, zum Hauptbahnhof und zur Post ein Standortvorteil. Der Stadtbezirksarzt kritisierte bei der Visitation, »daß das

64 StAL, Bestand 20706, Nr. 254, Revision der Homöopath. Central-Apotheke 1871–1913, fol. 1 f.: Revisionsprotokoll vom 30.9.1871. 65 StAL, Bestand 20706, Nr. 254, Revision der Homöopath. Central-Apotheke 1871–1913, fol. 2 f.: Revisionsprotokoll vom 30.9.1871. 66 StAL, Bestand 20706, Nr. 254, Revision der Homöopath. Central-Apotheke 1871–1913, fol. 1 f.: Revisionsprotokoll von 9.4.1874. 67 Michalak (1991), S. 122.

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jetzige für die Extraction bestimmte Laboratorium ein äußerst beschränkter, dunkler, ungünstiger Raum ist«.68 Als ein Nachteil der Konzession für die »Homöopathische Central-Officin« erwies sich, dass diese nur für die Person Willmar Schwabe erteilt und daher unveräußerlich war. Seine Bemühungen um eine Realkonzession blieben 1876 zunächst ohne Erfolg. 1906, also 30 Jahre später, stellte Willmar Schwabe erneut einen Antrag, die Personalkonzession für seine »Homöopathische Central-Officin« in eine Realkonzession umzuwandeln. Der Versuch, seinen Sohn zum Teilhaber der Firma zu machen, scheiterte, da ein Gutachter des Innenministeriums dies durchschaute und feststellte, dass »ein öffentliches Interesse weder am Vereintbleiben der Homöopathischen Central-Apotheke Dr. Willmar Schwabe mit dessen Versandgeschäft, noch an der Erhaltung der Apotheke als persönliche Konzession […] vorhanden« sei.69 Schwabes Vetter, der Rechtsanwalt Dr. Hans Spieß, der ihn beriet, empfahl daher, »das Gesuch jetzt zurückzuziehen und durch die Hilfsmittel, die Dir zu Gebote stehen, zunächst […] den Boden ebnen zu lassen, ehe Du ein neues Gesuch einreichst«.70 Erst drei Jahre später kam es zu einer Lösung, bei der man sich eines juristischen Kniffes bediente, da Schwabe inzwischen neben der Personalkonzession eine zweite Apotheke mit Realrecht, die »Homöopathische Central-Apotheke« am Thomaskirchhof, besaß, die er 1878 erworben hatte. So bestand die Möglichkeit, dieses Realrecht auf das Grundstück in der Querstraße 3 zu übertragen, was am 22. September 1910 erfolgte, so dass nun auch die »Homöopathische Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann« nebst pharmazeutischer Fabrik über Willmar Schwabes Tod hinaus weiterbestehen konnte. Aufbau eines Apothekenmonopols durch Willmar Schwabe Am 1. März 1878 hatte Willmar Schwabe seine Hauptkonkurrenz, die »Homöopathische Central-Apotheke Täschner & Co.« am Thomaskirchhof, für den Betrag von 85.000 Mark von den Besitzern der Leipziger Löwen-Apotheke, den Brüdern Carl Otto Linné und Carl Woldemar Loeßner, der AdlerApotheke, Ludwig August Neubert, der Salomonis-Apotheke, Georg Telle, und der Engel-Apotheke, Rudolph Hermann Paulcke, erworben. Mit dem Verkauf verpflichteten sich diese, »in Leipzig selbst, sowie im Umkreis von einer Meile weder selbst noch im Verein mit anderen Personen im Laufe der nächsten 45 Jahre ein Geschäft zum Vertriebe von homöopathischen Arzneiwaren zu errichten«.71 68 Michalak (1991), S. 123. 69 StAL, Bestand 20706, Nr. 332, Apothekenkonzession und Realrecht, ohne Paginierung: Gutachten vom 19.3.1906; Michalak (1991), S. 131. 70 StAL, Bestand 20706, Nr. 332, Apothekenkonzession und Realrecht, ohne Paginierung: Brief des Rechtsanwalts und Justizrats Dr. Hans Spieß, Königlich-Sächsischer Notar, an seinen Vetter Willmar Schwabe vom 12.4.1906. 71 StAL, Bestand 20706, Nr. 332, Apothekenkonzession und Realrecht, fol. 52 f.: Vertrag zwischen Schwabe und den vier Leipziger Apothekern vom 1.3.1878.

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Zum 1. Januar 1880 erwarb Schwabe die »Firma A. Marggraf, homöopathische Offizin« und erlangte somit ein Monopol für die Belieferung mit homöopathischen Arzneimitteln in Leipzig. Der Besitzer dieser Apotheke, Albert Theodor Marggraf (1809–1880), am 29. Oktober 1809 in Leipzig geboren, war von 1851 bis 1863, also direkt vor Schwabe, Administrator der »Homöopathischen Dispensieranstalt der Vereinigten Apotheken zu Leipzig« gewesen. Auch er wählte den Weg in die Selbständigkeit, gründete jedoch, um einer Konkurrenzsituation aus dem Weg zu gehen, nicht in Leipzig, sondern 1864 in Lindenau, damals noch ein Dorf in der Nähe dieser Stadt, »A. Marggrafs homöopathische Offizin«.72 Nachdem Schwabe die Auseinandersetzung um sein »Grosso- und Exportgeschäft« erfolgreich überstanden hatte, verlegte Marggraf 1868 seine Offizin nach Leipzig in die Frankfurter Straße 37. Mit Schwabe befand er sich offenbar in kollegialem Kontakt, weshalb er am 3. November 1879 ihm als Erstem seine Apotheke anbot: »Nach meiner früheren Zusage offeriere ich Ihnen daher zuerst dieses, ehe ich damit an die Öffentlichkeit trete oder durch Verwaltung dasselbe fortsetzen lasse und nenne Ihnen gegenüber für dasselbe keinen Preis, da Sie aus der Beilage zu diesem dessen Rentabilität ersehen werden.«73 Als Grund für den Verkauf nannte er sein fortgeschrittenes Alter. Am 22. November 1879 wurde der Kaufvertrag abgeschlossen. Darin überließ Marggraf Schwabe sein Geschäft »mit allem Zubehör« und das Recht, »die Firma fortzuführen«.74 Die Einnahmen der Apotheke waren, wie aus seiner Beilage hervorgeht, mit Ausnahme von 1876 seit 1875 kontinuierlich gestiegen (1879 auf 19.689 Mark für zehn Monate); dennoch forderte Marggraf als Gegenleistung nur eine Leibrente von jährlich 1.500 Mark.75 Schwabe verkaufte aber bereits am 22. Januar 1881 die Apotheke an Heinrich William Justin Steinmetz (1855–1908) aus Leipzig weiter.76 Dieser hatte seine pharmazeutische Ausbildung wie Schwabe in der Marien-Apotheke Dresden erhalten. Vermutlich gab es hier erste Kontakte zwischen beiden. Steinmetz konditionierte in London, Genf und Berlin und studierte an der Leipziger Universität von 1878 bis 1880. Die Marggraf’sche Apotheke übernahm er allerdings unter Bedingungen, die ihn eher als einen »Strohmann« denn als einen souveränen Besitzer erscheinen lassen. In dem Vertrag vom 22. Januar 1881 heißt es, dass Steinmetz »den halben Reinbetrag des Geschäftes an Herrn Dr. Schwabe abzuliefern« habe. Er durfte »ohne Genehmigung des Herrn Dr. Schwabe Geschäft und Firma nicht auf Andere übertragen oder

72 Michalak (1991), S. 166. 73 StAL, Bestand 20706, Nr. 256, Übernahme der homöopathischen Apotheke A. Marggraf 1879–1912: Brief des Apothekers A. Marggraf vom 3.11.1879. 74 StAL, Bestand 20706, Nr. 256, Übernahme der homöopathischen Apotheke A. Marggraf 1879–1912: Abschrift des Vertrages vom 3.2.1880. 75 Michalak (1991), S. 166. 76 StAL, Bestand 20706, Nr. 256, Übernahme der homöopathischen Apotheke A. Marggraf 1879–1912: Beglaubigte Abschrift aus dem vorliegenden Handelsregister für die Stadt Leipzig vom 27.1.1881.

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Theilhaber in dasselbe aufnehmen«. Schwabe besaß zudem laut Vertrag das Recht, »jeder Zeit persönlich oder durch Beauftragte das Geschäft und die Geschäftsbücher einzusehen und zu prüfen« und zu fordern, »die Firma wieder auf sich übertragen zu lassen«.77 1884 übernahm Steinmetz außerdem die Leitung der »Homöopathischen Central-Apotheke Täschner & Co.«, die er räumlich mit der Marggraf’schen Offizin vereinigte. Parallel dazu bestanden auch noch Verlagsbuchhandlungen, so der »Verlag Marggraf«, der »Verlag Täschner & Co.« und der »Verlag Gruner«. In der Öffentlichkeit erschien Steinmetz zwar als Besitzer all dieser Firmen, für Schwabe war er jedoch ein stets loyaler und treuergebener Kollege, mit dessen Hilfe er ein Apothekenmonopol für homöopathische Arzneimittel in Leipzig sicherte.78 1890 schloss Schwabe einen Gesellschaftsvertrag mit Steinmetz und dem Apotheker Gustav Alfred Judersleben zum gemeinschaftlichen Betrieb der »Homöopathischen Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann«. Beide waren zwar nun Teilhaber und erhielten einen Anteil aus dem Reingewinn, wobei sie sich verpflichteten, die Hälfte des Gewinns im Geschäft zu belassen. Paragraph 3 des Vertrages zeigte aber deutlich, wer der Herr im Haus war: Herr Dr. Willmar Schwabe ist und bleibt nicht nur Eigenthümer der unter der Firma seines Namens hier bestehenden homöopathischen Centralapotheke, sondern ist und bleibt auch Eigenthümer des unter der Firma A. Marggraf homöopathische Officin in Leipzig betriebenen Geschäfts und der homöopathischen Centralapotheke unter der Firma Täschner & Co., endlich ist und bleibt er auch allein betheiligt am Reingewinn des Fabrikationsgeschäftes unter der Firma Louis Wittig & Co. in Cöthen.79

Schwabe gehörte auch die homöopathische Offizin von Carl Ernst Gruner (1798–1875), die dieser in Dresden 1864 unter der Bezeichnung »Carl Gruner’s Homöopathische Offizin« in das Handelsregister hatte eintragen lassen.80 Im selben Jahr erwarb der Dresdner Apotheker Johannes Paul Liebe diese Offizin.81 1896 übernahm dann der Leipziger Apotheker Steinmetz die Firma, und der Firmensitz wurde nach Leipzig verlegt.82 Steinmetz fungierte auch hier als »Strohmann«, denn Schwabe erwähnte in seinem Testament ausdrücklich die »Homöopathische Offizin A. Marggraf« und »Gruners Homöopathische Offizin« neben seiner eigenen und der »Homöopathischen Central-Apotheke

77 StAL, Bestand 20706, Nr. 256, Übernahme der homöopathischen Apotheke A. Marggraf 1879–1912: Beglaubigte Abschrift aus dem vorliegenden Handelsregister für die Stadt Leipzig vom 27.1.1881. 78 Michalak (1991), S. 167 f. 79 StAL, Bestand 20706, Nr. 188, Verträge über Teilhaberschaft und Handlungsvollmacht für die homöopathische Centralapotheke 1881–1890, fol. 15 f.: Vertrag vom 1.7.1890. 80 StAL, Bestand 20706, Nr.  340, Testament von Dr. Carl Emil Willmar Schwabe 1896– 1916, fol. 2 f.: Testament Willmar Schwabes vom 15.4.1896. 81 HStAD, Bestand 11045, Nr. 1249, Firma Adler Apotheke, Carl Gruner, Dresden, 1862– 1867: Handelsregisterblatt 881. 82 HStAD, Bestand 11045, Nr. 1251, Carl Gruner’s Homoeopathische Officin, J. Paul Liebe, Dresden, 1864–1896, fol. 142–145.

