Medien-Heterotopien: Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie [1. Aufl.] 9783839405789

Erinnern und Vergessen bestimmen die Auseinandersetzung mit den Medien. In der medien-, kultur- und sozialwissenschaftli

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German Pages 460 [461] Year 2015

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INHALT
DANKSAGUNG
Vorwort
Einleitung: Gesellschaftstheorie als Medienkritik
Zur Methode: Der Widerstand gegen die Theorie. Theoriefiktion anstatt Wahrheitshermeneutik
1. Die Wirklichkeit des Sozialen und die mediale Konstruktion sozialer Wirklichkeit
2. Das Erkenntnisinteresse einer gesellschaftskritischen Medientheorie an der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit
3. Medienkritik
4. Medienkompetenz und Medien-Heterotopien
5. Ausblick: Zur Möglichkeit und Wirklichkeit einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie
Literatur
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Medien-Heterotopien: Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie [1. Aufl.]
 9783839405789

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Marcus S. Kleiner Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie

CULTURAL STUDIES • HERAUSGEGEBEN VON RAINER WINTER • BAND 22

Marcus S. Kleiner (Dr. phil.) lehrt(e) Medien-, Kommunikations-, Kulturwissenschaften und Soziologie an der Universität DuisburgEssen, Campus Duisburg, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der FH Dortmund, wo er zurzeit die Professur für Medienwissenschaften im Fachbereich Design vertritt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft, Medien-, Kommunikationsund Kulturtheorie sowie -soziologie, Bildmedien, Widerstandskulturen, kulturelle Globalisierung, Popkultur und Poststrukturalismus.

Marcus S. Kleiner

Medien-Heterotopien Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie

CULTURAL STUDIES

Vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität DuisburgEssen, Campus Duisburg, zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. genehmigte Dissertation von Marcus S. Kleiner aus Willich. Referent: Prof. Dr. Hermann Strasser, Korreferent: Prof. Dr. Wolfgang Ernst (Humboldt Universität, Berlin), Tag der mündlichen Prüfung: 4. Juli 2006

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »SHE’S GOT YOUR EYES«, aus: Kalle Lasn (2005), Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen, Freiburg i. Brsg. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Lektorat & Satz: Marcus S. Kleiner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-578-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT RAINER WINTER: Vorwort ........................................................................9 Einleitung: Gesellschaftstheorie als Medienkritik..............................12 Zur Methode: Der Widerstand gegen die Theorie. Theoriefiktion anstatt Wahrheitshermeneutik ....................................27 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

2.

Die Wirklichkeit des Sozialen und die mediale Konstruktion sozialer Wirklichkeit ..........................................60 Die Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Problemskizze...........61 Worin unterscheiden sich die soziale und mediale Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit? ...................................................72 Wie funktioniert die soziale Konstruktion von Wirklichkeit? .....81 Wie funktioniert die mediale Konstruktion von Wirklichkeit?....92 Zusammenfassung: Medienwirklichkeit und die Wirklichkeit des Sozialen .............................................109

Das Erkenntnisinteresse einer gesellschaftskritischen Medientheorie an der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit ................................................................112 2.1 Medien und Medien-werden. Begriffsbestimmungen................113 2.2 Medien und Öffentlichkeit .........................................................118 2.2.1 Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Eine idealtypische Rekonstruktion der Öffentlichkeitsdiskurse gesellschaftskritischer Medientheorien ......................................119 2.2.2 Information und Kritik. Die taz-Medienseite flimmern und rauschen..............................156 2.3 Medien und Unterhaltung...........................................................174 2.3.1 Fernsehen als Spaßgesellschaft und die Spaßkultur im deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren..............................180

2.3.2 Unterschichtenfernsehen. Auf dem Weg in eine mediale Klassengesellschaft?..................202 2.3.3 Fernsehunterhaltung als Entertainmentfalle?.............................209 2.4 Medien und Manipulation ..........................................................212 2.5 Zusammenfassung: Gibt es (k)ein Jenseits der Medien?............243 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

4. 4.1 4.2 4.3

5.

Medienkritik .............................................................................246 Medienkritik in Deutschland. Ein Diskursüberblick..................248 Medienkritik als blinder Fleck sozialwissenschaftlicher Medienforschung................................280 Diskurs und Praxis. Zur Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland........302 Die Grenzen gesellschaftskritischer Medientheorien aus der Perspektive einer wohldefinierten Medienwissenschaft.............326 Zusammenfassung: Möglichkeiten und Grenzen der Medienkritik ...........................337 Medienkompetenz und Medien-Heterotopien ........................340 Krisenkommunikation im Fernsehen. Medienkompetenz als Mangelerscheinung ................................344 Kommunikationsguerilla. Semiotischer Widerstand und kommunikative Militanz............361 Zusammenfassung: Medien-Heterotopien als Netzwerke zur Gestaltung alternativer Medienwirklichkeiten.....................394 Ausblick: Zur Möglichkeit und Wirklichkeit einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie .........................................................................399

Literatur ...............................................................................................406

DANKSAGUNG Zunächst möchte ich den beiden Referenten meiner Arbeit, Prof. Dr. Hermann Strasser (Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg) und Prof. Dr. Wolfgang Ernst (Humboldt Universität zu Berlin), ganz herzlich danken. Hermann Strasser für die absolute Freiheit, die er mir beim Schreiben gelassen hat. Zudem für sein jahrelanges Engagement für meine institutionelle Basis. Wolfgang Ernst für seine Bereitschaft, sich trotz seines eigenen technikzentrierten medienarchäologischen Ansatzes, offen, interessiert und wertschätzend auf das Abenteuer der Lektüre meiner Arbeit, die eine dezidiert anders akzentuierte Perspektive darstellt, einzulassen. Zudem für seine Einladungen zum Berliner Kolloquium Medien, die wir meinen, in dem ich intensiv mit seiner Konzeption einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie konfrontiert wurde. Hierdurch habe ich viele wertvolle Perspektiven zur Selbstkritik an meiner Theorie und zahlreiche Anregungen zur Vertiefung in genuin medienwissenschaftliche Fragestellungen erhalten. Den Mitgliedern meiner Duisburger Promotionskommission, neben den beiden Referenten waren dies Prof. Dr. Jochen Zimmer, Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck und Prof. Dr. Dr. Karl-Rudolf Korte, bin ich zu großem Dank verpflichtet, dass sie sich für den schnellen Abschluss meines Verfahrens eingesetzt haben. Mit Rüdiger Schmitt-Beck habe ich die sozialwissenschaftlichen Studienanteile des interdisziplinären Duisburger BA-/MA-Studiengangs Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaft (Kommedia) konzipiert und koordiniert. Für die jederzeit hervorragende Teamarbeit möchte ich ihm herzlichst danken. Dr. Jörg-Uwe Nieland (Ruhr-Universität Bochum/Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung, Duisburg) und mich verbindet eine jahrelange intensive und produktive Zusammenarbeit sowie Freundschaft. Auf dieser Basis sind zahlreiche gemeinsame Arbeiten entstanden und im Entstehen – ohne Prioritätsstreitigkeiten und Distinktionsrituale, sondern ausschließlich mit dem Ziel, etwas gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache zu machen. Sein Ideenreichtum, Gespür für interessante Themen und seine analytische Kompetenz sind für mich zudem stets große Inspirationsquellen. Darüber hinaus trägt unser

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DANKSAGUNG

kontinuierlicher Austausch über die scientific community, ihre spezifischen Interaktionsrituale und Abgründe sowie Akteure immer wieder zum Entwurf eigensinniger (und gemeinsamer) Wissenschafts- und Produktions-Heterotopien bei, für die Widerständigkeit mehr als nur rhetorisches Pathos ist. Ihm sei für diesen intellektuellen, lebensweltlichen und haltungsvollen Rock’n’Roll mehr als herzlich gedankt. Prof. Dr. Rainer Winter (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) danke ich herzlich dafür, dass er sich bereit erklärt hat, das Vorwort zu verfassen und meine Arbeit in seine Cultural Studies Reihe aufnahm. Sabrina Hermsen kann ich nicht genug für mindestens drei Wirklichkeiten danken: Beschleunigung, Kontinuität, Existenz. Meinen Eltern, Dr. Hans und Ingrid Kleiner, gebührt größter Dank für ihre kontinuierliche und umfassende Unterstützung meiner Arbeit und dafür, dass sie mir ein haltungsvoll-wissenschaftliches Ethos mit auf den Weg gegeben haben. Gisela Wilson danke ich für ihre, wie immer, unermüdlichen und zuverlässigen Zusatzkorrekturaugen. Marc Kunze danke ich seine engagierte, konstruktive und professionelle editorische Mithilfe. Dr. Karin Werner vom Transcript Verlag bin ich sehr dankbar für ihre intensive Lektüre meiner Arbeit, ihre wertschätzende Betreuung und die produktive Zusammenarbeit. Zudem möchte ich Gero Wierichs für seine permanente Ansprechbarkeit in allen editorischen Fragen danken. Kalle Lasn, Gründer der Media Foundation und des kanadischen Adbuster Magazine, schulde ich großen Dank, weil er mir den freien Abdruck des Bildes She’s Got Your Eyes (aus seinem Buch: Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen, Freiburg 2005) für das Cover meiner Studie gestattet hat. Meine Studie wurde im Juli 2006 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg Essen, Campus Duisburg, als Dissertation angenommen. Marcus S. Kleiner Duisburg, im August 2006

VORW ORT Seit ihren Anfängen am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham haben Cultural Studies Medienanalyse mit Gesellschaftskritik verbunden. Hierbei kommt dem aus der Semiotik stammenden Konzept der Kommunikationsguerilla eine wichtige Bedeutung zu. 1972 erschien der Text »Towards a semiotic inquiry into the television message« von Umberto Eco in der Institutszeitschrift. Von den semiotischen Aktivitäten der Zuschauer ausgehend, hebt er deren Möglichkeiten hervor, eine empfangene Medienbotschaft anders zu lesen, als sie von den Produzenten gemeint war. Er zeigt, wie der soziale Kontext zu unterschiedlichen Dekodierungen führen kann. Gerade die medialen Texte, die von einer Vielzahl sozialer Gruppen gelesen werden, werden gemäß den jeweiligen Codes der Rezipienten unterschiedlich interpretiert. Daher ist für Eco die Massenkommunikation im allgemeinen von einer »Interpretationsvariabilität« geprägt. Für Stuart Hall folgt aus diesen Überlegungen, dass sich die Bedeutungen einer medialen Botschaft nicht eindeutig fixieren lassen. Es gibt immer mehrere mögliche Lesarten eines Textes, was er in seinem berühmt gewordenen »Encoding-DecodingModell« eindringlich demonstriert. John Fiske radikalisiert dieses Modell und betrachtet mediale Texte vom Kontext ihres sozialen Gebrauchs her. In der Konstitution der zeitgenössischen Populärkultur sieht er eine semiologische Guerilla am Werk, die Bedeutungen und Vergnügen im Kampf gegen hegemoniale Machtstrukturen eigensinnig fabriziert. In seiner vorliegenden Studie bietet Marcus S. Kleiner einen faszinierenden und systematischen Einblick in die aktuellen Formen von Kommunikationsguerilla und ihre taktischen Praktiken der Dissidenz. Wie er zeigen kann, betrachten auch deren Vertreter die Rezipienten als eigensinnig und zum semiotischen Widerstand fähig. Die Formen kultureller Hegemonie sollen in Frage gestellt und subversiv unterwandert werden. So soll die »Gesellschaft des Spektakels« (Guy Debord) transzendiert und ein utopischer Raum des Möglichen eröffnet werden. In diesem Zusammenhang prägt Marcus S. Kleiner im Anschluss an Michel Foucault den Begriff der »Medien-Heterotopien«. Durch die Förderung von Medi-

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RAINER WINTER: VORWORT

enkompetenz, durch Medienkritik und eine kritische Medienpraxis sollen andere Räume der Gestaltung und Nutzung von Medienwirklichkeiten entstehen. Diese Praktiken verankert er im Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie der Mediengesellschaft, deren emanzipatorisches Erkenntnisinteresse er herausarbeitet und heterogene Theoriebausteine historisch akribisch zusammenträgt. Sie soll pragmatisch und transdisziplinär angelegt sein, damit sie praktisch verwendbares Wissen zur Verfügung stellen kann. Auch hier treffen sich die Intentionen von Marcus S. Kleiner mit denen der Cultural Studies, die interventionistisch orientiert sind. Sie analysieren bestehende Kräfteverhältnisse und suchen nach Möglichkeiten, sie zu problematisieren und zu transzendieren.

Rainer Winter

Klagenfurt, August 2006

»Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. Diese, das Bewusstsein der Möglichkeit, haftet am Konkreten als dem Unentstellten. Es ist das Mögliche, nie das unmittelbar Wirkliche, das der Utopie den Platz versperrt; inmitten des Bestehenden erscheint es darum als abstrakt. Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden. Ihm dient Denken, ein Stück Dasein, das, wie immer negativ, ans Nichtseiende heranreicht« (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik). »Die Sozialwissenschaft [...] könnte zum rationalen Utopismus beitragen [...], der in der Lage wäre, mit der Kenntnis des Wahrscheinlichen zu spielen, um das Mögliche Ereignis werden zu lassen« (Pierre Bourdieu, Wie die freien Intellektuellen befreien?). »Ich begebe mich auf Forschungsreisen, bei denen ich nie weiß, wohin sie mich führen werden. Meine Arbeit ist ganz pragmatisch darauf ausgerichtet, unsere technologische Umwelt und ihre psychischen und sozialen Konsequenzen zu verstehen. Aber meine Bücher zielen eher darauf, den Prozess des Entdeckens offenzulegen, als mit einem fertigen Ergebnis aufzuwarten. Statt meine Ergebnisse traditionsgemäß steril in schön geordnete Versuchsreihen, Kategorien und Schubladen zu stecken, verwende ich sie wie Probebohrungen, um Einblicke in gewisse Dinge zu gewinnen und Strukturen zu erkennen. Ich möchte lieber neue Gebiete abstecken als alte Markierungen auswerten« (Herbert Marshall McLuhan, Geschlechtsorgan der Maschinen). »Wenn man über einen Diskurs berichtet, muss man nicht nach der Wirklichkeit fragen, die dieser Diskurs wiedergeben soll, sondern nach der Wirklichkeit des Problems, weshalb man glaubt, darüber reden zu müssen« (Michel Foucault, Von der Freundschaft).

EINLEITUNG: GESELLSCHAFTSTHEORIE ALS MEDIENKRITIK

Gesellschaft zum Gegenstand soziologischer Forschung zu machen, ist ein paradoxes Unternehmen. Soziologie braucht, wie jede Wissenschaft, ein distanziertes Gegenstandsverhältnis, um zu objektiven, also sachgerechten und wahrheitsgemäßen sowie intersubjektiv nachvollziehbaren, d.h. potentiell jedermann zugänglichen und verstehbaren Aussagen über ihren Untersuchungsgegenstand zu gelangen. Hierbei soll Alltagswissen, also, die zur Selbstverständlichkeit gewordenen und praktizierten Handlungen und Erwartungen, die zu routinierter Verhaltenssicherheit in der alltäglichen Lebenswelt führen, gerade in dieser Selbstverständlichkeit problematisiert bzw. von der relativen Eindeutigkeit des Alltagswissens durch idealtypische (Re-)Konstruktion abstrahiert werden. Dadurch soll eine überindividuelle Systematik von in sich widerspruchsfreien Aussagen über den Untersuchungsgegenstand, hier also die Gesellschaft, erzielt werden, die, ausgehend vom gesammelten Wissen zum spezifischen Phänomenbereich, eine Form von Verallgemeinerung anstrebt, bei der das Zufällige vernachlässigt und das Grundsätzliche herausgearbeitet werden. Alltagswissen und Alltagswirklichkeit, auf deren Basis sich die intersubjektive Wirklichkeit des Sozialen, ihre vielfältigen Erscheinungsweisen, Strukturierungen, Institutionen, Organisationen, Sinndimensionen usw. wesentlich konstruiert, sollen durch idealtypische (Re-)Konstruktion in ihrem Konstitutionsgeschehen sowie in ihrer Bedeutung für die Gesellschaftsmitglieder beschrieben und ursächlich erklärt, also verstanden und kommuniziert werden. Je schärfer und eindeutiger, d.h. weltfremder, diese idealtypische (Re-)Konstruktion ist, desto höher ist ihr Erklärungswert terminologisch, klassifikatorisch und heuristisch (vgl. Weber 1988i: 561). Idealtypische (Re-)Konstruktion ist keine repräsentative Darstellung der Wirklichkeit des Sozialen, sondern verleiht dieser Darstellung des sozial Wirklichen eindeutige Ausdrucksmittel. Die (Re-) Konstruktion eines Idealtypus hat »den Zweck[,] die empirische Wirklichkeit mit ihm zu ›vergleichen‹, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen, um sie so mit

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möglichst eindeutig verständlichen Begriffen beschreiben und kausal zurechnend verstehen und erklären zu können« (Weber 1988h: 535f.). Zuordnung bedeutet, dass Verstehen und Erklären sozialer Phänomene nicht als Subsumption im Hinblick auf eine idealtypische (Re-)Konstruktion zu begreifen ist, sondern diese jener zugeordnet wird, indem sie begriffliche Eindeutigkeit erzeugt und objektiv Mögliches darstellt. Die soziologische (Re-)Konstruktion von Gesellschaft ist aber insofern paradox, als der Soziologe niemals grundlegend auf Distanz zum Objekt seiner Forschung, der Gesellschaft, gehen kann. Soziologie und Soziologe sind stets Teil dessen, was sie beschreiben, erklären bzw. verstehen wollen. Eine soziologische Analyse der Gesellschaft findet in der Gesellschaft statt und wird von Gesellschaftsmitgliedern betrieben, deren Wissen, ebenso wie das fachspezifische Wissen der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin, stets gesellschaftlich erzeugt und vermittelt wird. Insofern sind Soziologen handelnd-reflektierende Teilnehmer der Gesellschaft, auch wenn sie ihre handelnd-reflektierende Teilnahme an der Gesellschaft und dem Wissenschaftssystem soziologisch konzeptualisieren. Das distanzierte Verhältnis zum Erkenntnisgegenstand Gesellschaft findet in der Gesellschaft statt. Gesellschaft kann somit unmöglich von Außen bzw. aus der Perspektive eines Außenstehenden beobachtet und beschrieben werden. Besteht dennoch die Möglichkeit, Gesellschaft wissenschaftlich objektiv, also mit der notwendigen Distanz zu beschreiben und ursächlich zu erklären, um ausgehend davon, eine soziologische Theorie der Gesellschaft zu entwerfen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt? Gefragt werden könnte aber auch, ob eine Gesellschaftstheorie diese Distanz überhaupt einhalten muss oder gerade die zuvor beschriebene Unmöglichkeit, eine Metaposition einzunehmen, von Vorteil ist, um Gesellschaft zu analysieren?1 Eine Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten, findet sich in der Gesellschaftstheorie von Luhmann (1997: 866-1149). Er bezeichnet den Prozess der Beobachtung und Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft als Selbstbeschreibung. Eine soziologische Theorie über die Gesellschaft liefert, im Verständnis Luhmanns, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in der Perspektive der Wissenschaft. Eine Gesellschaftstheorie repräsentiert keine objektive Wirklichkeit, sondern stellt eine Perspektive unter anderen Beobachtungen von Gesellschaft dar. Der Vorteil dieser Perspektive ist, so Baraldi (1999: 64), dass »sie [...] den Beobachter einschließen [kann]: Die Soziologie weiß, dass 1

Im folgenden Kapitel, Der Widerstand gegen die Theorie. Theoriefiktion anstatt Wahrheitshermeneutik, wird erläutert, wie zentrale Aspekte wissenschaftlicher Theoriebildung, z.B. Objektivität und Wahrheit, durch das Konzept der Theoriefiktion modifiziert werden. An die Stelle wissenschaftlicher Wahrheitshermeneutik tritt eine Hermeneutik von Möglichkeitswelten. Die empirischen Illustrationen der theoretischen Entwürfe beziehen sich zwar auf eine faktische Wirklichkeit, d.h. v.a. auf das deutsche Mediensystem der Gegenwart. Dennoch sind sie letztlich theoriefiktionale (Re-)Konstruktionen.

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EINLEITUNG

ihre Beschreibung der Gesellschaft ein inneres Ergebnis der Gesellschaft selbst ist. Gerade deshalb kann die Soziologie auf die strukturellen Bedingungen dieser Beschreibung reflektieren.« Soziologie kann somit, nach Luhmann, als Reflexionstheorie gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung verstanden werden. Gesellschaften brauchen diese Selbstbeschreibungen2, um sich ihrer gegenwärtigen Form zu vergewissern und sie als Konsensmodell politisch ins Werk zu setzen. Sie ermöglichen, wie Luhmann (1997: 867) betont, »in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren [Hervorhebung im Original – MSK]3«, also Gesellschaft über sich selbst aufzuklären. Gesellschaften brauchen dazu prägnante Formeln zur Selbstbeschreibung, um eine möglichst große Anschlussfähigkeit zu ermöglichen. Eine in den letzten fünfzehn Jahren häufig favorisierte Selbstbeschreibung lautet Mediengesellschaft. Medien sind zugleich konstitutiver Motor, Organisator und Filter dieser selbstbeschreibenden Kommunikationen der Gesellschaft über die Gesellschaft in der Gesellschaft. Ihre Funktion besteht, so Luhmann (1996: 173), »im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems.« Diese Kommunikationen erweisen sich allerdings als zunehmend schwierig, da unser gegenwärtiges Zeitalter durch Pluralität, Kontingenz, Perspektivität, Kontextualität und damit durch die Auflösung von Verbindlichkeiten, seien sie nun religiöser, moralischer, ethischer, politischer, kultureller oder theoretischer Art gekennzeichnet ist. Definitive Eindeutigkeit bzw. Objektivität kann daher von gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsformeln nicht erwartet werden, ebenso wenig können sie eine verbindliche gesamtgesellschaftliche Diagnose dar- bzw. erstellen. Der Grund für diese Entwicklung liegt v.a. in der zunehmenden funktionalen Differenzierung4 moderner Gesellschaften5. Weber6 (u.a. 1988b/j) 2 3

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Vgl. zur Bedeutung von Selbstbeschreibungs- und Selbstverständigungsdiskursen für gesellschaftskritische Medientheorien das Kap. 3.3 Um den Lesefluss von Zitaten nicht zu unterbrechen, wird in dieser Studie der Hinweis Hervorhebung im Original jeweils immer am Ende des entsprechenden Zitats aufgeführt und nicht nach den einzelnen Hervorhebungen in den Zitaten. Zudem wird, auch bei mehreren Hervorhebungen in einzelnen Zitaten, immer nur im Singular von Hervorhebung und nicht von Hervorhebungen gesprochen. Das Konzept funktionaler Differenzierung, als konstitutives Thema der Analyse moderner Gesellschaften bzw. gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, kann an dieser Stelle nicht differenziert diskutiert werden. Einen komprimierten Überblick hierzu bieten u.a. Schimank (1996) und Kneer/Nollmann (2000). Einen guten Überblick über die Modernisierungsprozesse der Gesellschaft, die Frage, wie der Begriff der Moderne soziologisch zu bestimmen ist, welche sozialen sowie kulturellen Entwicklungen als spezifisch modern bezeichnet werden können sowie über Motive, die für eine soziologische Theorie der Moderne relevant sind, gibt Nassehi (2001). Die Verwendung des Begriffs moderne Gesellschaft hat, wie der der funktionalen Differenzierung, eine primär heuristische Funktion. An dieser Stelle ausschließlich die Überlegungen von Weber zur gesellschaftlichen Differenzierung zu referieren, ohne dabei auf andere zentrale soziologi-

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hat diesen Prozess als Entzauberung der Welt beschrieben, als einen Differenzierungsprozess, der die europäische Geschichte seit der Renaissance begleitet und dessen Haupttriebkräfte Rationalisierung, Bürokratisierung, Technisierung, Industrialisierung und Säkularisierung sind, als konstitutive Ausdrucksformen des von ihm beschriebenen »Geist[es] des Kapitalismus« (Weber 1988b), jener »schicksalvollsten Macht unsres modernen Lebens« (Weber 1988a: 4). Dies kommt u.a. in der ersatzmetaphysischen Aufwertung von Wissenschaft und Technik, dem Dominantwerden der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis für das menschliche Welt- und Selbstverständnis und den daraus entstehenden Säkularisierungsprozessen, die die Menschen der religiösen Sinngebung beraubten und dem wachsenden Bewusstsein von Individualität, als signifikante Folgen dieses Entzauberungsprozesses der Moderne, der sich aus den Prämissen der erfahrungswissenschaftlichen Stellung zur Welt ergibt, zum Ausdruck.7 Die grundlegende Annahme dieses Paradigmas lautet, dass der Mensch »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne« (Weber 1988j: 594). Die moderne Gesellschaft wird aus dieser Perspektive als sozial gestalt-, plan- und damit veränderbar sowie hochgradig produktiv, die menschliche Geschichte als Geschichte permanenten Fortschritts und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft als zentrale Orientierungs- und Sinnstiftungsinstanzen begriffen. Diesem berechnenden und beherrschenden Zugriff auf die Welt sind keine grundsätzlichen Restriktionen auferlegt. Daher kann es auch keine objektiv verpflichtenden Sinngebungen und Wertsetzungen mehr geben.8 Für die

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sche Konzeptionen, wie etwa von Durkheim (1989b), Simmel (1999), Parsons (1975), Habermas (1997) oder Luhmann (1997, 1999) einzugehen, erscheint sachlich und theoriehistorisch eindimensional. Der Grund hierfür ist, dass Weber zentrale Aspekte im Prozess der gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierung anspricht, die für die Analyse und Kritik der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit von konstitutiver Bedeutung sind. Dies gilt v.a. für die von Weber konstatierten negativen Auswirkungen des Differenzierungs- bzw. Rationalisierungsprozesses der Moderne, wie etwa Bürokratisierung, Versachlichung oder Entmenschlichung (vgl. hierzu v.a. die Adorno-Passagen im Kap. 2.4). Die moderne Gesellschaft »unterscheidet sich […] sowohl von der segmentären Differenzierung archaischer Gesellschaften als auch von der primär stratifikatorischen Differenzierung vormoderner Hochkulturen. In archaischen Gesellschaften sind die primären Einheiten relativ gleichartige und gleichrangige Familien, Clans und Stämme. Die feudalistischen Gesellschaften des europäischen Mittelalters, das Römische Reich, aber auch das chinesische Kaiserreich gliederten sich in Stände, Schichten oder Klassen und damit in ungleichartige und ungleichrangige Einheiten. Funktionale Differenzierung schafft demgegenüber in dem Sinne ungleichartige Einheiten, so dass jedes der Teilsysteme je besondere, von keinem anderen wahrgenommene Beiträge zur Reproduktion der Gesellschaft leistet [Hervorhebung im Original – MSK]« (Schimank/Volkmann 1999: 6). Die Soziologie selbst kann, so Nassehi (2001: 209f.), als Produkt ihres Gegenstandes, der modernen Gesellschaft, verstanden werden: »Gesellschaft als soziologischer Begriff könnte selbst eine Chiffre dafür sein, dass sich die Welt nicht mehr von selbst versteht und keine unwandelbare Gestalt besitzt, sondern sich in permanenter Veränderung befindet, die nicht nur gestaltet werden kann,

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EINLEITUNG

Moderne ist die fortschreitende Ausdifferenzierung und Trennung der gesellschaftlichen Wertsphären von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Recht und Kunst sowie deren zunehmende Emanzipation von religiösmetaphysischen Einflussbereichen und Entfaltung »innere[r] Eigengesetzlichkeiten« (Weber 1988c: 541) entscheidend. Die Dialektik bzw. Paradoxie der Entzauberung der Welt besteht für Weber darin, dass die neuzeitliche Wissenschaft zwar zu einem erheblichen Zuwachs an Erkenntnissen über die Welt geführt habe, zugleich aber ihr Unvermögen fundamentalen Fragen menschlicher Wirklichkeit gegenüber offenbare.9 Weiterhin werden die, aus der Entzauberung der Welt entstehenden, Individualisierungsprozesse, durch die zunehmende Bürokratisierung und Verwaltung des Lebens konterkariert: »Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist« (Weber 1988b: 37). Die Freisetzung von Individualität und Handlungsautonomie in der modernen Gesellschaft korrespondiert mit deren gleichzeitiger Reglementierung und Instrumentalisierung – dies kann als die Dialektik der Entzauberung der Welt beschrieben werden. Weber (1988j: 601ff.) stellt den Begriff der Persönlichkeit und die Maxime der intellektuellen Rechtschaffenheit der These von der Entzauberung der Welt bzw. der wissenschaftlichen Rationalität und technokratischen Vernunft, als das subjektiv notwendige und ethische Korrelat entgegen. Mit dem Begriff der Persönlichkeit will Weber hervorheben, dass der Wissenschaftler »rein der Sache dient« (ebd.: 591) bzw. dienen sollte.10 Das Postulat der unbedingten intellektuellen Rechtschaffenheit meint die Selbst-Verpflichtung bzw. Selbst-Verantwortung des Wissenschaftlers, sich nicht durch persönliche Präferenzen von der Wahrheitssuche bzw. wissenschaftlichen Objektivität im Forschungsprozess abhalten zu lassen. Weber bezieht sich zwar mit diesen beiden Aspekten ausschließlich auf die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft. Allerdings weist er hiermit implizit daraufhin, dass es prinzipiell Möglichkeisondern permanent gestaltet werden muss. Sicherlich wurde auch in früheren Epochen die Welt gestaltet, aber dass sich der Mensch bzw. die Gesellschaft nun selbst gewissermaßen als Schöpfer ihrer selbst zu verstehen beginnt, ist vielleicht eines der entscheidenden Modernitätsmerkmale [Hervorhebung im Original – MSK].« 9 Mit Blick auf Bereiche wie Ethik, Religion oder Kunst formulierte Wittgenstein (1995a: 85) eine der zuvor skizzierten Ausführungen Webers korrespondierende Überlegung, allerdings aus konstitutiv anderer theoretischer Hinsicht: »Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind [Hervorhebung im Original – MSK].« 10 Das Wesen von Persönlichkeit besteht, so Weber (1988e: 132), »in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ›Werten‹ und Lebens›Bedeutungen‹ […], die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen«.

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ten zur subjektiven Gegenwehr, zum Widerstand bzw. zur Opposition gegen vermeintlich übermächtig werdende Bürokratien, Verwaltungen und Systeme gibt, die die Verobjektivierung des Menschen befördern. Die entscheidende Frage ist hierbei für Weber, ob »überhaupt noch […], irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ›individualistischen‹ Bewegungsfreiheit zu retten [Hervorhebung im Original – MSK]« (Weber 1984: 465f.) sind.11 Diese Perspektive drückt sich auch in seiner vehementen Kritik an den Erscheinungsformen der Bürokratisierung, der Etablierung bürokratischer Ordnungen und deren Auswirkung auf das Individuum aus: »Dass die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt – in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale« (Weber 1988k: 414). Diese Diagnose sowie die Befürchtung, dass das Individuum durch die aus der Entzauberung der Welt resultierenden Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozesse ein Leben im »Gehäuse der Hörigkeit« (Weber 1988d: 63) zu führen habe, bringt seine Ausführungen in die Nähe der These von der Ohnmacht und Entfremdung des Einzelnen bzw. vom Ende und der Verdinglichung des Individuums in der verwalteten Welt, wie sie von Adorno umfassend ausgearbeitet wurde (vgl. Kap. 2.4). Die Dialektik dieser Entwertung des Individuums bei gleichzeitiger kultureller bzw. kulturindustrieller Aufwertung, bringt eine Formulierung aus den Soziologischen Exkursen des Instituts für Sozialforschung (1956b: 48) pointiert zum Ausdruck: »Je weniger Individuen, desto mehr Individualismus.« Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ausdifferenzierung und metaphysische Entzauberung der Wertsphären, die daraus entstehenden eigensinnigen Wertsphären und enttraditionalisierten Lebensordnungen, die Versachlichung von Sozialbezügen, der Verlust einheitsbildender Kräfte, Wertvorstellungen und Weltbilder sowie die daraus resultie11 Dieser Versuch der Stärkung des Individuums in einer zunehmend bürokratisierten Welt liegt nahe, denn für Weber (1988g: 439) ist, zumindest für die verstehende Soziologie, »das Einzelindividuum und sein Handeln« sowohl die »unterste Einheit« als »auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens.« Soziologie, im Verständnis Webers, nimmt ihren Ausgang von der sinnbezogenen, sozialen Handlungsorientierung des Einzelnen und kann daher als Wissenschaft vom sinnhaften sozialen Handeln, d.h. konstitutiv auf Sinn bezogenen und nur von seinem (subjektiven) Sinn her erkennbaren Verhalten verstanden werden (vgl. Weber 1988i). Hierzu bedarf es eines selbstständigen, vernunftbegabten und willensfähigen Individuums, das nicht als a priori fremdbestimmt verstanden wird. Nur (autonome) Individuen können Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sein. Dies gilt auch, wenn der eigene Handlungssinn dem Handelnden selbst, weil nicht explizit bewusst, meist relativ unklar oder oft von verschiedenen Zielsetzungen bestimmt ist.

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renden Individualisierungsprozesse dazu führen, dass gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeit weder einer gemeinsamen Weltanschauung, noch einem übergeordneten, objektiv verpflichtenden Sinnzusammenhang, noch einer allgemeinverbindlichen Moral subsumiert werden können: »Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, dass wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, dass ›Weltanschauungen‹ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und dass also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren« (Weber 1988f: 154; vgl. Weber 1988j: 609). Was können gesellschaftliche Selbstbeschreibungen vor diesem Hintergrund leisten? Soziologie als Reflexionstheorie der Gesellschaft bzw. Theorie der Kommunikation über Gesellschaft kann diese nicht aus einer einheitlichen Perspektive heraus beschreiben und verstehen.12 Soziologische Gesellschaftstheorien nehmen ihren Ausgangspunkt zunächst und zumeist von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit – historische sowie prognostische Aussagen sind diesbezüglich immer sekundär, hieraus resultierend. Soziologie kann somit grundlegend als Wissenschaft von der sozialen Wirklichkeit bezeichnet werden, die sich immer wieder von neuem mit den sozialen Handlungen, den Normen, den Beziehungen und den Institutionen als den Strukturelementen der gesellschaftlichen Wirklichkeit befasst. Mit anderen Worten, Soziologe beschreibt die soziale und individuelle Konstruktion von Wirklichkeit, also von menschlichen Interaktionen und Kommunikationen sowie deren Bedeutung und Folgen.13 Sie ist, wie Weber (1988f: 170) betont, »Wirklichkeitswissenschaft«. 12 Dennoch gehört die Erforschung der Gesellschaft als umfassende Sozialordnung zum genuinen Gegenstandsbereich der Soziologie. Diese Paradoxie wird in dieser Studie nicht als unhintergehbare Begrenzung gesellschaftstheortischer Entwürfe aufgefasst. Vielmehr wird Gesellschaft als Ganzes, wenn auch als idealtypisch (re-)konstruiertes Ganzes in den Blick genommen, denn der Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie der Mediengesellschaft, wie er in dieser Studie, ausgehend von der Untersuchung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit, ausgearbeitet wird, geht davon aus, dass Medien nicht lediglich ein Teilsystem der Gesellschaft sind, das Mediale also nur ein, wenn auch zentraler bzw. integraler Aspekt gegenwärtiger Gesellschaftsformationen ist, sondern, dass Gesellschaftstheorie grundlegend Medientheorie ist bzw. die Wirklichkeit des Sozialen konstitutiv medial konstruiert wird. 13 Diese Definition von Soziologie unterscheidet sich von der zuvor verwendeten Luhmanns grundlegend, da für diesen »nicht Individuen, Beziehungen zwischen Individuen oder soziale Rollen die Elemente der Gesellschaft [sind], sondern Kommunikationen« (Baraldi 1999: 63). Luhmanns Überlegungen zu den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen dienen nur als Ausgangspunkt und Kontrastfolie zu der in dieser Studie entwickelten Gesellschaftstheorie. Funktionale Analyse der Gesellschaft, wie sie von Luhmann betrieben wird, ist, im Kon-

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Die sozialtheoretische Frage, in welcher Gesellschaft wir leben, ist letztlich die Frage, in welcher (gesellschaftlichen) Wirklichkeit wir leben.14 Dadurch ist aber auch angezeigt, dass soziologische Analysen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich stets selbst überschreiten, also u.a. philosophische, ökonomische, ästhetische, psychologische oder medienund kommunikationswissenschaftliche Theorien und Methoden in ihre jeweiligen Forschungsansätze integrieren müssten, um der vielschichtigen und immens komplexen Wirklichkeit des Sozialen gerecht zu werden. Dies würde letztlich bedeuten, dass eine ausschließlich an soziologischen Methoden und Theorien orientierte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Teilbereichen eindimensional wäre und vielmehr eine Perspektivenvielfalt erforderte. Die Soziologie ist, wie etwa die Medien- und Kommunikationswissenschaft im Hinblick auf die Analyse ihrer Hauptgegenstandsbereiche Medien und Kommunikation, nicht Herr im eigenen Haus.15 Sie muss text des Erkenntnisinteresses dieser Studie, unzureichend – die empirisch-deskriptive Ebene wird nur in ihrer konstitutiven Interdependenz mit den beiden im Folgenden dargestellten Ebenen berücksichtigt. Die vorgestellte Gesellschaftsanalyse erweitert den Ansatz Luhmanns um zwei Aspekte – diese Erweiterung würde Luhmann vor dem Hintergrund seines Erkenntnisinteresses wiederum als Rückschritt ansehen. Zunächst um den der Kritik bzw. der normativ-kritischen Ebene. In den Soziologischen Exkursen (Institut für Sozialforschung 1956a: 17f.) wird die Bedeutung und Notwendigkeit der Kritik im Feld der Gesellschaftsanalyse, in Abgrenzung gegen eine rein positivistische Soziologie, pointiert zum Ausdruck gebracht: »Vor allem aber ist die aufs ›Positive‹ vereidigte Soziologie in Gefahr, jegliches kritische Bewusstsein einzubüßen. Was anders ist, was auf die Frage nach der Legitimation von Gesellschaftlichem drängt, anstatt bloß festzustellen und zu klassifizieren, was der Fall ist, verfällt dem Argwohn. […] Aber nur im Geiste der Kritik wäre Wissenschaft mehr als bloße Verdopplung der Realität durch den Gedanken, und die Realität erklären, heißt allemal auch, den Bann der Verdopplung brechen. […] Das Gegebene gibt sich nur dem Blick, der es unter dem Aspekt eines wahren Interesses sieht, unter dem einer freien Gesellschaft, eines gerechten Staates, der Entfaltung des Menschen.« Der zweite Aspekt ist der der Praxis bzw. die emanzipatorischpragmatische Ebene (vgl. hierzu v.a. Kap. 3.3, Kap. 4.). 14 Gesellschaft und gesellschaftliche Wirklichkeit sind keine prinzipiell synonymen Begriffe. Gesellschaft ist einerseits eine rein nominale Größe, ein abstrakter und starrer Begriff, mit einem diffusen Bedeutungshorizont. Andererseits das, was wir voraussetzen müssen und das, was uns vorausgeht, um überhaupt über Gesellschaft und uns in der Gesellschaft sprechen zu können. Gesellschaft ist die unvordenkliche Bedingung der Möglichkeit, Wirklichkeit und Gesellschaft erfahren zu können. Gesellschaft ist somit der Rahmen und die Bühne, in dem und auf der soziale Wirklichkeit erfahren, konstruiert, inszeniert und kommuniziert wird. Gesellschaftliche Wirklichkeit, über die wir stets sprechen, wenn wir Gesellschaft meinen, umfasst einerseits die jeweils konkreten und wandelbaren Materialisierungen von sozialen Handlungen, individuellen Sinnstiftungen und Diskursen sowie andererseits die Archive zur Speicherung der sich ausdifferenzierenden Bestände und sich historisch permanent weiterentwickelnden gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Gesellschaftliche Wirklichkeit ist ein wesentlich dynamischer Begriff. 15 Diese Formulierung spielt auf Freuds (1988: 11) berühmten Satz, dass das »Ich nicht Herr im eigenen Haus« sei, an. Freud wollte hiermit andeuten, dass das

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transdisziplinär werden, d.h. die Grenzen ihrer Wissensproduktion, wie auch die Grenzen zwischen soziologischem Wissen und Praxiswissen überschreiten. Hiermit erhält soziologische Forschung einen Prozesscharakter, ihre Erkenntnisse wachsen in einem interaktiven, kommunikativen und rekursiven Forschungsprozess, der eine disziplinenunabhängige Systematisierung von Wissen sowie Verallgemeinerbarkeit und Theoriebildung, die auf kontextbezogenem Wissen basiert, ermöglichen soll. Die Komplexität des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes kann somit durch eine soziologie- und disziplinenexterne Problemstellung vorgegeben und muss nicht dem Erkenntnisanspruch der Soziologie und einer Disziplin allein untergeordnet bzw. angepasst werden. Problemverständnis, Problemdefinition und Problemlösung werden hierbei disziplinunabhängig entwickelt.16 Wie kann, gerade wenn man die vorausgehenden Überlegungen konstruktiv ernst nimmt, die soziale Wirklichkeit durch Selbstbeschreibungen soziologisch beschrieben werden? Selbstbeschreibungen betrachten Gesellschaft immer nur aus einem bestimmten Blickwinkel und sind somit selektive Generalisierungen. Dennoch beanspruchen sie, den charakteristischen Merkmalen und Funktionsmechanismen der jeweiligen Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Der Begriff Mediengesellschaft soll entsprechend auf die konstitutive Bedeutung von Medien, Medieninhalten und Medienapparaten zur Konstitution sozialer und individueller Wirklichkeit hinweisen sowie auf deren Rolle hinsichtlich der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen. Beschreibungen müssen stets an Beschreibungen anknüpfen. Und diese Anschlüsse verlaufen keineswegs linear, zumal sich die Gesellschaft nicht teleologisch auf einen bestimmten Idealzustand zu bewegt. Die jeweils anschließende Selbstbeschreibung stellt also nicht unbedingt eine Weiterentwicklung der vorausgehenden dar – ebenso wenig muss die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit des Sozialen als die aktuell beste aller möglichen Gesellschaftsformationen angesehen werden.17 Vielmehr Ich eine in sich bewegliche, nicht-substanzielle, sondern haltlose Summe von Identifikationen, eine imaginäre Funktion sei. Mit diesem Verweis soll einerseits auf die Tatsache hingewiesen werden, dass, wie Jaeger und Scheringer (1998: 25) betonen, »[d]isziplinäre Grenzziehungen […] nicht naturgegeben [sind], sondern […] sich historisch herausgebildet [haben] […] und trotz institutioneller Verfestigung […] verschoben oder überschritten werden« können. Andererseits, dass es keine reine Soziologie gibt, diese immer multiperspektivisch orientiert sein muss. 16 Vgl. zum Thema Transdisziplinarität die Ausführungen im folgendem Kapitel. 17 Schulze (2003: 11ff.) beginnt seine Prognose der Entwicklung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert mit dem Hinweis, dass sich soziale Wirklichkeit seit der Aufklärung konstitutiv als Suchbewegung charakterisieren und dementsprechend nicht auf ein Wirklichkeitsmodell reduzieren lasse bzw. sich auf dieses fokussiere: »Nichts prägt die Kultur des Westens so sehr wie die Vorstellung, die Beste aller Welten sei noch nicht verwirklicht. Leibniz glaubte, dass man die Beste aller Welten immer schon vorfände. Wir denken, dass man sie immer nur suchen könne, ohne jemals dort anzukommen. […] Die Beste aller Welten ist nicht er-

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bündeln Selbstbeschreibungen wirkungsmächtige Merkmale einer sozialen und kulturellen Entwicklungsstufe, eingebettet in eine historische Situation, und erklären sie, zumindest für einen bestimmten Zeitraum, zum konstitutiven Motor der Gesellschaft. Neben der Selbstbeschreibung unserer gegenwärtigen (westlichen) Gesellschaftsformation(en) als Mediengesellschaft(en) kursieren Beschreibungen wie Industriegesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesllschaft, Wissensgesellschaft, Weltgesellschaft, Informationsgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Massengesellschaft, Technikgesellschaft, postmoderne Gesellschaft oder Arbeitsgesellschaft (vgl. Pongs 1999, 2000; Kneer/ Nassehi/Schroer 2000, 2001). Dies bedeutet, dass soziale Wirklichkeit stets in einem immer wieder anderen Licht erscheint, die Halbwertzeit spezifischer Selbstbeschreibungsformeln begrenzt ist.18 Eine einheitliche, verbindliche oder konsensuelle Selbstbeschreibung von Gesellschaft scheint somit unmöglich zu sein, Gesellschaft als reale Einheit, Kollektivbegriff oder umfassende Sozialordnung existiert somit nicht.19 Im Begriff Mediengesellschaft laufen, wie in allen anderen auch, verschiedene Merkmale anderer Selbstbeschreibungsmodelle zusammen, so z.B. Information, Kommunikation, Masse, Wissen oder Erleben, und erhalten durch die jeweils spezifische Hinsicht und Verwendung in der dominanten Selbstbeschreibung eine im Vergleich zur ursprünglichen Verwendung differente Bedeutung. Wie beeinflussen Selbstbeschreibungen die gesellschaftliche Wirklichkeit? Der Einfluss von Selbstbeschreibungen auf das Denken und Handeln der Gesellschaftsmitglieder darf nicht unterschätzt werden. Sprache, als zentraler Aspekt objektiver Kultur, kommuniziert Sinn- und Orientierungswissen, gespeist aus einer Welt, was über sie gewusst, gedacht und gesagt werden kann, auch wenn die konstitutive Rolle der Medien in diesem Zusammenhang ebenso wenig unterschätzt werden darf. reichbar, aber immer erstrebenswert. Dass die Suche nicht zum Ende kommen kann, ist kein Grund zum Pessimismus [Hervorhebung im Original – MSK].« 18 Entsprechend hebt Schulze (1996: 53) die prinzipielle Begrenztheit soziologischer Erkenntnis hervor: »Es gibt keine langfristigen sicheren soziologischen Erkenntnisse. Die Soziologie bewegt sich von Gegenwartsdiagnose zu Gegenwartsdiagnose.« Eine verwandte Einschätzung über die Reichweite und Bedeutung soziologischer Forschung formulierte Bourdieu (1993: 91) bereits 1977: »Wenn man als Soziologe überhaupt etwas zu geben hat, dann sicher eher Rüstzeug als Lektionen.« 19 Diese Perspektive übersieht, dass Gesellschaft als Ganzes in ihrer gegenwärtigen Aktualität und historischen Entwicklung prinzipiell beschrieben bzw. idealtypisch (re-)konstruiert werden kann. Das Gerüst bzw. den Rahmen hierfür liefern etwa das Rechts-, Bildungs-, Wert- oder Normsystem, die praktizierten Religionsformen, die Klassiker der Literatur, Kunst, große Persönlichkeiten, die die Tugenden einer Gesellschaft widerspiegeln u.v.a.m. Andererseits nimmt diese Aussage für sich Gültigkeit bzw. Verbindlichkeit in Anspruch. Das dieses erkenntnislogische Problem nicht überwunden werden kann, dennoch kein substanzielles Problem für die Konzeption einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion darstellt, wird im folgenden Methoden-Kapitel aufgezeigt.

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Sprache modelliert v.a. die subjektive Kultur, indem sie individuelle Identität, also Welten konstituiert, die wir leben und in denen wir existieren. Gesellschaftliche Kommunikation ist die Wirklichkeit des Individuellen und Sozialen, deren Formeln wir permanent benutzen, ebenso wie wir als Mitglieder der Gesellschaft sie produzieren und ständig reproduzieren: »Weil Sprache die Menschen macht, die sie sprechen, fühlen wir uns in diesen Formeln durchaus geborgen«, betont Bolz (2002: 19) ebenso zu Recht, wie schon Wittgenstein (1995a: 67) auf die Grenzen unserer Sprache hingewiesen hat, die die Grenzen unserer Welt seien. Sprache erzeugt also nicht nur das Wissen von der Gesellschaft bzw. der uns umgebenden Welt, sondern auch das Bewusstsein von uns selbst. Die Welt wird durch die Sprache ausgemessen, ihre Grenzen sind logisch aussprechbar, aber letztlich nicht überwindbar. Auch die Bereiche des NichtDiskursiven, etwa Gefühle, Stimmungen, gestimmte Befindlichkeiten oder ästhetische Erfahrungen, werden stets diskursiv, also sprachlich, zu beschreiben und zu erklären versucht – auch wenn es sich nur um den Hinweis der Unerklärbarkeit, Unaussprechbarkeit oder Unbezeichenbarkeit dieses Nicht-Diskursiven handelt. Andererseits sind die Grenzen der Sprache insofern dehnbar, als etwa durch Sprachneuschöpfungen, wie z.B. in der Literatur oder der Wissenschaft, die Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeiten von Wirklichkeit ausdifferenziert, aber nicht überschritten werden können.20 Diese Überlegungen müssen durch eine weitere These Wittgensteins (1995b: 301), die in der Formulierung zum Ausdruck kommt, dass sich »der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache« Beulen geholt habe, ergänzt werden. Die Grenzen der Sprache sind, wie zuvor betont, nicht überschreitbar und stellen daher keine Verbindung zu einem Außen dar. Die Grenzen der Sprache sind widerständig und lassen Versuche des Überschreitens abprallen. Dieses Abprallen verursacht nicht nur Beulen, sondern es lenkt die Überschreitungsversuche auch um und zwar zur erneuten Auseinandersetzung mit dem Begrenzenden selbst, also der Sprache, ihrer Logik und ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Diese zweite These Wittgensteins verdeutlicht das konstitutive Problem, mit dem jede Versprachlichung bzw. Diskursivierung von Medienanalysen konfrontiert ist. Das (wissenschaftliche) Erklären von Medien, auch und gerade das von so genannten Neuen Medien, wie dem Computer oder Internet, ist sprachbasiert, also medial fremdbestimmt. Dadurch bleiben diese Erklärungen auf die Sinn- und Bedeutungshorizonte der (jeweiligen) Sprache verwiesen und sind letztlich immer abhängig von den Möglichkeiten, d.h. Begrenzungen, der (jeweiligen) Sprache selbst. Die (jeweilige) spezifische Medialität und Eigenlogik eines Mediums, 20 Vgl. zur Bedeutung der Sprache für die in dieser Studie entworfene gesellschaftskritische Medientheorie weiterhin v.a. das Methoden-Kapitel und Kap. 1.3

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wie z.B. des Radios, der Zeitung oder des Fernsehens, kann letztlich nicht autonom beschrieben werden und muss daher auf Hilfskonstruktionen, d.h. Metaphern und Modelle, zurückgreifen. Wenn Mediengesellschaft als Modell bzw. Metapher zur Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft verwendet wird, d.h. als heuristische Integration einer Vielzahl von Einzelaspekten in einen Gesamtzusammenhang und sinnbildliche Versprachlichung, muss einerseits gefragt werden, wie sich die Wirklichkeit des Medialen in unserer Gesellschaft gestaltet und andererseits, wie die mediale Wirklichkeit die Wirklichkeit des Sozialen konstituiert. Weiterhin, wie die soziale Konstruktion von Wirklichkeit die mediale Wirklichkeit beeinflusst (vgl. Kap. 1., Kap. 2.)? Mit dem Modell bzw. der Metapher Mediengesellschaft wird eine der wichtigsten historischen wie aktuellen Bedingungen unserer Gesellschaft betont: Die bedeutsame Rolle, die Medien für die gesellschaftliche wie für die individuelle Entwicklung jedes einzelnen Menschen gespielt haben und spielen. Der Terminus Mediengesellschaft soll also darauf verweisen, dass »wir inzwischen längst in einer medienbestimmten oder zumindest von Medien mitbestimmten Gesellschaft leben« (Schmidt 2000: 70). Alle sozialen Einrichtungen sind direkt oder indirekt von ihren Informationsleistungen abhängig, alle Bereiche sozialen Lebens sind ihren Einflüssen ausgesetzt. Unser Alltag ist ohne TV, Telefon und Radio (und für immer mehr Menschen auch ohne PC, Internet, Email, Walkman, MP3-Player, Fax, Video, DVD und Mobilfunk) nicht mehr denkbar. Medien prägen politische, wirtschaftliche und soziale Prozesse, beeinflussen die öffentliche Meinung und unser Welt-Bild. Wenn sie für menschliches Leben auch nicht unverzichtbar sind, ihre Allgegenwart lässt keinen Zweifel an den Funktionen für die Gegenwartsgesellschaft und der Bedeutung für deren Mitglieder. Es fällt entsprechend schon kaum mehr auf, dass in unserer (westlichen) Gesellschaft häufig nur noch das als wirklich gilt, was medial produziert und reproduziert wird. »Massenmedien sind«, wie Bolz (1999a: 53) betont, »die Wirklichkeitsindustrie moderner Gesellschaften.« Das Überangebot in der Medienlandschaft führt gleichzeitig dazu, dass man in einer Welt der Reizüberflutung, Attraktionen, Bilder und Informationen zu ertrinken droht. Die These liegt daher nahe, dass sich unsere Gesellschaft auf dem Weg in eine Telekratie befindet. Medienherrschaft bedeutet, wie Rupp und Gourd (1997: 7) betonen, »Bestimmung, Konditionierung der Einzelnen durch die Medieninhalte, durch die Medienapparate und durch die das Geschehen bestimmenden Interessen, unter anderem ökonomischer Art.« Müssen die Medien deshalb als vierte Gewalt neben den drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative angesehen und, entsprechend den Grundprinzipien des liberalen Verfassungsstaates, kontrolliert werden (vgl. u.a. von Graevenitz/Köcher/Rüthers 1999)?21 Und endlich: Impliziert der Begriff Mediengesellschaft, 21 Der Diskussion des Themas Medien und Macht widmet sich diese Studie nicht,

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dass es die derzeitige Gesellschaftsformation vielleicht ohne die Medien gar nicht gäbe? Es stellt sich daher die Frage, ob Medien die Wirklichkeit abbilden oder ob sie Wirklichkeit(en) herstellen (vgl. Kap. 2.4)? Informieren Medien objektiv oder inszenieren sie durch Auswahl und Präsentationsformen gerade das, was für wirklich gehalten wird, obwohl es weder selbst erfahren noch überprüft wurde (vgl. Kap. 2.2, 2.4)? Wie kann man, abgesehen von rechtlichen Rahmenbedingungen, Maßstäbe zur Kontrolle und Kritik medialer Wirklichkeitskonstruktionen festlegen (vgl. Kap. 3.)? Wie können Medienwirklichkeiten sowie Mediennutzungswirklichkeiten alternativ gestaltet, also kontextspezifisch verändert werden (vgl. Kap. 4.). Durch den zuvor beschriebenen fundamentalen Einfluss der Medien auf das soziale Leben und auf das, was für wirklich gehalten wird, muss gefragt werden, ob die soziale Konstruktion von Wirklichkeit zunächst und zumeist eine mediale Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist. Die Analyse der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit wird sich in dieser Studie weder in einem banalen Kulturpessimismus oder einer anachronistischen Medienkritik, noch in einer euphorisierenden Sichtweise erschöpfen. Sie muss vielmehr von der anthropologischen Konstante der Dialektik von Mensch und Gesellschaft, des Menschen als Produzent und als Produkt der Gesellschaft sowie der Medien ausgehen (vgl. Kap. 1.3) und den Doppelcharakter der Medien gleichermaßen als Chance und Gefahr für die soziale und individuelle Wirklichkeit, in den Blick nehmen. Darüber hinaus sollen Sozial- und Medienwissenschaften22 in einen Dialog gebracht sowie dadurch neue Perspektiven für eine transdisziplinäre Erforschung von Gesellschaft, Kultur und Medien eröffnet werden. Grundlegend ist hierfür in dieser Studie die Konzeption einer gesellschaftskritischen Medientheorie23 bzw. von Gesellschaftstheorie als Medienkritik. Gesellschaftskritische Medientheorien thematisieren allgemein die sozialen Funktionen und Gebrauchsweisen von Medien, die Wirkungen der verschiedenen Medientypen und Medieninhalte auf Gesellschaft und Individuum, die Rolle der Medien in der Sozialisation des weil es einer gesellschaftskritischen Medientheorie eher um eine Kritik der (Medien-)Macht geht. Generell werden in dieser Studie nur Themen diskutiert, zu denen gesellschaftskritische Medientheorien einen genuinen Beitrag leisten können, um sich somit als eigenständiges Feld wissenschaftlicher Medienforschung zu konstituieren. Dementsprechend werden zahlreiche Felder, die im Kontext der Frage nach der medialen Konstruktion von Wirklichkeit im Allgemeinen relevant wären, wie z.B. die Themen Medien und Kultur, Medien und Theatralität oder Medien und Wirtschaft, nicht behandelt. 22 In dieser Studie geht es nicht nur um soziologische, sondern auch um politikwissenschaftliche Themen (vgl. v.a. Kap. 3.3). Daher wird nicht von einem soziologischen und medienwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern von einem sozial- und medienwissenschaftlichem gesprochen. 23 Vgl. zum Überblick über die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien Kap. 3.2

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Individuums und in der Ausbildung kollektiver Identitäten sowie die Fähigkeit der Medien zur ideologischen Beeinflussung und zur Manipulation von Konsumentscheidungen sowie sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Leitend für diese gesellschaftskritische Medientheorie sind hierbei zwei Prämissen: Einerseits wird Medienanalyse als Gesellschaftsanalyse begriffen und andererseits Medienkritik als Gesellschaftskritik begründet. Medien und Gesellschaft sind ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht. Die Medien haben gesellschaftliche Grundlagen, die Gesellschaft mediale. Medientheorie ist daher Bestandteil einer Sozialtheorie, Medienkritik Bestandteil einer kritischen Theorie der Gesellschaft.24 Den apparativen und technologischen Dispositiven von Medien als Kulturtechnik, der Medialität der Medien, widmen sich gesellschaftskritische Medientheorien hingegen kaum – dies steht im Zentrum einer nachrichtentechnisch informierten Medienwissenschaft (vgl. Kap. 3.4). Aus dem Vorausgehenden ergibt sich folgendes Erkenntnisinteresse und folgender Aufbau der vorliegenden Studie: Beabsichtigt ist, eine gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie25 zu entwerfen, die sich nicht als Vollendung oder aktueller Höhepunkt der Traditionslinie gesellschaftskritischer Medientheorien in ihren vielfältigen Erscheinungsformen versteht. Insofern behandelt sie auch nicht alle der zuvor aufgeführten Analyseebenen, die für den Diskurs gesellschaftskritischer Medientheorien relevant sind. Die gesellschafts- und kulturbestimmenden Medien sind für die hier entworfene gesellschaftskritische Medientheorie wesentlich die Presse und das Fernsehen, bedingt auch das Internet (vgl. Kap. 4.2). Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen alternativen sozial- und medientheoretischen sowie -kritischen Ansatz im Feld der Auseinandersetzung mit dem Diskurs zur medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit, wie er bisher im Feld sozial- und medienwissenschaftlicher (Medien-)Forschung geführt wurde, zu präsentieren. Um diesem Ansatz ein spezifisches theoretisches Fundament zu geben, wird mit einer methodisch-methodologischen Grundlegung der zu entwerfenden gesellschaftskritischen Medientheorie begonnen. Im Anschluss daran werden die vier Leitthemen einer gesellschaftskritischen Medientheorie, wie sie in dieser Studie konzipiert wird, dargestellt: Medienkonstruktivismus, Medienkritik, Medienkompetenz und Medien-Heterotopien. Zunächst werden die Themen soziale und mediale Konstruktion von Wirklichkeit allgemeintheoretisch diskutiert, um ausgehend davon hervorzuheben, was eine gesellschaftskritische Medientheorie unter sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit im Speziellen versteht und wor24 Diese Auseinandersetzung mit den Medien wird u.a. als Alternative zu systemtheoretischen Medienanalysen, zu konstruktivistischen Medientheorien, der Medienforschung der Cultural Studies und empirischer Medien- und Kommunikationsforschung verstanden. 25 Zur studienspezifischen Verwendung des Begriffs der Heterotopie vgl. die Einleitung zu Kap. 5.

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in sich beide unterscheiden (Kap. 1.). Ausgehend hiervon wird das spezifische Erkenntnisinteresse einer gesellschaftskritischen Medientheorie an der medialen Konstruktion von Wirklichkeit skizziert – und zwar im Spannungsfeld der Themen Öffentlichkeit, Unterhaltung und Manipulation (Kap. 2.). Begonnen wird dieses Kapitel mit einer studienspezifischen Definition des Medienbegriffs. In den ersten beiden Kapiteln soll insgesamt eine (allgemeintheoretische sowie theoriespezifische) Grundlage geschaffen werden, von der aus die Themen Medienkritik (Kap. 3.), Medienkompetenz und Medien-Heterotopien (Kap. 4.) diskutiert werden können. Dem Leser wird in dieser Studie kein Ariadnefaden an die Hand gegeben, der aus dem Labyrinth der Medien herausführt oder ihm eine definitive, a-historische Theorie zum Verstehen der und zur Kritik an den Medien anbietet. Vielmehr geht es darum, möglichst vielfältige Einblicke in die Architektur des medialen Universums sowie dem Interdependenzgeflecht von sozialer und medialer Wirklichkeitskonstruktion zu vermitteln – und zwar, dies begrenzt die Vielfalt der Einblicke, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie. Damit sollen die Grundlagen für eine pragmatisch orientierte und transdisziplinär angelegte gesellschaftskritische Medientheorie der Mediengesellschaft geschaffen werden, die versucht, einerseits die Ausbildung einer reinen Begriffswüste, auf der anderen Seite die Ausbildung einer von jeder Theorie verlassenen Empirie zu verhindern sowie kontextrelative Maßstäbe zur Kritik der Medien zu formulieren. Eine so verstandene transdisziplinäre Medientheorie und Medienkritik versucht, zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln und zielt darauf, praktische Erkenntnis bzw. praktisch verwendbares Wissen zu sein, ohne sich dabei als Leitfaden, Handbuch oder direkt implementierbare Sozialtechnologie zu verstehen. Vielmehr sollen gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit der Wirklichkeit des Sozialen und des Medialen diskutiert werden.

ZUR METHODE: DER W IDERSTAND GEGEN DIE THEORIE. THEORIEFIKTION ANSTATT W A H R H E I T S H E R ME N E U T I K »Der Augenblick ist gekommen, um den Terror der Theorie zu unterbrechen. Für einen längeren Augenblick werden wir alle Hände voll zu tun haben. Der Wunsch nach Wahrem, allerorts ein Nährboden für den Terrorismus, schreibt sich in den unkontrolliertesten Gebrauch unserer Sprache ein, sosehr, dass jeder Diskurs seine Intention, das Wahre zu sagen, in einer Art unabänderlicher Vulgarität zu entfalten scheint« (Lyotard 1979: 73).

Dieser Augenblick, den Lyotard 1977 gekommen sah, um das traditionelle Verständnis von Theorie und wissenschaftlicher Wahrheitshermeneutik1 grundlegend zu verändern, hält bis heute an. Postmoderne und Poststrukturalismus sind die Label, mit denen diese Kritikbewegung bezeichnet wird.2 Als Autoren, die mit diesen Begriffen in Verbindung ge1

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Vielfach wird die Entdeckung von Wahrheiten zu den Zielen von Wissenschaft gezählt und behauptet, dass Wissenschaft als Ganzes durch den Gegensatz wahr/unwahr strukturiert werde (vgl. u.a. Luhmann 1990: 577f.). Wenn von Wahrheit gesprochen wird, muss eigentlich erst geklärt werden, welchen Wahrheitsbegriff man zugrunde legt, denn die Frage nach der Wahrheit wird heute nicht mehr in einem einheitlichen Sinn beantwortet. Im Folgenden stelle ich daher zunächst den spezifischen Wahrheitsbegriff dieser Studie vor sowie das leitende Wissenschafts-, Methoden und Theorieverständnis. Diese Begriffsarbeit ist eine grundlagentheoretische Bestimmung dessen, was ich als Theoriefiktion bezeichne, also der wissenschaftlichen Form und Ausrichtung dieser Studie. Die folgende Darstellung ist umfangreich, weil Theoriefiktionen einerseits noch nicht zum wissenschaftstheoretischen Kanon gehören und deren methodisch-methodologische Implikationen daher so transparent wie möglich dargestellt werden sollen. Andererseits wird die Vielschichtigkeit und diskursive Komplexität sowie Vernetztheit der hier entworfenen Theoriefiktion veranschaulicht. Eine allgemeine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen bzw. eine möglichst präzise, zumindest aber heuristische Begriffsdefinition kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Vielmehr werde ich im Folgenden das für diese Studie erkenntnisleitende Programm der Kritik am traditionellen Theorieverständnis skizzieren, das für die Autoren, die diesen Begriffen zugeordnet werden, kennzeichnend ist. Einschlägige Diskussionen dieser Begriffe, zumindest für die Bereiche, auf die sich mein Erkenntnisinteresse fokussiert, also Soziologie, Philosophie und Medientheorie, finden sich auf allgemeiner und philosophischer Ebene u.a. in Frank

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ZUR METHODE

bracht werden und für das Theorieverständnis dieser Studie von konstitutiver Bedeutung sind, können Michel Foucault, Gilles Deleuze, JeanFrancois Lyotard und Jean Baudrillard genannt werden. Gemeinsam ist diesen Autoren ihr Widerstand gegen die Theorie3. Hiermit sind das Nichtfesthalten an einem unbedingten Wahrheitsanspruch und damit an wahren Aussagen mit absolutem, universalem bzw. objektivem Geltungsanspruch sowie die Zurückweisung der traditionellen Ansprüche an wissenschaftliche Theoriebildung verbunden.4 Wahrheitsspiele

Foucault5 (1978a: 51) fasst diesen Ansatz prägnant zusammen: »Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.«6 Dieses relativistische Wahrheitsverständnis, das unter Wahrheit den (jeweils historischen) Effekt eines Diskurses7

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(1984), Habermas (1988), Tepe (1992), Welsch (1994, 1997), Dosse (1996, 1997) und Münker/Roesler (2000); für den Bereich Soziologie etwa in Bauman (1988, 1995), Lash (1990, 1991), Vester (1993), Dickens/Fontana (1994), Smart (1996), Bogard (1998), Wenzel (2000) und Stäheli (2000); für die Medientheorie z.B. in Weisenbacher (1995), Venus (1997), Leschke (2003a: 237-297) und Pias (2003). Diese Formulierung stammt von Paul de Man (1986). Der Versuch einer grundlegenden Umwertung des Wahrheitsbegriffs findet ihr historisches Vorbild wesentlich im Denken von Friedrich Nietzsche – für Baudrillard gilt dies allerdings nur sehr bedingt. Abgesehen von Nietzsche-Interpretationen dieser Autoren, kann auf einige Studien verwiesen werden, in denen ihre Auseinandersetzung mit Nietzsche diskutiert wird: u.a. Lange (1989), Mahon (1992), Geiss (1993), Lash (1994), Olkowski (1994), Schrift (1996) und Rehmann (2004). Das folgende Referat der Positionen von Foucault ist strikt auf das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels fokussiert und intendiert nicht, die angesprochenen Themen in der spezifischen Komplexität zu diskutieren, die eine werkimmanente und sachadäquate Auseinandersetzung mit Foucault erfordern würde. Foucault (1978a: 53) versteht unter Wahrheit nicht »›das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‹ […], sondern ›das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird‹«. Wahrheit wird hier als eine mögliche, nicht notwendige Eigenschaft von Aussagen, nicht als wahres Wesen hinter den Erscheinungen verstanden, und stellt somit keine Korrespondenzbeziehung zwischen einem Erkenntnissubjekt und einem Realobjekt dar. Unter Diskurs verstehe ich, im Anschluss an Foucault (1997b: 156), »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Funktionssystem zugehören.« Sprachli-

DER WIDERSTAND GEGEN DIE THEORIE

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oder einer sozial-kulturellen Praxis versteht (vgl. Foucault 1997d: 47, 12f.), läuft darauf hinaus, die Frage nach den Bedingungen für die Möglichkeit und Legitimität von wissenschaftlichen Aussagen anstatt durch den Rekurs auf etwas Unbedingtes, z.B. die eine Vernunft oder die absolute Subjektivität, durch eine »Art historische[s] Apriori« zu beantworten: »Dieses Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird« (Foucault 1997a: 204; Foucault 1997b: 183-190). Die Formen und Gestalten dessen, was zu einer bestimmten Zeit, in einer konkreten sozialkulturellen Situation, als (wissenschaftlich) wahr, d.h. als einzig möglich oder wirklich, gilt, ist aus dieser Perspektive etwas, das sich konstituiert8 und innerhalb gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie9 wirksam wird. Kögler (1994: 96) betont daher, dass Foucault »die Konstitution der Erkenntnisperspektive in eins mit der gesellschaftlichen Erzeugung des Erkenntnisobjekts setzt.« Der Sinn dieses diskursiven Konstitutionsgeschehens von Wahrheit ist zugleich historisch und offen. Er übersteigt stets die verbindliche Bedeutung, die einer Wahrheit jeweils wissentlich oder offiziell zugewiesen wird. Wahrheit muss historisch im Plural, als Vielheit möglicher Wahrheiten, verstanden werden. Wissenschaftliche Wahrheiten können dementsprechend als Wahrheitseffekte verschiedener, sich überschneidender, ergänzender, weiter-

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che Formulierungen können als Aussagen bezeichnet werden, wenn sie das Resultat einer bestimmten diskursiven Praxis sind. »Eine diskursive Praxis ist [...] ein Ensemble von ›Regeln‹, die einen Diskurs als endliche Menge tatsächlich formulierter sprachlicher Sequenzen möglich machen. Diese Regeln bestimmen die ›Formation‹ (= Anordnung) der Gegenstände, die in einem Diskurs zur Sprache kommen, der Subjektpositionen, die in ihm eingenommen werden können, der Begriffe, die in ihm verwendet werden und der Theorien bzw. ›Strategien‹, die ihn prägen« (Kammler 1997: 39). Die Gegenstände von Diskursen sind somit nicht prädiskursiv vorhanden, sondern werden kategorial durch Aussagen hervorgebracht. Der Sinn von Aussagen kann sich also je nach dem diskursiven, dem gesellschaftlich-politischen, kulturellen und historischen Kontext ändern. Den konstruktiven Charakter von Wahrheit(en) hebt auch Deleuze (1993: 182) hervor: Die »Idee, dass die Wahrheit nicht etwas ist, das schon da ist, dass sie nicht zu entdecken, sondern auf jedem Gebiete erst zu schaffen ist, ist evident, zum Beispiel in den Wissenschaften.« Mit einem instruktiven Beispiel von Bublitz (2003: 29f.) kann dieser Aspekt veranschaulicht werden: »So bezeichnen Begriffe, wie ›Mann‹ oder ›Frau‹, ›Hetero-‹ oder ›Homosexuelle‹, ›Ausländer‹, ›Asylant‹ oder ›Fremde‹ nicht etwas Reales, eine gegebene, vordiskursive Wirklichkeit, etwas, das in Wirklichkeit vorkommt und sprachlich abgebildet wird, sondern sie konstruieren erst das, was sie benennen, nämlich geschichtlich konnotierte Subjekte, Bevölkerungsgruppen, die qua Bezeichnung stigmatisiert und ausgegrenzt werden, Individuen als semantische Komplexe, die durch eine klassifikatorische gesellschaftliche Praxis gegeneinander abgegrenzt und in eine Gesamtpopulation eingeordnet werden.«

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entwickelnder oder kritisierender Diskurse, d.h. als Resultate diskursiver Praxen verstanden werden, die von einem »Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt« (Foucault 1997c: 14), angetrieben werden. Kögler (1994: 84) bezeichnet Foucaults Rede vom Willen zur Wahrheit als »eine Erschließungskategorie [...], durch die sich die scheinbar in Argumenten und Evidenzen begründeten Überzeugungen und ›Wahrheiten‹ allererst als institutionelle und symbolische Gewaltakte zu erkennen geben.« Wissenschaftliche Praxis, v.a. Wahrheitshermeneutik und Theorieproduktion, erscheint in dieser Hinsicht als machtvolle Konstruktionsarbeit und »ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses« (Foucault 1997c: 25). Diskurse definieren hierbei den Bereich des Wahren, bringen gesellschaftlich wirkungsmächtiges Wissen hervor und besitzen spezifische, allerdings zeitbedingte, Wahrheitswerte. Die Definitionsmacht von Diskursen ist somit permanent umkämpft, »Macht, der man sich zu bemächtigen sucht« (ebd.: 11). Das historische Konstitutionsgeschehen von (wissenschaftlichen) Wahrheiten, ihre Produktionen, werden stets durch spezifische Ordnungen und Politiken der Macht10, die die Spielregeln für das, was gesagt werden kann, festlegen, also die möglichen Denk- und Aussageformen einer Gesellschaft, kontrolliert, organisiert und reguliert. Diese Ordnungen und Politiken der Macht akzeptieren bestimmte Diskurse als wahre und verwerfen andere als falsch, sie entwickeln Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung und Kriterien, die die Einordnung von Diskursen als wahr oder falsch erlauben und stellen dadurch eine spezifische Ordnung der Dinge bzw. des Diskurses her. Wahrheit ist somit stets eine Dimension von Macht11, ein System spezifischer (diskursiver) Zwänge 10 Zum Thema Foucault und Macht vgl. ausführlich u.a. Fink-Eitel (1980); Fraser (1989); Dreyfus/Rabinow (1994: 216-237); Rouse (1994); Schäfer (1995); Seier (2001); Lemke (2001); Bührmann (2001); Brieler (2001). Unter Macht versteht Foucault prinzipiell ein Netz von Machtbeziehungen, Machtwirkungen, Machtausübungen, sozialen Praktiken, ungleichen und beweglichen Kräfteverhältnissen (vgl. Foucault 1998: 113, 114, 115; Foucault 1978d: 126). Macht ist für Foucault also kein »Besitztum in den Händen einzelner [individueller oder kollektiver – MSK] Akteure […]. Macht ist zugleich eine soziale Beziehung, in der die Akteure sich vorfinden und die sich zu gewissen ›Systemen‹ kristallisiert hat, und die instabile und umkehrbare Beziehung zwischen den Subjekten als Handlungssubjekten selbst. […] Statt also eine gewisse Institution [etwa den Staat – MSK] […] als zentralen Ursprungsort der Macht, als ihre ›Ausübungszentrale‹ zu begreifen, sollte der pervasive Charakter der Macht, also die gesamte lebensweltliche und institutionelle Praxis der Gesellschaft als von Machtverhältnissen durchsetzt thematisiert werden« (Kögler 1994: 93f.). Im Kontext meiner Überlegungen sind nur die Machtwirkungen eines als wissenschaftlich angesehenen Diskurses relevant, »die mit der Institution und dem Funktionieren eines wissenschaftlichen Diskurses verbunden sind, wie er in einer Gesellschaft wie der unsrigen organisiert ist« (Foucault 1978b: 63). 11 Dies stimmt mit Nietzsches (1988c: 146) Behauptung überein, dass der Wille zur Wahrheit eine Funktion des Willens zur Macht ist: »›Wille zur Wahrheit‹ heißt ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar

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und Reglementierungspraktiken, die gewährleisten, dass nicht jeder zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort und mit jeder Aussage, z.B. mit einer Theorie, einer Stellungnahme oder einem Artikel, Zugang zum (offiziellen, legitimen, herrschenden) Diskurs haben kann: »[D]ie Wahrheit ist um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und die Institutionen, die ihn produzieren, zentriert; sie ist ständig ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt (Wahrheitsbedürfnis sowohl der ökonomischen Produktion als auch der politischen Macht); sie unterliegt in den verschiedensten Formen enormer Verbreitung und Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- und Informationsapparaten, die sich trotz einiger strenger Einschränkungen relativ weit über den sozialen Körper ausdehnen); sie wird unter der zwar nicht ausschließlichen, aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer und ökonomischer Apparate (Universität, Armee, Presse, Massenmedien) produziert und verteilt; schließlich ist sie Einsatz zahlreicher politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Konfrontationen (›ideologischer Kämpfe‹)« (Foucault 1978a: 52ff.; vgl. Foucault 1997c: 11ff.).12 Wie könnte dieses streng reglementierte System der Produktion von (wissenschaftlichen) Wahrheiten suspendiert werden? Das Erfinden neuer Regeln und Methoden zur (wissenschaftlichen) Analyse und Konstruktion sozialer Wirklichkeit müsste dabei die (offizielle) Wahrheit mit den Mitteln der (theoriefiktionalen) Wahrheit herausfordern, um damit letztlich das System der Produktion von (offiziellen bzw. legitimen) Wahrheiten selbst zu verändern und andere Perspektiven zu erfinden, die weiter verfolgt, verändert und geprüft werden müssen: »Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht13 – sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist« (Foucault 1978a: 54).14 machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! […] Glatt soll es werden und dem Geiste untertan, als sein Spiegel und Widerbild. Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen [Hervorhebung im Original – MSK].« 12 Das Konstitutionsgeschehen von (wissenschaftlichen) Wahrheiten, deren Regulierungen, Kontrolle und Institutionalisierungen sowie die Ansprüche z.B. auf Universalität oder Objektivität sind das, was Lyotard u.a. als Terror der Theorie bezeichnet. 13 Hiermit wird angedeutet, dass Macht nicht nur repressiv, sondern stets auch produktiv, d.h. praxisgenerierend und subjektkonstitutiv, ist. 14 An anderer Stelle hebt Foucault (1996b: 78) diese prinzipielle Veränderbarkeit historischer Wahrheitsregime als Ausdruck menschlichen Handlungsvermögens hervor: »Wenn Interpretieren hieße, eine im Ursprung versenkte Bedeutung langsam ans Licht zu bringen, so könnte allein die Metaphysik das Werden der Menschheit interpretieren. Wenn aber Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung aufzuzwingen, es einem neuen

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Warum werden Diskurse bzw. die diskursive Produktion von Wahrheit dermaßen reguliert und müssen als permanente Macht-Kämpfe betrachtet werden? Moderne Gesellschaften weisen, so Foucault, Diskursen und den in ihnen produzierten (allgemeinverbindlichen) Wahrheiten, durch die soziale Realität konstituiert wird, große Bedeutung zu. Andererseits betont Foucault (1997c: 33), »dass sich unter dieser offensichtlichen Verehrung des Diskurses, unter dieser offenkundigen Logophilie, eine Angst verbirgt. Es hat den Anschein, dass die Verbote, Schranken, Schwellen und Grenzen die Aufgabe haben, das große Wuchern [also die konstitutive Ereignishaftigkeit – MSK] des Diskurses zumindest teilweise zu bändigen, seinen Reichtum seiner größten Gefahren zu entkleiden und seine Unordnung so zu organisieren, dass das Unkontrollierbarste vermieden wird.« Die Regulierung von Diskursen erfolgt für Foucault (ebd.: 25) durch die Maßstäbe einer »diskursiven ›Polizei‹« (etwa Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft), die darüber entscheidet, ob man im Wahren ist, indem sie das Wahre vom Falschen trennt und über die Einhaltung der Regeln wacht, nach denen diskursive Wahrheiten konstruiert werden. Als gesellschaftliche Strategien, die den Diskurs kontrollieren und regulieren, nennt Foucault innere Prozeduren, d.h. diskursexterne Ausgrenzungsmechanismen im Kontext sozialer Praktiken, wie z.B. die Unterscheidung zwischen Erlaubtem und Verbotenem, etwa durch Normen und Verhaltensregeln, die den Bereich des Möglichen eingrenzen; die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Als äußere Prozeduren, d.h. diskursinterne Verknappungsregeln, durch die u.a. Erfahrungen oder Möglichkeiten zur Wirklichkeitskonstruktion eingeschränkt werden, nennt Foucault die Prinzipien des Kommentars, des Autors und der Disziplin (vgl. ebd.: 11ff.). Diskurse sind konstitutiv ambivalent und unberechenbar, sie produzieren gleichwohl Ordnung und Unordnung, offizielle und inoffizielle Wahrheiten, Macht und Gegenmacht. Gegendiskurse zur hegemonialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit, sind »im Raum eines wilden Außen« (ebd.: 25), in dem die Normalität und Regelhaftigkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit ständig aufs Neue in Frage gestellt wird, möglich.15 Widerstände gegen die Machtwirkungen von legitimen (allgemeinverbindlichen) Diskursen liegen, wie zuvor bereits angedeutet, nicht außerhalb der Macht, sondern bilden vielmehr eine ihrer Bedingungen. Machtverhältnisse können »nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen« (Foucault 1998: 117). Sie definieren nicht »den einen Ort der großen Weigerung«, sondern einWillen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen.« 15 Eine Theoriefiktion stellt eine Variante jenes wilden Außen dar.