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Täschner & Co.« als seinen Besitz.83 Neben dem Fabrikationsbetrieb bildeten die vier Apotheken eine zweite Säule seiner Tätigkeit. Großherstellung von Homöopathika Die »Homöopathische Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann« von Schwabe war zugleich der Ort für die Großherstellung und damit das Herzstück des Schwabe’schen Unternehmens, von dem aus Produkte in die ganze Welt geliefert wurden. Die Revisoren betonten stets die besondere Eignung der Räumlichkeiten für die Großherstellung. In der Jubiläumsbeilage zum 40. Jahrgang der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie von 1909 wird ein Rundgang durch das Apotheken- und Fabrikationsgebäude in der Querstraße geschildert. Wie auch ein Revisionsbericht vom 9. Oktober 1905 des Dresdner Professors Dr. Hermann Kunz-Krause (1861–1936) erlaubt er einen minutiösen Einblick: Die geräumige Offizin mit 15 × 6 m Fläche bot Platz für viele Patienten. An den Wänden gab es zahlreiche Repositorien und Schränke aus massiver Eiche, so dass sie einen gediegenen Eindruck machte. Direkt daneben befand sich das kleine Privatkontor Willmar Schwabes, auf der Etage lagen zudem verschiedene Kontorräume, die Redaktion der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie sowie die Briefexpedition. Es gab ferner Sammlungszimmer für Drogen und Herbarien und schließlich einen großen Arbeitssaal, 25  ×  12 m, dessen Einrichtung ganz im ägyptischen Stil gehalten und der bereits mit Ventilatoren versehen war. Ein spezieller Raum diente zur Herstellung der Hochpotenzen. Zum Fabrikationsbetrieb der Apotheke gehörten ein Revisionszimmer zu Kontrollzwecken, Packräume der Versandabteilung, ein Flaschenspül- und Destillationsraum, 18 × 6 m groß, ein Bücherlager und wissenschaftliche Laboratorien. Außerdem gab es einen 800 m2 großen Lagerkeller.84 Vor der Revision 1913 war ein Umbau der Fabrikationsräume erfolgt: So wurde die Verreibungsabteilung aus dem Erdgeschoss in das ausgebaute Obergeschoss verlegt. Im 1. Obergeschoss befanden sich zusätzlich ein Arbeitsraum für Versandzwecke, ein kleines technisches Laboratorium, ein Pflasterstreichraum, ein Raum zur Herstellung der Hochpotenzen und von Streukügelchen. Im 3. Obergeschoss war ein Arbeitsraum in mehrere Einzelräume geteilt worden, und im 4. Obergeschoss wurde nun das wissenschaftliche analytisch-chemische Untersuchungslaboratorium mit Verbrennungsraum, Mikroskopierzimmer, Dunkelkammer und Apparateraum untergebracht.85 Damit

83 StAL, Bestand 20706, Nr.  340, Testament von Dr. Carl Emil Willmar Schwabe 1896– 1916, fol. 2 f.: Testament Willmar Schwabes vom 15.4.1896. 84 Stadt-Archiv Leipzig, Stadtbezirksarzt III B 22, Protokolle über Revision der Apotheke, fol. 33–43. 85 Stadt-Archiv Leipzig, Stadtbezirksarzt III B 22, Protokolle über Revision der Apotheke, fol. 8–51, Revision 12.7.1913.

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waren aber die räumlichen Möglichkeiten erschöpft, so dass eine Erweiterung der Produktion einen Neubau erforderte, der dann unter Willmar Schwabes gleichnamigem Sohn entstand. Die Revisionsprotokolle erlauben auch Einblicke in die Personalentwicklung86, die die folgende Tabelle widerspiegelt. Tab. 1: Personal in der »Homöopathischen Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann« 1874–1922 Jahr

Name

1874

Carl Robert Wappler

geboren

Examen und Status pharmazeutische Staatsprüfung 1866 (mit Zensur 1) in Leipzig

Christ. Wilh. Louis Schacht

1856 Staatsprüfung in Gotha

Oscar Koeberlin

1870 Staatsprüfung in Leipzig

pharm. Hilfskräfte 1877

188387

1886

Otto Reichardt

1828

Staatsprüfung in Berlin 1852

Louis Schacht

1827

Staatsprüfung in Gotha 1856

Alexander von Kanten

1854

Gehilfenprüfung in Aachen 1874, an Universität Leipzig auf Prüfung vorbereitet

Arthur Müller

1852

Approbation 1876

Louis Schacht

1827

Approbation 1856

Leo Heisterberg

1841

Approbation 1867

1827

Approbation 1856

Alfred Judersleben Louis Schacht 2 Apothekergehilfen

1889

Apotheker Judersleben 2 approbierte Gehilfen 2 andere pharmazeutische Gehilfen

1893

Apotheker Judersleben 2 Apotheker 2 Kandidaten der Pharmazie 2 Drogisten kaufmännisches Personal

86 StAL, Bestand 20706, Nr. 254, Revision der Homöopath. Central-Apotheke 1871–1913. 87 Ab hier aus: Stadt-Archiv Leipzig, Stadtbezirksarzt III B 22, Protokolle über Revision der Apotheke.

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Jahr

Name

1905

Apotheker Judersleben und William Steinmetz, beide als Teilhaber

geboren

Examen und Status

4 approbierte Gehilfen 2 nichtapprobierte Gehilfen 3 Drogisten kaufmännisches Personal 1916

Provisor Hugo Karl Platz

1876

3 Apotheker 6 unexaminierte Gehilfen 4 Drogisten 29 kaufmännische Hilfsarbeiter 71 Arbeiter und Arbeiterinnen 1919

Hugo Karl Platz

1876

1901

2 Apotheker für Offizin 4 Apotheker für Fabrik 40 beamtete Mitarbeiter 200 Arbeiter und Arbeiterinnen 1922

Hugo Karl Platz

1876

2 Apotheker für Apotheke 3 Apotheker für Fabrik 46 Beamte 117 Arbeiter und Arbeiterinnen

Ein in Leder gebundenes Manual der »Homöopathischen Central-Apotheke zum Samuel Hahnemann« spiegelt ihr Sortiment wider. Auf 89 Seiten werden verschiedenste Rezepturen angegeben. Neben homöopathischen Mitteln findet man auch Hausmittel wie Liebigs Kindernahrung oder ein Schwind- und Bleichsuchtpulver. Aufgelistet sind zudem zahlreiche aus mehreren Teilen bestehende homöopathische Arzneimittel, sogenannte Komplexmittel88, nach Cesare Mattei (1809–1896) und Emanuel Felke (1856–1926)89 sowie schließlich auch Mittel nach Madaus. Die Firma Madaus entstand 1919 in Bonn und 88 StAL, Bestand 20706, Nr. 258, Manual homöopathische Centralapotheke (ohne Datum). 89 Zu Mattei siehe Helmstädter (1990), S. 19–34, zu Felke Jütte: Geschichte (1996), S. 229– 231.

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produzierte neben Schüssler-Salzen und Komplexmitteln auch Phytopharmaka.90 Am Ende findet man ein umfangreiches Register der Arzneimittel.91 Das Manual, das keine Jahresangabe trägt, dürfte mit der Entstehung der CentralOffizin von Willmar Schwabe 1865 begonnen und über die 1920er Jahre fortgesetzt worden sein. Buchautor und Verleger 1866 veröffentlichte Willmar Schwabe bei E. Schotte & Co. in Berlin eine Broschüre »Die Cholera«, die, »nach den neuesten und besten Erfahrungen zusammengestellt«, eine »schnelle und sichere Heilung durch die Homöopathie« versprach.92 Diese Schrift erlebte bis 1867, also in nur einem Jahr, vier weitere Auflagen, die dann aber in Schwabes eigenem Verlag erschienen. Er selbst bemerkte in seiner Preisliste von 1867, dass »die Vertheilung meiner Cholera-Broschüre« ganz allgemein »zur Ausbreitung der Homöopathie beigetragen« habe.93 Er bezog sich hier auf Samuel Hahnemann, der bereits Kampfer als Standardtherapie bei Cholera eingesetzt hatte, und erwies sich als dessen getreuer Schüler.94 Der Deutsche Krieg mit der Schlacht bei Königgrätz 1866 begünstigte nach Schwabes Ansicht den Ausbruch einer CholeraEpidemie, und er wusste, wie es in einem Artikel anlässlich seines 100. Geburtstags hieß, durch »umsichtiges Erfassen und sein geschicktes Auswerten aller sich darbietenden Umstände« die Gunst der Stunde zu nutzen, um seine Produkte publik zu machen.95 Unterstützt wurde der Vertrieb homöopathischer Arzneimittel durch die am 1. Oktober 1866 gegründete »Homöopathische Verlags- und Sortimentsbuchhandlung«, die Schwabe seiner »Homöopathischen Central-Officin« angliederte. In diesem Verlag erschienen sowohl wissenschaftliche Arbeiten als auch solche, die sich an ein breites Publikum wandten und homöopathische Präparate propagierten. Mit der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie, die seit dem 1. April 1870 in seinem Verlag erschien, machte Schwabe diesen zu einem Zentrum der homöopathischen Literatur. 1872 erschienen hier seine »Pharmacopoea homoeopathica polyglottica« sowie die Zeitschrift Internationale Homöopathische Presse. Anlass für die Gründung dieser Zeitschrift war, dass »in den letzten zehn Jahren Deutschland nicht mehr an der Spitze« der homöopathischen Bewegung stand.96 Zugleich wurde beklagt, dass »die früher überaus rege Betheiligung an der wissenschaftlichen, theoretischen und practischen Vervollkommnung und Fortentwicklung der Homöopathie« fehle.97 90 91 92 93 94 95 96 97

Dietrichkeit (1991). StAL, Bestand 20706, Nr. 258, Manual homöopathische Centralapotheke (ohne Datum). Schwabe (1866), Titelblatt; Willfahrt (1996), S. 281. O. A. (1867), S. 24. Scheible (1994). O. A. (1939), S. 28. O. A. (1872), S. 1. O. A. (1872), S. 2.

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Ziel der Zeitschrift war es, die Leser »mit den Resultaten der Forschung und Beobachtung homöopathischer Aerzte des In- und Auslandes bezüglich der theoretischen Feststellung und practischen Verwerthung der homöopathischen Grundsätze bekannt zu machen«.98 Die Gesamtredaktion übernahm der Leipziger Arzt und Stadtrat Dr. Clotar Müller (1818–1877), für die Literatur des Auslandes wurden weitere homöopathische Ärzte, wie Dr. Schädler aus Bern für die französische, Dr. Leopold Süss-Hahnemann (1826–1914) in London für die englische, Dr. Tietze in Philadelphia und jeweils weitere Kollegen für die italienische, ungarische, russische, polnische, schwedische, dänische und holländische Literatur benannt.99 Ab 1910 erschien in Schwabes Verlag als »Flaggschiff« die Allgemeine Homöopathische Zeitung.100 Schwabes Kampf um die Anerkennung seiner Pharmakopöe Eine Ursache für Schwabes Erfolg waren seine besonders strengen Maßstäbe bei der Herstellung homöopathischer Präparate. Einerseits erwies er sich als konservativ, indem er noch strengere Vorschriften als Samuel Hahnemann festlegte, andererseits suchte er neue Verfahren zu nutzen und diese auch stets wirtschaftlich zu gestalten. So zählte Schwabe in Deutschland zu den ersten Herstellern von Tabletten, die er bereits seit 1890 produzierte.101 Diese Arzneiform war in England entwickelt worden und wurde in Deutschland von Isidor Rosenthal (1836–1915) eingeführt.102 Seine Bemühungen um die korrekte Herstellung homöopathischer Arzneimittel spiegelt die 1872 erschienene »Pharmacopoea homoeopathica polyglottica« wider. Sie war dreisprachig angelegt und wurde durch den »Homöopathischen Centralverein Deutschlands« als homöopathische Normalpharmakopöe autorisiert. Schwabes Ziel war es, die inzwischen immer mehr »verwässerten« Herstellungsvorschriften wieder zu vereinheitlichen und auf das eigentliche Hahnemann’sche Vorgehen zurückzuführen. Zugleich sollten sie den Apothekenrevisoren zur Beurteilung homöopathischer Apotheken dienen.103 Obwohl diese Pharmakopöe überwiegend eine positive Aufnahme fand, gab es bald auch Kritik. Schwabe führte stets eine sachliche Auseinandersetzung um sein Werk, verpflichtete sich aber, »eine Conventionalstrafe von 200 Thalern zum besten des in Leipzig zu errichtenden Krankenhauses zu zahlen«, wenn die inzwischen vorliegenden homöopathischen Pharmakopöen von Carl Ernst Gruner oder von Joseph Buchner (1813–1879) »richtigere, auf authentische Quellen sich stützende« seien.104 98 99 100 101 102 103 104

O. A. (1872), S. 4. Schindler (1985). Jütte: Deutschland (1996), S. 36. Meyer/Friedrich (2016), S. 39–43. Zentzis (1985), S. 249; Meyer (2010). Schwabe: Pharmacopoea (1872), S. V–X. Schwabe: Preis-Ausschreiben (1872), S. 176; Michalak (1991), S. 148 f.