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zelne lokale Angriffe. Als solche sind sie »mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt, gelegentlich kristallisieren sie sich dauerhaft in Gruppen oder Individuen […] an« (ebd.). Aus erkenntnistheoretischer Perspektive könnten diese Überlegungen von Foucault mit dem Argument kritisiert werden, dass seine Beschreibung von (wissenschaftlicher) Wahrheit als einem historisch-kulturellsozialen Konstrukt, d.h. als jeweilige Setzung von gesellschaftlichen Gruppen, die zu einer bestimmten Zeit, in einem spezifischen sozialkulturellen Kontext, Diskursmacht besitzen, wie z.B. Wissenschaft, Religion, Politik oder Medien, selbst eine These mit unbedingtem Wahrheitsanspruch sei. Die These von der Perspektivität, Historizität und Konstruiertheit aller Wahrheit, stellt sich somit selbst außerhalb dieses konkreten Konstitutionsgeschehens von (wissenschaftlicher) Wahrheit. Dadurch wird sie einerseits zu einer a-historischen These, die aber zugleich für sich selbst (unbedingten) Wahrheitsanspruch beansprucht, also letztlich einen normativen Relativismus darstellt, dem jede Wahrheit gleich gültig ist, weil Wahrheit allein auf sich selbst und die ihr eigenen Produktionsbedingungen verweist.16 Diese Kritik ist aus formallogischer Sicht zutreffend und kann als unhintergehbare List der Vernunft verstanden werden, d.h. als eine ihrerseits nicht wieder kritisierbare bzw. aufhebbare Feststellung. Ein relativistisches bzw. plurales Wahrheitsverständnis, wie es Foucault vertritt und das für diese Studie leitend ist, behauptet allerdings nicht, dass sich seine eigene Theoriebildung bzw. Argumentation der Frage nach der Wahrheit, also der Legitimation seiner Ausführungen, entzieht. Aus der Pluralisierung von Wahrheit resultiert keine Relativierung der Wahrheitsdimension an sich bzw. die These, dass Wahrheit nicht existiert. Vielmehr wird von der Kontextualität, Historizität, Kontingenz und Konstruiertheit von Wahrheit(en) ausgegangen, deren Legitimität zwar nicht a priori bestritten, denen aber auch keine a-historische Gültigkeit zugesprochen wird. Macherey (1991: 186) betont daher, dass es für Foucault »Wahrheit nur als phänomenale [gibt], ohne Bezug auf ein Rechtsprinzip, das auf die Wirklichkeit der Tatsachen, auf die es angewendet wird, vorgreifen würde.« Über die Gültigkeit von Wahrheiten kann nicht außerhalb ihrer historischen Konstitutionsprozesse entschieden werden, ihre Gültigkeit ist letztlich stets kontingent und relativ, ohne dabei beliebig sein zu müssen. Denn auch kontextuelle Wahrheiten kön16 Problematisch wird Foucaults Problematisierung historischer Wahrheitsregime, wenn es darum geht, konkrete Kritikmaßstäbe an der Konstitution von historischen Wahrheiten zu entwickeln, deren Kriterien sich nicht jeweils nur im Kontext einer bestimmten Gesellschaft generieren und sich damit einem allgemeineren Beurteilungsmaßstab jenseits ihrer konkreten historischen Existenz sowie ihrer Konstitutions- und Regulierungsbedingungen entziehen. Weiterhin werden in den Untersuchungen von Foucault keine konkreten Praxisfelder vorgeschlagen, in denen sich die Produktion von Diskursen anders (gerechter oder freier) gestalten könnte. Die Frage, warum Foucault diese beiden Ebenen bewusst ausblendet, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.

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nen, wenn auch nur zeitbedingt und relativ im Hinblick auf andere mögliche Wahrheiten, die gleichberechtigt nebeneinander möglich sind, zu wahren Erkenntnissen über den Untersuchungsgegenstand führen bzw. Wahrheiten produzieren, die sich den offiziellen Wahrheiten entziehen und somit andere Wirklichkeits- bzw. Wahrheitswelten ermöglichen. Die Maßstäbe zur Beurteilung des Wahrheitswertes von Studien, die sich einem solchen Wahrheitsverständnis verschreiben, können einerseits nur innerhalb dieser Studien liegen17 und andererseits an ihren Untersuchungsgegenständen überprüft werden. Das von Foucault postulierte Wahrheitsverständnis bringt Nietzsche (1988a: 880ff.) exemplarisch zum Ausdruck. Unter Wahrheit versteht Nietzsche wesentlich den Gebrauch und die Konstruktion einer Vielzahl von usuellen Metaphern, die in einem anthropologischen »Trieb zur Wahrheit«18 gründen.19 Wahrheit als Metapher zu beschreiben heißt aber auch, dass die Bestimmung von Wahrheit nicht durch ihr Verhältnis zur Sache, sondern durch das Verhältnis der Metaphern untereinander gewonnen wird20, Wahrheit also letztlich als willkürliche Konstruktionen bzw. kontingente menschliche Machenschaften darstellt: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]. […] Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ›Wahrheit‹ innerhalb des Vernunft-Bezirkes. Wenn ich die Definition des Säugethiers mache und 17 So könnte z.B. auf die Homogenität und logische Stringenz der Argumentation, die Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen an Hand der ausgesuchten Untersuchungsgegenstände, also die prinzipielle Empiriefähigkeit des Praxisentwurfs, die Originalität der Kartographie der Untersuchungsgegenstände oder den Phantasiereichtum der Analyse geachtet werden. Andererseits müssen Theoriefiktionen, auch wenn sie als Monographien angelegt sind, nicht mehr als geschlossene Werke verstanden, sondern können als Werkzeugkisten betrachtet werden, aus denen sich der Leser jeweils das nehmen kann, was ihn interessiert, z.B. einzelne Kapitel, Fragestellungen oder konkrete Beispiele, ohne dabei auf den Gesamtkontext achten zu müssen. 18 Nietzsches Kritik am Willen zur Macht kann hierbei als konstitutiver Bezugspunkt für das angesehen werden, was Lyotard unter dem Terror der Theorie versteht (vgl. u.a. Nietzsche 1988b: 574ff. [§ 344]). 19 Nietzsche (vgl. u.a. 1988a: 886ff.) beschreibt nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit, sondern auch das zur Welt, als ein metaphorisches (vgl. zur Medienphilosophie von Nietzsche Fietz 1997). 20 Für die Erforschung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit bedeutet dies, dass es sich hierbei zunächst und zumeist um die Auseinandersetzung mit Medien-Diskursen handelt, weil diese maßgeblich das Verständnis dessen, was als Medien verstanden wird, präformieren.

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dann erkläre, nach Besichtigung eines Kameels: Siehe, eine Säugethier, so wird damit eine Wahrheit zwar an das Licht gebracht, aber sie ist von begränztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthäldt keinen einzigen Punct, der ›wahr an sich‹, wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre« (ebd.).

Diese Einsicht in die Wahrheit als Metapher versteht sich selbst als Metapher. Das Entscheidende hierbei ist, dass Nietzsche sich für die Wahrheit strikt in einem außermoralischen Sinne interessiert, d.h. in einem Sinne, der diese Wahrheit nicht in Anspruch nimmt, um aus ihr Positionen der Positivwertung der eigenen Auffassung und Negativwertung anderer Auf-fassungen zu gewinnen. Dieses außermoralische Verständnis von Wahrheit läuft auf einen pragmatischen Sinn von Wahrheit hinaus, der sich fragt, wie man zu bestimmten Wahrheiten kommt und was man aus ihnen und mit ihnen macht, der letztlich also nicht an die Erkennbarkeit und Beherrschbarkeit der Wirklichkeit, die für die wissenschaftliche Einstellung charakteristisch ist, glaubt. Dieses Erkenntnisinteresse findet sich auch bei Foucault wieder, dem es nicht darum geht, welche Bedeutungen Wahrheiten haben, sondern auf welche Weise sie konstituiert werden und welche heterogenen Praktiken sie bündeln (vgl. hierzu weiterführend Schneider 2000; Seitter 2001). Aus der Wissenschaft wird in dieser Perspektive letztlich ein narratives Genre, wissenschaftliche Studien sind dementsprechend keine traditionellen Wahrheits- oder BeweisBücher (vgl. Foucault 1997d: 34) mehr, sondern Science-und-FictionBücher. Medientheorie und Medienwissenschaft

Nicht nur bei den zuvor genannten Autoren aus dem Umfeld von Postmoderne und Poststrukturalismus, sondern auch im Feld21 der Medientheorie, findet sich diese Kritik an wissenschaftlicher Theoriebildung und Wahrheitshermeneutik. In einem Playboy-Interview mit dem Titel Geschlechtsorgan der Maschinen aus dem Jahr 1969, antwortet etwa Herbert Marshall McLuhan (2001: 169f.) auf die Frage, was er eigentlich mache: 21 Den Feld-Begriff verwende ich im Sinne von Bourdieu. In modernen Gesellschaften haben sich relativ eigenständige Handlungsbereiche mit jeweils eigenen Bedingungen, Anforderungen und Funktionen herausgebildet (Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik, Religion etc.). Bourdieu wählt für diese Bereiche den Begriff Feld, um, in Analogie zum physikalischen Kräftefeld, deren besondere Struktur zu veranschaulichen: »Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum –, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein« (Bourdieu 1998: 57).

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»Ich begebe mich auf Forschungsreisen, bei denen ich nie weiß, wohin sie mich führen werden. Meine Arbeit ist ganz pragmatisch darauf ausgerichtet, unsere technologische Umwelt und ihre psychischen und sozialen Konsequenzen zu verstehen. Aber meine Bücher zielen eher darauf, den Prozess des Entdeckens offenzulegen, als mit einem fertigen Ergebnis aufzuwarten. Statt meine Ergebnisse traditionsgemäß steril in schön geordnete Versuchsreihen, Kategorien und Schubladen zu stecken, verwende ich sie wie Probebohrungen, um Einblicke in gewisse Dinge zu gewinnen und Strukturen zu erkennen. Ich möchte lieber neue Gebiete abstecken als alte Markierungen auswerten. Aber ich wollte meine Forschung niemals als Offenbarung der Wahrheit verstanden wissen.«22

Ich werde McLuhan in dieser Studie beim Wort nehmen, denn wenn man als Wissenschaftler überhaupt etwas zu geben hat, dann eher Rüstzeug als Lektionen, eher Werkzeugkisten als Fertigbauten, eher Instrumente als Wahrsage-Systeme, die Rezeptwissen bereitstellen, eher Metaphern und Modelle als Definitionen.23 Letztlich einen Markt perspektivischer 22 Die Selbsteinschätzung McLuhans korrespondiert mit einer von Foucault (1997d: 24), wie er sie 1980 in einem Interview äußerte: »Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, ehe ich es zu schreiben begann, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So dass das Buch ebenso mich verändert, wie das, was ich denke. […] Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« 23 Diese Einschätzung des Status wissenschaftlicher Erkenntnis gilt für die Geistes-, Sozial-, Kultur-, Literatur- sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften insgesamt. Bis heute wird die allgemeine wissenschaftstheoretische Bedeutung, die in der Äußerung von McLuhan zum Ausdruck kommt, weitestgehend negativ beurteilt, d.h. als unwissenschaftlich betrachtet, weil Wissenschaft hierdurch auf ein selbstgenügsam bescheidenes Programm beliebigen Assoziierens und Spekulierens hinauszulaufen drohe. Diese Einschätzung hat die Ausarbeitung eines an der Relativierung des Anspruchs strenger Wissenschaftlichkeit orientierten Modells, aus dem ein transdiziplinäres Forschungsdesign hätte entwickelt werden können, bisher behindert. Ein solches Modell hätte als gleichberechtigte Alternative zum wissenschaftstheoretischen Mainstream der einzelnen Fächer, die diesen Disziplinen zugeordnet werden, fungieren können und sich nicht dem in der scientific community allgemeinverbindlichen, aber realiter doch recht diffusen, Ausschlusskriterium der Wissenschaftlichkeit beugen müssen, um die jeweiligen Studien zu legitimieren. Dass die in der Überlegung von McLuhan angesprochene Forderung mitunter auch auf die Forschungsrealitäten der erwähnten Disziplinen anwendbar ist, zeigt ein Blick auf ihre Forschungsergebnisse de facto schon lange Zeit, wenn nicht bereits seit ihrem Bestehen. In diesen Disziplinen wurden stets zahlreiche heterogene Theorien und Methoden entwickelt, die ihre formale bzw. fachliche Eindeutigkeit nur durch die jeweilige Zuordnung zu den allgemeinen Titeln (Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft usw.), die die einzelnen Fächer besitzen, sowie zu deren Kanon an Theorien, Methoden und Personen, erhielten. Von einer disziplininternen Vereinheitlichung und Systematisierung, einem verbindlichen Kanon der Gebote, kann

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Denkmöglichkeiten und Theoriewelten24, die nicht exklusiv von einer wissenschaftlichen Disziplin vereinnahmt werden und somit disziplinär übergreifend anwendbar sein können. Das Ziel hierbei besteht darin, wissenschaftliche Forschung von einem Wirklichkeits-, in einen Möglichkeitsraum zu transformieren, das Erkenntnisinteresse nicht auf (objektive25, allgemein verbindliche) Wahrheit und unbedingte empirische Validierung, sondern auf Perspektivität und Konstruktivität zu fokussieren. An Stelle objektiv verbindlicher Wahrheiten und der Vermittlung von gesichertem Fachwissen, das auf einem veränderungsresistenten Kanon an Erkenntnissen und Methoden einer Disziplin basiert, muss die Halbwertzeit und das Verfallsdatum von Theorien, verstanden als diskursive Materialisierungen wissenschaftlicher Wahrheit, kalkuliert werden (vgl. Merten/Schmidt/Weischenberg 1994b: 1). Foucaults Analysen historischer Wahrheitsspiele26 werden aus dieser Perspektive zu einem Spiel mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit bzw. zur Darstellung des Wirklichen im Bereich des (theoretisch und fiktional) Möglichen: »Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen« (Dürrenmatt 1987: 87). Die zuvor betonte konstitutive Perspektivität, Konstruktivität und Transdisziplinarität wissenschaftlicher Forschung, die McLuhan im Hinblick auf den methodisch-methodologischen Status seiner Medienanalyhierbei jeweils nicht die Rede sein, auch wenn Einführungs- und Überblicksbände ein anderes Bild zeichnen (wollen). 24 Der in dieser Studie entworfenen Theoriefiktion geht es daher nicht darum, einen Gegenstand eindeutig, also so, wie er eigentlich ist, zu erfassen, sondern vielfältige Perspektiven aufzuzeigen, wie man den Gegenstand verstehen könnte. 25 »Der Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis ist typischerweise verbunden mit einem […] Anspruch auf Objektivität. Wissenschaftliche Erkenntnis soll objektiv sein, und damit abzugrenzen von subjektiven Meinungen, Überzeugungen und unbegründeten Vermutungen. Die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis ist fundiert in der Art und Weise, in der wissenschaftliche Hypothesen und Theorien überprüft, bestätigt, verifiziert oder widerlegt werden können. […] Dieser Anspruch lässt sich zurückverfolgen bis in die Antike. Ein prominentes Beispiel ist die strikte Trennung von doxa (= subjektive Überzeugung) und episteme (= wissenschaftliche Erkenntnis) im Theaitet, einem der wichtigsten erkenntnistheoretischen Dialoge Platons. Objektive Erkenntnis in dem für die Wissenschaften relevanten Sinne, setzt objektive Gültigkeit und rationale Begründbarkeit voraus« (Lauth/Sareitter 2002: 18). 26 Foucault stellt in seinen Geschichten der Wahrheiten u.a. die Frage, welche Wahrheit produziert wird und wie Wahrheit in Gesellschaften funktioniert. Diese Geschichten sind daher keine Geschichten dessen, was es an (objektiven) Wahrheiten in den Erkentnissen gibt oder was das wahre Wesen hinter den Erscheinungen ist, sondern Geschichten von Wahrheitsspielen, »der Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heisst als eines, das gedacht werden kann und muss« (Foucault 1997e: 13; vgl. hierzu u.a. Gradev 1994; Larrauri 1994).

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sen bzw. Medientheorie hervorhebt, kann für das wissenschaftliche Feld der Medientheorien27 insgesamt als forschungsleitend behauptet werden. Diese generalisierende Aussage lässt sich durch einen Blick auf drei grundlegende Arten medientheoretischer Überblicksliteratur bestätigen: Einerseits in Bezug auf einführend-interpretatorische Arbeiten zu internationalen und autoren- sowie themenspezifischen Medientheorien (vgl. u.a. Baacke 1974a; Faulstich 1991; Kloock 1995; Kloock/Spahr 1997; Leschke 2003a; Weber 2003a; Lagaay/Lauer 2004); andererseits hinsichtlich quellenbezogener Sammelbände, die unterschiedliche internationale Positionen der Medientheorien dokumentieren (vgl. etwa Schöttker 1999; Helmes/Köster 2002; Kümel/Löffler 2002); und drittens bezüglich Lexikaartikeln sowie einführend-allgemeiner Überblicksartikel zur Medientheorie in Handbüchern zur Medienwissenschaft oder Mediengeschichte (vgl. z.B. Leschke 2001; Donges/Meier 2001, Rusch 2002c; Hickethier 2003: 365-379).28 In diesen Publikationen wird Medientheorie nicht als einheitliches, disziplinär eindeutig zuordnungsbares, sondern vielmehr als multiperspektivisches und transdisziplinäres Forschungsprogramm vorgestellt. Die in diesen Arbeiten diskutierten Positionen erheben zudem alle nicht den Anspruch, dass die jeweilige Medientheorie 27 Unter Medientheorie verstehe ich kein originäres Forschungsfeld der Medienwissenschaft. Dies allein schon deshalb, weil keine wissenschaftliche Disziplin eine exklusive Zuständigkeit zur Analyse der Medien und einer daraus folgenden Theoriebildung für sich beanspruchen kann. Die Entscheidung, welche Disziplinen bzw. welche einzelnen Ansätze aus den jeweiligen Disziplinen sachadäquatere oder originellere Ergebnisse in der Auseinandersetzung mit den Medien erzielen, muss die Forschungspraxis zeigen bzw. von Fall zu Fall entschieden werden. Weiterhin gibt es in unterschiedlichen Disziplinen, etwa in der Literatur-, Kunst- und Politikwissenschaft oder der Soziologie Medienanalysen, die sich als wissenschaftsorientierte Medientheorien verstehen. 28 Meine These kann durch den Verweis auf diese Publikationen veranschaulicht werden, denn einen grundsätzlichen Eindruck von der Wirklichkeit und dem Wandel einer wissenschaftlichen Disziplin sowie einen Überblick über deren zentralen Theorien, Methoden und Autoren, gewinnt man durch die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Einführungs- und Überblicksliteratur, in der das Grundlagenwissen einer Disziplin dokumentiert und damit für einen bestimmten Zeitraum festgeschrieben bzw. definiert, zumindest aber eine systematisierte Enzyklopädie des Fachwissens erstellt wird. In dieser Literaturgattung wird allerdings nicht die einzig mögliche Ordnung der jeweiligen Fächer und Disziplinen präsentiert, sondern einerseits nur die zu einer bestimmten Zeit diskurslegitime und andererseits, wenn es sich z.B. um eine noch junge Disziplin wie die Medienwissenschaft handelt, Ordnungsversuche, die dem jeweiligen Feld ein eigenständiges Profil geben sollen. Eine an Foucault orientierte Diskursanalyse der Konstitutionsgeschichte dieser Lehrbücher und Nachschlagewerke wäre notwendig, um die wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen und Ausschlusssysteme, die zur Entstehung und Gestaltung der jeweiligen Kanonisierungen geführt haben, nachzuvollziehen. Dies würde die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen produktiv vertiefen und ermöglichen, differente Diskursstränge miteinander in einen Dialog zu bringen. Hierdurch würde wiederum die Chance bestehen, strukturiertere Forschungsprofile und eindeutigere Zugehörigkeiten zu bestimmten Forschungsperspektiven, etwa hinsichtlich der Medienforschung, zu erarbeiten.

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bzw. Medienanalyse, der Wirklichkeit der Medien bzw. einzelner Medien in ihrer Totalität, Geschichtlichkeit und sozialen Bedeutung gerecht wird. Ausgangspunkt dieser Publikationen, die insgesamt als Diskursgeschichten der Medientheorien bezeichnet werden können, sind zum einen die konstatierte Unübersichtlichkeit im Feld der Medientheorie(n), d.h. der Verweis auf die Vielzahl von heterogenen (fach-)spezifischen Ansätzen mit einer Vielzahl von Fragestellungen und Methoden, verbunden mit dem Hinweis auf den inflationären Gebrauch des Begriffs seit den 1980er Jahren. Zum anderen wird die Notwendigkeit von Medientheorie(n) hinsichtlich der permanent zunehmenden Bedeutung der Medien für soziale und individuelle Wirklichkeit(en) sowie beständiger technischer Medienevolutionen betont. Schließlich wird versucht, einem wissenschaftlichen Feld, der Medientheorie, ein möglichst eindeutiges Profil zu geben bzw. Ansätze und Fragestellungen zu präsentieren, von denen dieses Anliegen seinen Ausgang nehmen könnte. Zumeist geht es hierbei um die Integration der Medientheorie als spezifischer Bestandteil medienwissenschaftlicher Forschung. Die Ordnung, die in diesen Publikationen in das als unübersichtlich bezeichnete Feld der Medientheorie(n) gebracht werden soll, beschränkt sich wesentlich auf drei Aspekte: Erstens, auf die Unterscheidung von Haupttypen von Medientheorie(n) (vgl. Faulstich 1991; Donges/Meier 2001; Leschke 2003a; Weber 2003a; Rusch 2002; Hickethier 2003). Zweitens werden Textsammlungen erstellt, die Bausteine zu einer Geschichte der Medientheorie(n) dokumentieren sollen (vgl. Schöttker 1999; Helmes/Köster 2002; Kümmel/Löffler 2002).29 Als dritter Aspekt, der die medientheoretische Überblicksliteratur bestimmt, können die Versuche, das Feld der Medientheorie auf wenige Autoren zu beschränken, die genuin medientheoretische Ansätze entwickeln, genannt werden (vgl. Baacke 1974a; Kloock 1995; Kloock/Spahr 1997; Lagaay/Lauer 2004). Seit Ende der 1990er Jahre wird zudem in medienwissenschaftlicher Einführungs- und Überblicksliteratur (vgl. Ludes 1998; Rusch 2002a/b; Schanze 2002a/b; Hickethier 2003; Schnell 2003, 2004; Faulstich 2004) intensiv versucht, der Medienwissenschaft ein möglichst eindeutiges Profil zu geben bzw. die Konstruktion eines genuinen medienwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs zu forcieren.30 Vergleichbare Arbeiten zur Mediensoziologie (u.a. McQuail 1973; Silbermann/Krüger 1973; Silber29 Schöttker versammelt 33 Texte von der Antike bis zur Gegenwart; Helmes und Köster 78 aus dem gleichen Zeitraum; Kümmel und Löffler 60 aus der Zeit zwischen 1888 und 1933. 30 Die entsprechenden medienwissenschaftlichen Monographien können an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden. Allerdings werden diese meistens in den Übersichtsbänden erwähnt bzw. die entsprechenden Autoren sind in den jeweiligen Sammelbänden selbst als Autoren vertreten.

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mann 1982; Hunziker 1996; Neumann-Braun/Müller-Doohm 2000; Ludes 2001; Faßler 2001; Göttlich 2002; Jäckel 2005)31 und Medienphilosophie (z.B. Hartmann 2000; Münker/Roesler/Sandbothe 2003; Ernst/ Gropp/Sprengard 2003; Lagaay/Lauer 2004) fallen diesbezüglich ambivalent aus. In diesen Publikationen werden einerseits die Themen-, Theorien- und Methodenvielfalt sowie die interdisziplinären Bezüge mediensoziologischer und medienphilosophischer Ansätze dokumentiert bzw. diskutiert. Andererseits werden originäre (soziologische und philosophische) Forschungsprogramme zur Medienanalyse hervorgehoben. Allerdings gelingt es hierbei nicht, ebenso wenig wie bei den entsprechenden medientheoretischen Arbeiten, ein koorientiertes und singuläres Forschungsprogramm sowie eine einheitliche Epistemologie, auszuweisen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass diese Ansätze teilweise gegensätzliche Konzepte von zentralen Begriffen wie Gesellschaft, Mensch, Wirklichkeit, Medium, Medien oder Kommunikation verwenden, wodurch sich differente bis konfligierende Problemstellungen und Methoden der Medienforschungen ergeben. Zudem sind, wie Schmidt (2000: 72) betont, bisher »noch keine koordinierten gemeinsamen Bemühungen unternommen [worden] […], Forschung, Lehre und disziplinäre Institutionen zu vereinheitlichen und zu systematisieren.« Somit bleibt es letztlich in den zuvor erwähnten Einführungs- und Überblicksarbeiten bei der Dokumentation divergierender Konzeptionen von Medienwissenschaften, Medientheorien, Mediensoziologien und Medienphilosophien, dem Konstatieren eines Pluralismus verschiedener Ansätze und Interessen der Medienforschung.

31 Göttlich (2002: 245f.) weist einerseits zu Recht darauf hin, dass die BindestrichSoziologie mit dem Namen Mediensoziologie von einer Soziologie der Massenkommunikation ihren Ausgang genommen habe: »Ihrem Ursprung nach zeigt sich die im Rahmen der Soziologie erfolgte Befassung mit der gesellschaftlichen, der öffentlichen und der individuellen Kommunikation zunächst v.a. in literatur-, kunst- und kultursoziologischen Betrachtungen. Erst mit dem Aufstieg der Massenkommunikation seit den 1930er Jahren und noch stärker seit der Nachkriegszeit lässt sich eine breitere Hinwendung zu medien- und kommunikationssoziologischen Fragen feststellen, die jedoch anfangs noch enger auf Probleme der Massenkommunikation bezogen waren. Massenkommunikation stellt sich als ein soziologischer Tatbestand dar, der auf Seiten des Kommunikators in zunehmendem Maß von Institutionen und organisierten Gruppen bestimmt wird und auf Seiten des Rezipienten in der Vielfältigkeit von Einzel-, Gruppen- und Massenverhalten in Erscheinung tritt […]. In dieser Auffassung konstituiert sich Massenkommunikation auf der Basis von Technologie, Kommunikation und Massen, wobei es sich um ein gesellschaftlich reguliertes Phänomen mit mehrdimensionaler Bestimmung handelt […].« Andererseits ignoriert Göttlich ein anderes, grundlegendes mediensoziologisches Forschungsfeld, das Pöttker (2001) hervorgehoben hat und das nicht einfach unter dem Aspekt Massenkommunikation subsumiert werden kann. Hierbei handelt es sich um die Auseinandersetzung mit der Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung in den Printmedien sowie dem damit zusammenhängenden Thema Pressefreiheit und Zensur (vgl. Kap. 2.2.1.).

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Die diskursiven Versuche, Medienwissenschaft ein möglichst eindeutiges Profil zu geben, resultieren wesentlich aus dem Aufbau neuer medienwissenschaftlicher Studiengänge sowie der Frage nach dem, was die Medienwissenschaft(en) als eigenständige Wissenschaft konkret auszeichnet. Exemplarisch seien an dieser Stelle zwei Studiengangsmodelle genannt: Der Studiengang Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin32, wie er von Wolfgang Ernst mit medienarchäologischer Ausrichtung konzipiert wurde und der medien- und kulturwissenschaftliche Studiengang an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf33, wie er von Reinhold Görling mit kultur- und geisteswissenschaftlicher Ausrichtung entwickelt wurde. In beiden Fällen besteht eine intensive Interdependenz zwischen Lehre und Forschung. Allerdings sind das Berliner- und das Düsseldorfer-Modell keine Ansätze, um eine integrierte Medien- und Kommunikationswissenschaft im Sinne von Ludes und Schütte (1997; vgl. Schütte 1998) zu realisieren, sondern sie versuchen, dem jeweiligen Verständnis von Medienwissenschaft bzw. Medien- und Kulturwissenschaft ein spezifisches Profil zu geben, das in Lehre und Forschung umgesetzt werden soll. Diese spezifischen Modelle von Medienwissenschaft lassen sich daher nicht in den Kanon eines standardisierten medienwissenschaftlichen Forschungsdesigns aufheben.34 Diesen Aspekt bewerte ich prinzipiell positiv, denn Kooperationen und Dialoge zwischen den einzelnen Fächern und Disziplinen, die schwerpunktmäßig Medienforschung betreiben, kann erst dann substanziell gelingen und Nachhaltigkeit erzielen wenn einerseits spezifische Konzeptionen der Medienforschung, mit jeweils eigenständigen Konzepten, Terminologien, Theorien, Methoden und Praxisfeldern, entwickelt werden, die sich aneinander abarbeiten, also wechselseitig ergänzen, weiterentwickeln, kritisieren usw. können; oder andererseits ein transdisziplinäres Forschungsdesign für Medienanalysen entwickelt wird. Soziologie

Auch soziologisches Denken kann als multiperspektivische Suchbewegung nach etwas bezeichnet werden, was als Begriff bzw. Gegenstandsbereich zwar bekannt, aber in sich diffus ist: Gesellschaft. Mein Verständnis von Soziologie wird hierbei von Adornos (1997b: 39) methodischem Ansatz, den er als »Verbindlichkeit ohne System« bezeichnet, inspiriert. Hierbei geht es darum, die Vielschichtigkeit des untersuchten sozialen Sachverhalts sichtbar zu machen, wobei niemals alle seine Er32 Nähere Informationen unter: www.medienwissenschaft.hu-berlin.de. Zur grundlegenden medienarchäologischen Ausrichtung vgl. u.a. auch Ernst (2000, 2001, 2002a, 2004; vgl. zum Ansatz von Ernst Kap. 3.4.). 33 Nähere Informationen unter: www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/medienkultur. Zur konstitutiven kulturwissenschaftlichen Ausrichtung vgl. auch Görling (1999); Görling/Borsò (2004). 34 Das Gleiche gilt für Mediensoziologie und Medienphilosophie.

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scheinungsweisen zum Vorschein gebracht werden können. Dieses perspektivische Sichtbarmachen dient »als Grundlage für gegensätzliche gedankenexperimentelle Deutungen, die zu Modellen einer […] sachhaltigen Erklärung verdichtet werden müssen«. Adornos Forderung nach Verbindlichkeit ohne System zielt hierbei auf »keine in sich konsistente soziologische Theorie des sozialen Handelns oder des sozialen Systems oder der sozialen Strukturen«. Vielmehr soll »durch die Bewegung des Gedankens praktisch« vorgeführt werden, »wie man das Soziale als Wirklichkeit eigener Art verstehen kann, wenn man ohne Systemzwang genau hinschaut« (Müller-Doohm 2002: 57f.; vgl. Müller-Doohm 2001: 66-94, 132-168). Diese Denkpraxis, d.h. Verbindlichkeit ohne System als methodisches Leitbild der Analyse, ist für eine Reihe soziologischer Ansätze charakteristisch. Es handelt sich um soziologische Konzeptionen, denen es eher um die Entwicklung einer soziologischen Sichtweise und Werkzeugkiste zum Verständnis sozialer Wirklichkeit, als um die Ausarbeitung einer konsistenten, universalen Theorie35 geht. Neben Adorno können diesbezüglich u.a. Georg Simmel, Max Weber, Herbert Marcuse, Erving Goffman oder C. Wright Mills genannt werden. Simmel (1983: 92) betont etwa in seinem Aufsatz Das Geld in der modernen Kultur: »[W]ir verzichten auf die unbedingten Wahrheiten, die aller Entwicklung entgegen wären, und geben unser Erkennen gerne fortwährender Umgestaltung, Vermehrung, Korrektur preis […].« Marcuse (1994: 20) beschreibt den Anspruch von Der eindimensionale Mensch wie folgt: »Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen, nichts weiter.« Goffman (1996: 8) erhebt einen vergleichbaren Anspruch für seine Studien über das Verhalten in direkter Kommunikation: »Hier wird eine Soziologie der Gelegenheit vertreten.« Für Mills (1963a) ist nicht unbedingte Wissenschaftlichkeit im traditionellen Verständnis das entscheidende Gütekriterium soziologischer Forschung, sondern soziologische Imagination. Lichtblau (1996: 13) betont sogar, dass es »einmal eine Zeit [gab], in der die größten intellektuellen Leistungen innerhalb der deutschsprachigen Tradition der Soziologie in ›Exkursen‹, ›Zwischenbetrachtungen‹ sowie in durch Gelegenheitsumständen geprägten öffentlichen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen erbracht wurden.« 35 Der Versuch, eine universale Theorie auszuarbeiten, würde schon daran scheitern, dass es keine verbindliche Definition des Terminus Theorie sowie der Funktion(en) von Theorie gibt, die für alle Wissenschaften unbedingte, selbstverständliche Gültigkeit besäße – wenn auch nur auf allgemeinster Ebene. Aktuelle Versuche, eine zumindest basale Definition sowie allgemeine Gütekriterien von Theorie, die wissenschaftsuniversal gelten könnten, vorzuschlagen, finden sich etwa bei Zima (2004) und Markovsky (2004). Dass beide Autoren hierbei von einem jeweils spezifischen Erkenntnisinteresse ausgehen, Zima von der Ausarbeitung der Grundlagen für eine Dialogische Theorie und Markovsky (2004: 831) vom Vorhaben, grundlegende Elemente einer »well-constructed theory« im Feld der soziologischen Theorie vorzustellen, behindert diesen Ansatz nicht, weil beide die Definitionsvielfalt des Terminus Theorie als kontraproduktiv ansehen.

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Lichtblau bezieht sich hierbei auf die »Epoche um 1900‹« (ebd.). Diese kurze und unvollständige (Referenz-)Skizze sollte auf ein Diskusklima hinweisen, das konstitutiv zur Soziologie gehört und das ein Gegenbild zu den Versuchen darstellt, die Soziologie als strenge bzw. exakte Wissenschaft zu konzipieren. Dieser Traditionsstrang wird in der vorliegenden Studie nicht als der Bessere, aber als der für das Erkenntnisinteresse produktivere bzw. angemessenere, verstanden. Die Soziologie kann, abgesehen von diesen Ansätzen, insgesamt als eine Multi-Paradigmen-Disziplin bezeichnet werden, in der es keinen Konsens gibt, welches das herrschende Paradigma sein soll, ebenso wenig, wie eine einheitliche Auffassung von den zur Gewinnung und Sicherung soziologischer Erkenntnis brauchbaren und angemessenen Mitteln existiert. Ein Blick auf die Vielzahl der kontroversen soziologischen Theorien zeigt so auch eher vielfältige, sich immer weiter ausdifferenzierende Wirklichkeits- und Gesellschaftsauffassungen, als einen forschungslogischen Aufbau eines konkreten bzw. verbindlichen soziologischen Wissensbestandes (vgl. Gukenbiehl/Schäfers 2003: 339). Von einer geordneten und koorientierten Vielfalt soziologischer Theorien und Methoden kann nicht die Rede sein. Vielmehr lässt sich ein vielfaches Durch- und Nebeneinander mehr oder weniger miteinander konkurrierender Theorieansätze sowie eine zunehmende Zersplitterung der Theoriediskussion konstatieren (vgl. Haller 1999: 15; Klages 1993).36 Die vorausgehenden Bemerkungen zur Methode erfordern einen operativen, prozessualen Begriff von Wissenschaft. Eine grundlegende Definition hierzu hat bereits Wilhelm von Humboldt (2002: 256) formuliert, als er schrieb, es sei eine Eigentümlichkeit von Universitäten, »dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher im Forschen bleiben«. Diese einleitenden grundlagentheoretischen Überlegungen hatten das Ziel, das spezifische erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftstheoretische Vorverständnis sowie das methodisch-methodologische Vorgehen dieser Studie prinzipiell zu skizzieren. Im Folgenden wird das genuine Verständnis dessen, was in dieser Studie unter einer Theoriefiktion verstanden wird, weiter ausdifferenziert und kurz an ausgesuchten Charakteristika herkömmlicher wissenschaftlicher Theoriebildung verglichen.

36 Collier und Mahon (1993: 845) behaupten in diesem Kontext, dass »[s]table concepts and a shared understanding of categories are routinely viewed as a foundation of any research community. Yet ambiguity, confusion, and disputes about categories are common in the social sciences.« Entsprechend betont Coelman (1992: 263f.), dass »there is anarchy in the discipline of sociology« und es keinen »consensus on the definition of the discipline, the character of problems that give it its coherence« sowie kein »criterion for judging what is ›right‹« gibt.

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Theoriefiktion

Einige Autoren aus dem Umkreis des französischen Poststrukturalismus, z.B. Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Jean-François Lyotard, sowie der französischen Medientheorie, etwa Jean Baudrillard und Paul Virilio, verstehen ihre Arbeiten als Beispiele für die Verschmelzung von Wissenschaft und Fiktion. Für sie ist Wissenschaft nur noch als science-undfiction möglich. Entsprechend betont Deleuze (1997: 13), mit Blick auf die Philosophie, dass ein Buch »eine Art science fiction [Hervorhebung im Original – MSK]« sein müsse. Das bedeutet für ihn: »Wie lässt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß? Gerade darüber glaubt man unbedingt, etwas zu sagen zu haben. Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens, auf jener äußeren Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine ins andere übergehen lässt. Nur auf diese Weise wird man zum Schreiben getrieben [Hervorhebung im Original – MSK].« Dieses Verständnis von Wissenschaft37 bedeutet somit zugleich das Erkunden unbekannter und das Werden neuer Welten, die Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen, Erfahrung und Experiment. Der Wissenschaftler wird aus dieser Perspektive zum Science-und-FictionAutor, wie etwa Foucault (1978c: 117) in einer Selbsteinschätzung seiner Studie Der Wille zum Wissen betont: »Was das Problem der Fiktion anbetrifft, das ist für mich ein sehr wichtiges Problem; ich bin mir dessen voll bewusst, dass ich niemals etwas anderes geschrieben habe als fictions. Ich will nicht sagen, dass das außerhalb von Wahrheit liegt. Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, ›fabriziert‹, was noch nicht existiert, also ›fingiert‹.«38 Das Fikti-

37 Eine Theoriefiktion ist insofern wissenschaftlich, als sie über das jedermann verfügbare Alltagswissen sowie die unmittelbare Alltagserfahrung hinausgeht und dementsprechend Wissen produziert, das die soziale Wirklichkeit und den common sense in ihrer jeweiligen Alltäglichkeit bzw. Selbstverständlichkeit problematisiert. Einer Theoriefiktion geht es hierbei aber nicht um die Entdeckung verborgener Wirklichkeiten an sich, sondern um Maximierung möglicher sozialer Wirklichkeitsperspektiven. Eine Theoriefiktion kann zudem als wissenschaftlich bezeichnet werden, weil sie einen begründeten, systematischen und logisch konsistenten Aussagezusammenhang hinsichtlich des untersuchten Gegenstandsbereichs bzw. über bestimmte Aspekte der dem Menschen zugänglichen Wirklichkeiten, erarbeitet, denen aber keine verbindliche Legitimität zugesprochen wird. 38 Auch Virilio (1986) versteht sich in diesem Sinne als Science-und-Fiction-Autor: »Ich habe den Ausdruck ›Dromologie‹ nicht ohne ein gewisses Amüsement erfunden, um eine Art Wissenschaft von der Geschwindigkeit anzuregen. Viele denken, die Dromologie sei bereits eine richtige Wissenschaft, aber für mich ist das eher eine Art Konstruieren, etwa wie man Häuser konstruiert, die dann auch wieder einstürzen, keine Wissenschaft in der ›überheblichen‹ Bedeutung des

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onale einer Theorie ist aus dieser Perspektive einerseits ihr konstruktiver Gestus, d.h. die Notwendigkeit, stets ein spezifisches Szenario zur Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand zu entwerfen, weil entweder der Gegenstand oder die theoretische Hinsicht auf diesen Gegenstand, nicht unter den Bedingungen offizieller39 Wissenschaftlichkeit und fachdisziplinärer Ordnungen untersucht bzw. angewendet werden kann. Andererseits kann in diesem Sinne eine fiktionale Theorie Einfluss auf die offizielle Ordnung der Wirklichkeit nehmen, indem in ihr Perspektiven entwickelt werden, die den wissenschaftlichen und lebensweltlichen status quo im Umgang mit dem jeweiligen Gegenstandsbereich subvertieren und weiterentwickeln oder als produktive Alternative zu diesem fungieren können. Die Überlegungen von Deleuze und Foucault laufen letztlich darauf hinaus, die Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt zu transzendieren, also die Auffassung, dass eine sprach- und subjektunabhängige Realität, d.h. Außenwelt, existiert, abzulehnen. Hiermit verbunden ist die Zurückweisung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit (vgl. u.a. Andersson 1989; Lorenz 1996), einer objektivistischen Methode und Theoriebildung zur Erforschung sozialer Wirklichkeit, die die Existenz dessen, was erkannt werden soll, unabhängig von dem erkennenden Subjekt behauptet sowie eines wissenschaftlichen Realismus, wonach wissenschaftliche Theorien ein direktes und definitives Wissen über die Welt beinhalten, also so etwas wie ein originalgetreues Abbild der objektiven Realität darstellen (vgl. Baudrillard 1994a: 31). Legt man ein solches Vorverständnis von Erkennen zu Grunde, kann Theorie, wie zuvor bereits angedeutet, nicht mehr als Repräsentation oder (idealtypische) Rekonstruktion der zu erkennenden Wirklichkeit, die unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert, begriffen werden, sondern nur noch als deren Konstruktion. Wirklichkeit wird insofern als konstitutiv perspektivisch aufgefasst. Eindeutigkeit wissenschaftlicher Forschung und letzte Zuverlässigkeit der Erkenntnis kann somit nicht erwartet werden. Die Konstruktion von Wirklichkeit kann zudem, wie zuvor betont, zugleich die offizielle Ordnung der Wirklichkeit, als ein »Agent provocateur« (Baudrillard 2002: 75), potentiell herausfordern, ebenso wie eine Theoriefiktion stets von der sozialen Wirklichkeit in ihrem status quo herausgefordert werden kann, indem Theoriefiktionen etwa alternative Begriffs. Sie hat etwas von einer Theorie-Fiktion, von ›science-fiction‹, selbst im strengen Wortsinn.« 39 Hier und im Folgenden bezeichne ich mit dem Begriff offiziell die etablierten, allgemein anerkannten und institutionalisierten wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen sowie erkenntnistheoretischen Standards, als Produkte kontingenter und sich wandelnder sozio-historischer Diskurse (vgl. zum Überblick über die Bedeutung und die Wandlungen der Begriffe Methode/Methodologie, Erkenntnis, Theorie, Wahrheit, Wissenschaft und Wissenschaftstheorie u.a. die entsprechenden Artikel in: Seiffert/Radnitzky 1989; Seiffert 1991, 1997, 2001, 2003; Mittelstraß 2004).

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Wirklichkeitsszenarien entwerfen, in denen die an der offiziellen Wirklichkeitsordnung als problematisch erachteten Aspekte, z.B. die zunehmende Medienkonzentration, veranschaulicht und zugleich (implizit oder explizit) Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung des problematisierten Themas angeboten werden. Hierdurch könnten Theoriefiktionen tendenziell zu einem »Stück in der Dramaturgie des Wirklichen« (Foucault 2001: 14) und der Wissenschaft(en) werden. Jede Fiktion, auch eine Theoriefiktion, bleibt letztlich rückgebunden an die offizielle soziale und wissenschaftliche Wirklichkeit. So wird in einer Theoriefiktion z.B. die jeweilige Sprache oder mehrere Sprachen einer Gesellschaft bzw. unterschiedlicher Gesellschaften, etwa in Zitaten, verwendet; dies auch beim Entwurf eines vermeintlich eigensinnigen Wirklichkeitsszenariums. Der Verfasser einer Theoriefiktion ist als Gesellschaftsmitglied in und durch eine sowie mit einer Sprache sowie gesellschaftsspezifischen Weltanschauungen, Normen oder Werten sozialisiert worden, die, implizit oder explizit, in den Entwurf einer Theoriefiktion mit einfließen. Eine Theoriefiktion ist stets ein Netzwerk bzw. Patchwork, das aus differenten Erfahrungen, Diskussionen und Lektüren hervorgegangen ist und somit keine creatio ex nihilo darstellt bzw. diese darzustellen beansprucht. Diese eigentlich selbstverständlichen Überlegungen sollen vor dem Verdacht schützen, dass eine Theoriefiktion beanspruchen würde, referenzlos zu sein bzw. sich in einem referenzlosen Raum zu konstituieren. Für Baudrillard wird die potentielle Interdependenz zwischen Theorie, Erkenntnissubjekt und zu erkennender Wirklichkeit nicht durch eine umfassende Kritik des Wirklichen40 hergestellt. Vielmehr müssten, so Baudrillard (1987: 76f.), Theoriefiktionen autonome soziale Wirklichkeitsordnungen kreieren und der vermeintlichen Ordnung der Dinge apathisch gegenübertreten.41 40 Theoriefiktionen können, entgegen dieser Äußerung von Baudrillard, stets auch als Kritik konzipiert werden, insofern sie sich als Nicht-Einverstanden mit dem jeweiligen sozialen sowie wissenschaftlichen status quo verstehen und alternative Wirklichkeitsszenarien entwerfen, die wiederum Einfluss auf die offizielle Ordnung der Dinge nehmen können. Dies verbindet sie mit einem Grundanliegen der kritischen Gesellschaftstheorie von Adorno (1997b: 391): »Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.« Dieser Ansatz korrespondiert wiederum mit einer Selbsteinschätzung von Foucault (1997d: 117): »Ich akzeptiere weder die Vorstellung der Herrschaft noch der Universalität des Gesetzes. […] So gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat eines unbedingten Optimismus. Ich unternehme meine Analysen nicht, um zu sagen, sieh, die Dinge stehen so und so, ihr sitzt in der Falle. Sondern weil ich meine, dass das, was ich sage, geeignet ist, die Dinge zu ändern. Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt.« 41 Diese Zurückweisung von Kritik resultiert in Baudrillards (1990, 1994b) Posthistoire-Diagnose sowie seiner Kritik an den Denkmodellen kritischer Gesellschaftstheorien, etwa der von Adorno und Horkheimer. In seiner PosthistoireDiagnose skizziert er den vermeintlichen Schritt aus der Geschichte und aus der konkreten historischen Wirklichkeit in den Hyperraum der Simulation, der virtuellen Irrealität, die zu dem geworden ist, was Realität genannt wird. In diesem Hy-

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Damit Theorie zu einer Herausforderung42 an das Reale werden kann, bedarf es einer »Lockerungskraft«, die Lyotard als Theoriefiktion bezeichnet (Lyotard 1979: 73): »Das Problem besteht keineswegs darin, eine oder mehrere neue Theorien oder Interpretationen zu ersinnen. Es mangelt uns vielmehr eine Teufelei oder eine Apathie, die so beschaffen ist, dass das theoretische Genre Subversionen erleidet, von denen sich sein Anspruch nicht wieder erholt; dass es wieder zu einer Gattung unter anderen und damit seiner Meister- oder Herrschaftsposition enthoben wird, die es zumindest seit Platon innehat; dass das Wahre zu einer Frage des Stils wird« (ebd.: 73). Die letzte Formulierung weist auf das zentrale Verständnis von Theorie als einem narrativen Genre hin. Narrative Theorie, also Theoriefiktion, ist nicht auf die Absicherung durch den Beweis ihrer Aussagen oder deren unbedingten empirischen Überprüfbarkeit hin ausgerichtet, ebenso wenig wie auf umfassendste Verallgemeinerungen ihrer Aussagen oder auf Erklärung der den Untersuchungsgegenständen zugrundliegenden Gesetzmäßigkeiten und besitzt auch keine streng formallogische Struktur.43 Vielmehr bietet sie vielfältige, nicht auf Repräperraum, den Baudrillard als Hyperrealität bezeichnet, ist der Hinfall der kosmologischen Werte, z.B. Einheit, Wahrheit oder Sinn, endgültig vollzogen. 42 Das Moment der Apathie spielt in einer Theoriefiktion, wie sie in dieser Studie entworfen wird, nur insofern eine Rolle, als dass sie sich nicht durch die Prinzipien der offiziellen Wissenschaftlichkeit legitimieren muss und sich auch nicht durch fachdisziplinäre Grenzen einengen lässt. Ob dieser Studie dadurch Relativismus und monadischer sowie willkürlicher Subjektivismus vorgeworfen werden kann, wird sich einerseits erst nach ihrer Lektüre und andererseits nach spezifischen medienpraktischen Anwendungsversuchen entscheiden lassen. Das potentielle Scheitern theoriefiktionaler Analysen und Pragmatik an der offiziellen Wirklichkeit bedeutet aber keine prinzipielle Notwendigkeit einer Veränderung der Theoriefiktion im Sinne eines überarbeiteten Anpassungsversuches an die soziale Wirklichkeit, also der Korrektur der Konstruktion durch die Wirklichkeit, wie sie etwa Albert (1969: 33) für unabdingbar im Hinblick auf die Legitimation von Theorie hält. 43 Um den Kontrast und die Nähe zwischen Theoriefiktionen und einem traditionellen Verständnis von Theorie zu veranschaulichen, können zwei allgemeine Theorie-Definitionen aus soziologischen Lexika herausgegriffen werden: »Th. ist ein System logisch widerspruchsfreier und empirisch gehaltvoller Aussagen (Hypothesen). Es enthält Basisannahmen (Axiome), aus denen weitere Aussagen abgeleitet werden können. Danach ist Th. zuallererst eine empirisch überprüfbare Aussage über die Wirklichkeit. Wahre Aussagen im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit […] sind das Ziel dieses Programms einer Einheitswissenschaft, wobei die Fehlbarkeit allen Wissens betont und die Restriktivität dieses Wissenschaftsverständnisses gesehen wird. Th. soll Erklärung, Prognose und Technologie ermöglichen« (Sahner 1989: 741). »Eine Th. als ein System untereinander durch Ableitbarkeitsbeziehungen verbundener Aussagen u. Sätze muss: (a) logisch konsistent u. widerspruchslos sein; (b) informativ sein, d.h. ihre Sätze müssen so formuliert sein, dass sie einen bestimmten Realitätsbezug haben u. darum an den Tatsachen überprüft werden können; (c) bestimmte Korrespondenzregeln angeben, nach denen die Operationalisierung ihrer Postulate, d.h. die Übersetzung ihrer in den Hypothesen verwendeten Grundannahmen und Begriffe, in Beobachtungs- (Experiments-) Operationen ermöglicht werden kann« (Hillmann 1994: 758).

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sentation von Wirklichkeit und Legitimation ihrer Aussagen zielende, Perspektiven an, die alternative Wirklichkeitsanalysen darstellen oder alternative Wirklichkeitsszenarien kreieren. Eine Theoriefiktion steht insgesamt in einem metaphorischen Verhältnis zu ihren Untersuchungsgegenständen bzw. zur Wirklichkeit. Hierdurch müssen für Theoriefiktionen, im Vergleich zu herkömmlichen Theorien, auch andere Bewertungsmaßstäbe zur Beurteilung ihrer Aussagen gefunden werden. Begriffe, die in Theoriefiktionen verwendet werden, sind daher keine Kategorien, die ein Bezugssystem einer auf empirische Verifizierung gegründete Theorie konstituieren. Vielmehr müssen die in Theoriefiktionen verwendeten Begriffe, gerade wenn es sich um so allgemeine, wie z.B. Gesellschaft, Medien, Öffentlichkeit oder Kritik handelt, jeweils eine studienimmanente Definition erhalten und in ihrer spezifischen Verwendung zudem nicht zwangsläufig empirisch abgesichert sein. Begriffe, Termini oder Definitionen, die in einer Theoriefiktion verwendet werden, erhalten ihre Bedeutung erst im Kontext der jeweiligen Theoriefiktion sowie durch ihre Rezeption und ihren Gebrauch. Dahrendorf (1967: 78f.) spricht in diesem Kontext, mit Blick auf die Soziologie, von einem Katalog soziologischer Begriffe, der als sinnvoll akzeptiert werden kann, wenn sein Anspruch auf empirische Begründung gestützt wird: »Die angemessene Form eines solchen Kategorienkatalogs ist das Wörterbuch der Soziologie, in dem jene Begriffe gesammelt werden, die in der Forschung einer Zeit auftauchen und sich daher als nützliche Instrumente erwiesen haben. Der logische Status eines solchen Wörterbuchs käme wohl am klarsten zum Ausdruck, wenn dieses als Loseblattsammlung erschiene: Neue Begriffe tauchen ständig auf; alte verlieren ihre Brauchbarkeit. Nach einigen Jahrzehnten würde eine solche Loseblattsammlung einige Blätter enthalten, die überhaupt nicht ausgewechselt worden sind, weil ihr Nutzen sich immer wieder bestätigt hat. […] Diese Kategorien […] bilden alsdann die Grundbegriffe einer empirischen Wissenschaft.« Die nicht facheinheitlich und kategorial eindeutig zu bestimmenden Begriffe und Termini von Theoriefiktionen schaffen einerseits eine potentiell transdisziplinäre und transkulturelle Offenheit, erschweren aber andererseits ihre intersubjektive und vor allem interdiskursive oder interkollektive Überprüf- und Anwendbarkeit, weil Theoriefiktionen sich nicht auf eine allgemein verbindliche Wirklichkeit beziehen, sondern allererst spezifische Wirklichkeitsszenarien kreieren. Allerdings ist eine Theoriefiktion, wie sie in dieser Studie exemplarisch ausgearbeitet wird, hingegen stets darum bemüht, eine maximal mögliche Nachvollziehbarkeit der theoretischen Konstruktion und Argumentation zu garantieren, z.B. durch häufiges Zitieren sowie den möglichst vollständigen Aufweis der Referenzen, auf die sich die jeweilige Theoriefiktion bezieht oder durch das Entwerfen eines spezifischen Sinn- und Bedeutungsuniversums auf definitorischer und diskursiver

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Ebene. Die hierdurch entstehende Komplexität einer Theoriefiktion versteht sich somit als transparente Komplexität. Der Leitfaden zur Lektüre ihrer Studie Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, den Deleuze und Guattari (1977: 40f.) vorschlagen, gilt dementsprechend auch für eine Theoriefiktion: »Das Buch ist kein Bild der Welt und noch viel weniger Signifikant. Es ist nicht schöne organische Totalität, auch nicht mehr Einheit des Sinns. […] Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. […] In einem Buch gibt’s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. […] Das Buch ist kein Wurzelbaum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsanweisungen sind dem Buch nie inhärent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt, was ihr wollt.« Die theoriefiktionalen Metaphorisierungen, Erzählungen und Modellierungen sind daher insgesamt Elemente eines Do-it-yourself-Baukastens, einer Werkzeugkiste, die maßgeblich auf den Gebrauch ihrer Nutzer angewiesen ist, in ihrem Sinn- und Bedeutungsgehalt nicht eindeutig feststeht. Theorie als narratives Genre ist zugleich der Versuch einer umfassenden Destruktion, wie Lyotard (1979: 92f.) programmatisch formuliert: »Heute geht es darum, die Theorie zu zerstören. [...] Die Destruktion der Theorie kann nur am Leitfaden einer [...] Parodie erfolgen; sie besteht keineswegs in einer Kritik der Theorie, da die Kritik selbst ein theoretisches Moment ist, von dem man nicht die Destruktion der Theorie erwarten kann. Die Theorie destruieren heißt, eine oder mehrere PseudoTheorien zu machen. Das theoretische Verbrechen liegt in der Erstellung von Theorie-Fiktionen [Hervorhebung im Original – MSK].« Die von Lyotard (ebd.: 88) betonte »Erfindungskraft« der Theoriefiktionen, die nicht auf den Beweis von (sozialen) Tatsachen hin angelegt ist, steht in Korrespondenz mit Adornos (1997b: 27) Forderung, »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.« Adorno geht es, sehr vereinfachend gesagt, um die Dekonstruktion der Metaphysik bzw. der Grundfeste des abendländischen Denkens seit Platon. Adornos Versuch der Dekonstruktion, der an dieser Stelle nicht eigens entwickelt werden kann, ist mit dem Problem konfrontiert, das aus einem Denken, in diesem Fall Adornos, das in der Metaphysik grundgelegt ist, nicht ausgeschert, dieses System aber gleichsam durchschaut und immanent kritisiert, also dekonstruiert werden kann. Dekonstruktion bedeutet für Adorno, dass insofern über keine andere Sprache als die der klassischen Metaphysik verfügt werden kann, deren Begriffe zu übernehmen und Schicht für Schicht im Gebrauch so abzutragen sind, dass die metaphysischen Implikationen möglichst vermieden werden. Dieser Ansatz von Adorno kann letztlich aber nur durch die totale Dekonstruktion aller Inhalte der abendländischen Ideengeschichte verwirklicht werden, um zu einem »anderen [neuen – MSK] Genus des Denkens« (Adorno o.J.: 274) zu gelangen. Dieser

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(Total-)Dekonstruktion würden Begriffe wie Tradition, kulturelles Gedächtnis, kulturelle Identität, Wahrheit, Geschlecht, Humanität etc., die als soziales bzw. historisches Band einer Gesellschaft dienen, zum Opfer fallen. Ob dieses Projekt in seiner Radikalität überhaupt zu realisieren ist, bleibt daher fraglich. Die grundlegende Intention, die in dieser Forderung von Adorno zum Ausdruck kommt, ist der Versuch, ausgehend von einem umfassend kritischen Durcharbeiten des sozial Wirklichen, zu dessen konstitutiver Veränderung zu gelangen. Diese Veränderung kann aber nur gelingen und Nachhaltigkeit erzielen, wenn sie in einer spezifischen Terminologie verfasst wird, die die Sinn- und Bedeutungsschichten dieser projektierten Wirklichkeit anschlussfähig kommunizieren könnte. Eine Theoriefiktion versucht zwar auch, eine spezifische Terminologie zu entwickeln, verfolgt aber keine makroperspektivischen Absichten, sondern fokussiert sich auf die Veränderung sprachvermittelter Wirklichkeitsszenarien spezifischer Untersuchungsfelder, so z.B. der Medien. Eine netzwerk- bzw. patchworkartige Verbindung verschiedener Theoriefiktionen könnte allerdings zu einer Maximierung der Effekte, also des Einflusses auf die offizielle Ordnung der Dinge beitragen.44 In Theoriefiktionen kommt dem, was Deleuze (1993: 181) als Fürsprecher bezeichnet, eine zentrale Bedeutung zu: »Wesentlich sind die Fürsprecher. Die Schöpfung, das sind die Fürsprecher. Ohne sie gibt es kein Werk. Das können Menschen sein – für einen Philosophen, Künstler oder Wissenschaftler, für einen Wissenschaftler, Philosophen oder Künstler – aber auch Dinge, Pflanzen, sogar Tiere, wie bei Castaneda. Ob fiktiv oder real, belebt oder unbelebt, man muss seine Fürsprecher erfinden. [...] Ich brauche meine Fürsprecher, um mich auszudrücken, und sie würden sich nie ohne mich ausdrücken: Man arbeitet immer zu mehreren, auch wenn das nicht sichtbar ist.«

44 Die Erfindungs- bzw. Lockerungskraft einer Theoriefiktion, von der Lyotard spricht, verweist auf die de-konstruktive Kraft von Intuition und Anschauung, die für Nietzsche (1988a: 888f.; vgl. ebd.: 886f.), die Bedingung der Möglichkeit sind, um die begrifflich-definitorische Ordnungssucht der empirischen Wirklichkeit durch Menschen und Wissenschaften, die Nietzsche als eine anthropologische Konstante auffasst, zu subvertieren: »Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinander wirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmäßiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen; für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken, dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.«

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Es handelt sich hierbei um ein Plädoyer für wissenschaftliche Analyse, in Begriffen der Bewegung, die selbst Bewegung hervorbringen bzw. der Bewegung fähig, schöpferisch, im künstlerischen oder literarischen Sinne sind. Die konstitutive Abhängigkeit von einem jeweils spezifischen und unreglementierten Horizont von Referenzen bedeutet keine Uneigenständigkeit oder mangelnde Originalität, sondern ermöglicht unreglementierte Erfahrungen für Autor und Leser und veranschaulicht zugleich die Vielschichtigkeit des jeweils untersuchten Gegenstandes, die von keiner wissenschaftlichen Disziplin oder theoretischen Schule exklusiv vereinnahmt, noch annähernd erschöpfend analysiert werden kann.45 Theoriefiktionen müssen dementsprechend auch keinen (soziologischen, philosophischen, medientheoretischen usw.) Kanon aufarbeiten und diskutieren, sondern diesen Kanon, der wiederum keine allgemeine Verbindlichkeit beansprucht und auch nicht veränderungsresistent ist, allererst studienspezifisch ausarbeiten. Das Ergebnis ist eine jeweils »offene, Panorama-artige Perspektive« (Baudrillard 2002: 10). Theoriefiktionen weisen darüber hinaus eine spezifische Affinität zur Analyse medialer Wirklichkeit(en) auf. In einer durch und durch konstruierten, also fiktionalen Welt, wie der der Medien, erscheint es sinnvoll, wenn Medienforschung die eigensinnige(n) mediale(n) Wirklichkeit(en) konstruktiv ernst nimmt und diese nicht aus einer ihnen äußerlichen Perspektive betrachtet. Dies gerade dann nicht, wenn Medien-Fiktionen mehr und mehr zu dem werden, was wir als wirkliche Wirklichkeit erfahren bzw. was sich als wirklichkeitsprägend erweist. Entsprechend betont Luhmann (1996: 9f.): »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Medien. [...] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.« Aus den zuvor genannten Gründen müssen theoriefiktionale Vermessungen medialer Wirklichkeitssze45 Die konstitutive Funktion von Fürsprechern zur Ausarbeitung von Theoriefiktionen verursacht eine, die Architektur und das Selbstverständnis der jeweiligen Studie betreffende Konsequenz: Hierbei handelt es sich um eine »karg[e] Lyrik des Zitierens« (Foucault 2001: 11), die nicht als Problem bzw. Ausdruck mangelnder (wissenschaftlicher) Eigenständigkeit, sondern als Notwendigkeit verstanden wird. Die Quellen, auf die sich eine Theoriefiktion bezieht, sollen nicht nur offen gelegt werden oder lediglich als Ausgangspunkte der eigenen Überlegungen fungieren, sondern werden als integraler Bestandteil des eigenen Denkens aufgefasst und dementsprechend durch häufige Zitation hervorgehoben. Die Originalität und das jeweils Eigenständige theoriefiktionaler Studien besteht daher in aus dem Sampling und Mixing von Materialen entstehenden spezifischen Konstruktionen, Mixturen, Problem- und Fragestellungen sowie davon ausgehenden Entwürfen möglicher Praxisformen.

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narien über Analysewerkzeuge verfügen, die von gleicher (fiktionaler) Art wären, wie der Untersuchungsgegenstand, also die Medien, um diesen Gegenstand nicht durch Paradigmen eines anderen Wirklichkeitsverständnisses zu betrachten und damit nicht Klarheit, sondern nur weitere Fiktionalisierungen zu erzeugen. Die vorausgehenden Überlegungen zum Konzept der Theoriefiktion, als Beschreibung des methodisch-methodologischen Status dieser Studie, und zur Funktion von Fürsprechern verweisen darauf, dass Theoriefiktionen nicht anders als transdiziplinär und multiperspektivisch konzipiert werden (müssen). Theoriedesign

Die in dieser Studie gewählte Perspektive der Theoriefiktion muss kurz vom Konzept des Theoriedesigns, wie es Luhmann (1999: 7-14), u.a. im Vorwort von Soziale Systeme als Charakterisierung seiner Arbeit programmatisch vorstellt, unterschieden werden. Diese Abgrenzung ist notwendig, weil das Konzept der Theoriefiktion, wie es zuvor dargestellt wurde, einerseits eine gewisse Nähe, andererseits aber grundlegende Unterschiede zum Programm des Theoriedesigns aufweist. Der Gefahr, beide Begriffe synonym zu gebrauchen, soll daher vorgebeugt werden. Ausgangspunkt der Überlegungen von Luhmann ist die Feststellung, dass sich die Soziologie in einer Theoriekrise befinde und nicht in der Lage sei, eine facheinheitliche Theorie auszubilden. Eine originäre Theoriebildung sei aber für die Soziologie von konstitutiver Bedeutung, um »die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplin« (ebd.: 7) begründen zu können. Der herrschende Theoriepluralismus fördere hingegen ausschließlich »Intransparenz« und »selbsterzeugte Dunkelheit« (ebd.: 9). Theoriepluralismus und Auflösung eindeutiger wissenschaftlicher bzw. disziplinärer Grenzziehungen wird bei Theoriefiktionen hingegen als produktiv, erkenntnisfördernd und gegenstandsadäquat aufgefasst. Ausschließlich durch empirische Forschung könne dies nicht erreicht werden, fachspezifische Theoriebildung sei auch für eine empirische Wissenschaft zwingend notwendig. Die Ausbildung einer eigenständigen soziologischen Theorie46 erfordere ein genuines Forschungsdesign, das der empirischen Forschung vorausgehen und diese theoriegeleitet fundieren müsse. Theoriefiktionen gehen ebenfalls davon aus, dass Empirie

46 Für den Kontext dieser Studie ist es irrelevant, zu diskutieren, ob Luhmanns Theorie sozialer Systeme tatsächlich einen genuin neuen soziologischen Theorieentwurf darstellt. Weiterhin, was diese Theorie im Detail auszeichnet. Im Folgenden werde ich mich entsprechend nur auf jene Aspekte der Vorbedingungen zur Ausarbeitung einer fachuniversalen Theorie, der Theorie sozialer Systeme, beziehen, die für den Vergleich der Konzepte Theoriefiktion und Theoriedesign von Bedeutung sind.

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bzw. empirische Forschung theoriegeleitet und theoriefundiert sein muss, kritisieren aber, dass empirische Forschung, wenn auch nur zeitbedingt, als Methode sicherer Erkenntnisgewinnung angesehen wird, weil theoriefiktionale Studien nicht von konkreten bzw. eindeutigen Gegenständen, z.B. der Gesellschaft, den Medien oder der Kultur, ausgehen, sondern von konstitutiv vielfältigen und heterogenen, die sich weder vereinheitlichen lassen, noch als (formale) Einheit betrachtet werden können. Das empirische Moment von Theoriefiktionen ist v.a. der Entwurf einer veränderten und verändernden Praxis des jeweils untersuchten Gegenstandsbereichs bzw. davon ausgehender Handlungsmodelle, etwa der Medien, der Kultur oder der Gesellschaft (vgl. Kap. 4.). Durch die permanente Auseinandersetzung mit den soziologischen Klassikern, die die soziologische Theoriebildung bisher wesentlich bestimmt hätte, könnte dieses Ziel nicht verwirklicht werden. Hierbei beschränke man sich vor allem auf eine akribische, aber für das Projekt der Konstruktion einer fachuniversalen Theoriebildung unfruchtbaren Auslegung und Rekombination ihrer Ansätze. Theoriefiktionen lehnen diesbezüglich ab, dass sie sich an einem (fachinternen) Kanon abarbeiten müssen, denn ein Referenzuniversum muss in jeder Studie aller erst geschaffen werden und hat zumeist auch nur für das spezifische Erkenntnisinteresse einer Studie Geltung. Der neue soziologische Theorietypus, den Luhmann ausarbeiten möchte, vertritt einen Universalitätsanspruch im Hinblick auf die Gegenstanderfassung: »Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, dass sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte (wie zum Beispiel Schichtung und Mobilität, Besonderheiten der modernen Gesellschaft, Interaktionsmuster etc.)« (ebd.: 9). Theoriefiktionen lehnen Universalitätsansprüche in jeder Hinsicht ab. Auf Grund der konstitutiven Hybridität von Theoriefiktionen, können diese auch keine studienspezifische Universalität beanspruchen, weil die einzelnen Überlegungen und Themengebiete aus hochgradig vielfältigen Themenspektren bestehen, dass diese die diskursiven Möglichkeiten einer Studie stets überschreiten und Theoriefiktionen so nur beanspruchen (können), Werkzeugkisten zu sein. Der von Luhmann betonte Universalitätsanspruch behauptet allerdings nicht die »Ausschließlichkeit des Wahrheitsanspruchs im Verhältnis zu anderen, konkurrierenden Theorieunternehmungen [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.). Das bedeutet, dass Luhmann seinen Ansatz für potentiell kritisierbar und ergänzbar hält. Auch Theoriefiktionen erheben keinen universalen Geltungs- und Wahrheitsanspruch, sondern verstehen sich als Alternativen, die kein gesichertes Wissen über den jeweiligen Gegenstand anbieten können. Möglichkeiten zur Beurteilung von Theoriefiktionen sind zudem einerseits nur studienintern möglich und werden andererseits dadurch erschwert, dass sie sich nicht auf all-

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gemein verbindliche Gegenstandsbereiche, wie z.B. die (eine) Gesellschaft oder die (eine) Medienlandschaft beziehen. Universalität ohne exklusiven Wahrheitsanspruch als Programm der Theoriebildung Luhmanns bedeutet also, den gesamten Bereich des sozial Wirklichen, d.h. die Gesellschaft und alle gesellschaftlichen Tatbestände einzubeziehen. Zudem bezieht dieser Universalitätsanspruch die Theorie selbst mit ein, d.h. die systemtheoretische Gesellschaftstheorie muss auf sich selbst angewendet werden, sie ist, wie eine Theoriefiktion auch, selbstreferentiell. Dies erfordert, dass Theoriefiktionen stets mit ausführlichen methodisch-methodologischen Überlegungen beginnen müssten. Somit könnte u.a. Luhmanns (1981: 173) Forderung nach »Sequenzierung des Theorieaufbaus [Hervorhebung im Original – MSK]« nachgekommen werden, um größtmögliche Transparenz und Anschlussfähigkeit zu erzielen: »Man müsste Darstellungen einer Theorie, Vorträge oder Bücher so anlegen können, dass zuerst die allgemeinen Gesichtspunkte, Grundbegriffe, Axiome gebracht werden, die Voraussetzung sind für das Verständnis des Folgenden; und dass man dann zu den Folgesätzen, den Anwendungen, den Konkretisierungen übergeht.« Die Ausarbeitung der Theorie sozialer Systeme erfordert weiterhin eine spezifische Terminologie (vgl. Luhmann 1999: 11ff.). Klassische Begriffe der Soziologie, wie Gesellschaft, Handlung, Sinn oder Interaktion müssten eine jeweils theoriespezifische Bedeutung erhalten, damit sie nicht verwechselbar seien. Hierbei gehe es nicht primär um eine Definition von Begriffen durch eine vorausgehende »kritisch[e] Auseinandersetzung mit vorgefundenen Sinngebungen« und ihre anschließende diskursive Rückbindung an den »Kontext der Begriffstraditionen« (ebd.: 11). Vielmehr sollten die verwendeten theoriespezifischen Begriffe sich primär »mit Bezug aufeinander [Hervorhebung im Original – MSK]« bestimmen. Die theorieimmanenten Begriffsdefinitionen schränke die Verwendung der Begriffe stark ein bzw. ermögliche nur ganz spezifische Verwendungen und Bedeutungszuschreibungen, so dass die »Gesamttheorie [...] als ein sich selbst limitierender Kontext aufgefasst« (ebd.: 12) werden müsse. Die Ausarbeitung einer studienspezifischen Sprache bzw. Terminologie ist auch für Theoriefiktionen zentral. Allerdings entwerfen Theoriefiktionen keine, wie Luhmann, monadischen Sprachuniversen, sondern sie versuchen, durch jeweils studienspezifische Definitionen u.a. überdefinierte Begriffe, wie z.B. Gesellschaft und Medien, hohe Transparenz der eigenen Argumentation zu erzielen. Zudem sind auch die Begriffe von Theoriefiktionen so transdisziplinär durchdrungen, dass sie nicht nur studienspezifisch oder theoriefiktional funktionieren, d.h. mit Bezug auf Luhmann: Entweder man arbeitet mit Luhmanns Terminologie und Grundlagen seiner Theorie sozialer Systeme oder nicht – Theorie- und Sprachmixe sind diesbezüglich nicht möglich. Die Notwendigkeit der Ausarbeitung einer spezifischen Sprachordnung ist für Luhmann (ebd.: 13) auch daher zentral, weil »Begriffe [...]

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den Realitätskontakt der Wissenschaft (und das heißt wie immer so auch hier: eingeschlossen den Kontakt mit der eigenen Realität) als Differenzerfahrung [formieren]. Und Differenzerfahrung ist Bedingung der Möglichkeit von Informationsgewinn und Informationsverarbeitung.« Dies gilt prinzipiell auch für Theoriefiktionen, insofern sie offiziellen Sprachordnungen, d.h. etablierten Begriffen und einem anerkannten Begriffsverständnis, eigensinnige entgegensetzen, um eine differenzierte Wirklichkeitsbetrachtung zu erzielen. Hierbei handelt es sich aber nicht um ein Abarbeiten an offiziellen Sprachregelungen, sondern um die Konstruktion eigensinniger Bedeutungsuniversen. Theorieimmanenz und daraus resultierende Empirieabstinenz sowie eine hohe Abstraktionslage seien schließlich die notwendigen Kosten der Ausbildung einer fachuniversalen Theorie: »Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muss sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; [...] Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, dass diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Fluss zu steuern« (ebd.: 12f.). Die Konstruktion einer fachuniversalen Theorie, das spezifische Theoriedesign von Luhmanns Systemtheorie ist allerdings nicht automatisch umsetzbar bzw. zeigt nicht unmittelbar seine Produktivität: »Die Theorieanlage gleicht [...] eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.«47 Theoriefiktionen bemühen sich hingegen viel stärker um die Vermittlung ihrer Überlegungen und versuchen zudem, ausgehend von ihren theoretischen Entwürfen, spezifische Praxisformen auszuarbeiten. Luhmanns Theoriedesign enthält interdisziplinäre Bezüge, u.a. zum Konstruktivismus und zu den Naturwissenschaften. Theorietransporte, wie etwa der Begriff Autopoiesis, werden allerdings nur in bereits transformierter und an seine Theorie sozialer Systeme adaptierter Form verwendet. Kennzeichnend für meine Ausarbeitung einer gesellschaftskritischen Medientheorie der Mediengesellschaft als Theoriefiktion ist ihre Transdisziplinarität und Multiperspektivität. 47 In einem Artikel über Differenz und Wiederholung, von Deleuze (1997), beschreibt Foucault (1977: 7f.) diese Studie als radikale Infragestellung der Grundfeste abendländischen Denkens: »Der berühmte und so fest gedachte Faden ist zerrissen; Ariadne ist verlassen worden, ehe man es glauben mochte: Und die ganze Geschichte des abendländischen Denkens ist neu zu schreiben.« Erwartet Luhmann durch den Entwurf einer Theorie sozialer Systeme, dass er zumindest eine fachuniversale Theorie, durch die die Geschichte des soziologischen Denkens neu geschrieben und die Soziologie zukünftig neu konzipiert werden könnte, lehnen Theoriefiktionen dieses Pathos, das gilt auch für die Einschätzung von Foucault, ab, weil Hybridität, Multiperspektivität und Transdisziplinarität hiermit nicht vereinbar sind.

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Transdisziplinarität

»Transdisziplinarität ursprünglich in einem wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsorganisatorischen Rahmen zur Absetzung von einer oberflächlichen Interdisziplinarität gewählt«, ist, so Mittelstraß (2003: 5; vgl. Mittelstraß 1998), »zu einem Zauberwort der gegenwärtigen Reflexion über die Forschungs- und Organisationsform der Wissenschaft geworden« (vgl. Balsiger 2005).48 Interdisziplinarität (vgl. u.a. Kocka 1987; Mittelstraß 1987; Klein Thompson 2000, 2001; Weingart/Stehr 2000a; Weingart 2000) wird von Mittelstraß als Reaktion auf die fortlaufende Spezialisierung und Partikularisierung in den etablierten Disziplinen sowie auf die zunehmende Unübersichtlichkeit im Wissenschaftssystem beschrieben, etwa hinsichtlich des sich permanent beschleunigenden Wachstums des Wissens. Insofern ist Interdisziplinarität ein wissenschaftspolitisches Schlagwort. Interdisziplinarität verweist darüber hinaus, auf fach- und disziplinenübergreifende Strukturen sowie Strategien in Lehre und Forschung, also auf einen problemorientierten Dialog zwischen den Fächern und Disziplinen49, in dessen Zentrum die Lösung von solchen Problemen bzw. die Definition von Problem und Problemlagen steht, die sich nicht in einem disziplinären Rahmen einfügen und nur durch die Integration von Teilen anderer Disziplinen erreicht werden kann, weil die herkömmlichen Lösungsraster einer Disziplin nicht mehr ausreichen, die entsprechenden Probleme zu bewältigen.50 Insofern kann 48 In jüngster Zeit wird, zumindest im deutschsprachigen Raum, im Kontext der Auseinandersetzung um den Aufbau eigenständiger Konzeptionen der Medienwissenschaften auf deren grundlegende Transdisziplinarität hingewiesen (vgl. z.B. Rusch 2002b; Tholen 2003; Leschke 2003b). 49 Zur Unterscheidung von Fächern und Disziplinen merkt Mittelstraß (1998: 34) an: »[Z]wischen Fächern und Fachlichkeit und Disziplinen und Disziplinarität [wäre] so zu unterscheiden, dass diese der ›einheitsstiftende‹ Rahmen jener sind. Während sich Fächer im Sinne einer zunehmenden Spezialisierung beliebig differenzieren lassen, gilt dies für Disziplinen nicht in gleicher Weise, insofern diese nämlich u.a. durch paradigmatische Theorien und Methoden bestimmt werden. Das bedeutet, dass ein und dasselbe Fach auch unter mehrere Disziplinaritäten treten kann, entweder in ›komplementärer‹ Form, wenn z.B. sowohl mathematische als auch hermeneutische Methoden angewandt werden, oder in ›diskriminierender‹ Form, wenn z.B. empirische Methoden mit hermeneutischen Methoden um die Durchsetzung der ›richtigen‹ Disziplinarität ringen.« 50 Disziplinen sind Wissensgebiete, die durch einen Corpus von allgemein verbindlichen Methoden und Theorien charakterisiert sind. Allerdings gibt es in der Wissenschaftspraxis zumeist Mischformen von disziplinärer und interdisziplinärer bzw. transdisziplinärer (Lehre und) Forschung. Eine weiter gefasste Definition von (wissenschaftlichen) Disziplinen schlagen Weingart und Stehr (2000b: xi) vor: »Scientific disciplines are, in a sense, the eyes through which modern society sees and forms its images about the world, frames its experience, and learns, thus shaping its own future or reconstituting the past. Disciplines are the intellectual structures in which the transfer of knowledge from one generation to the next is cast; that is, they shape the entire system of education. Likewise, disciplines have a great impact on the structure of occupations – the world of practice – and they do so increasingly as societies move from primary (agricultural)

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interdisziplinäre Forschung zu einer Erweiterung der fachlichen bzw. disziplinären Wahrnehmungsfähigkeiten und Problemlösungskapazitäten beitragen. Die Notwendigkeit zur interdisziplinären Forschung resultiert daher nicht aus disziplinären Setzungen, sondern aus der Vielschichtigkeit der entsprechenden Untersuchungsgegenstände selbst. Andererseits soll mit dem Konzept der Interdisziplinarität darauf geachtet werden, dass institutionell-disziplinäre Grenzen nicht zu »Erkenntnisgrenzen [Hervorhebung im Original – MSK]« (Mittelstraß 1998: 31) werden. Diesem Vorhaben korrespondiert, so Mittelstraß (ebd.: 30), die Vermutung, dass mittlerweile eine zunehmende »Unfähigkeit, noch in Disziplinaritäten zu denken« beobachtet werden kann – dies als Resultat der Partikularisierung der Disziplinen und Fächer. Mittelstraß (2003: 9) macht den Vorschlag, echte Interdisziplinarität als Transdisziplinarität zu identifizieren: »Sie [die Interdisziplinarität – MSK] hebt vielmehr fachliche und disziplinäre Engführungen, wo diese der Problementwicklung und einem entsprechenden Forschungshandeln im Wege stehen, wieder auf; sie ist in Wahrheit Transdisziplinarität.«51 Mittelstraß geht hierbei von der Asymmetrie zwischen der Rationalität der Fakten und der Rationalität der historisch gewachsenen Disziplinen aus. Transdisziplinäre Forschung muss somit entsprechende Probleme disziplinunabhängig definieren und lösen. Transdisziplinarität bezieht sich auf drei Bereiche: Wissenschaftstheorie, Hochschuldidaktik und wissenschaftliche Forschungspraxis (vgl. Mittelstraß 2003: 6). Im Unterschied zur Interdisziplinarität, die zumeist eine zeitlich begrenzte Kooperation ist, meint Transdisziplinarität eine Kooperation, die »zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt« (ebd.: 9). Insgesamt zeichnet sich Transdisziplinarität für Mittelstraß (ebd.: 10f.) durch folgende Faktoren aus: Erstens, ist Transand secondary (industrial) to tertiary (knowledge-based) economic orders. Finally, disciplines are not only intellectual but also social structures, organizations made up of human beings with vested interests based on time investments, acquired reputations, and establishes social networks that shape and bias their views on the relative importance of their knowledge. As social organizations, disciplines participate in and contribute to conflicts over political, economic, legal, and ethical decisions, over the distribution of resources and life chances. In all these functions, scientific disciplines constitute the modern social order of knowledge, and the order of knowledge is in this sense a political order as well.« 51 Neben den Konzepten der Inter- und Transdisziplinarität wird auch noch von Multidisziplinarität gesprochen, zumeist dann, wenn in Studiengängen, unter einem allgemeinen Oberbegriff, verschiedene Fächer und Disziplinen vereint werden, ohne die eigenen fachlichen oder disziplinären Orientierungen zur Disposition zu stellen und in einen substanziellen Dialog miteinander zu treten. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein mehr oder weniger passives Nebeneinander. Ein Beispiel hierfür stellt der Duisburger Studiengang Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaften (Kommedia; http://kommedia.interactivesystems.info) dar, der sich aus vier Fächern zusammensetzt: Psychologie, Informatik, Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft.

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disziplinarität ein integratives und kein holistisches Konzept, also (potentiell) forschungsleitend, aber nicht selbst theoriebildend. Zweitens lockert Transdisziplinarität disziplinäre Engführungen problemorientiert, ist aber selbst kein neuer fachlicher oder disziplinärer Zusammenhang, kann also etablierte Fächer und Disziplinen nicht ersetzen. Drittens ist Transdisziplinarität kein transwissenschaftliches Prinzip und konstituiert keine »Interdisziplin [Hervorhebung im Original – MSK]« (Mittelstraß 1998: 45), auch wenn sie, problemorientiert, die Grenzen von Fächern und Disziplinen überschreitet. Entscheidend ist hierbei, dass transdisziplinär definierte Aufgaben und Problemlösungen immer von disziplinären Kompetenzen abhängig bleiben, auch wenn einzelne Disziplinen, die jeweiligen Probleme nicht fach- oder disziplinintern lösen können: »Disziplinarität bleibt [...] die institutionelle Organisationsform der Wissenschaften, Transdisziplinarität ein Forschungsgebot, nicht zuletzt angesichts lebensweltlicher Problementwicklungen« (ebd.). Mittelstraß veranschaulicht seine allgemeinen Ausführungen zum Konzept der Transdisziplinarität fast ausschließlich an naturwissenschaftlichen Beispielen bzw. durch den Hinweis auf Veränderungen der disziplinären Formen der Naturwissenschaften (vgl. ebd.: 13-19), etwa durch den Verweis auf Forschungsinstitutionen wie das Center of Nanoscience (München), das Bio-X-Zentrum (Stanford) oder das Center for Genomics and Proteomics (Harvard). Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Forschungsrealitäten etwa in den Geistes-, Sozial-, Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften bleibt aus. Dadurch ignoriert Mittelstraß, dass Transdisziplinarität in diesen Bereichen zu einer grundlegenden Veränderung dieser Fächer und Disziplinen beitragen könnte, die zudem auch andere organisatorische Formen erfordern würden. Aus dieser Perspektive könnte die These von Mittelstraß, dass alle Transdisziplinarität immer disziplinär rückgebunden bleibt bzw. ihren Ausgang immer von disziplinären Kompetenzen nehmen müsste, problematisiert werden. Weiterhin schränkt Mittelstraß die Funktionen und Möglichkeiten transdisziplinärer Forschung so ein, dass sie nicht mehr als Programm für eine radikale Umgestaltung von Wissenschaft, als konstitutiv andere, alternative Forschungspraxis fungieren kann: »Transdisziplinarität ist ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das überall dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird, kein Theorieprinzip, das unsere Lehrbücher veränderte. Wie Fachlichkeit und Disziplinarität ist auch Transdisziplinarität ein forschungsleitendes Prinzip und eine wissenschaftliche Organisationsform, allerdings in der Weise, dass Transdisziplinarität fachliche und disziplinäre Engführungen aufhebt, die sich eher institutionellen Gewohnheiten als wissenschaftlichen Notwendigkeiten verdanken« (ebd.: 22).

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Diese Einschränkung des Potentials transdisziplinärer Forschung resultiert in der Auffassung, dass Transdisziplinarität allgemeine wissenschaftliche Rationalitätsstandards und herkömmliche Methoden und Formen der Theoriebildung nicht verändern würde. Dass dies zumindest bei transdisziplinären Theoriefiktionen nur bedingt zutrifft, sollten die vorausgehenden Überlegungen sowie der in dieser Studie vorgelegte Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion veranschaulichen. Die Transdisziplinarität von Theoriefiktionen besteht in ihrer Multiperspektivität, d.h. sie bezieht sich auf unterschiedlichste, nicht nur fächer- und disziplinenbezogene Quellen (Fürsprecher) und schafft dadurch Raum, diese Fürsprecher undiszipliniert für das spezifische Erkenntnisinteresse zu nutzen, um somit vielfältige (facheinheitlich unspezifische, aber gegenstandsbezogene und alternative) Perspektiven und Problematisierungen einzunehmen sowie zu produzieren. Dadurch entstehen teilweise andere Anforderungen an transdisziplinäre Theoriefiktionen, als Mittelstraß sie für inter- und transdisziplinäre Forschungen skizziert.

1. D I E W I R K L I C H K E I T D E S S O Z I A L E N UND DIE MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT Das Erkenntnisinteresse in diesem Kapitel besteht darin, bevor die Grundlegung des Medienkonstruktivismus (vgl. Kap. 2.) aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie vorgestellt und an Beispielen veranschaulicht wird, zunächst allgemeintheoretisch zu klären, was eine gesellschaftskritische Medientheorie unter sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit (Kap. 1.1, Kap. 1.3, Kap. 1.4) versteht und worin sich beide unterscheiden (vgl. Kap. 1.2).1 Hinsichtlich der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, wird es nicht darum gehen, die verschiedenen relevanten sozialwissenschaftlichen Positionen umfassend zu diskutieren.2 Vielmehr wird durch den Rekurs auf die Überlegungen von Berger und Luckmann (1996) diesbezüglich ein prominenter sozialwissenschaftlicher Ansatz zur Beschreibung der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit thematisiert. Zudem können die Positionen von Berger und Luckmann auch als Ausdifferenzierungen zur Beschreibung der medialen Konstruktion von Wirklichkeit betrachtet werden (vgl. Kap. 1.1, Kap. 1.2, Kap. 1.4, Kap. 2.), weil in diesen (Diskurs-)Kontexten zumeist nicht explizit über die anthropologischen und sozialtheoretischen Grundlagen des Konstruktionsprozesses nachgedacht wird. Diese Vorarbeit ist notwendig, zumindest aber in Form eines Hinweises auf die entsprechenden theoretischen Referenzen, die die fallspezifischen Analysen zur medialen Konstruktion von Wirklichkeit jeweils leiten, weil die soziale und die mediale Konst1

2

In diesem Kapitel handelt es sich primär, auch wenn einige Beispiele erwähnt werden, um eine Diskursanalyse von sozial- und medienkonstruktivistischen Diskursen, die einerseits die Fürsprecher des Medienkonstruktivismus einer gesellschaftskritischen Medientheorie vorstellt und damit andererseits die Grundlage für die spezifische Konzeption der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie schafft. Genauso wenig werden die unterschiedlichen Perspektiven zur medialen Konstruktion (sozialer) Wirklichkeit umfassend und vergleichend thematisiert.

SOZIALE UND MEDIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT

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ruktion von Wirklichkeit nur als Interdependenzprozesse gedacht werden können. Die Grundlagen der sozialen Konstruktion sind somit für die mediale von zentraler Bedeutung, ebenso wie die der medialen für die soziale. Darüber hinaus sind es v.a. vier Aspekte, die die Überlegungen von Berger und Luckmann für eine gesellschaftskritische Medientheorie, wie sie in dieser Studie entworfen wird, interessant machen: erstens, Berger und Luckmanns Beschreibung des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum als einem spannungsreichen Interdependenzgeflecht bzw. als dialektischen Prozess; zweitens, ihre These, dass die Gesellschaft eine objektive und subjektive Wirklichkeit ist; drittens, die zentrale Bedeutung der Sprache, hinsichtlich der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit; viertens, ihre Fokussierung auf die Alltagwirklichkeit, weil Medienproduktionen sich zunächst und zumeist an diese Wirklichkeit richten. Das Interesse an der Studie von Berger und Luckmann ist in diesem Kapitel entsprechend spezifisch eingeschränkt. Es wird keine Diskussion der Rezeptionsgeschichte dieser Studie präsentiert; ihre Bedeutung im Kontext der Wissenssoziologie bzw. ihre wissenssoziologische Ausrichtung nicht eigens behandelt3; ebenso wenig wie die theoretischen Referenzen der Überlegungen von Berger und Luckmann und auch nicht die Weiterentwicklung ihres Ansatzes. Zudem geht es nicht um eine systematische und vollständige Zusammenfassung sowie Kritik ihrer Überlegungen. Vielmehr werden der Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, der aus den drei Komponenten Internalisierung, Objektivation und Externalisierung besteht, sowie die Bedeutung der Sprache bzw. Kommunikation hierbei, kurz erläutert. Nicht zuletzt wird auf ihre problematische Marginalisierung der Rolle der Medien hinsichtlich der Beschreibung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit hingewiesen.

1.1

DIE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT. EINE PROBLEMSKIZZE

»Die Hierarchie von erster Wirklichkeit und zweiter Medienrealität ist […] ein ideologisches Konstrukt [Hervorhebung im Original – MSK]« (Hartmann 2003: 47).

Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Kapitel ist die These, dass soziale und mediale Wirklichkeiten stets konstruierte4 Wirklichkeiten 3 4

Aus diesem Grund steht auch nicht die Analyse des Wissens bzw. sozialer und medialer Wissensformen im Zentrum dieser Studie. Hier und im Folgenden wird der Begriff der Konstruktion, entsprechend der theoriefiktionalen Ausrichtung dieser Studie, primär metaphorisch verwendet, weil durch ihn v.a. ein diskursives Geschehen beschrieben wird, das sich aber auch

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KAPITEL 1

sind, also keine natürlichen bzw. ursprünglichen Ordnungen darstellen, die zeit- und gesellschaftstunabhängige Gültigkeit besitzen sowie konsenspflichtig und repräsentativ sind.5 Wirklichkeit wird insofern als Erfindung und nicht als Entdeckung6 verstanden, die durch Kommunikation, Interaktion, Diskurs und soziales Handeln aufgebaut bzw. hervorgebracht wird, es sich hierbei also um keine a priori objektive oder perspektivenfreie Wirklichkeit handelt, deren Wesen entdeckt werden kann. Wirklichkeitskonstruktionen sind dementsprechend kontingente Prozesse und keine Abbildungen essentialistischer Wirklichkeiten.7 Eine grundlagentheoretische Diskussion der Frage, ob zwischen (Erfahrungs-)Wirklichkeit und Realität unterschieden bzw., ob die Existenz einer materiellen, real existierenden Außenwelt, die bereits unabhängig von uns gegeben sei, behauptet werden könnte oder diese erst durch unsere Sinneswahrnehmung konstituiert würde, übersteigt den Rahmen dieser Studie und stellt zudem einen anderen, als den hier gewählten Untersuchungsschwerpunkt dar. Allerdings hat sich, wie Karpenstein-Eßbach (2004: 169) betont, die erkenntnistheoretische Problematik der Erkennbarkeit der Wirklichkeit durch die Medien beträchtlich verschärft: »Denn mit Medien treten eine Fülle von Mitteln, Vermittlern zwischen den wahrnehmenden bzw. erkennenden Menschen und das Objekt seiner Wahrnehmung. Der Zugang zu dem, was als Wirklichkeit ausgezeichnet werden könnte, wird damit indirekter, und es wird zwingend nötig, diese Mittel und Vermittler mit in Rechnung zu stellen.« Leitend für diese Studie ist die basale Unterscheidung, die Weber (2003c: 185) vorschlägt: »[...] Wirklichkeit wird als jene phänomenale Welt definiert, die von uns erzeugt wird, und Realität als das unerkennbare Jenseits dieser Wirklichkeitskonstruktionen, das nicht geleugnet

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(potentiell) handelnd verwirklichen lässt. Der Begriff Konstruktion bezieht sich aus dieser Perspektive auf drei Ebenen, die Hacking (1999: 67) hervorhebt: »Konstruktion im Sinne von Interpretation, Konstruktion im Prozesssinn und Konstruktion im Produktsinn sind unvermeidlich miteinander verflochten, doch wer sie nicht auseinander hält, fällt längst vergessenen Etymologien zum Opfer.« Interpretation meint die Diskursivität des Konstruktionsbegriffs; Prozesssinn seine handelnde Aneignung sowie seinen Gebrauch; Produktsinn die Materialisierungen, die sich aus den ersten beiden Ebenen ergeben (können). Im vorausgehenden Methoden-Kapitel wurde diese Zurückweisung wissenschaftstheoretisch begründet. In diesem Kapitel wird es darum gehen, sie medien- und sozialtheoretisch zu veranschaulichen. Hiermit ist eine Entdeckung über die Wirklichkeit gemeint, die als gesellschaftsunabhängig gültig aufgefasst wird, im Sinne eines Identifizierens der universalen Urbilder sozialer Wirklichkeit, die diskursiv und/oder handelnd repräsentiert werden (können). Dass es im Prozess der Sozialisation bzw. in der alltäglichen Erfahrung mit der Wirklichkeit auch Entdeckungen über diese gibt, wird durch diese Behauptung nicht ausgeschlossen. Ich werde im Folgenden, um mein Projekt zu kennzeichnen, durchgehend die Begriffe Konstruktivismus und konstruktivistisch verwenden und nicht Konstruktionismus und Konstruktionalismus (vgl. u.a. Burr 1995; Hacking 1999; Gergen/ Gergen 2003; Schneider 2005).

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wird.« In den folgenden Kapiteln zur sozialen und medialen Konstruktion von Wirklichkeit wird diese Unterscheidung allerdings nochmals problematisiert und zwar vor dem Hintergrund der These, dass sich, wie in der Einleitung bereits herausgestellt, soziale Wirklichkeit im Spannungsfeld individueller Existenz und objektiver Wirklichkeit bzw. subjektiver und objektiver Kultur konstituiert. Diese Betonung der Objektivität von Wirklichkeit und Kultur ist nicht als ontologischer Rückfall in einen Realismus oder Essentialismus aufzufassen. Vielmehr handelt es sich hierbei um kontingente Ordnungs- und Orientierungssysteme sozialer und medialer Wirklichkeiten, denen kein (absoluter) Wahrheits-, sondern lediglich ein zeitbedingter Gewissheitsstatus zukommt. Objektivität und Wahrheit werden aus dieser Perspektive zwar als absolute Größen ausgeschlossen, nicht aber die Existenz und pragmatische bzw. psychologische Notwendigkeit von Wahrheiten, Evidenzen oder Plausibilitäten, die sich u.a. am jeweils relevanten Status des Wissens und Handelns oder an den Wertund Normsystemen bestimmter Gesellschaften orientieren. Die Konsequenz dieser Perspektive bringt Schmidt (2000: 43) zum Ausdruck: »Wenn der Wirklichkeitsbegriff nicht mehr allein an ›die Realität‹ gebunden, also ontologisch definiert werden kann, dann pluralisieren sich automatisch Wirklichkeitsmodelle und unterscheiden sich nach dem Grad und der Richtung ihrer Gangbarkeit (Viabilität), nach der Art ihrer Operationalisierung, nach der Relevanz, die sie für das Problemlösen und Überleben haben [...].« Soziale und mediale Wirklichkeiten werden in diesem Kontext nicht, entsprechend dem einleitenden Zitat von Hartmann, als konstitutiv unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche aufgefasst, sondern als spannungsreiche Interdependenzgeflechte, die ihre (diskursiven) Formen bzw. Erscheinungsweisen durch diese Interdependenzen erhalten.8 Ein ontologisch9 gedeuteter Dualismus von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit wird hiermit obsolet – ebenso wie die Fragen nach dem Verhältnis von Objektivität und Wahrheit oder ei8

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Hingegen beobachtet u.a. Negt (1991: 30) den »merkwürdige[n] und bestürzende[n] Tatbestand, dass eine zweite Wirklichkeit im Entstehen begriffen ist, eine mit eigenen Gesetzen und Verlockungen ausgestattete Medien-Wirklichkeit [Hervorhebung im Original – MSK]«. In diesem und im folgenden Kapitel geht es nicht um eine grundsätzlich philosophische bzw. erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. hierzu u.a. Sandkühler 1992). Vielmehr soll eine (allgemeintheoretische sowie theoriespezifische) Grundlage geschaffen werden, von der aus die Themen Medienkritik, Medienkompetenz und Medien-Heterotopien diskutiert werden können. Das Interesse am Medienkonstruktivismus ist somit wesentlich ein pragmatisches, weil, wie in der Einleitung und im MethodenKapitel bereits erwähnt, die in der Theorie angelegten bzw. angedeuteten Handlungsebenen bzw. Praxisfelder, das Ziel einer gesellschaftskritischen Medientheorie sind. Um diese auch nachhaltig gestalten, d.h. institutionalisieren zu können, bedarf es andererseits einer soliden Theoriebasis. Die Interdependenz von Theorie und Praxis ist hierfür grundlegend. Theorie als Imaginator möglicher Handlungs- bzw. Praxisfelder ist u.a. das, was eine gesellschaftskritische Medientheorie zur Theoriefiktion macht.

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ner verbindlichen Deutung von Individuum und Gesellschaft. Weiterhin ist vor diesem Hintergrund, wie Schmidt (ebd.: 51) betont, die Frage, »ob man neben dem Konzept der (Erfahrungs-)Wirklichkeit noch ein Konzept von ›Realität‹« braucht, irrelevant, denn: »Es dürfte ohne große Begründungen einleuchten, dass man die Frage nach der Wirklichkeit oder der Realität nur ›in der Wirklichkeit‹ stellen kann. Ebendarum hat jeder, der diese Frage stellt, sie auch schon im positiven Sinn beantwortet. [...] Die Frage nach der Existenz der Wirklichkeit ist also eine sinnlose Frage, da die Wirklichkeit eine Bedingung und kein Resultat der Prädikation ist« (vgl. Merleau-Ponty 1966; Waldenfels 2000: 216).

Jede Gegenposition zur (sozialen, alltäglichen) Wirklichkeit, etwa die Rede von der virtuellen Realität, der Hyperrealität oder dem Verschwinden der Realität in medialen Welten, bleibt also, dies legen die Überlegungen von Schmidt nahe, letztlich mit dieser verbunden. Insofern gibt es, dramaturgisch formuliert, keinen Ausbruch bzw. Auszug aus der Wirklichkeit. Vom Verschwinden des Wirklichen in den und durch die Medien kann also keine Rede sein. Andererseits können, wie Doelker (1979: 96) betont, fiktionale (und mediale) Wirklichkeitskonstruktionen, etwa in der Literatur, aber auch in der Kunst oder im Film und Fernsehen, dazu beitragen, zukünftige (soziale) Wirklichkeitsszenarien zu antizipieren: »Dichterische Imagination kann [...] Vorgriff auf eine spätere reale Wirklichkeit sein. So nehmen Romane wie Aldous Huxleys ›Brave new world‹ und Jules Verne ›De la terre à la lune‹ vieles vorweg, was sich hernach tatsächlich in ähnlicher Weise ereignet hat.«10

10 Für Doelker (1979: 97ff.) sind es v.a. drei Aspekte, die den unauflösbaren Konnex zwischen fiktionaler, im Sinne von literarischer, künstlerischer oder medialer, und sozialer Wirklichkeit ausmachen: Anlehnung, Typisierung und Verfremdung: »1. Anlehnung [...] Das dargestellte Geschehen spielt sich so ab, wie es sich in der tatsächlichen Wirklichkeit zutragen könnte oder zugetragen hat. Der Unterschied zwischen effektivem und nur möglichem Geschehen ist dabei irrelevant; was zählt, ist Plausibilität. [...] 2. Typisierung [...] Angesichts der Komplexität der Wirklichkeit ist es ein Anliegen [...], die Darstellung der Wirklichkeit von unwesentlichen Nebenelementen zu entschlacken und durch Überhöhung eine Aussage von allgemeiner Gültigkeit zu formulieren. [...] 3. Verfremdung [...] Im Gegensatz zum Prinzip der Anlehnung, das einen möglichst nahtlosen Anschluss an die vertraute Wirklichkeit sucht, will das Prinzip der Verfremdung ein Ansetzen von der bekannten Realität erreichen [...].« Eine konstitutive Interdependenz zwischen sozialer und medialer Wirklichkeit, wie in dieser Studie behauptet wird, vertritt Doelker allerdings nicht – dies zeigen z.B. Formulierungen wie tatsächliche Wirklichkeit an, wodurch letztlich eine Hierarchie der Wirklichkeitsverhältnisse zum Ausdruck gebracht wird. Für Doelker ist diese Hierarchisierung in seiner Sicht der Medien einerseits als »Strategien der Wirklichkeitsbewältigung [Hervorhebung im Original – MSK]«, die in diesem Sinne fortführen, was zuvor mit anderen Mitteln versucht wurde (Doelker führt hierzu allerdings keine Beispiele an), und andererseits als eigensinnige (mediale) Wirklichkeiten, begründet – vgl. hierzu programmatisch die kurzen Ausführungen im Vorwort (ebd.: 9).

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Spätestens seit Erscheinen der zum internationalen Klassiker gewordenen Studie Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann (1996) im Jahre 1966, gehört die Rede von der (sozialen) Konstruktion von X zum festen Bestandteil nicht nur sozialwissenschaftlicher Forschung (vgl. Hacking 1999).11 Diese Rede ist mittlerweile fast inflationär geworden und wird zumeist im Spannungsfeld von Skepsis und Faszination verwendet. Die skeptische Perspektive hält diesen Begriff für zu plakativ, unklar und abgegriffen, die faszinierte gebraucht ihn zumeist als Kampfvokabel, die einen Befreiung- und Bewusstmachungseffekt besitzt (vgl. Gergen/Gergen 2003: 34ff.). Insofern soll der Nachweis der sozialen Konstruktion von X zur Problematisierung und Veränderung der alltäglichen (sozialen, kulturellen, individuellen usw.) Betrachtungsweise von Wirklichkeiten, also der Verlässlichkeit von alltagspragmatischen, weltanschaulichen und historischen Erfahrungen mit ihr sowie von Gewissheiten und Wirklichkeitsverhältnissen beitragen, deren Bedeutungen und Funktionen als selbstverständlich und unabänderlich sowie als quasiintuitive und empirische Erfahrungen erscheinen (vgl. ebd. 7-17). Die der Rede von der Wirklichkeitskonstruktion zu Grunde liegende These behauptet, dass eigentlich alles konstruiert sei und die Konstruiertheit der Wirklichkeit als conditio sine qua non des Erkennens erscheint, also Menschen nicht nicht konstruieren12 bzw. sich nicht für oder gegen die Konstruktion der Wirklichkeit entscheiden können. So wird u.a. von der Kriminalität (Althoff 1999), der Transsexualität (Hirschauer 1993) und der okkulten Wirklichkeit (Stenger 1998) wie von Naturgefahren (Weischelgartner 2002) und Quarks (Pickering 1986) behauptet, dass sie sozial konstruiert seien, aber auch von der Realität der Massenmedien (Luhmann 1996) und der politischen Wirklichkeit (Shihano 2002) genau so wie von der Sexualität (Flicker 1999; Seidman 2003), Gender (Lober/ Farrell 1991) und den Emotionen (Harré 1986), nicht zuletzt von der Zeit (Beck 1994) und der sozialen Ungleichheit (Ore 2003). Diese häufige Verwendung des Begriffs (soziale) Wirklichkeitskonstruktion in allen möglichen Kontexten sowie die Vielzahl von unterstellten Sachverhalten, Akteuren und Relationen, auf die sich dieser Begriff beziehen soll, erschwert mögliche Eingrenzungsversuche und verhindert seine konsensuelle Festlegung.13 Zudem bleibt fraglich, ob die Rede von 11 Zudem handelte es sich hierbei um die erste Studie, die den Begriff der sozialen Konstruktion im Titel trug. 12 Entsprechend verweist Weber (1988i) darauf, dass man nicht nicht handeln könnte und Watzlawick (1995) betont, dass es unmöglich sei, nicht nicht zu kommunizieren. 13 Beide Aspekte werden in dieser Studie nicht als Nachteil verstanden, sondern als Möglichkeit ergriffen, eine eigensinnige Verwendung dieses Begriffs vorzuschlagen. Zur Einführung in das Konzept des sozialen Konstruktivismus, allerdings mit dem Fokus auf psychologische und sozialpsychologische Aspekte, s. Burr (1995). Die Untersuchungsgegenstände von Burr sind der Begriff der Per-

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KAPITEL 1

der sozialen Konstruktion von X noch sinnvoll erscheint, wenn die soziale Konstruktion von allem und jedem, per se und immer schon, behauptet wird.14 Was wäre dann noch das Besondere dieser Rede? Weber (2002: 12) weist in diesem Kontext zu Recht auf »das altbekannte logische Dilemma des infiniten Regresses« hin, das aus der Behauptung »›Alles ist Konstruktion‹« resultiert, denn: »Wenn ›alles‹ Konstruktion ist, dann auch dieser Satz eben usw. usf. – doch welchen Erkenntniswert hat diese Satzkette dann noch?« Ein anders (formallogisches) Problem besteht in der Behauptung der Unerkennbarkeit der Realität (vgl. etwa Glasersfeld 1996). Wie ist aber die Unerkennbarkeit der Realität selbst erkennbar, aussagbar und analysierbar? Ohne die sich hieraus ergebende erkenntnistheoretische Diskussion fortführen zu wollen, muss eine für diese Studie grundlegende Positionierung vorgenommen werden: Wenn, wie zuvor behauptet, davon ausgegangen wird, dass soziale und mediale Wirklichkeiten stets konstruierte sind, dann wird hiermit nicht die Existenz einer objektiven Außenwelt geleugnet. Nur kann über diese Außenwelt keine sichere, objektive Aussage über ihre wahre Form und Beschaffenheit sowie die Modalitäten ihres Seins getroffen werden, weil sich zwischen Außenwelt und Erkennen immer der Filter der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und -modalitäten befindet. Wirklichkeit ist aus dieser Perspektive zunächst und zumeist immer (subjektiv) wahrgenommene Wirklichkeit, wodurch der Wahrnehmung von Anfang an Grenzen gesetzt sind. Wahr genommen wird der der menschlichen Wahrnehmung zugängliche Teil der Welt, und zwar in einer Art und Weise, die den menschlichen Wahrnehmungsmodalitäten adäquat ist.15 Das bedeutet, dass die Außenwelt nicht sönlichkeit, die Rolle der Sprache hinsichtlich des Verstehens von menschlichem Verhalten und Erfahrungsbildung, die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten durch Diskurse sowie, an Foucault orientiert, der Zusammenhang von Diskurs und Macht. 14 Diese Position kann als universeller sozialer Konstruktivismus bezeichnet werden, der nicht nur die Erfahrungen mit den als sozial konstruiert bezeichneten Objekten sowie die Klassifikationen und Interessen an bzw. den Gebrauch dieser Gegenstände umfasst, sondern die jeweiligen Dinge selbst. 15 Doelker (1979: 23f.) hebt diesbezüglich die Funktion der Wahrnehmung als Tor zur Wirklichkeit hervor und verweist auf die in diesem Kontext konstitutive Bedeutung der Sprache, womit auch (implizit) die Interdependenz zwischen Medien und Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wird: »Wahrnehmung ist unsere Verbindung zur Wirklichkeit, wobei diese als physikalische Umwelt, als Objektwelt verstanden wird. Diese Wirklichkeit begegnet uns in einer unendlichen Vielfalt. Dabei ist es völlig ausgeschlossen, die ganze in der Umwelt enthaltene Information zu registrieren. Wahrnehmung ist deshalb notwendig selektiv. Und zwar wählt unsere Wahrnehmung aus, was für uns bedeutungsvoll ist. [...] Wahrnehmung wählt aus, was für den einzelnen bedeutungsvoll ist. Bedeutungsvoll heißt nicht nur wichtig, sondern auch, was eine bestimmte Bedeutung trägt. Solche Bedeutungen sind in der Sprache angelegt. So kann sich Wahrnehmung an der Sprache orientieren. Die Sprache benennt die Dinge, und wir nehmen diese als die benannten wahr. Wir sehen, empfinden und differenzieren die Wirklichkeit so, wie uns die Sprache Begriffe zur Verfügung hält. Das heißt

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so sein muss, aber so sein kann, wie wir sie wahrnehmen (vgl. hierzu grundlegend Platon u.a. 2004a; Kant 1990; zusammenfassend Vaihinger 2000). Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitserschließung und Wirklichkeitsverstehen sind daher stets perspektivisch: »Aber auch eine perspektivisch wahrgenommene Wirklichkeit ist – Wirklichkeit. Sie ist es dadurch, dass wir auf sie als außersprachliche Bezugsgröße referieren. Würden wir das nicht, hätte unsere Rede keine Bedeutung. Insofern heißt perspektivisch nicht: ganz und gar kontingent. Realität ist das, worin subjektives Erleben einer Korrektur durch äußere Widerstände oder durch das Erleben anderer ausgesetzt und damit subjektives Erleben zugleich eingeschränkt und ausgezeichnet ist. In diesem Sinne ist Realität ein Vollzug und primär auf Erfahrung gegründet [Hervorhebung im Original – MSK]« (Vaihinger 2000: 58).16

Um dennoch eine fundierte Basis zur Auseinandersetzung mit dem Thema der (sozialen und medialen) Konstruktion von Wirklichkeit zu schaffen, ohne hierbei die zuvor skizzierten erkenntnistheoretischen Grundlagenprobleme zu diskutieren, ist es notwendig, zunächst eine zumindest studienspezifische Definition vorzuschlagen, was unter der (sozialen) Konstruktion von Wirklichkeit verstanden wird? Alle Wirklichkeitskonstruktionen sind letztlich soziale, weil das Gesellschaftliche sowie das Weltgesellschaftliche die Kontexte sind, in denen sich (soziale, kulturelle, individuelle usw.) Wirklichkeit kontinuierlich für uns abspielt, uns begegnet, von uns geformt wird sowie uns formt. Zentral ist hierbei, dass Wirklichkeitskonstruktionen stets sozial, kulturell und historisch variieren, also grundsätzlich kontingent sind und es somit keine universellen Gesetzmäßigkeiten für soziale Wirklichkeitskonstruktionen gibt, ebenso wenig, wie diese einheitliche Sinn- und Bedeutungsschemata generieren. Es gibt so z.B. gesellschaftliche bzw. kulturelle Universalien, wie Liebe und Tod, Krieg und Frieden, Hunger und Durst, Macht und Ungleichheit, die allerdings erst durch ihre spezifischen Konstruktionen in historischen, gesellschaftlichen und/oder kulturellen Kontexten ihre jeweiligen (eigenauch, dass diese Bedeutungen durch Übereinkunft, durch Konsens, geregelt sind. Entsprechend finden sowohl in der Sprache als auch in der Wahrnehmung bestimmte sozio-kulturelle Verhältnisse ihren Niederschlag [Hervorhebung im Original – MSK].« Sprache, dies stützt die These von Doelker, kann, wie es für diese Studie gilt, als das für den Menschen zentralste Medium bezeichnet werden, durch die alle anderen Medien allererst kontextualisiert und in-formiert, d.h. verstanden bzw. verstehbar, verwendet bzw. verwendbar und gestaltet bzw. gestaltbar werden (können). 16 Daraus zieht Früh (1994: 25) den Schluss: »Wenn es grundsätzlich unmöglich ist, die Realität zu erkennen, dann wird auch Medienrealität als ein Produkt menschlicher Wahrnehmung prinzipiell nicht den Anspruch erheben dürfen, Realität ›objektiv‹ darstellen zu können. Doch selbst wenn man eine objektive Erkenntnis unterstellte, wäre dadurch nicht einmal die Möglichkeit gesichert, unter optimalen Bedingungen eine objektive Medienrealität zu erreichen (also abgesehen von allen pragmatischen Einschränkungen und Defiziten eines niemals optimal funktionierenden Mediensystems).«

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sinnigen und heterogenen) Sinn- und Bedeutungsdimensionen erhalten (vgl. Schneider 2005: 724)17. Durch den Gebrauch des Begriffs der sozialen Konstruktion von X soll also primär die Autorität von herkömmlichen, als gesellschaftlich legitim und notwendig aufgefassten Wissensformen, Erkenntnissen, Kategorisierungen, Verhaltensmustern, Handlungsformen usw. tendenziell untergraben werden. Sozialkonstruktivistische Ansätze stellen insofern nicht nur, wie Schneider (ebd.) betont, funktionale Analysen jeweiliger Konstruktionsprozesse dar, sondern sind zugleich als Kritik an diesen zu verstehen (vgl. Hacking 1999: 19f.). Schneider lässt hierbei allerdings offen, ob sozialkonstruktivistische Ansätze auch konkrete Perspektiven und Maßstäbe formulieren (sollten), wie soziale Wirklichkeiten konkret verändert bzw. kritisiert werden könnten oder ob diese Ansätze sich darauf beschränkten, dass ihre Kritik, verstanden als Negation an der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion in ihrem status quo, implizite Möglichkeitsräume öffne, die von denjenigen, die von den jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen betroffen seien oder sich für diese interessierten, konkret gestaltet werden müssten. Eine erste Antwort auf die Frage, wie die spezifische Bedeutung bzw. Funktion der Kritik sozialkonstruktivistischer Ansätze, die sich der von Schneider skizzierten Traditionslinie zuordnen lassen, zumindest theoretisch bestimmt werden könnte, wäre durch Mannheims (1970: 315) Begriff des »enthüllende[n] Bewusstsein[s]« möglich. Dieses Bewusstsein bestehe darin, »dass man nicht so sehr darauf ausgehe, gewisse 17 Der Textband Social Construction: A Reader von Gergen und Gergen (2003; vgl. auch Gergen 2001) bietet einen quellenbasierten und interdisziplinären Überblick über klassische sowie aktuelle Positionen des sozialkonstruktivistischen Diskurses – interessanterweise, ohne hierbei einen Text von Berger und Luckmann abzudrucken. Hervorgehoben werden muss die instruktive Strukturierung und Kommentierung des Readers durch die Herausgeber, die die dokumentierten Texte in sieben Themenkomplexe aufteilen, um die vielfältigen und zentralen Gesichtspunkte hervorheben. Diese Einteilungen lauten: The Social Construction of the Real and the Good, Constructing the Person: Culture and Critique, Horizons of Enquiry, The Relational Reconstruction of the Self, Profusions of Practice, Cultural Analysis, Constructionism in Question. Burr (1995: 2) betont, dass es zwar keine allgemeinverbindliche Definition des sozialen Konstruktivismus gebe und auch eine nur heuristisch gemeinte nicht sinnvoll sei. Hingegen könnten aber vier Aspekte hervorgehoben werden, die sozialkonstruktivistische Ansätze auszeichnen würden: »1. A critical stance towards taken-for-granted knowledge [...] 2.Historical and cultural specificity [...] 3. Knowledge is sustained by social processes [...] 4. Knowledge and social action go together [...]« (ebd.: 2ff.). Zudem seien sozialkonstruktivistische Ansätze in der Regel anti-essentialistisch und anti-realistisch, betonten, dass Sprache das Denken präformiere und als eine Form sozialen Handelns begriffen werden müsste sowie das Interaktion und soziale Praxis als zentrale Instanzen thematisiert würden (ebd.: 5ff.). Diese letzten Aspekte führt Burr zwar nur auf, um sozialkonstruktivistische Ansätze von den traditionellen Positionen der Psychologie zu unterscheiden, dennoch stellen sie allgemeine Charakteristika dieser Ansätze dar, die auch als diese unabhängig von Burrs Vergleich bezeichnet werden können.

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Ideen einfach zu negieren, für falsch zu erklären oder anzuzweifeln, sondern danach trachtet, sie zu zersetzen, und zwar in einer Weise, dass dadurch zugleich das Weltbild einer sozialen Schicht zersetzt wird. Es gilt hier die phänomenologische Differenz ins Auge zu fassen, die zwischen einer ›Negation‹, dem ›Bezweifeln‹ einer Idee und ihrer ›Funktionalitätsbestimmung‹ besteht. Negiere ich eine ›Idee‹, so setze ich sie selbst als ›Thesis‹ voraus und stelle mich dadurch noch immer auf denselben theoretischen (und ausschließlich theoretischen) Boden, auf dem sie sich selbst konstituiert. Auch wenn ich die ›Idee‹ bezweifle, mache ich die Setzung als Voraussetzung mit. Nur wenn ich eigentlich darauf gar nicht eingehe (oder das Schwergewicht nicht auf dieses Eingehen lege), ob etwas wahr sei, sondern Ideen lediglich in ihrer außertheoretischen Funktionalität erfasse, entsteht eine Enthüllung, die eigentlich gar keine theoretische Widerlegung ist, sondern eine vom Leben her vollzogene Auflösung der Wirksamkeit dieser Ideen [Hervorhebung im Original – MSK].« Das Zersetzen von Diskurs-Wirklichkeiten ist hingegen nicht das Ziel dieser Studie, der es grundsätzlich darum geht, eine Alternative zu sein. Eine zersetzende Wirkung könnte sie aber dennoch potentiell besitzen. Eine Verbindung zum theoriefiktionalen Ansatz dieser Studie besteht im Versuch, nicht eine direkte Kritik an oder Negation von anderen DiskursWirklichkeiten zu üben, sondern in einem anderen Raum Szenarien zu entwerfen, die keine Wiederholung der kritisierten Wirklichkeit unter negativen Vorzeichen darstellen, also sich letztlich am Gegenstand der Kritik abarbeiten, sondern vielmehr den Gegenstand der Kritik von einem Außen als problematisch erscheinen lassen – Mannheim nennt ihn außertheoretische Funktionalität, in dieser Studie wird er als Theoriefiktion und Heterotopie bezeichnet. Hacking (1999: 27f.) problematisiert in diesem Kontext die Verwendung des Begriffs der sozialen Konstruktion als Kritikinstrument, wenn durch ihn nur darauf hingewiesen werden solle, dass das jeweils als konstruiert Bezeichnete, das »kontingente Ergebnis« sozial-kulturellhistorischer Verhältnisse sei, von dem jeder wisse bzw. es als solches erkenne, aber das in seiner spezifischen Erscheinung nicht notwendig hätte so existieren müssen.18 An dieser Stelle bezieht sich Hacking auf die soziale Konstruktion der Klassifikation Flüchtlingsfrau, wie sie in der Studie von Moussa (1992) thematisiert wird: »Frauen auf der Flucht oder vor der Einwandererschranke sind als Folge sozialer Ereignisse unterwegs oder stehen dort. Jeder weiß das, und nur ein Dummkopf (oder jemand, der sich gern an eine Mode anhängt) wird es für nötig halten zu sagen, sie seien sozial konstruiert. Die Behauptung, X sei sozial konstruiert, kommt gerade dann auf, wenn feststeht: (0) Beim gegenwärtigen Stand der Dinge wird X für selbstverständlich gehalten; X erscheint unvermeidlich. In mei18 Vgl. zu weiteren kritischen Einwänden gegen sozialkonstruktivistische Positionen u.a. Gergen/Gergen (2003: 230ff.).

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nem Beispiel ist der Begriff der Flüchtlingsfrau offenbar unvermeidlich, sobald die relevanten Praktiken – die praktischen Umstände der Nationalität, der Einwanderung, der Staatsbürgerschaft und der Frauen auf der Flucht, die in das Land kommen, um Asyl zu beantragen – zusammentreffen. [...] Die Aussage (0) ist weder eine Annahme noch eine stillschweigende Voraussetzung in Bezug auf X. (0) gibt eine Vorbedingung für eine sozial-konstruktionistische These über X an. Ohne die Aussage (0) besteht keine Neigung [...], von der sozialen Konstruktion eines X zu reden.«

Dies deshalb nicht, weil, wie Hacking (1999: 28) betont, bei vertraglichen oder institutionellen Objekten, niemand zweifeln würde, dass sie das Ergebnis (kontingenter) historischer und sozialer Prozesse seien. Weiterhin könnte man, so Hacking (ebd.: 68f.), auf das Beiwort sozial in den meisten Kontexten verzichten, weil sie »sofern sie überhaupt konstruiert werden können, [sich] gar nicht anders als sozial konstruieren« lassen. Aus diesem Grund solle der Zusatz sozial nur dann verwendet werden, wenn es sich um eine notwendige sowie unumgängliche Hervorhebung oder Gegenüberstellung handle. Zumeist wäre dies in Kontexten der Fall, in denen man über Naturphänomene spreche. In der vorliegenden Studie geht es entsprechend nicht um den Nachweis, dass Medien soziale Wirklichkeit mitgestalten oder grundlegend konstruieren, sondern um die folgenden vier Aspekte: (1) Das spezifische Wie dieses Konstruktionsprozesses aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion an ausgesuchten Gegenständen (Öffentlichkeit, Unterhaltung und Manipulation) zu veranschaulichen. (2) Die Frage, was diese medialen Konstruktionen für die soziale Wirklichkeit bedeuten (vgl. zu den Fragen 1 und 2 Kap. 2.). (3) Welche generellen Möglichkeiten es gibt, (flexible) Maßstäbe der Kritik an den medialen Konstruktionen sozialer Wirklichkeiten zu formulieren (vgl. Kap. 3.). (4) Szenarien zu generieren, wie die Medienwirklichkeiten konkret verändert werden könnten (vgl. Kap. 4.).19 Die Rede von der medialen Konstruktion von Wirklichkeit ist, wie die der sozialen, mittlerweile auch zum »Lehrbuch-Wissen« (Weber 2002: 11) geworden. Auch mediale Wirklichkeiten20, etwa Berichterstattungen in Zeitungen, Unterhaltungssendungen im Fernsehen, Kinofilme, Werbung oder Musikclips, sind stets konstruierte Wirklichkeiten. Die mediale Konstruktion von Wirklichkeit, d.h. der Medienkonstruktivismus, umfasst alle Faktoren, mit denen Medien Wirklichkeit selektieren, inszenieren und kommunizieren. Medien vermitteln daher keine Reprä19 Vgl. zum Zusammenhang von sozialem Konstruktivismus und Praxis bzw. Pragmatismus Gergen/Gergen (2003: 158ff.). 20 In dieser Studie findet keine explizite Auseinandersetzung mit virtuellen Wirklichkeiten statt, weil sie sich, wie bereits in der Einleitung betont, v.a. auf die Zeitung und das Fernsehen fokussiert, nicht aber auf die Analyse der neuen Medien Internet, VR, Multimedia usw. (vgl. hierzu u.a. Rheingold 1992, 1995; Bühl 1997, 2000, 2004; Palm 2004).

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sentationen sozialer Wirklichkeitskonstruktionen, schaffen aber auch keine völlig autonomen und eigensinnigen Wirklichkeiten. Der Rahmen medialer, wie sozialer Wirklichkeitskonstruktionen wird durch die Interdependenz zwischen Medien und Gesellschaft bestimmt.21 Durch zwei Beispiele, Wirtschaft und Politik, soll die Interdependenz von Gesellschaft und Medien kurz allgemein veranschaulicht werden. Medien sind, wie Hunziker (1996: 100) betont, »von den finanziellen Zuwendungen der Wirtschaft abhängig. Als Gegenleistung bieten die Medien Werberaum bzw. Publikumskontakte an, verbunden mit gewissen Möglichkeiten der Einflussnahme auf ihre programmlichen Aktivitäten. Die zur Medienfinanzierung benötigten Mittel beschafft sich die Wirtschaft vom Publikum, eingebaut in den Preis der Güter und Dienstleistungen.« Die Politik »legt die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Aktivitäten des Mediensystems fest und setzt diese mit Hilfe der dazu geschaffenen Aufsichtsgremien durch.« Andererseits ist die Politik konstitutiv auf die Medien angewiesen, um z.B. ihre Inhalte und ihr Handeln zu inszenieren sowie kommunizieren sowie Politiker-Images zu konstruieren. Weiterhin beeinflussen Medien das politische Verhalten, politische Einstellungen und politische Ereignisse (vgl. Dörner 2001; Meyer 2001; Meng 2002; Sarcinelli/Schatz 2002; Nieland 2004). Abgesehen von kommunikationswissenschaftlichen (vgl. u.a. Merten/Schmidt/Weischenberg 1994a; Schmidt 2000) und systemtheoretischen (vgl. u.a. Luhmann 1996) Studien, ist die mediale Konstruktion von Wirklichkeit, bis auf Fallanalysen, wie etwa zu Nachrichtenmedien (Schulz 1976) oder zum Fernsehen (vgl. u.a. Keppler 1994), kaum (systematisch und grundlagentheoretisch) sozial- und medienwissenschaftlich untersucht worden (vgl. u.a. Doelker 1979; Rolke/Wolff 1999; Polzer 2002).22 Die Auseinandersetzung mit der Konstruktion der Wirklichkeit des Sozialen und der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit wird in diesem Kapitel vor dem Hintergrund der Überlegung geführt, dass es konstitutive Wechselwirkungen zwischen Medien und Gesellschaft bzw. Mediensystem und Gesellschaftsstruktur gibt. Medienwirklichkeiten und Medienentwicklungen müssen als ein konstitutiver Faktor der gesell21 Die sozial- und medienkonstruktivistischen Aspekte gesellschaftskritischer Medientheorien sind als Alternative zu konstruktivistischen und systemtheoretischen Sozial- und Medientheorien zu verstehen. Eine vergleichende Diskussion zwischen diesen drei Ansätzen kann nicht erfolgen. Berührungspunkte und Abgrenzungen zu diesen beiden Ansätzen werden durch Zitation und Kommentar hervorgehoben. Es handelt sich hierbei v.a. um Bezüge zu Überlegungen von Niklas Luhmann, Siegfried J. Schmidt und Stefan Weber. Einen Überblick über konstruktivistische Positionen bieten u.a.: Schmidt (1987); Watzlawick/Krieg (1991); Fischer (1995); von Glaserfeld (1996). 22 Ausnahmen bilden hier u.a. die Arbeiten von Früh (1994) und v.a. von Vaihinger (2000), bedingt aber auch die Sammelbände von Vattimo/Welsch (1998), Bolik/ Kammer/Kind/Pütz (1999) und Krämer (2000).

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KAPITEL 1

schaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit angesehen werden (vgl. Schmidt 2000: 41f.). Medien und Massenkommunikation sind daher auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs von zunehmender Bedeutung: Massenkommunikation als sozialer Vorgang und die Massenmedien als gesellschaftliche Einrichtungen.

1.2

WORIN

UNTERSCHEIDEN SICH DIE

SOZIALE UND MEDIALE GESELLSCHAFTLICHER

KONSTRUKTION WIRKLICHKEIT?

Eine Differenzierung zwischen der sozialen und medialen Konstruktion von Wirklichkeit, erfordert zunächst eine allgemeine Bestimmung des Begriffs der Wirklichkeit. Aus diesem Grund werden im Folgenden zunächst einige grundlegende Bestimmungen von Wirklichkeit vorgenommen, und zwar hinsichtlich der substantivischen, adverbialen und adjektivischen Verwendungen. Ausgehend von diesen grundlegenden Bestimmungen können allererst studienspezifische Eingrenzungen zur Konstruktion der Wirklichkeit des Sozialen (vgl. Kap. 1.3) und Medialen (vgl. Kap. 2.) erfolgen. Wirklichkeit »An die Realisten. – Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt [...], ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen [...]! Eure Liebe zur ›Wirklichkeit‹ [...] das ist eine uralte ›Liebe‹! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ›wirklich‹? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen! [...] Es giebt für uns keine ›Wirklichkeit‹ [...] [Hervorhebung in Original – MSK]« (Nietzsche 1988b: 421f.).

Nietzsche hebt mit dieser Überlegung den grundsätzlich konstruktivistischen Charakter von Wirklichkeit, die Interpretativität all unserer Wirklichkeitsauffassungen hervor. Wirklichkeit ist nichts Objektives, sondern eine menschliche Fiktion bzw. Konstruktion, die permanent durch metaphorische Tätigkeit hervorgebracht und sozial geteilt wird23: »Wir übertragen [...] einen anfänglichen Nervenreiz [...] zuerst in ein Bild (eine Vorstellung), dann dieses in einen Laut und schließlich den Laut in einen Begriff. In alledem operieren wir frei und erfinderisch, sind wir höchst erfolgreiche Meisterbildner eines kohärenten Fiktionsgewebes, das uns 23 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Nietzsches These von der Wahrheit als Metapher im Methoden-Kapitel.

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dann als Wirklichkeit gilt. ›Wirklichkeit‹ ist nichts anderes als eine Fiktionsgeburt der Wirklichkeit aus der Fiktion«, so Welsch (2000: 196) in seiner Interpretation des obigen Nietzsche-Zitats.24 Wirklichkeit ist durch diese beständige Fiktions- bzw. Konstruktionsarbeit dynamisch, veränder- und gestaltbar: »[...] [E]s genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ›Dinge‹ zu schaffen« (Nietzsche 1988b: 422). Dies bedeutet wiederum, dass wir einerseits in mannigfaltigen Wirklichkeiten mit jeweils eigenen Sinntypen, Ordnungsschemata, Konstitutions- und Kommunikationsbedingungen leben.25 Vaihinger (2000: 21) betont daher zu Recht: »Die Wirklichkeit und ihr Begriff sind [...] fast ausschließlich kontextuell bedeutsam: Die Realität der Außenwelt ist semantisch und pragmatisch verschieden von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die psychische Wirklichkeit ist eine andere als die Wirklichkeit der Neuronen, die am Vermittlungsprozess der Wahrnehmung beteiligt sind.«

Andererseits interagieren stets alte und neue Wirklichkeiten miteinander, sie überlagern, mischen oder lösen sich ab, woraus sich (explizite und implizite) Möglichkeiten zukünftiger Wirklichkeitskonstruktionen ergeben. Entsprechend unterliegt das, was als wirklich bezeichnet wird und als Inbegriff des Wirklichen bzw. der Wirklichkeit gilt, hochgradigen historischen, sozialen und kulturellen Schwankungen sowie Rahmenbedingungen, die das jeweilige Wirklichkeitsverständnis als plausibel erscheinen lassen. Ohne eine jeweils kontextuelle Verdeutlichung, auf welche Wirklichkeit man sich konkret bezieht, wenn man über Wirklichkeit spricht, bleibt dieser Begriff bzw. diese Rede inhaltsleer. Hierdurch kann aber die Auseinandersetzung mit Kontext-Wirklichkeiten ihre eigene Sichtweise nur als ein (mögliches) Wirklichkeitsbild präsentieren und sich nicht als allgemeingültige Erkenntnis ausgeben, wodurch sie sich wiederum selbst kontextualisiert. Diese Interpretativität und Perspektivität von Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitserschließung, Wirklichkeitsdiskurs und Wirklichkeitsverstehen weist auf ein erkenntnistheoretisches Problem hin, das Franzen (1992: 50f.) wie folgt beschreibt: »Unser epistemisches Problem besteht 24 Andererseits könnte Nietzsche von der Seite des Realismus aus vorgeworfen werden, dass er an einem Konstruktions- bzw. Fiktionsphantasma leide, das paradoxerweise die Realität der Fiktion als unhintergehbar Objektives ausgebe bzw. eine philosophische All-Aussage der Konstruiertheit von Wirklichkeit an sich vertrete. Auf die Diskussion der Frage, welche dieser beiden Positionen die besseren Argumente hinsichtlich der Konstruktion von Wirklichkeit habe, wird an dieser Stelle verzichtet, weil sie letztlich auf die alte philosophische Pattstellung zwischen Realismus und Konstruktivismus hinausläuft. 25 Aus diesem Grund ist auch eine konsensuelle Eingrenzung des Begriffs Wirklichkeit ebenso unmöglich, wie »die Bemühung, eine gemeinsame Eigenschaft an all den Dingen zu finden, die ›wirklich‹ sind oder die man so nennen könnte« (Austin 1975: 94).

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KAPITEL 1

nicht so sehr darin, ob es das, worauf sich unser Wissen bezieht, auch unabhängig von unserem Bewusstsein gibt, sondern darin, dass wir das Maß nicht kennen, in dem der Ausschnitt, den wir haben, für das Ganze repräsentativ oder aufschlussreich ist. Vielleicht ist ja die Wirklichkeit so unvorstellbar reich strukturiert [...], dass wir ihr gegenüber nicht nur in der räumlichen und zeitlichen Dimension, sondern auch in epistemischer Hinsicht winzige Zwerge sind.« Diese grundlegende, zugleich sehr allgemeine Einschätzung von Wirklichkeit als Konstrukt bzw. Fiktion, lässt die zentrale Frage zum konkreten Konstruktionsvorgang unbeantwortet: Was zeichnet Wirklichkeit in allgemeiner und lebensweltlicher Hinsicht aus, abgesehen davon, dass sie ein Konstrukt ist? Wenn alle Wirklichkeit stets konstruiert ist, wer ist dann der Konstrukteur, für den es und von dem aus es Wirklichkeit gibt? Die Gesellschaft, die Kultur, die Medien, die Individuen oder diese alle in einer grundlegenden Interdependenz? Verläuft der Konstruktionsprozess wesentlich intentional oder unabsichtlich? Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst die Überlegungen von Welsch (2000) zu den Bedeutungsvarianten der Begriffe Wirklichkeit und wirklich vorstellen. Daran anschließend wird die Frage diskutiert, ob es sich bei der Konstruktion von Wirklichkeit um eine planvolle Herstellung handelt oder uns diese mehr widerfährt, als dass sie bewusst wird. Durch die Beantwortung der zuvor formulierten Fragen soll eine, zumindest heuristische, Grundlage geschaffen werden, von der aus die Unterscheidung zwischen sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit allgemeintheoretisch möglich wird. Dass es sich hierbei um eine äußerst fragile Unterscheidung handelt, die sich wesentlich als Ausdifferenzierung der Konstruktionsargumente versteht, wird vor dem Hintergrund der diese Studie leitenden These deutlich, dass Medien und Gesellschaft bzw. soziale und mediale Konstruktion von Wirklichkeit konstitutiv Interdependenzgeflechte sind. Welsch (2000)26 weist zunächst darauf hin, dass eine möglichst exakte und konsensuelle Bestimmung des Begriffs Wirklichkeit letztlich unmöglich, dieser Begriff undefinierbar sei. Das v.a. deshalb, weil er in seiner grundlegenden Bedeutung und Notwendigkeit unentbehrlich sei: »Denn erstens müsste jede Definition ihn offenbar schon wieder in An26 Welsch geht es in seiner Rekonstruktion der Bedeutungsvarianten von Wirklichkeit und wirklich wesentlich um die geläufige Verwendungsweise dieser Begriffe. Seine weitere Diskussion von sechs philosophischen Wirklichkeitsmodellen (Leibniz, Platon, Kant, Aristoteles und Michelangelo, Nietzsche, Scheler) sowie die daran anschließende Auseinandersetzung mit der Destabilisierung bzw. Virtualisierung von Wirklichkeit unter Medienbedingungen, bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt. Zum einen, weil die Überlegungen für dieses Kapitel nicht relevant sind, es Welsch andererseits aber auch nicht gelingt, die vorausgehenden allgemeinen Bestimmungen der Begriffe Wirklichkeit und wirklich im Kontext der Medien adäquat darzustellen sowie den Unterschied zwischen (alltäglicher) Wirklichkeit und Virtualität zu veranschaulichen.

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spruch nehmen – sie müsste ja die wahre Definition des Begriffs zu suchen geben –, und zweitens scheint dieser Begriff so elementar zu sein, dass man ihn nicht durch Rekurs auf andere Begriffe bestimmen bzw. durch eine Kombination anderer Begriffe ersetzen kann – was aber eben in einer Definition verlangt« (ebd. 173f.) würde.27 Die Rede über Wirklichkeit setzt ein Im-Wirklichen-sein voraus sowie ein Wissen um die Wirklichkeit der Wirklichkeit. Zugleich ist die Wirklichkeit nicht nur das, worin wir sind und von dem wir wissen, sondern auch das, was uns gegenübersteht und was uns Widerstände entgegensetzt.28 Gleichwohl bildet Wirklichkeit die unhintergehbare Voraussetzung für unsere Alltagserfahrung und Alltagsverständigung. Zudem muss eine individuelle Gewissheit29 vorausgesetzt werden, durch die man weiß, dass man nicht nur im Wirklichen ist und um die Wirklichkeit weiß, sondern auch noch weiß, dass man die Wirklichkeit wirklich, so wie sie erscheint, beschreiben und verstehen kann – natürlich nicht die Wirklichkeit im Ganzen, sondern nur die jeweils anvisierten Wirklichkeitsregionen. Letztlich handelt es sich aber beim Versuch, eine Definiti27 Das Schicksal teilt der Begriff Wirklichkeit mit anderen Elementarbegriffen, wie z.B. Wahrheit, Wissen, Glauben, das Gute, Gerechtigkeit oder Sinn, »without which [...] we would have no concepts at all. [...] We should accept the fact that what makes these concepts so important must also forcelose on the possibility of finding a foundation for them which reaches deeper into bedrock« (Davidson 1996: 264). Diese Elementarbegriffe sind also, aus der Perspektive von Welsch und Davidson, die Säulen und Formgeber von Wirklichkeit schlechthin und als solche stets der Hintergrund des Wirklichkeitsverstehens, Wirklichkeitserschließens und Wirklichkeitsgestaltens. Zugleich kann vor diesem Hintergrund nur in indirekter Weise über die Wirklichkeit gesprochen werden, indem gleichzeitig über vieles andere gesprochen wird. 28 Aus dieser Tatsache leitet Karpenstein-Eßbach (2004: 171) das folgende (medienkulturwissenschaftliche) Forschungsprogramm ab: »Sofern man akzeptiert, dass das Wirkliche als solches uns vor allem dann begegnet, wenn eine Dissonanzerfahrung auftritt, wir uns ›an etwas stoßen‹ und nicht nur bloße Beobachtung, sondern erkenntnisfördernde Irritation da ist; dass aber auf der anderen Seite jenes Wirkliche in seiner an sich seienden Ganzheit unerreichbar ist [...], dann besteht die Aufgabe nicht darin, sich mit der Frage nach der Wirklichkeit, dem Wirklichen in seinem tieferen ›Sein‹ zu befassen oder in der Ruhe eines um sich selbst kreisenden Skeptizismus zu versinken, sondern zu untersuchen, welche Verhältnisse zur Wirklichkeit wir einnehmen und welche Beziehungen sich zu unseren medial vermittelten Erfahrungsweisen der Welt herstellen lassen. Damit geht es um verschiedene Modalitäten des Bezugs zur Wirklichkeit [Hervorhebung im Original – MSK].« Diese Überlegung korrespondiert mit dem Erkenntnisinteresse dieser Studie, nicht das Wesen sozialer und medialer Wirklichkeit ergründen zu wollen, sondern soziale und mediale Wirklichkeitskonstruktionen, die im Sinne von Karpenstein-Eßbach als (soziale und mediale) Verhältnisse, die wir zur Wirklichkeit einnehmen, beschrieben werden können, zu untersuchen. 29 Waldenfels (2000: 217) bezeichnet diese Gewissheit als Wirklichkeitsglauben: »Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im Einzelnen bezweifeln. Dieser Wirklichkeitsglaube verbindet sich mit einer Vertrautheit und Verlässlichkeit, die früher ist als jeder Versuch einer Vergewisserung [Hervorhebung im Original – MSK].«

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on von Wirklichkeit auszuarbeiten, um einen hermeneutischen Zirkel, bei dem vorausgesetzt werden muss, was erklärt werden soll, d.h. die Wirklichkeit sowie die Wirklichkeit der Wirklichkeit in der Wirklichkeit muss vorausgesetzt werden, um die Wirklichkeit der Wirklichkeit in der Wirklichkeit zu erklären. Daraus folgt, wie Waldenfels (2000: 223) zu Recht betont, »dass der Wirklichkeitscharakter nur indirekt fassbar ist als Implikat unserer Erfahrung« – also nicht an sich vermittelt ist, sondern z.B. nur gesellschaftlich, kulturell oder medial vermittelt dem Verstehen zugänglich ist. Evidenzen und Gewissheiten über die Wirklichkeit gründen konstitutiv in Erfahrungen, ohne die ihre Plausibilitäten und Notwendigkeiten unmöglich wären. Erfahrungen können somit, wie Vaihinger (2000: 248) betont, als »der nicht weiter begründbare Horizont des Wirklichen« bezeichnet werden. Welche Wirklichkeitsmerkmale lassen sich aber konkret benennen? Die Wirklichkeit, in ihrer substantivischen Verwendung sei, so die erste Bestimmung von Welsch (ebd.: 175), »die Welt, wie sie ist, das Insgesamt des Gegebenen [Hervorhebung im Original – MSK].« Diese substantivische Verwendung impliziere zwei Bedeutungen: eine komprehensive und eine basale. Erstere werde verwendet, wenn die gesamte Wirklichkeit gemeint sei, d.h. alles beinhalte, was als Wirklichkeit bezeichnet werde, ohne Ausnahme bzw. Differenzierung. Ein Beispiel hierfür wäre die Rede von der unendlichen Mannigfaltigkeit der gesamten Wirklichkeit. Die basale Bedeutung von Wirklichkeit beziehe sich hingegen auf das, was aller Wirklichkeit zugrunde liege, unabhängig von allen (menschlichen) Interpretationen bestehe sowie für diese maßgebend sei (vgl. ebd.: 176f.). Neben dieser Verwendung des Ausdrucks Wirklichkeit lasse sich weiterhin ein relativer und partialer Sinn ausmachen. Hierbei müsse man einen konkreten Bezugspunkt angeben, der die jeweilige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit eingrenze, etwa auf die Analyse der menschlichen, kulturellen, politischen, alltäglichen oder medialen Wirklichkeit. In diesem Kontext könne man sich einerseits auf die gesamte menschliche Wirklichkeit dieser relativen bzw. partialen Wirklichkeit, z.B. die kulturelle Wirklichkeit, oder auf Teilwirklichkeiten dieser relativen bzw. partialen Wirklichkeit, wie die Körperkultur, beziehen (vgl. ebd.: 176). Drittens könne das Substantiv Wirklichkeit auch Existenz und Lebensform bedeuten. Die Frage, ob Gott existiere, nicht aber, wie sich die Wirklichkeit insgesamt aus seiner Wahrnehmung darstelle, sei, so Welsch, ein Beispiel für die Verwendung des Begriffs der Wirklichkeit im Sinne von Existenz. Existent definiert Welsch als »›Sein‹ im Sinne von ›Dasein‹« (vgl. ebd.: 177f.). Versuche man die Existenz Gottes genauer zu bestimmen, also zu fragen, ob er gütig oder allwissend sei, so frage man nach seiner Lebensform. Als letzte substantivische Verwendung des Begriffs Wirklichkeit nennt Welsch die Tatsächlichkeit, die »jenen harten Faktenbestand [meint], an dem das Diskursive zu messen und seine eventuelle Verblasenheit zu kritisieren ist« (ebd.: 178). Diese

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Verwendungsweise sei die alltäglichste. Durch die Kontrastierung etwa von Sachverhalten, Aussagen oder Nachrichten mit der Frage, ob diese tatsächlich wirklich, also wahr bzw. richtig oder zutreffend seien, werden diese einem permanenten reality check unterzogen. Der Maßstab hierfür sind die jeweils historisch legitimen Wirklichkeitsauffassungen, etwa in den Feldern der Kultur, der Wirtschaft, der Moral oder der zwischenmenschlichen Beziehungen. Neben diesen vier substantivischen Verwendungen von Wirklichkeit, unterscheidet Welsch weiterhin acht adverbiale und adjektivische. Zunächst hebt er die Bedeutung von wirklich im Sinne von tatsächlich hervor. Wirklich meint dann »de facto oder in Wahrheit« (ebd.: 179). Diese Bedeutung von wirklich kommt etwa in Fragen oder Aussagen, wie den folgenden, zum Ausdruck: ›Bist Du wirklich sicher?‹, ›Ist das wirklich so?‹, ›Ich habe wirklich nichts dagegen.‹, ›Wirklich schlechter Geschmack!‹, ›Das Konzert ist wirklich gut.‹ Die zweite, unmittelbar hiermit zusammenhängende Bedeutung von wirklich, ist das Ausdrücken von oder Fragen nach Identität, z.B. in Formulierungen und Fragen wie: ›Wer bist Du wirklich?‹, ›Ich bin ein wirklich ehrlicher Mensch‹ (vgl. ebd.: 179f.). Weiterhin kann wirklich auch eine verstärkende Funktion haben, um hervorzuheben, »dass das jeweils Affirmierte, das nichts Besonderes zu sein scheint [...], durchaus Wert und Bedeutung hat, oder dass die Behauptung jedenfalls nicht einfach so dahingesagt, sondern durchaus ernst gemeint ist« (ebd.: 180). So könnte man u.a. sagen: ›Das mache ich wirklich gerne für dich.‹ Oder: ›Das ist wirklich großzügig.‹ Als vierte Verwendungsmöglichkeit von wirklich nennt Welsch Fälle, in denen es um die Kontrastierung von wirklich und scheinbar, bloß dargestellt bzw. simuliert geht, wie dies u.a. in folgenden Kontexten zum Ausdruck kommt: ›Bist du wirklich krank oder willst du nicht in die Schule gehen?‹ ›Sind das wirklich deine Gefühle oder spielst du mir etwas vor?‹ Wirklich im Sinne von echt ist ein Aspekt, der über die Bedeutung von tatsächlich hinausgeht und als »Maß des Tatsächlichen« (ebd. 181) fungiert, weil es hierbei um die Wesenhaftigkeit einer Sache oder einer Person geht. So spricht man etwa von einem wirklichen Freund oder einem wirklichen Künstler. Eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs wirklich im Sinne von tatsächlich stellt das »Moment des Außerordentlich und Unglaublichen [Hervorhebung im Original – MSK]« dar. Beispiele hierfür wären: ›Du hast wirklich das letzte Konzert von Nirvana gesehen?‹ Oder: ›Du hast wirklich im Lotto gewonnen?‹ Diese Betonung des Außerordentlichen offenbare zugleich, dass zur »›Wirklichkeit‹ [...] ein Kontinuitätscharakter30 gehört. Für wirklich in einem unproblematischen 30 Dieser Kontinuitätscharakter verdeutlicht zudem, wie Waldenfels (2000: 219f.) betont, dass Wirklichkeit als umfassender Verweisungszusammenhang beschrieben werden kann: »[A]lles Seiende [...], das uns in der Erfahrung begegnet, [ist] eingebettet in bestimmte raum-zeitliche Erfahrungshorizonte, die in Handlungssituationen und Redekontexten ihre Entsprechung finden. Ich höre

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Sinne gilt, was sich in die Reihe des gewohnt Wirklichen einfügt. Hingegen steht, was dies nicht tut, sogleich unter Unwirklichkeitsverdacht« (ebd.: 182). Um eine gesteigerte Effizienz oder Stärke des Außerordentlichen auszudrücken, kann wirklich auch im Sinne des besonders Wirksamen und Intensiven verwendet werden (vgl. 182f.). So spricht man von einer wirklich großen Liebe oder kann behaupten, dass eine filmische Darstellung von sozialer Apathie in diesem Sinne wirklicher sei als die Alltagswirklichkeit. Als letzte Bedeutungsvariante nennt Welsch die philosophische Problematisierung der alltäglichen Wirklichkeit bzw. dessen, was für selbstverständlich wirklich gehalten wird. So könnte z.B. behauptet werden, dass die Alltagswirklichkeit nicht so wirklich sei, wie sie zu sein scheine bzw. nur ein vordergründiger Aspekt der eigentlichen Wirklichkeit.31 Bei Welsch spielt allerdings die Frage nach dem Subjekt und Objekt der Wirklichkeitskonstruktionen kaum eine Rolle. Dadurch bleibt offen, ob Wirklichkeitskonstruktionen bewusst oder unbewusst, planvoll (intentional) und strategisch oder unabsichtlich vollzogen werden? Ein starres Entweder-Oder verfehlt die Wirklichkeit des Konstruktionsprozesses. Vielmehr muss die Konstruktion von Wirklichkeit als eine grundlegende Interdependenz zwischen intentionaler und unwillkürlicher Konstruktion beschrieben werden.32 Schmidt (2000: 47f.) weist diese Auffassung kategorisch zurück und marginalisiert den bewussten Willen als Instrument der Wirklichkeitskonstruktion: »[D]ie gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit [ist] an Individuen gebunden [...], die wohl Träger, aber nur bedingt als Gestalter dieser Konstruktion anzusehen sind. Mit anderen Worten, Wirklichkeitskonstruktionen von Aktanten sind subjektgebunden, aber nicht subjektiv im Sinne von willkürlich, intentional oder relativistisch. Und zwar eben deshalb, weil die Individukeine Einzeltöne, sondern Melodien, Akkorde oder Geräusche, die sich vom Hintergrund des Schweigens abheben. [...] Wenn wir etwas wahrnehmen, nehmen wir nicht nur zusätzlich noch etwas anderes wahr, [...] sondern wir nehmen etwas im Zusammenhang wahr. Etwas ist also, was es ist, indem es sich in wechselnden Zusammenhängen bestimmt und bewährt. Die Realität steht folglich in der Erfahrung immer wieder auf dem Spiel. Als Wirklichkeit erweist sich das, worauf ich ›immer wieder zurückkommen‹ kann [Hervorhebung im Original – MSK].« 31 Meine Auseinandersetzung mit der sozialen und medialen Konstruktion von Wirklichkeit fokussiert sich v.a. auf den relativen und partialen Sinn von Wirklichkeit. 32 Diese Auffassung wird einerseits von Simmels (1989a) These, dass sich die soziale Wirklichkeit stets im Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Kultur konstituiere, getragen. Andererseits von der These Berger und Luckmanns (1996), dass der Mensch stets Produkt und Produzent der Gesellschaft zugleich sei. Zur weiteren Abgrenzung von den verschiedenen Formen des Konstruktivismus wird, entsprechend der zuvor betonten grundlegenden Dialektik des Konstruktionsprozesses, in dieser Studie an der Mensch-Semantik festgehalten und diese nicht durch Begriffe wie Beobachter, kognitives System oder Aktant ersetzt.