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Die »Pharmacopoea homoeopathica polyglottica« bietet nach einer Einführung in die homöopathische Lehre Ausführungen über Räumlichkeiten und Gerätschaften, über indifferente Stoffe wie Alkohol, destilliertes Wasser und Milchzucker, über die Beschaffung der Arzneistoffe, die Herstellung von Urtinkturen und das Potenzieren bzw. Verreiben. In der zweiten Abteilung werden die einzelnen Arzneistoffe, überwiegend pflanzlicher Provenienz, behandelt, wobei man stets Anweisungen zu ihrer Bereitung findet. Willmar Schwabe war die staatliche Anerkennung seiner Pharmakopöe sehr wichtig, weshalb er sich 1872 sogar an den Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) wandte, der und insbesondere dessen Frau der Homöopathie gewogen waren, und ihn bat, ihm eine Denkschrift widmen zu dürfen.105 In dieser gibt Schwabe zunächst einen Überblick über die homöopathische Literatur und betont, dass an die Stelle der von Hahnemann betriebenen naturphilosophischen Richtung nun eine naturhistorische getreten sei, weshalb der Vorwurf der »Unwissenschaftlichkeit« für die Homöopathie nicht mehr zutreffe. Schwabe bevorzugte niedere Potenzen. Zugleich bat er um die Anerkennung seiner »Pharmacopoea homoeopathica polyglottica« als gesetzliche Normalpharmakopöe, da sie mit den von Hahnemann und weiteren Arzneiprüfern aufgestellten Regeln am besten übereinstimme.106 In seiner Antwort schrieb Otto von Bismarck: »Ew Wohlgeboren erwidere ich auf die gefällige Zuschrift vom 11.s. Mts. ergebenst, daß ich Ihrem Wunsche entsprechend, die Widmung Ihrer demnächst im Druck erscheinenden Denkschrift über die gegenwärtige Stellung der Homöopathie im deutschen Reiche gern genehmige.«107 Zusammen mit seiner Denkschrift veröffentlichte Schwabe »die von homöopathischen Aerzten, aerztlichen Vereinen und geprüften Pharmaceuten von Ruf […] abgegebenen Gutachten« und betonte, dass »diese Herren […] durch ihr Examen bewiesen [hätten], dass sie die Berechtigung zu einem Urtheil in homöopathisch-pharmaceutischen Angelegenheiten besitzen«.108 Intensiv bemühte er sich um die Anerkennung seiner Pharmakopöe als amtliches Arzneibuch.109 Am 11. August 1897 traf sich in Berlin die »Kommission zur Bearbeitung eines deutschen homöopathischen Arzneibuches« zu ihrer ersten Sitzung. Neben Vertretern des Deutschen Apotheker-Vereins (DAV), wie Dr. Heinrich Salzmann (1859–1945), Dr. Karl Schacht (1836– 1905) und dem Vorsitzenden des Vereins, Max Froelich (1851–1928), sowie den pharmazeutischen Hochschullehrern Alexander Tschirch (1859–1939) aus Bern, Heinrich Beckurts (1855–1929) aus Braunschweig, Ernst Schmidt (1845–1921) aus Marburg und dem Pharmakologen Hugo Schulz (1853–1932) 105 Schwabe: Stellung (1872), S. 4; vgl. auch Huhle-Kreutzer (1989), S. 262 f. 106 Schwabe: Stellung (1872), S. 14. 107 StAL, Bestand 20706, Nr. 297, Handschriftliches Dankschreiben Bismarcks: Brief Otto von Bismarcks an Willmar Schwabe vom 26.9.1872. 108 StAL, Bestand 20706, Nr.  344, Kampf um die Anerkennung der Homöopathie sowie Einführung eines verbindlichen Arzneibereitungsbuches 1872–1899, fol. 2 f.: Gutachten. 109 StAL, Bestand 20706, Nr. 161, Homöopathischer Zentralverein, fol. 7 f.: Beschluss zur Anerkennung der Pharmacopoea homoeopathica polyglottica von 1872.

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aus Greifswald gehörten der Kommission auch Schwabe sowie dessen Mitarbeiter William Steinmetz an. Letzterer vertrat die Ansicht, dass man sich möglichst an die Hahnemann’schen Vorschriften halten solle, wie diese in der Schwabe’schen Pharmakopöe niedergelegt seien. Konträre Auffassungen gab es bei der Bereitung pflanzlicher Auszüge, insbesondere bei Tinkturen. Während Ernst Schmidt empfahl, die Schwabe’sche Pharmakopöe als Grundlage zu benutzen, blieben andere Kommissionsmitglieder skeptisch. Die weitere Arbeit wurde in die Hände einer speziellen Kommission gelegt, der neben den Berliner homöopathischen Ärzten Dr. Ludger Sulzer (1846–1899) und Dr. Carl Friedrich Windelband (1839–1909) auch Schwabe, Steinmetz und Salzmann angehörten.110 Aber schon im Mai 1898 schied Schwabe »zum lebhaften Bedauern der übrigen Mitglieder« aus der unter dem Vorsitz von Max Froelich stehenden Kommission aus.111 Er veröffentlichte seine »Erklärung in Sachen des Neuen homöopathischen Arzneizubereitungs-Handbuchs (Pharmakopöe)«. Darin begründete er seinen Rückzug aus der Berliner Kommission damit, dass er nicht »an der wohlbegründeten homöopathischen Pharmacie Hahnemann’s Todtengräberdienste« leisten wollte »und den vor 32 Jahren von mir […] betretenen Weg verlassen, auf den ich meine Klientele in der ganzen Welt mit wohl zubereiteten und brauchbaren homöopathischen Arzneien versah und dabei stets Zufriedenheit, Dank und Anerkennung erntete«.112 Selbstbewusst erklärte er: »Der geradezu colossale Aufschwung der Homöopathie, besonders in Deutschland, ist grösstentheils der Benutzung der Pharmacopoea homoeopathica polyglotta zuzuschreiben. Jene Etablissements aber, welche nicht nach ihr arbeiteten, haben niemals florirt.«113 Salzmann bedauerte das Ausscheiden Schwabes, wodurch die Fertigstellung eines deutschen homöopathischen Arzneibuchs »eine gewisse Störung erlitten« habe.114 Steinmetz, der in der Kommission doch noch mitwirkte, forderte erneut, dass die Schwabe’sche Pharmakopöe die Grundlage für weitere Verhandlungen bilden sollte. Er kritisierte, dass das vom DAV in Auftrag gegebene Arzneibuch von allopathischen Apothekern und zwei homöopathischen Ärzten bearbeitet wurde. Dem trat Salzmann entgegen und betonte, dass man sich nicht zum »Geschäftsträger der Firma Schwabe« machen wolle. Gleichwohl schlug er auch versöhnliche Töne an, indem er bemerkte: »Nichts liegt mir ferner, als das Werk unseres verdienstvollen Kollegen Herrn Dr. Schwabe 110 O. A. (1897). 111 O. A.: Tagesnachricht (1898), S. 371. 112 StAL, Bestand 20706, Nr.  344, Kampf um die Anerkennung der Homöopathie sowie Einführung eines verbindlichen Arzneibereitungsbuches 1872–1899, Dokument 8: Willmar Schwabe: Erklärung in Sachen des Neuen homöopathischen ArzneizubereitungsHandbuchs (Pharmakopöe). 113 StAL, Bestand 20706, Nr.  344, Kampf um die Anerkennung der Homöopathie sowie Einführung eines verbindlichen Arzneibereitungsbuches 1872–1899, Dokument 8: Willmar Schwabe: Erklärung in Sachen des Neuen homöopathischen ArzneizubereitungsHandbuchs (Pharmakopöe). 114 O. A.: Hauptversammlung (1898), S. 610.

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irgendwie anzugreifen oder herabzusetzen. Ich schätze seine Verdienste hoch und habe stets meiner Hochachtung nicht nur für seine Leistungen, sondern auch für seine Person unumwunden Ausdruck gegeben.«115 Auf der zweiten Sitzung am 23. August 1898 wurde der Streit noch lebhafter fortgesetzt, der sich vor allem an der Valenz der Tinkturen im Hinblick auf ihre weitere Verdünnung entzündete. Wiederum erwies sich Steinmetz als streitbarer Verteidiger der Schwabe’schen Pharmakopöe.116 Bei aller Orientierung auf Hahnemann empfahl Schwabe gelegentlich aber auch moderne Verfahren für die Herstellung, sofern diese nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Begründers standen, wie etwa die Einführung der Perkolationsmethode anstelle der Mazeration zur Bereitung von Tinkturen. Schwabe hatte 1899 betont, dass die Fortschritte der modernen Naturwissenschaften dies erforderten und »daß Hahnemann diese Verbesserungen selbst aufgenommen haben würde, wenn sie ihm und zu seiner Zeit überhaupt schon bekannt gewesen wären«.117 Schwabe hatte bereits in den 1890er Jahren ein »Pharmaceutisch-chemisches Institut« errichtet, in dem die Apotheker und Chemiker Dr. J. Katz und H. Wagner die für das neue Arzneibuch erforderlichen wissenschaftlichen Vorarbeiten und Untersuchungen durchführten.118 Als erbitterter Gegner Schwabes erwies sich Max Froelich, der 1898 in das preußische Kultusministerium, dem auch die Medizinalangelegenheiten unterstanden, berufen worden war und damit einen beachtlichen politischen Einfluss besaß.119 Statt Schwabes Arzneibuch protegierte er das des Berliner Apothekervereins, das 1901 erschienen war. Schwabe bemerkte dazu: Trotzdem Herr Medicinal-Assessor Froelich sich dahin ausgesprochen hat, dass er mit der Wucht seiner Persönlichkeit das Berliner Deutsche Homöopathische Arzneibuch bei dem Ministerium »durchdrücken« werde, haben wir noch immer die Meinung, dass auch in Medicinal-Angelegenheiten nichts »durchgedrückt« werden kann, sondern dass nur die Resultate reiflicher Erwägungen massgebend sind […]. Da nun durch das Rundschreiben der Buchhandlung des deutschen Apothekervereins der Anschein zu erwecken versucht wird […] dass das Berliner homöopathische Arzneibuch ähnlich wie das »Ergänzungsbuch« einen halbamtlichen Charakter trägt, sehen wir uns veranlasst, dieser Ansicht entschieden entgegenzutreten.120

Schwabes fünfte Ausgabe der »Pharmacopoea homoeopathica polyglotta«121 war gleichfalls 1901 erschienen und fand große Anerkennung. Der »Homöopathische Centralverein Deutschlands« forderte – unterstützt von 48 wissenschaftlichen Gutachten  – erneut, sie als »Normalpharmakopöe« anzuerken115 O. A. (1899), S. 517 f. 116 O. A. (1899). 117 StAL, Bestand 20706, Nr.  344, Kampf um die Anerkennung der Homöopathie sowie Einführung eines verbindlichen Arzneibereitungsbuches 1872–1899: Willmar Schwabe: Zur Aufklärung in Sachen der Homöopathischen Pharmacopoe. Leipzig 1899. 118 Schwabe (1912), S. VII. 119 Schockmann (2008), S. 119–154. 120 Schwabe: Stellung (1901), S. 4. 121 Ab der 2. Auflage war der Titel in »Pharmacopoea homoeopathica polyglotta« geändert worden. Schwabe (1880); Schwabe: Pharmacopoea (1901).

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nen. In der Apotheker-Zeitung wurde jedoch kritisch angemerkt, dass Schwabe sein Arzneibuch unter dem Titel »Deutsches Homöopathisches Arzneibuch« herausgebracht hatte und damit den Anschein erwecken wolle, dass dieses dem DAB 4 an die Seite gestellt sei. Dem trat Schwabe gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Hans Barth entgegen und stellte klar, dass es sich bei seinem Arzneibuch um eine deutsche Ausgabe der »Pharmacopoea homoeopathica polyglotta« handele. Im Juli lieferten sich Salzmann und Schwabe einen erbitterten Schlagabtausch bezüglich des Titels »Homöopathisches Arzneibuch«, wobei Schwabe den Vorwurf erhob, dass große Teile des vom Deutschen Apotheker-Verein protegierten »Homöopathischen Arzneibuches« abgeschrieben seien. In der Zeitschrift für Homöopathische Pharmacie veröffentlichte er »Vergleichende Textproben aus Dr. W. Schwabe’s ›Deutschem homöopathischen Arzneibuch‹ und aus dem ›Berliner homöopathischen Arzneibuch‹ (›Deutsches homöopathisches Arzneibuch des Deutschen Apotheker-Vereins‹)«, die belegten, dass die Verfasser des Letzteren relativ ungehemmt Schwabes Texte übernommen hatten. In der Anmerkung heißt es: »Alles Abgeschriebene ist unterstrichen.«122 Ab September 1901 verglich Willy Wobbe (1867–1931), Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Apotheker-Vereins, in der Apotheker-Zeitung in sechs Beiträgen die homöopathische Pharmakopöe des DAV mit Schwabes Werk, wobei er zu der Feststellung gelangte: Das deutsche homöopathische Arzneibuch hat vor dem Schwabeschen Buche den großen Vorzug, dass es nur zwei Arten von Tinkturen kennt, während das Schwabesche Arzneibuch deren vier hat, wenn ich die aus frischen Pflanzen dargestellten Essenzen hierher rechne. […] Nach dem Schwabeschen Arzneibuch gestaltet sich die Verdünnung von Tinkturen und Lösungen ungleich schwieriger und damit gefährlicher, da in jedem Falle erst der Arzneigehalt der betreffenden Flüssigkeit festgestellt werden musste […]. Rechnet man noch dazu, dass sich im Schwabeschen Arzneibuch eine ganz veraltete, dem modernen Apotheker und Arzt völlig ungeläufige Nomenklatur findet […], so wird man der Schöpfung des Deutschen Apotheker-Vereins unbedingt den Vorzug zu geben haben.123

In der Folge zeigte Schwabe immer wieder, welche Unterschiede bei der Herstellung zwischen seiner und der Pharmakopöe des Apotheker-Vereins bestehen, so beispielsweise bei der Benutzung von Zerkleinerungswerkzeugen. Während im »Berliner Homöopathischen Arzneibuch« »zur Zerkleinerung frischer Pflanzen nur Wiege- und Stampfmesser sowie Wiegebretter aus geruchlosem, harten Holze verwandt werden«, empfahl Schwabe Fleischhackmesser.124 1902 veröffentlichte Schwabe in der Beilage zur Zeitschrift für Homöopathische Pharmacie eine Erklärung:

122 Schwabe: Stellung (1901), S.  4; Schwabe: Vergleichende Textproben (1901), S.  7; vgl. Grebe (2016), S. 50–58. 123 Wobbe (1901), S. 732. 124 Schwabe: Zerkleinerungswerkzeuge (1901), S. 16.