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en bei ihren Wirklichkeitskonstruktionen im geschilderten Sinne immer schon zu spät kommen: Alles, was bewusst wird, setzt vom Bewusstsein aus unerreichbare neuronale Aktivitäten voraus; alles, was gesagt wird, setzt bereits das unbewusst erworbene Beherrschen einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise und mit welchen Effekten gesprochen wird, all das setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte Diskurse in sozialen Systemen voraus. Insofern organisieren diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion sich selbst und erzeugen dadurch ihre eigenen Ordnungen der Wirklichkeit(en) [Hervorhebung im Original – MSK].« Schmidts Argumentation liefert aber keinen zwingenden Grund, warum Wirklichkeitskonstruktionen nicht (auch) dialektisch beschrieben werden könnten: Zum einen als unabsichtlich, unbewusst und unwillkürlich, als Konstruktionen, auf die wir kaum oder überhaupt nicht aktiv, bewusst oder willkürlich Einfluss nehmen können. So z.B. im neuronalen Sinne sowie im Sinne der menschlichen Voraussetzungen aus angeborenen Fähigkeiten, Sozialisation und Sprache. Zum anderen gibt es die bewusste, strategische, planvolle und willkürliche Konstruktion, etwa im Sinne einer bewussten Schaffung von Welt, durch Imaginationskraft, Kultur, Diskurs, soziales Handeln, Interaktionsrituale, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit. Zudem liefert Schmidt selbst den Beweis dafür, dass Wirklichkeitskonstruktion ein dialektischer Prozess ist bzw. sein kann, der bewusst-intentionale Möglichkeitsräume eröffnet (vgl. zum Vorausgehenden Weber 2002). Wie hätte Schmidt sich sonst über die von ihm hervorgehobenen Programmierungen hinwegsetzen und seine vorausgehende Einschätzung treffen, also eine Metaposition hierzu einnehmen können (vgl. ebd.)? Dieses Vorgehen erfordert Distanz zum vermeintlich Distanzlosen, also eine bewusste Stellungnahme. Die Ebene unbewusster bzw. unabsichtlicher Konstruktionen ist zwar prägend, nicht aber umfassend determinierend, weil hierzu einerseits immer Stellung bezogen, diese also planvoll-handelnd, wenn auch begrenzt, verändert werden kann. Andererseits ist der Rahmen der eigenen Bedingtheit potentiell wahrnehmbar und hiermit, wenn auch bedingt, bewusst-diskursiv gestaltbar. Letztlich braucht jede Gestaltung einen Gestalter, der nicht nur als Medium fungiert, also gebraucht wird, sondern selbst auch Formgeber sein kann – ansonsten wären Wirklichkeitskonstruktionen letztlich stets kalkulierbar, also repräsentativ (vgl. ebd.). Dies zwar nicht im Sinne einer ontologischen Abbild-Urbild-Theorie von Wirklichkeit, sondern im hegemonialen Sinne, d.h. das, was gesellschaftlich jeweils als legitim angesehen wird, müsste alle Wirklichkeitskonstruktionen letztlich bestimmen, also eine sekundäre Konstruktion sein, die, im Verständnis von Schmidt, immer zu spät käme. Damit wären letztlich z.B. die Möglichkeiten der selbstbewussten (individuellen) und eigensinnigen Konstruktion von Wirklichkeit, Widerstand gegen die Wirklichkeit in ihrem status quo oder Kämpfe um die Definitionsmacht über die diskursive Gestal-

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KAPITEL 1

tung der Wirklichkeit so gut wie unmöglich bzw. zu reinen Akzidenzien marginalisiert (vgl. ebd.). Ohne diese Thematik hier vertiefen zu können, kann darauf hingewiesen werden, dass nicht nur, wie zuvor erwähnt, Simmel (1989a) und Berger/Luckmann (1996) die grundlegende Dialektik von Wirklichkeitskonstruktionen überzeugend herausgearbeitet haben – zumindest hinsichtlich des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Studie. Diese Perspektive findet sich darüber hinaus u.a. auch in den kultursoziologischen und kulturanthropologischen Studien von Gehlen (1986), Plessner (1975) und Stark (1976ff.) wieder – und zwar im Kontext ihrer Diskussion des Verhältnisses von Natur und Kultur. In diesen Arbeiten wird das Verhältnis von Natur und Kultur bzw. von Sinnlichkeit und Geistigkeit als spannungsreiches Interdependenzgeflecht des Möglichen und Wirklichen beschrieben, also stets als vermittelt verstanden. Der Mensch ist für diese Autoren einerseits der Natur verhaftet, da er, wie andere Lebewesen auch, mit Instinkten und Trieben ausgestattet ist; andererseits hat er sich von der Natur (bewusst, intentional, willkürlich) emanzipiert, indem er in der Lage ist, über seine triebhafte Existenz hinaus, sich kraft seiner Reflexivität bewusst zu sich selbst zu verhalten und sich eine Kultur zu schaffen, die nun umgekehrt sein Leben maßgeblich beeinflusst – die Kultur wird somit zur zweiten Natur des Menschen. Der Mensch ist Natur- und Kulturwesen in einem. Natur und Kultur bedeuten in der menschlichen Existenz keine Widersprüche, sondern sind zwei Aspekte dieser Existenz, die wechselseitig aufeinander bezogen werden müssen. Der Mensch ist daher eine biosoziale Einheit. Insofern muss er erst aus sich machen, was er ist bzw. sein könnte, und ist daher von Natur auf Kultivierung angelegt und angewiesen. Kultur und Sozialität sind also Potenzialitäten, die sich im Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Kultur realisieren. In diesem Kontext betonen Gehlen, Plessner und Stark, dass es zwar kulturelle Universalien gebe, diese aber jeweils kulturspezifisch ausgebildet werden müssten. So müssen z.B. alle Menschen essen oder sterben, aber was sie essen bzw. wie sie mit Sterben und Tod umgehen, ist kulturell unterschiedlich. Dieses Zusammenspiel von Einheit und Differenz auf der Ebene der Kultur bzw. Gesellschaft zeigt sich auch auf der Ebene des Menschen. So gibt es eine formale Universalität der biologischen Ausstattung und der Vernunftbegabung, zugleich aber eine materiale Differenz etwa hinsichtlich der speziellen Ausformungen ihrer Körper, Biographien und Reaktionen auf die Anforderungen, die die Gesellschaft an sie stellt.

SOZIALE UND MEDIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT

1.3

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WIE FUNKTIONIERT DIE SOZIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT?

Die soziale Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit ist ein zentrales Thema der Soziologie. Einschlägig ist hier v.a. Berger und Luckmanns (1996) Studie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie.33 Es geht beiden Autoren darum zu zeigen, dass die Wirklichkeit schlechthin gesellschaftlich konstruiert ist. Die beiden für Berger und Luckmann (ebd.: 1) in diesem Kontext zentralen Begriffe, Wirklichkeit und Wissen, definieren sie wie folgt: »Für unsere Zwecke genügt es, ›Wirklichkeit‹ als Qualität von Phänomenen zu definieren, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind – wir können sie ver- aber nicht wegwünschen. ›Wissen‹ definieren wir als die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben.« Aus dieser Perspektive lebt der Mensch in einer Welt, die unmittelbar wirklich für ihn ist und er weiß, dass diese Welt bestimmte Charakteristika besitzt. Die Wirklichkeit und das menschliche Wissen davon nehmen wir weitgehend als gegeben und selbstverständlich hin. Wirklichkeit und Wissen, die in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis stehen, können insofern auch nur gesellschaftlich entwickelt, vermittelt und bewahrt (vgl. ebd.: 3) werden, weil es für den Menschen keine andere Wirklichkeit als die der Gesellschaft gibt.34 In der Vielfalt von unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die parallel existieren (vgl. ebd.: 24), erscheint dem Einzelnen, so Berger und Luckmann, die Alltagswelt, in der er zumeist lebt, als die unmittelbarste, evidenteste und damit grundlegendste Wirklichkeit (vgl. ebd.). Der Alltagsmenschen bzw. der »gesellschaftlich[e] Jedermann« (ebd.: 16) ist sich seiner Wirklichkeit und seines Wissens über diese prinzipiell gewiss. Entsprechend fokussieren sich Berger und Luckmann auf das Alltagswissen bzw. auf »Allerweltswissen« (ebd.: 16), durch das Bedeutungs- und Sinnstrukturen konstituiert werden, das Verhalten des Alltagsmenschen in der Alltagswelt reguliert wird und ohne das es keine Gesellschaft gäbe. Die Alltagswelt, die von Menschen begriffen und gedeutet wird, ihnen subjektiv sinnhaft erscheint und die die gemeinsame Matrix aller so33 In diesem Kapitel werden die zentralen Begriffe von Berger und Luckmann kursiv hervorgehoben. 34 Alle vorstell- und erkennbaren Formen vermeintlicher Wirklichkeitsentgrenzungen bzw. Wirklichkeitsüberschreitungen bleiben letztlich an die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit rückgebunden, in der sich der vermeintlich Entgrenzte primär befindet bzw. in der er seine primäre und sekundäre Sozialisation erfahren hat. Die für ihn signifikante und prägende gesellschaftliche Wirklichkeit stellt allererst die Mittel zur Verfügung, etwa durch Sprache, Vorstellungs- und Handlungsmuster, Weltanschauungen oder Medien, Welt und Selbst, in Form etwa von Science Fiction, Spiritualität, Religion, Kunst, Literatur usw. (mental) zu überschreiten.

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KAPITEL 1

zialen Handlungen ist, wird, wie Berger und Luckmann (ebd.: 21f.) betonen, »nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen«, sondern gründet selbst zugleich in dem alltäglichen Wissen, Denken und Handeln von Jedermann. Insofern ist jedermanns Wirklichkeit eine Interpretation seiner Wirklichkeit und jedermanns Gewissheit, die er seiner Wirklichkeit und seinen Interpretationen zuschreibt. Insofern kann aus der Perspektive von Berger und Luckmann auch behauptet werden, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt eine interpretierte Wirklichkeit ist und ein wesentlicher Faktor der intersubjektiven Interaktionen und Kommunikationen darin besteht, Interpretationsgemeinschaften darzustellen. Alltagswelten erscheinen zumeist, so Berger und Luckmann, als funktionierende Routinewelten35 mit funktionierendem Alltagswissen.36 Dieses Alltagswissen tritt zumeist auf als technisches Problemlösungswissen; als normative Handlungsanleitung; als Rezeptwissen, wie man sich in typischen, sich wiederholenden Situationen zu verhalten hat und als allgemeiner Interpretationsrahmen der sozio-kulturellen Welt. Gegenüber der Alltagswelt nimmt der Alltagsmensch eine natürliche Einstellung ein, die ihn diese Welt als normal erscheinen lässt und die Alltagswelt darüber hinaus als eine intersubjektive Welt offenbart, die der Mensch mit anderen teilt. Das Wissen des Alltagsmenschen stellt ein Wissen dar, welches er mit anderen in der selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein hat. Zentral für die natürliche Einstellung des Menschen ist die Intentionalität des Bewusstseins (vgl. ebd.: 23). Die Intersubjektivität der Alltagswelt ermöglicht es dem Menschen, in sozialen Situationen die Perspektiven der jeweils Anderen zu übernehmen. 35 Berger und Luckmann (1996: 27) unterscheiden weiterhin zwischen der routinierten und problematischen Alltagswelt: »Die Wirklichkeit der Alltagswelt umfasst problematische und unproblematische Ausschnitte, solange das, was als Problem auftaucht, nicht einer ganz anderen Wirklichkeit angehört (der der theoretischen Physik etwa oder der der Alpträume). Solange die Routinewirklichkeit der Alltagswelt nicht zerstört wird, sind ihre Probleme unproblematisch.« Aus diesem Grund besteht die Notwendigkeit, die Alltagswirklichkeit als Routinewirklichkeit immer wieder zu bestätigen, d.h. sie als kontinuierlich erscheinen zu lassen. Dies kann allerdings nur eingeschränkt gelingen, weil die routinierte Alltagswelt als Ganzes nicht durchschau- sowie verstehbar ist und damit nicht völlig vor dem wiederholten Auftreten von Problemen geschützt werden kann: »Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint uns immer als eine Zone der Helligkeit vor einem dunklen Hintergrund« (ebd.: 46). 36 Als Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt bezeichnen Berger und Luckmann (ebd.: 22) »die Objektivationen subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die intersubjektive Welt entsteht.« Objektivationen, d.h. Vergegenständlichungen, sind für sie (ebd.: 64f.) Vorgänge, »durch den die Produkte tätiger menschlicher Selbstentäußerung objektiven Charakter gewinnen« (vgl. ebd.: 94ff.). Darüber hinaus produzieren Objektivationen Wirklichkeit(en): »Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich« (ebd.: 37). Als wesentlichen Einfluss auf meine Berger/Luckmann-Interpretation, abgesehen von den Themen Sprache und Medien, hat die Studie von Krüger (1981).

SOZIALE UND MEDIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT

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Die Sphäre der Intersubjektivität ist durch reziprokes Rollenverhalten bestimmt, bei dem die allgemein gängigen Typisierungen37 zur Orientierung in den sozialen Situationen dienen. Die face-to-face-Kommunikation bzw. Interaktion ist bei allen intersubjektiven Kontakten die grundlegendste, von der alle anderen Kommunikations- und Interaktionsformen abgeleitet sind (vgl. ebd.: 31). Die Alltagswelt wird von den Menschen als bereits vorstrukturierte Wirklichkeit (vgl. ebd.: 24ff.) erfahren, mit räumlichen und zeitlichen Strukturen, die über das Hier und Jetzt hinausreichen, sowie in die Dimensionen Nähe und Ferne unterteilt werden, und dem Einzelnen einen gesellschaftlichen Wissensvorrat voraussetzt. Krüger (1981: 116) fasst Berger und Luckmanns Beschreibung dieser Vorstrukturiertheit der Alltagswelt, die jeder Aktivität des Individuums vorausgeht und für ihn prägend ist, pointiert zusammen: »Sie [die Individuen – MSK] werden mit einer sprachlich bereits interpretierten und objektivierten Welt konfrontiert sowie mit Traditionen, die sie – wie ihre Zeitgenossen – von ihren Vorfahren lernen und an ihre Vorfahren weitergeben. Der alltägliche Wissensvorrat, der den Individuen durch die Tradition vermittelt wird, verbindet sich bei ihnen mit ihren eigenen Erfahrungen, spezifischen Relevanzstrukturen, Perspektiven und Erwartungen zu einer individuellen Lebensstrategie. Das umgangssprachlich überlieferte Alltagswissen stellt Rezeptwissen zur Verfügung, das den Individuen Gewissheit darüber gibt, wie sie sich in typischen Situationen zu verhalten haben. Es klärt ferner über die typische Bedeutung von Verhaltensweisen und die möglichen Intentionen und Motive auf und versorgt die Individuen mit einem Grundstock von Typisierungen, die ihnen die Bedeutungsstruktur des Alltags erschließen und sie zugleich bei ihrer Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt sowie ihren sozialen Interaktionen leiten.«

Intersubjektive Interaktionen und Kommunikationen sind auf Objektivationen angewiesen, d.h. auf Verdinglichungen der subjektiven Handlungsintentionen, Erfahrungen, Sinnzuschreibungen und Identitätskonstruktionen. Berger und Luckmann bezeichnen die Zeichengebung in diesem Kontext als die wichtigste Form der Objektivation und die natürliche Sprache als das fundamentalste Zeichensystem der menschlichen Gesell37 Durch Typisierungen wird alltägliches Wissen über Akteure und ihre Rollen erzeugt und die anderen als andere konkret erfahrbar und einortbar. Zudem erleichtern Typisierungen die Einschätzung der Handlungen, Handlungserwartungen und der subjektiven Sinnzuschreibungen der anderen. Beispiele für Typisierungen, die zumeist reziprok vorgegeben sind, wären etwa Formulierungen wie: typisch deutsche Spießigkeit; typisch Frau; Medienpersönlichkeiten Starallüren zu bescheinigen; Schwaben als geizig zu bezeichnen usw. Je mehr Interaktions- und Kommunikationssituationen sich vom Hier und Jetzt der Vis-à-vis-Situation entfernen, desto anonymer und damit immer weniger direkt beeinflussbar werden sie. Zudem dienen Typisierungen nicht nur der individuellen und intersubjektiven Orientierung im sozialen Raum, sondern führen zwangsläufig auch zu Entpersönlichungen, wenn sie individuelle Akteure nur als Typus bestimmter Denk- und Verhaltensmuster wahrnehmen (vgl. u.a. 77f.).

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schaft. In der Sprache vollziehen sich Objektivationen von persönlichen Erfahrungen, d.h. ihre Transformation in allgemein fassliche Wissensobjekte (vgl. ebd.: 24). Die Alltagswelt und alle anderen Welten, jene Enklaven der Alltagswelt, kann der Mensch durch die Sprache ordnen und temporär verbinden. Weiterhin wird der subjektiv gemeinte Sinn von Handlungen durch Sprache übermittelt, aufbewahrt und zu einem sinnhaften Ganzen integriert38: »[…] Sprache [markiert] das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft und füllt sie mit sinnhaltigen Objekten. […] Vor allem anderen ist die Alltagswelt Leben mit und mittels der Sprache, die ich mit dem Mitmenschen gemein habe. Das Verständnis des Phänomens Sprache ist also entscheidend für das Verständnis der Wirklichkeit der Alltagswelt. […] Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln. […] Ich treffe auf sie, als auf einen Tatbestand außerhalb meiner selbst, und ihre Wirkung auf mich ist zwingend. Sprache zwingt mich in ihre vorgeprägten Muster. […] So wie Sprache typisiert, so entpersönlicht sie. Denn die typisierte Erfahrung kann prinzipiell von jedem […] erfahren werden. […] Weil Sprache die Kraft hat, das ›Hier und Jetzt‹ zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen« (ebd.: 25, 39ff.). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit entpuppt sich, nach Berger und Luckmann, also wesentlich als kommunikative Konstruktion: »Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert« (ebd.: 163; vgl. ebd.: 164f.). Insofern besteht eine gewisse Nähe ihrer Überlegungen zu Luhmann (1999: 193ff.), der betont, dass unsere Gesellschaft aus Kommunikationen und nur aus Kommunikationen besteht. Und das heißt eben, dass der elementare Prozess, der das Soziale als eine besondere Wirklichkeit konstituiert, ein Kommunikationsprozess ist. Unsere Wirklichkeit ist unsere kommunikative Gemeinschaftsproduktion. Wir selbst sind es, die wir in unserem Miteinander-Kommunizieren unsere Wirklichkeit gestalten. Weil aber die Kommunikation in einer konstitutiv von Medien (mit-) bestimmten Gesellschaft, wie etwa der deutschen, immer mehr von den Massenkommunikationsmitteln beeinflusst und dominiert wird, muss an38 Aus dieser Perspektive kann behauptet werden, dass Wissen durch Sprache bzw. Sprach-Handlungen entsteht (vgl. ebd.: 70f.). Auch Erfahrungen müssen durch die Sprache objektiviert, d.h. in ein allgemein fassliches Wissensobjekt transformiert werden, um »Teil eines allgemeinen Wissensvorrates« zu werden und »ihre Eingliederung in einen größeren Vorrat an Traditionen« zu ermöglichen, d.h. sie »zur objektiven Möglichkeit für jedermann oder jedenfalls für einen bestimmten Jedermannstypus zu machen« (ebd.: 73). Hierdurch werden intersubjektive Erfahrungen generationsübergreifend speicher-, übertrag- und vermittelbar.

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erkannt werden, dass gerade diese in zunehmendem Maße zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit beitragen. Deshalb nehmen die Massenmedien nicht nur einen zentralen Bereich in der Gesellschaft ein, sondern eine für die kommunikative Konstruktion von Gesellschaft und Wirklichkeit konstitutive Rolle39, denn sie regen soziale Unterhaltungen bzw. Kommunikationen (täglich) an und geben ihnen konkrete Inhalte. Die These von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit als kommunikativer Konstruktion ist für diese Studie von konstitutiver Bedeutung. Alle Kommunikation über und alles Verstehen von Medien sowie die Kommunikation über die und das Verstehen von sozialer Wirklichkeit sind aus dieser Perspektive sprachbasiert, also medienvermittelt. Die Grenzen der Wirklichkeit des sozial und medial Wirklichen sind v.a. Sprachgrenzen, und Sprachgrenzen sind zugleich Grenzen des Verstehens und der Verständigung.40 Diese These kann an einem instruktiven Beispiel veranschaulicht werden: Im Japanischen gibt es keinen Begriff für das Wort Sein. Westlich-abendländische Gesellschaften bzw. Kulturen basieren hingegen auf den Sinn- und Bedeutungsdimensionen dieses Wortes, z.B. hinsichtlich des Bezeichnens von Identität und Besitz. Das Fehlen des Wortes Sein im Japanischen bedeutet, dass diejenigen, die in der japanischen Sprache und Kultur sozialisiert wurden, jene Wirklichkeitsdimensionen, die mit dem Begriff Sein in westlich-abendländischen Gesellschaften bzw. Kulturen zum Ausdruck gebraucht werden, prinzipiell nicht zugänglich sind bzw. nicht in ihrem Eigensinn ursächlich verstanden werden können. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass Sprache nicht einfach nur Informationen übermittelt, sondern auch Ausdruck einer ganz bestimmten Wirklichkeitsauffassung ist. Verschiedene Sprachen sind, aus dieser Perspektive, nicht nur ebenso viele Bezeichnungen einer Sache, sondern vielmehr verschiedene Ansichten derselben. 39 Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass Berger und Luckmann die konstitutive Bedeutung der Massenmedien, hinsichtlich der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, in ihren Überlegungen letztlich ausblenden (vgl. Früh 1994: 18). 40 Die zentrale Bedeutung der Sprache in sozialkonstruktivistischen Diskursen wird häufig als eines der zentralen Merkmale dieses Diskurses betrachtet. So betont etwa Burr (1995: 6f., 44): »Our ways of understanding the world come not from objective reality but from other people, both past and present. We are born into a world where the conceptual frameworks and categories used by the people in our culture already exist. These concepts and categories are acquired by all people as they develop the use of language and are thus reproduced every day by everyone who shares a culture and a language. This means that the way people think, the very categories and concepts that provide a framework of meaning for them, are provided by the language that they use. Language therefore is a necessary pre-condition for thought as we know it. [...] [L]anguage provides the basis for all our thoughts. It provides us with a system of categories for dividing up our experience and giving it meaning, so that our very selves become the product of language. Language produces and constructs our experience of ourselves and each other, and is not the simple reflecting mirror belonging to our traditional (western) humanist philosophy.«

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Der Zugang zur Wirklichkeit, den die Sprache vermittelt, ist somit je nach Sprachgemeinschaft (vgl. Humboldt 1991: 190) unterschiedlich: »[I]n jeder Sprache [liegt] eine eigentümliche Weltansicht.« Hiermit weist Humboldt implizit auch darauf hin, dass Sprache ein (menschliches, also letztlich soziales) Konstrukt ist und nicht einfach die Wirklichkeit, wie sie vermeintlich an sich existiert, abbildet bzw. repräsentiert. Die Wirklichkeit wird hingegen erst durch die Sprache konstruiert: »Die Sprache ist auch in ihren Anfängen durchaus menschlich« (ebd.: 191). In der Sprache bzw. den Sprachen ist die Wirklichkeit nur potentiell enthalten und muss in ihren kontingenten Sinn- und Bedeutungsschichten allererst durch ihren Gebrauch aktualisiert bzw. gestaltet werden. Die jeweiligen (Mutter-)Sprachen legen hierbei die Grenzen der Möglichkeiten der jeweiligen Sprache fest, d.h. den Zugang zur und Umgang mit der Wirklichkeit. Hierbei muss die zentrale Bedeutung des Sprachhandelns des Individuums hervorgehoben werden: »Die Rückwirkung des einzelnen auf die Sprache wird einleuchtender, wenn man, was zur scharfen Begrenzung der Begriffe nicht fehlen darf, bedenkt, dass die Individualität einer Sprache (wie man das Wort gewöhnlich nimmt) auch nur vergleichsweise eine solche ist, dass aber die wahre Individualität nur in dem jedes Mal Sprechenden liegt. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein NichtVerstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modifiziert, offenbart sich […] eine Gewalt des Menschen über sie« (ebd.: 194f.).41

Aus dieser Perspektive kann behauptet werden, dass die Sprache zum einen über den Menschen verfügt sowie ihn formt, Sprache aber zum anderen erst durch ihren (menschlichen) Gebrauch zu sich selbst kommen kann, so wie der Mensch durch sie und mit ihr zu sich selbst kommt, indem er sich ihrer bemächtigt und sie gebraucht. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen, beschreiben Berger und Luckmann Gesellschaft als zugleich objektive und subjektive Wirklichkeit. Weiterhin weisen Berger und Luckmann auf die dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft hin, d.h. auf das Faktum, das der Mensch zugleich Produkt und Produzent der Gesellschaft ist.42 Der Mensch bringt soziale Welten, etwa in Form von Institu41 Zahlreiche Beispiele für hieraus entstehende Kommunikationsstörungen und Verzerrungen von Wirklichkeitserlebnissen sowie Wirklichkeitsdiskursen finden sich u.a. in Watzlawick (1995). 42 Vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses dieser Studie kann daher auch behauptet werden, dass der Mensch zugleich Produzent und Produkt medialer Wirklichkeit(en) ist. Die Teilhabe bzw. Nutzung medialer Wirklichkeiten bedeutet für den Mediennutzer stets das gleichzeitige Konfrontieren der medialen mit seiner eigenen Wirklichkeit, also wiederum eine Interaktion und Interdependenz

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tionen, Produkten, Weltanschauungen, kollektiven Mentalitätsfiguren, Handlungsmustern und Wissensformen hervor, und diese sozialen Welten wirken andererseits auf den Menschen, also ihren Konstrukteur, zurück: »Das bedeutet: der Mensch – freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaftliche Welt, stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten. […] Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 65; vgl. ebd.: 53, 139, 185f.).

Gesellschaft als objektive Wirklichkeit43

Berger und Luckmanns Beschreibung der Gesellschaft als objektive Wirklichkeit, geht von humanbiologischen und anthropologischen Voraussetzungen aus: Der Mensch zeichnet sich, im Unterschied zu nichtmenschlichen Lebewesen, durch seine weltoffene Umweltbeziehung aus, d.h., er lebt nicht in geschlossenen Welten, »deren Strukturen durch die biologische Ausrüstung jeder Spezies im Voraus bestimmt sind« (ebd.: 50). Als biologisches Mängelwesen ist der Mensch durch seine Instinktarmut sowie die Prägbarkeit seines Organismus und Selbst charakterisiert. Weiterhin bedarf er zur Konstitution seiner Selbst die kontinuierliche Kommunikation und Interaktion mit (signifikanten und generalisierten) anderen. Die Konstitution von Gesellschaft und Selbst ist somit immer eine gesellschaftliche Gemeinschaftsproduktion (vgl. ebd.: 54). In seinem gesellschaftlichen Handeln muss sich der Mensch daher permanent entäußern (vgl. ebd.: 51ff.; 112). Für Berger und Luckmann ist Gesellschaft zwar ein menschliches Produkt, also nicht biologisch ableitbar. Die Notwendigkeit von Gesellschaftsordnung ist aber »in der biologischen Verfassung des Menschen angelegt« (ebd.: 56), die »ursprüngliche biologische Weltoffenheit […] [muss] durch die Gesellschaftsordnung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransportiert werden« (ebd.: 55). Im Unterschied zu Tieren, die artspezifische Umwelten haben, muss sich der Mensch diese somit allererst schaffen. Die Habitualisierung von Tätigkeiten, die für »die Richtung und Spezialisierung des Handelns, die der biologischen Ausstattung des Menzwischen sozialer und medialer Wirklichkeitskonstruktion bzw. Gesellschaft und Medien. Es gibt weiterhin keine Mediennutzung, bei der nicht auf Seiten der Nutzer vielfältige Vorstellungen und Erlebnisprozesse (zumindest potentiell) ausgelöst werden (können). 43 Eine vergleichbare anthropologische Fundierung kann eine gesellschaftskritische Medientheorie, hinsichtlich ihrer Erklärung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit nicht leisten. Sie setzt den Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, etwa wie in dieser Studie durch Rekurs auf die Überlegungen von Berger und Luckmann, voraus, um, ausgehend von dieser Basis, ihre fall- und theoriespezifischen Überlegungen zu beginnen.

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schen fehlen« (ebd.: 57), sorgt, steht am Anfang der Produktion einer konkreten Gesellschaftsordnung. Habitualisierungen entlasten den Menschen, insofern Handeln, das durch Gewohnheiten, die als Orientierungsmodelle dienen, bestimmt wird, einem geringen Entscheidungsdruck ausgesetzt ist und damit Handlungsunsicherheiten reduziert werden, »deren anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist« (ebd.). Hierdurch werden Kapazitäten für innovative Entscheidungen in neuen, unbestimmten Situationen frei. Sobald es in der gesellschaftlichen Kommunikation und Interaktion zur Ausbildung gemeinsamer Habitualisierungen und reziproker Typisierungen von Handlungen und Handelnden kommt, hat sich ein Institutionalisierungsprozess, d.h. die Ausbildung bestimmter Verhaltensmuster vollzogen, die einen orientierenden und kontrollierenden Einfluss auf soziale Interaktionen nehmen (vgl. ebd.: 58ff.).44 Entscheidend für die Orientierungsund Kontrollfunktionen sowie die Reichweite von Institutionen sind die Grade der Relevanzstrukturen, die Institutionen (gesellschaftlich, kulturell und historisch) zuerkannt werden (vgl. ebd.: 84). Externalisierungen und Objektivationen bestimmen menschliche Aktivitäten bei Institutionalisierungen gewohnheitsmäßigen Handelns. Das Verhältnis von Mensch und Institution, als Produkten tätiger menschlicher Selbstentäußerung, kann wiederum als dialektisch bezeichnet werden, weil die von den Menschen geschaffenen Institutionen als etwas Objektives bzw. objektiv Gültiges auf ihn selbst zurückwirken und ihn zugleich erst mitproduzieren (vgl. ebd.: 64f.). Ein entscheidender Aspekt bei der Ausbildung gemeinsamer Habitualisierungen sowie reziproker Typisierungen von Handlungen und Handelnden, ist das Entstehen sozialer Rollen, das, wie Habitualisierungsund Typisierungsprozesse, den eigentlichen Institutionalisierungen vorausgeht. Rollen können als symbolische Repräsentationen institutionaler Ordnungen bezeichnet werden, durch die der Mensch in bestimmte Ausschnitte des allgemeinen Wissensvorrates einer Gesellschaft eingewiesen und mit deren Grundlagen, etwa in Form von Normen, Werten oder Gefühlen, vertraut gemacht wird: »Von Rollen können wir erst dann sprechen, wenn diese Form der Typisierung [d.i. die Typisierung eigener und fremder Handlungsweisen sowie die Identifizierung mit den gesellschaftlich objektivierten Verhaltenstypisierungen – MSK] sich innerhalb der Zusammenhänge eines objektivierten Wissensbestandes ereignet, der einer Mehrheit von Handelnden gemeinsam zu eigen ist. In diesem Kontext sind Typen von Handelnden Rollenträger. […] Rollen repräsentieren die Gesellschaftsordnung« (ebd.: 78f.).

44 Institutionalisierung ist kein unveränderbarer Prozess, »obwohl Institutionen, sind sie erst einmal entstanden, eine Neigung zur Dauerhaftigkeit zeigen« (ebd.: 86; vgl. ebd.: 68f.). Die »objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen Handelns wird als ›Wissen‹ angesehen und als solches weitergereicht« (ebd.: 75).

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Die generationsübergreifende Vermittlung und Aneignung von Institutionen an neue Generationen, an deren Konstitution diese nicht beteiligt waren, die ihnen aber als objektive Welt(en) gegenübertreten, werden von den jeweils neuen Generationen im Prozess der Sozialisation internalisiert, indem der objektive Sinn der Gesellschaft in den subjektiv gemeinten Sinn der Handelnden übertragen wird. Das wichtigste Medium dieser Vermittlungs- und Aneignungsprozesse ist die Sprache: »Intersubjektive Erfahrungsablagerungen können nur dann als gesellschaftlich bezeichnet werden, wenn ihre Objektivation mit Hilfe eines Zeichensystems vollzogen worden ist, das heißt, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, die Objektivation gemeinsamer Erfahrung zu wiederholen. Nur dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass solche Erfahrungen von Generation zu Generation und von Gesellschaft zu Gesellschaft überliefert werden. […] Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrungen und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie wird so zugleich zum Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes. Darüber hinaus stellt sie Mittel zur Vergegenständlichung neuer Erfahrungen zur Verfügung und ermöglicht deren Eingliederung in den bereits vorhandenen Wissensbestand« (ebd.: 72f.). Überzeugende Legitimationen und kontrollierende Interpretationen des in Institutionen enthaltenen Sinns, sind weitere Bedingungen, um zu einer erfolgreichen und nachhaltigen Tradierung gesellschaftlicher Institutionen beizutragen. Darüber hinaus bedarf es sozial wirksamer Sanktionierungen von Verhaltensweisen, die den institutionell etablierten Verhaltensmustern nicht folgen. Die Bedeutung von Legitimationen wird, wie Berger und Luckmann betonen, besonders deutlich, wenn die Objektivation einer bereits historisch institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt wird. Die in diesem Kontext erforderliche Integration isolierter und heterogener institutionaler Bedeutungen, Erfahrungen und Tätigkeiten, bei der kognitive Erklärungen und normative Rechtfertigungen miteinander verbunden werden, führen zu einer sekundären Konstruktion von (objektivem und subjektivem) Sinn (vgl. ebd.: 98f.). Legitimationen machen diese sekundären Konstruktionen von Sinn verständlich und sollen das Ganze einer institutionalen Ordnung sinnhaft erscheinen lassen sowie dem Menschen das Ganze seines Lebens subjektiv sinnhaft darbieten. Weiterhin erklären und rechtfertigen Legitimationen die institutionale Ordnung, indem »sie ihrem objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt« und »sie ihren [denen der institutionalen Ordnung – MSK] Imperativen die Würde des Normativen verleiht« (vgl. ebd.: 100). Legitimationen versorgen den Menschen mit Handlungsorientierungen, d.h. Begründungen, warum er Handlungen ausführen oder unterlassen soll. Zudem erklären Legitimationen, »warum Dinge sind, was sie sind« (ebd.). Für Berger und Luckmann sind die sog. symbolischen Sinnwelten die wichtigsten Formen der Legitimation institutionaler Ordnung:

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»Wir meinen damit [mit symbolischen Sinnwelten – MSK] synoptische Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen […]. […] [S]ymbolische Vorgänge sind Verweisungen auf andere Wirklichkeiten als die der Alltagserfahrung […] Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen. Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 102f.).

Durch symbolische Sinnwelten werden die subjektiven Erfahrungen verschiedener Wirklichkeitssphären integriert, Wirklichkeiten nach Relevanzstrukturen hierarchisch geordnet, wobei die Alltagswelt als am wirklichsten erscheint, und widersprüchliche Sinnstrukturen der Alltagswelt harmonisiert. Symbolische Sinnwelten sind aber prinzipiell problematisch, weil Institutionalisierungsprozesse niemals spannungsfrei und stabil verlaufen. Somit können sie nicht grundsätzlich verhindern, dass gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeiten immer vom Zusammenbruch vermeintlich stabiler Ordnungen und Orientierungen bedroht werden (können). Der Grad dieser Bedrohung hängt vom Erfolg der Sozialisation ab, d.h. davon, inwieweit es gelingt, die institutionalen Ordnungen erfolgreich zu tradieren (vgl. ebd.: 111).45 Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit

Menschen werden nicht als Mitglieder einer Gesellschaft geboren, sondern müssen allererst zu Gesellschaftsmitgliedern gemacht werden. Insofern müssen die objektivierten Sinnstrukturen von jedem Menschen selbst subjektiv erfasst, interpretiert und mit Eigensinn ausgestattet werden. Die grundlegendste Einführung des Menschen in die Gesellschaft, durch die das Kind zum Subjekt gemacht wird, findet durch die Sozialisation statt. Berger und Luckmann unterscheiden hierbei zwischen primärer und sekundärer Sozialisation.46 Durch die Identifikation mit den signifikanten Anderen, d.h. mit konkreten Bezugspersonen wie den Eltern, die im engen Kontakt mit dem Kind stehen und es kognitiv beeinflussen können, erfährt es in der primären Sozialisationsphase die Vermittlung objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit, die von ihm interna45 Weiterhin weisen Berger und Luckmann (ebd.: 123ff.) auf die Gefahr der hegemonialen Konstruktion von Wirklichkeit durch »Welt-Spezialisten« bzw. »Expertencliquen« hin, die abstrakte Weltauslegungen und Legitimationen institutionaler Ordnungen produzieren, die sich kaum noch in der konkreten Erfahrungswelt des Alltags bewähren können und somit durch Machtausübung gesellschaftlich als wirksam und wirklich durchgesetzt werden (müssen). Diese Einschätzung gilt für Gesellschaften, die sich durch eine große Anzahl sekundärer Sinnobjektivationen, konkurrierender Sinnwelten und deren theoretischen Legitimationen auszeichnen. 46 Die spezifischen Inhalte der primären und sekundären Sozialisation variieren von Kultur zu Kultur und von Gesellschaft zu Gesellschaft.

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lisiert, also angeeignet wird (vgl. ebd.: 140f.). Internalisierung bedeutet für Berger und Luckmann (ebd.: 139f.): »[D]as unmittelbare Erfassen und Auslegen eines objektiven Vorgangs oder Ereignisses, das Sinn zum Ausdruck bringt, eine Offenbarung subjektiver Vorgänge bei einem Anderen also, welche auf diese Weise für mich subjektiv sinnhaft werden. […] Internalisierung in dem allgemeinen Sinne […] ist […] das Fundament, erstens für das Verständnis der Mitmenschen und zweitens für das Erfassen der Welt als einer sinnhaften und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dieses Welterfassen ist nicht das Ergebnis selbstherrlicher Sinnsetzungen seitens isolierter Individuen, sondern es beginnt damit, dass der Einzelne eine Welt ›übernimmt‹, in der Andere leben« (ebd.: 139f.).

Durch den Internalisierungsprozess wird das Kind durch die signifikanten Anderen in die Lage versetzt, sich mit sich selbst zu identifizieren und sich als sich selbst zu erfahren sowie die objektive soziale Welt in sich aufzunehmen. Das Individuum nimmt im Laufe seiner Entwicklung die Gesellschaft, d.h. die Gemeinschaft der Anderen, die die signifikanten Anderen repräsentierten, an bzw. in sich auf. Hierbei wird die spezifische Persönlichkeit bzw. der Einfluss der signifikanten Anderen durch generalisierte, verallgemeinerte Andere, d.h. die organisierte soziale Gemeinschaft mit ihren spezifischen Normen, Werten, Erwartungshaltungen usw., abgelöst: »Die primäre Sozialisation endet damit, dass sich die Vorstellung des generalisierten Anderen – und alles, was damit zusammenhängt – im Bewusstsein der Person angesiedelt hat. Ist dieser Punkt erreicht, so ist der Mensch ein nützliches Mitglied der Gesellschaft und subjektiv im Besitz eines Selbst und einer Welt« (ebd.: 148).

In der sekundären Sozialisation übernimmt das Individuum institutionalisierte Rollen. Durch die Arbeitsteiligkeit moderner Gesellschaften und die damit einhergehende unterschiedliche Verteilung von Wissen, entstehen zudem eine große Anzahl von Subwelten: »Sekundäre Sozialisation ist die Internalisierung institutionaler oder in Institutionalisierung gründender ›Subwelten‹. Ihre Reichweite und ihre Eigenart werden daher von der Art und dem Grade der Differenziertheit der Arbeitsteiligkeit und der entsprechenden gesellschaftlichen Verteilung von Wissen bestimmt. […] Was wir […] hier meinen, ist die gesellschaftliche Verteilung von ›Spezialwissen‹, das heißt Wissen, das als Ergebnis der Arbeitsteiligkeit entsteht und dessen ›Träger‹ institutionell bestimmt sind. Wir können sagen, dass sekundäre Sozialisation […] der Erwerb von rollenspezifischem Wissen ist, wobei die Rollen direkt oder indirekt von der Arbeitsteiligkeit herkommen« (vgl. 148ff.).

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Im Prozess der sekundären Sozialisation wird, zumindest idealtypisch, ein Gleichgewicht zwischen der subjektiven Wirklichkeit des Individuums und der objektiven Wirklichkeit der Gesellschaft erzeugt. Mit seiner subjektiven Wirklichkeit gibt jedes Individuum einen Beitrag zur objektiven, die aus der Gesamtheit der subjektiven Wirklichkeiten besteht.

1.4

WIE FUNKTIONIERT DIE MEDIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT?

Was folgt aus den vorausgehenden Überlegungen hinsichtlich der Beantwortung der Frage, worin sich die soziale und mediale Konstruktion von Wirklichkeit (prinzipiell) unterscheiden einerseits und andererseits für die Beschreibung des spezifischen Funktionierens der medialen Konstruktion von Wirklichkeit? Eine trennscharfe bzw. grundlegende Unterscheidung zwischen diesen beiden wirklichkeitskonstruktiven Bereichen ist unmöglich und nicht sinnvoll. Zumal kaum eine Urszene zu bestimmen ist, an der diese Unterscheidung, zumindest idealtypisch, demonstriert bzw. rekonstruiert werden könnte. Wie Adoni und Mane (1984: 323f.) entsprechend betonen, könne der dialektische Prozess sozialer Wirklichkeitskonstruktionen nur dann umfassend begriffen werden, wenn die Rolle der Medien in diesem Kontext grundsätzlich berücksichtigt würde (vgl. McQuail 1973). Andererseits könne, so Adoni und Mane, die soziale Konstruktion von Wirklichkeit nicht einfach als Medieneffekt beschrieben werden.47 Wenn überhaupt zwischen sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit unterschieden werden soll, im Sinne einer Ausdifferenzierung bzw. Präzisierung der These von der grundlegenden Interdependenz zwischen Gesellschaft und Medien48, dann hinsichtlich zweier Aspekte, die den Akzent einerseits auf den Vorrang der sozialen, andererseits auf den der medialen Konstruktion von Wirklichkeit legen, ohne aber hierbei deren Interdependenz aufzulösen. Als diskursive Wegmarken, die den Akzent auf die mediale Konstruktion als entscheidenden Faktor von Wirklichkeitskonstruktionen legen, können exemplarisch zwei Überlegungen von Nietzsche und McLuhan ausgewählt werden.49 Zunächst sei an eine frühe Erkenntnis 47 In ihrem Artikel geht es Adoni und Mane wesentlich darum, empirische (amerikanische) und kritische (europäische – v.a. die der Kritischen Theorie) Ansätze der Kommunikationsforschung miteinander zu vereinen, um die Rolle der Medien im Kontext der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit adäquat beschreiben zu können. 48 Insofern wird Unterscheiden von mir nicht als Trennung verstanden. 49 Einen (internationalen) Überblick über die Diskussion des Verhältnisses von (Massen-)Medien und Wirklichkeit in den Sozial-, Publizistik-, Kommunikationsund Medienwissenschaften bieten, mit zahlreichen Literaturhinweisen, u.a. Krämer (1986), Schulz (1989), Bentele (1993) und Vaihinger (2000).

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von Nietzsche (1977: 172) erinnert: »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.« Die (medialen) Mittel zur Übermittlung, Darstellung, Aussage oder Speicherung von Inhalten, z.B. von Gedanken, Meinungen, Botschaften, wissenschaftlichen Diskursen, Emotionen oder Bildern, seien, wie Nietzsche hiermit hervorhebt, keine neutralen bzw. objektiven Vermittlungsmedien, sondern sie in-formieren50 eigensinnig und autologisch das, was wir übermitteln, darstellen, aussagen oder speichern. Dieser In-formierung können wir uns nicht entziehen, sie vollzieht sich zudem auch zunächst und zumeist, ohne dass uns die Benutzung dieser Mittel bewusst ist, also wir auf die medialen Bedingungen und Bedingtheiten unserer Erkenntnis und Artikulation von Welt, Gesellschaft, Kultur und Selbst reflektieren sowie diese stets vergegenwärtigen. Die Konsequenz dieser Überlegung besteht darin, dass der in seiner Verwendung von (Medien-)Technik als scheinbar autonom, im Sinne von eigensinniger bzw. selbstbestimmter Nutzung, angesehene Mensch, (auch) von den vermeintlich äußeren Determinanten in Gestalt von Medientechnologien bedingt bzw. benutzt wird. Medientechnik kann aus dieser Perspektive als das Apriori aller historisch-sozial-kulturellen Phänomene bezeichnet sowie als Voraussetzung und Formierung des Verstehens, Denkens und Wahrnehmens beschrieben werden: »Der Koppelung von Medientechnik, Denkfiguren und Wissensformationen ist nicht zu entkommen, weil keine geistige Tätigkeit im immateriellen Raum stattfindet, sondern auf die Materialität ihrer Mittel angewiesen ist. Medientechnologien des Übertragens, Speicherns und Verarbeitens von Informationen determinieren soziale, politische, psychische, geistige und kulturelle Phänomene und deren Geschichte. [...] Alle Geschichte ist relativ zum Stand ihrer Medientechnik, deren Macht sich weder Gesellschaften noch Subjekte entziehen können« (Karpenstein-Eßbach 2004: 99).51

Diese Interpretation der von Nietzsche artikulierten Erkenntnis von der Medienbedingtheit unseres Wahrnehmens und Denkens, ist eine letztlich von McLuhan und Kittler motivierte Lesart. McLuhans (1992: 17ff.) berühmtes Diktum, »The Medium is the message«, weist daraufhin, dass technische Medien bestimmen, was wir von der Welt wahrnehmen und für wahr halten, was wir überhaupt zu denken oder zu sagen in der Lage sind. Das Medium ist »in seiner Funktion und praktischen Anwendung [...] die Botschaft [...]. Das soll nur heißen, dass die persönlichen und so50 Hier und im Folgenden verwende ich den Begriff in-formieren im Sinne der lateinischen Wortbedeutung von Information, d.h. als ein in Form bringen, formen, bedingen. 51 Vgl. hierzu grundlegend Kittler (1985, 1986, 1993); vgl. zur Kritik an den Theorien, die, wie etwa McLuhan und Kittler, bei allen Unterschieden ihrer Ansätze, von einem Apriori der Medientechnik ausgehen und damit die Medienvergessenheit bzw. Medienmarginalisierung in den Geistes- und Kulturwissenschaften kritisieren, Winkler (1997, 1999a/b, 2002).

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zialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder Ausweitung unserer eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird. [...] [D]er ›Inhalt‹ jedes Mediums [ist] immer ein anderes Medium [...]. Der Inhalt der Schrift ist die Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. [...] [D]ie ›Botschaft‹ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. [...] [J]edes Medium hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen. [...] Unsere übliche Antwort, mit der wir alle Medien abtun, nämlich, dass es darauf ankomme, wie wir sie verwenden, ist die befangene Haltung des technischen Dummkopfs. [...] Die Auswirkungen der Technik zeigen sich nicht in Meinungen und Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos« (McLuhan 1992: 17ff.). »The Medium is the message« verdeutlicht die persönlichen, kulturellen und sozialen Auswirkungen von Medien, die sich aus ihrer Anwendung ergeben. (Medien-)Technik verändert Raum und Zeit, bestimmt generell die Schemata, in denen die Welt wahrgenommen wird bzw. gibt den Wahrnehmungen von und den Erfahrungen mit der Welt eine beständig neue Form – insofern hat (Medien-)Technik eine konstitutiv in-formierende Bedeutung. Wahrnehmung geschieht demnach nie unmittelbar, sondern immer schon medientechnisch strukturiert und präformiert (vgl. Spahr 1997: 48ff.).52 So verdeutlicht etwa, aus der Perspektive von McLuhan, das inhaltslose Medium des elektrischen Lichts, seine eigensinnige message, nämlich, dass es unerheblich ist, welche Tätigkeiten oder Ereignisse beleuchtet werden, ob ein Wohnzimmer oder eine Straße bei Nacht hell erleuchtet wird. Allein die Tatsache, dass das Medium des elektrischen Lichts die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens konstitutiv verändert hat, stützt die These von McLuhan, dass die Botschaft eines Mediums das ist, was es mit den Menschen macht (vgl. ebd.). In diesem Kontext kann insgesamt entsprechend auf alle weiteren Ansätze verwiesen werden, die die spezifische Medialität bzw. Technizität der jeweiligen Medien bzw. der Medien insgesamt als formgebend für die Gesellschaft, die Kultur und den Menschen betrachten. Aus dieser Perspektive wird behauptet, dass alle Wirklichkeitskonstruktionen, im Sinne eines Verstehens, Beschreibens, Erlebens, Kritisierens, Entwer52 Dies hatte bereits Benjamin (1977: 14) 1936 in seinem Kunstwerk-Aufsatz deutlich erkannt: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert, das Medium, in dem sie erfolgt, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt [Hervorhebung im Original – MSK].«

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fens, Ausdrückens, Kommentierens usw. von Welt, Gesellschaft, Kultur und Selbst, stets medial vermittelt bzw. medial vermittelt möglich sind. Karpenstein-Eßbach (2004: 151) fasst diese Position pointiert zusammen: »Wenn sich Kulturen in Beziehung zu Wirklichkeiten setzen, dann sind sie angewiesen auf Mittel – Medien –, die etwas abzubilden, darzustellen, zu entwerfen, zu repräsentieren, in Szene zu setzen oder vorzustellen erlauben. Diese Mittel bleiben sich nicht gleich, und mit ihnen verändern sich die Modi des Darstellens, des Gebrauchs der Zeichen und der Ordnungen ihrer Verwendung wie auch die Verhältnisse zur Wirklichkeit. Ebenso sind Medien an der Erzeugung fiktiver und virtueller Welten beteiligt und darin auf die Differenz von Realität und Fiktion bezogen.«53

Allerdings findet dieser Medienapriorismus54 u.a. seine sozialen und kulturellen Grenzen in Ländern, die, wenn überhaupt, nur ein rudimentäres Mediensystem besitzen bzw. kaum über (Medien-)Technik verfügen. Haller (2003b: 23) verdeutlicht dies am Beispiel der Pressefreiheit: »In diesen Staaten – man denke an Zimbabwe, Eritrea, Sudan und Kongo, in Asien an Burma, Turkmenistan, Laos, Usbekistan – spielt die Pressefreiheit eine sehr untergeordnete Bedeutung, weil die für die mediale Entfaltung der Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit notwendigen Voraussetzungen (Alphabetisierung, Informationssysteme, soziale Partizipation) und Rahmenbedingungen (Rechtsordnung, existenzsicherndes Einkommen, offener Binnenmarkt) nicht gegeben sind, derweil sich die gebildete Elite jede Art des Medienkonsums – zumal den Import der westlichen Presse – leisten kann. In diesen Populationen spielen ohnehin nicht die Medien, sondern die interpersonalen, von lokalen Meinungsführern und Oligarchen dominierten face-to-face-Kommunikationsformen55 für die Meinungsbildungsprozesse die entscheidende Rolle [...].«

Haller diskutiert in diesem Aufsatz die Frage, ob sich die Medienfreiheit56 globalisieren lasse, d.h. wie eine interkulturelle Ausweitung der Presse- bzw. Medienfreiheit in Richtung einer global wirksamen Kommunikationsfreiheit möglich sei, und welche Behinderungen, Einschränkungen und Grenzen in diesem Kontext auftauchten (vgl. auch Haller 53 An anderer Stelle dehnt Karpenstein-Eßbach (2004: 11) diese in-formierende Funktion der Medien auch auf die menschliche Sinnestätigkeit aus: »Diese Sinnestätigkeit ist nie nur natürlich, sondern gerahmt und konturiert von Künstlichkeit. Medien modifizieren sie und geben ihr neue Konturen in Technisierungen der Sinne, die Selbst- und Weltverhältnisse allererst generieren. Es handelt sich hier um basale kulturelle Formgebungen, die im Sinne einer Aisthesis(Wahrnehmungs-)Problematik auf ihre medialen Dimensionen hin befragt werden müssen« (vgl. hierzu ausführlich ebd.: 13-80). 54 Diese Begriffsschöpfung geht auf Krämer (2003) zurück. 55 Hiermit weist Haller darauf hin, dass nicht alles Kommunikationsverhalten bzw. alle Kommunikationsformen, außer auf anthropologischer, also auf sinnlicher Ebene, medial bedingt sind oder sein müssen. 56 Medienfreiheit ist für Haller (2003b: 13) der modernisierte Begriff für Pressefreiheit.

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2003c sowie die Beiträge in Haller 2003a). Seine Frage nach den Chancen für eine Globalisierung der Pressefreiheit resultiert in der für Haller leitenden These, dass es ohne Pressefreiheit keine Demokratie gebe. Sie ist, für Haller, neben den anderen gesellschaftlichen Kommunikationsfreiheiten (Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Informationsfreiheit, Kommunikationsfreiheit, Veröffentlichungs- und Herausgeberfreiheit, Rundfunk- und/oder Filmfreiheit), die verfassungsrechtlich geschützte Grundvoraussetzung zur Konstitution freiheitlicher, demokratisch verfasster politischer Systeme, ebenso die Bedingung der Möglichkeit zur selbstbestimmten Ausbildung autonomer, handlungsfähiger Bürger. Zudem gehöre, wie Haller (ebd.: 11) betont, die Medienfreiheit zu den wenigen Grundrechten, die vermittels Konventionen, Deklarationen, Verfassungen und Gesetzen rund um den Globus eingefordert würden, also eine weltgesellschaftliche Notwendigkeit darstelle. Die Überlegungen von Haller veranschaulichen aber nicht nur die Grenzen der Akzentsetzung auf die mediale Konstruktion von Wirklichkeit, sondern zugleich wiederum auch die Doppelfunktion der Medien als Mittel und Mittler. Die gesellschaftliche und weltgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Pressefreiheit sowie die Initiierung einer transnationalen Kommunikationsordnung, die den nationalstaatlich entgrenzten Kommunikationsräumen entspricht, erfordert, um möglichst auch global auszustrahlen bzw. verbreitet zu werden, die Verwendung von Informations- bzw. Medientechnologien, die wiederum, im Sinne von McLuhan, die entsprechenden diskursiven und kommunikativen (weltgesellschaftlichen) Wirklichkeiten präformieren bzw. in-formieren. Andererseits sind die weltgesellschaftlichen und nationalstaatlichen Verhandlungsprozesse nicht allein durch die medientechnische Bedingtheit zu erklären, denn soziale und kulturelle Gegebenheiten widersetzen sich der Rede vom Medienapriorismus, wie am Beispiel von Hallers Hinweis auf die Behinderungen der globalen Verankerung von Pressefreiheit als einem grundlegenden Menschenrecht, das nicht nur als Postulat existieren, sondern das mediale Handeln entsprechend auch global bestimmen soll, deutlich wurde. Andererseits wird im Beispiel von Haller dem Mediensystem, hier der Pressefreiheit, eine konstitutive Bedeutung bei der Konstitution weltgesellschaftlicher Wirklichkeit, also der Konstitution einer transnationalen Kommunikationsordnung, dem Aufbau und dem Schutz von Demokratien sowie zur Ausbildung autonomer Meinungs- und Willensbildungsprozessen, zugewiesen. Vor diesem Hintergrund, der auf die konstitutive Interdependenz von sozialer und medialer Konstruktion verweist, können die zuvor geäußerten Überlegungen durch eine Beschreibung der Wirklichkeitskonstruktionen bzw. -erfahrungen, wie sie Kammann (2002: 3), aus der Perspektive der Medienrezeption, vorschlägt, zusammengefasst werden:

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»Alle unsere Wirklichkeitserfahrungen sind nur vermittelt zu denken, sind Konstruktionen und individuell geprägte Vorstellungswelten, die ständig – in einem sozialen Akt des Austausches und der Verständigung – öffentlich neu definiert werden. Mit dem gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnis, dass sich Normen durch öffentliche Vermittlung stabilisieren und sich Konventionen – als Vereinbarung aus Übereinstimmungen – bilden können.«

In der Auseinandersetzung mit Wirklichkeitskonstruktionen kann der Akzent aber auch auf die soziale Konstruktion57 als entscheidender Faktor gelegt werden – wenngleich dies bedeutend schwieriger ist. Prinzipiell kann betont werden, dass Wirklichkeit, als Resultat von Diskurs und sozialem Handeln, stets nur in sozialen Kontexten entstehen bzw. sich verwirklichen kann. Luhmann (1996) suggeriert mit dem Titel seiner Studie Die Realität der Massenmedien, vor dem Hintergrund seiner Theorie sozialer Systeme, einerseits, dass die Wirklichkeit des Medialen eine Wirklichkeit neben anderen sei, etwa der des Sozialen oder des Politischen, und systemspezifisch funktioniere.58 Andererseits betont er zugleich, dass diese mediale Wirklichkeit für unsere (sozialen und individuellen) Wirklichkeitserfahrungen, -aneignungen und -konstruktionen konstitutiv sei, d.h. der größte Teil unseres Welt-, Gesellschafts- und Selbstwissens sei medienvermittelt, also zunächst und zumeist sekundär und damit erfahrungstranszendent (vgl. ebd. 9f.). Aus dieser Perspektive könnte einerseits, allerdings nur bezogen auf die Wirklichkeiten des So57 Als Autoren, die diese Position vertreten, können etwa die Klassiker der Wissenssoziologie erwähnt werden, die, abgesehen vom Medium der Sprache, den Medien keine wesentlich Rolle bei der Konstruktion sozialer Wirklichkeit zuweisen. Hierzu zählen v.a. die Ansätze von Max Scheler (u.a. 1960), Karl Mannheim (u.a. 1985), Peter L. Berger und Thomas Luckmann (u.a. 1996) sowie Werner Stark (u.a. 1958). Die Marginalisierung der Medien im wissenssoziologischen Diskurs gilt auch für jene gesellschaftstheoretischen Entwürfe, die ihren Ausgang von der Wissenssoziologie nehmen und den Titel Wissensgesellschaft tragen (vgl. hierzu v.a. Böhme/Stehr 1986; Stehr 1994, 2000, 2001). Dies gilt auch für sozialtheoretische Studien, die wissenssoziologisch motiviert sind und eine Theorie der Wissensgesellschaft (vgl. u.a. Stehr 1994, 2000, 2001). Weiterhin für die ebenfalls zuvor erwähnten Ansätze zum sozialen Konstruktivismus (vgl. hierzu auch die Beiträge in Gergen/Gergen 2003 sowie einige von Burr (1995) erwähnte Autoren). Aber auch die Arbeiten von Schütz (1971, 1972, 2000) und Searle (1997). Ausnahmen bilden, zumindest ansatzweise, neuere wissenssoziologische Studien, die vereinzelt eine intensivere Beschäftigung mit den Medien aufweisen. Exemplarisch können die beiden Arbeiten Knowledge As Culture. The new sociology of Knowledge von Elisabeth Doyle McCharty (1996; s. hierzu auch Kleiner/Strasser 1998), die eher die allgemeintheoretische Bedeutung der Medien im Feld von Wissens- und Wirklichkeitskonstruktionen betont, sowie, fallstudienorientiert, Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft von Degele (2000) genannt werden. 58 Eine hieraus abgeleitete These könnte lauten, dass Medien sich nicht primär auf die Wirklichkeit des Sozialen an sich beziehen, sondern in erster Linie auf sich selbst. Medienproduktionen bzw. mediale Wirklichkeitskonstruktionen entstehen demnach zunächst und zumeist aus den Selbstbeobachtungen der Medien, d.h. deren primären Selbstreferentialität (vgl. hierzu, mit Schwerpunkt auf dem Medienjournalismus, die Beiträge in Beuthner/Weichert 2005).

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zialen und Medialen, idealtypisch zwischen einer sekundären, medialen Wirklichkeit und einer primären, erfahrungsgestützten Wirklichkeit der alltäglichen Lebenswelt unterschieden werden. Die vermeintlich sekundäre Wirklichkeit der Medien wird in diesem Kontext aber als die wirkmächtigere und umfassendere aufgefasst.59 Andererseits könnte behauptet werden, dass die Wirklichkeit des Medialen, wenn die vorausgehende Akzentsetzung für zu umfassend gehalten wird, zumindest einen entscheidenden Einfluss auf die Konstitution anderer Wirklichkeiten, z.B. der des Sozialen, Ökonomischen, Kulturellen oder Politischen nehme. Der ersten Position gegenüber könnte, als Resultat der eingeschränkteren zweiten, der prinzipielle Einwand formuliert werden, dass es auch einflussreiche und funktionierende »Netzwerke interpersonaler Kommunikation« gäbe, die »gegenüber den allzu mächtigen Massenmedien [...] eine Schutzschildfunktion übernehmen« (Schenk/Rössler 1994: 47). Zu diesen Netzwerken können etwa Verwandtschafts- und Partnerschaftsbeziehungen oder Freundes- und Bekanntenkreise gezählt werden, aber auch professionelle Gemeinschaften, wie Politiker, Wissenschaftler, Künstler oder Musiker. Diese Aspekte der face-to-face-Kommunikation können zwar durchaus eine korrigierende Funktion haben, auch und gerade im Umgang mit medialen Wirklichkeiten bzw. Wirklichkeitsselektionen, -inszenierungen und -kommentierungen, wenngleich sich bei den meisten öffentlichen Themen die Informations- und Deutungsangebote der Medien durchsetzen (vgl. Schmidt 1994: 14). Luhmann verweist mit seiner Überlegung letztlich auf die Tatsache, dass der größte Teil des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung stets fremdvermittelt ist, z.B. durch Eltern, Freunde, Lehrer, Bekannte, Bücher, Magazine, Ärzte, Politiker, Wissenschaftler, Mediennutzung usw. Erleben aus zweiter Hand und medial übermittelte Informationen müssen dem Rezipienten nicht als etwas Fremdes bzw. Negatives erscheinen: »Es kommt zu einem Hin- und Hercopieren der Handlungsmuster zwischen den Medien und dem, was in der Alltagserfahrung sich als Wirklichkeit präsentiert und damit zu einem Abschleifen und Wiederaufbauen von ungewöhnlichem Handeln« (Luhmann 1996: 66). Dieses konstitutiv fremdvermittelte Erfahren und Erleben könnte durchaus positiv bewertet werden, im Sinne einer Entlastungsfunktion, d.h. der Zunahme von vielfältigen Erfahrungs- und Erlebnisräumen, durch relativ passive Nutzung präformierter und hochgradig selektiver Medienangebote, die als Ersatz für eigene Erfahrungen fungieren. Anders (2002) hat diesen Aspekt hingegen deutlich kritisiert, weil der zuvor betonte Zuwachs von Weltkontakten und Erfahrungsräumen gerade auf einem Entzug von Welt und Erfahrung basiere bzw. der Medienkonsum diesen verlangen würde. Der 59 Es geht hier nur um diesen allgemeinen Aspekt der Überlegungen von Luhmann. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit seiner Unterscheidung zwischen Verbreitungsmedien, Kommunikationsmedien und Massenmedien kann nicht erfolgen.

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Mediennutzer, etwa der Kino- und Fernsehzuschauer, wird von Anders (ebd.: 102) als »Massen-Eremiten« bezeichnet: »[...] der Typ des Massen-Eremiten war entstanden; und in Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem anderen gleich, einsiedlerisch im Gehäuse – nur eben nicht um der Welt zu entsagen, sondern um um Gottes willen keinen Brocken Welt in effigie zu versäumen [Hervorhebung im Original – MSK].« Ein wesentlicher Grund für die Notwendigkeit von Rekursen auf sekundäre (etwa soziale und mediale) Quellen, die der eigenen Erfahrung und dem eigenen Erleben nicht zugänglich sind, besteht in der raumzeitlichen Begrenzung und Situiertheit des handelnden Menschen.60 Nur ein kleiner Teil des Welt-, Gesellschafts-, Kultur-, Medien- und Selbstwissens ist selbst erfahr-, erleb- oder überprüfbar, muss aber dennoch als gegeben hingenommen werden, auch wenn man prinzipiell Zweifel an diesem Gegebenen bzw. Vorgegebenen hat.61 Andererseits muss es auch ein prinzipielles Vertrauen in diese Vorgaben geben, weil sie die Basis des Verstehens und der Konstruktion von Welt, Gesellschaft, Kultur und Selbst bilden. Zudem haben diese Vorgaben Orientierungs- und Steuerungsfunktion für Gesellschaft und Individuum, so dass das prinzipielle Infragestellen oder die grundlegende Kritik an diesen Vorgaben zur Handlungsunfähigkeit führen würde. Auch hinsichtlich des historischen Wissens ist Vertrauen konstitutiv, weil es sich hierbei nur um Berichte über historische Ereignisse, Persönlichkeiten usw. handelt, also hochgradig selektierte und präformierte Wirklichkeitsausschnitte. Niemand der heute Lebenden hat z.B. in der Antike gelebt und kann Aussagen über antike Wirklichkeiten, Denksysteme und Lebenswelten überprüfen. Diese sind uns nur in überlieferter Form zugänglich – das Gleiche gilt für alle Interpretationen dieser Wirklichkeiten. Gleichwohl müssen wir diesen Quellen vertrauen, um überhaupt einen Zugang zu antiken Wirklichkeiten zu haben. Auch jede (individuelle) Kritik bzw. Stellungnahme oder (gesellschaftliche) Modifikation an der Überlieferung und Kommentierung antiker Wirklichkeiten, das gilt prinzipiell für alle gesell-

60 Meyrowitz (1990) weist etwa darauf hin, dass das Fernsehen die Bindung an soziale Nahräume aufbricht, dem Zuschauer potentiellen Zugang zu unterschiedlichsten Ereignissen, auch den entferntesten, verschafft und somit seinen Orts-, aber auch Zeitsinn, vom physischen und temporären Ort seiner zeitlichlebensweltlichen Situierung unabhängig macht. 61 Auch dieser Zusammenhang könnte als Beispiel für die behauptete konstitutive Interdependenz zwischen Gesellschaft und Medien bzw. sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit dienen. Mit den vorausgehenden Überlegungen ist allerdings noch nicht geklärt, wer wen steuert bzw. von wem gesteuert wird: die Gesellschaft von den Medien oder die Medien von der Gesellschaft (vgl. hierzu u.a. die Beiträge in Rolke/Wolff 1999a). Eine Suche nach verbindlichen und hierarchischen Steuerungszentren bzw. -subjekten ist allerdings ebenso vergebens, wie der Versuch, die konstitutive Interdependenz zwischen Gesellschaft und Medien zu Gunsten einer dieser beiden Faktoren aufzulösen.

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schaftlichen Vorgaben, bleiben letztlich an diese rückgebunden, insofern sich Kritik und Modifikation immer auf diese beziehen müssen.62 Hurrelmann (1994: 395) macht in diesem Kontext auf eine Paradoxie aufmerksam: »Auf den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion haben verschiedene Sozialsysteme mit ihren Deutungsmustern Einfluss: Politik, Wissenschaft, Recht, Religion, Kunst usw. – und unter ihnen seit wenigen Jahrzehnten auch die modernen audiovisuellen Medien. Dass es bisher nicht üblich ist, alle ihre Deutungsangebote als ›Wirklichkeit‹ aus zweiter Hand zu etikettieren, liegt vermutlich daran, dass sie in ihrem Kernbestand historisch und kulturell legitimiert sind und dass sie auf je besondere institutionelle Kontexte beschränkt zu sein scheinen: Politik, Wissenschaft, Recht, Religion, Literatur, Kunst u.ä. bilden je eigenständige Sozialsysteme mit unterschiedlichen Reichweiten.«

Die Vorgaben der audiovisuellen Medien, etwa des Fernsehens, werden im Vergleich zu den anderen paradoxerweise zumeist als sekundäre Wirklichkeiten bezeichnet und nicht selten in ihrem Wahrheitsgehalt prinzipiell angezweifelt, obwohl es sich hierbei zunächst nur um eine Fortführung des zuvor beschriebenen gesellschaftlichen Phänomens des Erfahrungserwerbs durch Fremdvermittlung, allerdings mit anderen Mitteln, handelt. Dass die Vermittlung von gesellschaftlichem oder historischem Wissen etwa durch Bücher, Kunstwerke oder religiöse Rituale sachadäquater bzw. wirklichkeitsnäher sein soll, ist wenig plausibel. Zudem ist gesellschaftliches Wissen immer auf Speichermedien, wie etwa Bücher, Datenbanken, Kunst, Literatur, Wissenschaft, Museen, Computer oder Archive, angewiesen, um überlieferbar, vermittelbar und bewahrbar zu sein. Diese Hervorhebung der konstitutiven Rolle von Speichermedien für das gesellschaftliche Wissen, könnte, entsprechend der zuvor erwähnten Argumentationslinie von Nietzsche, McLuhan und Kittler, zu der These zugespitzt werden, dass Medien Wirklichkeit informieren – und zwar primär durch ihre jeweils spezifischen Medialitäten bzw. Technizitäten: »Alles, was über die Welt gewusst, gedacht und gesagt werden kann, ist nur in Abhängigkeit von den Medien denkbar und sagbar, die dieses Wissen kommunizieren. Nicht die Sprache, in der wir denken, sondern die Medien, in denen wir kommunizieren, modellieren unsere Welt« (Assmann/Assmann 1990: 2). Medien müssen sich, um eine weiteres Beispiel zu nennen, mit ihren Produktionen stets auf gesellschaftliche und weltgesellschaftliche Wirklichkeiten bzw. Vorbilder beziehen, etwa auf Berufsrollen, politische Ereignisse, Naturkatastrophen, Prominente oder gesellschaftliche Randgruppen – dies gilt zum größten Teil auch für fiktionale Angebote63. 62 Dies gilt auf allgemeiner Ebene auch für alle Versuche, eigensinnige Sinn- und Bedeutungsuniversen, etwa in der Literatur oder der Kunst, zu schaffen. 63 Auch wenn etwa in Science-Fiction- oder Fantasy-Filmen bzw. Fernsehserien Welten, Charaktere oder Szenarien gezeigt werden, die es in dieser Form nie-

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Diese Vorbilder werden zwar nicht deckungsgleich repräsentiert, sondern eigenlogisch gestaltet bzw. inszeniert, müssen aber dennoch immer in Korrespondenz mit ihren Erscheinungsweisen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen, um anschlussfähige Kommunikationen in Form von Diskursen, Handlungsmustern, Kaufanreizen, Orientierungswissen, Erfahrungen usw., zu erzielen. Betrachtet man etwa die mediale Inszenierung bzw. Thematisierung von Berufen in fiktionalen, z.B. TV-Serien oder Filmen, und nicht-fiktionalen, etwa Nachrichten- und Themensendungen, Dokumentationen oder Talkshows, Medienformaten, so kann festgestellt werden, dass in den Medien potentiell alle Berufe auftauchen können, die gesellschaftlich möglich sind – dies bedeutet aber nicht, dass alle Berufsmöglichkeiten auch aufgegriffen werden. Ein anderes Beispiel wäre eine Kritik am Medienformat Big Brother (RTL II) als schamlose Inszenierung von Privatheit und Intimität. Diese Kritik kann aber nur funktionieren, d.h. nachvollzogen oder abgelehnt werden, wenn es ein vorausgehendes gesellschaftlich verankertes Wissen über Scham und Schamlosigkeit gibt sowie individuelle Erfahrungen im Umgang mit diesen Themen. Genauso verhält es sich mit der Thematisierung von normativen Fragen in biographischen Talkshows64, in denen real-life-people über Themen des Alltags bzw. alltäglicher Lebenswirklichkeiten sprechen, etwa über die Frage, wie Fremdgehen bzw. Ehebruch zu bewerten seien. Die zumeist auf wenige, äußerst plakative und undifferenzierte, Stereotypen beschränkten Antwortmodelle, die wiederum von klischeehaften Kandidaten vorgetragen werden, müssen unmittelbar anschlussfämals in der sozialen Wirklichkeit geben wird, sind sie doch einerseits als fiktive Welten gerade durch ihre Differenz zur alltäglichen Wirklichkeiten erkennbar, also im Erkennen dieser Differenz an die soziale Wirklichkeit zurückgebunden, aus der sie, durch ihre Schöpfer, hervorgehen und von der ausgehend diese Differenz erkannt wird. Andererseits enthalten sie dennoch Elemente, wie z.B. Handlungsmuster, Gesellschaftsformen oder Persönlichkeitstypen, die in Korrespondenz, wenn auch in modifizierter Form, zur Wirklichkeit des Sozialen steht, also anschlussfähige Kommunikationen bzw. Verstehen erzeugen (können). Zudem können von Medienfiktionen in Film und Fernsehen, vergleichbar mit der fantastischen oder utopischen Literatur, wiederum Wirkungen auf die soziale Wirklichkeit ausgehen, etwa alternative Gesellschaftsmodelle. 64 Diese Form der Talkshows, ich beziehe mich hierbei nur auf die deutsche Fernsehlandschaft, die v.a. von den privaten Fernsehsendern (u.a. Vera am Mittag, SAT 1; Die Oliver Geissen Show, RTL) ausgestrahlt werden, kann idealtypisch unterschieden werden von politischen Talkshows (etwa Sabine Christiansen, ARD) sowie Gesprächsrunden mit Experten über wissenschaftliche, politische oder kulturelle Themen (u.a. Nachtstudio, ZDF; Menschen bei Maischberger, NTV; Quergefragt!, SWR) einerseits, und Personality-Talkshows (wie Beckmann, ARD; Johannes B. Kerner, ZDF; NDR Talkshow, NDR) andererseits, in denen es um den Talk mit Prominenten geht. Eine andere Form der biographischen Talkshow, in der es ausschließlich um die Diskussion existentieller Themen geht und die sich gegenüber der der Privaten als seriöser versteht, sind etwa Domian (WDR) oder Fliege (ARD). Alle Mischformen, wie etwa MTV Select (MTV), in denen neben der Präsentation von Musikclips auch Interviews mit Musikern geführt werden, oder Unterhaltungsshows mit Talkteilen, etwa TV TOTAL (PRO7) oder Sarah Kuttner – Die Show (MTV) bleiben hierbei unberücksichtigt.

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hig sein, also auf alltägliche und vertraute, aber nicht zu differenzierte, Verhaltens- und Denkschemata rekurrieren, um bei den Zuschauern im Publikum und zu Hause anzukommen. Medien müssen weiterhin stets auf gesellschaftliche Themen mit hoher Brisanz und Aktualität, wie etwa Arbeitslosigkeit, Hartz IV, den Irakkrieg, die Papstwahl oder die von Franz Müntefering im Frühjahr 2005 initiierte Kapitalismuskritik eingehen und diese medial inszenieren, um im Kampf um Aufmerksamkeit erfolgreich zu sein. Medien sind daher, wie Rolke/Wolf (1999b: 14) betonen, »auf aktuelle Zeitpunkt-Orientierung justiert«. Diese Ereignisse, etwa der Irakkrieg oder die Papstwahl als Medien-Ereignisse zu bezeichnen ist sowohl falsch, als auch richtig. Falsch, weil sie nicht als mediale Auftragsarbeiten verstanden werden können, die es ohne die Medien gar nicht geben würde, sondern vielmehr in der Wirklichkeit des Sozialen gründen; richtig, weil ihre Übermittlung, Inszenierung und Kommentierung zunächst und zumeist medial bedingt ist, weil, wie zuvor betont, der größte Teil unseres Welt- und Gesellschaftswissens nicht persönlich erfahrbar ist und sich daher aus sekundären Quellen speisen muss. Ein äußerst brisantes Thema, über das am 9. Mai 2005 vom USMagazin Newsweek berichtet wurde, war die vermeintliche Koranschändung im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba.65 Unter Berufung auf einen hochrangigen US-Regierungsbeamten, der anonym blieb, wurde in diesem Newsweek-Bericht von den Journalisten Michael Isikoff und John Barry, in dem es um neuere Untersuchungen zum GefangenenMissbrauch bei Verhören in Guantanamo Bay ging, behauptet, dass amerikanische Ermittler den Koran auf Toiletten gelegt und sogar in einem Fall die Toilette heruntergespült hätten, um muslimische Gefangene zum Reden zu bringen. Diese Aussage legitimierte der Regierungsbeamte, wie Newsweek später bekannt gab, durch Bezugnahme auf einen Untersuchungsbericht des für das Lager zuständigen U.S. Southern Command in Miami. Dies sei, wie Pany (2005a) betont, ein »deutlicher Hinweis dafür, dass diese Vorwürfe von obersten Stellen ernst genommen wurden und vieles dafür spricht, dass sie so geschehen sind.« Der Bericht löste in Afghanistan und anderen islamischen Ländern eine Welle von antiamerikanischen Ausschreitungen und Demonstrationen mit zahlreichen Verletzten und Todesopfern aus. Nachdem am 15. Mai von der Redaktion zunächst nur Fehler im Bericht eingeräumt wurden, weil der befragte Regierungsbeamte auf erneutes Nachfragen hin angeblich erklärt hätte, er sei sich nicht mehr sicher, ob er den Koranschändungsvorfall tatsächlich in dem Untersuchungsbericht erwähnt gesehen habe oder in anderen Un-

65 Vgl. hierzu mit zahlreichen Links zu internationalen Presseberichten den Artikel Das Guantanamo-Virus von Thomas Pany (2005a), der am 17.05.2005 im online-Magazin telepolis erschienen ist.

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terlagen, wurde der Bericht am 16. Mai 2005, u.a. durch starken Druck der US-Regierung, formell zurückgezogen. Dieser Fall ist ein instruktives Beispiel dafür, welcher nachweisbare Einfluss von der sozialen auf die mediale Wirklichkeit bzw. von der Gesellschaft auf die Medien ausgehen kann, diese also nicht nur u.a. als Themengeber für Medien fungiert, sondern sie auch bei der Konstruktion medialer Wirklichkeit nachhaltig beeinflussen kann. Andererseits wird an diesem Beispiel deutlich, welche umfassenden Wirkungen Medien potentiell erzeugen und wie sie die Gesellschaft bzw. einzelne gesellschaftliche Gruppen zum Handeln veranlassen können. Die als positiver Medieneffekt hervorgehobene These von Enzensberger (1999: 265), dass »das entscheidende Politische« der elektronischen Medien »ihre mobilisierende Kraft sei«, die »die Menschen beweglicher machen als sie sind«, hat in diesem Kontext eine zweifache Bedeutung. Zum einen eine negative, weil die falschen Angaben des Newsweek-Berichts dramatische Auswirkungen hatten. Die mobilisierende Wirkung bedeutet hier eine Irritation der weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit, die durch eine Falschmeldung ideologisch aufgerüttelt und zu Handlungen motiviert wurde, die in ihren Konsequenzen nicht zu verantworten sind, wie etwa die zahlreichen unnötigen Todesopfer oder die daraus entstehende weitere Verhärtung zwischen den islamischen Ländern und den USA. Zum anderen zeigte sich aber auch, dass die öffentliche, weltgesellschaftliche Diskussion dieser Fehlermeldung in den Medien sowie den damit verbundenen Konsequenzen korrigierende Wirkungen hatten sowie, zumindest in Ansätzen, eine weltgesellschaftliche Diskursgemeinschaft erzeugt werden konnte. Allerdings darf hierbei nicht übersehen werden, dass nur die Wenigsten Zugang zu allen Unterlagen hatten und durch die Medien auch nur sehr gefilterte Informationen in die Weltöffentlichkeit drangen sowie die Medienberichte auf wenige plakative und oberflächliche Inhalte sowie Bilder beschränkt blieben. Die Meinungsbildung musste sich daher größtenteils auf fremdvermittelte und fragmentarische Informationen stützen, denen man trotzdem, auch wenn man sie anzweifelte, in gewisser Weise vertrauen musste, um überhaupt zu einer Positionierung zu gelangen. Dies zeigt an, wie problematisch es letztlich ist, in unserer Mediengesellschaft, von Möglichkeiten zur autonomen Meinungs- und Willensbildung, gerade durch Mediennutzung, zu sprechen. Rolke und Wolff (1999: 12, 15) würden die weltweiten Reaktionen auf den Newsweek-Artikel hingegen primär als gelungenen Versuch von einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen, wie z.B. der US-Regierung, Menschenrechtsgruppen oder der Weltbevölkerung, bezeichnen, die Medien nachhaltig (mit-)zusteuern bzw. ihre Wirklichkeitskonstruktionen zu beeinflussen: »Die durch viele wissenschaftliche Studien bekannte ›objektive Welt‹ wird nach Meinung ungezählter Experten, Manager und Politiker von den Medien nicht angemessen dargestellt [...]. Deshalb nehmen Unternehmen und Parteien, Verbände und andere gesellschaftli-

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che Institutionen in Form von PR- und Öffentlichkeitsarbeit, Issuemanagement und Unternehmenskommunikation aktiven Einfluss auf die Medienberichterstattung und – vermehrt auch – Unterhaltung.« Auf den Fall des Newsweek-Berichts und die Reaktionen der US-Regierung übertragen, muss diese These von Rolke und Wolff differenzierter betrachtet werden. Die amerikanische Regierung wurde durch diesen Artikel, gerade nach den vorausgehenden Folterskandalen66, durch die Medien, also Newsweek, zu einer Stellung gedrängt, die von Newsweek anders intendiert war und musste Öffentlichkeitsarbeit leisten, denn ihr Bild in der (medialen) Weltöffentlichkeit ist seit den Maßnahmen im Anschluss an den 11. September 2001 weitestgehend negativ. Die US-Regierung musste also weltöffentlich betonen, dass diese Angelegenheit systematisch und gründlich geprüft würde, sich aber gleichzeitig von diesen Vorwürfen prinzipiell distanzieren. Nach der Bekanntgabe, dass sich dieser Bericht auf falsche Informationen stützte, zog Newsweek diesen Artikel, auf Drängen der US-Regierung, offiziell zurück. Weitere Sanktionen gegen Newsweek von Seiten der US-Regierung wurden nicht ausgeschlossen. Diese Androhung von Sanktionen, die in diesem Fall durchaus berechtigt sind, wirken bzw. sollen wiederum als abschreckendes Beispiel für andere Medien wirken.67 Der Newsweek-Artikel bedeutete also einerseits eine Chance für die US-Regierung, ihr Image in der Weltöffentlichkeit zu verbessern, andererseits zugleich einen weiteren Imageverlust.68 US-Regierung und Newsweek, also Gesellschaft und Medien, 66 Vgl. hierzu mit zahlreichen Verweisen u.a. Rötzer (2004). 67 Je nachdem, wie die Sanktionen ausfallen, würde dies letztlich auch auf eine weitere Einschränkung, hier im Sinne einer abschreckenden Wirkung, der Pressefreiheit in den USA hinauslaufen, die seit dem 11. September 2001, im Zuge der Maßnahmen um den Patriot Act, zu beobachten sind (vgl. hierzu u.a. Haller 2003a). 68 Einen kurzen, aber pointierten Überblick über die Kosten und Nutzen der Auseinandersetzung um den Newsweek-Artikel sowie seine Einordnung in die aktuelle politische Situation, bietet Pany (2005b): »Womit wir schon bei den beiden ›Interims-Siegern‹ der Newsweek-Affäre sind: den Kapitänen des neuen ›Citizen-Media‹-Ethos, exemplarisch seien hierfür Jeff Jarvis [...] und Jay Rosen [...] genannt, und die amerikanische Regierung, innenpolitisch. Für Jarvis und Rosen, beide ehemalige Journalisten und nun Blogger-Giganten, zeigt der Newsweek-Bericht genau die Schwächen, die sie dem etablierten Journalismus immer wieder vorhalten: ungenaues, schlampiges Arbeiten, das mit alten, arroganten Attitüden gedeckt wird. [...] Da die Old-School-Journalisten von Newsweek obendrein noch von einer altvorderen Informationsgesellschaft ausgehen, hätten sie keinen Sinn dafür gehabt, wie schnell im neuen Zeitalter Informationen in den letzten Winkel der Erde gelangen, und vor allem, was sie auslösen können. Und schließlich kann die US-Regierung auch ein paar Erfolge in der Affäre verbuchen. Zwar gibt es Kritik an ihrer späten Reaktion, die den Imageschaden nicht mehr beheben konnte, aber es gelang ihr einen Vorstoß zu machen, der vor einiger Zeit undenkbar war. Die Rücknahme des Berichts sei ein erster Schritt, so Scott McClellan, zuständig für Pressearbeit im Weißen Haus, aber dem müssten andere folgen, um den angerichteten Schaden zu reparieren, vorzugsweise eine positive Berichterstattung [...]. [...] PR-Arbeit also für einen fortlaufenden Skandal namens Guantanamo.«

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steuerten sich hierbei wechselseitig. Die Grundlage zur Meinungsbildung der Weltöffentlichkeit war diesbezüglich wesentlich fremdvermittelt. Entsprechend betonen Rolke und Wolff (1999: 15), dass gesellschaftliche Gruppen, etwa Politiker, Wissenschaftler oder Unternehmer, die fehlerhafte bzw. verzerrte Darstellung von Themen, die sie betreffen, zwar permanent kritisieren und auch (teilweise) mit Erfolg (massenwirksam) auf sie einwirken können, hierzu aber meistens mediale Inszenierungstechniken wählen sowie ihre Gegendarstellungen fast ausschließlich über die Medien verbreiten (müssen). Rolke und Wolff behaupten somit letztlich auch die Interdependenz zwischen Medien und Gesellschaft bzw. medialer und sozialer Konstruktion: »Das Begehren von Unternehmen, Regierungen und anderen gesellschaftlichen Organisationen, die als machtvoll geltenden Medien mitsteuern zu wollen, erscheint so geradezu zwangsläufig. Presse- und PR-Abteilungen [...] planen die Inszenierung ihrer Themen, Ereignisse und Personalentscheidungen. [...] Externe Kommunikation gilt heute als Managementaufgabe, die zum Wertschöpfungsprozess beiträgt. Mit Image lassen sich Umsatz und Gewinn steigern, das wissen Umweltverbände genauso wie Unternehmen.«

Fehlermeldungen, negative Medienberichte, Sensationen und Skandale, die für die berichtenden Medien stets eine hohe Aufmerksamkeit und damit Nutzung, d.h. Absatz bzw. Einschaltquote bedeuten, sind somit immer auch eine Chance für die jeweils angegriffenen gesellschaftlichen Gruppen, an ihrer Selbst- und Außendarstellung öffentlich und aufmerksamkeitswirksam zu reagieren. Man könnte insofern von einer symbolischen, arbeitsteiligen Kooperation zwischen Medien und Gesellschaft sprechen, hier z.B. von PR-Abteilungen oder, mit Blick auf den Newsweek-Artikel, von Regierungssprechern und den Medien, wie etwa Zeitung, Fernsehen und Internet. Schließlich ist es wenig plausibel zu behaupten, dass im Prozess der Sozialisation, also dem Hineinwachsen des Menschen in die Gesellschaft durch die Aneignung von Werten, Normen, Denk- und Handlungsmustern, wodurch der instinktarme Mensch seine Handlungsfähigkeit und persönliche Identität erwirbt (vgl. Tillmann 1989; Hurrelmann/Nordlohne 1989; Hurrelmann 2002; Zimmermann 2005)69, die Rolle der Me69 Hierbei handelt es sich, wie Hurrelmann (1994: 386) betont, stets um einen dialektischen Prozess: »Individuum und Umwelt werden in einer Wechselbeziehung gedacht: Die Umwelt setzt nicht nur die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Person, sondern sie wird vom Individuum aktiv interpretiert, angeeignet – und unter Umständen auch verändert.« Dies gilt auch für die Mediensozialisation: »Familien nehmen zwar Einflüsse aus der sozialen Umwelt in sich auf, aber sie verarbeiten sie in jeweils spezifischer Form, ihren eigenen sozialen Bedingungen entsprechend. In unterschiedlichen Familien gibt es daher auch unterschiedliche Bedeutungen, die den Medien im Familiengeschehen überhaupt zukommen [...]. [...] Familiale Voraussetzungen entscheiden, welchen Stellenwert die Medien in der Sozialisation der Heranwachsenden gewinnen –

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dien nur als ein Aspekt unter anderen beschrieben wird. Vielmehr machen Heranwachsende, als Teil des Alltagshandelns und integraler Bestandteil der personalen Kommunikation, permanent Erfahrungen mit Medien, die wiederum Einfluss auf ihre Sozialisation nehmen sowie die Inhalte ihrer Sozialisation auch zur Bewertung von Medienangeboten beitragen kann. So dient etwa das Jugendmagazin BRAVO seit seiner Gründung als eine zentrale Instanz, wenn es um sexuelle Aufklärung sowie zwischenmenschliche Interaktionsrituale geht. Im Fernsehen gibt es seit einigen Jahren, vorwiegend im Musikfernsehen (MTV oder VIVA), Sendeformate, die diese Themen fast täglich diskutieren. Fernsehmagazine, Fanzines, Zeitschriften oder Radiosendungen tragen ebenfalls massiv zur Konstitution von Geschmack bei, etwa hinsichtlich von Musik, Lifestyle oder Mode. Die hier angesprochene Orientierungsfunktion der Medien70 ist nicht auf Heranwachsende beschränkt, sondern gilt für jede Mediennutzung und in jedem Lebensalter. Hiermit soll allerdings nicht behauptet werden, dass mediale Orientierungsangebote (Inhalte) und Darstellungsmuster gleichsam voraussetzungslos und direkt in individuelle Weltbilder überführt werden. Alle Medienangebote werden stets in einem sozialen Kontext rezipiert bzw. genutzt, der aus vielschichtigen Sinn- und Bedeutungsebenen, Wert- und Normsystemen, Verhaltensschemata oder Erlebnis- und Erfahrungshintergründen besteht, die einerseits die Voraussetzung dafür sind, dass Medienangebote ankommen, also anschlussfähig sind, weil sie Inhalte, wie etwa Liebe, Krankheit, Klatsch, Sport oder politische Themen darstellen, die für die soziale Wirklichkeit der Nutzer von Interesse bzw. relevant sind. Andererseits können diese sozialen Kontexte sowie die Persönlichkeitsstruktur des Rezipienten bzw. Nutzers stets als Korrektiv zu diesen Angeboten fungieren. umgekehrt wirken veränderte Medienverhältnisse auch verändernd auf den Mediengebrauch der Familien, und diese Veränderungen tragen ihrerseits langfristig zu einer Verschiebung der familialen Interaktions- und Sozialisationsvoraussetzungen bei.« (ebd.: 399f.). Insofern wird soziale Wirklichkeit in die mediale verlängert, dort allerdings eigenlogisch modifiziert, um wiederum Einfluss auf die Gestaltung sozialer Wirklichkeit zu nehmen. 70 Wie Vlasic (2004: 225f.) betont, muss die Orientierungsfunktion der Medien hinsichtlich ihrer Bedeutung für die soziale Wirklichkeit, als dialektisch beschrieben werden: »Medien sind ein wichtiger Maßstab zur sozialen Orientierung der Akteure. Sie tragen zur Definition von erstrebenswerten Zielen und Gütern bei – man denke etwa an Statussymbole oder Schönheitsideale. Zudem vermitteln sie, welche Handlungsweisen für die Ereichung interessierender Ressourcen angemessen und legitim sind. Es wurde verschiedentlich dargestellt, welche delegitimierenden Folgen die Darstellung normabweichenden Verhaltens mit sich bringen können. Freilich muss betont werden, dass sich solche Wirkungen nur im Kontext der materiellen und sozialen Strukturen der Akteure verstehen und erklären lassen. So hängt etwa der Einfluss kultivierender Effekte durch TalkShows von spezifischen Merkmalen der Lebenssituation der Zuschauer ab, und die Einstellungen gegenüber Migranten wird deutlich durch die Möglichkeit persönlicher Erfahrungen im sozialen Nahbereich bestimmt.«

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Sozialisation ist insofern zugleich immer auch Mediensozialisation. Die Sozialisationsperspektive nimmt dabei sowohl die dialektischen Beziehungen zwischen Persönlichkeitsentwicklung und den Medien als gesellschaftlich vermittelter sozialer Umwelt in den Blick, die wiederum Einfluss auf diese soziale Umwelt nehmen. Medien durchdringen hierbei sowohl soziale Institutionen, als auch die Privatsphäre, sind aber andererseits, wie Hurrelmann (1994: 387) betont, in ihrer Bewertung und in ihrem Umgang von den sozialen Kontexten, in denen sie genutzt werden, abhängig. In der Sozialisation, verstanden als ein Prozess, der das Entstehen der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit und Auseinandersetzung von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt betrachtet, müssen die Medien, neben z.B. der Familie oder Schule, als konstitutive Sozialisationsinstanz verstanden werden, die wesentlich Anteil an der Vermittlung sozialer Kenntnisse und sozialen Wissens hat. Mediensozialisation, also das Aufwachsen mit MultimediaNetzwerken und das Erlernen des Umgangs mit diesen Medienensemblen, wird grundsätzlich ambivalent aufgefasst: zum einen als Risiko71, zum anderen als produktive Ressource72 für das Aufwachsen von Kindern (vgl. Vlasic 2004). Sozialisation in einer von Medien geprägten Gesellschaft heißt, einen kompetenten Medienumgang zu lernen und sich das eigene Selbst- und Weltbild medial vermittelt anzueignen.73 Der Prozess der Mediensozialisation ist aber nicht nur auf Heranwachsende beschränkt, sondern eine permanente Notwendigkeit für jeden, der in einer zunehmend von Medien bestimmten Gesellschaft lebt. So können etwa Themensendungen im Fernsehen zu aktuellen politischen Ereignissen zur Ausdifferenzierung von Meinungsbildern dienen oder Darstellungen von zwischenmenschlichen Interaktionsritualen und Intimkommunikationen in Filmen Einfluss auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation beim Zuschauer bewirken. Diesen positiven Charakter der Medienrezeption, verbunden mit einem sozialisierenden Effekt, hatte bereits Benjamin (1977: 39) in seinem Kunstwerk-Aufsatz erkannt, wenn er die »physische Chockwirkung [Hervorhebung im Original – MSK]« des Films hervorhebt, d.h. den permanenten Ansturm äußerer 71 Etwa hinsichtlich der Themen Gewalt- und Aggressionszunahme durch Medienkonsum, wie z.B. durch die Nutzung bestimmter Videospiele, Filme oder Musik. 72 Diesbezüglich könnte das frühzeitige Erlernen des Umgangs mit dem Computer, der in zahlreichen Berufen als grundlegend vorausgesetzt wird, angeführt werden oder die zahlreichen Möglichkeiten der Beschaffung von unterschiedlichsten Informationen zu einem Thema, zum Zweck der persönlichen Meinungsbildung, die gerade durch eine intensive Nutzung von Medienangeboten allererst möglich wird. 73 Vgl., mit zahlreichen empirischen Beispielen zum Thema Mediensozialisation, Hurrelmann (1994); Roters/Klinger/Gerhards (1999); Fritz/Sting/Vollbrecht (2003); Süss (2004); sowie die Beiträge bzw. biographischen Erlebnisberichte prominenter Journalisten und Wissenschaftler in Hörisch (2002a) zur Frage, wie neue Medien, von Jukebox, Film und Fernsehen, über Computer, CD und MTV, bis zum Hypertext und Cyberspace, neue Generationen form(at)ieren.

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KAPITEL 1

Reize, in der die Zuschauer mit ihrer Gegenwart konfrontiert werden. Diese Schockwirkung hat aber für Benjamin durchaus auch positive sozialisierende Effekte, denn die filmischen Schocks führen zu einer Art Überlebenstraining für den Menschen des 20. Jahrhunderts, indem sie den operativen Nutzen der entsprechenden Produkte als Schulung für den Umgang mit der modernen Wirklichkeit darstellen: »Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. [...] Der Film ist die, der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tief greifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab, jeder heutige Staatsbürger erlebt.«74

Ob der Akzent im Feld der Auseinandersetzung mit Wirklichkeitskonstruktionen auf das Soziale, das Mediale oder deren grundlegende Interdependenz gelegt wird, gilt für alle Akzentsetzungen grundsätzlich, dass stets Möglichkeiten auf weitere Möglichkeiten in Form einer offenen Endlosigkeit verweisen: »Das Wirkliche bietet sich endloser Erforschung dar, es ist unerschöpflich« (Merleau-Ponty 1966: 374).

74 Demgegenüber überblendet Benjamin auch nicht die negativen Auswirkungen des Films bzw., allgemeiner formuliert, medientechnischer Evolutionen und Innovationen, d.h., mit Blick auf den Film, den Verlust der Aura, die Veränderung menschlicher Wahrnehmungsweisen, die Auflösung des historischen Bewusstseins usw.

SOZIALE UND MEDIALE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT

1.5

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ZUSAMMENFASSUNG: MEDIENW IRKLICHKEIT UND DIE WIRKLICHKEIT DES SOZIALEN »Die Wirklichkeit ist ein Gerücht« (Rötzer 1996).

Mit dieser These spielt Rötzer, in seiner Interpretation von Luhmanns (1996) Studie Die Realität der Massenmedien, auf dessen Befund an, dass Massenmedien den Stoff unserer Wirklichkeit bilden und dass der größte Teil unseres Welt- und Selbstwissens massenmedial bedingt, also fremdvermittelt ist. Diese Prognose gilt nicht nur hinsichtlich der sozialen und individuellen Bedeutung der Medien, sondern kennzeichnet, wie Rötzer (ebd.) betont, die individuelle Konstitution von Wirklichkeit und Selbst schlechthin. Insofern beschreibt Rötzer das Verhältnis von Medien und Gesellschaft als interdependent, wobei er den Akzent auf die mediale Konstruktion von Wirklichkeit legt: »Das meiste, was wir zu wissen glauben, ist lediglich etwas, von dem wir gehört haben, das uns ›erzählt‹ wurde – dessen Wahrheit gestützt wird durch Vertrauen in Instanzen, Autoritäten, Zeugen und Experten. Immer weniger können wir durch eigenen Augenschein in einer arbeitsteiligen Welt erfahren, die dank der Medien global wurde, weswegen wir wiederum die Medien benötigen, um uns über sie zu informieren. Aus Gerüchten, die heute durch die Massenmedien und nicht mehr von Mund zu Mund weitergegeben werden, setzt sich, so Luhmann, das Bild von unserer Welt zusammen« (ebd.). In diesem Prozess der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit geht es nicht mehr, so Rötzer (ebd.), um die Wahrheit oder Objektivität von Wirklichkeits- und Wissensvermittlungen, denn Medien, »ebenso wie andere Menschen«, liefern »nicht die unverfälschte Wahrheit ins Haus […], sondern lediglich eine bestenfalls mögliche Version«. Lässt sich die Konstruktion von Wirklichkeit und Selbst aber nicht mehr durch den Bezug auf eine unbedingte Wahrheit legitimieren, müssten diesbezüglich andere Referenzsysteme gefunden werden (vgl. hierzu grundsätzlich das Methoden-Kapitel). Um in diesem Kapitel die soziale und mediale Konstruktion von Wirklichkeit einerseits allgemeintheoretisch zu beschreiben sowie andererseits deren Unterschiede aufzuzeigen, wurde zunächst ein erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt gewählt, dessen Basis die methodischmethodologische Ausrichtung dieser Studie ist sowie die daraus resultierende studienimmanente Bestimmung der Begriffe Wahrheit, Objektivität, Theorie, Theoriefiktion, Erkenntnis und Wissenschaft. Leitend für die Überlegungen in diesem Kapitel ist dementsprechend die These von der grundsätzlichen Konstruktivität von Wirklichkeit. Im Unterschied zu Rötzers Interpretation von Luhmann, wird Wirklichkeit in dieser Studie nicht als Gerücht bezeichnet, weil man hierbei, zumindest implizit, unterstellt, dass es wahre, ursprüngliche und substantielle Grundwirklichkeiten gibt, die frei von Gerüchten, also vermeintlichen Wirklichkeitsver-

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KAPITEL 1

fremdungen bzw. -verzerrungen sind.75 Für eine gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion ist die Unterscheidung zwischen Erfahrungswirklichkeit und Realität an sich bzw. Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit irrelevant, weil Wirklichkeit immer als sozial und medial konstruiert verstanden wird, also ein Implikat der Erfahrung und von Diskursen ist. Durch diese Entkopplung von den Begriffen Wahrheit und Realität an sich kommt es zu einer Pluralisierung von Wirklichkeitsmodellen, die jeweils nur kontextspezifische Bedeutungen, Sinntypen sowie Ordnungsschemata haben und auch nur kontextuelle sowie kontingente Legitimationen und Verbindlichkeiten besitzen. Wirklichkeitskonstruktionen und Wirklichkeitsverstehen zeichnen sich daher wesentlich durch Interpretativität und Perspektivität aus. Wirklichkeitsordnungen haben somit keine a-historische Gültigkeit, sondern können jederzeit in ihrem Anspruch auf Legitimität problematisiert, kritisiert und verändert werden. Darüber hinaus sind es stets die sozialen, individuellen und medialen Wirklichkeiten, über die, mit denen und in denen wir über sie und damit über uns sprechen, d.h. wir befinden uns (in der Gesellschaft und bei den Medien) kontinuierlich im Wirklichen und haben immer ein handlungsleitendes Wissen über diese Wirklichkeiten, das allerdings nicht veränderungsresistent ist. Ein Jenseits der Wirklichkeit bzw. von Wirklichkeitskonstruktionen kann eine gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion hierbei nicht erkennen, höchstens verschiedene Akzentsetzungen, d.h. eine kontingente und zeitbedingte Dominanz entweder der sozialen oder der medialen Konstruktion von Wirklichkeit.76 In diesen Akzentsetzungen können, zumindest idealtypisch, Unterschiede zwischen sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit erkannt werden. Um der Rede von der sozialen und medialen Konstruktion von Wirklichkeit einen kontextspezifischen und keinen generalisierenden Sinn zu geben, bedarf es, wie in dieser Studie durch die Fokussierung auf den Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion, jeweils einer konkret theoriespezifischen Definition und entsprechender Fallanalysen, die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen, sondern sich als voraussetzungsreiche Hinsichten verstehen, die als Erklärungs- und Diskursangebote fungieren. Im folgenden Kapitel werden, auf der Basis der allgemeintheoretischen Definitionen, die in diesem Kapitel erarbeitet wurden, die spezifischen Erklärungsversuche der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, aus der Perspektive der in dieser Studie 75 Die Bedeutungsvarianten der Begriffe Wirklichkeit und wirklich, die im Kap. 1.2. durch Rekurs auf die Überlegungen von Welsch (2000) aufgeführt wurden, werden an dieser Stelle nicht nochmals zusammengefasst. 76 Dies gilt auch für alle Positionen, die von Wirklichkeitsüberschreitungen, etwa in Form der Rede von der virtuellen Realität oder der Hyperrealität, oder vom Verschwinden der Wirklichkeit sprechen. Wirklichkeitskonstruktionen verweisen allerdings immer auf vorausgehende Wirklichkeitskonstruktionen und können zukünftige Wirklichkeitskonstruktionen anregen.

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entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie, präsentiert und an den drei Gegenstandsbereichen Öffentlichkeit, Unterhaltung und Manipulation veranschaulicht. Unter medialer Konstruktion von Wirklichkeit wurden in diesem Kapitel zunächst allgemein jene Faktoren verstanden, mit denen Medien Wirklichkeit selektieren, inszenieren und kommunizieren.77 Medien vermitteln daher keine Repräsentationen sozialer Wirklichkeiten bzw. Wirklichkeitskonstruktionen, wenngleich sie auch keine völlig eigensinnigen Wirklichkeitskonstruktionen darstellen. Der Rahmen und die Grenzen medialer und sozialer Wirklichkeitskonstruktionen werden durch die Interdependenz zwischen Medien und Gesellschaft bestimmt. Als soziale Konstruktion von Wirklichkeit wurden, durch einen Rekurs auf die Überlegungen von Berger und Luckmann, alle Faktoren, die Gesellschaft als subjektive und objektive Wirklichkeit auszeichnen bzw. durch die Gesellschaft konstituiert wird, bezeichnet. Das Ausblenden der Medien im Kontext der Diskussion der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, schränkt, wie dies am Beispiel von Berger und Luckmann deutlich wurde, die Erklärung der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit ein. Die Frage nach dem Subjekt und Objekt der Konstruktion sozialer und medialer Wirklichkeit kann, in Anlehnung an Berger und Luckmann, durch den Hinweis auf einen grundlegenden dialektischen Prozess beschrieben werden: Der Mensch ist Produkt und Produzent von Gesellschaft und Medien. Im Rahmen der Diskussion der medialen und der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit wurde schließlich die zentrale Bedeutung der Sprache hervorgehoben: Wirklichkeitskonstruktionen und Wirklichkeitsverstehen sind sprachbasiert, die Grenzen der Wirklichkeit des Sozialen und Medialen v.a. als Sprachgrenzen, die zugleich Grenzen des Verstehens und der Verständigung sind, bezeichnet und der Mensch als Produkt und Produzent der Sprache beschrieben. In der Sprache ist, wie durch den Rekurs auf Humboldt betont wurde, die Wirklichkeit allerdings nur potentiell enthalten, denn sie muss in ihren kontingenten Sinn- und Bedeutungsschichten allererst durch ihren Gebrauch aktualisiert bzw. gestaltet werden.

77 Vgl. zur Auflistung konkreter Konstruktionsmechanismen u.a. Kap. 2.4., d.h. Bourdieus Darstellung des Medienkonstruktivismus des Fernsehens, oder Kap. 4.1. hinsichtlich der Prinzipien der medialen Krisen- und Katastrophenkommunikation am Beispiel des Irak-Krieges.

2. D A S E R K E N N T N I S I N T E R E S S E E I N E R GESELLSCHAFTSKRITISCHEN M E D I E N T H E O R I E A N D E R ME D I A L E N KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

In diesem Kapitel werden, ausgehend von einer studienspezifischen Bestimmung des Medien-Begriffs (Kap. 2.1), die drei, für eine gesellschaftskritische Medientheorie konstitutiven Themen, hinsichtlich der Untersuchung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit behandelt: Öffentlichkeit (Kap. 2.2), Unterhaltung (Kap. 2.3) und Manipulation (Kap. 2.4). Hierbei werden, entgegen der allgemeintheoretischen Diskussion im Kap. 1., einerseits Positionen aus der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien dargestellt und andererseits die Weiterentwicklung dieser Ansätze, die durch das spezifische Erkenntnisinteresse der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie bestimmt wird, hervorgehoben (vgl. Kap. 2.2.2 und Kap. 2.3). Die Beschreibung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit bleibt in diesem Kapitel auf die zuvor genannten Themen beschränkt. Der Grund hierfür besteht darin, dass die drei Themenschwerpunkte in diesem Kapitel einerseits als Leitthemen der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien bezeichnet werden können. Entsprechend gibt es in dieser Tradition auch keine genuinen Forschungsbeiträge und Erkenntnisgewinne zu anderen übergreifenden Themen. Andererseits will die vorliegende Studie zunächst nur Bausteine bzw. Grundlagen einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie präsentieren, von der ausgehend weitere Themen grundsätzlich untersucht sowie spezifische Fallanalysen vorgenommen werden können. Die Weiterentwicklung der traditionellen Ansätze gesellschaftskritischer Medientheorien besteht in dieser Studie darin, dass eine eigenständige Methode entwickelt und der Medien-Begriff zumindest heuristisch definiert sowie das Thema Unterhaltung diesseits anachronistischer Kulturkritik analysiert wird. Weiterhin in der systematischen Ausarbeitung der Themen Medienkritik (vgl. Kap. 3.), Medienkompetenz (vgl. Kap.

MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

113

4.1) und Medienpraxis (4.2). Nicht zuletzt wird in der vorliegenden Studie erstmals die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien in ihrem systematischen Zusammenhang herausgearbeitet und damit allererst als eigenständige Tradition erkennbar.

2.1

MEDIEN UND MEDIEN-WERDEN. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN

Medien sind in aller Munde. Man spricht von Massenmedien, Medialisierung, Medienaufsicht/-regulierung, Medienästhetik, Media Design, Medienethik, Medienevents, Medienfreiheit, Mediengeschichte, Medieninformatik, Medienjournalismus, Medienkompetenz, Medienkontrolle, Medienkritik, Medienkultur, Medienspektakeln, Medienökonomie, Medienpädagogik, Medienpolitik, Medienpsychologie, Medienrecht, Mediensprache, Medienstars, Mediensystem, Medientechnik, Medientheorie, Medienumbrüchen, Medienwirklichkeit, Medienwirkungen, Medienwissenschaft und vielem mehr. Zudem wird über Medien in Medien mit Medien durch Medien und über Medien in Medien gesprochen. Mit Blick auf die medientheoretischen Konzepte von Parsons, Luhmann und Habermas, weist Künzler (1989: 1) auf die vieldeutigen und heterogenen Möglichkeiten hin, den Medienbegriff zu verwenden bzw. auf Verallgemeinerungen von Eigenschaften konkreter Medien. Medien sind für diese Autoren: »Sprachen, symbolische Bedeutung, Definition der Situation, Affekt, Intelligenz, ›Performance capacity‹, Wertverbindung, Einfluss, Macht, Geld, Recht, Wahrheit, Liebe, Freude, Kunst, Glaube, Reputation, transzendentale Ordnungsbildung, Gesundheit, empirische Ordnungsbildung […].« Je nachdem, ob man von Medien (ohne Artikel), den Medien (als universalem Phänomen), oder einem (bestimmten) Medium spricht, jedes Mal wird dem Ausdruck eine andere Bedeutungsdimension zugeschrieben. Dieser inflationäre Gebrauch des Begriffs Medien bzw. die Vielfalt von Sachverhalten und Hinsichten, die unter dem Medienbegriff verhandelt werden, deuten auf seine bedeutungsgeladene Diffusität hin sowie auf das begriffliche Chaos, das dieser Begriff auslöst. Ein allgemeiner und tragfähiger Medienbegriff steht bis heute nicht zur Verfügung. Die Gründe hierfür sind einerseits die Mehrdimensionalität sowie Komplexität der Gegenstandsbereiche, die als medial bezeichnet werden, und andererseits die verschiedenen Hinsichtnahmen auf den Begriff, die es im Alltag, der Medienpraxis und in den Wissenschaften gibt. So bestimmen bei bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Medien zumeist bereits etablierte theoretische und/oder semantische Referenzsysteme, die Definitionsversuche, Medienbegriffsbestimmungen und Medientheorien besitzen somit wesentlich eine subsidiäre Funktion im

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KAPITEL 2

Rahmen vorgegebener theoretischer Intentionen. Dies führt zu der Konsequenz, dass auf die spezifische Medialität bzw. Technizität der Medien einerseits kaum eingegangen wird oder andererseits gerade diese Aspekte ins Zentrum der Definitionsversuche gestellt werden, um die Auseinandersetzung mit den Medien auf der Grundlage einer grundbegrifflich eigenständigen Theorie der Medien zu führen (vgl. Kap. 3.4.). Die Ansätze gesellschaftskritischer Medientheorien, die in dieser Studie diskutiert werden, haben alle keine konkrete Medien-Begriffsarbeit geleistet. Die Bestimmung des Medienbegriffs hängt hier von gesellschaftstheoretischen/-kritischen sowie kulturtheoretischen/-kritischen Voraussetzungen ab. Allerdings haben zahlreiche Autoren implizit (z.B. Marx oder Schäffle, vgl. Kap. 2.2.1.) oder explizit (u.a. Brecht oder Enzensberger, vgl. Kap. 2.4.) darauf hingewiesen, dass Medienanalysen die spezifischen Medialitäten bzw. Technizitäten der jeweils untersuchten Medien berücksichtigen müssen – nur resultierte aus diesen Forderungen keine eigensinnige Begriffsarbeit. Auch der Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie ist mit dem Problem konfrontiert, dass er über keinen originären Medien-Begriff verfügt und auch nicht das Instrumentarium besitzt, einen solchen selbständig auszuarbeiten. Zudem wird in dieser Studie konsequent nur über Massenmedien, konkret über Zeitung, Fernsehen und Internet gesprochen. Daher steht auch nicht die Auseinandersetzung mit deren spezifischer Medialität bzw. Technizität im Vordergrund. Vielmehr fokussiert sich das Erkenntnisinteresse dieser Studie an den Massenmedien Zeitung, Fernsehen und Internet u.a. auf ihre Funktionen und Bedeutungen als Vermittlungsagenturen von Inhalten, Sinn- und Identitätsangeboten, auf ihre wirklichkeitskonstruktiven Leistungen und auf ihre Potentiale als Medien der Kritik (von Medien und Gesellschaft) zu fungieren. Im Folgenden soll aber zumindest eine heuristische Bestimmung des MedienBegriffs präsentiert werden, der die Überlegungen dieser Studie leitet.1 Das lateinische Wort medium2 bedeutet Mitte, in der Mitte Befindliches und erhält ab etwa dem 17. Jahrhundert die neulateinische Bedeutung Mittel bzw. vermittelndes Element. Eine pointierte Definition der Begriffe Medium und Medien liefert Hickethier (2003: 18-36). Es sind, so Hickethier (ebd.: 25), drei zentrale Aspekte, durch die sich Medien definieren: »a) ihre spezifischen medialen (ästhetischen) Eigenschaften, die im Begriff der ›Medialität‹ zusammengefasst werden, b) ihre Technik 1

2

In dieser Studie wird keine verbindliche, also alle diskutierten Ansätze a priori bindende Definition von Medien vorgegeben. Vielmehr soll durch diese heuristische Definition eine Grundlage erarbeitet werden, von der ausgehend über eine vertiefte Begriffsarbeit in arbeitsteiliger Kooperation mit anderen Disziplinen, etwa einer wohldefinierten Medienwissenschaft (vgl. Kap. 3.4.), nachgedacht werden kann. Die Geschichte des Medien-Begriffs bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird von Hoffmann (2002) detailliert nachgezeichnet (vgl. hierzu u.a. auch Vogel 2001; Rieger 2001; Tholen 2002; Winkler 2004).

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und c) ihr Gebrauch und ihre Institutionalisierung innerhalb der Gesellschaft.« Eine technischere Definition von Medien bietet u.a. Hiebel (1998: 12): »Unter Medien werden [...] materiell-mechanische oder energetische (elektrische, elektromagnetische, elektronische, opto-elektronische) Träger und Übermittler von Daten bzw. Informationseinheiten und mechanische sowie elektronische Mittel der Datenverarbeitung verstanden«. Hierbei lassen sich generell sechs medienlogische Grundphänomene bzw. Medienfunktionen unterscheiden: »1. Aufnahme, 2. Speicherung, 3. Übertragung, 4. Vervielfachung und Reproduktion, 5. Wiedergabe und 6. Ver- bzw. Bearbeitung« (ebd.: 17). Medien bzw. ein Medium werden in dieser Definition wesentlich als der Ort bezeichnet, an dem Daten in kodierter Form kanalisiert, übertragen, ver- bzw. bearbeitet und gespeichert werden. Sie sind zunächst indifferent gegenüber dem semantischen oder qualitativen Inhalt seiner Botschaft. So präzise diese Definition von Hiebel im technischen Sinne auch sein mag, so wenig ist sie in der Lage, die soziale Wirklichkeit der Massenmedien für die Nutzer und Rezipienten zu beschreiben. Erst durch den Bezug zum Mediennutzer und seiner Medien-Vereinnahmung, also der Aneignung von Medien und deren Sendungen, erlangt die Auseinandersetzung einer gesellschaftskritischen Medientheorie mit Medien einen konkreten sozialen Sinn und eine konkrete soziale Bedeutung.3 Leitend für dieses Vorgehen ist die These, wie Engell und Vogl (1999: 10) mit Blick auf die Medien betonen (vgl. auch Vogl 2001)4, dass es keine Medien an sich gibt, sondern nur Medien-Werden: »Vielleicht könnte ein erstes medientheoretisches Axiom daher lauten, dass es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch stabilen Sinn. Medien sind nicht auf Repräsentationsformen wie Theater und Film, nicht auf Techniken wie Buchdruck oder Fernmeldewesen, nicht auf Symboliken wie Schrift, Bild oder Zahl reduzierbar und doch in all dem virulent. Weder materielle Träger noch Symbolsysteme oder Techniken der Distribution reichen hin, für sich allein den Begriff Medium zu absorbieren. [...] [I]n den Medien [muss man] nicht bloß Verfahren zur Speicherung und Verarbeitung von Information, zur räumlichen und zeitlichen Übertragung von Daten erkennen; sie gewin3

4

Zu diesem Ergebnis kommt, aus anderer Perspektive und mit anderen Konsequenzen, auch Kerlen (2003: 9): »›Medium‹ bezeichnet lateinisch ›die Mitte‹, also etwas, was ›in medio‹, das heißt mitten zwischen zwei sich aufeinander beziehenden Gegenständen existiert. Es ist offenkundig von diesen beiden Größen abhängig und von ihnen her erst zu definieren, hat also zunächst keinen Eigenwert. Erst als gestalteter Inhaltsträger zwischen Produzent und Nutzer gewinnt ein Medium Identität.« Das Konzept des Medien-Werdens, wie es Engell und Vogl (1999) sowie Vogl (2001) vorstellen, wird an dieser Stelle vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie eigensinnig verwendet und stellt entsprechend keine akkurate Anwendung dieses Konzeptes aus der Perspektive der Autoren dar.

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KAPITEL 2

nen ihren Status als wissenschaftliches, d.h. systematisierbares Objekt gerade dadurch, dass sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind.«5 Diese These übersieht aber den für gesellschaftskritische Medientheorien zentralen Aspekt, nämlich dass Medien-Werden konstitutiv Resultat sozialen Handelns, Medientechnik das Ergebnis von Diskursen ist. Nur wenn man diesen Primat von Diskurs und Handlung, ohne dabei allerdings die Medialität von Medien sowie die Eigenlogik ihrer spezifischen Kommunikations- und Wahrnehmungspotenzen außer Acht lässt, ist eine gesellschaftskritische Medientheorie in der Lage, diese Definition von Medien produktiv zu nutzen. Auch wenn das für eine gesellschaftskritische Medientheorie primäre Medium, die Sprache, uns immer vorausgesetzt erscheint, wir Sprache als fertiges Produkt, das wir in unserer Sozialisation internalisieren müssen und dessen Eigenlogik wir niemals umkehren können, erfahren, ist Sprache selbst letztlich dennoch Resultat von Diskurs und Handlung und diese nicht primär Medieneffekt. Wie sehr uns aber Sprache in dem bestimmt, wie wir Welt, Gesellschaft und Selbst verstehen und gestalten sowie mit unseren Mitmenschen kommunizieren, Sprache also das soziale Band schlechthin ist, verweist darauf, dass wir erst durch eine genuine Verbindung der sozial- und medienwissenschaftlichen Perspektive zu einem Medien-Begriff gelangen, der als Grundlage einer gesellschaftskritischen Medientheorie dienen könnte. Die Definition der Begriffe Medium und Medien ergibt sich daher an der Schnittstelle von Medium bzw. Medien und Menschen: »Die Bedeutung eines Mediums ist sein Gebrauch in der Gesellschaft. Im Schnittpunkt dieses Mediengebrauchs treffen sich politische, ökonomische, soziale, kulturelle und psychologische Momente, die kaum Aussicht auf ei5

Die Implikationen für die Mediengeschichtsschreibung skizziert Vogl (2001: 122) wie folgt: »Es handelt sich also bei der Geschichte der Medien um eine Geschichte von Medien-Ereignissen im Doppelsinn, von Ereignissen, die über die Produktion, die Darstellung und die Formierung von Ereignissen entscheiden. […] In dieser Hinsicht hat es eine Mediengeschichte nicht einfach mit Geräten oder kulturellen Praktiken zu tun, sondern ganz allgemein mit jenen Ereignissen, die sich durch Medien kommunizieren, indem diese sich selbst auf spezifische Weise mitkommunizieren. Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit einer Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an all diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch – oder auch apriorisch – zu werden. Vielleicht könnte man darum behaupten, dass hierin eine allgemeine Bestimmung für die (historische) Betrachtung von Medien liegt, die sich selbst einer allgemeinen Definition und Bestimmung von Medien über die Geschichte hinweg widersetzt. Denn gerade jenes doppelsinnige Medien-Werden von Apparaturen, symbolischen Ordnungen oder Institutionen, jenes Werden also, das aus Buchstabenfolgen ein Medium Schrift, aus beweglichen Lettern ein Medium Buchdruck oder aus geschliffenen Linsen ein optisches Medium macht, ist nicht von vornherein präjudizierbar und wird sich von Fall zu Fall und auf je unterschiedliche Weise aus einem Gefüge aus diversen Bedingungen, Faktoren und Elementen vollziehen.«

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ne geschlossene Medientheorie bieten, sondern zu hybriden Theoriekonstrukten verleiten, die mehr oder minder plausible Aussagen zu unserer medialen Welterschließung treffen. Mediendiagnosen, die eine reine Form des Mediums voraussetzen, ziehen sich dagegen den Vorwurf zu, den Medienbegriff nicht anschlussfähig zu entfalten«, wie Palm (2004: 49) hervorhebt. Die Definition eines Mediums oder von Medien an sich, ohne dabei die jeweils konkrete Verwendung zu berücksichtigen, kann nicht gelingen bzw. produziert eine vielleicht formallogisch oder technisch eindeutige, aber sozial irrelevante Phänomenerklärung. Insofern bleibt auch eine Mediengeschichte, die sich nur als Technikgeschichte versteht, blind gegenüber der Wirklichkeit der Medien in der Gesellschaft und durch sowie für den Menschen.6 Eine Auseinandersetzung mit Medien müsste prinzipiell aber auch eine differenzierende Diskussion des Verhältnisses von Medien, Information und Kommunikation leisten. Aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion kann dieses Verhältnis so beschrieben werden: Medien und Kommunikation müssen als spannungsreiches Interdependenzgeflecht verstanden werden, die jeweils erst durch ihre konstitutive Wechselseitigkeit eine originäre Form erhalten. Kommunikation ist stets medienvermittelt – zunächst und zumeist durch Sprache (Wort), Schrift (Text), nicht-verbale Kommunikationsmedien (Mimik, Gestik, Gebärdensprache usw.) und Bilder bzw. bildliche Darstellungen (Fernsehen, Film, Malerei, Graffiti etc.). Medien sind die Formen bzw. der Rahmen, in denen und durch die sich Kommunikationen, als ihre Inhalte, verbreiten, äußern, darstellen. Im Wechselspiel zwischen Medien und Kommunikation, die jeweils konstitutiv an den Menschen rückgebunden sind, entstehen Sinn und Bedeutung sowie gesellschaftliche, kulturelle, mediale und individuelle Wirklichkeit(en). Die Art und Weise, in der mit, durch und über Medien gesprochen sowie geschrieben wird, kann als Kommunikation beschrieben werden. Die Inhalte der Medien sind hingegen Informationen, gleich welcher Art, ob als Unterhaltung, Wissen, Irritation usw.

6

Diese Überlegungen machen deutlich, dass der in dieser Studie verwendete Medien-Begriff eine sozialanthropologische Grundlage hat. Dies gilt auch für alle Ansätze der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien, die in dieser Studie thematisiert werden.

118

2.2

KAPITEL 2

MEDIEN

UND

ÖFFENTLICHKEIT

»Die eigentliche Karriere der Massenmedien fällt zusammen mit dem Beginn der Moderne im Zeitalter der Aufklärung. ›Öffentlichkeit‹, eine der zentralen Parolen der Aufklärung, ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung von Vermittlungstechniken, mit deren Hilfe Ideen und Informationen schnell und allgemein verbreitet und zur Diskussion gestellt werden können. […] Zugleich erweisen sich Zeitungen und Zeitschriften damit als Kinder einer historischen Umbruchsituation, die Überliefertes in Frage stellt und Neues zu entdecken beginnt; die zwangsläufigen Folgen sind einerseits Untergangsängste, andererseits Fortschrittshoffnungen. Eingespannt in diese Dichotomisierung der Erwartungen polarisiert sich auch die Medienkritik, die Beurteilung von Wesen und Wirkung, zunächst der Presse, in eine pessimistisch-negative und in eine optimistisch-positive Variante« (Roß 1997: 30f.).

In dieser Bemerkung von Roß wird deutlich, warum sich gesellschaftskritische Medientheorien intensiv mit der medialen Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung beschäftigen. Als Vermittlungsagenturen und Medien der Aufklärung können Zeitungen, zumindest idealtypisch, als Medien der Kritik bzw. Kontrollinstanzen gesellschaftlicher Wirklichkeit bezeichnet werden – gesellschaftskritische Medientheorien sind also durchaus als ein Projekt der Aufklärung zu verstehen. (Mediale) Öffentlichkeit und öffentliche Kritik (durch Medien) sind aus dieser Perspektive untrennbar miteinander verbunden. Der Mediengebrauch, also Zeitungsproduktion und -lektüre, wird als grundsätzlich kritisch postuliert und als dessen Resultat eine emanzipatorische Konstitution von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung, sozialer Wirklichkeit und personaler Identität erwartet. Durch die intensive Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Gesellschaft auf sich einwirken, d.h. sich im Medium von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung selbst beobachten, kritisieren und gestalten kann. Medienwirklichkeiten (in Form von Printmedien) tragen hierzu entscheidend bei. Im Kap. 2.2.1 wird eine idealtypische Rekonstruktion der Öffentlichkeitsdiskurse gesellschaftskritischer Medientheorien präsentiert, um die verstreuten Ansätze erstmals zusammenhängend und systematisch zu diskutieren. Ausgehend von dieser diskursiven Basis werden im Kap. 2.2.2 die für die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien zentralen Aspekte der medialen Konstitution von Öffentlichkeit, nämlich Information und Kritik, am Beispiel der taz-Medienseite flimmern und rauschen fallespezifisch diskutiert. Die Auseinandersetzung mit der taz wird vor dem Hintergrund des Anspruchs und der Wirklichkeit des Medienjournalismus in Deutschland geführt. Die Wahl der taz als Feld einer fallspezifischen Diskussion ist nicht willkürlich, sondern gründet darin, dass sie, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie, dem Idealbild einer Zeitung, nicht nur auf Grund ihrer Konzernunabhän-

MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

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gigkeit, sehr nahe kommt, wie u.a. das in diesem Kapitel vorgestellte Selbstverständnis der taz zeigt.

2.2.1

Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Eine idealtypische Rekonstruktion der Öffentlichkeitsdiskurse7 gesellschaftskritischer Medientheorien

»Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag« lautet der Titel einer Textsammlung von Klassikern der Sozialwissenschaften zu Journalismus und Medien, die Pöttker (2001) zusammengestellt hat. Diese Klassiker, wie etwa Karl Marx, Emile Durkheim, Max Weber, Ferdinand Tönnies oder Robert Ezra Park, teilen die Überzeugung, dass dem Journalismus eine zentrale Funktion in modernen Gesellschaften zukommen muss, d.h. zur Herstellung von Öffentlichkeit durch Publikationen beizutragen, die die autonomen Meinungs- und Willensbildungsprozesse einer demokratisch politischen Gemeinschaft befördern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Presse Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bewahren. Dieser Anspruch kann nur eingelöst werden, wenn sie sich um objektive Berichterstattung und die Orientierung am Gemeinwohl bemüht und sich nicht primär vom Zeitgeist beziehungsweise der Marktfähigkeit von Themen leiten lässt. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit garantieren neutrale Informationen, nur neutrale Informationen, d.h. die Darstellung von faktischen Ereignissen und Sachverhalten, ermöglichen eine solide (gesellschaftliche, kulturelle, politische, individuelle usw.) Meinungsbildung. Information ist in diesem Verständnis die Grundbedingung demokratischer Partizipation. Die Aufgabe des Journalismus erschöpft sich aber nicht in dieser Informationsversorgung und Herstellung von Öffentlichkeit, sondern er muss gleichzeitig auch als Kritik- und Kontrollinstanz gesellschaftlicher Wirklichkeit fungieren. Pressefreiheit und Demokratie

Marx hat 1842 eine Definition der Presse vorgeschlagen, die diese Forderungen pointiert zusammenfasst und für die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien (vgl. Kap. 3.2) bis heute wegweisend ist: »Die freie Presse ist das überall offene Auge des Volksgeistes, das verkörperte Vertrauen eines Volkes zu sich selbst, das sprechende Band, das den Einzelnen mit dem Staat und der Welt verknüpft« (Marx/Engels 1969: 80). Marx weist der Presse eine zentrale Funktion hinsichtlich der Selbstund Fremdverständigung eines jeden Einzelnen und des gesellschaftli7

In diesem Kapitel können nicht alle Öffentlichkeitsdiskurse, die für die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien repräsentativ sind, diskutiert werden. Weitere einschlägige Texte sind: Geiger (1949); Löbl (1903); Mannheim (1933); Münzner (1927); Park (1904; 1955b/c).

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chen Kollektivs zu, ebenso wie für ihn die Presse als Produktivkraft eine entscheidende Rolle bei der autonomen Konstitution von Selbst, Kultur und Gesellschaft spielt. Die freie Presse trägt aus dieser Perspektive zur Bewusstwerdung des Volksgeistes bei. Aus diesem Grund ist die Verteidigung der freien Presse gegen Zensur und bürokratische bzw. staatliche Einschränkungen das zentrale Anliegen der Marxschen Auseinandersetzung mit der sozialen Funktion des Journalismus. Nicht zuletzt auch deshalb, weil für Marx die Regierung nicht als Volksvertreter verstanden werden kann. Autonome Meinungs-, Willens- und Bewusstseinsbildungsprozesse erwartet Marx wesentlich von der freien Konkurrenz der gesellschaftlich und medial entwickelten Diskurse sowie der Möglichkeit, dass diese auch jederzeit gesellschaftlich uneingeschränkt möglich sind. Marx hebt hiermit bereits in der Mitte des 19 Jahrhunderts deutlich hervor, dass es ohne Pressefreiheit, als einem grundlegenden Menschenrecht und einer gesellschaftlichen Notwendigkeit, keine Demokratie geben kann und sie, neben den anderen gesellschaftlichen Kommunikationsfreiheiten, wie z.B. der Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Informationsfreiheit, Kommunikationsfreiheit oder Veröffentlichungs- und Herausgeberfreiheit, die verfassungsrechtlich geschützte Grundvoraussetzung zur Konstitution freiheitlicher, demokratisch verfasster politischer Systeme sein muss. An dieser Einschätzung hat sich auch gegenwärtig nichts geändert: »Die Funktionalität der Kommunikationsfreiheit für die Entwicklung einer Gesellschaft ist unübersehbar und ihre Verweigerung die Ursache vieler pathologischer Zustände« (Langenbucher 2003b: 10). Die Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung ist aus der Sicht von Marx nicht nur medial, also durch die Presse bedingt, sondern muss als spannungsreiches Interdependenzgeflecht zwischen Gesellschaft und Journalismus aufgefasst werden: »Die ›freie Presse‹, wie sie das Produkt der öffentlichen Meinung ist, so produciert sie auch die öffentliche Meinung […]« (Marx in Pöttker 2001: 76).8 In einem späteren Text aus dem Jahre 1849 hebt Marx weiterhin die zentrale Kontroll- und Kritikfunktion der Presse hervor: »Sie [die Presse – MSK] ist ihrem Berufe nach der öffentliche Wächter, der unermüdliche Denunziant der Machthaber, das allgegenwärtige Auge, der allgegenwärtige Mund des eifersüchtig seine Freiheit bewachenden Volksgeistes. […] Die erste Pflicht der Presse ist nun, alle Grundlagen des bestehenden politischen Zustandes zu unterwühlen [Hervorhebung im Original – MSK]« (Marx/Engels 1969: 172, 175).9 Die Bedingung der Möglichkeit, 8

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Diese Marx-Passage ist in Marx/Engels (1969) nicht enthalten. An dieser Stelle wird daher auf die dokumentierten Text-Ausschnitte von Marx in Pöttker (2001) zurückgegriffen. Die im obigen Zitat formulierte These von Marx wird auch heute noch als eine der sozialen Hauptfunktionen der freien Presse angesehen: »Das Grundrecht der Informations- und Meinungsfreiheit [...] gehört gerade heute, da von Informa-

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diese Aufgabe erfüllen zu können, besteht in der freiheitlich-demokratischen Gestaltung der Gesellschaft. Gesellschaftliche Freiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht und darf, so Marx, nicht auf einzelne Gesellschaftsbereiche, Institutionen, Organisationen oder Personenkreise beschränkt sein.10 Vor diesem Hintergrund entwickelt Marx seine Auseinandersetzung mit der Zensur, d.h. den Versuchen der Einschränkung dieser konstitutiven Aufgabe einer freien Presse. Zensur würde sich zunächst und zumeist nicht auf Handlungen und Vergehen konzentrieren, sondern Meinungen und Gesinnungen sanktionieren, wodurch sie »nichts als positive Schranken der Gesetzlosigkeit« ist bzw. »die Willkühr verhüten« (ebd.: 80) will und diese dabei zum Gesetz macht. Ein weiterer Widerspruch besteht, so Marx, darin, dass bei Zensurakten die Fehlbarkeit des Journalisten vorausgesetzt, die des Zensors aber potentiell ausgeschlossen wird. Zudem wird dem Zensor die Macht zugeschrieben, die öffentliche Meinung, deren Vermittler die Journalisten u.a. sind, bewerten und allein über sie entscheiden zu können. Insofern würde ein Zensurgesetz auch die Unmündigkeit des Volkes, also der Rezipienten von Presseprodukten, implizieren. Es stellt sich hier für Marx die Frage, ob die Pressefreiheit, als grundlegendes Freiheitsrecht, das Privileg einzelner Personen sein soll oder des Volkes insgesamt – das Marx letzteres meint, ist evident. Marx schließt aber nicht aus, dass Journalisten sich irren können oder andere Ziele als die Annäherung an die Wahrheit oder die Aufklärung des Volksgeistes anstreben. Weiterhin unterscheidet Marx zwischen der Notwendigkeit von Pressegesetzen, die etwa die Pressefreiheit als Verfassungsrecht verankern können, und Zensurgesetzen, die lediglich monopolitisch-repressive Machtausübungen darstellen. Letztlich würde ein Zensurgesetz präventiv wirken, d.h. dem Gebrauch der Freiheit vorbeugen und Handlungen sanktionieren, bevor sie begangen worden wären. Dies würde zu einer hegemonialen Standardisierung und Instrumentalisierung des Journalismus führen. tionsgesellschaft, globalen Netzwerken und transkontinentaler Telekommunikation die Rede ist, zu den am stärksten gefährdeten Menschenrechten. Der Grund ist darin zu sehen, dass die Informationsfreiheit eines der wirksamsten Mittel ist, um Machtwillkür zu entlarven, Ideologien aufzuweichen und totalitären Systemen ihre Legitimation zu entziehen« (Haller 2003d: 7f.). 10 »Jede Gestalt der Freiheit bedingt die andere, wie ein Glied des Körpers das andere. So oft eine bestimmte Freiheit in Frage gestellt ist, ist die Freiheit in Frage gestellt. So oft eine Gestalt der Freiheit verworfen ist, ist die Freiheit verworfen und kann überhaupt nur mehr ein Scheinleben führen, indem es nachher reiner Zufall ist, an welchem Gegenstand die Unfreiheit als die herrschende Macht sich bethätigt. Die Unfreiheit ist die Regel und die Freiheit eine Ausnahme des Zufalls und der Willkühr. Nichts ist daher verkehrter als wenn es sich um ein besonderes Dasein der Freiheit handelt, zu meinen, dieses sei eine besondere Frage. Es ist die allgemeine Frage innerhalb einer besonderen Sphäre. Freiheit bleibt Freiheit, drücke sie sich nun in der Druckerschwärze, oder in Grund und Boden, oder im Gewissen, oder in einer politischen Versammlung aus [...] [Hervorhebung im Original – MSK]« (Marx/Engels 1969: 98f.).

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Die Grundvoraussetzung, um das Marxsche Konzept einer freien Presse zu verwirklichen ist, dass »die erste Freiheit der Presse darin besteh[t], kein Gewerbe zu sein [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 92). Problematisch ist hierbei, dass Marx die wirtschaftliche Bedingtheit bzw. Abhängigkeit der Presse, die etwa im Verhältnis von Journalist und Buchdrucker, d.h. dem Zeitungsinhaber, zum Ausdruck kommt, nicht eingehend diskutiert, auch wenn dies, wie Fetscher (1969: 6) betont, »erst dort eine ausschlaggebende Rolle [spielt], wo die freie Presse formell schon frei ist [Hervorhebung im Original – MSK].« Der zentrale Angriffspunkt für Marx sind hingegen die staatlichen Bevormundungen und Beschränkungen der Entfaltung einer freien Presse. Im Unterschied zu Marx haben sich Brinkmann (1972)11 (programmatisch) und Bücher (1926)12 (systematisch) mit zeitungswirtschaftlichen Fragen beschäftigt. Brinkmanns Aufsatz ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Einerseits problematisiert Brinkmann das idealtypische 11 Brinkmanns Aufsatz Presse und öffentliche Meinung ist in den sozial-, medienund kommunikationswissenschaftlichen Debatten kaum berücksichtigt worden. Prokop (1972: 372-390) hat diesen Aufsatz in den 1970er Jahren wieder entdeckt und im Band 1 der von ihm herausgegebenen dreibändigen Reihe Massenkommunikationsforschung abgedruckt. Dieser Text wurde von Prokop auch für seine dreibändige Reihe Medienforschung, die als Aktualisierung der Bände zur Massenkommunikationsforschung aus den 1970er Jahren verstanden werden kann, wieder aufgenommen. Seine Auswahl begründet Prokop (1985a: 484) wie folgt: »Der nächste Aufsatz stammt aus den Verhandlungen des Deutschen Soziologentages von 1930 und gibt uns Material über die qualitativen Auswirkungen der Pressekonzentration. Er ist wichtig, weil er über die bloße Kritik von Ideologien hinausführt und für die notwendige Erkenntnistheorie der Massenkommunikation Ansatzpunkte liefert [Hervorhebung im Original – MSK]«. Lediglich Habermas (1990: 293) bezieht sich, neben Prokop, in seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit auf Brinkmann und zwar hinsichtlich dessen These von der »journalistischen Aktivierung« von Ämtern, Parteien und Organisationen sowie seiner Unterscheidung zwischen freier Presse und amtlicher Publizistik. 12 Bücher widmete sich diesbezüglich der Untersuchung und Kritik der kapitalistischen Organisation und Struktur der (v.a. modernen) Zeitungen. Kutsch (2002: 81f.) fasst das Erkenntnisinteresse von Bücher pointiert zusammen: »Als Volkswissenschaftler beschäftigte er sich mit der Interdependenz von Kultur und Wirtschaft. Im Rahmen seiner Analysen der Ausdifferenzierungsprozesse von Wirtschaft und Gesellschaft, interessierten ihn die Leistung der Zeitung ›zur Aufrechterhaltung und Vermittlung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen‹ […] sowie überhaupt die Erforschung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Presse […]. […] Sie [die moderne Presse, im Unterschied zur Gesinnungszeitung – MSK] sei überwiegend anzeigenfinanzierte ›parteilose Geschäftspresse‹, eine ausdifferenzierte, arbeitsteilige und auf Gewinnmaximierung zielende gesellschaftliche Einrichtung, die er aus volkswirtschaftlicher Sicht in seinem berühmten Diktum charakterisierte als eine Unternehmung, ›die Anzeigenraum als Ware produziert, die nur durch einen redaktionellen Teil absetzbar wird.‹ […] In den vorrangig am Gewinn orientierten Interessen des Verlegers und im Angestelltenstatus der Redakteure, die ›in ihrer ganzen Existenz‹ vom Verleger abhängig seien, […] erkennt er größte Gefahren für die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe des Journalismus und vielfältige Einflußmöglichkeiten des Staates und der Wirtschaft bis hin zu Stimmungsmacherei, Demagogie und Korruption.«

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Verständnis von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Journalismus – insofern können seine Überlegungen als Ideologiekritik aufgefasst werden. Das Ideologiekritische hierbei ist, dass Brinkamm auf die Kluft zwischen dem idealtypischen Diskurs über die Presse, d.h. der normativen Grundlegung der Trias Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und Presse und der Wirklichkeit des Journalismus sowie auf die permanenten Konflikte, die sich aus dem Missverhältnis dieser beiden Ebenen ergeben, hinweist bzw. diese in ihrer Beschränktheit aufdeckt. Andererseits diskutiert er vor diesem Hintergrund, wenn auch nur thesenartig, die ökonomischen Bedingtheiten und Grundlagen des Pressewesens, d.h. etwa die Bedeutung von Pressekonzentration und Pressegroßbetrieben sowie ihre Auswirkungen auf das journalistische Handeln.13 Die wirtschaftliche Bedingtheit des Journalismus, d.h. das unternehmerische, gewinn- bzw. absatzorientierte strategische Denken von Pressegroßkonzernen, ist, so Brinkmann (1972: 376), ihr wesentliches Interesse und nicht etwa die Manipulation ihrer Leser, das Verfolgen politischer Ziele oder die Vermittlung von Propaganda. Ausdruck wirtschaftlichen Handelns ist für Brinkmann das hochgradig vielfältige, breit gestreute Themenspektrum der Presse.14 Diesen Aspekt bewertet Brink13 Glotz und Langenbuchers (1969) vieldiskutierte Studie Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse, die die marktwirtschaftlichen Strukturen des Journalismus nicht einfach kritisiert, sondern als unumgängliche Gegebenheit in ihre Überlegungen einbezieht, stellt eine an zahlreichen empirischen Fallanalysen demonstrierte Systematisierung sowie Weiterentwicklung der Überlegungen von Brinkmann dar, ohne dass sich die Autoren hierbei auf ihn beziehen. Brinkmann thematisierte zwar die strukturellen und inhaltlichen Veränderungen des Journalismus und v.a. der Journalisten, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. In seiner Kritik an den Journalisten und der Forderung, das Journalistenbild jeweils im Kontext einer spezifischen historisch-sozialen Situation zu überdenken bzw. neu zu entwerfen, weist er aber nicht, wie Glotz und Langenbucher, auf die zwei konkurrierenden Wirklichkeiten journalistischen Handelns, d.h. der marktwirtschaftlichen Struktur von Zeitungen und der dazu im Gegensatz stehenden idealtypischen Orientierung der Journalisten an einem aufklärerischen und elitären Journalismusverständnis bzw. Berufsverständnis hin. Durch diese Kluft kann sich, so Glotz und Langenbucher, der Journalismus nicht zeitgemäß verwirklichen. Zudem führt eine solche Kluft zur Missachtung der Leser, d.h. einem über ihre Köpfe und Interessen Hinwegschreiben, und damit zu einem falschen Publikumsverständnis, das wiederum in einem nicht adäquaten Berufsverständnis gründet. Aus diesen Überlegungen ziehen Glotz und Langenbucher erste Überlegungen, wie ein neuer Journalismus konstituiert und das Publikumsinteresse adäquat beschrieben werden kann. 14 Die Diskussion der Frage, ob eine große (wesentlich quantitative) Themenvielfalt zur Nivellierung des politisch-emanzipatorischen Auftrags des Journalismus führt oder gerade einen wichtigen Demokratisierungsschritt in der Presselandschaft darstellt, durch den allererst umfassende Meinungs- und Willensbildungsprozesse ausgelöst werden könnten, bleibt bis heute unentschieden bzw. stagniert zwischen zwei Antwortmodellen. Exemplarisch seien zwei Stimmen genannt, durch die diese starre Opposition idealtypisch veranschaulicht werden kann. Leicht (1996: 1) betonte 1996 in seinem Leitartikel zum 50. Geburtstag der ZEIT, zunächst mit Fokus auf die Entwicklung der Fernsehlandschaft, dann mit Rückbezug auf die Presse: »Die explodierende Quantität des Kunterbunt

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mann nicht als grundsätzlich negativ, weil hierdurch größere Leserkreise erreicht werden könnten und es in der Kompetenz der Leser liegen würde, sich für oder gegen Medieninhalte zu entscheiden. Die Presse ist aus der Perspektive von Brinkmann (ebd.: 378), entgegen den Überlegungen von Marx, nicht auf ein Einfangen bzw. Repräsentieren des Volksgeistes fokussiert, sondern als reiner Selektionsprozess zu verstehen: »Aus einer an sich ganz mechanisch und materialistisch aufgefassten und deshalb in sich überall ebenso gleichgültigen ›Wirklichkeit‹, werden mehr oder weniger willkürlich einzelne Faktoren durch die Presse ausgelesen, um erst in ihr ›Öffentlichkeit‹ zu gewinnen, nämlich die Bedeutung der Massenangelegenheit, die einzige Bedeutung, die man sich vorstellen kann.« Dem Journalismus kommt hierbei keine exklusive Position zu, weil, wie Brinkmann betont, auch das Rezeptionsverhalten des Publikums hochgradig selektiv ist und sich, wie die Presse auch, am »Strom der ›objektiven‹ Ereignisse und Veränderungen« (ebd.) orientiert. Zeitungen sind aus dieser Sicht wesentlich Durchgangsstationen und Plattformen für Beiträge unterschiedlichster Art, Journalisten zeichnen sich hierbei durch professionelle Kennerschaft aus und stellen sich »als ›freie Lanze‹ in den Dienst des meistbietenden Konzerns« (ebd.: 380). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Erwartungshaltungen, Brinkmann spricht diesbezüglich auch von Ideologien, mit denen wir sozialisiert sind und die aus dem diskursiven Idealtypus von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung resultieren, durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse droht die Qualität der Information zu verschütten. Der verschärfte Wettbewerb um Einschaltquoten und Wahrnehmung prämiert den gedanklich oberflächlichen, den emotional verfänglichen Reiz zu Lasten der prüfenden Nachdenklichkeit. In der Fülle des Angebots tritt die gesichtslose Beliebigkeit an die Stelle des charakteristischen Profils. […]: von der Medienvielfalt zum Meinungseinerlei. […] Auch die gedruckte Presse ist längst in der Versuchung, sich diesem Muster anzupassen: immer schriller, immer schneller, immer kürzer, immer belangloser. Und je unterhaltsamer, desto langweiliger. Soll am Ende auch Politik nur noch als Unterhaltung ihr Recht haben? Falls die seriösen Zeitungen dieser Verführung nachgeben, werden sie ihre Funktion als Leitmedium der aufgeklärten Bürgergesellschaft verlieren und zum Leitfossil einer vergangenen Epoche absinken.« In einem Interview betont Bolz (2005: 38f.) hingegen, dass die Ära des kritischen Journalisten vorbei sei und interpretiert die mediale Angebotsvielfalt als einen enormen Zuwachs an Informationschancen: »[Frage:] Ist in dieser Medienwelt, die Sie beschreiben, Platz für Journalisten mit Idealen? [Norbert Bolz:] Journalisten müssen Abschied nehmen von ihrem alten Aufklärungsideal. Ein Medienunternehmen ist in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen. Das größte Problem liegt in den Köpfen der Journalisten selbst: Sie sollten weniger an sich und mehr an ihre Kunden denken. Die entscheidende Frage ist heute: Wie fasziniere ich meine Leser, Zuhörer oder Zuschauer in Zeiten, in denen es unzählige Medienangebote gibt? […] [Frage:] Wie soll man sich aus unkritischen Medien informieren? [Norbert Bolz:] […] Die Angebotsvielfalt in den Medien und die Informationschancen von uns Mediennutzern nehmen enorm zu. Wir haben wirklich unglaublich viele Möglichkeiten, uns über die Welt zu informieren. Nur sind die einzelnen Berichte nicht mehr so voller vordergründiger Kritik und Reflexion wie noch vor 20 Jahren. Stattdessen erleben wir einen regelrechten Wettbewerb der Meinungen und Informationen.«

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und Wirklichkeiten offen diskutiert sowie kritisiert werden könnten, und dem Verständnis von Journalismus als Möglichkeit der Emanzipation des Einzelnen sowie der Gesellschaft »von der ›Zensur‹ der Autoritäten und Traditionen« (ebd.: 384) permanent enttäuscht werden müssten. Diese Einschätzung führt für Brinkmann aber nicht zur Apologie des gesellschaftlichen status quo, ebenso wenig wie zur Verabschiedung der idealistischen Einschätzung von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Presse, aber auch nicht zur Verteufelung der aktuellen Wirklichkeit der Presse. Eine Veränderung journalistischer Wirklichkeit kann es für Brinkmann (ebd.: 390) nur aus dem Eigenantrieb des journalistischen Feldes selbst geben, wenn die »hohe Aufgabe der öffentlichen Unterrichtung und Meinungsbildung« wieder von der »Autonomie und Rangordnung geistiger Wert- und Sachgebiete« bestimmt wird und sich »ihrer Führung anvertrauen lernt«, wodurch der Journalismus in den Dienst »wahrer staatlicher Integration und sozialer Gesittung« gestellt werden kann. Ein wesentlicher Aspekt, durch den die freie Presse erst zu einem wirksamen watch dog gesellschaftlicher Wirklichkeit werden kann, und hier schließen die Überlegungen von Marx wieder an Brinkmann an, ist das Selbstverständnis bzw. Ethos der Journalisten. Als Maßstab der Berichterstattung fordert Marx u.a., dass über Themen von allgemeinem Interesse und gesamtgesellschaftlicher Relevanz sachadäquat, d.h. objektiv, wahrheitsgetreu und umfassend berichtet werden muss – wobei Marx diese Aspekte aber nicht näher bestimmt.15 Der Journalismus muss sich allein auf Fakten konzentrieren und darf nicht als fiktionales Genre missverstanden werden. Als Ethos des Journalisten bezeichnet Marx die Auffassung, journalistisches Handeln als Selbstzweck zu begreifen und nicht interessenpolitisch auszurichten, um dadurch nicht die notwendige Unabhängigkeit zu verlieren, also letztlich eine journalistische Individualethik auszubilden.16 Bürgerliche Öffentlichkeit und Aufklärungspublizistik

Hinter dieser emphatischen Auffassung der Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, die sich in der Interdependenz zwischen Gesellschaft und Journalismus verwirklicht, verbirgt sich das prototypische Öffentlichkeitsverständnis der Aufklärung, wie es sich in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa, d.h. England, Frankreich und Deutschland, als Resultat gesellschaftlicher 15 Diese Aspekte hebt u.a. auch Leicht (1996: 1) als Kennzeichen des seriösen Journalismus hervor: »Die Werte, die den verantwortungsvollen Journalismus bestimmen […]: Wahrhaftigkeit, Wachsamkeit, republikanische Streitbarkeit und demokratische Toleranz.« 16 Seit Ende der 1960er Jahre wird dieses Thema durch die Konzepte innere Pressefreiheit, Selbstregulierung, Selbstorganisation, redaktionelle Unabhängigkeit usw. intensiv diskutiert.

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Strukturveränderungen und von Demokratisierungsprozessen ausgebildet hat. Als Beispiele für diese Strukturveränderungen lassen sich u.a. die Etablierung der bürgerlichen Rechtsstaaten, die damit verbundene zunehmende Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlicher Gewalt und der Sphäre des Privaten, das rechtlich gesicherte Privateigentum sowie die Universalisierung der Bürgerrechte nennen. Dieses idealtypische Verständnis von bürgerlicher Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung hat Habermas (1962) in Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit umfassend rekonstruiert. Von der normativen Ausgangsbasis der Öffentlichkeitstheorie von Habermas, die die real existierenden Erscheinungsweisen der Öffentlichkeit an den in ihr ursprünglich enthaltenen Freiheitspotenzialen, zumindest den ihr zugeschriebenen, misst, leiten sich seine Forderungen an die Bedingungen und Formen öffentlicher Kommunikation sowie der Konstruktion und Vermittlung von sozialer Wirklichkeit ab. Öffentlichkeit, als in diesem Sinn basisdemokratisch orientiertes Idealmodell, wird hierbei normativ bestimmt, indem durch sie der auf Verständnis drängende Austausch der Argumente zu allen gesellschaftlich relevanten Themen ermöglicht wird und an deren Ende eine vernunftbestimmte öffentliche Meinung steht. Die bürgerliche Öffentlichkeit bildet hiermit einen Gegenpol zum absolutistischen, feudalen Staat und seinen Gewalten (Kirche, Fürstentum, Herrenstand) und setzt sich gegen die nicht-öffentliche Politik der Monarchien durch17, »der Untertan [wird] zum Staatsbürger und das räsonierende Publikum zum Souverän, während die staatlichen Institutionen dem Öffentlichkeitsprinzip und dem bürgerlichen Recht unterworfen werden« (Imhof 2003: 194). Die leitende Idee hierbei ist, politische Herrschaft und soziale Gewalt über das Medium öffentlicher Diskussionen zu rationalisieren und die Bürger zu ermächtigen, durch einen vernunftbasierten sowie freiheitlichen Diskurs zu Subjekten der bzw. ihrer Geschichte zu werden. Weiterhin betont Habermas, das Meinungen in vernunftbasierten, rationalen Diskursen zu begründeten Urteilen werden und damit der einzelne Mensch zu einem mündigen Bürger. Im Zentrum öffentlicher Diskurse steht daher, so Habermas, Rationalität und Verständnisorientierung, Vermittlung und der hierarchiefreie Diskurs zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, nicht aber das Durchsetzen egoistischer und hegemonialer Motive. Voraussetzung hierfür ist die Annahme der konstitutiven Gleichheit aller Personen, die sich an öffentlichen Diskursen beteiligen und das Prinzip des allgemeinen Zugangsrechts als Grundrecht der Bürger sowie das Ideal einer hierarchiefreien öffentlichen Kommunikation.18 17 Die repräsentative Öffentlichkeit feudaler Gesellschaften bestand allein in der öffentlichen Repräsentation von Herrschaft, d.h. derjenigen von Kirche, Fürstentum und Herrenstand. 18 In diesem Kontext weist Habermas (1962: u.a. 275ff.) auf die Wahlverwandtschaft zwischen dem rationalen öffentlichen Diskurs und dem freien Markt hin.

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Imhof (ebd.: 193) betont zu Recht, dass in »politischer Hinsicht [...] dadurch die Meinungs- und Redefreiheit zur Bedingung der Vernunft [wird] und diese wiederum [...] das Prinzip der Publizität [adelt].« Zur Durchsetzung dieser Ideen braucht das sich emanzipierende Bürgertum einen Ort der Öffentlichkeit, in dem die ureigensten Interessen, anfangs in kunst- und literaturkritischen Publikationen, später dann zunehmend in eigenen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Journalen usw.), dargestellt und diskutiert werden können.19 Hierdurch soll die Verwirklichung einer Öffentlichkeit ermöglicht werden, in der lebensweltliche Kommunikationen vernetzt und über lebensweltlich verankerte Medien vermittelt wird. Als Gesichtszeichen nennt Habermas (1990: 14) in diesem Kontext die Französische Revolution: »Die Französische Revolution wurde [...] zum Auslöser eines Politisierungsschubes einer zunächst literarisch und kulturkritisch geprägten Öffentlichkeit. Das gilt nicht nur für Frankreich [...], sondern auch für Deutschland. Eine ›Politisierung des gesellschaftlichen Lebens‹, der Aufstieg der Meinungspresse, der Kampf gegen Zensur und für Meinungsfreiheit, kennzeichnen den Funktionswandel des expandierenden Netzes öffentlicher Kommunikation, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] Die Zensurpolitik, mit der sich die Staaten des Deutschen Bundes gegen die bis 1848 verzögerte Institutionalisierung einer politischen Öffentlichkeit wehren, zieht Literatur und Kritik nur um so gewisser in den Strudel der Politisierung.« Die Aufgabe der Publizität besteht hierbei nicht in Veränderung von Herrschaft als solcher, sondern das bürgerliche Publikum erlangt durch diese ein Kritik- und Kontrollinstrumentarium, durch das Öffentlichkeit als »Rationalisierung der politischen Herrschaft, als einer Herrschaft von Menschen über Menschen« (Habermas 1962: 141f.) dienen soll. Bürgerliche Öffentlichkeit verfügt nicht über politische Gewalt, sondern über Vernunft, Argumente, Moral und Kritik. Das Publikum und die Presse werden in diesem Kontext zu den entscheidenden Konstituenten von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung. Im Unterschied zur Sphäre der öfBeide beruhen auf denselben Prinzipien, d.h. der Annahme der Egalität aller Teilnehmer, unabhängig von Fragen der Herkunft und des Status. Diese Haltung soll ermöglichen, dass man sich ausschließlich mit den präsentierten Argumenten bzw. Waren, also den Sachen selbst, auseinander setzen kann. Die Qualitäten von Diskursen und Waren müssen sich aus dieser Perspektive praktisch in freier Konkurrenz auf den öffentlichen Diskurs- und Warenmärkten erweisen. 19 Das emanzipatorische Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit unterscheidet sich grundlegend von allen bis zum 18 Jahrhundert bekannten Öffentlichkeitsmodellen, d.h. der hellenischen, der repräsentativen und der plebejischen. In diesen verblieben die gesellschaftlichen Machteliten unter sich, ohne dass das Volk die Möglichkeit hat, auf die Konstitution sozialer Wirklichkeit nachhaltig Einfluss nehmen zu können oder für seine Rechte selbstbestimmt einzutreten. So ist z.B. die repräsentative Öffentlichkeit im Mittelalter »keine Sphäre politischer Kommunikation«, sondern symbolisiert »als Aura feudaler Autorität […] einen sozialen Status« (Habermas 1962: 18).