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Nachdem es feststeht, dass mein »Deutsches Homöopathisches Arzneibuch« sich bei Behörden und Regierung, bei Autoritäten und Sachverständigen auf homöopathischem Gebiet, bei ruhigen und klaren Beurteilern beider im vorigen Jahr erschienenen homöopathischen Arzneibücher volle Anerkennung erworben hat, beschränke ich mich nunmehr und in Zukunft darauf, in meiner »Zeitschrift für Homöopath. Pharmacie« rein wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen und nur noch solchen Zeitungsartikeln und Angriffen entgegenzutreten, die – absichtlich oder nicht – unwahre Behauptungen aufstellen und somit der Berichtigung bedürfen.125

Direkt unter dieser Erklärung wandte er sich jedoch gegen die in der ApothekerZeitung im April 1901 geäußerten Vorwürfe und erklärte, dass sein Arzneibuch einzig »dem Schutze der wahren homöopathischen Pharmazie« diene. Erneut erwähnte er Fehler der Berliner Pharmakopöe, die vor allem der Tatsache geschuldet seien, dass dieses Arzneibuch von »einem einzigen allopathischen Apotheker mit ganz unwesentlicher Unterstützung zweier homöopathischer Apotheker« erarbeitet worden wäre. Nur seine der Hahnemann’schen Sache verpflichtete Pharmakopöe sei in der Lage, das Dispensierrecht der homöopathischen Ärzte, da sie sich auf die nach seinen Vorschriften bereiteten Arzneimittel verlassen könnten, zu verhindern.126 Schwabes Kampf um seine Pharmakopöe und deren Durchsetzung in Deutschland zeigt sein Festhalten an den Hahnemann’schen Vorschriften und sein Bemühen, durch die Qualität seiner Arzneimittel die Ärzte zu überzeugen. Es war zugleich der Versuch eines geschickt agierenden Unternehmers, ein Firmen-Arzneibuch als amtliches anerkennen zu lassen. Es sollte dann erst 1934 Willmar Schwabes gleichnamigem Sohn gelingen, dass die Schwabe’sche Pharmakopöe als allgemeinverbindliches homöopathisches Arzneibuch im Deutschen Reich legitimiert wurde. Willmar Schwabe als Mäzen Willmar Schwabe zählte zu den Gründern der Leipziger Ortskrankenkasse. 1884 richtete der Rat der Stadt Leipzig 18 Ortskrankenkassen und eine Gemeindeversicherung für einzelne Industriezweige wie Metallarbeiter, Instrumentenbauer, aber auch für die chemische Industrie ein. Den Vorsitz der Letzteren übernahm Willmar Schwabe. Um die Verwaltungskosten zu senken, fusionierten die einzelnen Krankenkassen 1887, und Willmar Schwabe übernahm von 1892 bis 1904 den Vorsitz, wobei sich die Anzahl der Versicherten beträchtlich erhöhte.127 Aufgrund seiner Vorstellungen von einer ganzheitlichen Heilkunde engagierte sich Schwabe seit Mitte der 1880er Jahre besonders für die Einrichtung sogenannter »Heimstätten«, die ihm besser als Krankenhäuser für die Rekonvaleszenten geeignet schienen. Solche Einrichtungen entstanden, wie bereits 125 Schwabe: Erklärung (1902), S. 1. 126 Schwabe: Steuer (1902), S. 1 f. 127 StAL, Bestand 20706, Nr.  170, Ortskrankenkasse Leipzig 1889–1908: Protokolle; vgl. auch Adam (1999), S. 8–11, 16–22, 29–32.

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an anderer Stelle dargestellt128, in Gleesberg bei Schneeberg, in Förstel bei Schwarzenberg im Erzgebirge129 und mit dem Kurbad Augustusbad bei Dresden, für die Schwabe beträchtliche Geldbeträge investierte. 1904 entschloss er sich, die drei Einrichtungen zur »Dr. Willmar-Schwabe’schen-Heimstättenstiftung« zusammenzufassen.130 Kurz vor seinem Tode engagierte er sich auch noch für den Aufbau des Radiumbades Oberschlema-Schneeberg im WestErzgebirge.131 Darüber hinaus gründete Willmar Schwabe zahlreiche weitere Stiftungen, wie die »Dr. Willmar-Schwabe-Stiftung« zugunsten bedürftiger Studierender, oder Hilfs- und Töchterpensionskassen der Universität, worüber bereits berichtet wurde.132 Auszeichnungen und Ehrungen Willmar Schwabe erhielt eine große Anzahl von Auszeichnungen, so beispielsweise 1903 den Orden der Büste Bolivars 3. Klasse der Vereinigten Staaten von Venezuela. Die Ordensverleihung zeigt, dass Schwabes homöopathische Mittel sogar in Südamerika geschätzt wurden. 1896 ernannte ihn der sächsische König Albert (1828–1902) zum Kommerzienrat, drei Jahre später wurde ihm der »Rang in der IV. Klasse der Hofrangordnung« verliehen. 1903 erhielt er von König Georg von Sachsen (1832–1904) das Ritterkreuz 1. Klasse des Albrechtsordens für seine »dem Staate nützlichen Dienste«.133 1905 verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) den Königlichen Kronenorden 3. Klasse für seine »Verdienste um die Einführung und Durchführung der reichsgesetzlichen Krankenversicherung«.134 1910 ernannte ihn der sächsische König Friedrich August III. (1865–1932) zum Geheimen Hofrat. 1915 verlieh ihm der König schließlich das Komturkreuz 2. Klasse des Albrechtsordens. Ein Jahr später folgte seine Ernennung zum Ehrenmitglied des in London tagenden internationalen homöopathischen Kongresses. All diese Auszeichnungen spiegeln die Anerkennung wider, die Schwabes Lebenswerk, aber auch sein soziales Engagement gefunden hatte.

128 Meyer/Friedrich (2016), S. 59–63. 129 Hübschmann (o. J.), S. 31–36. 130 StAL, Bestand 20706, Nr. 246, Dr. W. Schwabe Heimstättenstiftung 1896–1941; StAL, Bestand 20706, Nr. 249, Heimstättenstiftung 1893–1923; vgl. auch Jäger (1991), S. 175. 131 StAL, Bestand 20706, Nr. 245, Radiumbad Oberschlema-Schneeberg GmbH 1915–1926. 132 StAL, Bestand 20706, Nr. 298, Stiftungen 1903–1912; vgl. dazu ausführlich Meyer/Friedrich (2016), S. 62 f. 133 StAL, Bestand 20706, Nr. 305, In- und ausländische Würdigung, fol. 11. 134 StAL, Bestand 20706, Nr. 305, In- und ausländische Würdigung, fol. 19.

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Schwabe privat Willmar Schwabe war ein liebenswürdiger und volksnaher Mensch, der auch für Droschkenkutscher oder Straßenbahnschaffner ein freundliches und humorvolles Wort hatte und Verständnis für das Leid anderer zeigte. Nach dem Tode seiner Frau am 10. Dezember 1906135, die ihn bei vielen sozialen Aktivitäten unterstützt hatte, weshalb er ihr zu Ehren eine Stiftung gründete, lebte er zurückgezogen. Er blieb gleichwohl der Patriarch, der sich auch an seinen Enkeln Willmar (1907–1983) und Wolfgang (1912–2000) erfreute.136 Politisch war Schwabe konservativ und fühlte sich Otto von Bismarck auch nach dessen Ausscheiden als Reichskanzler verbunden, wie ein Schreiben zeigt, in dem sich dieser für seine »freundlichen Glückwünsche zum 70. Geburtstag« persönlich bedankte.137 Schwabe hatte bereits 1865 als Administrator der »Homöopathischen Central-Apotheke« am Thomaskirchhof um Aufnahme in die Freimaurerloge gebeten: »Es ist schon längst mein innigster und lebhaftester Wunsch gewesen, mich jener Runde von Männern anzuschließen, von deren Wirken und Schaffen mir so viel Segensreiches bekannt geworden ist.«138 Nicht zuletzt war er jedoch ein umtriebiger Unternehmer, der sein Geld gut anlegte, wie das Testament ausweist. Genannt werden Grundstücke in der Kleinen Fleischergasse, in der Klostergasse, in der Burg-, Quer-, in der West- und Königsstraße sowie in der Blumengasse in Leipzig, außerdem in Reudnitz, in der Möckernschen Straße in Gohlis und in Vorwerk Neuschönsee im Wert von über 2,8 Mio. Mark, nach Abzug der Hypotheken. Dazu kamen die drei Heimstätten Augustusbad, Förstel und Gleesberg, deren Gesamtwert 1923 auf über 1 Million Goldmark geschätzt wurde.139 Schließlich war Schwabe auch Besitzer des 1901 von dem Architekten August Hermann Schmidt (1858–1942) erbauten Hotels Sachsenhof am Johannesplatz in Leipzig. Neben einer Lebensversicherung von 100.000 Mark hinterließ er Aktien und Wertpapiere für ca. 510.000 Mark, so dass sich sein Vermögen auf ca. 3,7 Millionen Mark belief. Dazu kamen seine Apotheken und Geschäfte, einschließlich der Beteiligung an der Ersatz-Kaffeefabrik in Köthen, Louis Wittig & Co. Schwabe selbst bewohnte eine Fabrikantenvilla mit einem dazugehörigen parkartigen Garten in der Kohlgartenstraße 33 mit 16 zum Teil sehr großen, repräsentativen Räumen. Immer wieder hat er sich mit der Abfassung seines Testamentes befasst, wie viele Änderungen zeigen. Besonderen Wert

135 StAL, Bestand 20706, Nr.  342, Familiendokumente, fol.  105: Sterbeurkunde für Luise Schwabe. 136 StAL, Bestand 20706, Nr. 342, Familiendokumente, fol. 67–76: Grabrede. 137 StAL, Bestand 20706, Nr. 297, Handschriftliches Dankschreiben Bismarcks: Schreiben von Bismarck, 20.4.1885. 138 StAL, Bestand 20706, Nr. 331, Freimaurerloge: Brief W. Schwabes vom 21.1.1865. 139 StAL, Bestand 20706, Nr. 249, Heimstättenstiftung 1893–1923, fol. 4–9: Berechnung des Wertbestandes in Goldmark der Heimstätten Augustusbad, Förstel und Gleesberg auf die Jahre 1914 bis 1923.

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legte er auf die Einrichtung eines Gemeinschaftsvermögens, das den Bestand seiner Firma sichern sollte.140 Im Kommentar zu seinem Testament vom 3. Januar 1905 heißt es dazu: Obwohl die Erben am Gemeinschaftsvermögen Eigentum nach ideellen Teilen erworben haben, hat sie der Erblasser doch im Genusse des Reingewinns des Gemeinschaftsvermögens beschränkt. Die Summe der den Erben ausgesetzten Jahresbeiträge (Renten) erschöpft nach des Erblassers Vermögensstand zur Zeit der Testamentserrichtung den Reingewinn nicht.141

Er verfügte, dass dieses Gemeinschaftsvermögen von seinem Tode an 30 Jahre lang erhalten bleiben müsse, sofern die Firma weiterbestehe. In seinem Testament vom 19. Oktober 1916 heißt es dazu: Ich hoffe und wünsche auch, daß diese Gemeinschaft nach Ablauf der wie vorstehend angeordneten Zeitdauer aufrecht erhalten bleibe. […] Ich lasse mich hierbei von der Idee leiten, daß ein mit geringem Anfangskapitale und unter schwerer Lebensarbeit erworbenes Vermögen, welches im Verkehrsleben immer eine bestimmte Macht bedeutet, nicht wieder zerstückelt werde. Wenn die Geschäfte heute oder nach meinem Tode verkauft würden, so würden selbst bei guter Verwertung derselben meine Erben weniger erhalten, als im Falle des Bestehens obiger Anordnung. Voraussetzung dieser Annahme ist allerdings, daß die Geschäfte in der bisherigen Weise mit Fleiß und Sparsamkeit und nach den von mir beobachteten Grundsätzen günstig fortgeführt werden, was ich dringend wünsche.142

Damit konnte er den Fortbestand seines Unternehmens sichern, und er hatte sein Haus bestens bestellt, als er am 8. Januar 1917 im Alter von 77 Jahren verstarb. Fazit Wie unsere Untersuchungen zu Leben und Wirken Willmar Schwabes zeigen, war er ein »Gründer vor der Gründerzeit«, der noch vor den französischen Reparationszahlungen nach dem Krieg von 1871, der »billiges Geld« nach Deutschland brachte, sein Unternehmen gegründet hatte. Dazu nutzte er die lokalen Gegebenheiten in Leipzig als Messe-, Export- und Buchstadt. So produzierte er seine homöopathischen Arzneimittel von Anfang an auch für das Ausland, und der von ihm begründete eigene Verlag diente der Propagierung seiner Produkte und der homöopathischen Lehre.143

140 StAL, Bestand 20706, Nr. 320, Gesellschaftsverträge sowie Vereinbarungen der Erbengemeinschaft 1908–1942. 141 StAL, Bestand 20706, Nr.  340, Testament von Dr. Carl Emil Willmar Schwabe 1896– 1916, fol. 17 f.: Kommentar zu dem Testament vom 3.1.1905. 142 StAL, Bestand 20706, Nr.  340, Testament von Dr. Carl Emil Willmar Schwabe 1896– 1916: Letzter Wille des Herrn Apotheker Dr. Carl Emil Willmar Schwabe K. S.  Geh. Hofrats und Kommerzienrats zu Leipzig datiert 19.10.1916, niedergelegt am 23.10.1916 beim Kgl. Sächs. Amtsgericht Leipzig. 143 Willfahrt (1996), S. 284–289.