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fentlichen, d.h. staatlichen Gewalt und zur Privatsphäre, also z.B. die Bereiche Familie, Freunde, Arbeit oder natürliche Affekte, stellt die bürgerliche Öffentlichkeit, so Habermas, ein Forum dar, »auf dem sich die räsonierenden Privatleute zum Publikum versammeln. Hier entsteht die öffentliche Meinung, vor der sich die öffentliche Gewalt zu legitimieren hat, wenn sie verbindliche Regeln für gesellschaftliche Verhältnisse setzt: keine Eingriffe in die Privatsphäre, ohne dass dies im Räsonnement geprüft worden wäre. [...] Es entstehen spezifische Versammlungsorte (Kaffeehäuser, Salons, Clubs, Theater) und damit verbundene Medien: die Presse löst sich aus der Instrumentierung durch die Obrigkeit. Aus dem Publikum entwickeln sich institutionalisierte Formen der politischen Auseinandersetzung, vor allem das Parlament, in dem sich durch öffentliches Abwägen von Argumenten ein vernünftiger Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt« (Vowe 2002: 178). Natürlich gibt es nicht die Öffentlichkeit und die eine öffentliche Meinung, ebenso wenig wie ein Publikum, sondern nur Öffentlichkeiten, öffentliche bzw. veröffentlichte Meinungen, die als medial vermittelte Öffentlichkeiten bezeichnet werden können, und unterschiedliche Publikumsgruppen. Das zuvor skizzierte Öffentlichkeitsmodell der Aufklärung ist zwar zunächst und zumeist nur eine utopische Rekonstruktion. Allerdings, und das ist der entscheidende Aspekt, die Bedeutsamkeit von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung in Demokratien ergibt sich aus der Verortung von Öffentlichkeit zwischen Bürgern einerseits und politischen, sozialen, kulturellen, künstlerischen, religiösen und ökonomischen Entscheidungssystemen andererseits. Öffentlichkeit ist die zentrale Institution zur Selbstverständigung von modernen demokratischen Gesellschaften und ihrer Mitglieder. In der Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung handelt es sich daher letztlich um die (stets aktuelle bzw. zu aktualisierende) Frage nach der geistigen Ökologie in unserer Gesellschaft sowie den Möglichkeiten von Partizipation und Kritik an den Realitäten und Machtzentren der Gesellschaft. Und nur, wenn eindeutige Kriterien formuliert werden, was Öffentlichkeit sein sollte und wie man die Produktion von Öffentlichkeit durch Gesellschaft und Medien kritisieren könnte, kann diese Frage beantwortet werden. Dass es sich hierbei um flexible Kriterien handeln sollte, die von den Anforderungen der jeweiligen sozial-kulturellen Situation bestimmt werden, ohne sich dem Zeitgeist zu verschreiben und verändert werden könnten, wenn es dazu vernünftige Argumente gäbe, ist evident.20 20 Die Ausarbeitung eines Katalogs von Kritikmaßstäben sucht man in den Öffentlichkeitsdiskursen gesellschaftskritischer Medientheorien vergebens. Andererseits ist der entscheidende Kritikmaßstab das normative Bild der medialen Konstruktion von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung. Maßstäbe zur empirischen Erforschung des Journalismus sowie seiner Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung schlug u.a. Max Weber (o.J., 1911, 1913) in seiner

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Dieses Verständnis von Öffentlichkeit haftet an den zu dieser Zeit legitimierten Postulaten eines emanzipatorischen Gemeinsinns aller urteilskompetenten Bürger. Öffentlichkeit hat in diesem Sinn eine konstitutiv politische Bedeutung und gilt seither als integraler Bestandteil demokratischer Gemeinwesen, als Vermittlungssystem zwischen legitimer Herrschaftsausübung und gesellschaftlichem Privatinteresse. Die Presse ist die zentrale Konstituente der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit materialisiert sich also, allgemein formuliert, zunächst und zumeist in Massenmedien und ist daher selbstverständlicher Bezugspunkt des Journalismus. Schäffle (2001) hat, wie Marx, diese Bedeutung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung in seinem opus magnum aus dem Jahr 1875, Bau und Körper des socialen Lebens, programmatisch ausgearbeitet, wobei er dieses Thema nicht im Hinblick auf die Bedeutung der Pressefreiheit diskutiert, sondern sich auf die konkreten Konstitutionsbedingungen dieser beiden Konzepte hinsichtlich der Rolle der Presse fokussiert. Für Andert (2002: 392f.) »markiert« Schäffle »einen der Ausgangspunkte sozialwissenschaftlicher Kommunikationsforschung«. Er beschreibt, so Andert weiter, »Gesellschaft als kommunikatives Netzwerk« und »erklärt das Bewusstsein für soziale Kommunikation zur Voraussetzung des Verständnisses von Gesellschaft schlechthin.«21 Unter Kommunikation versteht Schäffle den »durchaus reale[n] Prozeß allseitiger Ideenmittheilung durch Sprache, Wort, Schrift und Druck, durch Gesang, Dichtung, Kunstwerke, Monumente, Signale, Zeichnungen – kurz durch mancherlei Sinnbilder, durch Zeichen jeder Art. Derselbe vollzieht sich real in Production, Umsatz, Veröffentlichung und Verbrauch all der genannten so mannigfaltigen Symbole« (zitiert nach Andert 2002: 393). Ausgangspunkt der Überlegungen von Schäffle zu Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, ist die Interdependenz von Staat und Volk, im Hinblick auf die Partizipationsmöglichkeiten des Volkes an der Konstruktion sozialer Wirklichkeit sowie die selbstbestimmten Möglichkeiten der Umsetzung der Interessen des Volkes. Schäffle (2001: 114) spricht hierbei vom »Fühlungnehmen« mit dem »Volkskörper«, womit er betonen will, dass die Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit und öffentlicher Enquête über das Zeitungswesen sowie seiner Redakteurs-Umfrage vor. Es ging Weber hierbei um »Genesis und Wandel sozialer und ökonomischer Strukturen und Beziehungen der Presse, ihre Ursachen, kausalen und funktionalen Zusammenhänge sowie die Folgen« (Kutsch 1988: 8). Der umfangreiche Katalog von Fragen und Problemen, den Weber zusammenstellte, thematisierte nicht nur das gesellschaftliche Teilsystem Journalismus, sondern zugleich die Rolle des Journalisten. 21 Pöttkers Fokussierung auf den Aspekt der Kommunikation und der daraus resultierenden Rolle der Presse als Vermittler von Wirklichkeit (zur Vermittlungsfunktion des Journalismus vgl. grundlegend Groth 1948, 1960-1972, 1998) überblendet hiermit einen anderen Aspekt, der für Schäffle ebenso wichtig ist, nämlich die konstitutive Kritik- und Kontrollfunktion der Presse. Dieser Aspekt kommt in Schäffles, wenn auch nur äußerst thesenhaften, abschließenden Überlegungen, in denen er den Verfall des Journalismus thematisiert, zum Ausdruck.

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Meinung immer eine gesamtgesellschaftliche (wirksame) Dimension haben muss, Medienanalyse und Medienkritik also zugleich eine Gesellschaftsanalyse und -kritik darstellen muss. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung beschreibt er als konstitutiven Interdependenzprozess, in dem aus der wechselseitigen Beeinflussung von gesellschaftlichen Machtzentren, der Bevölkerung und der Medien eine »geistig[e] Kollektivwirkung«, ein »Massengeist« bzw. »Volksgeist« (ebd.: 115) entsteht. Der Einfluss der Presse hat, wie Schäffle betont, diesen Prozess in einem bisherigen, d.h. bis 1875, Ausmaß, in ihrem Umfang und in ihrer Kontrollierbarkeit grundlegend verändert sowie zu neuen Formen der »Massenerregungen«, »Massenerweckung[en]« und »Massenreaktionen« (ebd.) geführt. Dies kann die Presse bewirken, weil sie der wichtigste Vermittler zwischen subjektiver Lebenswelt und objektiver Kultur, zwischen den gesellschaftlichen Machtzentren und dem Volk sowie wesentlich zur Verfestigung gesellschaftlicher Macht beitragen kann. Dieser große gesellschaftliche Einfluss der Presse kann aber auch zu ihrem Missbrauch beitragen, indem die Presse als Plattform für Propaganda, Ideologien, Meinungsklimata usw. genutzt wird. Dies führt, wie Schäffle betont, zum Einzug von Korruption und Fälschung in die Presselandschaft – v.a., wenn Macht- und Wissenseliten sowie gesellschaftliche einflussreiche Institutionen ihre spezifischen Interessen durchsetzen wollen. Die Presse bewegt sich, so Schäffle, im Spannungsfeld von Re-Präsentation und Konstruktion öffentlicher Meinung, wobei letzteres überwiegt und problematische Konsequenzen zeitigt. Dies gelingt der Presse, indem sie Fühlung mit dem Zeitgeist, dem Publikum, den geistigen Machtzentren bzw. gesellschaftlich einflussreichen Gruppen aufnimmt sowie eine Archäologie unterbewusster (kulturell sublimierter) Neigungen, Gefühle, Triebe etc. betreibt bzw. versucht, diese zu re-aktivieren und affizieren. Das Themenspektrum der Presse ist hierbei, so Schäffle, potentiell unendlich, jedes Thema, das Aufmerksamkeit erregen könnte, ist von Interesse. Der Selektionsfaktor ist weniger der konkrete Inhalt, als vielmehr die massenöffentliche Verwertbarkeit eines Themas. Diese radikale Offenheit der Presse korrespondiert, wie Schäffle betont, mit der der Öffentlichkeit. Schäffle (ebd.: 117) weist darauf hin, dass Öffentlichkeit in diesem Sinne nicht nur eine politische Bedeutung hat, worauf sie heute von Habermas (z.B. 1962, 1992, 1997), Gerhards (u.a.1992, 1993, 1997, 2002), Neidhardt (u.a. 1994) und anderen größtenteils reduziert wird, sondern »eine universelle Bedeutung für alles Geistesleben [Hervorhebung im Original – MSK].« Öffentlichkeit definiert Schäffle, ausgehend von diesen Überlegungen, als Instanz zur gesamtgesellschaftlichen Verbreitung sozial wirksamer Ideen, Informationen, Nachrichten, Ereignissen usw. Öffentlichkeit bedeutet grundlegend Offenheit. Das Grundrecht der Pressefreiheit trägt zur freiheitlichen Konstitution von Öffentlichkeit in demokratischen Gesellschaften bei. Die Presse ist in diesem Kontext zwar eine zentrale, aber

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nicht die ausschließliche Instanz zur Konstruktion von Öffentlichkeit: »Im eigentlichen Sinn ist die Oeffentlichkeit geistige, durch Symbolaustausch bewirkte Offenheit zwischen größeren oder kleineren Massen des socialen Körpers [Hervorhebung im Original – MSK]« (Schäffle 2001: 118). Für Schäffle muss sowohl die »Mißachtung der Oeffentlichkeit [Hervorhebung im Original – MSK]« als auch ihre »Überschätzung [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.) kritisiert werden. Zur Konstitution und zum Aufrechterhalten sozialer Wirklichkeit ist Öffentlichkeit konstitutiv, eine, wie Schäffle sagt, »Volksnotwendigkeit« (ebd.) und darf nicht beseitigt oder umfassend eingeschränkt werden. Allerdings sollte nicht alles veröffentlicht werden, so etwa Themen aus der Sphäre von Privatheit und Intimität, wie z.B. Details aus dem Ehe- und Familienleben. Zudem darf nur das, was gründlich bedacht wurde, publiziert werden. Marx, der zwar das Volk in seiner Diskussion von Pressefreiheit und Zensur stets im Blick hat, vernachlässigt eine eingehendere Auseinandersetzung mit diesem. Schäffle beschreibt das Publikum bzw. die Leser als größere oder kleinere, geordnete und/oder ungeordnete Bevölkerungsmasse. Aus diesem Grund spricht Schäffle nicht von dem Publikum, nicht von der einen Öffentlichkeit, sondern von einer Vielzahl dieser – ebenso gibt es nur eine Vielzahl öffentlicher Meinungen. Wesentliches Merkmal des Publikums ist, wie Schäffle hervorhebt, die Freiheit des sich Einlassens auf Themen, Öffentlichkeiten usw. Diese Freiheit wird zumeist nur passiv, d.h. rein aufnehmend genutzt, bedingt aber auch aktiv, indem Stimmungen das auf das Publikum Einströmende filtern und bewerten. Beide Aspekte sind, so Schäffle, letztlich unkontrollierbar. Das Publikum ist nicht definitiv bestimmbar, daher bedarf es einiger Versuche, dieses Publikum zumindest zeitweise durch Massenäußerungen, etwa Wahlen oder Demonstrationen, greifbar zu machen, um Angebote darauf abzustimmen. Die öffentliche Meinung ist für Schäffle die Plattform, von der aus gesellschaftliche Themen verhandelt werden (müssen), um sozial wirksam zu werden; wirksam wird sie aber nur, wenn sie öffentliche Akzeptanz besitzt. Der Wert der öffentlichen Meinung wird, wie auch bei Marx, durch deren Übereinstimmung mit der Gesellschaft, dem Volkswillen bestimmt. An sich besitzt die öffentliche Meinung keinen Wert, ist weder wahr noch falsch, weder unfehlbar, noch überflüssig. Wer soziale Definitionsmacht besitzt, entscheidet über die Realität bzw. Konstitution der öffentlichen Meinung (vgl. ebd.: 122).22 22 Tönnies (1922) unterscheidet zwischen den (partikularen, hochgradig differenzierten, heterogenen) öffentlichen Meinungen, die unterschiedliche Aggregatzustände (fest, flüssig und gasförmig), d.h. verschiedene (nachhaltige, veränderbare oder kaum) Wirksamkeiten besitzen und der öffentlichen Meinung, die als konsensuell, verbindlich, gültig oder dauerhaft aufgefasst wird und (vermeintlich) kollektive bzw. konsensuelle Überzeugungen zum Ausdruck bringt. Lippmann

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Schäffle (ebd.: 127) beschreibt aber nicht nur die Bedeutung und Funktion von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung, Publikum und Presse, sondern thematisiert den Verfallsprozess dieser Phänomene, den er als »eine Entartung der öffentlichen Meinung«, »Entartung und unnatürliche Emporschraubung der Tagespresse [Hervorhebung im Original – MSK]«, als »Terrorismus der öffentlichen Meinung« und »Preßkorruption« bezeichnet. Die Rede von einem Verfallsprozess, der maßgeblich in der durch die Presse betriebene Pervertierung der öffentlichen Meinung resultiert, zeigt, dass Schäffle von einem normativen Verständnis von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Presse ausgeht. Dieser Verfallsprozess erklärt sich aus der Bedeutung der Presse als zentrale Institution zur Bildung der öffentlichen Meinung, zur Modellierung des »socialen Bewußtseins« und als »wichtigst[er] Apparat zur Anregung und Aeußerung des Volksgeistes« (ebd.: 125). Auf Grund dieser Tatsache ist die Gefahr des Missbrauchs dieses verantwortungsvollen Privilegs eine fast alltägliche Realität, da der Zugang zum Bewusstsein der Masse, Macht und Reichtum bedeutet (vgl. ebd.: 128). Dieser Faktor wird noch dadurch verstärkt, dass die Presse zunächst und zumeist ein Wirtschaftsunternehmen ist, das sich nicht nach moralischen, sondern primär rein zweckrationalen (ökonomischen) Gesichtspunkten richtet. Dadurch wird der Journalist zum Sklaven des Kapitals und kann seiner aufklärerischen bzw. autonomen Kritik- und Kontrollfunktion nicht mehr nachkommen. Tönnies (1922) reflektiert, im Unterschied zu Marx und Schäffle, in seiner 1922 erschienenen Schrift Kritik der öffentlichen Meinung umfassend und systematisch die Grundlagen, Strukturen und Wirkungsmechanismen der öffentlichen Meinung sowie die Bedeutung der Presse in diesem Kontext (vgl. diesbezüglich auch Lippmann 1922; zur Unterscheidung beider Positionen u.a. Averbeck 2002). Pöttker (1993; 2001: 13f., 352f.; 2002: 427) hat wiederholt darauf hingewiesen, dass NoelleNeumanns (1980; vgl. auch 1966, 1973) Begriffsbestimmung der (1922) betont, dass (öffentliche) Meinungen niemals objektiv sein könnten, sondern permanente (soziale, kulturelle, individuelle usw.) Verzerrungen von Wirklichkeit(en). Averbeck (2002: 274) erklärt diese These wie folgt: »Unsere Perspektiven auf die Welt entstehen über Sozialisationsprozesse. Wir filtern Wahrnehmungen durch unsere jeweiligen Schemata (›schemes‹) kognitiver und emotionaler Art. Sie sind internalisierte Abbilder kultureller Vermittlung, die nicht nur den einzelnen in seiner Wahrnehmung lenken, sondern gruppengebunden sind und ausgeweitet werden können auf größere Sozialgebilde, bis hin zu Nationen und ihren gegenseitigen Vorurteilen […]. Die Fokussierung solcher Schemata auf eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner ist das Stereotyp (›stereotype‹).« Ziel der Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung müsste es, vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, sein, die Unumgänglichkeit der Verzerrungen, die charakteristisch für jede Meinungsbildung, aber auch Kritiken an den öffentlichen Meinungen sind, permanent zu berücksichtigen und zu thematisieren. Es müssten kommunikative Kompetenzen erlernt werden, wie man mit nicht zu verhindernden Stereotypen umgeht. Die Überlegungen von Lippmann könnten zudem als Relativierung der von Habermas idealtypisch rekonstruierten Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit dienen.

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Schweigespirale bereits von Tönnies ausgearbeitet worden sei. Unter Schweigespirale versteht Noelle-Neumann die Angst von Menschen vor sozialer Isolation, die entstehen könnte, wenn man mit seiner Meinung gegenwärtig oder zukünftig in der Minderheit ist und dadurch das Äußern seiner eigenen Meinung in öffentlichen Situationen unterlassen, also geschwiegen wird. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass die Annahme, mit seiner eigenen Meinung eine Mehrheitsmeinung zu vertreten, diese auch explizit öffentlich zum Ausdruck gebracht wird. Das individuelle Verschweigen und Äußern der eigenen Meinung kann wiederum die Wahrnehmung und Redebereitschaft der anderen Menschen beeinflussen. Aus dieser Situation ergibt sich, wie Noelle-Neumann betont, ein Spiralprozess, der der Theorie ihren Namen gab. Dass diese Überlegungen von Noelle-Neumann bereits von Tönnies vorweggenommen worden sind, veranschaulicht Pöttker (2002: 427) an folgender Textstelle aus der Kritik der öffentlichen Meinung: »Die Öffentliche Meinung tritt immer mit dem Anspruch auf, maßgebend zu sein, sie heischt Zustimmung und macht wenigstens das Schweigen, das Unterlassen des Widerspruchs zur Pflicht. Mit mehr oder weniger Erfolg; je vollkommener der Erfolg, umso mehr bewährt sie sich gegen die Öffentliche Meinung, trotz des mehr oder minder zum Schweigen gebrachten Widerspruchs [Hervorhebung im Original – MSK]« (Tönnies 1922: 138). Kritik an der Aufklärungspublizistik

Glotz und Langenbucher (1969: 28ff.) kritisieren die »publizistische Ideologie« der Kritik- und Kontrollfunktion der Presse grundlegend. Der Journalist ist, aus der Perspektive von Glotz und Langenbucher, nicht grundsätzlich Aufklärer, Erzieher oder Meinungsbilder des Publikums, sondern v.a. Vermittler sozialer (politischer, kultureller, ökonomischer usw.) Wirklichkeit sowie »Gesprächsanwalt« und »Moderator« der Publikumsinteressen.23 Insofern sollte der Journalist sich nicht als Herr, sondern als Diener des Publikums verstehen. Die Vermittlung von Wirklichkeit wird hierbei durch die Prinzipien Vollständigkeit, Objektivität und Verständlichkeit bestimmt, die Rolle des Gesprächsanwalts durch das Schaffen von Podien, »auf denen sich die verschiedenen Meinungen begegnen, Foren, auf denen die Konflikte aufgezeigt werden, die im gesellschaftlichen Miteinander entstehen« (ebd. 27) und wodurch allererst permanente öffentliche Diskurse ermöglicht werden, an denen sich potentiell jeder beteiligen kann. Verstehen sich die Journalisten hingegen primär als Erzieher, Kontrolleure, Kritiker oder Meinungsbildner, entsteht dann eine »Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 32), ein Auseinander23 Als grundlegender Bezugspunkt für das Verständnis der Presse als Vermittlerin dienen Glotz und Langenbucher die Arbeiten von Otto Groth (1948, 1960-1972, 1998).

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treten zwischen medialer und sozialer Wirklichkeit. Das öffentliche Einfangen der Stimmen der Leser sowie deren öffentliche Diskussion, muss hierbei im Zentrum stehen und nicht das Erkenntnisinteresse des Journalisten. Diese Einschätzung ist kein Plädoyer für ein Weniger an Kritik, sondern gerade ein Hinweis auf die eigentliche Kritikfunktion der Presse, die konstitutiv den Leser mit einbindet: »Natürlich muss Kritik und Kontrolle in den Massenmedien geübt werden. [...] ›Kritik‹ ist aber kein Privileg von ein paar hundert oder tausend Journalisten; ›Kritik‹ wird in der Demokratie vom Souverän, der demokratischen Gesellschaft, selbst besorgt – unter Mithilfe, Anregung des Journalismus. Diese Gesellschaft ist deshalb keineswegs darauf angewiesen, die Medien beziehungsweise die in ihnen tätigen Journalisten oder gar ihre Verleger, zusätzlich noch als Kritiker zu institutionalisieren. Die Meinungsfreiheit schafft keine Privilegien oder Sonderrechte für einzelne, sie ist für alle da« (ebd.: 30f.). Die Auffassung, dass sich, wie Glotz und Langenbucher betonen, autonome Meinungs- und Willensbildung durch einen Journalismus, der sich wesentlich als vermittelnder und moderierender versteht, ausbilden können, übersieht ein grundlegendes Thema, nämlich die Notwendigkeit der kontinuierlichen und umfassenden Lektüre, die hierzu notwendig ist. Weiterhin muss der Leser auch andere Informationsquellen heranziehen, um sich zu jeweiligen Themen eine umfassende Meinung bilden zu können. Dies erfordert nicht nur Zeit, sondern auch Interesse und entsprechendes kulturelles Kapital. Nur im Idealfall, wenn überhaupt, kann erwartet werden, dass jeder Leser bzw. Bürger diese Aspekte permanent realisiert. Der Normalfall dürfte vielmehr sein, dass wiederum Wissensund Informationseliten, etwa Journalisten, Politiker, Wissenschaftler oder Literaten, eine zumindest annähernd erschöpfende Meinungsbildung zu einzelnen Themen erzielen können. Als blinder Fleck der Überlegungen von Glotz und Langenbucher kann der Aspekt bezeichnet werden, dass sie die Vermittlungsfunktion der Presse verabsolutieren und sich somit der gleichen Kritik aussetzen müssen, die sie an der Kritik- und Kontrollfunktion der Presse geübt haben, denn nur durch eine Diskussion des Interdependenzverhältnisses zwischen der Vermittlungs-, Kritik- und Kontrollfunktion der Presse, ergänzt durch die Beachtung von deren Konstruktionsfunktion, kann die Wirklichkeit des Journalismus umfassend analysiert werden – natürlich unter permanenter Berücksichtigung der marktwirtschaftlichen Bedingtheit des gesamten Journalismus. Strukturwandel der Öffentlichkeit

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt, wie Habermas betont, durch eine erneute Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft,

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das durch Kapitalkonzentration und Staatsinterventionismus24 gekennzeichnet war, ein Strukturwandel der Öffentlichkeit25 ein, der durch fortschreitende Mediatisierung26 der Gesellschaft und der Entwicklung des liberalen Kapitalismus zum organisierten Kapitalismus, allmählich zur Privilegierung marktfähiger Themen, einhergehend mit zunehmender Personalisierung, Sensationalisierung, Skandalisierung und Boulevardisierung führte.27 Nicht nur die Sphäre der frühbürgerlichen Öffentlichkeit verändert sich hierbei konstitutiv, so Habermas, sondern v.a. auch die Haltung der Akteure. Habermas diagnostiziert die Entwicklung des frühbürgerlich politisch aktiven zum privatistisch spätkapitalistischen Akteur, vom kulturräsonierenden zu einem kulturkonsumierenden Publikum, das sich zunehmend dem Massengeschmack anpasst und häufiger nur rezipiert, was ihm massenmedial serviert wird und sich dadurch weniger eigensinnig aneignet bzw. selbstbestimmt gestaltet. Bedienen sich die Akteure in der frühbürgerlichen Phase noch der Medien, um ihre ureigensten Interessen auszudrücken, werden heute diese, wie Habermas (1962: 113) betont, von jenen geprägt. 24 Dies bedeutet, dass die frühbürgerliche, emanzipatorische Öffentlichkeit von wirtschaftlichen und staatlich-administrativen Institutionen, die rein zweckrational funktionieren, kolonialisiert wird und diese zwei Medien lancieren, durch die ihre gesellschaftliche Macht ausgebaut werden kann: die kommerzielle und die Staats-Presse. 25 Diesen Strukturwandel betrachtet Habermas v.a. als Ergebnis der fortwährenden Ökonomisierung der redaktionellen Arbeit. Ab dem 19. Jahrhundert wird er immer deutlicher zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen. Habermas (1962: 225ff., 275ff.) unterscheidet zwischen einem sozialen Strukturwandel und einem politischen Funktionswandel. Als sozialen Strukturwandel bezeichnet Habermas das Ineinanderübergehen der konstitutiv getrennten Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit. Die Gründe für diese Veränderung sieht Habermas in den wachsenden staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Wirtschaft, in der Entwicklung des Sozialrechts sowie in dem daraus resultierenden Bedeutungsverlust der orientierungsstiftenden Wirkung der Klassenschranken. Den politischen Funktionswandel der Öffentlichkeit beschreibt Habermas als Übergang der aufklärerischen Versammlungsöffentlichkeiten der Aufklärungsbewegung und deren Publikationsorganen hin zur massenmedial produzierten Öffentlichkeit, die auf Distanz zum Publikum geht und von gesellschaftlich einflussreichen Interessengruppen, v.a. vom Staat, den Parteien und durch die organisierten Privatinteressen der Wirtschaft, konstituiert wird. Öffentlichkeit wird somit zu vermachten Arenen, in denen der Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit aufgelöst wird. 26 Als einer der entscheidenden Gründe für die zunehmende Mediatisierung der Gesellschaft kann z.B. die Emergenz eines neuartigen Nachrichten- und Postwesens bezeichnet werden sowie das Monopol der dominant gewordenen PrintTechnik. 27 Im Vorwort zur 1990er Neuausgabe seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit findet sich eine Diskussion bzw. zusammenfassende Entgegnung von Habermas auf die zahlreichen, bis zu diesem Zeitpunkt publizierten Kritiken. Habermas entwickelt hier seinen Ansatz nicht weiter, sondern hebt, neben der Auseinandersetzung mit den Mängeln seiner Arbeit, v.a. aktuelle Diskurse hervor, in denen sein Ansatz, vor dem Hintergrund aktueller Fragestellungen, etwa demokratietheoretischer Debatten, aufgegriffen wird bzw. im Sinne dieser Debatten weiterentwickelt werden könnte (zur Ausdifferenzierung seiner Öffentlichkeitstheorie vgl. Habermas 1992, 1997).

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An die Stelle der kritischen Publizität des in rationalen Diskursen ermittelten Konsensus sowie dem Postulat, gesellschaftliche und politische Entscheidungen vor der Instanz der öffentlichen Meinung revisionsfähig zu machen, wird Publizität zunehmend manipulativ, d.h. sie dient der Propagierung der Meinungen von Machteliten und gesellschaftlich einflussreichen Interessengruppen bzw. Organisationen, wie z.B. Politiker, Konzerne, Parteien, kommerzielle Markt- und Meinungsforschung oder PR-Berater, die einen privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit haben und die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussen können. Öffentlichkeit wird daher nur noch gemacht, »Publizität beschränkt sich auf das Ansprechen und Ausbeuten von Stimmungen im Publikum« (Prokop 2004: 350), sie wird zu einer Management-, PR- und Werbungsaufgabe bzw. zur Öffentlichkeitsarbeit, in der Öffentlichkeit hergestellt werden muss. Kritische Publizität wird somit zur publicity, die vernunftbasierte öffentliche Meinung zu einer akklamationsbereiten Stimmung bzw. zum Meinungsklima. Das Publikum verliert zunehmend seine Möglichkeiten zur Rationalisierung von politischer Herrschaft und sozialer Gewalt. Das Handeln des Publikums zeichnet sich hierbei, wie Habermas betont, nicht mehr durch selbstbestimmte Aufklärung aus, sondern vielmehr steht gelenkte Anpassung an und organisierter Konsum von Kommunikationsangeboten im Vordergrund. Die öffentliche Meinung, Resultat eines vernunftbasierten, rationalen öffentlichen Diskurses über alle Themen von öffentlicher Bedeutung, die zwischen einem räsonierenden Publikum stattfinden, ist, so Habermas, in zwei Formen zerfallen: zum einen in eine informelle persönliche Meinung, die sich z.B. aus persönlichen Erfahrungen oder aus der Übernahme gesellschaftlicher Konventionen, etwa von Verhaltensschemata oder Wert- und Normsystemen bildet; zum anderen existiert die öffentliche Meinung als pseudo-öffentliche, massenmediale verbreitete Meinung, die das mediatisierte Publikum, in massenmedial formierten Arenen, beeinflussen soll, »um Kaufkraft, Loyalität oder Wohlverhalten zu mobilisieren« (Habermas 1990: 28). Aus den Medien der Emanzipation sind Medien der Manipulation geworden, die von herrschenden gesellschaftlichen Machteliten zur bewussten Steuerung und Regulierung von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Publikum (Bürgern) genutzt werden. Insofern weist Habermas den Medien ein autoritäres Potenzial zu und beschreibt den zuvor beschriebenen Strukturwandel programmatisch als eine Refeudalisierung von Öffentlichkeit. Die Auseinandersetzung gesellschaftskritischer Medientheorien mit Öffentlichkeit als einem hegemonialen Netzwerk von Kommunikationen und Handlungen, die hierarchisch, segmentär und funktional differenziert sind, erfordert eine Auseinandersetzung mit drei Ebenen: der Definitionsmacht, den Partizipationschancen sowie den Leistungs- und Publikumsrollen. Die Konsequenzen dieses von Habermas diagnostizierten Wandels und Zerfalls bürgerlicher Öffentlichkeit, bringt Adorno (1997g: 534)

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deutlich zum Ausdruck – er lässt hierbei allerdings offen, ob es diese, von Habermas rekonstruierte Öffentlichkeit, jemals gegeben hat: »Öffentlichkeit heute serviert den Menschen, was sie nichts angeht, und enthält ihnen vor, oder rüstet es ideologisch zu, was sie ja etwas anginge. Habermas hat diese Entwicklung als Zerfall der Öffentlichkeit zusammengefasst. Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit überhaupt nie verwirklicht. Zu Anfang wäre sie, als nicht vorhandene, erst zu schaffen gewesen, dann hat sie in zunehmendem Maße die Mündigkeit verhindert, die sie meint. Das Recht der Menschen auf Öffentlichkeit hat sich verkehrt in ihre Belieferung mit Öffentlichkeit; während sie deren Subjekte sein sollten, werden sie zu deren Objekten. Ihre Autonomie, die der öffentlichen Information als eines Mediums bedarf, wird von der Öffentlichkeit gemindert.« Öffentlichkeit verliert, im Vergleich zur frühbürgerlichen Phase, ihre kritische Potenz und fungiert in modernen Demokratien nur noch als normativer Anspruch. Habermas deutet in den letzten Passagen des Strukturwandels der Öffentlichkeit zumindest aber eine Möglichkeit davon an, was der Refeudalisierung von Öffentlichkeit entgegengesetzt werden könnte. Diese Möglichkeit basiert auch auf der für die Entwicklung des frühbürgerlichen Öffentlichkeitsverständnisses konstitutiven »Produktivkraft Kommunikation« (Habermas 1990: 39), die für Habermas bis heute die Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation, Widerstand oder gesellschaftlicher Veränderung bleibt. Eine kritische Publizität kann es, so Habermas (1962: 271), nur in organisationsinternen Öffentlichkeiten geben, die »Zwangsformen eines durch Druck erzeugten Konsensus ebenso lockern [würde], wie die Zwangsformen der bisher der Öffentlichkeit entzogenen Konflikte mildern können. Konflikt und Konsensus sind, wie die Herrschaft selbst und die Gewalt, deren Stabilitätsgrad sie analytisch bezeichnen, keine Kategorien, an denen die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft spurlos vorübergeht.« In einem Lexikonartikel aus dem Jahr 1957 weist Habermas (1973: 69) zudem darauf hin, dass sich die Idee des emanzipatorischen Öffentlichkeitsmodells, dem es um Rationalisierung von politischer Herrschaft und sozialer Gewalt über das Medium öffentlicher Diskussion geht, heute nur noch auf einer konstitutiv veränderten Basis umsetzen lässt, d.h. »als eine Rationalisierung der sozialen und politischen Machtausübung unter der wechselseitigen Kontrolle rivalisierender, in ihrem inneren Aufbau ebenso wie im Verkehr mit dem Staat und untereinander auf Öffentlichkeit festgelegter Organisationen.« Leitend ist für Habermas, wie an diesen Passagen deutlich wird, die Überzeugung, dass die Möglichkeit eines vernunftbasierten, rationalen Konsenses als Bedingung der Möglichkeit, Handlungs- und Diskurskonflikte zu lösen, ebenso wie die (staatliche oder hegemoniale) Gewaltanwendung in Gesellschaften konstitutiv vorgegeben ist. Andererseits muss betont werden, dass der Gedanke, moderne, freiheitlich-demokratische Gesellschaften könnten konstitutiv durch einen vernunftbestimmten öffent-

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lichen Diskurs, an dem potentiell alle Bürger teilnehmen, organisiert und reguliert werden, sich in der von Habermas projektierten idealtypischen Form nicht verwirklichen lässt, weil man hierzu Thesen über die (vermeintliche) Einheit der Wirklichkeit und des Publikums voraussetzen muss, durch die die heterogenen und antagonistischen Wirklichkeiten von Gesellschaft sowie des Publikums nicht beschrieben werden können. Weiterhin äußert Habermas 1990 im neuen Vorwort zum Strukturwandel der Öffentlichkeit die wichtige Selbsteinschätzung, dass es konstitutive strukturelle Veränderungen innerhalb des globalisierten Medienund Öffentlichkeitssystems gegeben habe, ebenso wie ein stark modifiziertes Publikumsverhalten konstatiert werden könnte. Diese Veränderungen könnten, so Habermas, an der Widerstandsfähigkeit bzw. Widerständigkeit des heterogenen pluralistischen Massen(medien)publikums veranschaulicht werden, das durch seinen kulturellen Eigensinn durchaus auch eine gewisse Souveränität gegenüber den medial verabreichten Unterhaltungs- und (Des-)Informationsangeboten besitze und nicht einfach nur Objekt von wirtschaftlichen und politischen Manipulationsstrategien sei. (Mediale) Öffentlichkeit kann, aus dieser Perspektive, zu einem Kontrollsystem gesellschaftlicher Wirklichkeit werden, insoweit die Medien- und Kommunikationskanäle der Öffentlichkeit an die privaten Lebensbereiche der Menschen angeschlossen sind. Als Beispiel für positive Medienwirkungen, die einen emanzipatorischen, re-politisierenden Effekt beim Publikum hatten, nennt Habermas (1990: 49) die Bedeutung des Fernsehens für die historischen Veränderungen in der ehemaligen DDR und einigen ost-europäischen Ländern28: »Umwälzungen in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Rumänien bildeten einen Kettenprozess, der nicht nur einen vom Fernsehen übertragenen historischen Vorgang darstellt, sondern der sich selbst im Modus einer Fernsehübertragung vollzogen hat. Die Massenmedien waren nicht nur entscheidend für die Ansteckungseffekte der weltweiten Diffusion. Auch die physische Präsenz der auf Plätzen und in Straßen demonstrierenden Massen hat, anders als im 19. und frühen 20. Jahrhundert, revolutionäre Gewalt nur in dem Maße entfalten können, wie sie durchs Fernsehen in eine ubiquitäre Präsenz verwandelt wurde.«

Bereits 1969 forderte Habermas (1969: 7f.) zu dem in dieser Situation vorherrschenden Mittel des Protests, alternative, d.h. gewaltfreie und intellektuelle Formen der öffentlichen Opposition – in diesem Kontext konkret hinsichtlich der spontanen und kurzfristigen Gewaltaktionen, die einige Vertreter der Studentenrevolte gegen das Establishment und/oder die Massenmedien, die wesentlich für die Entpolitisierung der Öffentlichkeit verantwortlich gemacht wurden, verübten:

28 Vgl. hierzu u.a. auch Hall (1990); Thomaß (2001).

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»Die neuen Techniken der begrenzten Regelverletzung stammen aus dem Repertoire des gewaltlosen Widerstandes, das während der letzten Jahre in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erprobt und erweitert worden ist. Diese Techniken gewinnen gegenüber einem bürokratisierten Herrschaftsapparat und angesichts eines publizistischen Bereichs kommerzieller Massenbeeinflussung, einen neuen Stellenwert: sie dringen in die Nischen eines frontal unangreifbaren Systems ein. Sie erzielen mit relativ geringem Aufwand überproportionale Wirkungen, weil sie auf Störstellen komplexer und darum anfälliger Kommunikationsnetze gerichtet sind. [...] Die neuen Demonstrationstechniken treffen die einzige schwache Stelle des legitimationsbedürftigen Herrschaftssystems, nämlich die funktionsnotwendige Entpolitisierung breiter Bevölkerungsschichten.«

Eine Repolitisierung der Öffentlichkeit könnte für Habermas also von sozialen Bewegungen ausgehen. Diese bieten bewegungsspezifisch anerkannte Werte und Normen bzw. Orientierungen und Deutungen an, d.h. alternative Diskurse, die in interpersonaler Kommunikation entstehen und Herrschaftsmonopole (potentiell) eindämmen können. Weiterhin wird der Repolitisierungsprozess durch entsprechende (gewaltfreie) Aktionen initiiert. Von sozialen Bewegungen könnte also, so Habermas, Sozialkritik ausgehen und sich politisierende, widerständige Handlungsund Interaktionsnischen, also nicht nur symbolisch vermittelte Interaktionen und Handlungen bilden, die vorstrukturierte Handlungsbereiche in rationale, vernunftbasierte, nicht-hegemoniale und hierarchiefreie umwandeln. Hierbei können moderne Kommunikationstechnologien zwar produktiv genutzt werden, das kommunikative Handeln aber nicht ersetzen. Habermas plädiert zudem dafür, dass sich Protest-Gruppen bzw. neue soziale Bewegungen nicht von der Gesellschaft abkoppeln sollten, sondern Netzwerke mit gesellschaftlich etablierten Gruppen bilden müssten, um sozial wirksam werden zu können. Habermas schätzt also die Möglichkeiten des Mediengebrauchs hinsichtlich der daraus resultierenden Öffentlichkeits- und Gegenöffentlichkeitskonstruktionen ambivalent ein: zum einen betrachtet er den Zugang zu den Massenmedien als Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Veränderung, sie könnten von sozialen Bewegungen als produktive Institutionen der Meinungsverbreitung genutzt werden; andererseits kann nicht geleugnet werden, dass Öffentlichkeit und öffentliche Meinung zunächst und zumeist qua massenmedialer Veröffentlichungen von veröffentlichten Meinungen einiger medialer Organisationen bestimmt werden – hierdurch wird die Forderung nach allgemeinem Zugang und eigensinniger Nutzung der Massenmedien stark beschränkt.29 29 Dass Habermas die Möglichkeiten zur Repolitisierung der Öffentlichkeit und zu den konkreten Potentialen sowie Möglichkeiten neuer sozialer Bewegungen letztlich nur andeutet, ohne diese umfassend zu analysieren, was eigentlich die notwendige Konsequenz aus seinen Überlegungen sein müsste, bringt Jacke (2004: 99f.) deutlich zum Ausdruck: »Habermas steht […] sehr unter dem Eindruck des politischen Motivs der Verständigung und der kommunikativen Ver-

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Schelsky (1979) beschreibt in seinem Aufsatz Gedanken zur Rolle der Publizistik in der modernen Gesellschaft aus dem Jahr 1963 ebenfalls einen Verfallsprozess von Öffentlichkeit. Im Unterschied zu Habermas kritisiert Schelsky hierbei aber die diskursive Ideologie, die in der idealtypischen Rekonstruktion des Öffentlichkeitsverständnisses der Aufklärung von Habermas sowie des von ihm skizzierten Strukturwandels zum Ausdruck kommt. Wichtig sind die Überlegungen von Schelsky in diesem Kontext insofern, als er die Publizistik als »Berufsideologie« (ebd.: 304) bezeichnet, der es nicht primär um die Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung sowie der Ausbildung oder Initiierung autonomer Meinungs- und Willensbildungsprozesse geht, sondern zunächst und zumeist dient sie dazu, die gesellschaftliche Funktion der Publizistik bzw. des Publizisten zu legitimieren. Hierzu ist, so Schelsky, das idealtypische (aufklärerische) Verständnis von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Journalismus von zentraler Bedeutung; der Publizist muss daher, um seine gesellschaftliche Stellung dauerhaft zu sichern, zu einem »Idealgüterproduzenten« werden, d.h. die Bedürfnisse des »Informations- und Unterhaltungskonsums« (ebd.: 312) der Rezipienten permanent in Gang halten oder immer wieder von neuem stimulieren bzw. konstruieren. Weiterhin betont Schelsky, dass die öffentliche Meinung schon im 18. Jahrhundert wesentlich auf »einen Konsensus der Publizierenden« (ebd.: 305) zurückging und somit nicht den Volkswillen zum Ausdruck brachte: »Im 19. Jahrhundert nahm die Trägerschaft dieser ›öffentlichen Meinung‹ insofern zu, als die Zahl der literarisch Gebildeten wuchs, die sich in ihren Weltansichten maßgeblich durch Publikationen beeinflussen ließen. Das heißt aber, dass diese ›öffentliche Meinung‹ immer schon nur als Produkt von Publikationsmitteln verstanden werden muss und dass ihre Einheitlichkeit, sofern sie je vorhanden war, nicht aus der Meinungsbildung, sondern aus der Tatsache stammt, dass zunächst das ›Auditorium‹ für Publikationen von vornherein relativ homogen war« (ebd.). Dies bedeutet für Schelsky zugleich, dass die vermeintlich öffentliche Meinung »bewusst und planmäßig gemacht werden kann«, d.h. nicht in einer »Vernunftüberzeugung« (ebd.: 306) ihrer Träger und Produzenten gründen muss, also hauptsächlich unabhängig vom Austausch rationaler, vernunftbestimmter Diskurse ist. Schelsky weist implizit darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung sich von einer utopischen Makroebene auf die detaillierten Analysen von gesellschaftlichen, nicht nur medial konstruierten Teilöffentlichmittlung. Längst dürfte nachgewiesen worden sein, dass das Herausbilden […] veröffentlichter Meinungen keineswegs zu einer Demokratisierung der Gesellschaft führen muss. Zunächst bilden sich ganz im Gegenteil neue Hürden und Selektionsstufen heraus. Wie aber damit im Mediengebrauch umgegangen werden kann, um im Sinne einst bürgerlicher, dann subjektiver, schließlich der Meinungs-Freiheit, Einfluss auf das politische Geschehen auszuüben und […] den Widerspruch von Freiheit (der Meinung) gegenüber Ausschluss (unterprivilegierter Gruppen) aufzulösen, das deutet Habermas zumeist nur an […].«

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keiten beschränken sollte, damit die Auseinandersetzung mit der Trias Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und Presse nicht zu einem fiktionalen Genre verkomme. Andererseits darf, so Schelsky (ebd.: 307), nicht übersehen werden, dass der Publizistik und der Publizität eine konstitutive Funktion in modernen Gesellschaften zukommt, d.h. durch sie wird gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert, vermittelt und untereinander vernetzt. Die Publizistik bzw. die modernen Massenkommunikationsmittel bieten den Menschen aber auch Möglichkeiten zur Identitätskonstruktion. Hiermit weist Schelsky die These zurück, dass der Mensch durch die Massenkommunikationsmittel wesentlich von sich selbst entfremdet werde. Durch die Medienbestimmtheit der modernen Gesellschaft könne man, so Schelsky, von einer eigensinnigen Mediensozialisation erster Mediengenerationen sprechen, d.h. der Umgang mit und der Einfluss von Massenkommunikationsmitteln ist zum selbstverständlichen bzw. habitualisierten Bestandteil des Aufwachens von Jugendlichen sowie zu deren lebensweltlichen Umwelt geworden, was wiederum bedeutet, Massenkommunikationsmittel sowie deren Produkte sind zu einem »habitualisierte[n] Grundbedürfnis des modernen Menschen geworden« (ebd.: 309). Charakteristisch für den Konsum bzw. die Rezeption der Produktionen der Massenkommunikationsmittel ist, gerade im Hinblick auf die unübersichtliche Vielfalt der Medienangebote und unabhängig davon, ob es sich um Informationen oder Unterhaltung handelt, deren kurzfristiger Verbrauch: »Man lässt sich nicht mehr mit eigenen seelischen oder geistigen Kräften auf das Dargebotene ein, sondern man nimmt es zur Kenntnis, es bleibt ein kurzer Reiz, oder man benutzt es gar als Hintergrundstimulus, wie etwa die Radiomusik« (ebd.: 314). Diese Beschreibungen von Publizistik und Publizität weisen einerseits auf die notwendige Verantwortung der Publizisten hin, wenn man ihre große gesellschaftliche Macht bedenkt, andererseits hebt Schelsky hervor, dass Formen der Regulierung des publizistischen Systems, etwa durch Medienkritik oder Instanzen der Selbstregulierung, wie z.B. die Ausbildung eines journalistischen Berufsethos oder Sanktionen des Presserates, immer auf einer systemimmanenten Ebene verblieben und damit, auch in ihrer Kritik, das System, das sie kritisierten, in ihrer Kritik zugleich wiederum affirmierten, weil sie sich hierzu stets im Medium der Publizistik und Publizität äußern müssten, also keine Metaposition einnehmen könnten. Journalismus und Propaganda

In seiner publizistischen Auseinandersetzung mit dem Krieg, thematisiert Bücher (1926) die Propaganda und Entgleisungen der deutschen und ausländischen Presse zu Beginn des 1. Weltkrieges – und diskutiert hier, wie Schäffle, am Beispiel der Propaganda, einen Verfallsprozess medial konstruierter Öffentlichkeit. Der von Bücher konstatierte Verfall journalistischen Handelns ist für ihn wesentlich als Ausdruck des Gewinnstrebens

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der Verleger und als Rückgang des journalistischen Berufsethos zu bewerten. Eine Debatte, die gerade gegenwärtig intensiv diskutiert wird und (implizit) an die Überlegungen von Bücher anschließt, ist, ob in Kriegszeiten und Kriegsgebieten konstitutiv andere als im journalistischen Normalzustand geltende Bedingungen und Verpflichtungen für das journalistische Handeln existieren müssten sowie die Verwirklichung der Pressefreiheit nach alternativen Kriterien beurteilt werden müsste (vgl. u.a. Haller 2003b). In drei Aufsätzen, die vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges entstanden sind, unterscheidet Park (1955a, d, e) zwischen Nachricht und Propaganda. Die Aufgabe der Nachricht besteht für Park wesentlich in der Vermittlung zwischen sozialer und individueller Wirklichkeit und nicht, im Unterschied zur Propaganda, darin, politische Botschaften zu vermitteln, den Leser von bestimmten Meinungen zu überzeugen und soziale Bewegungen zu mobilisieren. Nachrichten bieten stets, so Park, unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten an, Propaganda hingegen muss zur Produktion von Konsens beitragen, Linientreue erzeugen. Nachrichten werden, aus der Perspektive von Park, gerade auf Grund ihrer Interpretationsvariabilität, wenn sie zudem möglichst umfassend und objektiv informieren, zur soliden Basis der Ausbildung der öffentlichen Meinung. Dem Thema der (propagandistischen) Normierung bzw. Instrumentalisierung von Rezipienten und Bürgern sowie der Herstellung von Konsens, widmet sich auch Chomsky (2003; vgl. Herman/Chomsky 1988). Für ihn ist Propaganda, die sich zumeist im Gewand der PR präsentiert, ein Mittel, um auch in freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaften, das Bewusstsein der Bevölkerung hegemonial zu regulieren bzw. eine politische Strategie, diese zu lenken, wie Chomsky am Beispiel der USA zeigt. Die Herstellung von Konsens entspricht, so Chomsky, dem in Theorie und Praxis vorherrschenden Demokratieverständnis, das auch von führenden amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern, wie Walter Lippmann und Harold Lasswell, vertreten und wodurch politische Propaganda gesellschaftlich legitimiert wird: »[D]ie Bevölkerung [muss] von der Regelung ihrer Angelegenheiten ausgeschlossen und der Zugang zu den Informationsmitteln streng begrenzt und kontrolliert werden […]« (ebd.: 28). Demgegenüber steht ein Demokratieverständnis, das von Bürgerpartizipation und ungehindertem Zugang zu den Informationsmitteln für jedermann ausgeht. Hinter dem dominanten Demokratieverständnis verbirgt sich die Auffassung, dass die Bevölkerung Experten bzw. Wissens-/Machteliten braucht, die sie informieren, aufklären, führen. Insofern wird der Bürger, ebenso wie der Medienrezipient, als potentiell unmündig bzw. als Handlungsobjekt der Wissens-/Machteliten aufgefasst. Medien, durch die Propaganda am wirksamsten und nachhaltigsten verbreitet wird, haben insofern für Chomsky v.a. eine konstruktive Funktion, d.h. sie dienen der interessengeleiteten Konstruktion von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung und führen weniger zur Ausbildung auto-

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nomer Meinungs- und Willensbildungsprozesse. Ein Gegengewicht zu dieser (propagandistischen) Konsensproduktion besteht in gesellschaftlichen Widerstandszellen, wie z.B. den Kirchen, der Umwelt- und Frauenbewegung oder den Atomkraft- und Globalisierungsgegnern. Insofern besteht auch keine Möglichkeit zur umfassenden Manipulation von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung: »Trotz aller Propaganda, trotz aller Bemühungen, das Denken zu kontrollieren und Konsens herzustellen, haben es die Menschen gelernt, selbständig Überlegungen anzustellen. Sie sind skeptischer gegenüber der Macht und haben ihre Einstellungen in vielfacher Hinsicht geändert. Das alles geht fast gletscherhaft langsam voran, aber es ist sichtbar und wichtig. Ob es in absehbarer Zeit die Politik verändern kann, ist eine andere Frage« (ebd.: 40).

Chomskys Kritik an den Experten, die für die Öffentlichkeit öffentlich denken, muss etwas eingeschränkt werden. Es gibt auch eine durchaus positive Seite an Experten, d.h., wenn sie sich auf Grund ihrer Kompetenz um ein Freisetzen zur Freiheit der Bürger bzw. Rezipienten einsetzen, also nicht etwas vordenken, dem gefolgt werden soll, sondern etwas vorstellen, das möglichst kontrovers diskutiert werden kann. Chomsky selbst ist hierfür das beste Beispiel. Boulevardisierung und McJournalismus

Es ist eine Sache, die Freiheit der öffentlichen Meinungsbildung sowie äußerung und ihre vitale politische Funktion zu beschwören bzw. idealtypisch zu (re-)konstruieren, um dann Verfallsdiagnosen anzustellen, die eine glorreiche Vergangenheit als Maßstab zur Beurteilung gegenwärtiger Entwicklungen nimmt. Andererseits sollte daraus keine Blindheit gegenüber der Dialektik von (medialer) Aufklärung entstehen. Dennoch sollte man sich fragen, ob es gegenwärtig noch eine Aufklärungsfunktion der Medien bzw. des Journalismus gibt, da Öffentlichkeit immer noch zu den Leitbegriffen der politischen und kulturellen Semantik westlicher Gesellschaften gehört. Oder haben heute nicht vielmehr Klatsch und Tratsch, Enthüllungsjournalismus und Unterhaltungsbetrieb längst jede Form differenzierter Berichterstattung verdrängt? Ist es zu einer Annäherung der seriösen Presse an die Boulevardpresse und einer allgemeinen Orientierung am Fernsehen gekommen? War der »Beginn der unabhängigen Meinungspresse«, wie Haller (2001) am Beispiel des 1835 vom Kaufmann James Gordon Bennett gegründeten New York Herald zeigt, »mit Kommerzialisierung, diese mit Boulevardisierung untrennbar verbunden [Hervorhebung im Original – MSK]«? Ist somit bei Presseberichten, wie bei allen anderen medialen Informationsprodukten auch, eine strikte Unterscheidung von Information und Unterhaltung überhaupt aufrecht zu erhalten bzw. gab es sie jemals? Macht vor diesem Hintergrund

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eine Unterscheidung zwischen seriöser Publizistik und Regenbogenpresse Sinn? Führte die Ökonomisierung des Mediensystems, d.h. die Regelung medialer Kommunikation über den privatwirtschaftlichen Markt und der entsprechenden Ausrichtung von Medienorganisationen auf ökonomischen Erfolg wirklich zu einer substantiellen Veränderung der Medieninhalte allgemein und des Journalismus im Besonderen, wie etwa die Stichworte populärer Journalismus, Regenbogenpresse, Revolverjournalismus oder McJournalismus30 (Schnibben 1996) andeuten? Und wenn ja, bestehen die veränderten Inhalte journalistischer Produktionen in einer zunehmenden Fiktionalisierung und Entertainisierung der Informations-, Kontroll- und Kritikfunktion der Medien? Wird hierdurch die Ausbildung einer kritischen Öffentlichkeit immer unwahrscheinlicher? Mit dem Schlagwort Boulevardisierung, mit dem der Verfall des seriösen Journalismus häufig beschrieben wird, soll eine Antwort auf die Frage gegeben werden, welche Wirkungen aus der ökonomischen Lage der Medienwelt im Allgemeinen und welche Bedingungen für den Journalismus im Besonderen resultieren.31 Boulevardisierung bezeichnet v.a. die Integration von Journalismus, Massenunterhaltung und Werbung, Infotainment-Schwerpunkte und/oder Marketing-Strategien zur LeserInnen-Blatt-Bindung. Dies ist kein Prozess, der sich auf die unterhaltenden Mediensektoren beschränkt, sondern wird als eine allgemeine Entwicklung im Journalismus angesehen – die so genannten Qualitätsmedien bilden hier keinen wirklichen Gegenpol. Dies bestreiten Vertreter des seriösen Journalismus massiv. So schrieb etwa Gerd Bucerius (1986: 1) 1986 anlässlich des 40. Jahrestages der Wochenzeitung DIE ZEIT: »Mag das breite Publikum seine Unterhaltung haben. Die Leute, auf die es ankommt, wissen, wo sie das finden, was ihnen hilft, ihre Pflicht als Staatsbürger zu tun.« Deutlicher kann der Gegensatz von Information, die gleichsam immer auch eine kritische Funktion hat und Unterhaltung, dem Idealtypus des seriösen Journalis30 Unter McJournalismus versteht Schnibben (1996: 49f.): »McJournalismus ist gedrucktes Fast food. Viel Verpackung, viel Farbstoff, und ständig fragt sich der Leser: Where is the beef? McJournalismus hat mit Journalismus so viel zu tun wie McDonald’s mit Rinderbraten. Natürlich gibt es Informationen, die man beim Umblättern aufnehmen kann: […]. Der Wahnsinn ist ja, dass alle diese Blätter [Schnibben bezieht sich auf Focus, Tango und News – MSK], die versprechen, die Informationsflut im Interesse des überforderten Lesers zu bändigen, den Strom der überflüssigen Informationen vergrößern. Sie suchen nach Nachrichten, die sich in Torten und Schautafeln darstellen lassen, und das sind meist solche, die das Fernsehen aus genau diesem Grunde bereits gebracht oder die die Tageszeitung aus gutem Grunde nicht gebracht hat. […] Der McJournalismus wurde von Leuten geschaffen, die nichts zu sagen haben, die nicht schreiben können und die das für modern halten. Wie modern eine Zeitschrift ist, wird nicht bestimmt durch die Anzahl der Zahlentorten und durch die Menge der Farbseiten. Wie modern Zeitschriften und Zeitungen sind, entscheiden sie durch das, worüber sie schreiben.« 31 Vgl. hierzu u.a. message (2/2001 – u.a. mit dem Schwerpunkt: Die BoulevardFalle).

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mus und dem Phantom der Boulevardpresse sowie die Unterscheidung in ein informations- und ein unterhaltungssuchendes Publikum, nicht formuliert werden. Boulevardisierung zeichnet sich durch einen allgemeinen Verfall journalistischer Standards (etwa Objektivität, umfassende Recherche, Wahrung ethischer Grundsätze etc.) aus; durch einen Rückgang räsonierender (z.B. Politik und Wirtschaft) und einen gleichzeitigen Anstieg unterhaltender Themen (u.a. Skandale, Sensationsmeldungen, Sex, Lifestyle), durch die der Massengeschmack bedient werden soll; eine Zunahme von Serviceleistungen; starke Personalisierungen und Emotionalisierungen sowie zynische und ironisierende Kommentare, die eine bestimmte Diskurs-Hippness unterstreichen wollen. Diese inhaltlichen Boulevardisierungstendenzen werden zudem sprachlich und optisch unterstützt, etwa durch die Annäherung an die Umgangssprache, Verwendung vieler Photos, vergrößerte Überschriften sowie plakative Aufmacher und Eye-Catcher. In einem Interview mit dem Medienmagazin Cover antwortet Bascha Mika, Chefredakteurin der taz, entsprechend auf die Frage, wann Boulevardjournalismus anfange und wo er aufhöre: »Ich weiß, wo Boulevardjournalismus anfängt, wo er aufhört, weiß ich nicht. Da trau ich den KollegInnen einiges zu. Qualitätsjournalismus zeichnet sich im Idealfall durch seinen aufklärerischen Impetus und kritische Distanz aus. Boulevard lebt vom Emo-Faktor, von Überspitzung und Verkürzung; von Klatsch, Personalisierung und Ansprechen der (niederen) Instinkte; er schert sich einen Dreck um Persönlichkeitsrechte, zeigt selten Respekt vor Opfern und Angehörigen und hat letztlich […] keine Haltung, sondern eine Schlagzeile« (Fuchs/Weichert 2004: 55).32

Knobloch und Donsbach (2001: 2) betonen, dass die prognostizierten Boulevardisierungstendenzen als eine Entwicklung beschrieben werden 32 Mika (2005: 187) kann dem Boulevardjournalismus, zumindest dem der BildZeitung, gleichwohl genau eine positive Seite abgewinnen, wie sie in einem Interview mit Hanna Domeyer und Adalbert Siniawski betont: »Es gibt allerdings eine Seite des Boulevardjournalismus, die ich durchaus schätze: das schlichte Handwerk. Die Bild-Zeitung beherrscht es meisterhaft, Nachrichten auf den Punkt zu bringen. Das ist wirklich eine große Kunst [Hervorhebung im Original – MSK].« Diese Reduktion von Komplexität gelingt am besten, wie in einigen Äußerungen von Kai Diekmann (2005: 58f.), dem Chefredakteur der Bild-Zeitung, in einem Interview mit Maria Ellebracht und Katrin Zeug angedeutet wird, in der Bild-eigenen Kunst der Schlagzeilenkonstruktion, die allerdings, so Diekmann, stets vom Primat der Informationspflicht bestimmt wird: »Unsere Schlagzeilen haben natürlich Wucht. Wir sind härter, lauter, schärfer, klarer als die anderen. Wir sind Boulevard, keine Vereinszeitung. […] [Frage:] Was ist eine gute Schlagzeile? [Kai Diekmann:] Eine gute Schlagzeile emotionalisiert, bringt auf den Punkt und macht neugierig. […] Bild ist eine Boulevardzeitung, die ihre Leser […] jeden Tag aufs Neue am Kiosk überzeugen muss. Deshalb ist die Schlagzeile so wichtig. Aber der Verkauf ist nicht das entscheidende Kriterium – an erster Stelle steht die Informationspflicht [Hervorhebung im Original – MSK].«

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kann, die von den Lesern mehr oder weniger gewollt wird: »Das Publikum SOLL sich informieren und SOLL lernen, WILL aber häufig viel lieber unterhalten werden [Hervorhebung im Original – MSK].« Unterhaltung wird in der neueren Journalismus- und Medienforschung zudem als Modus der Informationsverarbeitung angesehen. Unterhaltung dient aus dieser Perspektive nicht allein dem kurzweiligen Vergnügen und Amüsement, sondern schafft gleichsam Diskussion und Reflexion (vgl. Kap. 2.3.). Dies gelingt, indem Unterhaltung in der Massenmedienkommunikation zugleich Unterhaltungs- und Informationswert hat, zwischen Weltgeschehen und den persönlichen Emotionen, eigenen Werten und individuellen Lebensproblemen vermitteln kann. Eine polarisierende Auseinandersetzung mit dem Journalismus durch die starre Trennung zwischen Information und Unterhaltung ist aus dieser Perspektive nicht möglich und sinnvoll. Klaus (2002: 639) bringt diese Position paradigmatisch zum Ausdruck: »[...] Information und Unterhaltung müssen als zwei verbundene Elemente auf allen Ebenen des journalistischen Handlungszusammenhangs zusammengedacht werden, um eine folgenreiche Massenmedienkommunikation zu ermöglichen, die zugleich Verstand und Gefühl, Emotion und Intelligenz, Spiel und Ernst, Erfahrung und Abstraktion, Nähe und Distanz, Phantasie und Wirklichkeit anregt.« Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die inhaltlichen Veränderungen in der Berichterstattung, die mit der Boulevardisierung verbunden sind, auch zu einem Rückgang des kritischen Journalismus, der sich im Dienst von Wahrheit, Objektivität und Aufklärung versteht, führen können. Auf der Jagd nach Lesern und der Zurechtstutzung der Medienangebote für ein möglichst breites Publikum, kann aus der Informations- und Aufklärungsfunktion der Presse, »nur noch eine warenhafte Durchgangsleistung, im Sinne distributiven Marketings profitorientierter Medienunternehmen« (vgl. Renger 2000: 9) werden. Claus Strunz (2005: 237), gegenwärtig Chefredakteur der Bild am Sonntag, hebt entgegen diesen Verfallsdiagnosen hervor, dass die Zeitung der Zukunft eine Qualitätsboulevardzeitung sein wird, d.h. »eine anspruchsvolle, aber für jeden verständliche Qualitätszeitung.« Diese Zeitung orientiert sich am Magazin, d.h. die Titelgeschichte und nicht die Schlagzeile ist das entscheidende Markenzeichen, und macht es sich zur Aufgabe, so Strunz, die Leser umfassend zu informieren – hierzu bedarf es stets grundsätzlicher und kompetenter Recherchen (vgl. fast wörtlich Diekmann 2005: 61f.). Diese Verpflichtung auf allgemeinverständliche, anschlussfähige Informationen, wird noch dadurch ergänzt, wie Strunz betont, dass es in dieser Zeitung v.a. kurze Texte, die schnell gelesen werden können, geben soll. Dies bedeutet keine Qualitätseinbuße, sondern ist gerade Ausdruck von journalistischer Qualität und Kompetenz: »Wir bringen die Dinge auf den Punkt – dazu muss man verdammt viel wissen. Es ist eine große Herausforderung, eine dreistündige Bundestagsdebatte mit zu erleben und in 15 Zeilen zusammenzufassen. Denn um

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diese 15 Zeilen herauszudestillieren, muss man von der Sache, um die es geht, mehr verstehen als einer, der darüber 300 Zeilen schreiben kann. Der muss nämlich oft gar nicht entscheiden, was denn nun das Wichtigste ist« (ebd.: 238). Ausgehend von dieser Feststellung ist es nicht verwunderlich, dass Strunz das schlechte Image des Boulevardjournalimus zurückweist, weil man durch ihn ganz nah an die wirklichen Bedürfnisse seiner Leser herankommt und dadurch auch positiven Einfluss auf die Veränderung der (Alltags-)Welt nehmen kann. Kai Diekmann (2005: 59) beschreibt in einer fast an Marx erinnernden Rhetorik, dass Bild gerade deshalb so nah an ihre Leser herankommt, weil sie auf Fühlung mit dem Volksgeist geht und so als Seismograph der Leid-Erfahrungen und Bedürfnisse ihrer Leser gelten kann. Enzensberger (1991) nimmt sich in seinem 1983 erschienenen Essay Der Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit der Analyse der erfolgreichsten (Boulevard-)Zeitung Deutschlands, der Bild, an. Er beginnt seine Überlegungen mit einem kurzen Exkurs zum Thema Pressefreiheit und Zensur, indem er einige Tagebucheinträge des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard aus dem Jahr 1848 diskutiert. Hierbei sind zwei Aspekte von zentraler Bedeutung: einerseits Kierkegaards Hinweis auf die Schattenseiten der Pressefreiheit und andererseits seine These, dass das Publikum eine nicht zu unterschätzende Verantwortung hinsichtlich der jeweilig vorherrschenden Medienrealität trägt und somit nicht nur einzelne Journalisten, Presseunternehmen oder das journalistische System insgesamt zu kritisieren ist, sondern wesentlich auch das Publikum. Dieser Aspekt kommt im Feld der Medienkritik häufig zu kurz, weil primär zur Autonomie des Rezipienten beigetragen bzw. dessen Eigensinnigkeit als konstitutiver Faktor seines Medienkonsums bewiesen werden soll.33 Ausgehend von diesen Überlegungen weist Enzensberger darauf hin, dass Medienkritik sich an der Bild zumeist die Zähne ausbeißt, weil es an ihrem populistischen und mitunter manipulativen Stil nichts zu enthüllen bzw. aufzuklären gibt und die Leser der Bild genau wissen, worauf sie sich einlassen und sich für genau diese Art von Journalismus bewusst entscheiden. Dies ist ein Hauptgrund, so Enzensberger, um die »Ohnmacht der Kritik« (ebd.: 83) bzw. ihr Gegenstandsloswerden im ideologiekritischen und aufklärerischen Sinne zu konstatieren. Verantwortlich hierfür ist, wie Enzensberger betont, dass der eigentliche Inhalt der Bild ihre Inhaltslosigkeit bzw. »die immerglei33 In der Auseinandersetzung mit den Paparazzi wird dieser Aspekt häufiger in den Vordergrund gestellt (vgl. Rössler/Meckel 2003). Populär ist in diesem Kontext die Formulierung »Der Paparazzo, das sind wir« des französischen Medienphilosophen Paul Virilio (1997b) geworden, die er in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 1997, hinsichtlich des Todes von Lady Diana, äußerte. Die Verantwortung des Publikums besteht hierbei in dessen voyeuristischem Verlangen nach dieser Art von Sensationsjournalismus bzw. Enthüllungsphotographie, bei der u.a. fast immer Persönlichkeitsrechte verletzt werden, für die es aber einen großen Markt und eine entsprechende Nachfrage gibt.

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che Nichtigkeit« ist, die er als Ausdruck für »die strukturelle Ähnlichkeit aller journalistischen Medien« (ebd.: 88) bezeichnet. Insofern besitzt das Medium Bild keine mobilisierende Wirkung, d.h. sie initiiert keine sozialen oder politischen Bewegungen und ist auch keine Plattform zur Kommunikation politischer Inhalte, weil sie eine Nivellierung von Inhalten und eine Narkotisierung ihrer Leser betreibt, d.h. alle Inhalte und alle Leser sind vor der Bild gleichwertig, entscheidend ist nur, dass es die Bild täglich gibt und dass es in der Bild das unerwartbar erwartbare Nichtige gibt, also die Produktion von »Nullereignissen« (ebd.: 87) sich alltäglich wiederholt. Implizit deutet Enzensberger durchaus zu Recht an, dass sich Medienkritik immer auch ihrer Zeit und ihren Medien insofern anpassen muss, als sie veränderte Medienwirklichkeit in ihrer Eigensinnigkeit nicht an Hand von Maßstäben beurteilen kann, die aus anderen historischen und medialen Kontexten stammen. Eine Kritik an der Bild, aus der Perspektive eines idealtypischen Verständnisses der Trias von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung und Presse, wie ich sie zuvor diskutiert habe, würde Enzensberger daher für verfehlt halten.34 Es geht ihm somit um die Ausarbeitung neuer Sprachen der Kritik.35 Gegenöffentlichkeit

Letztlich erfordern die in dieser Einführung skizzierten Positionen einerseits eine Debatte um den Faktor Qualität36 und andererseits um die Möglichkeiten sowie Funktionen von Gegenöffentlichkeiten.37 Eine ex34 Eine Formulierung von Schnibben (1996: 49), die er ohne Bezug auf Bild und Enzensberger geäußert hat, lautet: »Focus als Blatt ist kein Problem, Focus als System ist die Pest.« Diese Formulierung könnte auf eine implizit medienkritische Ebene der Überlegung von Enzensberger verweisen, die wie folgt ausgedrückt werden könnte: »Bild als Zeitung ist kein Problem bzw. kann keines sein, Bild als System bedeutet das Ende eines kritisch-emanzipatorischen Journalismus.« Die Bild-Zeitung als Publikation ist, so könnte man diese Formulierung interpretieren, kritikresistent und wird durch jede Kritik eher noch gestärkt. Die Bild-Zeitung als vorbildliches System für einen neuen Journalismus würde jedes normative Verständnis von Journalismus und der pressemedialen Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung als gegenstandslos erklären und als sozial dysfunktional erklären. 35 Vgl. hinsichtlich möglicher Ansatzpunkte einer diskursanalytischen Kritik an Bild aktuell Schultheis 2005. 36 Vgl. zum Thema Journalismus und Qualität u.a. Russ-Mohl (1997a); Bucher/ Altmeppen (2003); Deutscher Presserat (2003); message (1/2004 – u.a. mit dem Schwerpunkt: EU-Journalismus. »Wir haben ein Qualitätsproblem«); Fasel (2005); Vorgänge (2005). 37 Oy (2005: 49) fasst die Interdependenz zwischen Medienkritik, Qualitätsdebatte und Gegenöffentlichkeit wie folgt zusammen: »Die Krise der Qualitätsmedien ist auch eine Krise der Kritik an Medien und Öffentlichkeit, wie sie über Jahrzehnte durch die Medienprodukte der Neuen Sozialen Bewegungen vertreten wurde. Der Sammelbegriff Gegenöffentlichkeit bedeutete einmal, die Kritik praktisch werden zu lassen und den medialen Produkten eigene Gegenprodukte entgegenzusetzen, wie das Oskar Negt und Alexander Kluge formulierten [...]. Nischen der Aufklärung, die es auch innerhalb der Massenmedien immer gab,

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plizite Auseinandersetzung mit der Qualitätsdebatte kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass diese Debatte nicht mehr makrotheoretisch geführt werden kann, d.h. durch die Formulierung idealtypischer sowie vermeintlich allgemeinverbindlicher Maßstäbe über das, was qualitativ hochwertigen und schlechten Journalismus auszeichnet, um dann ausgehend hiervon, Verfallsprozesse der journalistischen Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung zu beschreiben. Vielmehr ist die Frage nach der Qualität des Journalismus sowie von Medien im Allgemeinen nur noch mikrotheoretisch zu beantworten, d.h. genrespezifisch38 – auch wenn es auf dieser Ebene wiederum keinen allgemeinverbindlichen Konsens über journalistische Produktionsverfahren geben wird. So kann der Boulevardjournalismus, ebenso wie der seriöse Journalismus, nur nach systemspezifischen Kriterien beurteilt werden, weil beide Felder journalistischer Produktion nach unterschiedlichen Rationalitäten bzw. Diskurslogiken funktionieren, sieht man einmal von deren Profitorientierung ab. Allerdings darf die Qualitätsdebatte nicht auf eine Diskussion über Reichweitenzahlen und Auflagenhöhen reduziert werden, sondern muss stets von der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Journalismus ausgehen. Für Fasel (2005: 9f.) folgt aus dieser Überlegung: »Wer allein der ökonomischen Sicht folgt, sich nur auf Leserwünsche einstellt und Journalismus auf eine Dienstleistung am Konsumenten verkürzt, der verliert sein journalistisches Profil ebenso wie die Programmmacher, die ihr Produkt nur auf Quoten ausrichten. Dies gilt für Fernsehformate wie auch für Printprodukte, sobald sie den Windkanal der Marktforschung verlassen. Viele Formate und Titel aus Medienkonzernen belegen diese Beobachtung: Sie erzielen zwar als Anzeigenträger selbst in Zeiten der Werbeträgerkrise gute Umsätze, doch verlieren sie dabei für den Journalismus konstitutive Funktionen, zu deren wichtigsten Glaubwürdigkeit gehört. Aber auch umgekehrt sind journalistische Medien zum Scheitern verurteilt, wenn sie sich selbst zum Maßstab nehmen und das Publikum mit seinen Wünschen nach Orientierung missachten [...].« sind keineswegs von selbst entstanden, sondern mussten durch eben diese praktische Medienkritik erkämpft werden – eine etwas andere Qualitätssicherung [Hervorhebung im Original – MSK].« 38 Die Verwendung des Begriffs Genre soll darauf verweisen, dass keine Erscheinungsform des Journalismus ein gleich bleibendes Produkt ist, sondern ein sich kontinuierlich veränderndes Gebilde. Zudem wird durch den Genrebegriff auf die notwendig fiktionalen, also Wirklichkeit nicht repräsentierenden Produktionsbedingungen jeder Form des Journalismus hingewiesen, d.h. u.a. auf die journalistischen Konstruktionen, Selektion und Inszenierungen von Wirklichkeit. Dies bedeutet, dass Medienproduktionen und Medienrezeptionen stets in selektiven und heterogenen Rahmen bzw. Rahmungen vollzogen werden, durch die sie allererst geformt und gestaltet sowie kommuniziert und mit Sinn und Bedeutung versehen werden können. Vom Journalismus reine Fakten- bzw. Informationsvermittlung zu verlangen, ist aus dieser Perspektive unmöglich. Vielmehr könnte der Journalismus, gerade auf Grund der Vermischung von Fakten und Fiktionen, zur Selbstverständigung der Gesellschaft beitragen (vgl. Klaus/Lünenborg 2002: 104f., 112).

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Die Qualitätsdebatte muss dennoch ein konstitutiver Teilbereich im Feld der Öffentlichkeitsdiskurse gesellschaftskritischer Medientheorien bleiben, denn ausgehend von ihr kann eine eigenlogische Auseinandersetzung über Inhalt und Form der jeweiligen Produkte geführt werden, aus denen sich Ansatzpunkte zur Kritik ergeben, die keinen Kanon der (ahistorisch gültigen) Gebote, also statische Kritikmaßstäbe darstellen, sondern sich immer wieder von neuem vor den jeweils historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und diskursiven Wirklichkeiten des zu analysierenden Gegenstandes konstituieren. Hiermit wird nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Kritikmaßstäbe auch historische Grenzen überschreiten und in unterschiedlichen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexten (potentiell) von Bedeutung sein können. Weiterhin muss die Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung geführt werden, weil hierbei die Veränderbarkeit bzw. Gestaltbarkeit der Gesellschaft zur Disposition steht. Gesellschaftskritischen Medientheorien geht es in diesem Kontext wesentlich darum, alternative Modelle von (Gegen-)Öffentlichkeiten39 zu diskutieren. Negt und Kluge (1972) haben in ihrer Studie Öffentlichkeit und Erfahrung aus dem Jahr 1972 eine marxistische Öffentlichkeitstheorie entworfen, die Öffentlichkeit als Organisationsform kollektiver gesellschaftlicher Erfahrung versteht. Den für sie in diesem Kontext entscheidenden Begriff der proletarischen Öffentlichkeit verstehen Negt und Kluge als historischen Gegenbegriff zur bürgerlichen Öffentlichkeit, der konstitutiv verschiedene Erfahrungsinteressen besitzt, gleichwohl aber als dominantes Öffentlichkeitsverständnis erscheint. Ihre Studie ist insofern auch eine grundlegende Kritik an der von Habermas idealtypisch rekonstruierten Kategorie bürgerlicher Öffentlichkeit. Beim Begriff der proletarischen Öffentlichkeit handelt es sich »nicht um eine Variante der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern um eine in der Geschichte angelegte, aber nicht unter der Bezeichnung Öffentlichkeit verstandene, völlig andere Auffassung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs« (ebd.: 8). Weiterhin ist das Erkenntnisinteresse von Negt und Kluge zu fragen, ob es neben der bürgerlichen Öffentlichkeit noch sozial wirksame Modelle von Gegenöffentlichkeit gibt bzw., welche durch die Dominanz der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht als Öffentlichkeiten und spezifische (kollektive) Erfahrungsweisen zum Vorschein treten können, d.h. gesellschaftlich (und medial) wahrnehmbar werden. Hierdurch soll der »Fetischcharakter der Öffentlichkeit« (ebd.), der aus der Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit entstanden ist, relativiert, problematisiert und sichtbar gemacht werden. Die kollektive gesellschaftliche Erfahrung, die sich in der Kategorie der proletarischen Öffentlichkeit artikuliert und die Erfahrung der 39 Vgl. zur Kritik am Konzept der Gegenöffentlichkeit und zum Entwurf alternativer Kritik- sowie Öffentlichkeitsmodelle u.a. Weichler (1987), Stamm (1988a), Hirsch (2002), Negri/Hardt (2004), Speher (2001) und Oy (2001).