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In der bisher erschienenen Literatur über Willmar Schwabe fand seine Herkunft kaum Berücksichtigung. Wir konnten nachweisen, dass das Vorbild seines Vaters Carl Robert, der Mitbegründer des Pharma-Großhandels Gehe und Gehilfe bei Täschner, einem der Inhaber der homöopathischen CentralOffizin am Thomaskirchhof, gewesen war, seine unternehmerischen Ambitionen weckte. Ebenso wie sein Vater war Willmar um eine wissenschaftliche Ausbildung bemüht, wobei die Chinoidin-Aufarbeitung in seiner weitgehend vor dem Studium entstandenen Dissertation bereits geschäftliches Interesse erkennen lässt. Einfluss auf Schwabes wissenschaftliche Entwicklung hatten ebenso Leipziger Hochschullehrer wie der Apotheker Christoph Heinrich Hirzel, der sich mit Pflanzenchemie und der Konstruktion von Geräten beschäftigte, der Ordinarius für Chemie, Otto Bernhard Kühn, von dessen Vorlesungen Mitschriften Schwabes existieren, die sich heute noch in dessen Nachlass befinden, sowie Otto Linné Erdmann, der auch als Zeitschriftenherausgeber ein Vorbild für Schwabe war. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse nutzte Schwabe für die Entwicklung der Präparate, aber auch für die von ihm verfasste »Pharmacopoea homoeopathica polyglottica«. Mit der Homöopathie fand er eine zukunftsträchtige Marktlücke, wobei er sich einerseits als konservativer Anhänger der Hahnemann’schen Herstellungsvorschriften erwies, zugleich aber auch Innovationen wie beispielsweise der neuen Arzneiform Tablette aufgeschlossen gegenüberstand. Mit Nachdruck bemühte sich Schwabe, ein Monopol für die Großherstellung homöopathischer Arzneimittel zu errichten, und bediente sich hier durchaus auch aggressiver Methoden.144 Juristische Winkelzüge, um beispielsweise das Mehrbesitzverbot mit Hilfe von »Strohmännern« zu umgehen, und die Verlegung einer Apotheke von Dresden nach Leipzig dienten dem Ausbau seines Apothekenimperiums. Willmar Schwabe gelang es, seine wissenschaftlichen Interessen mit Geschäftssinn und Cleverness zu verbinden, so dass sein Unternehmen gute Chancen am hart umkämpften Pharmamarkt hatte und von seinen Nachfolgern erfolgreich weitergeführt werden konnte. Bibliographie Archivalien Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe (FAS) – Heidi Wächter, geb. Schwabe: Schwabe-Geschichte. Familientag 3. Oktober 2010 (Maschinenschrift) Hauptstaatsarchiv Dresden (HStAD), Bestand 11045 Amtsgericht Dresden – Nr. 1249, Firma Adler Apotheke, Carl Gruner, Dresden, 1862–1867 – Nr. 1251, Carl Gruner’s Homoeopathische Officin, J. Paul Liebe, Dresden, 1864–1896 Stadtarchiv Auerbach/Vogtland – Mitteilung vom 5.12.2013

144 Jütte: Deutschland (1996), S. 35 f.

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Christoph Friedrich und Ulrich Meyer

Stadtarchiv Dresden – Mitteilung von Tilo Bönicke vom 18.12.2015 Stadtarchiv Leipzig – Stadtbezirksarzt III B 22, Protokolle über Revision der Apotheke Staatsarchiv Leipzig (StAL), Bestand 20706 Willmar Schwabe Arzneimittel, Leipzig – Nr. 144, Preislisten – Nr. 161, Homöopathischer Zentralverein – Nr. 170, Ortskrankenkasse Leipzig 1889–1908 – Nr. 188, Verträge über Teilhaberschaft und Handlungsvollmacht für die homöopathische Centralapotheke 1881–1890 – Nr. 232, Carl Emil Willmar Schwabe: Vorlesungsmitschriften Chemie – Nr. 245, Radiumbad Oberschlema-Schneeberg GmbH 1915–1926 – Nr. 246, Dr. W. Schwabe Heimstättenstiftung 1896–1941 – Nr. 249, Heimstättenstiftung 1893–1923 – Nr. 254, Revision der Homöopath. Central-Apotheke 1871–1913 – Nr. 256, Übernahme der homöopathischen Apotheke A. Marggraf 1879–1912 – Nr. 258, Manual homöopathische Centralapotheke (ohne Datum) – Nr. 260, Erlangung der Konzession zum Betreiben einer Apotheke – Nr. 297, Handschriftliches Dankschreiben Bismarcks – Nr. 298, Stiftungen 1903–1912 – Nr. 305, In- und ausländische Würdigung – Nr. 315, Genealogische Untersuchungen zur Familie Schwabe – Nr. 316, Briefe von Carl Robert Schwabe an seinen Vater Carl Ferdinand Schwabe – Nr. 317, Manuskripte zur Geschichte der Homöopathie, der homöopathischen Apotheke in Leipzig und der Firma Schwabe – Nr. 320, Gesellschaftsverträge sowie Vereinbarungen der Erbengemeinschaft 1908–1942 – Nr. 321, Handelsregisterauszüge – Nr. 328, Persönliche Dokumente von Carl Robert Schwabe – Nr. 331, Freimaurerloge – Nr. 332, Apothekenkonzession und Realrecht – Nr. 340, Testament von Dr. Carl Emil Willmar Schwabe 1896–1916 – Nr. 342, Familiendokumente – Nr. 344, Kampf um die Anerkennung der Homöopathie sowie Einführung eines verbindlichen Arzneibereitungsbuches 1872–1899 Universitätsarchiv Leipzig – Mitteilung von Petra Hesse vom 29.1.2014 Universitätsarchiv Jena (UAJ) – Bestand M, Nr. 379, Promotionsakte W. Schwabe

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 35, 2017, 175–194, FRANZ STEINER VERLAG

Filling the blank in the map: institutionalisation of homeopathy in Argentina Silvia Waisse Zusammenfassung Weißer Fleck auf der Landkarte gefüllt: die Institutionalisierung der Homöopathie in Argentinien In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Schulmedizin, unter anderem wegen ihrer Krankheitsfokussierung und ihrer Entmenschlichung der Arzt-Patient-Beziehung, zur Zielscheibe wachsender Kritik geworden. Diese Kritik schuf gleichzeitig Raum für eine Reihe sogenannter alternativer Ansätze in der Medizin, darunter auch die Homöopathie. Die Art von Homöopathie, die sich seit den 1970er Jahren etablierte, war aber nicht die traditionelle Form, sondern eine Variante, die der argentinische Arzt Tomás Pablo Paschero (1904–1986), der von den Ideen des amerikanischen Homöopathen James T. Kent (1849–1916) ausging, weiterentwickelte. Ziel der vorliegenden Studie ist es, Pascheros innovativen homöopathischen Ansatz, den er als »anthropologische Medizin« bezeichnete, bezüglich seiner synthetisierten Elemente zu analysieren und seine Verbreitung in Argentinien und weltweit zu untersuchen. Gleichzeitig wird versucht, den besonderen sozialhistorischen und medizinisch-wissenschaftlichen Kontext zu beschreiben, in dem Paschero seine Ideen entwickelte.

Introduction: a blank in the map Homeopathy began to spread across the world right after its initial formulation by the German doctor Samuel Hahnemann (1755–1843) in the first decade of the 19th century. Curiously, when one draws the map of the first wave of global diffusion of homeopathy there is a remarkable blank: Argentina. This blank is even more puzzling when one considers the role Argentinian homeopathy played in the second wave of spread.1 Starting at the turn of the 20th century, homeopathy entered a stage of global decline mainly due to the spectacular growth and development of conventional medicine. Such process lasted until the last quarter of the century, when as a function of its high cost, production of iatrogenic diseases, dehumanisation of the doctor-patient relationship and the aspirations of the 1

As a fact, we were able to locate not only homeopathic practitioners, but also formal associations and journals, thus pointing to an earlier period of institutionalisation of homeopathy in Argentina in the 19th century; see Tarcitano Filho/Waisse (2016). However, that early development faded at the end of the century and had no connection to the institutionalisation of homeopathy in the 20th century, which is the focus of the present article.

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New Age movement, among other factors, conventional medicine became the target of increasing criticism.2 Within that context, the scope of healthcare became broader making room for the so-called complementary and alternative practices. This was the setting for the revival of homeopathy in the West starting in the 70s. The variety of homeopathy that then surfaced was a very peculiar and highly psychologised one, being partially rooted in views developed in Argentina between the 30s and 70s, namely, the very period of global decline of homeopathy. One of the key-figures in that process was Tomás Pablo Paschero (1904–1986), who formulated a peculiar approach to homeopathy seemingly satisfactory to doctors and patients alike. The present study is an attempt at understanding the process of elaboration of that novel homeopathic approach within its particular socio-historical and medical-scientific context, as well as the role it played in the second global wave of spread of homeopathy. Homeopathy, Transcendentalism and psychoanalysis At some point in the early 1930s, a French pharmacist, Enrique Bonicel (d. 1944), arrived in Buenos Aires to establish a homeopathic pharmacy. The outcomes went much beyond Bonicel’s expectations, as his store became a centre of attraction for several doctors who were then learning and prescribing homeopathy in an autodidactic and isolated manner, including Paschero. Soon afterwards the meetings moved to the conference hall of the editorial office of newspaper La Prensa, to have room “to teach homeopathy to doctors”.3 This was the seed of the Argentinian Homeopathic Medical Society (Sociedad Médica Homeopática Argentina – SMHA), which survives to this day as Argentinian Homeopathic Medical Association (Asociación Médica Homeopática Argentina – AMHA). The reason for Paschero to enter this group was a deep dissatisfaction with the medicine practiced in his day. In the 30s Argentina had to contend with the consequences of the global economic depression, in addition to problems of its own. Most notably, the population had doubled from 1906 to 1935, putting enormous pressure on the healthcare system, which was unable to meet the parallel increase in the demand.4 Also the number of patients who sought care from specialists increased, as a reflection of the greater concern of medicine with the clinical aspects of disease than with the patient as a whole.5 2 3

4 5

See Dinges: Einleitung [Medizinkritische Bewegungen] (1996) and Dinges: Geschichte (1996). Paschero: Prefacio (1991), p. x. Paschero did not write any book, but his published articles were compiled in 1972 in a work entitled “Homeopatía”. All of Paschero’s texts mentioned in the present article are quoted from the 5th edition of “Homeopatía”; there is an English version available, “Homoeopathy” (Beaconsfield 2000). The number of outpatient visits to public hospitals and charity institutions increased 1,467 % and 1,625 %, respectively, along that period; see Belmartino (2005), pp. 73, 83. Belmartino (2005), p. 83.

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After earning his medical degree at School of Medicine, University of Buenos Aires, in 1929, Paschero set a clinical practice to become almost immediately disappointed. The reason was not the treatments available or their effects, but the fact that conventional medicine prioritised disease at the expense of the patient as an individual. As many other contemporary doctors6, Paschero suggested to invert the direction of the equation to place the patient at the centre of the medical stage. And the means he chose to accomplish that goal was homeopathy. Upon delving deeper into homeopathic theory and practice, Paschero became interested in some approaches formulated in the United States at the turn of the 20th century, more particularly in the work of James T. Kent (1849–1916). A doctor by training, Kent reinterpreted homeopathic theory and practice giving rise to a movement known as Kentianism, and currently as ‘classic homeopathy’, widely disseminated across the world to this day.7 Heavily influenced by the Transcendentalist rediscovery of Emanuel Swedenborg (1688–1772) and religious and moralistic beliefs and grounded on an updated version of the ages-old theory of emanations, Kent came to attribute disease to “the primitive wrong of the human race”, i. e., “spiritual sickness”, which resulted from “willing evils, thinking that which is false”, consequently leading to “wrong action”.8 Kent made such religion-based morals an intrinsic part of the notions of health and disease, whereby they had to be systematically taken into account in the diagnosis, prognosis and treatment of patients. Correspondingly, Kent classified symptoms in a hierarchical order of relevance, according to which the mental ones (affects, emotions, desires and intellectual functions) had the absolute priority, since they represented the human will and understanding, i. e., authentic man, being the body just his abode.9 Anxious to learn more about such an approach to medicine that took the human being as a whole into consideration, Paschero exchanged letters with Kentian homeopaths, Arthur H. Grimmer (1874–1967) in particular. Grimmer had been a student of and assistant to Kent, to replace him as head of office after the latter’s demise. By then, thus, Grimmer was the most relevant representative of Kentianism, and Paschero set his mind to learn first-hand from him.10 6 7 8

On similar concerns of contemporary doctors, see, e. g., Weisz (1998) and Thomaz (2011). Winston (1999), pp. 164–165. Kent (1989), Lectures #9 to 11, quotations from Lecture #19. As there are countless editions of this work by Kent, as in the case of Hahnemann’s “Organon”, to provide readers an easier point of reference, we chose to quote chapters (“Lectures”) instead of pages. 9 Kent (1989), Lecture #32. 10 Paschero travelled to the United States sometime in the mid-30s and stayed for about eight months; see Giampietro (2011), p. 217. Dramatic changes in Paschero’s clinical approach detectable in his publications (discussed below) allow suggesting that the trip took place between May 1934 and April 1935. In addition to the season he spent with Grimmer, Paschero also visited the Flower Homeopathic Hospital, New York (present-day New York Medical College) and Hahnemann College, Philadelphia (present-day Hahnemann University Hospital); Paschero: Prefacio (1991), p. x–xi.