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Mehrheit der Bevölkerung darstellt, wird durch die Dominanz der Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit in ihrer öffentlichen Darstellung bzw. Thematisierung sowie an der umfassenden Entfaltung behindert. Negt und Kluge schreiben der bürgerlichen Öffentlichkeit grundsätzlich, und nicht nur, wie Habermas, wesentlich erst unter den Bedingungen der Re-Feudalisierung, repressive Züge zu: »Auf diesem Widerspruch, dass bürgerliche Öffentlichkeit substantielle Lebensinteressen ausgrenzt, gleichwohl aber das Ganze zu repräsentieren beansprucht, basiert die charakteristische Schwäche nahezu aller Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit« (ebd.: 11). Die bürgerliche Öffentlichkeit kann somit nicht als legitime »Kristallisationsform« (ebd.: 13) gesamtgesellschaftlicher Öffentlichkeit und Erfahrung bezeichnet werden, sie stellt vielmehr die »Kumulation nur abstrakt aufeinander bezogener Einzelöffentlichkeiten [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.) dar. Negt und Kluge geht es daher in ihrer Studie darum, zu den wirklichen Erfahrungen, Organisationsformen und Lebensinteressen der Menschen vorzudringen und sich hierbei nicht auf Idealtypen zu fokussieren. Die ureigensten Lebenserfahrungen und Lebenszusammenhänge müssen, so Negt und Kluge, in einer ihnen entsprechenden Form und Öffentlichkeit, der proletarischen, organisiert und analysiert werden.40 Die proletarische Öffentlichkeit kann zudem niemals, wie die Autoren betonen, von der bürgerlichen umfassend vereinnahmt sowie beseitigt werden, »[s]olange das Kapital auf die Wertquelle der lebendigen Arbeit angewiesen ist [...]. Dieser Zustand bezeichnet die Anfangsphase der Herausbildung von proletarischer Öffentlichkeit [...]« (ebd.: 107). Proletarische (Gegen-)Öffentlichkeit darf sich daher nicht als den Normen und Werten der Aufklärung, wie es für die Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit kennzeichnend ist, verpflichtet sehen, weil sie sich so nicht in ihren ureigensten Lebensinteressen und Lebenszusammenhängen darstellen kann. Vielmehr muss die proletarische Gegenöffentlichkeit eigensinnige Ideen, Produkte und Aktionen entwerfen, die ihre Erfahrungen und ihr Denken artikulieren, und die öffentlich mit denen der bürgerlichen Scheinöffentlichkeit in Konkurrenz bzw. Widerstreit treten müssen.41 40 Für die Organisationsform der Erfahrungen dieser Klasse gibt es keine Öffentlichkeit, sie wird in Gegenöffentlichkeiten abgedrängt. Besonders die Medien, v.a. das Fernsehen, verhindern die öffentliche Entfaltung eines klassenspezifischen Bewusstseins. In Anbetracht zunehmender Privatisierung und Kommerzialisierung der Medien sowie der Macht transnationaler Konzerne und der nicht vorhandenen Räume zur alternativen Medienproduktion und -nutzung, die gesellschaftlich wirksam werden und nicht nur ein toleriertes Nischendasein fristen müssen, wird die Ausbildung proletarischer sowie kritischer Öffentlichkeiten, so Negt und Kluge, immer unwahrscheinlicher. 41 Gemeinsam ist der Rekonstruktion bürgerlicher Öffentlichkeit von Habermas und der Auseinandersetzung mit der proletarischen Öffentlichkeit durch Negt und Kluge die Auffassung, dass im Medium der Öffentlichkeit als Organisations-

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Eine, der proletarischen Gegenöffentlichkeit angemessene Form der Mediennutzung, wäre die Aktivierung des »Produktivitätspotenzial[s] des Bewusstseins«, die aber nicht durch »kapitalistisch[e] Effizienzkriterien« (ebd.: 246) bestimmt sein darf. Hiermit könnte man sich den Standardisierungen sowie außengeleiteten (v.a. medialen) Organisationen von Erfahrungen, Lebensinteressen, Öffentlichkeit und Individualität entziehen und dadurch die Medien als autonome Artikulationsinstanzen proletarischer Öffentlichkeit genutzt werden. Dies würde letztlich auf eine, zumindest in Nischen mögliche, Entfremdung alltäglicher (hegemonialer) Medienproduktionen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zur alternativen Mediennutzung hinauslaufen. Die Verwirklichung dieser Forderung nach Partizipationschancen, Selbstbestimmung und Räumen für alternative (gegenöffentliche) Medienproduktionen und -nutzungen sind, unter den gegebenen (medialen und gesellschaftlichen) Verhältnissen in den 1970er Jahren, aus der Perspektive von Negt und Kluge zunächst noch Zukunftsmusik. Prokop (1974c) arbeitet in einem Aufsatz aus dem Jahr 1974 Chancen spontaner Gegenöffentlichkeit aus, die er als medienpolitische Alternativen versteht. Spontane Gegenöffentlichkeiten unterscheidet Prokop einerseits von »parteipolitischen Gruppierungen und Verfestigungen« und andererseits von »Parteien-, Verbands- und Produktionsöffentlichkeiten« – bei letzterem hat er v.a. die öffentlich-rechtlichen Anstalten und die kulturindustriellen Großkonzerne im Blick (ebd.: 153). Als, so Prokop (ebd.: 157), reale emanzipative Bewegungen, wie z.B. die »Redaktionsstatuten-Bewegungen, Teil[e] der journalistischen Kritik, Vereinigungen zur Sicherung und Förderung künstlerischer Gestaltungsfreiheit, politisch[e] Filmemache[r], Publikumsinitiativen, Basisgruppen, etc.«, werden sie konstitutiv von einem Interesse »an lebendiger Produktion« geleitet sowie »nach freier Artikulation und Verarbeitung von Ereignissen, Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen«. Mit diesem Ansatz versuchen sie ein Gegengewicht zu allen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen (vgl. Prokop 1974c: 154) zu setzen, die die gesellschaftliche Legitimation und/oder bürokratische Verwaltung kultureller und medienkultureller Produkte sowie Produktionen regulieren, d.h. die »freie Organisation des gesellschaftlich vorhandenen Produktionspotentials« (ebd.: 158) administrativ maßregeln. Nur durch eine permanente (diskursive) Arbeit an bzw. einem fortwährenden (produktiven) Einspruch gegen diese Organisationen und Institutionen, können spontane Gegenöffentlichkeiten Nachhaltigkeit und soziale Wirksamkeit erzielen. Prokop konstatiert in diesem Kontext, dass zum einen nur ein marginales gesellschaftliches Interesse an spontanen Gegenöffentlichkeiten existiert und die Entstehung dieser in hochgradig bürokratisierten Gesellform gesellschaftlicher und individueller Erfahrung, Gesellschaft durch ihre Gesellschaftsmitglieder (Bürger) substantiell verändert werden kann.

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schaften stark eingeschränkt ist. Für Prokop ist aber dennoch ein Interesse »an freier, ungehinderter und vernünftiger Produktion« (ebd.) strukturell vorhanden. Die Kooperation von qualifizierten Künstlern, Journalisten, Publikumsgruppen und Publikumsinitiativen dient, so Prokop, der Sicherung des Kreativpotentials spontaner Gegenöffentlichkeiten (vgl. auch ebd.: 168). Das Zusammenwirken dieser Gruppen kann ermöglichen, dass spontane, gegenöffentliche Medienkritiken und Medienproduktionen, die Alternativen zum status quo darstellen wollen, nicht aber mit dem Pathos des richtigen Bewusstseins auftreten, konkrete Veränderungen bewirken können (vgl. ebd.: 159). Die Aufgabe der Medienpolitik einer demokratischen Gesellschaft, die zur realen Erweiterung sozialer Demokratie beitragen will, besteht in diesem Kontext, so Prokop, darin, soziale und strukturelle Absicherungen anzubieten sowie Handlungsräume zu ermöglichen, »in denen die ungehinderte Arbeit am Objekt vonstatten gehen kann« (ebd.: 160) und die eigensinnigen Erfahrungen, Lebenszusammenhänge usw. spontaner Gegenöffentlichkeiten umfassend zum Ausdruck gebracht werden können. »Parteien-, Verbands- und Produktionsöffentlichkeiten« können, wie Prokop betont, hinsichtlich der Kommunikation ihrer Themen sowie der Konstruktion von Wirklichkeiten bzw. Produkten mit »Massenloyalität« rechnen, weil sie die vermeintlichen Publikumsinteressen durch administrativ-kategoriale Gesichtspunkte (Arbeitgeber, Jugendlicher, Rentner, Musiker, Bürger, Proletarier usw.) zusammenfassen und deren vermeintliche Bedürfnisse in generalisierten Formen, unterschiedlichen Programmstrukturen bzw. Produktionen (Hochkultur-/Unterhaltungskultur, Politik, Sport, Boulevard etc.) befriedigen. Zudem vermitteln diese Vorgaben aus der Perspektive von Prokop, Orientierungen und Stabilisierungen, die vom Publikum bereitwillig ergriffen werden, weil sie unmittelbar anschlussfähig sind, Handlungsentlastungen und »psychische Stabilisierungen« anbieten (ebd.: 166). Allerdings ist dies für Prokop eine regressive Form der Standardisierung von Wirklichkeit sowie Instrumentalisierung von Menschen. Spontane Gegenöffentlichkeiten setzen hingegen auf situations-, themen- und publikumsbezogene Produktionen, die nicht von feststehenden Kategorien determiniert werden, sondern sich auf das jeweils Spezifische dieser Ebenen einlassen und diese zum Ausdruck bringen. Die Initiierung von (gegenöffentlichen) Netzwerken zwischen Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten, Publikumsgruppen usw. ist der Ausgangspunkt, um eine umfassende Institutionalisierung von Medienkritik (vgl. Kap. 3.3), die als unabhängiges Gegenfeuer zu den gesellschaftlich herrschenden Institutionen zu verstehen ist, vorzubereiten. Für Prokop (ebd.: 174) geht es hierbei um die »Schaffung von Institutionen [...], die die realen, spontanen Interessen und Bedürfnisse auch der lohnabhängigen Produzenten spezifisch zu organisieren« wissen, d.h. »Organisationsformen, die sich inhaltlich auf die Bedürfnisse und Interessen der Produ-

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KAPITEL 2

zenten wie auch der industriell verfestigten Formen der Kulturproduktion: Unterhaltung, Nachrichtenverarbeitung, Sport, Politik, Sex, Kultur etc., einlassen und hierzu inhaltliche Alternativen qualitativ erarbeiten, was zugleich Auseinandersetzungen auf der organisatorischen Ebene voraussetzt – in diesen aber nicht aufgeht [Hervorhebung im Original – MSK]«. Hinzu kommt noch das spezifisch emanzipatorische Anliegen, »die Institutionen, die die Tauschabstraktion auf den Massenmärkten, im sozialen und politischen Leben verkörpern, in ihrem Fetischcharakter für die Massen durchschaubar zu machen und hierzu – zu jeder Institution spezifisch – Alternativen zu entwickeln« (ebd.: 175). Können diese Aspekte verwirklicht werden, zeigt sich, dass die Spontaneität der Gegenöffentlichkeiten als Kreativpotential und Produktivkraft nicht nur eine idealtypische Erwartungshaltung bzw. ein diskursives Kampfmittel ist. Die soziale Funktion des Journalismus

Alle in diesem Kapitel diskutierten Vertreter gesellschaftskritischer Medientheorien, d.h. Marx, Schäffle, Tönnies, Lippmann, Bücher, Park, Brinkmann, Schelsky, Habermas, Glotz/Langenbucher, Negt/Kluge, Enzensberger, Prokop und Chomsky, verwenden in ihren Texten keinen expliziten Medien- und Kritikbegriff.42 Beide Begriffe haben dennoch in allen Texten eine zentrale Bedeutung und werden durch semantische Felder umschrieben. Hierbei handelt es sich einerseits um Zuschreibungen, was Medien, wie z.B. die Presse, und was (Medien-)Kritik, etwa als Journalismuskritik, leisten sollen, wo die Grenzen der jeweilig diskutierten Medien sowie der entsprechenden medienspezifischen Medienkritik liegen. Auffallend sind hierbei unterschiedliche Auffassungen über die gesellschaftliche Funktion des Journalismus und von Journalistenrollen, wobei zwölf Zuschreibungen im Vordergrund stehen: Vermittlung, Moderation, Anwaltschaft, d.h. das Eintreten bzw. Vertreten der ureigensten Interessen des Publikums (der Bürger), Ermöglichung der freiheitlichen Selbstverständigung der Gesellschaft, Aufklärung, Kritik, Kontrolle, Erziehung, Dienstbote, Interessenvertreter bzw. Lohnarbeiter von Wirtschaft, Politik sowie anderen gesellschaftlichen Machteliten, Meinungsbildner und Ideologe/Propagandist. Mit diesen Beschreibungen sind zwei idealtypische Publikumsbilder bzw. Rezeptionsweisen konstitutiv verbunden: Zum einen werden dem Rezipienten durch einen Qualitätsjournalismus autonome Meinungs- und Willensbildungsprozesse bzw. die freiheitliche Konstitution öffentlicher Meinungen ermöglicht. Durch die Rezeption werden die Leser (im besten Fall) zum Ausgang aus der Unmündigkeit befähigt und sind somit vor Versuchen der Manipulation von 42 Negt und Kluge (1972) versuchen allerdings, die spezifische Medialität der von ihnen thematisierten Medien durch eine Diskussion von deren Sinnlichkeiten, die die Wahrnehmung der Mediennutzer konstitutiv beeinflussen, zu bestimmen.

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Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung sowie vor medial lancierter Propaganda geschützt – also letztlich vor allen Formen des Medienmissbrauchs. Andererseits wird von einem eigensinnigen bzw. autonomen Publikum ausgegangen, das sich Presseprodukte stets selbstbestimmt aneignet und ihnen, auf Grund der Einbettung in ihre Lebenskontexte, Sinn- und Bedeutungsdimensionen gibt, die von Seiten der Medienproduzenten nicht kontrolliert werden können. Gemeinsam ist diesen beiden Positionen, dass die freie Presse als Grundvoraussetzung einer demokratischen Gesellschaft angesehen, also die These aufgestellt wird, dass es ohne Pressefreiheit keine Demokratie gebe. Aus diesen Einschätzungen resultieren, jeweils mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, Positionsbestimmungen zur Aufgabe der Medienkritik und des Medienkritikers: Medienkritik soll die gesellschaftliche sowie mediale Konstruktion von Wirklichkeit umfassend und so objektiv wie möglich beschreiben, also vermitteln, auf der Grundlage von transparenten Maßstäben, die sich jeder ideologischen Positionierung verweigern, kritisieren bzw. kontrollieren und somit ein unabhängiges Gegengewicht zu den gesellschaftlichen Macht-, Wissens- und Informationseliten darstellen, um hierdurch aufzuzeigen, wie mediale und soziale Wirklichkeit idealtypisch sowie konkret verändert werden könnten. Hierbei geht es nicht darum, einen anvisierten besseren bzw. Idealzustand zu erreichen, sondern immer wieder von neuem die Problematisierung von Wirklichkeit in ihrem status quo voranzutreiben. Es können in diesem Kontext zwar herausragende Arbeiten entstehen, die zu einem festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses gesellschaftskritischer Medientheorien gehören, an denen man sich permanent abarbeiten kann, die aber dennoch nicht als Kanon der Gebote verstanden werden dürfen. Andererseits herrscht bei allen dokumentierten Positionen Einigkeit über die Definition der Grundaufgaben des Journalismus.43

43 Bis auf wenige Ausführungen zur Notwendigkeit eines journalistischen Ethos, dass das journalistische Handeln bestimmen und sich nach allgemeinverbindlichen Maßstäben, die nicht nur rein journalistische sein sollten, zu richten hat, wird keine intensive Auseinandersetzung mit den Themen innere Pressefreiheit, Selbstkontrolle im Journalismus sowie den Bedingungen der Möglichkeit des Leitprinzips Unabhängigkeit, geführt.

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2.2.2

KAPITEL 2

Information und Kritik. 44 Die taz-Medienseite flimmern und rauschen

Dem Journalismus kommt, wie im vorausgehenden Kapitel gezeigt wurde, eine zentrale Funktion in modernen Gesellschaften zu. In den vergangenen Jahren45 ist, neben den im vorausgehenden Kapitel hervorgehobenen sozialen Funktion, ein weiteres Bedeutungsfeld des Journalismus in den Fokus nicht nur der akademischen Aufmerksamkeit getreten: der Medienjournalismus, also die Berichterstattung von Medien über Medien. Dieser bietet eine konstitutive Möglichkeit zur medialen Selbstreflexion, da er »sich zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend mit dem Mediensystem und damit mit sich selbst beschäftigt« (RussMohl 1997b: 194). Der Medienjournalismus könnte ein zentrales Instrument der Medienselbstkontrolle und Medienkritik darstellen. Als Bindestrich-Journalismus, der sich mit den Medien oder mit den die Medien betreffenden Sachverhalten, Ereignissen, Entwicklungen usw. beschäftigt, wendet er sich sowohl an ein Fachpublikum als auch an ein NichtFachpublikum und findet dabei hauptsächlich in der Presse statt. Die, im vorausgehenden Kapitel für den Journalismus im Allgemeinen getroffene Unterscheidung zwischen Information und Kritik, findet sich auch im Feld des Medienjournalismus wieder: einerseits werden Programminformationsangebote als Serviceleistung für das Publikum bereit gestellt (Orientierungsfunktion des Medienjournalismus), andererseits eine Plattform geschaffen, um Kritik an Medienangeboten, Medienentwicklungen und/oder Medienpersönlichkeiten üben zu können sowie eine gegenseitige Beobachtung der jeweiligen Medienleistungen zu ermöglichen (Kontrollfunktion des Medienjournalismus). Hierbei überwiegen allerdings eindeutig die programmbezogene Berichterstattung und der Programmservice, die lediglich ein Potenzial zur Publikumssteuerung und einen Schwund an medienkritischem Potenzial aufweisen. Krüger und Müller-Sachse (1999: 132) fordern daher »einen medienkritischen Ansatz, der weiter greifen muss als eine partielle Kritik einzelner Medien oder Medienangebote«, denn Medienjournalismus ist für sie die »unabdingbare Voraussetzung für den Bestand einer im weiteren Sinne medienkritischen und medienpolitischen Öffentlichkeit« (ebd.: 115). Der Medienjournalismus könnte für die Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft sowie als Grundlage autonomer Meinungsbildungsprozesse im Umgang mit den Medien besonders relevant sein, weil durch ihn das Mediensystem, das den öffentlichen Diskurs prägt, und seine 44 Dieses Kapitel stellt eine ergänzte und modifizierte Version des Aufsatzes Information und Kritik. Anspruch und Realität des Medienjournalismus am Beispiel der taz-Medienseite flimmern und rauschen dar, den der Verfasser zusammen mit Jörg-Uwe Nieland geschrieben hat (vgl. Kleiner/Nieland 2005c). 45 Vgl. u.a. Kreitling (1997); Elitz (1997); Krüger/Müller-Sachse (1999); Choi (1999); Russ-Mohl (1999); Russ-Mohl/Fengler (2000); Fengler (2001).

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Funktionsweisen für den Mediennutzer transparenter werden und ihm dadurch mehr Medienkompetenz vermittelt wird. Dies kann als ein entscheidender Beitrag zur Qualitätssicherung im Journalismus betrachtet werden, weil das Publikum durch die Vermittlungs- und Aufklärungsinstanz in Form des Medienjournalismus eine Chance hat, eigene Qualitätskriterien auszubilden. Andererseits muss darauf hingewiesen werden, dass Medienjournalismus im Journalismus auch strategisch, also zur Selbstbehauptung auf dem Markt der Aufmerksamkeit der Journalisten sowie zur Imagepflege eines Mediums eingesetzt werden kann. Defizite und Potenziale des deutschen Medienjournalismus

Auf den ersten Blick lässt sich ein positives Bild des deutschen Medienjournalismus zeichnen: Die gesellschaftliche Diskussion über bestimmte Formate wird umfangreich dokumentiert und vorangetrieben46, die Aufdeckung und Aufarbeitung von Skandalen entspricht hohen Anforderungen47, in der überwiegenden Anzahl von Fällen gelingt die Abwehr von Instrumentalisierungsbemühungen der politischen PR48 und auch die Selbstkritik bei journalistischen Verfehlungen, insbesondere bei der Kriegsberichterstattung, ist vorhanden.49 Hinzu tritt in Deutschland eine im internationalen Vergleich herausragende Vielfalt an Medienanbietern und Medienprodukten sowie eine zensurfreie Berichterstattung. Diese positive Zustandsbeschreibung verleitet leicht zur Kurzsichtigkeit: Es kann ein Abschmelzen der Fundstellen und Räume für einen engagierten Medienjournalismus verzeichnet werden. Dies v.a. angesichts 46 Neben der anlassbezogenen Debatte um Gewalt und Medien, etwa im Zusammenhang mit dem Massaker an dem Erfurter Gutenberg Gymnasium im Frühjahr 2002, werden regelmäßig Programminnovationen, in jüngster Zeit etwa Big Brother, Jackass, Fear Faktor, kritisiert. Foren der Medienkritik sind neben den Medienseiten der Tages- und Wochenpresse, den wissenschaftlichen Fachzeitschriften, den medienkulturellen und -pädagogischen Zeitschriften, den Trade Papers wie Variety oder Kress-Report, der Programmpresse sowie den Fachorganen und der Verbandspresse (vgl. zu dieser Auflistung Hachmeister 1993: 26ff.) inzwischen auch die Publikationen und Tagungen der Landesmedienanstalten, wissenschaftlicher und verbandlicher Institute, v.a. zur Jugendforschung, sowie der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen und der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich. 47 Traditionell sind es in Deutschland die Printmedien, in denen die politischen Skandale aufgedeckt werden; erinnert sei an die Barschel-Affäre und die CDUSpendenaffäre. 48 So wehrten sich die Bundespressekonferenz, die Journalistenvereinigungen und nahezu alle Tageszeitungen gegen die Nichtberücksichtigung von BildJournalisten auf Kanzlerreisen. 49 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Veranstaltungen und Publikationen der Initiativen Netzwerk Recherche e.V. und Initiative Nachrichtenaufklärung (vgl. http://www.netzwerkrecherche.de/ http://www.nachrichtenaufklae rung.de) und die Aktivitäten des Presserates sowie die Debatte in den verschiedenen Fachzeitschriften, wie z.B. in message. Internationale Fachzeitschrift für Journalismus) (vgl. Kap. 3.3.).

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KAPITEL 2

des Rückgangs der Vielfalt der Tages- und Wochenpresse, sowohl in Bezug auf die Zahl der publizistischen Einheiten (vgl. Schütz 1997: 663) als auch bezogen auf die Rubriken und den Umfang der Blätter sowie der sinkenden Leserschaft (vgl. aktuell Röper 2004). Von diesem Rückgang betroffen sind, nach einem Boom ab Mitte der 1990er Jahre (vgl. Kreitling 1997; Hickethier 1994a), auch die Medienseiten: Zwar wurde dieser Service aufrechterhalten, aber zunehmend stammen die Berichte von Agenturen oder von freien Mitarbeitern. Der Einbruch des Anzeigengeschäfts hat die Strukturkrise auf dem deutschen Tages- und Wochenpressemarkt verstärkt. Innovationen und Investitionen bleiben seit Jahren aus und zahlreiche medienpolitische (und medienwirtschaftliche) Fragen, wie z.B. die kartellrechtliche Behandlung der angemeldeten Fusionen auf dem Berliner Zeitungsmarkt oder die Beteilung der SPD-Medienholding an der Frankfurt Rundschau, sind derzeit nicht geklärt. Gerade dieser Zustand erfordert eine kritische und umfassende Medienberichterstattung. Bereits Ende der 1980er Jahre hat Jarren (1988: 91) auf die Veränderungen des bundesdeutschen Mediensystems hingewiesen und sah ein altes Thema wieder aktuell werden: Wie wird über die Medien von den Medien selbst berichtet? Schon damals galt, dass Medienpolitik auch Wirtschaftspolitik ist, und mit Wirtschaftspolitik sind die Medienunternehmen zwangsläufig, direkt oder indirekt, befasst. Vor diesem Hintergrund erklärte sich die Prognose von Jarren, wonach der sich verschärfende Wettbewerb und die ausgeprägten Eigeninteressen entscheidende Motoren für eine Intensivierung der Berichterstattung über Medienthemen sein würden (ebd.: 92). Umso erstaunlicher, dass die erwartete Ausweitung der Medienberichterstattung durch den Medienjournalismus zunächst ausblieb. Wie in einer Studie von Jarren und Mitarbeitern50 gezeigt wurde, gab es in der deutschen Presselandschaft kaum regelmäßig erscheinende Medienseiten, es existierten keine klaren Zuständigkeiten bei Medienthemen, oftmals waren diese Themen Chefsache, d.h. dass sich die Chefredakteure bei besonders brisanten medienpolitischen Themen selbst zu Wort meldeten, und zwar im vorderen, also politischen Teil des Blattes. In dieser Zeit war es aber hauptsächlich auf die Initiative und das Interesse einzelner Redakteure zurückzuführen, dass sich die Tageszeitungen eine exponierte Medienberichterstattung leisteten. Gleichwohl ließ sich keine Bevorzugung oder Vernachlässigung bestimmter Programmangebote feststellen. Die differenzierten (Fach-)Informationen und die sachkundige Kritik stammten zumeist aus dem großen Pool an freien Mitarbeiten. Auffällig war, laut der zuvor erwähnten Studie, eine hohe Kritikorientierung in den Zeitungen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der dokumen50 Im Rahmen des dem Beitrag von Jarren zu Grunde liegenden Forschungsprojekts führte Rüdiger Bendlin eine umfangreiche Befragung bei den Tageszeitungen durch.

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tierenden und analysierenden Aspekte (ebd.: 106). Als Gründe für den schwach ausgeprägten Medienjournalismus führt Jarren eine Reihe von Konkurrenzproblemen an: Presse vs. Rundfunk, Tagespresse vs. Illustrierte, Rundfunkthemen in Supplements, interne Konkurrenz. Als zentraler Schwachpunkt wird folgender genannt: »Es mangelt in der Tagespresse also nicht allein an Informationen über Massenmedien und das allgemeine Mediengeschehen, sondern ebenso an einer differenzierten Medienkritik« (ebd.: 111). Knapp zehn Jahre später hatte sich die Situation des Medienjournalismus grundlegend gewandelt: die Medienberichterstattung war zu einem fest verankerten Ressort in der überwiegenden Zahl der Tages- und zumeist auch der Wochenzeitungen aufgestiegen.51 Die Tageszeitungen sahen ab Anfang der 1990er Jahre ihre Aufgabe nicht mehr nur in der Ankündigung und Kritik des Fernsehprogramms, sondern versorgten die Leser verstärkt mit Hintergrundberichten aus der gesamten Medienlandschaft. Somit konnte von einer quantitativen und qualitativen Ausweitung der Medienberichterstattung gesprochen werden (vgl. Kreitling 1997: 123). Dies war darauf zurückzuführen, dass erstens, die Medienpolitik zu einem enorm wichtigen Thema aufgestiegen war; zweitens, dass die Medien mit Milliardenumsätzen zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden waren; und drittens, dass neben der Fernsehberichterstattung, die bis dahin marginalisiert behandelte Berichterstattung über die Presse selbst an Bedeutung gewonnen hatte (ebd.: 124). Zudem verstanden die Mitarbeiter des neuen Ressorts die Medienseiten nicht als die Fortsetzung des Feuilletons mit anderen Mitteln, sondern als ein genuines Feld des Journalismus. Diese neue Einstellung entstand zu dem Zeitpunkt, als die Debatten um den dualen Rundfunk und die bis dahin betriebene Programmbegleitung mit Aspekten der Medienpolitik gekoppelt und damit aufgewertet wurden (ebd.: 127). Hachmeister (1993: 24) sah die »klassischen Organe der Medienkritik« durch die Veränderungen des deutschen Medien- bzw. Fernsehsystems ab 1984 tief getroffen, und erklärte so den Aufstieg der Medienseiten in der Tages- und Wochenpresse. Diese kurze idealtypische (Re-)Konstruktion der Aufgaben, Funktionen und Entwicklungen des Medienjournalismus soll im Folgenden einem reality check unterzogen werden – und zwar in Form einer exemplarischen Auseinandersetzung mit der taz-Medienseite flimmern und rauschen. Das Erkenntnisinteresse wird hierbei von drei Fragen geleitet: Erstens, wie kann der spezifische Anspruch der taz-Medienseite beschrieben werden? Zweitens, gibt es eine Kluft zwischen Selbstwahr51 Besonders traten die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die taz in Erscheinung; bei der Wochenpresse sind Die Zeit, das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, Der Spiegel und Die Woche hervorzuheben (vgl. Hachmeister 1993: 26f.; Hickethier 1994a: 189ff.).

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nehmung und Fremdwahrnehmung von flimmern und rauschen? Drittens, lässt die Auseinandersetzung mit der taz-Medienseite Prognosen für die Zukunft des deutschen Medienjournalismus zu? Die taz-Medienseite flimmern und rauschen

Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der taz am 17. April 2004, lohnt sich auch die Betrachtung der Geschichte ihrer Medienseite. Auffällig ist, dass eine Beschäftigung mit dem Fernsehen in den ersten Jahren keinen Platz im Blatt hatte. Die Glotze stand für die herrschende Kultur, deren Konsum nicht in das Öffentlichkeitsmodell der alternativen Tageszeitung passte. Erst ab 1982/83 tauchte auf den Kulturseiten ein Kästchen mit dem Titel Mattscheibe auf. Einige Kulturredakteure äußerten sich zu einzelnen Sendungen, wobei Hickethier darauf hinweist, dass das Medium oft nur den Anlass vorgab, sich über ein Kulturphänomen, das sich wieder einmal in der Glotze zeigte, kritisch zu äußern: »Je frecher die Formulierung, umso adäquater glaubte man, sich dem Medium gegenüber zu verhalten. […] Der Kritiker wusste sich mit dem Leser eins darin, dass Fernsehen das Letzte war« (Hickethier 1994a: 205).52 Ab 1985 erschien in der taz eine regelmäßige Medienseite unter dem Titel flimmern und rauschen. Diese Aufwertung geht im Wesentlichen auf die Initiative der Redakteurin Renée Zucker zurück (vgl. Hickethier 1994a; Brunst 1997). Der Ressorttitel war bewusst selbstironisch gewählt. Zunächst kümmerte sich die Redaktion schwerpunktmäßig um alternative Medien: »Wenn es um Fernsehen ging, dann näherte man sich seinem Gegenstand mit viel Spaß am Stänkern, Lust am Gucken und vor allem von einem zur Schau gestellten interessierten Desinteresse dem Medium gegenüber« (Brunst 1997:118). Dennoch kann die Aufnahme von flimmern und rauschen als Indiz für den Wandel des Blattes von einer alternativen Szenezeitung zu einer, ein breiteres Publikum ansprechenden Tageszeitung gedeutet werden. Das Konzept, den ablehnenden Szene-Blick auf das Fernsehen zu richten, wurde aber nicht lange beibehalten.53 Bereits ab 1986 kam es zur Neuorientierung.54 Grundsätzlich ist anzumerken, dass sich in der Medienredaktion der taz ein gemäßigterer Ton, eine stärker an den Program52 Hickethier (1994a: 205) verweist außerdem auf eine taz-spezifische Eigenheit: »Oft wurde die Meinung des Kritikers auch durch den Setzer kommentiert.« 53 Stamm (1988b: 12) beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Der Umgang mit und die Produktion von Medien ist so zu einer Hauptbeschäftigung ganzer Protestgenerationen geworden. Eine Medien-Linke ist entstanden, die in einem kaum zwanzigjährigen Prozess nicht mehr nur immer wieder neue Themen auf die öffentliche Agenda setzt, sondern die dabei auch gelernt hat, vorzüglich auf der Klaviatur der öffentlichen Meinungsbildung zu spielen.« 54 Die taz-Kritik orientiert sich in dieser Phase verstärkt an postmodernen Theorien, etwa von Jean Baudrillard, Paul Virilio, Michel Foucault oder Jean-Francois Lyotard und suchte das Medienangebot auf simulative Eigenschaften ab (vgl. Hickethier 1994a: 205).

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men und ihren Sendungen orientierte Kritik sowie eine sich auf die Problemstellungen des Fernsehbetriebs und des Mediendiskurses einlassende Fernsehberichterstattung durchsetzte.55 Dieser Wandel war unmittelbar mit der Arbeit der Medienredakteurin Klaudia Brunst verbunden (einen Überblick über ihre Arbeit gibt Brunst 2003). In dem Moment, als sich die taz-Fernsehkritik auf einzelne Sendungen einließ, musste sie ihre strikte Verweigerungshaltung aufgeben und sich sogar »ein Stück weit zu dem Medium bekennen« (Hickethier 1994a: 208). Brunst (1997: 117) betont selbst, dass es in erster Linie nicht mehr so sehr um die Programmbeobachtung und die später zu erstellende Kritik, als vielmehr um die Programmauswahl ging. Außerdem war die konzernunabhängige taz »aus ihrem medienpolitischen Dornröschenschlaf erwacht und leistete sich neben der klassischen Programmbeobachtung auch einen konzernunabhängigen Medienwächter« (ebd.: 118). Im Jahr 1994, als Brunst die TV-Programmredaktion übernahm, stand ein doppelter Generationswechsel an: Auf Seiten der Medienschaffenden und in den Programmetagen der Privaten, hatten Vertreter der »Fury«-Generation56 die Verantwortung übernommen, und auch bei den Medienjournalisten gab eine jüngere Generation den Ton an (vgl. Hachmeister 1993; Brunst 1997: 119). Ende der 1990er Jahre hatte sich die Situation bei der taz spürbar verändert: Viele Vordenker und Nachwuchsjournalisten haben das Blatt verlassen57, und während sich die ökonomische Basis der alternativen und unabhängigen Zeitung schrittweise verbesserte58, interpretieren zahlreiche Beobachter die inhaltlichen Umstrukturierungen, insbesondere die Einführung des Teils taz zwei59, als schleichende Boulevardisierung (vgl. 55 1992 stand im Rahmen einer der zahlreichen Versuche, das Überleben des Blattes zu sichern und inhaltliche Reformen durchzusetzen, auch die Medienseite zur Disposition. Ein Druckmittel, welches offenbar erfolgreich zur Leserbindung und Werbung von neuen Abonnenten eingesetzt wurde. 56 »Sie sprachen von Einschaltquoten, Marktanteilen und Werbezielgruppen, schienen kurzfristig die Fernsehkritik vollends ersetzen zu wollen und scherten sich vor allem um ihren eigenen Geschmack, den sie offenbar als Austauschschüler in den USA kultiviert hatten« (Brunst 1997: 118f.). 57 Damit wiederholte sich ein Vorgang, den Stamm (1988b: 11f.) bereits Ende der 1980er Jahre diagnostizierte. 58 Die taz ist im Gegensatz zu den anderen Tageszeitungen vom Rückgang der Werbeeinnahmen und der Anzeigen kaum betroffen, die Abonnentenzahl stieg sogar von 50.000 auf über 60.000. 59 Die Bezeichnung taz zwei scheint sich der Namensgebung der britischen (Boulevard)Blätter anzuschließen. Mit diesem reformierten hinteren Teil des Blattes versucht die taz seit Oktober 2003, linken Unterhaltungsjournalismus zu machen. Diese Reform führte dazu, dass im vorderen Teil der Zeitung eine Seite weniger zur Verfügung steht. Das bedeutet eine deutliche Schwächung des politischen Teils, was insbesondere von den Auslandskorrespondenten der taz kritisiert wurde. Außerdem kam es zur Auflösung von zwei Themenseiten: der interkulturellen Seite Intertaz und Internet-Seite. Gleichzeitig aber hat die Inflation von Rubriken im hinteren Teil der taz die Unübersichtlichkeit gesteigert und die Orientierung erschwert. Dies schlägt sich auch in der Themenwahl von taz zwei

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Rother 2003; Kleiner/Nieland 2004). Seit der Übernahme des Postens der Chefredakteurin durch Bascha Mika im Jahr 1998, scheint eher die fetzige Aufmachung und eine sich selbst erschöpfende Ironie im Mittelpunkt zu stehen. Die Frage von Mika, »Warum machen wir das in der taz? [Hervorhebung im Original – MSK]«, bildet jedenfalls kaum mehr den Fixstern für das gesamte Blatt. Aus dem Anspruch, harte Politik und intelligente Unterhaltung zu liefern, wird allzu oft weiche Politik und schlechte Unterhaltung (vgl. Gehrs 2003c). Dies erklärt, warum in der Hauptstadt Berlin von den politischen Journalisten die taz kaum mehr wahrgenommen bzw. zitiert wird. Die Notwendigkeit, sich von anderen Blättern abzuheben, erodiert. Bascha Mika treibt sich lieber in Talkshows rum, anstatt in der taz eine nachhaltige Debatte über gesellschaftspolitische Fragen und Alternativen zur real existierenden Politik zu eröffnen (vgl. Gehrs 2003a; Oswald 2000). flimmern und rauschen in der externen Wahrnehmung

Die Kritik an den Boulevardisierungstendenzen der taz hat inzwischen auch die Frage aufgeworfen, ob die taz-Medienseite noch ihrem Anspruch gerecht wird (vgl. Rother 2003).60 Die Verortung der Medienseite in der Blatthierarchie spiegelt ihren Anspruch und ihre Möglichkeiten, wie ich ihn im vorherigen Abschnitt beschrieben habe, kaum wider: flimmern und rauschen ist Teil des Ressort-Clusters Kleinressorts und erscheint in der taz zwei. Der Blick auf die Medienberichterstattung der taz durch andere Tageszeitungen, bestätigt den grundsätzlichen Wandel in der bundesdeutschen Medienlandschaft: Traditionelle Rangordnungen und Profile vernieder. Zwar sind deren Macher angetreten, eine Mischung aus Kultur, Sport, Medien, Internet, Wissenschaft und Internet zu präsentieren, aber es geht schwerpunktmäßig um Fußball, das Fernsehprogramm und Rockmusik – also Mainstream. Just in einer Zeit, da andere Medien C- oder D-Prominente in den Dschungel- oder in Retro-Shows schicken, wird auch in der taz den Celebrities gehuldigt. 60 Die taz wollte nach eigenem Bekunden »ein Konzept aktueller Gegenöffentlichkeit [...] entwickeln«, wie es in der Ausgabe Nr. 4 vom 20. Januar 1979 zu lesen war. Den Zeitungsmarkt betrat das Flaggschiff des linken Journalismus in Deutschland, mit einem ebenso leidenschaftlichen wie ehrgeizigen Motto. Es wurde am 17. April 1979 auf der ersten Seite abgedruckt: »Seit der Gründung der Bild-Zeitung 1952, vor mehr als 25 Jahren, hat es in dieser Republik keine überregionale, parteiunabhängige Tageszeitungsgründung gegeben. Im Gegenteil, viele sind eingegangen. Wer kann da heute noch von Pressefreiheit reden? Wir werden versuchen, ein Blatt gegen jede freiwillige Zensur und Nachrichtensperre zu publizieren. Kein Linienblatt, aber eine linke, radikale, auch satirische Zeitung – täglich!« Gleichzeitig wurde ein besonderes Selbstverständnis formuliert: »Den unterschiedlichsten Leuten soll darin Platz gegeben werden, gegen traditionellen, distanzierten Profijournalismus zu schreiben. Ein Versuch, den Gebrauchswert des Mediums Tageszeitung zu verändern – Lesern das Blatt zur Verfügung zu stellen! Eine Hoffnung, die Presselandschaft in Bewegung zu versetzen.«

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ändern sich, Redakteure und Leser wandern.61 Der Anspruch der taz wird dadurch untergraben: Von ihr gehen keine Impulse mehr aus, das war einmal anders: die taz hatte exklusive Themen (und auch Feindbilder), gerade in Sachen Medienkritik war die Berliner taz einer der Meinungsmacher (vgl. Hachmeister 1993; Hickethier 1994a).62 Inzwischen finden sich die von der taz aufgegriffenen Themen, etwa alternative Medien, Bezahlfernsehen, neue Unterhaltungsformate, Verknüpfung von Sport und Medien, mindestens so umfangreich auch auf den Medienseiten anderer Tageszeitungen. Dabei wird in den Konkurrenzblättern übereinstimmend die Konzernunabhängigkeit der taz als wichtigstes Markenzeichen identifiziert – so z.B. Seifert (2000) von der Neuen Züricher Zeitung in seiner Betrachtung zum Start der Financial Times Deutschland und dem Neustart der taz im Frühjahr 2000. Da bei der taz kein Medienkonzern involviert ist, kann sie auf ihrer Medienseite Verflechtungen, Filz und schlechte Arbeitsbedingungen bissiger und überzeugender thematisieren, als dies die großen überregionalen und regionalen Blätter können (vgl. Stamm 1988; Brunst 1997). Die Unabhängigkeit von den großen Konzernen erkauft sich die taz allerdings gelegentlich mit erschwerten Zugängen zu den Informationen im Mediensektor. Aus Sicht der im vorausgehenden Kapitel formulierten normativen Anforderungen an den Medienjournalismus, sollte dieser Komplex öfter im Blatt benannt werden.63 Christoph Kesse, der ehemalige Chefredakteur der Financial Times Deutschland, empfahl seiner Kollegin bei der taz, vor allem auf ein Thema zu setzen: »Medien, Medien, Medien« (zit. n. Gehrs 2003b). Diesen Vorschlag hat Frau Mika offenbar nicht beherzigt, im Gegenteil: Im Herbst 2003 stellte sie eine Überarbeitung der Medienseite vor. Medienthemen, die sich nicht direkt auf das Fernsehprogramm beziehen, sollten auf den Rest des Blattes verteilt werden. Gehrs (2003b) erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass das Versprechen Der Zeit, nach Einstellung der Medienseiten, Medienthemen über das Blatt zu verteilen, 61 Inzwischen findet auch ein reger Austausch unter den Chefredakteuren der deutschen Zeitungen statt. Als spektakulär darf der Wechsel von Ulrich Reitz, von der konservativen Rheinischen Post zur sozialdemokratischen WAZ, gelten. 62 Die Frage sei schon gestattet, ob ein Bericht über die (angebliche) Prostatakrebserkrankung von Robert de Niro auf die Medienseite gehört und wo der Sinn von dem seit Jahren geführten Privatkrieg mit dem ZDF-Talker Johannes B. Kerner liegt. Weit scheint die taz-Medienseite von ihrer innovativen Berichterstattung entfernt, fast wehmütig muss an die 1980er Jahre erinnert werden, als sie u.a. Interviews mit William S. Burroughs (4.2.1985) oder Timothy Leary (13.05.1987) führte. 63 Ein Beispiel stellt der Artikel »Kein Anschluss für Herrn Leo« von Arno Frank (2001) dar, in dem er die Geschäftspraktiken des Kirch-Konzerns im Bereich des Pay-TV thematisiert. Frank erklärt, dass die taz nicht auf der payroll des Konzerns stehe, also keinen Anschluss zur Verfügung gestellt bekomme, und deshalb das Ressort flimmern und rauschen nicht das Programm des Bezahlfernsehens abdrucke.

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KAPITEL 2

nicht eingelöst wurde – Ähnliches drohte auch der taz. So weit ist es nicht gekommen, die taz besann sich auf ihre traditionellen Stärken, die ihr bisher Alleinstellungsmerkmale verschaffte und behielt die Medienseite flimmern und rauschen in ihrer ursprünglichen Form. Denn auch ein zweiter Überarbeitungsvorschlag für die Medienseite erntete erheblichen Widerspruch. Wie beachtet flimmern und rauschen ist, zeigt sich u.a. daran, dass das Vorhaben, auf den Abdruck des Fernsehprogramms zu verzichten, auch von anderen Tageszeitungen intensiv debattiert wurde (vgl. Hauser 2003).64 Sechs Wochen dauerte im Herbst 2003 der Versuch, auf diesen Service zu verzichten, bis es, ausgelöst von einer Welle heftiger Proteste, zum Wiederabdruck des Fernsehprogramms kam. Dies wurde als demokratische Reaktion auf die Lesermeinung gewertet, letztlich aber kann auch von einer populistischen Maßnahme gesprochen werden, die von dem schleichenden Verfall ins Boulevardeske ablenken sollte. Eine echte Auseinandersetzung darüber, wie flimmern und rauschen nach der Blattreform taz zwei in den unterhaltenden Teil passt, blieb jedenfalls aus. Die durchweg positive Fremdwahrnehmung von flimmern und rauschen könnte, ebenso wie die engagierten Rückmeldungen aus der Leserschaft, für diesen Diskussionsprozess eine Basis abgeben. Stattdessen aber ruft Chefredakteurin Bascha Mika nach der Professionalisierung nun die »Weiterentwicklung der Zeitung« aus.65 Mehr und mehr scheint sich eine Unterhaltungsorientierung durchzusetzen – ein Beispiel ist die Beteiligung der taz an der nationalen Vorentscheidung zum European Song Contests. Ob sich die Fremdwahrnehmung mit der Selbstbeschreibung der taz-Medienredaktion deckt, thematisiert der nächste Abschnitt. flimmern und rauschen in der internen Wahrnehmung. Interviews mit Arno Frank, Steffen Grimberg und Hans-Hermann Kotte

Im Folgenden wird ein Interview, das mit dem taz-Medienredakteur Arno Frank im Juli 2004 geführt wurde, dokumentiert.66 Diese Form wurde 64 Drei Jahre vorher gab es einen vergleichbaren Vorgang: Die taz druckte die dritten ARD-Programme nicht mehr ab, nahm diese Entscheidung allerdings nach einer Abstimmung unter den Lesern wieder zurück. In einer Mitteilung der Redaktion vom 3. April 2000 (S. 15) heißt es: »taz Programmreform: Öffentlichrechtlich hat gesiegt. Liebe Leserinnen, Liebe Leser! Es ist vollbracht, sagte Jesus. Und wir schließen uns an: Von heute an ist unsere tägliche TV-Programmübersicht genau so, wie Sie sie haben wollen.« 65 Zit. aus einem Interview mit Bascha Mika in Medien Tenor Forschungsbericht Nr. 143 (April 2004: 68). 66 Weitere Interviews zum Thema habe ich im Juli 2005 mit Hans-Hermann Kotte (zitty, ehemaliger taz-Medienredakteur) und im September 2005 mit Steffen Grimberg (taz, Medienredakteur) geführt. Beide Interviewpartner haben nicht alle Fragen beantwortet, so dass im Interview-Abdruck von Arno Frank nur an manchen Stellen Ihre Aussagen eingefügt werden. Die Interviews mit Frank und

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gewählt, um einerseits die Macherseite ausführlicher und nicht nur zusammenfassend zu beleuchten sowie andererseits eine Basis für unsere abschließende Frage, ob die Auseinandersetzung mit der taz-Medienseite, Prognosen für die Zukunft des deutschen Medienjournalismus zulässt, zu schaffen. 1. Warum dieses Ressort?

Welchen Stellenwert würden Sie der Medienseite einer Tageszeitung (grundsätzlich) einräumen? (ggf. im Unterschied zu Programmzeitschriften und zu Fachorganen) Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Einstellung von zahlreichen Medienseiten bei Tageszeitungen? Frank: »Die Medienseiten von Tageszeitungen dienen dazu, den interessierten Leser durch die Medienlandschaft zu führen. Einerseits sollen sie Service in Programmfragen (was läuft wann, was wird empfohlen?) sein, andererseits Orientierung darüber hinaus. Fachorgane interessieren den normalen Leser nicht, Programmzeitschriften beschränken sich in affirmativer Weise auf die Abbildung des TV-Programms. Nur die Tageszeitung kann täglich Hintergründe UND Service bieten. Mit der Einstellung vieler Medienseiten geht ein Teil der Vielfalt verloren, mit der die Presse sich selbst und andere Medien beobachtet – ob das zu bedauern ist, hängt von der eingestellten Medienseite ab, d.h. vom Konzern, dem die betroffene Zeitung angehört.« Kotte: »Medienseiten sind, wenn sie einigermaßen aufrichtig hergestellt werden und nicht ständig und hauptsächlich für Konzernpolitik und Marketing genutzt werden, eine Art freiwillige Selbstkontrolle in der Medienwelt. Sie erzeugen im besten Fall Transparenz und verdeutlichen Macht- und Profitinteressen, und deshalb sind sie besonders wichtig. Sie können aber nur funktionieren, wenn die Verlage die innere Pressefreiheit achten. Journalismus braucht Selbstkritik, Journalisten müssen eigene ethische Maßstäbe auch auf sich selbst anwenden, sonst droht Doppelmoral. Leider kommt falsche Rücksichtnahme häufig vor; außerdem sind bei vielen Medienseiten die medialen Produkte zu sehr im Fokus, eine hintergründigere Berichterstattung in Bezug auf Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie Machtstrukturen wäre wünschenswert. Dass immer größere Medienkonglomerate entstehen, die auch noch miteinander kooperieren, erschwert die Arbeit von Medienjournalisten. Nur engagierter Medienjournalismus kann undemokratische Strukturen, Korruption und Zensur im Medienbereich aufdecken. Außerdem dienen Medienseiten auch als Organe der Selbstverständigung von Journalisten, die sich

Kotte wurden per E-Mail geführt, das mit Grimberg stellt eine von ihm autorisierte Transkription meiner Aufzeichnungen dar. Eine zusätzliche Dokumentation der Antworten von Kotte und Grimberg in einem Anhang ist nicht notwendig, weil ich alle Antworten von ihnen in diesem Kapitel verarbeitet habe.

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KAPITEL 2

über ihr Berufsfeld orientieren und informieren wollen. Und die wissen wollen, was die Kollegen so machen. Die Einstellung von Medienseiten, wie auch bei dem 14-tägig erscheinenden Stadtmagazin zitty geschehen, ist ein klarer Fehler der Verlage. Wenn es keine allgemeine Atmosphäre der Selbstkritik und gegenseitigen Kontrolle gibt, dann droht Selbstgefälligkeit, es fehlt Feedback, und es werden auch die medialen Produkte unattraktiver für den Konsumenten. Nicht nur Quoten zeigen Wirkung, auch Kritik tut dies dann und wann. Im Idealfall schauen sich die Konkurrenten mit ihrer Medienberichterstattung gegenseitig auf die Finger, was aber tatsächlich immer seltener vorkommt, weil sich die großen Konzerne nicht wirklich ins Gehege kommen wollen.« Grimberg: »Ich räume dem Medienjournalismus, auf Grund der Medienmitbestimmtheit der Gesellschaft, einen hohen Stellenwert ein, weil Medien maßgeblich öffentliches Bewusstsein formen. Er ist Teil von gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskursen. Die wesentlichen Arbeitsfelder des Medienjournalismus sind Medienunternehmen, Programminhalte und -formate, Medienrecht und Programmservice – wodurch die Leser auf die Medienseite gelockt werden sollen. Der Idealtypus der Berichterstattung zeichnet sich durch eine Genrevielfalt und das Vermitteln von Basisinformationen aus. Hierbei sollte mit konkreten (aktuellen) Themen begonnen und am Ende dort angekommen werden, dem Leser zu zeigen, wie Inhalte, etwa des Fernsehens, mit Unternehmensstrukturen und dem Mediensystem zusammenhängen. Bei den Recherchen wird, im Unterschied etwa zur Wirtschaftsseite, wenig auf vorgefertigtes Agenturmaterial zurückgegriffen. In der Blattrealität liegt der Medienteil, ähnlich dem Kulturteil, im Mittelfeld. […]« Können Sie größere Unterschiede zwischen dem Stellenwert der Medienseiten bei den verschiedenen Tageszeitungen feststellen? Frank: »Ja, da gibt es ein starkes Gefälle. Springer-Blätter etwa beschränken sich gerne auf Schleichwerbung für Sender oder Magazine, die zum Konzern gehören. Die Süddeutsche hat beste Kontakte in der Medienwirtschaft und eine heitere Programmbeobachtung, die FAZ ist ähnlich gelagert, aber nicht ganz so kompetent. Die Frankfurter Rundschau nehmen wir kaum zur Kenntnis. Mit absteigendem Niveau von der Qualitäts- zur Boulevardzeitung steigt generell die Affirmation. Regionalblätter lassen sich in der Regel ihre medialen Inhalte von Dienstleistern zuliefern.« Kotte: »Nicht nur die großen überregionalen Blätter und großen Regionalzeitungen sollten sich Medienseiten leisten. Leider ist dem nicht so. Viele kleine Blätter konzentrieren sich auf Vorankündigungen und das TV-Programm. Und auf vielen Medienseiten kümmert man sich zu stark um das Programm und zu wenig um den Hintergrund (Politik und Business). Was leider ganz fehlt im Bereich der deutschen Medienberichterstattung, das ist die regelmäßige Thematisierung von Zensur-

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Fällen und Nachrichtenunterdrückung, d.h. von Verstößen gegen die innere und äußere Pressefreiheit. Warum gibt es im Zensur-Bereich keine Kolumnen wie einstmals in der Mitgliederzeitschrift der früheren IG Medien in den 90er Jahren? Das war beispielhaft!« Inwieweit passt eine Medienseite in das Konzept der taz? Frank: »Sehr gut. Weil es die einzige konzernunabhängige Medienseite der Republik ist und damit ein Ort, wo mit diesem Pfund der taz in besonders prominenter Weise gewuchert werden kann.« Kotte: »Gerade in der konzernunabhängigen taz kann eine Medienseite besonders effektiv sein, weil keine oder kaum Rücksichten genommen werden müssen.« Grimberg: »In der Medienseite lassen sich Grundtugenden der taz finden und umsetzen. So werden u.a. alle Themen prinzipiell gegen den Strich gebürstet, das Primat der Meinungsvielfalt ist beständiges Ziel, es wird gegen jede Form der Machtkonzentration angeschrieben und der Blick stets (auch) auf die internationale Medienentwicklung gerichtet. Zudem werden aktuell die Arbeitsbedingungen für die Medienseite zunehmend schwieriger, weil die eigentliche Medienredaktion aufgelöst und anderen Ressorts, etwa der Umwelt oder taz zwei, zugeordnet wurden. Hierbei kommt deutlich zum Ausdruck, dass die aktuelle Blattleitung dem Medienjournalismus keine besondere Rolle zuweist. « War flimmern und rauschen von Beginn an als integraler Bestandteil der taz geplant? Gab es Widerstand bezüglich flimmern und rauschen oder wurde dieser Bereich vom größten Teil des Gründer-Kollektivs befürwortet? Frank: »flimmern und rauschen kam später zur taz, und zwar eher durch die Hintertür. Tonangebende Redakteure waren, um nur einige zu nennen, Wiglaf Droste und Thomas Kapielski. Widerstände? Widerstände gibt es hier gegen alles, was neu ist.« Wissen Sie, ob es bei der Entscheidung, eine Medienseite in die taz aufzunehmen, internationale Vorbilder gab? Frank: »Wenn es ein Vorbild gab, dann die Medienseite der französischen Zeitung Libération.« Gibt es eine Vorgabe, dass und wie sich eine Medienseite der taz, gegenüber den Medienseiten anderer Tageszeitungen, abheben/abgrenzen muss? Frank: »Anderen Medienseiten sollten wir auf Augenhöhe begegnen, was aus zwei Gründen nicht leicht ist: Erstens haben wir keine nennenswerten Kontakte zu Konzernvorständen, zweitens sind wir die schnellste Medienseite der Republik, will heißen: unser früher Redaktionsschluss (13 Uhr) macht uns bisweilen zu Nachzüglern, die dann aber eben mit Originalität oder Frechheit glänzen müssen. Oder eben durch übergreifende, konzertierte Kampagnen, wie der Protest gegen die Unsitte der Autorisierung von Interviews.«

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Wie sahen und wie sehen die Gründungsväter (und -mütter), die ChefredakteurInnen und die KollegInnen aus den anderen Ressorts die Rolle der Medienseite in der taz? Frank: »Der Medienseite gilt besonderes Augenmerk, gerne liefern Kollegen anderer Ressorts Themen zu, d.h. Politkommentatoren besprechen Polit-Dokumentationen, das Auslandsressort macht uns z.B. auf Einschränkungen der Pressefreiheit in anderen Ländern u. ä. aufmerksam – wobei das dichte Korrespondentennetz sehr hilfreich ist.« 2. Arbeitsweise

Gibt es Hinweise, nach welchen formalen und inhaltlichen Prinzipien flimmern und rauschen aufzutreten hat? Frank: »Formale und inhaltliche Prinzipien der Seite werden turnusgemäß neu verhandelt, Richtlinien gibt es nicht – aber Themen sollten tazzig gedreht und erzählt werden können.« Grimberg: »Die Medienseite steht und fällt mit den Journalisten, die sie machen! In einem Konzeptpapier zu flimmern und rauschen aus dem Jahr 2002, habe ich alle für mich relevanten Positionsbestimmungen zur Medienseite aufgeführt.«67 Über welche Ressourcen verfügt flimmern und rauschen? Frank: »Die Ressourcen sind und waren (anderthalb Stellen plus Pauschalist) sehr begrenzt. Nach der letzten Reform ist das Ressort aus organisatorischen und inhaltlichen Gründen, dem Pool von taz zwei zugeordnet worden.« Wie würden Sie die Interaktion zwischen den Machern von flimmern und rauschen und den Lesern beschreiben? Inwiefern werden Leserreaktionen berücksichtigt? Frank: »Leserreaktionen werden direkt berücksichtigt, beziehen sich aber erstaunlicherweise meistens auf unser selektives TV-Programm: Als es noch weiter selektiert werden sollte, haben unsere Leser entschieden, welche Programme sie behalten wollen. Als es einmal testweise ganz abgeschafft wurde, blies ein Proteststurm der Leser es sozusagen wieder ins Blatt. Das ist gut so, denn: Wir schreiben, anders als die meisten anderen Medienseiten, nicht inzestuös für die Kollegen.« 67 Dieses Konzeptpapier hat mir Steffen Grimberg informell zur Verfügung gestellt, so dass ich es hier nicht im Ganzen dokumentieren kann. Er hat mir allerdings gestattet, an dieser Stelle einige wesentliche Positionen zu zitieren: »flimmern und rauschen bereitet das aktuelle Mediengeschehen unter den Gesichtspunkten Information, Analyse, Service und Unterhaltung auf. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den klassischen Massenmedien. Für uns sind das Print, TV, Radio und – mit Einschränkung – das Internet. […] Die Berichterstattung von flimmern und rauschen ist nachrichtenorientiert […], serviceorientiert […], unterhaltend […], kritisch und zeigt Zusammenhänge auf […], international […], stellt unbequeme Fragen […] unterstützt kritische Öffentlichkeit […], ist reflexiv […].« Ich danke Steffen Grimberg sehr für seine Unterstützung und Offenheit!

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Wie vollzieht sich in Ihrem Arbeitsalltag die Informationsbeschaffung? Frank: »Freie Mitarbeiter, Ticker, Nachrichtenagenturen, Kress-Report usw. Zudem haben wir Zugriff auf alle wichtigen Archive anderer Blätter und Magazine (FAZ, Spiegel).« Nach welchen Kriterien suchen Sie Themen und Interviewpartner aus? Frank: »Wir sprechen mit allen, von der RBB-Intendantin bis zur Babelsberger Maskenbildnerin. Angebote für Interviews mit Serienstars etc. lehnen wir meistens ab. Auch hier gilt: Komödianten wie Kaya Yanar zum Beispiel, sind dann interessant, wenn sie kompetent über relevante Themen (hier: Migration) sprechen.« Welche Themen und welche Akteure/Institutionen halten Sie in Ihrer Arbeit für besonders wichtig? Welche Themen sind besonders schwierig zu recherchieren? Welche Akteure stehen für Interviews nicht zur Verfügung? Gibt es die berühmten Hintergrundgespräche (bzw. sogar Gesprächskreise) auch für Ihre Themen? Frank: »Wichtige Akteure sind fast alle Entscheider, besonders schwer sind Wirtschaftsthemen zu recherchieren (Kirch et al.). Auch redet mit uns fast jeder, wenn vielleicht nicht unbedingt der Herr Döpfner (Axel Springer Verlags-Chef).« Inwieweit reagieren Sie auf die Themenlage anderer Medien – speziell der Medienseiten anderer Tageszeitungen? Frank: »Wir prüfen jeden Morgen, wie wir im Vergleich zu den Printkollegen dastehen.« 3. Beispiele für die Entwicklung der Medienseite

Können Sie, an Hand von Beispielen, Veränderungen für die Entwicklung von flimmern und rauschen in den vergangenen Jahren (ggf. auch gegenüber dem ursprünglichen Konzept) beschreiben? Frank: »Die Tendenz geht weg von der Spezialisten- und hin zur Publikumsseite, d.h. dann beispielsweise auch, dass Gattungen wie Musikvideos oder Werbespots, die anderswo unter den Tisch fallen, auf ihre Aussagekraft hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungen untersucht und abgebildet werden.« Würden Sie bitte Beispiele liefern für einen Erfolg von flimmern und rauschen? Frank: »Ein schöner Erfolg war die Organisation eines bundesweiten, blattübergreifenden Protestes gegen das Autorisieren und Umschreiben von Interviews.

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4. Zukunft/Bewertung von Medienkritik

Wie schätzen Sie die Zukunft von Medienseiten in Tageszeitungen im Allgemeinen und von flimmern und rauschen im Speziellen ein? Frank: »Medienseiten werden dort wiederkehren, erhalten bleiben und sogar noch wichtiger werden, wo es um die, gerne auch feuilletonistische, Vermittlung von Medienkompetenz geht. Denn das wird immer wichtiger.« Was sind für Sie die zentralen Maßstäbe von kritischem Medienjournalismus? Welche Funktion hat kritischer Medienjournalismus heute? Frank: »Medienjournalismus hat immer kritisch zu sein, es ist seine Daseinsberechtigung, alles andere wäre PR-Geklingel. Je medialer die Politik wird, umso wichtiger ist ihre Beobachtung durch kritische Medienjournalisten. Sei's eine feuilletonistische Glosse über die Diskussion um die Rundfunkgebühren, die letzte Christiansen-Sendung oder Hinweise auf Hintergründe, die dem Mediennutzer verborgen bleiben, wie etwa die geschlossene DSDS-Verwertungskette von Bertelsmann. Es geht also gerade um eine aufmerksame Wächterfunktion, wenn Sie so wollen. Daraus ergeben sich die zentralen Maßstäbe für kritischen Medienjournalismus von selbst. Ex negativo sei gesagt, dass Medienjournalisten, wozu sie durchaus neigen, nur für Kollegen bzw. Bewerbungsartikel schreiben.« Kotte: »Als Medienjournalist muss man sich möglichst auch gegen den Strom stellen, muss man abweichende Meinungen vertreten können. Man sollte auch bei denen hartnäckig kritisch bleiben, die einem eigentlich sympathisch sind. Dazu kann ich vier Beispiele nennen, die ich für gelungenen Medienjournalismus halte: (a) Die Aufdeckung des öffentlich-rechtlichen Schleichwerbungskandals durch den epd-Mann Volker Lilienthal. (b) Die Kritik des FAS-Redakteurs Stefan Niggemeier an der Bild-Zeitung, zum 50. Jubiläum der Bild-Zeitung. Das war ein Ausscheren aus den Kaskaden der Lobeshymnen. (c) Die abweichenden Meinungen zur Qualität von Harald Schmidt, als dieser von den Feuilletons zum Heiligen erhoben wurde.« Wie sehen die Möglichkeiten und Grenzen des Medienjournalismus (in Deutschland wie auch im internationalen Kontext) aus? Frank: »Wir bei der taz wüssten nicht, wo die Möglichkeiten begrenzt wären, es sei denn, der Staat oder Konzerninteressen diktierten die Agenda. Chance und Aufgabe sehe ich, abgesehen von der Aufklärungsund Chronistenpflicht, in einer Art Meta-Medienbeobachtung. Beispiel: Wie der arabische TV-Sender Al-Dschasira Politik macht, indem er Filme von islamistischen Hinrichtungen ausstrahlt.« Medienjournalismus und wissenschaftliche Medienanalyse/-kritik – zwei unvereinbare Perspektiven? Frank: »Praktischer Medienjournalismus kann unter Umständen von den Erkenntnissen profitieren, die eine wissenschaftliche Medienanalyse

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zutage fördert. Die beiden Perspektiven sind so vereinbar oder unvereinbar, wie Theorie und Praxis es schon immer waren.« Kotte: »Nein, denn guter Medienjournalismus sollte immer wieder auch auf Ergebnisse von wissenschaftlicher Medienanalyse und -kritik zurückgreifen und einbeziehen. Das erweitert die eigene journalistische Perspektive und kann auch frische Ideen bringen. Und so gelangt vielleicht auch mal ein Produkt der Wissenschaft an ein breiteres Lesepublikum. Und vielleicht kann die Wissenschaft auch mal auf populistischere Ansätze des Journalismus zurückgreifen. Schadet nicht unbedingt. (Dass man sogar beides in einer Person machen kann, zeigt ja auch ein Schreiber/Wissenschaftler wie Dietrich Leder.)« Grimberg: »Ja, aber nicht notwendigerweise, denn es käme darauf an, konkrete Verknüpfungspunkte und Kompetenzgrenzen zu kultivieren. So besitzen wissenschaftliche Medienanalysen zumeist keinen Insiderblick auf die Medienpraxis und sind somit nur sehr eingeschränkt in der Lage, über Medienwirklichkeiten sachadäquat zu schreiben. Als Fazit der Befragung lässt sich festhalten, dass sich die Fremdwahrnehmung und die Selbsteinschätzung von flimmern und rauschen größtenteils decken. Die Unabhängigkeit der Berliner taz wird besonders herausgestellt. Sie wird als Grundvoraussetzung eines kritischen Medienjournalismus und spezifisches Qualitätsmerkmal von allen Interviewten hervorgehoben. Gerade die taz-Medienseite hat sich von den alten Kulturkämpfen verabschiedet. Dass diese Tatsache weder bei der Selbstbeschreibung noch bei der Fremdwahrnehmung betont wird, verweist auf eine Nivellierung der Unterschiede zwischen den einzelnen Medienseiten in der Tages- und Wochenpresse. Auffällig ist, dass in der Selbstwahrnehmung kaum auf die Historie (und unbestrittenen Leistungen) der taz-Medienseite abgehoben wird. Wäre dies stärker der Fall, so könnte die Konfliktfähigkeit nach innen wie nach außen gestärkt werden. Auch das von Hachmeister (1993: 32) bereits 1993 geforderte politisch-ökonomische und historische Interesse innerhalb der Medienkritik, sollte die taz deutlicher pflegen. Nichtsdestoweniger tritt der Medienredakteur Frank selbstbewusst auf und schildert die Möglichkeiten und Schwierigkeiten bei flimmern und rauschen nüchtern, fast unspektakulär.68 Kotte und Grimberg stellen hingegen die Notwendigkeit eines kritischen Journalismus viel engagierter heraus und betonen nachdrücklich, dass das Einstellen und (finanzielle, kapazitäre usw.) Beschneiden von Medienseiten sowohl für die jeweilige Zeitung, als auch hinsichtlich der reflexiven Begleitung der Medienlandschaft, einen dramatischen Qualitätsverlust und Rückgang an Plattformen zur me68 Gleichwohl befindet sich die taz (weiterhin) auf der Höhe der Popkultur und des

digitalen Zeitalters. Damit sind die Voraussetzungen für eine engagierte Medienkritik gegeben. Dies forderte Hachmeister (1993: 32) bereits 1993.

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diengesellschaftlichen Selbstbeobachtung und -kritik zur Folge hat. Einstimmig beurteilen alle drei interviewten Journalisten das Verhältnis von journalistischer und wissenschaftlicher Medienanalyse/-kritik. Um über mögliche Schnittstellen nachzudenken bzw. diese zu kultivierten, müssten zunächst die jeweiligen Kompetenzgrenzen definiert werden. Ausgehend von einer arbeitsteiligen Ko-Orientierung könnte über produktive Dialoge, Interaktionen und Netzwerkbildungen nachgedacht werden (vgl. Kap. 3., Kap. 4.). Bisher hätte allerdings, darin sind sich die Journalisten weiterhin einig, die wissenschaftliche Seite zu wenig getan, um einen kontinuierlichen und nachhaltigen Interaktionsprozess auf Augenhöhe zu initiieren. Erwähnenswert erscheint auch die mäßige Ausstattung des Medienressorts. Inwieweit in diesem Feld bzw. speziell bei der taz, eine journalistische Deprofessionalisierung beobachtet werden kann, ist nicht abschließend zu bewerten. Vor diesem Hintergrund ist der taz-Medienredaktion zu wünschen, dass es ihr gelingt, ein noch spezifischeres Profil zu gewinnen, um den kritischen Medienjournalismus in Deutschland nachhaltiger beeinflussen bzw. wegweisendere Modelle für die journalistische Auseinandersetzung mit den Medien entwerfen zu können.69 Nicht zuletzt ist deutlich geworden, dass die Selbsteinschätzungen der drei Journalisten, hinsichtlich des Stellenwertes des taz-Medienjournalismus sowie die Betonung der gesellschaftlichen Bedeutung des Medienjournalismus im Allgemeinen, an zahlreichen Stellen mit den Anforderungen gesellschaftskritischer Medientheorien (vgl. Kap. 2.2.1) an einen kritischen Journalismus sowie die von ihm (idealtypisch) ausgehende emanzipatorische Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung sowie als Kritik- und Kontrollinstanz gesellschaftlicher Wirklichkeit zu fungieren, konvergieren. Medienjournalismus soll intern, d.h. im Feld journalistischer und wissenschaftlicher Medienforschung, aber auch hinsichtlich der Medienproduktion, dem Medienrecht und der Medienpolitik, zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik anregen. Andererseits extern einen wesentlichen Bestandteil gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse darstellen. Zentral hierbei sind folgende Aspekte, die die drei Journalisten als Merkmale der taz-Medienseite hervorgehoben haben: Unabhängigkeit; Meinungs- und Themenvielfalt; Informationsvermittlung – gerade auch zu Themen, über die kaum berichtet wird; selbstkritisch und veränderungswillig; sachorientierte, nicht notorische Widerständigkeit gegen gesellschaftliche Machtzentren; Mut, sich dem journalistischen Anpassungsdruck (an Unternehmen, Institutionen, die Politik etc.) zu entziehen; Kampagnen zu initiieren; das aktive Einbinden 69 Potenzial liegt auch im Austausch mit den anderen Ressorts und der Intensivie-

rung des Dialogs mit Experten aus den Kommunikations- und Medienwissenschaften. Das von Kreitling (1997: 132) formulierte Defizit, »Medientheorie und Ergebnisse von kommunikationswissenschaftlichen Forschungen, spielen als Themen der Medienberichterstattung praktisch keine Rolle«, besteht weiterhin.

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der Leser sowie die generelle Publikumsorientierung; Medienkompetenzförderung; einen öffentlichen Raum zu schaffen, um alternative (kritische) Diskurse kontinuierlich zu ermöglichen. Die taz-Medienseite als Modell für den zukünftigen deutschen Medienjournalismus?

Besondere Bedeutung gewinnt der Medienjournalismus in flimmern und rauschen dadurch, dass die taz konzernunabhängig ist, also kein Sprachrohr bestimmter Interessen darstellt. Das wichtigste Merkmal bleibt also die Unabhängigkeit der taz. Ziel muss weiterhin bleiben, ein unentbehrliches und meinungsführendes Blatt für die gesellschaftliche und politische Elite sein zu wollen.70 Andererseits aber kann die taz, weil sie keinem großen Konzern angehört, den angelaufenen Umstrukturierungsprozessen der deutschen Tageszeitungen nicht in allen Bereichen folgen. Ein verstärktes Engagement auf anderen Märkten aber wird kommen müssen, und dabei sind die Medienmärkte in USA, Großbritannien, Frankreich und Polen, aber auch Russland und Italien, im Sinne medienkritischer Gesellschaftskritik wichtige Felder medienjournalistischen Handelns (vgl. Trappel et al. 2002). So ist z.B. den Vermarktungsstrategien der weltweit operierenden Konzerne eine informierende und kritische Berichterstattung entgegenzuhalten. Wer beim Publikum Erfolg haben will, muss heute das ganze bzw. ein größeres Spektrum des (medien-)politischen Wettbewerbs abdecken. Eine Gegenöffentlichkeit, immerhin der zentrale Anspruch aus der taz-Gründerzeit (vgl. Negt 1993), hat die taz nicht etablieren können. Und heute gilt mehr als in den Anfangsjahren: Es reicht nicht aus, dass es die taz gibt. Offenbar liegt ein strukturelles Problem vor: Mit der Regierungsübernahme von Rot-Grün und den neuen Bedingungen der so genannten Berliner Republik hatte die taz ihre klassische Oppositionsrolle verloren. Dieser Verlust wurde, entgegen den Hoffnungen von Machern und Lesern, nicht durch einen erleichterten Zugang zur Macht ausgeglichen. So droht die Unverwechselbarkeit auf der Strecke zu bleiben.71 Letztlich schnappt die Selbstbeobachtungsfalle zu, wenn die anderen Tageszeitungen ihre Medienseiten schließen oder ihre Medienberichte affirmativer werden, wenn sich eine Aufarbeitung der Fernsehinhalte à la Raab und Kalkofe durchsetzt. Dann heißt es nicht Wunden lecken, sondern selbst ambitionierte Kritik initiieren. Gute Beispiele hierfür liefert flimmern und rauschen immer wieder: Aktuell etwa mit der Serie Ein Zeitungskreis. Hiermit sollte Kritik geübt werden an den Vorschlägen von Wolfgang Clement zur Liberalisierung des Kartellrechts für Zeitungen, durch das es 70 Vgl. mit diesem Anspruch die Aussage von Bascha Mika, im Interview in dem Medien Tenor Forschungsbericht Nr. 143 (April 2004: 68/69). 71 Ob und wenn ja, wie sich diese Situation nach der Neuwahl 2005 und dem (halben) Regierungswechsel ändern wird, bleibt abzuwarten.

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zur Pressekonzentration, u.a. bei den regionalen bzw. lokalen Tageszeitungen und zur weiteren Einschränkung der Pressevielfalt im Allgemeinen kommen wird. Gegenwärtig gibt es in mehr als der Hälfte der deutschen Kreise und kreisfreien Städte nur noch eine einzige lokale Zeitung. Die taz stellte nun exemplarisch täglich einen Einzeitungskreis vor. Zudem wird unter dem Stichwort Gegenmaßnahmen über Versuche in diesen Kreisen, für mehr Medienvielfalt jenseits der klassischen Kanäle zu sorgen, informiert. Wenn Hachmeister 1993 vom Generations- und Systemwechsel in der späten Fernsehgesellschaft sprach, dann steht heute nun der Generations- und Systemwechsel der frühen Informationsgesellschaft an. Die taz-Medienseite flimmern und rauschen könnte bei diesem Wechsel eine führende Rolle einnehmen. Unsere Schlussfolgerung lautet daher, Medienberichterstattung muss mehr sein, als eine Unterstützung der Wirtschaftsseiten72. Damit Medienanalysen nicht nur als Querschnittsthemen über das Blatt verteilt werden, muss es zu einer spezifischen Ausarbeitung leitender Medienbegriffe sowie einem eindeutigen Verständnis von Medienanalyse (Information) und Medienbeurteilung (Kritik) kommen. Weiterhin bedarf es einer flexiblen Abgrenzung medienspezifischer Themen, die ergebnisreicher in anderen Ressorts besprochen werden könnten. Eine Rückkehr zur gläsernen Redaktion (bzw. Funkhaus), wie es in den 1970er Jahren als Form von Medieninformation und -selbstkritik praktiziert wurde, funktioniert heute nicht (mehr). Eine Sensibilisierung im Hinblick auf die Bedingungen, Zwänge und Herausforderungen des Medienjournalismus, ist hingegen dringend geboten. Die taz muss dazu ihre Selbstverpflichtungen überprüfen, den Verbraucherschutz stärken und die Institutionalisierung der Medienkritik unterstützen. Weiterhin müssen dazu Nischen gepflegt und eine Offenheit zu Neuerungen realisiert werden: Medienkritik findet derzeit etwa neue Formen im Netz – ein Aspekt, der mehr Aufmerksamkeit verdient.

2.3

MEDIEN

UND

UNTERHALTUNG

In diesem Kapitel geht es nicht darum, die sozial- und medienwissenschaftliche Literatur zum Thema Medien und Unterhaltung73 zu diskutie72 Bernd Gäbler im Interview mit Steffen Grimberg in der taz (v. 5.12.2002, S. 18). 73 Vgl. hierzu u.a. Mendelsohn (1966); Haake (1969); Bosshart (1979); Fischer/ Melnik (1979); Tannenbaum (1980); Dehm (1984); Bosshart/Hoffmann-Riem (1994); Zillmann/Vorderer (2000); Früh (2002); Früh/Stiehler 2003; Friedrichsen/Göttlich (2003); Gertler/Friedrichsen/Gläser 2004; Goldbeck (2004); Corsa (2005). Vgl., mit weiteren Literaturhinweisen zum Thema Infotainment, Nieland (2003). Vgl., mit zahlreichen Literaturhinweisen zum Thema Unterhaltung und Populäre Kultur Hügel (2003).