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The influence of Kent’s ideas on Paschero’s thought might be identified by comparing writings he published before and after his trip to the United States. Such comparison shows that Paschero’s earlier prescriptions were based on the clinical symptoms exhibited by patients in compliance with the traditional approach in homeopathy. Contrariwise, the prescriptions he made after coming back to Argentina strongly prioritised the mental symptoms, to the point he eventually came to devise a method for the study of the homeopathic materia medica based on the absolute predominance of the mental symptoms and the patient’s personality.11 Paschero advocated such approach based on the idea that ‘the person’ ought to be the main target of medical attention12, following Grimmer, according to whom, “the individual is a person and mind is the centre of the personality”13. Nevertheless, Paschero did not stop at Kent or at a mere overvaluation of mind in the process of individual illness, but sought to elucidate more thoroughly the origins of human existence as such. For that purpose he had resource to the tools available to him as a function of his socio-historical and scientific milieu, to wit, Freudian psychoanalysis.14 The history of psychoanalysis in Argentina began soon after Paschero’s return from the United States. Sigmund Freud’s (1856–1939) works had been avidly studied by several aficionados for some time, including Dr Arnaldo Rascovsky (1907–1995)15, then chair of the department of neuropsychiatry and endocrinology of the Buenos Aires Children’s Hospital. As a result, Rascovsky began to ponder on a possible relationship between family conflict and endocrine pathology in obesity and some forms of epilepsy.16 This interest made him get in touch with Dr Enrique Pichon-Rivière (1907–1977)17, and his wife, Arminda Aberastury (1910–1972)18, and all three together started a study group of Freud’s works. One among Rascovsky’s colleagues at the Children’s Hospital was the reputed and revolutionary paediatrician Florencio 11 Paschero: Personalidad (1991); compare, for instance, the conference on homeopathic medicine “Phosphorus” delivered in 1934, i. e., before the trip to the United States, and his report of two cases treated with Sepia succus published in 1935, after his return; see Paschero: Phosphorus (1991) and Paschero: Sepia (1991). 12 Paschero: Medicina (1991). 13 Grimmer (1954), p. 58. 14 On the unique development of psychoanalysis in Argentina, see Plotkin (2001). 15 Originally a paediatrician, he became a psychoanalyst and formulated the concept of ‘filicide’ as the systematic murder of youths and children by the adult world; for further data, see Reubins (2014). 16 Rascovsky (2003), p. 33. 17 Swiss psychiatrist naturalised Argentinian, he was one of the introducers of group psychoanalysis and the first formulator of the group theory known as ‘operative groups’ leading to the development of social psychology; for further information, see Lisman-Pieczanski/ Pieczanski (2014). 18 Argentinian psychoanalyst, she was one of the international pioneers of children and adolescent psychoanalysis. Beginning her studies as an autodidactic, in time she came to disagree in some regards with Freud, Anna Freud and Melanie Klein; for further data, see Reubins (2014).

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Escardó (1904–1992)19, who was a personal friend of Paschero’s and in time invited him to teach seminars on homeopathy at the department of Paediatrics of School of Medicine, University of Buenos Aires. This connection accounts for the early links between the group originally formed around Bonicel and the kernel of Argentinian psychoanalysis, being both homeopathy and psychoanalysis typical of the liberal middle class, which was undergoing dramatic expansion at that time.20 By the beginning of the 1940s, the first psychoanalysts formally trained in Europe arrived in Argentina. Ángel Garma (1903–1993) and Celes E. Cárcamo (1903–1990) were thus the official introducers of psychoanalysis in Argentina, and together with Rascovsky and Pichon-Rivière, among others, founded the Argentinian Psychoanalytic Association. Within this context, one crucial character entered the picture, Aberastury’s brother Federico (1905– 1986), who formed a highly significant trio with Cárcamo and Paschero. Paschero’s views in a nutshell Paschero’s innovative views might be subsumed under one single concept, to wit, the one of ‘law of cure’, which he defined as the efferent trajectory of the vital energy. At first sight this might seem an oversimplification. However, an experienced psychoanalyst will easily identify in this notion the basic argument underpinning Freud’s “Project for a Scientific Psychology” (1895), namely, the book that signals his transition from neurology to psychoanalysis. At the same time, any homeopath might immediately identify there the Kentian roots of Paschero’s homeopathy. The point of departure to understand Paschero’s formulation is the notion of ‘vital energy’. Adopting Kent’s emanation-based views, he stated that there is one single universal energy liable to be condensed in variable degrees up to the level of matter, which are given different names depending on the corresponding level of activity, namely, intelligence, psyche or source of the personal ego at the conscious level; instinct at the subconscious level; and vegetative energy, which controls the soma, at the body level.21

19 While chair of the department of paediatrics, School of Medicine, University of Buenos Aires, he introduced a psychology section, group therapy and established a residency programme in clinical psychology. In his clinical practice he also took the social aspects of his patients and family into consideration, resulting in a clinical internship for doctors in poor urban communities. He also established the so-called ‘joint admission’ at the Children’s Hospital, whereby mother and child were admitted together, since he observed that the maintenance of the mother-child emotional bond exerted positive influence on recovery. In addition to warning against vaccination, he made a point to open the doors of the conventional medical institutions to several ‘alternative’ ones, like hypnology and homeopathy; see Puga (2011). 20 Adamovsky (2009). 21 Paschero: Doctrina (1991) and Paschero: Curación (1991).

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Similarly to Freud’s representation, according to Paschero the vital energy follows an efferent or centrifugal trajectory, as also Kent had previously asserted.22 That efferent discharge of the full energy activity of a human organism is that which Paschero called ‘law of cure’, being the fundamental vital process that underlies both health and disease.23 Thus the healthy (centrifugal) direction allows for the accomplishment of the ‘higher purposes of our existence’ enunciated by Hahnemann24, which were represented by Paschero as the ‘process of maturation of the personality’25. Being man essentially mind26, as Kent had stated, Paschero found in psychoanalysis the best explanation for its structure and operation27, namely the classic topologic and structural models, which led him to focus on the conflict the ego suffers by being simultaneously pulled by the id drives and the prohibitions assimilated into the superego. According to Paschero, there are only two possible solutions to such predicament: non-suppressive repression of drives (‘humanising repression’) by means of the mechanism of sublimation, which channels the drive-bound energy towards knowledge and personal fulfilment, i. e., maturation of the personality; and coercive suppression, in which case frustration cannot be metabolised, but becomes neurosis, which process Freud called ‘failure of repression’.28 A second sphere of conflict is superadded to the first and innermost, to wit, the need to adapt to the outer environment. According to Paschero the latter is an authentic source of symptoms, which are nothing but a compromise solution, for which purpose the ego has recourse to its classic defence mechanisms. To summarise, disease is “the transgression of the direction of the law of cure that rules over the development of the personality”.29 Therefore, the highest goal of medicine is to understand the subconscious motivations of the personality. Each and every symptom, as a manifestation of the reaction against the individual-environment conflict, as an effort to release oneself of the anxiety (Angst) caused by the personal conflict, has meaning.30 Symptoms must be understood in their genealogy, i. e., the meaning they have vis-à-vis the patient’s biopathography and his vital attitude facing life circumstances. Paschero’s views gained increasing relevance within AMHA, namely, an institution devoted to homeopathic medicine, favouring the development of a peculiar interconnection between psychology, psychoanalysis and homeopathy, which was embodied in the so-called ‘psychosomatic homeopathy’ strongly pushed forward by Federico Aberastury and Cárcamo.31 In turn, 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Kent (2004). Paschero: Principios (1991). Hahnemann (1980), § 9 (see note no. 8). Paschero: Ley de curación (1991). Paschero: Principios (1991). Paschero: Síntomas (1991). Paschero: Ley de curación frente a la supresión (1991), p. 38. Paschero: Principios (1991), p. 2. Paschero: Génesis (1991). Aberastury: Homeopatía (1946); Aberastury: Síntomas (1946); Cárcamo (1945).

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while having recourse to psychoanalytical notions in his attempt at understanding health and disease, Paschero adamantly asserted that only homeopathy was able to achieve true cures, the reason being that genuine disease was not only psychological, but in essence an affection of the vital energy.32 However, while Paschero’s views consolidated and were taken up by many homeopaths, others remained faithful to the traditional homeopathic concepts and rejected the innovations introduced by Paschero. This opposition led to fierce debates at AMHA, mostly within the context of teaching. A sui generis legal situation The formal foundation of SMHA in July 29, 1933, and the creation of journal Homeopatía the following year were the means the group originally formed around Bonicel used to divulgate homeopathy.33 And they met tremendous success. Doctors felt so much attracted that the following year teaching outpatient clinics were established for the training of young homeopathic doctors.34 To provide the required theoretical support, a ‘First Introductory Course to the Learning of Homeopathy’ was delivered on September 17 and 24 and October 1, 193535, which sought to “explain the doctrinal and clinical principles of homeopathy in a simple and elementary manner”36. According to the extant documents, that was the first initiative to establish an official professional training programme in Argentina. The SMHA created a postgraduate course and delivered certificates accrediting specialists. In the face of such success plans were made to open homeopathic outpatient clinics and hospitals not only in Buenos Aires, but also across the country, with the right to charge clients.37 However, to do so SMHA required legal status, a task that was not easy to accomplish, in addition to leading to a sui generis legal situation that remains to this day. The request for legal status was submitted in 1936 to the Ministry of Justice, which requested the opinion of the National Department of Hygiene (NDH). The latter gave a negative recommendation based on the alleged lack of action of the homeopathic dilutions, whereby outpatient clinics ought not to be established and the marketing of homeopathic medicines should be banned.38 The situation was made even worse by the extremely negative opin32 Paschero: Psicosomatismo (1991). 33 Semich (1934), p. 2. 34 Different from the typical situation in Europe and USA, in most South American countries medical training in homeopathy is not limited to ‘weekend courses’, but includes mandatory practice internships at teaching outpatient clinics with proper supervision, following the on-the-job-training model common to medical residency programmes and adopted by SMHA in 1934, as is described here. 35 Semich (1935), p. 202. 36 Grosso (1935), p. 249. 37 SMHA, Executive Board Proceedings no. 1, March 24, 1936, fol. 2. 38 Semich (1940), pp. 266, 272.

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ion given by the School of Medicine of University of Buenos Aires, which rated homeopathy quackery and magic healing, the reason being that it was not included in the official graduate curriculum.39 However, the National Academy of Medicine saw the problem in a different light, and the opinion it gave upon the request of the Ministry of Justice and Public Education, on June 6, 1936, was decisive to settle the matter: “This academy understands that doctors who earned their diplomas in Argentinian universities cannot be prohibited to use it [homeopathy].”40 As a result, the NDH gave a positive recommendation, and legal status was granted in a decree by Argentina’s president in November 15, 1940. However, due to legal reasons some changes ought to be made: the ‘society’ ought to become an ‘association’, and the category of ‘adjunct members’, which allowed for the inclusion of all healthcare professions, ought to be suppressed, whereby only medical doctors could be members of the thus rechristened Argentinian Medical Homeopathic Association (AMHA).41 The establishment of AMHA also created a legal situation that is unique in the world. Up to this day homeopathy is not an accredited medical specialty in the country, while only doctors with diplomas delivered by Argentinian universities are entitled to practice it. This ruling, based on the aforementioned opinion given by the National Academy of Medicine, was sanctioned following a second one by the Society of Legal Medicine and Toxicology upon the request of the State Secretary of Public Health in 1970.42 Conflict within AMHA Once its legal status was granted AMHA could start planning its postgraduate courses. Paradoxically that was the trigger for the emergence of internal divergence between two main currents of thought. One of such currents prioritised clinical aspects in the management of patients, as it was traditional, while the other, led by Paschero, was grounded on the analysis of the patient’s personality and mental symptoms. That difference became patent in the proposals made for the curriculum of the postgraduate course. In 1946 the AMHA Executive Board decided to split the training course for doctors in two modules, a basic and an advanced one, to be taught by professors representing both currents in a homogeneous manner and making special room for medical psychology and its relationship to homeopathy.43 However, such solution met much resistance and the status quo did not last long, as the very next year the AMHA Executive Board decided that: “[…] the curriculum will comprise three themes: 1) Doctrine; 2) Materia Medica; 39 40 41 42 43

Semich (1939), pp. 258–259. Apud Semich (1939), p. 258–259. SMHA, Executive Board Proceedings no. 1, March 24, 1936, fol. 3. Walzer Vijnovsky (2008), pp. 527–545. AMHA, Executive Board Proceedings no. 51, June 5, 1946, fol. 49.

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and 3) Homeopathic Technique; any discussion irrelevant to those themes will be avoided, but the standards of orthodox homeopathic practice will be enforced”.44 In other words, the teaching of psychology and psychoanalysis was formally banned, while traditional homeopathy represented the backbone of the teaching curriculum. However, neither that was the definitive decision, because the following month, the AMHA Executive Board appointed Paschero, the traditionalist Jacobo Gringauz45, and the pluralist Juan A. Tabanera46, to teach three independent and parallel courses, the contents of which they were free to choose, while students were free to attend the one they liked most47. The next episode in this story took place in 1948, when the Centre of Investigation in Homeopathic Therapeutics (CIHT) was created to promote experimental studies of homeopathic medicines and provide outpatient care. As that would also be the setting for the practical training of postgraduate students, in last instance the full teaching duties were transferred to CIHT.48 This also represented an attempt at maintaining a balance between the two currents in conflict, because all faculty appointments required the consensus of the executive boards of both AMHA and CIHT. Such unanimity was expectably easy to achieve, since the CIHT board was appointed by the AMHA board.49 But for Paschero’s views to become the official ones at AMHA, his group ought to control the AMHA Executive Board, which was not the case. Moreover, another prominent character had appeared on AMHA stage, Dr Francisco X. Eizayaga (1923–2001). Eizayaga had attended AMHA postgraduate course in 1949–50 and thus had witnessed the tension between Paschero’s group and the conservative homeopaths. By 1954, when he started teaching at AMHA, he had already developed a well-defined position, namely, pure Kentian homeopathy.50 While Eizayaga was patently not the engine behind the tension within AMHA, his position definitely contributed to increase

44 AMHA, Executive Board Proceedings no. 58, April 10, 1947, fols. 51–52. 45 Gringauz was the doctor of Argentina’s president Arturo Frondizi, 1958–1962, and devoted much of his activity to politics. In 1949 he was the director of the first homeopathic pathogenetic trial (‘proving’) performed in Argentina, namely, the one of Histaminum; see Ariza (2014); and IGM, Bestand NSCHM, Dr. med. Pierre Schmidt (1894–1987), Nr. 35: Zeitungsausschnitte und Sonderdrucke 1927–1960, Sonderdrucke, Ärztezeitungen: Arzneimittelprüfung “Histamine” von Dr. Jacobo Gringauz (1948), an Pierre Schmidt geschickt im Jahr 1950. 46 No information on Tabanera could be located, except that at some point he was president of AMHA and taught a course on homeopathy at School of Medicine, University of Cuyo; Villoldo Pérez (2009). 47 AMHA, Executive Board Proceedings no. 59, May 7, 1947, fol. 52. 48 AMHA, Executive Board Proceedings no. 66, March 18, 1948, fol. 58. 49 AMHA, Executive Board Proceedings no. 66, March 18, 1948, fol. 60. 50 Eizayaga (1972), pp.  189, 193–194, 209–210, 214–215. Eizayaga translated and commented Kent’s repertory to Spanish; his version was widely used in Spanish- and Portuguese-speaking countries; the first repertory in Portuguese was published by Ariovaldo Ribeiro Filho only in 1995.

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it. To be sure, the tension became so unbearable that rupture became unavoidable. The trigger was the 1970 election for the AMHA Executive Board. Rise and demise: internationalisation and fragmentation The candidates to the presidency of AMHA in the 1970 elections were Eizayaga, Eugenio Candegabe (b. 1924) and Shuji Murata (1930–1991), the latter two members of Paschero’s group. It was not possible to establish why Paschero chose two candidates, a strategy that would make his partisans’ votes split and consequently lose the election, which was, indeed, the final outcome.51 Eizayaga was proclaimed the new president of AMHA, Alfonso Masi Elizalde (1932–2003) lost the position of chief editor of journal Homeopatía, and Paschero the one of teaching director.52 Having lost the two key-positions needed to impose his ideas, Paschero, Masi Elizalde and other 21 homeopaths resigned, refusing to reconsider their decision in spite of the many attempts at reconciliation made by the new Board.53 Paradoxically that crisis took place at a time when Argentinian homeopathy was becoming internationally acknowledged. So, for instance, at the congress of Liga Medicorum Homeopathica Internationalis (LMHI) held in Athens in 1969, an international course on homeopathy was established, being Paschero chosen to teach homeopathic doctrine and philosophy. In addition, talks had started to have the LMHI international congress in Buenos Aires in 1971, organised by AMHA. Things turned upside-down in the wake of the breakup. Paschero had begun attending LMHI international congresses on a regular basis in 1959; his communication on “The place of homeopathy in contemporary medicine”, in the 1961 conference, was much acclaimed.54 In that presentation Paschero criticised the therapeutics based on mechanistic premises at the expense of a ‘moral knowledge of the patient’. He emphasised the need to understand the emotional kernel of the patient’s personality, while any remission of symptoms achieved by treatments other than the most similar homeopathic medicine was a ‘false cure’. Here Paschero did not only allude to conventional medicine, but also to the homeopaths concerned with the resolution of the clinical problems of the patients only. Paschero’s work was, indeed, widely acknowledged within LMHI to the point that his influence was decisive for the choice of Buenos Aires as the seat of the 26th International Congress, held on November 14–18, 1971. In addition, the appointment of Candegabe as LMHI vice-president for Argentina and of Masi Elizalde as adjunct vice-president granted Paschero’s group 51 AMHA, Executive Board Proceedings no. 376, November 4, 1970, fol. 22. 52 AMHA, Executive Board Proceedings no. 376, November 4, 1970, fol. 26. 53 AMHA, Executive Board Proceedings no. 377, November 11, 1970, fols. 28–33; and [s. n.] November 18, 1970, fols. 33–44. 54 Hernández (1972), p. 11.

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the appointment as conference organisers instead of AMHA. AMHA did not only complain to the LMHI authorities55, but none of its members attended the meeting56. Now the official representatives for Argentina at LMHI, after the end of the congress Paschero and colleagues launched a journal named Anales Homeopáticos Argentinos as an official LMHI publication.57 The first issue announced the “First International Course in Homeopathy” to be taught by Argentinian homeopaths under Paschero’s direction. As was mentioned above, the decision to create the international course in homeopathy had been made at the 1969 LMHI congress, when also the International Homeopathic Medical School was created. Paschero was appointed as one of the professors and charged of the subject homeopathic philosophy.58 That course took place along 15 days before the congress and included homeopaths from Brazil, Colombia, Mexico and Venezuela. According to Masi Elizalde, “All of them fully understood the doctrine: chronic disease as a psychobiological reactive attitude against existential anxiety”.59 Paschero’s ideas were crossing boundaries and reaching doctors worldwide through the agency of LMHI National Vice President offices: the so much wanted international homogenisation of homeopathy was to be achieved based on Paschero’s views. To meet the goals of internationalisation a formal institution was needed in Argentina, and thus the Argentinian Homeopathic Medical School (Escuela Médica Homeopática Argentina  – EMHA) was founded on July 30, 1976.60 In addition, EMHA was also meant to be the seat of the International Homeopathic Medical School, with a faculty comprising professors from the most reputed institutions worldwide.61 The EMHA official training course was inaugurated on April 1977. The future looked shiny, however, dark clouds of conflict did not take long to blur it. As the institutional backbone of the intended international consensus on homeopathic theory and practice, the teaching curriculum designed for the EMHA courses ought to provide a consistent model. However, much surprisingly one finds signs of deep disagreement just a couple of years after the school’s foundation. So for instance, the Executive Board discussed as early as in October 1979 the difficulties it met to control the content of the professors’ lectures, especially when they deviated from the school’s official position.62 Seemingly, Masi Elizalde, then the director of courses, was attempting at de55 AMHA, Executive Board Proceedings no. 382, March 10, 1971, fols. 56–57. 56 Masi Elizalde: Congreso (1972), p. 4. 57 Thus, starting 1972 the journal was published in English and German in addition to Spanish to be distributed across LMHI’s various member countries; see Masi Elizalde (1979). 58 Candegabe (1972), p. 35. 59 Masi Elizalde: Cosecha (1972), p. 2. 60 EMHA, Foundation Act, July 30, 1976, fol. 1. 61 EMHA, Foundation Act, July 30, 1976, fol. 2. 62 EMHA, Executive Board Proceedings no. 34, October 16, 1979, fols. 71, 81.

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signing the school curriculum based on his personal views on homeopathy, which had begun to diverge from the school’s official position. In particular, he opposed the psychological origin of illness to affirm that the fundamental roots of human disease are metaphysical instead.63 The anxiety raised by this incipient divergence did not only concern the courses taught at the school, but also the ones delivered abroad.64 Indeed, by that time EMHA professors were invited to teach in several countries. For instance, in addition to lecturing in Italy, Masi Elizalde alternated with Candegabe the teaching of the training course in São Paulo, Brazil.65 So busy his agenda was, that Masi Elizalde could not assume the course at the Hahnemannian Institute of Brazil, in Rio de Janeiro, which was thus entrusted to Maria Clara Bandoel.66 Incidentally, it is worth to observe that not only EMHA, but Argentinian homeopathy as a whole was undergoing active internationalisation, as for instance, also Eizayaga was frequently invited to deliver lectures and courses abroad. Coming back to the conflict within EMHA, Paschero was, indeed, meeting increasing resistance by a faction headed by Masi Elizalde that grew over time, being that its members were all appointed professors of homeopathic philosophy.67 Masi Elizalde’s group asserted that Thomas Aquinas’ (1225–1274) thought provided the best means for the understanding, prescription and follow-up of patients. Naturally, those views were in open contradiction to Paschero’s and, thus, by the end of 1980 Masi Elizalde declared he could no longer remain a member of EMHA, as he could not teach ideas in which he did not believe.68 As a result, his group broke away and established a new institution named “James Tyler Kent Institute of Higher Homeopathic Studies” (Instituto de Altos Estudios Homeopáticos “James Tyler Kent”) devoted to the study of the mutual connections between Thomism and homeopathy. It is worth to observe that the Institute never was a formal institution, but a study group devoted to Masi Elizalde’s ideas, while the latter travelled the world to deliver lectures and teach courses. His was a constant presence in Rio de Janeiro and São Paulo, and while he failed to establish a proper school in Buenos Aires, he had centres of operation in Europe and Brazil which survived to this day.

63 Masi Elizalde never published a book; his ideas are exposed along the eight volumes of “Actas del Instituto de Altos Estudios Homeopáticos James Tyler Kent”, published from 1984 to 1994, and several transcriptions of courses, as e. g., Gava/Abbate (1990), Gava/ Abbate (2001) and Instituto de Homeopatia James Tyler Kent (2004). 64 EMHA, Executive Board Proceedings no. 35, November 17, 1979, fol. 74. 65 EMHA, Executive Board Proceedings no. 36, December 1, 1979, fol. 76. 66 EMHA, Executive Board Proceedings no. 43, October 18, 1980, fol. 82. 67 EMHA, Executive Board Proceedings no. 28, March 17, 1979, fol.  53; and no. 39, April 26, 1980, fol. 78. 68 EMHA, Executive Board Proceedings no. 44, December 27, 1980, fol. 84.

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Argentinian homeopathy earns a place in the world map By the 1980s, the place Argentina occupied in the world map of homeopathy was strikingly different from the one in the 19th century. Homeopaths from all three Argentinian institutions – AMHA, EMHA and Masi Elizalde’s Institute – delivered lectures, taught courses and helped establishing homeopathic schools in almost all the continents: North America (USA, Mexico); South America (Venezuela, Colombia, Ecuador, Brazil, Uruguay, Chile); Europe (Portugal, Spain, United Kingdom, France, Italy, Switzerland, Austria); and Asia (India).69 In addition, Paschero was president of LMHI in the mid-70s.70 The distinct Kentian-based, highly psychologised Argentinian brand of homeopathy underwent global diffusion, impregnating homeopathic theory and practice to this day.71 That active movement of diffusion began at a time when homeopathy was undergoing global decline.72 On those grounds, the contribution of Argentina to the revival of homeopathy starting in the 1970s cannot be overestimated. By that time, conventional medicine had become an increasing target of criticism as a function of the dehumanisation of the doctor-patient relationship, occurrence of iatrogenic diseases, high cost of diagnostic and therapeutic procedures, excessive medicalisation, and the emerging New Age movement.73 Such criticism made room for the so-called integrative medicine, i. e., the combination of conventional and alternative and complementary medicine aiming at improving the quality of the care provided to patients. The focus of integrative medicine is holistic, inasmuch as the patient is considered as “an indivisible whole, impossible to split into a physical body and a mind, while emphasising interpersonal relationships and the context of each one’s life”.74 From this perspective, it is safe to assume that the Argentinian reworking of Kentian (‘classic’) homeopathy met the contemporary needs, since social, religious, psychosocial and cultural aspects of patients were taken into consideration in individualised diagnosis and treatment. The particular historical crossroads just described left an empty niche, within which Argentinian homeopathy found room to grow and develop aiming at putting the human being back at the centre of the stage heretofore occupied by disease. 69 EMHA: “Biografía del Dr. Tomás Pablo Paschero”, available at http://www.escuela paschero.com.ar (last accessed: Sept. 21, 2016); Eizayaga’s official biography, available at http://www.homeos.org (last accessed: Sept. 21, 2016). 70 Interestingly, Paschero and the Mexican homeopath Proceso Sánchez Ortega (1919– 2005) taught a short course after the LMHI congress of 1975, in Athens, coordinated by their younger colleague, Georges Vithoulkas, in which patients were seen real-time and attendants had an opportunity to witness the masters discuss the cases live; Behnisch (2005), p. 283. 71 As in the latest current of homeopathic theory of practice (Rajan Sankaran, Jan Scholten, Massimo Mangialavori, etc.); see Behnisch (2005); Bleul (2012). 72 Winston (1999), pp.  211–236; Dinges (2002); and Dinges: Einleitung [Weltgeschichte] (1996). 73 Waisse-Priven (2009), p. 132. 74 Otani/Barros (2011), p. 1808.

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Postscript: homeopathy and psychoanalysis in global context As was shown, Paschero was first attracted to a variety of homeopathy strongly influenced by American Transcendentalism, illustrated by his contact with Grimmer, a former disciple and assistant of Kent’s, to then have resource to concepts proper to Freud’s psychoanalysis in his search for a dynamic explanation of individual disease. These quests were a reflection of a global dissatisfaction characteristic of the interwar period that led to the emergence of a movement known as ‘Medical Humanism’ in Europe, France in particular.75 Widely heterogeneous in its composition, that movement also included reputed homeopaths, like René F. Allendy (1889–1942).76 Allendy was considered one of the main doctors opposing the contemporary conventional medicine. In addition to homeopath, Allendy was also a psychoanalyst77, and like Paschero, he also criticised conventional medicine for its exclusive concern with clinical diagnosis. Similarly, he believed that the conventional doctors did not have clear notions of therapeutics, with the following outcome: patients were subjected to endless different prescriptions and diets with each change of physician, although their complaints remained always the same.78 Consequently, Allendy was also against the contemporary model of medical education, which focused exclusively on clinical diagnosis.79 For those reasons, he advocated homeopathy as a more adequate form of therapeutics, since it prioritised each patient as an individual whole.80 To be sure, Allendy did not only advocate homeopathy as the most appropriate approach to therapeutics, but also drew parallels between it and psychoanalysis, which he considered to be as beneficial as homeopathy, because also it defined disease and cure as processes internal to human beings. Thus he concluded that psychoanalysis was able to induce the same process of cure as the one elicited by the homeopathic medicines, i. e., the one leading to “internal regularisation, which means to implicitly admit a spontaneous tendency to self-healing”.81 To summarise, Allendy and Paschero had several points in common: a critical attitude against conventional medicine, a view of patients as whole individuals, and the notion that both disease and cure are processes internal to

75 Weisz (1998), p. 82. 76 Together with homeopaths Marcel Martiny (1897–1982) and Maurice Fortier-Bernonville (1896–1939), Allendy had active participation in the ‘Medical Humanism’ movement, which in the 60s became known as ‘medical holism’; Weisz (1998), p. 82. 77 He was one of the founders of the Paris Psychoanalytical Society, in 1926, being the oldest French psychoanalytical institution, having Freud’s endorsement. Allendy’s most famous patients were Anaïs Nin (1903–1977) and Antonin Artaud (1896–1948); see Chouvier (2009); Goodall (2004), p. 187. 78 Allendy (1934), p. 152. 79 Allendy (1934), p. 151. 80 Allendy (1934), p. 152. 81 Allendy (1934), p. 155.

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human beings. Those similarities notwithstanding, they differed in their views as to the relationship between psychoanalysis and homeopathy. According to Paschero, the essence of human beings is psychodynamic and thus cure involves attaining a higher level of adaptability to the environment. As was shown above, while Paschero asserted that disease is caused by moral, religious and social inhibitions, he did not believe that mere analysis of conflicting situations was able to cure it. Contrariwise, he emphasised that only the homeopathic medicines, i. e., highly diluted and prescribed according to the principle of similars, were able to establish the path to cure by unblocking the circulation of the vital energy, which was the ultimate cause of disease. For those reasons, he considered that neither psychoanalysis nor any other form of psychotherapy could ever have the same effects as homeopathy, which he characterised as the genuine ‘medicine of the person’ or ‘anthropologic medicine’. This is to say, homeopathy was the single approach to medicine that took both the patient’s body and mind into consideration. Upon qualifying it as ‘medicine of the person’, Paschero further explained that the highest human call was not individuation, but personalisation, i. e., fulfilment as a person, which demanded the overcoming of destructive autism (here, focus on oneself) to become an altruistic human being.82 To Allendy, in turn, disease was a product of the outer environment or of its interaction with internal factors.83 For this reason, he did not seek to align psychoanalysis and homeopathy, i. e., to rework Hahnemann’s ideas from a psychodynamic perspective, as Paschero did. Probably this explains why Allendy’s views did not call the attention of homeopaths worldwide, different from Paschero, who redefined and expanded the notion of the ‘law of cure’ to account for the basic tenets of homeopathy (law of similars, vital energy) in the light of Freud’s psychoanalysis. It is worth to remind once again that Paschero’s views developed in response to his deep dissatisfaction with conventional medicine within a general socio-historical context that facilitated the search for more humane approaches to medical practice. In the course of his career Paschero advocated a thorough revision of the notion of disease on psychoanalytical grounds, which led him to identify the functional dynamic disorder that precedes the occurrence of anatomical injury.84 Such revision led him to profound reflections on the biologism then prevailing in medicine and on the grounds of the ongoing patterns of medical scientific reasoning, which looked for pre-set cause-effect relationships, while failing to solve the actual problems of individuals. Within that context, doctors began to realise that the emotional and social side of patients ought to be taken into consideration. Homeopathy was the means Paschero found to attain those goals, i. e., to focus the attention on the patient, while not losing the clinical aspects of disease from sight. On those grounds he asserted that patients could never be approached as machines, and conse82 Paschero: Psicosomatismo (1991). 83 Weisz (1998), p. 73. 84 Paschero: Ley de curación (1991).

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quently therapeutics could not be based on the pathophysiological mechanisms allegedly underlying disease. Contrariwise, for the latter to be truly understood, the patient had first and foremost to be considered as a whole, since only accurate and thorough knowledge of his full functioning as a person would allow for a true understanding of individual disease. For a doctor to be able to understand a patient: [he has] to approach him in his total psychophysical dimension, must unavoidably refer his current disease and situation to the integral context of his entire biopathography, to the constitutional psychodynamic constitution that allowed for the current condition [to develop], both from the physical and moral perspectives; he must interpret the meaning of symptoms and, shortly, must train himself to be able to scrutinise and understand the full functioning of the individual as a person, rather than the functioning of organs.85

Thus being, Paschero attributed the greatest value to the symptoms that corresponded to the patient’s personality and expressed his adaptation to the social environment. The reason was that he believed that it was the personality that which actually fell ill, the physical body being only the means of expression of disease. To be sure, according to Paschero the ultimate origin of disease was the conflict between the forces external and internal to the individual. Consequently, doctors ought to undergo specific and adequate training to become able to provide appropriate and humane care. The medical curriculum ought to reach much beyond the mere clinical issues to develop a “dynamic perspective, which by encompassing the full anamnestic biography of the patient enables [the doctor to] understand the morbid genius of the ongoing illness that makes him seek medical help”.86 Thus Paschero drew a path for doctors to provide humane care that took the relevance of subjectivity as a given. Feelings, emotions, life conflicts: all of them were indispensable elements for the individual diagnosis of the patient, now understood as “the expression of a vital process, which has a past, a present and a future”.87 This understanding was considered crucial by Paschero for doctors to “never prioritise the scientific approach and its matter-based nature”.88 Individual disease could never be properly comprehended without taking the psychophysical dimension of the patient into account. In Paschero’s words: no one falls ill in the liver, in the heart or in any other organ, but disease is located “at the very dynamic motor centre of his psychophysical personality, in his emotional affectivity, in his intimate will”.89 For being a humane form of medicine, by essence, homeopathy required from doctors to be able to understand the patient in his personal and anthropologic dimensions and moreover, as an organism endowed with a teleological structure oriented to purposefulness.90 85 86 87 88 89 90

Paschero: Personalidad (1991), p. 152. Paschero: Psicología (1991), p. 138; Paschero’s emphasis. Paschero: Psicología (1991), p. 138. Paschero: Psicología (1991), p. 138. Paschero: Personalidad (1991), p. 152. Paschero: Enfermo (1991), p. 169.

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Paschero asserted that homeopaths ought to be able to identify the cause of disease, which goal was unattainable by means of chemical analysis, observation under the microscope, or any other modern technology, because it is always dynamic, rather than material.91 On the other hand, he warned, homeopathy had an integral, instead of a merely psychological perspective on human health. The reason was ‘the law of cure’: the vital energy goes from within without, from inside outside, from the centre to the periphery, from the top to the bottom, from the mind to the body. As a result, it is safe to assume that Paschero’s homeopathy met the contemporary needs for integral and humane healthcare, since it took both the mental and physical aspects of patients into consideration. This might be why it found receptive ears worldwide. Bibliography Archives Asociación Médica Homeopática Argentina (AMHA) – Executive Board Proceedings Escuela Médica Homeopática Argentina (EMHA) – Executive Board Proceedings – Foundation Act Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) – Bestand NSCHM, Dr. med. Pierre Schmidt (1894–1987), Nr. 35 Sociedad Médica Homeopática Argentina (SMHA) – Executive Board Proceedings

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91 Paschero: Medicina (1991), p. 149.

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Internet http://www.escuelapaschero.com.ar (last accessed: Sept. 21, 2016) http://www.homeos.org (last accessed: Sept. 21, 2016)

Acknowledgments A large part of this article derives from Conrado M. Tarcitano Filho’s PhD dissertation, Postgraduate Programme in History of Science, Pontifical Catholic University of São Paulo, Brazil, funded by CAPES. Dr Tarcitano Filho passed away on November 2013; in his name and mine, I would like to thank Dr Martin Dinges and Dr Robert Jütte and the full IGM staff for their warm reception at Stuttgart and crucial help all across the study; the Argentinian Medical Homeopathic Association (AMHA) and Argentinian Medical Homeopathic School (EMHA) for allowing access to their archives; the Argentinian homeopathic doctors Eugenio Candegabe, David Milstein, José Eizayaga, Marcelo Candegabe, Gustavo Cataldi, Nora Caram, Juan Galante, Federico Fisch, and surgeon Dr Juan Manuel Cárcamo, who kindly agreed to devote some of their precious time to the interviews that allowed building the road map for this study; similarly, the Celes Ernesto Cárcamo Psychoanalysis Centre, especially the psychoanalyst Elisabetta Genari de Rocca.

Kristina Matron

Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985

Medizin, Gesellschaft und Geschichte – beiheft 65 Kristina Lena Matron untersucht in dieser Studie die offene Altenhilfe von 1945 bis 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in Frankfurt am Main. Dabei nimmt sie sowohl die Entwicklungen und Veränderungen der häuslichen Pflege in den Blick als auch die hauswirtschaftlichen, kulturellen und sport­ lichen Angebote für alte Menschen. In der Nachkriegszeit stand zunächst der Bau von Altenheimen im Mittelpunkt der Bemühungen. Seit etwa 1960 wurden offene Angebote ausgebaut: Erholungsfahrten für alte Menschen und Altentagesstätten sollten die Einsamkeit alter Menschen mindern und ihnen Anregung und Erfahrungen bieten. In den 1970er Jahren wurde das ambulante Angebot erweitert. Ziel war es nun, die Selbständigkeit alter Menschen in ihrem Zuhause zu erhalten. Häusliche Pflege und hauswirtschaftliche Dienste halfen, eine Heimunterbringung hinauszuzögern oder zu vermeiden. Die Organisation und Finanzierung dieser Unterstützung blieb jedoch während des gesamten Zeitraumes problematisch und wurde kontrovers diskutiert. In den 1980er Jahren nahm die Selbst­ organisation von alten Menschen zu. Sie engagierten sich bei den Grauen Panthern, besuchten Seniorenuniversitäten und gründeten eigene Altentreffpunkte.

2017 303 Seiten mit 25 s/w-Fotos 978-3-515-11659-6 kart. 978-3-515-11664-0 e-book

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Sylvelyn Hähner-Rombach / Karen Nolte (ed.)

Patients and Social Practice of Psychiatric Nursing in the 19th and 20th Century

Medizin, Gesellschaft und Geschichte – vol. 66 Main subject of this volume is the history of psychiatric nursing. The contributors summarise the state of international research in this area – especially focussing on the relationship between the patient and the nurse. The topics range from the “hospitalisation and dehospitalisation” of patients in mental asylums using the example of Norway and Canada to the issue of how nurses with deviant behaviour were managed in Switzerland. Furthermore, this edition discusses the role of nurses in conducting so-called “Heroic Therapies” in Canada and Germany, such as shock and fever therapies. One section also looks at the situation of patients in Scotland and Austria, including children, in the asylum or clinic and within their social environment. Nursing in Germany experienced a fundamental change in the 1970s; what kind of nurse training and education made possible this reform is the topic of the last part of this edition.

2017 211 pages with 7 tables 978-3-515-11716-6 softcover 978-3-515-11718-0 e-book

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ISSN 0939-351X