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ren. Vielmehr wird, an Hand von zwei Fallbeispielen, Spaßkultur im Fernsehen (Kap. 2.3.1) und Unterschichtenfernsehen (Kap. 2.3.2), diskutiert, welches spezifische Erkenntnisinteresse eine gesellschaftskritische Medientheorie, wie sie in dieser Studie entworfen wird, an diesen Themen hat und welchen genuinen Beitrag sie zur sozial- und medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medienunterhaltung leisten kann. Im Unterschied zum vorausgehenden Kapitel findet sich in der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien keine vergleichbar grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Unterhaltung, wie es hingegen für den Öffentlichkeitsdiskurs der Fall ist.74 Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die 38. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik 2005, zum Thema Bilder des sozialen Wandels. Das Fernsehen als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung (vgl. Hall 2006). Einleitend wird, um den fallspezifischen Analysen im Kap. 2.3.1 und Kap. 2.3.2 einen konkreten Rahmen zu geben, die programmatische Ausrichtung dieser Veranstaltung vorgestellt. Fernsehunterhaltungswirklichkeiten und sozialer Wandel

Steigende Arbeitslosigkeit, die Hartz IV genannte Reform des Arbeitsmarktes, eine alternde Bevölkerung, aufmerksamkeitsökonomisch wirksam inszenierte Kapitalismuskritik des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering – Diskurse, Reformen und soziale Umwälzungen, die in Deutschland potentiell jeden betreffen. Wie spiegelt sich dieser soziale Wandel in der Fernsehberichterstattung wider? Wird er von den Medien selbst mitgestaltet?75 Dies waren zentrale Fragen der 38. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik (vgl Hall 2006). Unter den Rednern war auch der mittlerweile ehemalige VW-Manager Peter Hartz, Mitinitiator einer der drastischsten Reformen in der deutschen Nachkriegsgeschichte.76 Die Auskunft, die Hartz über den gegenwärtigen sozialen Wandel in Deutschland gab, war dürftig, denn er betonte lediglich, dass seine Reformvorschläge richtig seien, sie als Jobmotor fungieren könnten und die politischen Entscheider bei der Umsetzung Fehler gemacht hätten.77 Die 74 Auf eine Zusammenfassung der zumeist negativen Bestimmungen, die der Medienunterhaltung in diesem Kontext zugeschrieben werden, wird an dieser Stelle verzichtet. Zudem ist das Thema Unterhaltung schon allgemeiner im Kontext der Informationsfunktion der Medien, konkret des Mediums Zeitung, im vorausgehenden Kapitel diskutiert worden. 75 Vgl. zum Thema Fernsehen und sozialer Wandel grundlegend Schatz (1996). 76 Als Hintergrundkulisse für die Redner, hatte das ZDF sozialen Wandel an die Wand dekoriert: eine Putzfrau mit Schrubber, Bilder vom Arbeitsamt und Firmenpleite, hinter Marietta Slomka (ZDF), die Hartz interviewte, eine Abreißkärtchenmaschine für die Warteliste, hinter Hartz ein rosafarbenes Schild: »Wegen Insolvenz geschlossen.« 77 So betonte Hartz u.a.: »Sicher hätte ich einiges anders gemacht. Nicht überall, wo Hartz drauf steht, ist Hartz drin.« Oder: »Meine These ist, dass wir eine Gründerwelle auslösen müssen.«

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Aufgabe der Medien bestünde darin, den Menschen Mut zu machen durch Berichte und Formate, die auf neue Möglichkeiten der Arbeit und von Dienstleistungen hinweisen sollten. Aus seinen Statements klang der Optimismus der Generation Reform, wie er mitunter von wissenschaftlicher Seite postuliert (vgl. Nolte 2004) und von CSU/CDU-Politikern, etwa Edmund Stoiber, Angela Merkel oder Markus Söder im Wahlkampf 2005, als einzige Überlebenschance für die Demokratie und als Ausweg aus dem Depressionstief in Deutschland dargestellt wurde. Dem Interview mit Hartz ging die Vorstellung einiger Rohschnitte aus dem Dokumentarfilm Neue Wut78 von Martin Keßler voraus, die er selbst kommentierte. Die Ausschnitte veranschaulichten eindringlich die Schattenseiten des sozialen Wandels in Deutschland und der von Hartz mitinitiierten Reformen. Seine Intention beschrieb Martin Keßler wie folgt: »Aprildemonstrationen gegen die Agenda 2010, Proteste gegen Hartz IV, Arbeitskämpfe bei Mercedes, Opel und VW. Es ist vor allem Wut, die die Menschen treibt: Wut über die Praxis- oder Studiengebühr. Wut über Lohn- und Personalabbau. Wut über die schamlose Bereicherung bei ›denen da oben‹ und immer neue Einsparungen ›bei denen da unten‹. Und hinter dieser Wut steht oft genug blanke Angst. Die Angst, endgültig sozial abzustürzen. Die Langzeitbeobachtung ›neueWUT‹ begleitet ›einfache Demonstranten‹ und so genannte ›Rädelsführer‹, die sich gegen den ›Rückbau des Sozialstaates‹ zur Wehr setzen. Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen und politischen Milieus, finden zu neuen Gemeinsamkeiten oder bekämpfen sich mitunter gegenseitig. Der Dokumentarfilm ›neueWUT‹ schaut da intensiv hin, wo eine zunehmend hysterische aktuelle Berichterstattung immer öfter wegschaut: Woher kommt diese Wut? Sind es nur spontane Aufwallungen oder Vorboten einer neuen sozialen Bewegung? Für den Erhalt des Sozialen, gegen den blanken Terror der Ökonomie, für eine gerechte Globalisierung? Oder erleben wir zur Zeit das letzte Gefecht zur Verteidigung des deutschen Sozialstaates, der schon bald einem globalen ›Turbo- Kapitalismus‹ mit notdürftiger Armenfürsorge Platz macht?«79

Dieser mediale Umgang mit sozialem Wandel entspricht den Ansprüchen, die Markus Schächter (2006), Intendant des ZDF, für die öffentlich-rechtliche Beschreibung und meinungsführende Begleitung dieses Themas forderte: Orientierung zu vermitteln und Aufklärung zu bieten. Diese Aufgabe ließe sich nur durch umfassende Informationen verwirklichen, etwa durch Themenabende, Tagesschwerpunkte, Dokumentationsreihen oder Fernsehspiele, Sinnangebote und Werte, die in zeitgemäßer und sachorientierter, nicht aber in sensationalisierender und skandalisierender Weise, dargeboten werden müssten. Entscheidend hierbei sei, dass alle nicht-fiktionalen und fiktionalen Informationsangebote im Dienst der 78 Neue Wut. Vereinzelter Protest oder neue soziale Bewegung? Dokumentarfilm von Martin Keßler (s. hierzu auch: http://www.neuewut.de). 79 Auch nachzulesen unter: http://www.neuewut.de/f_derfilm.html.

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Sache mit einander vernetzt würden, d.h. »Querschnittsdramaturgien« (ebd.: 17) erzeugen, die sich an den Sorgen und Nöten der Menschen orientierten.80 Die Diskussion der Mainzer Tage der Fernseh-Kritik fokussierte sich in der Auseinandersetzung mit den Wirklichkeiten und Möglichkeiten der medialen Beschreibung von Reformen und sozialem Wandel, z.B. hinsichtlich der Themen Arbeit und Arbeitslosigkeit, nicht nur auf TVInformationsformate sowie die fiktionale Aufarbeitung in Fernsehspielen, sondern beschäftigte sich auch mit unterhaltenden Fernsehsendungen. Die ehemalige taz-Chefredakteurin und Fernsehkritikerin Klaudia Brunst (2006) veranschaulichte, wie das Thema Arbeit in 50 Jahren Unterhaltungsfernsehen inszeniert wurde. Hiermit weist sie die These zurück, dass sich Unterhaltungsformate durch eine »demonstrative Abwesenheit von allem Alltäglichen und Beschwerlichen« (ebd.: 119) auszeichneten. Die Jobsuche wurde u.a. in den (gefloppten) Formaten Hire & Fire (PRO7) und Big Boss (RTL), deren Vorbild das NBC-Format The Apprentice mit Donald Trump war, zum Thema gemacht – die dort stattfindenden Rollenspiele und Gruppendiskussionen erinnerten, so Brunst, an ein »›Assessment-Center‹ [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 124). Seit Jahren sieht man in Doku-Soaps Fahrlehrern, Polizisten, Sozialarbeitern, Animateuren, Handwerkern sowie nicht prominenten (Big Brother, RTL II)81 und prominenten Kandidaten (Holt mich hier raus – Ich bin ein Star!, RTL II) bei der Arbeit zu. Der Weg zum Ruhm ist, wie in der RTL Casting-Show Deutschland sucht den Superstar demonstriert wird, für jeden ein Weg der harten Arbeit, von fremdbestimmten Auswahlverfahren, geforderten Anpassungsritualen und Werten, wie Strebsamkeit oder Durchsetzungsvermögen. In der vierten Staffel von Big Brother, mit dem bezeichnenden Untertitel The Battle, wird die Container-Welt in Arm und Reich aufgeteilt. Die so genannten Battles entscheiden, wer sich in welchem Bereich aufhalten darf. Die hiermit verbundene Botschaft, übertragen auf das Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit, lautet daher, dass sich gegenwärtig niemand mehr auf seinen sozialen Status verlassen kann, Massenarbeitslosigkeit, so Brunst, für jeden eine ständige Gefahr darstellt.82 In der SAT 1-Telenovela Verliebt in Ber80 Den Weltbezug der TV-Spaßgesellschaft kennzeichnet Hickethier (2002: 95) als negativ: »Ob Wigald Boning, Harald Schmidt oder Stefan Raab, die Welt präsentierte sich nun als Fernsehen und nur als Fernsehen: ›TV Total‹. Der Weltbezug in der Unterhaltung bestand nun im Klamauk, in der Parodie, im ausgestellten Zynismus.« 81 In der sechsten Staffel von Big Brother wurde aus der Container-Welt eine DorfWelt, die u.a. aus drei Arbeitsbereichen bestand: Bauernhof, Kfz-Werkstatt und Atelier. Die Wohnbereiche wurden in einen armen, einen normalen und einen reichen Bereich eingeteilt. 82 Eine vergleichbare Situation, nur mit positiven Vorzeichen und gesellschaftsstabilisierenden Wirkungen der Unterhaltungsöffentlichkeit, bestimmte, so Hicke-

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lin, fällt schließlich häufig der Begriff Hartz IV. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Unterhaltungssendungen lässt Brunst (ebd.: 127f.) zu folgendem Fazit kommen: »Der soziale Wandel hat […] mit all seinen Folgen für die Gesellschaft durchaus Spuren in den Unterhaltungsshows hinterlassen. Vor allem die bekannten Casting- und Survival-Konzepte der Privatsender sind als Programmangebote des Affektfernsehens eng an die kollektiven Ängste und Hoffnungen unserer Gesellschaft gekoppelt. Für den Zuschauer ist ›Deutschland sucht den Superstar‹ oder ›Teufels Küche‹ mehr als bloße Unterhaltung. Diese Angebote bieten immer auch die Möglichkeit, die eigene Angstlust zu befriedigen, sich im geschützten Raum des eigenen Wohnzimmers emotional probehalber der Bedrohung Arbeitslosigkeit auszusetzen – und sich dabei zugleich beim Televoting als Souverän der Situation zu fühlen [Hervorhebung im Original – MSK].« Schächter (2006: 17) betont in diesem Kontext, dass bestimmte Formate von Unterhaltungssendungen überhaupt nicht geeignet seien, sozialen Wandel sachadäquat zu beschreiben: »Die Zeiten der Spaßgesellschaft gehen zu Ende. Das Gegenteil muss nicht Ernst sein. Aber es wird einer Konzentration bedürfen, einer neuen kraft- wie lustvollen Anstrengung für eine neue Konzentration der dramaturgischen, der sendekonzeptionellen Mittel.«83 Entgegen seinem Plädoyer für ein Mehr an Information und Qualität sowie einem notwendigen Zu-Ende-kommen der Spaßkultur im Fernsehen, zumindest in krisengeprägten Zeiten, boomt in den Privatsendern die Comedy-Welle beständig weiter. Der Fun-Freitag84 auf SAT 1 bietet in der Zeit von 20 Uhr 15 bis 24 Uhr 15, mit sieben Sendungen, vier Stunden Lachkultur pur. Themen aus der Arbeitswelt, das Spiel mit der Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes sowie mit Sozialreformen, wird auch in diesen Formaten thematisiert – ebenso wie in anderen Comedy-Unterhaltungsformaten, etwa in der Harald Schmidt Show (ARD) oder bei TV Total (PRO7). An einem Beispiel aus der Sendung Sechserpack, die am 22. Juli 2005 ausgestrahlt wurde, kann dies veranschaulicht werden. Ein Mitarbeiter verabschiedet sich bei seinen Kollegen, weil er Urlaub hat. Sein Vorgesetzter kommt ins Büro und fordert ihn auf, seinen Schreibtisch zu räumen, will u.a. seinen Schreibtischstuhl an die Kollegin verschenken thier (2002: 85), die Fernsehunterhaltung in den 1950er und 1960er Jahren: »Wir sind doch alle eins, Mächtige und Machtlose, und hier – in der Unterhaltung – bekommen alle ein Chance, auch die sonst Chancenlosen.« 83 Hiermit greift Schächter eine Diskussion auf, die das Tagungsthema der 34. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik 2001 war: Fernsehen für die Spaßgesellschaft. Wettbewerbsziel Aufmerksamkeit (vgl. Hall 2002). Insofern kann die Auseinandersetzung mit den Bildern des sozialen Wandels als eine Aktualisierung dieses Tagungsthemas verstanden werden. 84 Super RTL bietet in jeder Nacht die Fun-Night an, bei VOX gibt es einmal wöchentlich die Fernsehsendung zum Printmagazin mit dem Titel Fit for Fun TV (Stand: Juli 2005).

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usw. Hierbei beteuert er sehr ironisch, dass er sich um seinen Job keine Sorgen machen müsse, die Putzfrau solle nur einmal ordentlich sauber machen. Beim Urlauber stellt sich Panik ein und die Befürchtung, seinen Job verlieren zu können, woraufhin er sich entschließt, keinen Urlaub zu nehmen und weiterzuarbeiten. Schlusskommentar dieses Sketches – der Chef spricht hier zu einer anderen Mitarbeiterin: »Es klappt doch immer wieder.« In der Serie Hausmeister Krause wird der einfache Arbeiter, hier übt er den Beruf des Hausmeisters aus, als Zwangsneurotiker (»Ordnung muss sein!«), Dackelliebhaber, Biedermann, unterbelichtet und absolut obrigkeitshörig dargestellt. Zum Klischee passen seine Frau und seine Tochter, zwei ordinäre Tussis, die Tochter mit ständig wechselnden Freunden, grellen Outfits und einem starken Kölner Akzent, sowie sein Sohn, der von unerfüllten Sexphantasien und Gewaltvideos sowie filmen besessen ist. Zu klären ist in diesem Kontext, welche Funktion die Ironisierung von Arbeitsrollen, Persönlichkeitsklischees und Handlungsmustern besitzt, d.h. ob sie einen produktiven Beitrag zu gesellschaftlich brisanten Themen leisten kann bzw., ob sie dies überhaupt muss, als Ventilfunktion relevant ist oder vielmehr zu einer problematischen Banalisierung der jeweiligen Themen beiträgt.85 Das deutsche Fernsehprogramm bietet gegenwärtig ca. 73 ComedyFormate an. Spitzenreiter ist hierbei, mit Abstand, Pro7 mit 20 wöchentlichen Formaten, gefolgt von SAT 1 mit 10 und RTL mit 8. In der ARD gibt es außer der Harald Schmidt Show kein Comedy-Format, im ZDF gibt es mit Dittsche ebenfalls nur eins – beide Formate befanden sich zum Zeitpunkt der Erhebung zwar in der Sommerpause, wurden aber dennoch mitgezählt, weil sie zu den festen Programmpunkten von ARD und ZDF gehören.86 85 Auch die Musiksender MTV und VIVA setzen gegenwärtig auf Comedy-Formate. In der deutschen Version von MTV Boiling Points sollen, wie beim amerikanischen Vorbild, Personen an unterschiedlichsten Orten und in verschiedenen Situationen vor der versteckten Kamera in den Wahnsinn getrieben werden – wer durchhält, wird mit einem Geldgewinn belohnt. VIVA sendet ab dem Sommer 2005 eine Karaoke-Show (auch) für Untalentierte (Shibuya), damit sie sich wie Stars fühlen können (Stand: Juli 2005). 86 Diese Zahlen resultieren aus der Auswertung des TV-Programms in der Woche vom 23. Juli – 30. Juli 2005. Folgende Sender wurden ausgewertet: ARD, ZDF, WDR, BR3, NDR, SWR, HR, MDR, RTL, RTL II, Super RTL, SAT1, PRO7, Kabel eins, VOX, 3sat, Arte, VIVA, MTV. Als Quelle diente die Programmzeitschrift TV TODAY (Nr. 15/2005). Von den Comedy-Trickserien wurden nur South Park (RTL) und Die Simpsons (PRO7) mitgewertet, weil in diesen Formaten explizit Gesellschaftskritik geübt wird. In den dritten Programmen gibt es einerseits feste Comedy-Formate (Nightwash, WDR; Die Kurt Krömer Show, BR), andererseits Sendeplätze, auf denen unterschiedliche Formate gesendet werden (z.B. im RBB und NDR). Die genaue Verteilung der Comedy-Formate lautet: ARD (1), ZDF (1), WDR (2 feste, 2 wechselnd besetzte Sendeplätze), NDR (3 wechselnd besetzte Sendeplätze), SWR (1 wechselnd besetzter Sendeplatz), HR (2 feste Formate), RBB (2 feste Formate), BR (4 feste Formate), RTL (8 feste Formate), SAT 1 (10 feste Formate), PRO7 (20 feste Formate), Super RTL (3 feste Formate), VOX (4 feste Formate), MTV (6 feste Formte) und VIVA (2 feste

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Ist die Rede von der (medialen) Spaßgesellschaft bzw. Spaßfabrik, die Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre boomte, gegenwärtig im kultur- und medienkritischen Diskurs kaum noch zu hören, geistert ein neues Diskurs-Gespenst durch die Fernseh- und Feuilletonlandschaft: das Unterschichtenfernsehen. Dieses Phänomen, und die von ihm ausgelöste Debatte um eine mediale Klassengesellschaft87, kann als aktuelle Fortführung der Auseinandersetzung mit der Spaßgesellschaft verstanden werden.88 Das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels besteht darin, einerseits den Diskurs über Fernsehen als Spaßgesellschaft und die Spaßkultur im deutschen Fernsehen sowie über das Unterschichtenfernsehen idealtypisch zu rekonstruieren. Zum anderen wird die aufmerksamkeitsökonomisch äußerst erfolgreiche Verwendung dieser Konzepte hinsichtlich ihres Potentials, sozialen Wandels sowie gesellschaftlicher Wirklichkeit medial zu beschreiben bzw. inszenieren, problematisiert. Hierbei steht nicht die Auseinandersetzung mit der Beschreibung dieser Themen in einzelnen Formaten im Vordergrund, sondern eine Diskursanalyse der Debatte. 2.3.1

Fernsehen als Spaßgesellschaft und die Spaßkultur im deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren

Der Diskurs über die Spaßgesellschaft fand überwiegend im Feuilleton statt, also in den Medien, die häufig als Seismographen für Wandlungen im Alltag aufgefasst werden. Angewiesen auf Aufmerksamkeit erregende Wiedererkennungseffekte reagieren sie rasch auf symbolische Verschiebungen gesellschaftlicher Verhältnisse – rascher als der wissenschaftliche Diskurs. In medien- und sozialwissenschaftlichen Diskursen gibt es bisher im deutschen Sprachraum nur eine Monographie, mit sprachtheoretischer Ausrichtung, zum Thema (vgl. Maaß 2003).89 Die 34. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik 2001 (vgl. Hall 2002) haben sich bis heute am umfassendsten mit der Spaßgesellschaft auseinandergesetzt – und zwar im Spannungsfeld der Diskussion zwischen Journalisten, Wissenschaftmate), VOX (4 feste Formate), MTV (6 feste Formte) und VIVA (2 feste Formate). 87 Entgegen der Rede von der medialen Klassengesellschaft hebt Gantenberg (2000) einen entgegengesetzten Aspekt hervor, ohne sich dabei auf das Unterschichtenfernsehen zu beziehen: »Die Spaßgesellschaft hat die Klassenschranken aufgehoben. Der Humor wohnt jetzt auf der ›Animal Farm‹. Hier sind alle gleich, und die, die noch gleicher sind, werden gleich gleichgemacht! Da lacht die Spaßkolchose.« 88 Unterschichtenfernsehen war eines der am häufigsten diskutierten Themen der 38. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik. 89 Über ihr sprachtheoretisches Erkenntnisinteresse hinaus ist die Studie von Maaß aufschlussreich, weil sie 798 Texte, in denen der Begriff Spaßgesellschaft verwendet wurde, aus dem Zeitraum vom 23.01.1993 bis zum 31.12.2001, ausgewertet hat. Diese Texte stammen aus folgenden Zeitungen: Die Tageszeitung, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung und Die Welt.

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lern, Medienkritikern und Programmmachern. Weiterhin müssen in diesem Kontext zwei Publikationen aus dem Bereich der Popkultur, die Themenhefte zum Spaß (Dummy 2004) und Humor (testcard 2002) publiziert haben sowie eine Sondernummer vom Merkur (2004) zur Bedeutung des Lachens für westliche Zivilisationen erwähnt werden. Schließlich ein kulturkritischer Sammelband zur »Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft« (Wertheimer/Zima 2001) und ein Tagungsband zum Zusammenhang der Kulturindustrie-Kritik von Adorno und ihren Bezügen zur »gegenwärtigen Spaßkultur« (Seubold/Baum 2004a). Was wird in diesen Diskurs-Kontexten allgemein unter Spaßgesellschaft und Spaßkultur90 verstanden? Gibt es vielleicht, wie Scheithauer (2002: 176) fragt, nicht nur eine Spaßgesellschaft, sondern viele, »weil es bestimmte Milieus, bestimmte Gruppen gibt, die einen ganz besonderen Sinn für Humor haben«? Ist dementsprechend der Sammelbegriff Spaßgesellschaft unbrauchbar, um die Spaßformate des deutschen Fernsehens idealtypisch zusammenzufassen? Warum wird diesen Themen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zugesprochen, d.h. behauptet, hierdurch eine Auskunft über den Zustand der Gesellschaft sowie über die Interdependenz von massenmedialer und Alltagskommunikation zu erlangen? Und wie könnte eine Spaßkritik aussehen? Gibt es auch emanzipatorische Formen des TV-Spaßes? Braucht die Spaßgesellschaft, wie Schuller (2001) fordert, die »kalte Dusche«, damit sich die Gesellschaft wieder auf das Wesentliche konzentrieren kann? Was wären Gegengifte, um der »Spaßbesoffenheit« und dem »Spaßterror« der Medien zu entgehen, den Chlada und Demobwski (2001: 19) diagnostizieren? Formulierungen wie diese, ebenso wie die Aussage, dass (gegenwärtige) Spaßkultur (im deutschen Fernsehen) »Vergnügungsfaschismus« (Schmitter 2002: 30) sei, sind (theoriepolitische) Kampfbegriffe, die einen nüchternen Blick auf Veränderungen in der Programmstruktur des Fernsehens verstellen (vgl. Balzer 2000: 41). Ebenso wenig ist eine Rhetorik des Neuen in diesem Kontext hilfreich. Mohr (2000) spricht etwa in seinem Spiegel-Artikel Der totale Spaß wiederholt von der »neuen deutschen Lachkultur«, der »neuen deutschen Spaßgesellschaft« bzw. der »neuen Lust am Banalen« und bezeichnet Harald Schmidt als »geistliches Oberhaupt der neuheidnischen Lachkultur« (vgl. Strasser/Graf 2000, 2004). Dass es Veränderungen in der deutschen Programmstruktur 90 Diese Begriffe können als Bestandteile gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen bezeichnet werden (vgl. hierzu grundlegend Kap. 3.3.). Spaßgesellschaft und Spaßkultur verweisen zum einen auf spezifische Sinn- und Bedeutungskonstruktionen sowie Handlungen, zum anderen sollen sie bestimmte Produktions- und Rezeptionsweisen von Medienformaten kennzeichnen. Problematisch ist bei solchen Begriffen, dass sie stets gesamtgesellschaftliche Wirklichkeiten zu beschreiben scheinen, anstatt sich als auf plakative (anschlussfähige) Begriffe gebrachte Aufarbeitungen gesellschaftlicher, medialer, kultureller usw. Tendenzen bzw. gesellschaftlicher Klimata, die zu einer bestimmten Zeit zu beobachten sind, zu verstehen.

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gab bzw. gibt, d.h. ein Mehr an Spaßformaten91 seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Hillenbach 1996; Lambernd 1998; Kübler 2000; Schumacher/Hammer 2000), ist zutreffend, diese aber als einen umfassenden Strukturwandel in der Fernsehproduktion zu bezeichnen und zudem noch gesamtgesellschaftliche Wirkungen, die von diesen Formaten ausgehen und zu behaupten, dass sich in diesen Formaten substanzielle gesellschaftliche Befindlichkeiten widerspiegeln, geht an der Wirklichkeit des Fernsehens vorbei.92 Einschätzungen dieser Art sind zumeist diskursive Konstruktionen von (medialer) Wirklichkeit und Medienwirkungen. Entsprechend betont Hachmeister (2001: 26): »Die Spaßgesellschaft ist ein Phantom denkfauler Politiker und Mittelstandsjournalisten, denen die Muße zur intelligenten Beschreibung kultureller Ursachen und Wirkungen fehlt. Seit Jahren wird eine Ansammlung von MedienFormaten (Raab, Schmidt, Feldbusch, Big Brother) als signifikant für einen grundsätzlich veränderten Humorzustand der Nation ausgegeben, wofür es nicht den geringsten Beleg gibt. Vom ›Blauen Bock‹ und Peter Frankenfeld zur ›Bullyparade‹ und Erkan und Stefan, hier geht es um milde Transformationen und Verfeinerungen des Komischen, nicht um eine neue Lachkultur oder den Endsieg der Spaßguerilla.«

Der Begriff Spaßgesellschaft hat in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren zweifellos Karriere gemacht. Hachmeister (2001: 26) zufolge wurde der Begriff Spaßgesellschaft erstmalig am 23. Januar 1993 vom Sport-Journalisten Josef-Otto Freudenreich in einem taz-Artikel über den Fußballclub 1. FC Saarbrücken und seinen damaligen Trainer Peter Neururer verwendet. Maaß (2003: 51f.) hebt hervor, dass zwar der Ausdruck Spaßgesellschaft erstmals in dem von Hachmeister erwähnten Artikel hervorgehoben wurde, aber das Konzept, das sich hinter diesem Ausdruck verbirgt und auf das sich die entsprechenden Diskurse letztlich 91 Unter Spaßformaten verstehe ich die Comedy-Serien im deutschen Fernsehen, wie z.B. den Quatsch Comedy Club (PRO 7), Was guckst du?! (SAT 1) oder Freitag Nacht News (RTL), andererseits die Harald Schmid-Show und TV Total, politische Kabarett-Sendungen, Übertragungen von Comedy- und Kabarettveranstaltungen bzw. Festivals etc. Allgemeiner formuliert können Spaßformate als Humorsendungen bezeichnet werden, deren Ziel darin besteht, den Rezipienten vornehmlich mit Hilfe von Humor, Satire, Nonsens, Ironie usw. zu unterhalten. 92 Entgegen dieser Einschätzung betonen Strasser und Graf (2000: 8), dass es, mit Blick auf den TV-Comedy-Boom der 1990er Jahre, »eine vergleichbare Amüsierwut in Deutschland seit den zwanziger Jahren nicht mehr gegeben hat« (vgl. zur Comedy als Exempel für die (vermeintlich) neue deutsche Spaßkultur Strasser 2002; Strasser/Graf 2004). Auch Mohr (2000) würde diese These zurückweisen, indem er, am Beispiel Raab, dessen gesamtgesellschaftliche Wirkmächtigkeit hervorhebt: »Ein Volk, ein Raab, ein Lachanfall.« Hierbei bedenkt Mohr nicht, auch wenn seine Einschätzung als ironische Überspitzung verstanden werden kann, dass es auch Raab-(und Comedy-)freie Zonen geben könnte bzw. sich der Großteil der deutschen Bevölkerung für beides schlicht nicht interessiert. Diese Perspektive hätte allerdings den Aufhänger sowie die Rhetorik seines Artikels sehr entschärft.

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(bewusst oder unbewusst) beziehen, auf einen Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1996 (19. Februar, Heft 8) zum Thema Sei schlau, hab Spaß93, zurückgeht: »Der Spiegel-Artikel beschreibt eine gewandelte deutsche Gesellschaft, die nicht länger durch ›das bewährte Humor-Elend‹ [...] gekennzeichnet ist, sondern durch ›Sinn für Nonsens, Blödelei, Parodie (sowie) Sarkasmus‹ [...] [Hervorhebung im Original – MSK].« Eine kurze Geschichte der Spaßgesellschaft verfasst Heine (2004). Für ihn ist die Geschichte der Menschheit »eine Geschichte von Spaßklassenkämpfen« (ebd.: 17), die zwischen gesellschaftlichen Eliten und dem Volk sowie deren unterschiedlichen Ansichten zu Spaß und Ernst, geführt würden. In seiner Rekonstruktion hat der antike griechische Dichter Hesiod erstmals eine Spaßgesellschaft beschrieben, die für ihn, was wiederum, so Heine, stilprägend für die späteren Jahrhunderte wurde, ein Schlaraffenland war, das auf Erden existieren könnte, indem es viele Feste, Genuss- und Konsummittel im Überfluss für jeden geben sollte, alle Wünsche und Begierden sich erfüllten, es keine Alterungsprozesse gäbe und der Tod wie ein Schlaf sei, der einen, nach einem restlos erfüllten Leben übermanne.94 In dieser antiken Vision sind, wenn man Heine folgt, Überfluss- und Erlebnisgesellschaft sowie die Möglichkeit, jederzeit nach dem Lustprinzip leben zu können, die Grundvoraussetzungen für das Entstehen der Spaßge93 In diesem Artikel wird die Darstellung eines spaßbasierten kulturellen Wandels in Deutschland, die als »ubiquitäre Verwitzung von allem und jedem« (Bürger 2004: 91) beschrieben wird, durch eine aufdringliche Rhetorik des Neuen hervorgehoben. So wird von der »neuen deutschen Lachkultur«, der »neuen Generation von Spaßverliebten«, der »neuen deutschen Spaßgesellschaft«, dem »neudeutschen Spaßfieber«, der »deutschen Amüsieroffensive«, den »sportiven Spaßkulinarikern«, einem »breiten Fun-Publikum« und einem »nonsensverliebten Jungvolk« gesprochen. Entscheidend für die als neu konstatierte deutsche Spaßgesinnung ist, dass sie klassenübergreifende Wirkungen hat und zu einer Grundvoraussetzungen eines glücklichen Lebens wird: »Frohsinn light überspringt soziale Schichten, übergreift, obwohl er bei den Jüngeren dominiert, Generationen und öffnet den eisernen Vorhang zwischen E- und U-Kultur, hehrem Ernst und populärer Unterhaltung.« Als Beispiele für diese (vermeintlich) neue deutsche Spaßgesellschaft wird v.a. ein grundlegender Mentalitätswandel konstatiert, der sich u.a. durch Erlebnisorientierung und -konsum, ein Zurückweisen der deutschen Dauerverpflichtung zur Ernsthaftigkeit, Betroffenheit und Kritikkultur (letztlich Ausdruck der Kritik an der 68er Generation) oder postmodernes Sinn- und Identitätsbasteln als Party, Event bzw. pures Entertainment auszeichnet. Problematisch an diesem Artikel, wie in fast allen anderen zur Spaßgesellschaft auch, ist, dass eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung behauptet wird, obwohl eigentlich nur von Tendenzen gesprochen werden könnte, nicht aber von der Erfassung gesellschaftlicher Totalität. Zudem liest sich der Spiegel-Artikel wie ein update zur Erlebnisgesellschaft von Schulze (1992), d.h. als journalistische Kurzzusammenfassung mit teilweise anderem Vokabular. Eine weitere unhaltbare These, die in der Auseinandersetzung mit der Spaßgesellschaft immer wieder geäußert wird, ist, dass ein »Zwang zum Spaß« und ein »Zwang zu fortwährender Spaßproduktion« (Baum/Seubold 2004b: 8, 10) bestehe. 94 Im Merkur-Heft zur Bedeutung des Lachens in der westlichen Zivilisation wird die Spaßgesellschaft insgesamt als aktuelle Blüte des westlichen Hedonismus beschrieben.

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sellschaft.95 Aus dieser Perspektive ist die Spaßgesellschaft ein Synonym für allseits befreite Individuen, die keinerlei Beschränkungen unterliegen.96 Auch Deutschland, die eigentliche Heimat des leidend-melancholischen Hamlet, der betroffenen Mahner und bedenkenden Warner, schien in dieser Zeit Spaß zu verstehen. Es ging hierbei offenbar nicht darum, dass, sondern worüber gelacht wurde. Der Spaßgesellschaft wurden in diesem Kontext wesentlich sechs Bedeutungsfelder und Merkmalskomplexe zugeschrieben: Werte und Lebenseinstellungen, Lifestyle, Konsumkultur, Erlebniskultur, Unterhaltungs- und Medienkultur sowie Politikkultur. Die permanente Reproduktion der medialen Spaßfabrik ist zur Botschaft aufgestiegen, d.h. die Dominanz des Spaßes um jeden Preis und als Selbstzweck, wurde in dieser Zeit (medial) kultiviert und diskursiv beschrieben. Ebenso die grundlegende Kritik an ihr, die zur Pflichtübung für kritische Intellektuelle wurde.97 Auf den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik 2001 beklagte der ehemalige ZDF-Intendant Dieter Stolte (2002), als Reaktion auf diese Entwicklung, den Verlust des Ernstes und der ernsthaften Beschäftigung mit 95 Behrens (2003: 215) grenzt hingegen den Entstehungszeitraum der Spaßgesellschaft enger ein: »Die heute vielfach zitierte und ebenso vielfach zu ihrem Ende gekommene Spaßgesellschaft hat [...] inmitten des un- wie urkomischen 19. Jahrhunderts ihren Ursprung: Während sich die Hochkultur des Lachens entsagt, erwächst mit höhnischem Gelächter in ihrem Schatten die Massenkultur. Wenigstens in theoretischer Distanz wird diese neue, fast überdrehte Fröhlichkeit der industriellen Revolution beobachtet, und um diese Zeit finden sich zahlreiche Abhandlungen über Witz und Humor, von Goethe bis Freud, von Jean Paul bis Bergson, von Schopenhauer bis Nietzsche etc. Das kollektive Gelächter, dessen Spuren weit zur mittelalterlichen Festkultur zurückreichen, wird stets in Zeiten des Elends und der Entbehrungen lauter. Und seit dem 19. Jahrhundert ist es nun eben die Masse. Ihre fast zynische Fröhlichkeit, die immer dann überdreht und jubelnd wird, wenn es besonders schlecht geht, erscheint beruhigend und gefährlich zugleich. Das kollektive Lachen ist kaum kontrollierbar, aber worüber gelacht wird, vermag die Industrie der Massenkultur wenigstens vorzugeben. Und sie entdeckt in den Varietés, in den Kneipen und Music Halls auch bald das Grundprinzip der Spaßgesellschaft: Je ernster die Lage, umso dümmer muss der Witz sein, damit es lustig zugeht.« 96 Andererseits könnte diese Situation aber auch als Zwang zum Vergnügen und Pflicht zum Hedonismus interpretiert werden. Dies würde dann einer viel zitierten Einschätzung von Adorno und Horkheimer (1997: 162) entsprechen: »Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig.« Gerade die (vermeintlich) deutsche Dauerverpflichtung zur Ernsthaftigkeit ist für Martin Sonneborn (2004: 117), Chefredakteur des Satire-Magazins Titanic, das extrem Komische an Deutschland. Diese Situation produziert täglich Material für die Satire-Arbeiter. 97 Andererseits konnten sich Intellektuelle dadurch auszeichnen, dass sie die Kritik an der Spaßgesellschaft als anachronistisch, ideologisch und nicht sachadäquat zurückwiesen (vgl. u.a. Bolz 1999a: 154-164). Spaßgesellschaft, als ein Symptom gesellschaftlichen Wandels, müsste konstruktiv, d.h. objektiv, ernst genommen werden und vor jeder Bewertung, in ihren Erscheinungsformen umfangreich beschrieben werden. Eine Auseinandersetzung in starren Oppositionen, wie z.B. Ernst und Spaß, ist in diesem Kontext inadäquat.

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der Wirklichkeit im Fernsehen – Stolte bezog sich v.a. auf die Programme der privaten Fernsehanbieter. Hierbei kommt zugleich, so Stolte (ebd. 13f.), ein Verlust der gesellschaftlichen Mitte, d.h. eines konsensuellen Horizontes gemeinsamer Werte und Orientierungen, zum Ausdruck: »Wir leben in einer Zeit der – wörtlichen – ›Zerstreuung‹, und wir leben durch Unterhaltungsangebote der vielfältigsten Art häufig nicht nur zerstreut, sondern auch verstreut: jeder vor sich hin, jeder mit einem anderen Programm, einem anderen Ziel, ohne gemeinsames Zentrum, folglich auch ohne Zusammenhalt.« Der Spaß der Spaßgesellschaft ist, so Stolte, v.a. voyeuristisch und menschenverachtend, ohne ein emanzipatorisches Element zu enthalten (vgl. Hickethier 2002: 92f.). In dieser Situation ist es die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, gerade auch in unterhaltenden Formaten, sachadäquate und möglichst objektive Wirklichkeitsvermittlungen sicherzustellen, denn gerade eine rein spaßbasierte Inszenierung der Wirklichkeit im Fernsehen, führt zu medial bedingten Wirklichkeitsverzerrungen, d.h. nur noch zu formatgerechten und aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreichen Wirklichkeitsinszenierungen.98 Der Ernst muss, aus der Perspektive von Stolte, also stets Grundlage der TV-Wirklichkeitsvermittlungen sein – zumindest gilt dies für die öffentlich-rechtlichen Sendeanbieter. Mit dieser Diagnose stellt sich Stolte implizit auch gegen alle Thesen, die von der Machtlosigkeit der traditionellen Kultur- und Medienkritik hinsichtlich der Spaßgesellschaft sprechen, denn die vermeintlich neue Nonstop Nonsens-Kultur ist reiner Selbstzweck und vertritt keine Positionen, ist damit also auch nicht angreifbar: »Der geistig-moralische Gewinn der neuen Lachkultur liegt auf der Hand: Wer alles ironisiert, hat nichts zu verlieren, schon gar keinen angreifbaren, also verteidigungswerten Standpunkt. Zynische Affirmation als Panzerung eines gründlich desillusionierten Realismus: Wer an nichts glaubt als an die eigene Schlagfertigkeit, ist vor philosophischem Weltschmerz gefeit. Die Rundum-Ironisierung macht die prinzipielle Indifferenz zur Waffe, die sämtliche Differenzen ausräumt, ohne dass alles weh tut. Alles ist möglich, wenn nichts möglich ist« (Mohr 2000; vgl. Brinkbäumer 2000: 29).

Natürlich sind solche vermeintlich haltungsvoll-kritischen RundumSchläge selbst nur darauf angelegt, Aufmerksamkeit für das Andere des Kritisierten zu gewinnen, nicht aber, um diese Aussagen selbst durch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den TV-Spaßformaten selbst zu 98 Als Aushängeschilder des öffentlich-rechtlichen Humorverständnisses könnten z.B. Loriot, Dieter Hildebrandt mit seinem politischen Kabarett-Format Scheibenwischer, Dieter Hüsch, Richard Rogler, Martin Buchholz oder aktuell Olli Dittrich mit seiner Grimme-Preis prämierten Sendung Dittsche, genannt werden. Bei diesen Akteuren bzw. Formaten ist der Spaß immer Mittel zum Zweck, denn ihnen geht es um eine Problematisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit in ihrem status quo, durch die es dem Zuschauer auch im Medium der Unterhaltung möglich wird, autonome Meinungs- und Willensbildungsprozesse zu initiieren (vgl. Stolte 2002: 15).

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führen. Zudem wird die Richtigkeit des kritischen Standpunktes selbst unkritisch vorausgesetzt und in keiner Weise begründet. Entgegen der Position von Stolte, ist Fun zum key word einer großen Zahl von Medienformaten geworden, in denen sinnfreies Lachen Trumpf ist und Ironie zum Mittel der Verständigung avanciert. Wo nicht einmal mehr Zynismus und Witze ernst gemeint sind, öffnet sich ein Markt der tausend Unverbindlichkeiten. Der Rausschmiss von Ingo Appelt 2001 bei PRO 7, nachdem sein Baby-Puppen-Torwand-Schießen ausgestrahlt wurde, scheint allerdings ein Anzeichen dafür zu sein, dass der Spaß auch in der vermeintlichen TV-Spaßgesellschaft seine Grenzen hat. Beim Spaß liegt der Ernst gleich unter der Oberfläche. Vergnügen ist harte Arbeit, will man vermehrte Unsicherheiten und Enttäuschungen durch Coolness, Mitfeiern und Mitlachen wirksam kompensieren. Auch in den Medien wird aus Spaß schnell Ernst. Das Gesetz der Einschaltquote diktiert Witzischkeit (Hape Kerkeling) – und diese kennt bekanntlich keine Grenzen und kein Pardon. Spaß machen ist ernstes Business. Immerhin gibt Stefan Raab (2001) in einem Spiegel-Interview zu: »Wir verkaufen SpaßProdukte.«99 Der »Fernseh-Kasper der Spaßgesellschaft«, wie ihn Dausend (2000) schon vor einiger Zeit bezeichnete, hat jedenfalls erkannt, »dass es einträglicher ist, die Sau rauszulassen, als sie abzuschlachten« (ebd.). Und Spaß macht sich v.a. bezahlt. In Zeiten seiner medialen Reproduzierbarkeit ist Spaß, folgt man den Diskursen in den einschlägigen Feuilletons und den vereinzelten wissenschaftlichen Reflexionen, zur Großmetapher des Zeitgeistes, hipper Zynismus geworden, der vorgibt, nichts vorzugeben, und der dennoch die Verteidigung des gesellschaftlichen status quo betreibt. Raabs (2001) Gesellschaftsdiagnose lautet denn auch: »Die deutsche Gesellschaft nimmt sich heute selbst nicht mehr ganz so ernst [...]. [...] Meine stille Hoffnung ist, dass wir alle noch mehr über uns selbst lachen. [...] Lachen hilft immer.« Raab ist es bitterernst mit dieser Einschätzung (vgl. Kleiner/Strasser 2001). Zudem verbindet Raab häufig sehr erfolgreich Spaß und Leistungsprinzip in seinen Sport-Spektakel-Sondersendungen, wie Bobfahren, Boxen, Eisschnelllauf, Turmspringen, Stock-Car-Rennen usw. Andererseits könnte das Motto dieser sportifizierten Spaß-/Leistungs-Spekakel auch lauten: Ernst ist das Leben, heiter der Sport. Hickethier (2002: 86f.) interpretiert diesen Zusammenhang, ohne sich hierbei auf Raab zu beziehen und mit Blick auf Gameshows, als ein konstitutives Merkmal von Unterhaltungsshows im deutschen Fernsehen. TV-medial vermittelter Spaß, ebenso wie die damit verbundenen Aspekte, Unterhaltung und Erlebnis, sind nicht das qualitativ Andere bzw. eine Gegenwelt zur Arbeit, sondern nur andersartige Formen von Arbeit: »Unterhaltung ist Anspan99 Vgl. zu einer sozial- und medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Raab Schmidt (2002); vgl. auch die journalistischen Beiträge von Brinkbäumer (2000), Genrich (2000), Niggemeier (2001).

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nung bei gleichzeitigem Lächeln, und bedeutet Leistung. Fernsehunterhaltung ist harte Arbeit. [...] Die Leistungsorientierung der Fernsehunterhaltung blieb durchgängig erhalten. [...] Kein Spaß ohne Leistung, ohne Arbeit kein Vergnügen.«100 Es wäre in diesem Kontext nicht ausreichend, zu behaupten, dass es sich bei Raab um Ironisierungen dieses Charakteristikums deutscher Fernsehunterhaltung handle. Vielmehr wird u.a. der sein sportlicher Ehrgeiz permanent in Szene gesetzt. Zudem soll die Wahl immer wieder anderer Sportarten verdeutlichen, dass Raab sich jeder (sportlichen) Herausforderung stellt und dabei eine (mehr oder weniger) gute Figur macht. Entgegen dieser These könnte man allerdings auch einwenden, dass der Medienkritiker, auf Grund seiner (diskursiven bzw. theoriepolitischen) Sozialisation gar nicht (mehr) in der Lage ist, sich von diesen Unterhaltungsformate unterhalten zu lassen, also sich auf sie in ihrer Eigensinnigkeit einzulassen. In diesem Kontext könnte auch auf die in diesen Sendungen (symbolisch) stattfindende Umkehrung eines wesentlichen Motors nationalsozialistischer Befindlichkeit, nämlich des Prinzips Kraft durch Freude, hingewiesen werden – hiermit soll nicht behauptet werden, dass dies als bewusste Produktionsstrategie gewählt wird. Für Raabs Spaß-/LeistungsSpekakel gilt hingegen: Freude durch Kraft. Andererseits wird, wie Behrens (2003: 226f.) betont, in den 1970er Jahren die Spaßkultur zur deutschen Vergangenheitsbewältigung: »Zur deutschen Spaßkultur der Siebziger gehört eine restaurierte Fassung des Clowns (der im Zerrbild Nazideutschlands immer beides war, Schwarzer und Jude); die ehemaligen Opfer des Terrors werden jetzt als Gastarbeiter der Kulturindustrie rehabilitiert, das Lachen über sie wird zur Entscheidung für den Massenmord: Roberto Blanco, Tony Marshall, Bill Ramsey, Rudi Carell sind die lustigen Ausländer, deren gebrochenes Deutsch komisch ist. Vater Abraham, ebenfalls Ausländer, ist der lustige Rabbiner, Hans Rosenthal [...] der Jude, der den Deutschen nichts übel nimmt, und selbst im Künstlernamen und Kostüm von Gottlieb Wendehals steckt eine komische Variation des stereotypen Juden.«101 100

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Diese Überlegung von Hickethier weist eine deutliche Referenz zu Adorno und Horkheimers Unterhaltungs-Kritik (1997: 158f.) auf: »Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblasster Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen, nur in der Angleichung an ihn in der Muße.« Dies ist aber nur die eine Seite der medialen Spaßkultur in den 1970er Jahren. Neben ihr existierte, abgesehen vom politischen Kabarett und anderen spaßbasierten Unterhaltungsinstitutionen, der Versuch, den Alltag bzw. die Freizeit nach dem Arbeitsalltag als Karneval bzw. als sinnfreien Bereich, in

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Das gleiche Interesse am Verkauf von Spaßprodukten, das Raab für seine Produktionen betont, attestiert Precht (1998: 47) Harald Schmidt, denn für ihn würde es »kein Richtig und kein Falsch, kein Gut oder Böse, sondern bloß verkäufliche Ware oder Ladenhüter« geben. Berger (1998: 38) geht in seiner Kritik an Schmidt noch einen Schritt weiter: »Das frivole Weltbild dieser TV-Unterhaltung entspringt der Ideologie der politischen Unkorrektheit. Sie macht atavistischen Sexismus und Chauvinismus, unter der Vorspiegelung aufklärerischer Absichten, wieder gesellschaftsfähig. Von den Fans wird der Quatsch unter Artenschutz gestellt: alles Kult! Und was unter Kultvorbehalt steht, ist unangreifbar: Wer’s kritisiert, hat’s nicht kapiert. Soviel Blödsinn war nie« (vgl. Koch 1998; vgl. Strasser/Graf 2004: 75ff.).

Diesen Kritiken könnte entgegengehalten werden, dass Schmidt bewusst mit medialem und gesellschaftlichem Diskursmaterial spielt, d.h. die jeweiligen Themen durch Ironisierung, Zynismus, Sarkasmus, Überspitzung, Klischees, Vergröberungen usw. in ihrer Absurdität oder Fragwürdigkeit aufdeckt. Schmidt wäre aus dieser Perspektive Medium sowie Initiator von Gesellschafts- und Medienkritik, die er mit den Mitteln der Comedy102, der Satire, der Parodie und der Ironie inszeniert sowie hierbei von der Gesellschaft und den Medien permanent mit Material beliefert wird. Zudem müssen die Zuschauer von Harald Schmidt relativ gut informiert sein, denn ohne die Kenntnis des gesellschaftlichen Kontexts seiner Späße, gäbe es für sie wenig zu lachen. Dies bedeutet aber zugleich, dass nur die, die verstehen, dazugehören und alle anderen keinen Zugang zur Spaßgemeinschaft haben. Umfassende Kenntnis über die gesellschaftliche Wirklichkeit, um über die Späße von Schmidt lachen zu können, dies als Anreiz für jenes, wäre ein durchaus positiver (medialer) Sozialisierungseffekt. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zu Stefan Raab, der seine Referenzen zumeist aus der Populärkultur bezieht und für (fast jeden) unmittelbar anschlussfähiges Programm liefert.103 Zudem produziert er

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dem das Prinzip des Nonstop-Nonsens zelebriert wurde, zu inszenieren. Beispiele für diese Form deutscher Spaßkultur in den 1970er Jahren sind etwa Didi Hallervorden, Otto Walkes, Mike Krüger oder Gottlieb Wendehals. Versteht man (politisches) Kabarett als grundsätzlich gesellschaftskritisch und betont, dass Comedy im Unterschied zum Kabarett ohne »gesellschaftsveränderndes Leitmotiv« antritt, dann müsste man Schmidt attestieren, Kabarett und nicht Comedy zu betreiben (vgl. Strasser/Graf 2004: 75ff.) – auf Unterscheidungen zwischen humoristischem Genre wird an dieser Stelle verzichtet. Entsprechend betont der Kabarettist Dieter Hildebrandt (1999: 18): »Harald Schmidt ist ein hervorragender Kabarettist, und er macht in seiner Show Kabarett – nur muss ihm das endlich mal einer mitteilen.« Diese Anschlussfähigkeit ist bedingt eingeschränkt, weil bei vielen strategischen Redundanzen bzw. Running Gags, die als »formelhaftes Gag-Repertoire« (Schmidt 2002: 202) aufgefasst werden können, ein Insiderwissen bestehen muss. Hierbei handelt es sich z.B. um häufig wiederkehrende Witze oder das kontinuierliche Einspielen von Ausschnitten, um unterschiedliche Si-

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Spaß bzw. Kalauer, über den/die jeder seiner Gäste unmittelbar lachen kann, der/die sich aber nach dem Lachen sofort in Nichts auflösen, vergessen werden, um die Bühne umgehend wieder für die nächste Ladung freizumachen und somit das Prinzip von reiner Unterhaltung, aus der nichts folgt und die nichts Nachhaltiges, außer vielleicht dem Gefühl, gut unterhalten worden zu sein, möglichst effektiv verwirklicht. Andererseits lebt Raab konstitutiv von der Schadenfreude, die durch das Vorführen von Personen104 und der Kommentierung ihrer Aussagen bzw. ihres Handelns, die zum kollektiven Verlachen anregt, eingespielt wird. Zudem werden besonders auffällige Beispiele archiviert und in jeder Sendung, für einen bestimmten Zeitraum, immer wieder durch Tastendruck eingespielt. Diese Einspielungen zählen zu den kultigen Aspekten der Sendung, in ihnen wird das Verlachen von Peinlichkeiten zum Stilmittel, über dessen Folgen nicht nachgedacht wird. Adorno und Horkheimer (1997: 163) würden diese Form von Spaß konstitutiv ablehnen: »Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. Sie sind Monaden, deren jede dem Genuss sich hingibt, auf Kosten jeglicher anderen, und mit der Majorität im Rückhalt, zu allem entschlossen zu sein. In solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidarität.« Der Humor der TV-Spaßformate wird dann problematisch und diskriminierend, wenn durch ihn Stereotype, etwa sexistische Weiblichkeitsbilder, klischeehafte Darstellungen der Mentalitäten sowie Sitten und Werte von Ausländern oder die Darstellung gesellschaftlicher Randgruppen, nur als Selbstzweck, d.h. um sie zu verlachen, inszeniert werden. Im Akt des vermeintlich sinnfreien Lachens über diese Späße wird nicht bedacht, welche Ideologien und Vorurteile hiermit unkritisch übernommen bzw. affirmiert werden. Mit dieser Einschätzung wird nicht behauptet, dass die Spaßproduzenten ideologische, rassistische oder andersartig diskriminierende Aussagen vertreten. Vielmehr wird hiermit kritisiert, dass sie dies in Kauf nehmen, um funktionieren und am laufenden Band produziert werden zu können. Im Unterschied zu Schmidt, der sich ausschließlich auf Medienberichte bezieht und fast ausnahmslos auf Medienpersönlichkeiten und medial suggerierte Mentalitäten eindrischt, lebt Raab auch immer wieder vom Vorführen normaler Menschen, die aber in ihrer Peinlichkeit als unnormal ausgewiesen und dafür an den medialen Pranger gestellt wer-

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tuationen zu kommentieren, d.h. »um kurze Statements prominenter Personen, die auf eine bestimmte Art komisch wirken (häufig handelt es sich um Fehltritte Prominenter [aber auch von Nicht-Prominenten – MSK] in der Öffentlichkeit, um Versprecher und Formulierungsunsicherheiten oder um unlogische bis skurrile Aussagen)« (ebd.: 201). Allerdings reicht das Sehen von zwei Sendungen an aufeinander folgenden Tagen aus, um sich dieses Wissen anzueignen. Hierzu zählen etwa alte Menschen, die zu Dingen befragt werden, bei denen sie sich nicht auskennen oder das Zeigen von Personen, die im Fernsehen auftreten und als besonders peinlich erscheinen.

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den.105 Dies als Kritik an den Medien oder an denjenigen, die sich bewusst den Medien aussetzen, zu verstehen, greift zu kurz. Ebenso die Behauptung, dass viele der vermeintlichen Opfer von TV Total durch ihre Vorführung finanzielle und aufmerksamkeitsökonomische Vorteile hätten. Der erste Einwand übersieht, dass es Raab nur um das Verlachen geht, nicht aber um eine Kontextualisierung und kritische Kommentierung. Im zweiten Fall, wie etwa das Beispiel von Regina Zindler106 und ihrem Rechtsstreit um den Maschendrahtzaun sowie dessen Vertonung durch Raab, die auf Platz eins in den deutschen Hitparaden stieg, zeigt, wird nicht beachtet, dass Personen, die nicht medienkompetent sind, d.h. abschätzen können, welche Folgen ihr Medienauftritt bewirken kann, Situationen und psychische Belastungen bewältigen müssen, auf die sie nicht vorbereitet sind bzw. mit denen sie nicht umgehen können. Zudem ist der Regina Zindler-Hype erst durch die umfassende Thematisierung in TV Total initiiert worden bzw. durch Raab zur Witzfigur der Nation aufgestiegen.107 Raabs Standardantwort auf diese Kritik ist, dass niemand Regina Zindler gezwungen habe, mit ihrem Rechtsstreit ins Fernsehen zu gehen und die zahlreichen Interviews zu geben sowie ihre Einbindung in andere Medienformate zuzulassen. Er und sein Team hätten ihr sogar davon abgeraten und psychologischen Beistand angeboten. Raab beachtet dabei nicht, dass er sich in diesem Fall nicht als medienkompetent erwiesen hat, denn dass das Vorführen von Regina Zindler, wie in vielen anderen Fällen von TV Total auch, mediale Nachhaltigkeit bzw. Weiterverarbeitung verursacht, hätte er absehen müssen (vgl. zum Thema Medienop-

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Dieses Vorführen ist ein zentraler Bestandteil der Sendung und trifft auch Medienpersönlichkeiten sowie die Zuschauer im Studio. Insofern ist der folgenden Einschätzung von Schmidt (2002: 222) zuzustimmen: »Wer [...] in eine Sendung eingeladen wird, soll der Lächerlichkeit preisgegeben werden – das wissen zumindest die Zuschauer und Raab, aber auch ein Großteil seiner Gäste. Nicht besondere Fertig- oder Fähigkeiten des Gastes, sondern unintentional hervorgebrachte, komische Aspekte der Person stehen im Vordergrund, die in der Sendung – womöglich – re-inszeniert werden sollen. Aus diesen Vorstellungen bezüglich des Gastauftritts resultiert eine besondere Kommunikationssituation, die sich dadurch auszeichnet, dass der Gast von vornherein unter immensem Handlungs- und Selbstdarstellungsdruck steht: Spannung und Rezeptionsvergnügen entsteht durch den auf diese Weise unweigerlich entstehenden Versuch des Gastes, sein Gesicht zu wahren.« Allerdings sind Medienpersönlichkeiten, die regelmäßigen Umgang mit dem Medium Fernsehen haben und sich in diesem inszenieren, besser darauf vorbereitet, mit Raabs Aktionen umzugehen, als normale Menschen, die keine oder kaum Medienerfahrung haben. Im Fernsehgericht von Sat 1 hat Regina Zindler ihren Nachbarn 1999 verklagt, weil dessen Knallerbsenstrauch durch ihren Maschendrahtzaun gewachsen war. Ein anderes Beispiel wäre die Schülerin Lisa Loch, die Raab in seiner Sendung wiederholt mit der Pornobranche in Verbindung gebracht und sie somit öffentlich zur Witzfigur gemacht hat. Vom Landgericht Essen wurde Raab hierfür zu einem Schmerzensgeld von 22.000 Euro verurteilt.

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fer Gmür 2002). Brinkbäumer (2000: 23) kommentiert die medialen Hinrichtungen von Raab wie folgt: »Die Welt ist irre geworden, und die Menschen sind lächerlich; lasst uns also Spaß mit ihnen haben, weil es langweilig wäre, die Zustände zu kritisieren – so denkt Raab. Und er führt Menschen vor, damit andere Menschen über sie lachen und sich freuen können: Ich kenne den Typ im TV zwar nicht, aber der ist viel blöder, hässlicher, primitiver als ich. Raab verhilft jenen Leuten, die sich für ein wenig Ruhm den Zuschauern zum Fraß vorwerfen möchten, zum Auftritt ihres Lebens im Circus maximus. Dort werden sie berühmt für fünf Minuten und dann geköpft. Und diese Hinrichtungen sind das Lustigste, was es derzeit gibt auf deutschen Bildschirmen« (vgl. Schmidt 2002: 222).

Und Jörg Grabosch, Vorstandsvorsitzender der Produktionsfirma Brainpool TV, antwortet auf die Frage, ob man Menschen im Stil von Raab im Fernsehen bloßstellen dürfe: »Natürlich muss man, weil es lustig ist« (zitiert nach Brinkbäumer 2000: 24). Das Vorführen und Hinrichten von Nicht-Prominenten durch Raab kann nicht durch den Spaßfaktor gerechtfertigt werden und eine damit suggerierte Behauptung, dass das Publikum genau dies sehen wolle, man sich nach diesem richte und es dadurch mitschuldig sei. Eine interessante Funktion hätte dieses Vorführen nur, wenn dadurch ein abschreckende Exempel statuiert werden könnte, das davor schützen würde, auf Gedeih und Verderb ins Fernsehen kommen zu wollen, obwohl fast alle eine schlechte Figur machen und den Satz bestätigen, dass der, der sich ins Fernsehen begibt, darin umkommt. Schmidt fungiert, im Unterschied zu Raab, als Katalysator der (Medien-)Gesellschaft, der nur so gut oder so schlecht sein kann, wie diese ist bzw. ihn sein lässt.108 Wenn Schmidt in den Fokus der Kritik kommt, dann müssen, folgt man dieser Perspektive, jedes Mal auch diejenigen mitkritisiert werden, die die entsprechenden Diskurse zu verantworten haben. Mit dieser Methode gibt Schmidt die Aufgabe der Bewertung seiner Äußerungen in den Entscheidungsbereich der Zuschauer, die wählen müssen, ob sie Schmidts Programm als Diskurs-Angebote bzw. »gesell108

Zudem testet Schmidt permanent, wie belastbar bzw. tolerant diese Gesellschaft, seine Zuschauer sowie die Programmverantwortlichen sind, indem er wiederholt Programmelemente einbaut, die (allein) zu seiner Belustigung dienen (etwa das einminütige, unkommentierte Laufen lassen eines Metronoms; die Zwiegespräche mit seinem Beisitzer Manuel Andrack; das Nachspielen des Literarischen Quartetts sowie von Passagen aus Becketts Endspiel; oder die Moderation einer Sendung auf Französisch), mit denen die Zuschauer kaum etwas anderes anfangen können, als sie unter der Rubrik kultiger Unsinn zu verbuchen und darüber lachen, dass es in diesen Fällen eigentlich nichts zu lachen gibt. Schmidt (2002: 223) kommentiert dies wie folgt: »Ich möchte wissen, wie weit ich’s treiben kann. Das ist reinste private Onanie.« Und in einem Interview mit Tuma (2005b: 174) betont er: »Mein Programmdirektor Dr. Günter Struve hat quasi per Dogma verkündet, ich dürfe alles sagen. Ihnen muss ich nicht erklären, dass ich mit solchen Erlassen wie in Watte laufe [...].«

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schaftliche Lockerungsübungen« (Mohr 2000) oder als Zerstreuungsangebote nutzen. Andererseits ist in diesem Kontext aber auch die Frage, die Kotte (1996) gestellt hat, von Bedeutung: »Satire muss alles dürfen. Muss ein Satiriker alles machen, was er darf?« Ein kurzer Blick auf die Spaßgesellschaft, wie sie organisiert ist, hilft in diesem Kontext weiter. Denn sie kommt auf zwei Ebenen daher: Auf der einen, der Oberfläche, operiert das mediale Design der Spaßformate nach dem Prinzip »Erlebe dein Leben« (vgl. Schulze 1992). Fun als erlebnisorientierte Selbstinszenierung, Spaß- und Erlebnisgesellschaft in inniger Wahlverwandtschaft. Auf der Tiefenebene wiederum fungiert der Spaß als Instrument der Reglementierung sozialer Verhältnisse. Die Spaßgesellschaft ist, folgt man Hörisch (2002b: 274), sowohl hochgradig affirmativ als auch totalitär. Wenn der Spaß regiert, dann total, und TV Total gibt die Spielregeln vor, nach denen sich alle richten müssen.109 Wer kann sich vom Diktat der Witzischkeit schon freimachen, ohne soziale Sanktionen befürchten zu müssen, d.h. nicht dazuzugehören? Martenstein (2002) weist die These vom totalitären, faschistoiden Charakter der Spaßgesellschaft zurück und leitet aus dieser Kritik eine Kritik an den Kritikern der Spaßgesellschaft her: »Tatsächlich ist es die Kritik an der Spaßgesellschaft, die auf einen Begriff von gesellschaftlicher Totalität insistiert, auf einer Gesellschaft, die gefälligst überall bestimmten Wert- und Qualitätsstandards zu entsprechen hat, Maßstäben, die eine von niemandem legitimierte Jury festlegt. Nicht die Spaßgesellschaft ist totalitär, ihre Kritiker sind es schon eher« (vgl. Posener 2001). Als Grund für diese Kritik von Seiten der Intellektuellen, bezeichnet Martenstein die, mit dem vermeintlichen Wissen um die wahre Wahrheit sozialer Wirklichkeit legitimierte Kritik an der Massenkultur und Massendemokratie, nicht aber primär am Spaß, Humor oder Vergnügen selbst, sie urteilt also über Gegenstände, die sie gar nicht in ihrer Eigensinnigkeit analysiert: »Denn ›Spaßgesellschaft‹ ist nur ein anderes Wort für den kulturellen Sieg des Proletariats. Der kleinen Leute, sollte man vielleicht besser sagen. In der kapitalistischen Demokratie setzen die kleinen Leute Maßstäbe, schon deshalb, weil sie so zahlreich sind, als Kunden und Wähler.« Diese Einschätzung übersieht, dass sich Ge109

Entsprechend betont Brinkbäumer (2002: 25): »›TV total ist totalitäres TV, weil es die Spielregeln aufstellt, nach denen sich alle richten müssen. Raab spielt mit ihnen und sagt: Ist mein Job, lass dich von mir verarschen, damit wir alle was zu lachen haben.« Eine andere Interpretation schlägt Schmidt (2002: 199) vor: »Der Titel der Sendung [...] korrespondiert mit Stil und Inhalt des Formats: Im Zentrum stehen TV-Ereignisse und ihre Protagonisten, mit denen Raab suggeriert, sich ›total‹ i.S.v. vollständig, restlos und gänzlich, aber auch i.S.v. ›aufklärerisch‹ und respektlos zu beschäftigen. [...] Mit Einleitungen wie ›Meine Damen und Herren, schauen Sie sich das bitte mal an‹ im Verein mit dem Aufruf zur kollektiven Beurteilung [...] inszeniert er sich spielerisch als Sitten- und Medienwächter [...]. Insgesamt versucht er dadurch, augenzwinkernd den Eindruck zu erwecken, er und seine Sendung seien bemüht, Qualitätsstandards im Fernsehen zu kontrollieren [...].«

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schmackspräferenzen in der Massenkultur v.a. daran ausrichten, was angeboten wird. Diese Angebote werden stets vorgegeben, sind also keine Ergebnisse der freien Wahl von Rezipienten, Kunden bzw. Bürgern. Zudem sind nur wenige Vertreter der Massen in der Lage, Kultur machen zu können, also etwa Musiker, Literaten oder Künstler. Nicht zuletzt gibt es keinen homogenen Markt der Massenkultur, sondern vielfältige Märkte mit jeweils unterschiedlichen Interessenten, die in ihrer Totalität nicht die eine Stimme der (einen) Masse ausdrücken. Die Spaßgesellschaft äußert sich aber nicht nur in sichtbaren Verhaltensweisen. Weniger sichtbar ist die Bedeutung, die ihre kulturellen Ausprägungen für die Individuen und für den sozialen Zusammenhalt haben. Spaßkultur sei nichts anderes »als die Dominanz von Unterhaltung gegenüber Substanz, Kurzweil gegenüber langwieriger Reflexion«, betont Büsser (2001: 161).110 Positiver bewertet Bolz (1999a: 164) die gegenwärtige Spaßmanie, indem er auf den ausgleichenden Charakter der Spaßkultur verweist. Und meint damit den Comedy-Boom der letzten Jahre im Fernsehen: »Deutschland hat heute [...] beides zu bieten: die ernste Kultur der Kritik der Kultur und – als Wiedergutmachung – die ›tolle Welt‹ der Comedy. Wir haben die Agenten der Betroffenheitskultur, die auf alle Weltereignisse mit ›Wut und Trauer‹ reagieren, und die Witzarbeiter, die das alles in ›eine tolle Sache‹ verwandeln. Die einen produzieren schlechtes Gewissen, die anderen entlasten davon. Und eben dafür haben wir den Comedies zu danken: ihr Lachen befreit von der Heuchelei. Die Zumutungen des politisch Korrekten werden erträglich durch das allabendliche TV-Training von Lässigkeit. Und es hilft. Deutschland wird laxer, lustiger, lockerer.« Abgesehen von der Frage, ob diese Einschätzung von Bolz zumindest idealtypisch zutrifft, ist sie wenig geeignet, um im Feld der Auseinandersetzung mit der Spaßgesellschaft bzw. mit entsprechenden TVSpaßformaten voranzukommen. Vielmehr wird durch sie der Graben zwischen den beiden Polen Ernst, als Synonym für Sinn, Hochkultur, kritisches Bewusstsein, Verantwortung, Humanität etc., und Spaß, stellvertretend für Unsinn, Massenkultur, Erleben, Freiheit von permanenter Verantwortungs-, Kritik- und Betroffenheitsverpflichtung sowie von Ernsthaftigkeit und Wertbewusstsein, noch vergrößert. Zudem verstellt Bolz durch sein Plädoyer für die befreiende Wirkung der TV-Comedy den Weg, um über Alternativen nachzudenken, also Gesellschaft nicht nur zwischen einer kulturellen 0-1-Werteskala, d.h. pseudodialektisch, zu betrachten.

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Das Grundmuster dieser Argumentation prägten Adorno und Horkheimer (1997: 191) in ihrer Rede von der »zwanghafte[n] Mimesis der Konsumenten an die [...] Kulturwaren«.

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Nach dem 11. September 2001 schien alles anders geworden zu sein111, nur Schmidt & Co nicht, obwohl in diesem Zeitraum wiederholt vom Ende der Spaßgesellschaft gesprochen wurde (vgl. u.a. Martenstein 2001; Schmidt 2001; Güntner 2001; Seifert 2001 sowie die Beiträge in Seubold/Baum 2004). In der Tat greift der comedian schon immer Angstund Tabuthemen auf und zeigt uns deren logische, manchmal schockierende Zusammenhänge. Für großes Aufsehen und viel Kritik sorgte eine nach dem 11. September 2001 erschienene Fotomontage des SatireMagazins Titanic, auf der der Kopf von Wolfgang Thierse veröffentlicht wurde und über der die Schlagzeile stand: »Die Spur führt nach Deutschland«. Der Kommentar hierzu vom Titanic-Chefredakteur Sonneborn (2001: 117) lautete: »Thierse hat schließlich einen Extremistenbart und kommt aus der DDR, also dem Nahen Osten.« Der Titanic-Beitrag ist durchaus geeignet, die Ereignisse des 11. Septembers mit den Mitteln der Satire aufzuarbeiten, zumal er nicht unerhebliche Anforderungen an den Rezipienten stellt und somit einen informierten sowie eigensinnigen Rezipienten erfordert. Witze über schreckliche Ereignisse gehen aber, folgt man Schuller (1997: 32), mit menschlichem Leid unangemessen um, gerade weil darin ihre Funktion besteht: »Das Große, das zu groß, das Schreckliche, das zu schrecklich ist, als dass man es ertragen könnte – der Witz schnitzt es klein.« Beispiele, die diese These belegen würden, und die vermeintliche Ventil- bzw. Entlastungsfunktion des Humors hinsichtlich des 11. Septembers ad absurdum führen, wären etwa die Flut von Bin-Laden- und Taliban-Kalauern bzw. Terror-Witzen sowie Dutzende von verfremdeten Digitalbildern, die im Internet zu finden waren bzw. sind (vgl. mit einer Bewertung u.a. Kreitling 2001; Skywalker 2002). So gab es etwa eine Internetseite, die als Taliban Single-Börse aufgemacht und deren Betreiber Osama Bin Ladin ist; andererseits Bilder von einem neuen Mitglied in der Kinder-Serie Teletubbies, das mit einem Bart und Maschinengewehr ausgerüstet ist und Tali-Tubby heißt; oder eine Werbung für die Bin La111

Diese vermeintliche Veränderung ist allerdings, wie der Kabarettist Matthias Deutschmann (2001) beschreibt, nur eine Konjunkturerscheinung, die letztlich nichts mit moralischer Gesinnung zu tun hat. Deutschmann antwortet daher auf die Frage, ob nach dem 11. September und dem Afghanistan-Krieg die Spaßgesellschaft endgültig zu Ende gekommen sei: »Das wäre ein falscher moralischer Ansatz. Der kommt von genau den Leuten, die die Spaßkultur betreiben. Das Muster ist das gleiche: Ein Problem wird skandalisiert, ein Imperativ aufgestellt. Schluss mit lustig! Wohl wissend, dass die Leute noch schneller zur Normalität zurückkehren, wenn sie so ein Verbot über sich schweben sehen. [...] Die Abstinenz vom täglichen Nonsens konnte nur von kurzer Dauer sein. Die Moralapostel des Boulevards sind in sich gegangen, aber die Reise hat sich offenbar nicht gelohnt. [...] Diese Gesellschaft kann die moralische Schublade immer nur eine Zeit lang offen halten, dann wird sie wieder geschlossen. Es wäre sehr verwunderlich, wenn so ein Ereignis innerhalb von wenigen Tagen die Grundhaltung der Gesellschaft verändern könnte.«

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din-Airlines: »Bin Ladin Airlines bringt sie direkt ins Büro!« Als Witze kursierten auch: »Zwei Türme sind verliebt, sagt der eine zum anderen: ›Mir ist so schwummrig!‹ ›Warum?‹ ›Ich glaub, ich hab Flugzeuge im Bauch!‹.« Oder: »Was sagt Osama Bin Laden, wenn er in ein Flugzeug steigt? Einmal 46. Stock, bitte.« Wenn der Spaßmacher seinen Zuschauern und -hörern die Sicherheit zu geben vermag, dass man mit dieser Welt noch immer fertig geworden sei, dann macht Spaß allemal Sinn. Denn Spaß und Humor bedeuten Distanz, jedenfalls das Gegenteil von Fanatismus (vgl. Precht 1998: 47). Kreitling (2001) beurteilt den Erfolg dieser spaßbasierten Verarbeitungsrituale ambivalent: »Die Bilder-Späße über das Attentat betreiben Lach-Seelsorge, sie sind das Ventil für das Unaussprechliche. Das Internet ist das Medium der niedrigschwelligen Kommunikation, niemand muss sich in die Agora begeben, um einen Witz zu erzählen, der vielleicht als geschmacklos geahndet wird, die Dateien wahren eine verschmähte Rest-Distanz. [...] Sagt das etwas über unser Unterhaltungsbedürfnis? Über die Veränderung unserer Kultur? Zeigt die lachhafte Wehr das Grummeln der so genannten Spaßgesellschaft über die herrschende Moral? Das Bild ist uneinheitlich. [...] Man wird die Digi-Fakes und Bin-Ladin-Witze einmal als popkulturelle Reaktion betrachten können. Doch die Zeit der TalibanWitze ist begrenzt, was kommt danach? Die Straße nach Katharsis muss ziemlich breit sein.«

Diese Einschätzung von Kreitling weist einerseits auf einen erheblichen Mangel an gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Mitteln hin, mit gesamtgesellschaftlich bzw. weltgesellschaftlich relevanten Katastrophen bzw. Ausnahmezuständen, adäquat umzugehen (vgl. Kap. 4.1). Vielmehr offenbaren diese spaßbasierten Verarbeitungsversuche eine Handlungsunfähigkeit und die Grenzen der Möglichkeiten emotionaler und intellektueller Stellungnahmen. Der Versuch, mit Bildern auf Bilder zu reagieren, d.h. neue Bilder, die vom Druck der Dokumentationen des Schrecklichen entlasten sollen, ist hinsichtlich des 11. Septembers in fast allen Fällen nicht geglückt. Mehr noch, sie haben das Klima kollektiver Verunsicherung und Angst eher potenziert. In der Diskussion der Frage, ob sich die (spaßbasierte) TV-Unterhaltung nach den Ereignissen vom 11. September 2001 weiterentwickeln bzw. grundlegend verändern müsste, sind somit auch bis heute keine konkreten Änderungsvorschläge formuliert worden. Forderungen, dass sich die Fernsehunterhaltung, speziell die (sinnentleerten) Spaßformate, etwa von Vereinfachungs-, Ironie- oder Radikalisierungsmaschinen zu verantwortungsvollen sowie selbstkritischen Informanten und Unterhaltern mit kulturellem Auftrag entwickeln müssten112, sind zu oberflächlich, eindimensional und interessenpolitisch 112

Für Seifert (2001) ist das Plädoyer für eine neue Ernsthaftigkeit und Wertegemeinschaft lediglich eine mediale Erziehungsdiktatur, die, im Medium der »emotional correctness«, eine medial initiierte Vergemeinschaftung erreichen

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motiviert, um einen qualitativen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten. Ausgehend von solchen Vorschlägen hätte auch eine Debatte über den Umgang von Comedy mit (welt-)gesellschaftlichen Großereignissen (Terror, Krieg, Politik, Katastrophen etc.) initiiert werden können, an dem sich die Comedians, Journalisten, Interessenvertreter, Wissenschaftler usw. hätten beteiligen können. Diese Auseinandersetzung hätte im Fernsehen auf den Sendeplätzen der einschlägigen Comedy-Formate geführt werden können, um entsprechende Aufmerksamkeit zu erzielen und den Comedy-Zuschauern, so sie diese überhaupt interessiert hätte, ermöglichen können, sich an dieser Debatte zu beteiligen. In diesem Feld bestünde eine Chance für die Medien- und Sozialwissenschaften mit entsprechenden Analysen und Kritiken sowie durch die Generierung von Handlungsszenarien, allerdings immer in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, Krisenbewältigungsarbeit zu leisten, die u.a. vor der Konstruktion von Feindbildern sowie der Produktion von kollektiven Angstzuständen schützen könnte. Skywalker (2002) betont in diesem Kontext: »Bin Ladens Person eignet sich nicht für einen guten Witz, weil der Djihad und die Taliban nicht witzig sind – Amerikas Potenz und Allmachtsphantasien, die z.B. die Taliban überhaupt erst zu dem gemacht haben, was sie jetzt sind, allerdings schon!!!« Emanzipatorische und wirklich therapeutische Formen des Humors sind für Skywalker diejenigen, die sich, bleibt man bei den Ereignissen des 11. Septembers, nicht über die Opfer lustig machen, sondern »über die Verhältnisse, in denen Menschen zu Opfern werden« (ebd.: 128). Hierbei sollte aber keine Konsensgemeinschaft erzeugt, sondern unterschiedlichste Aspekte, so kontrovers wie möglich, hervorgehoben werden, um vielfältige Diskussionen bzw. Auseinandersetzungen mit den einzelnen Themen anzuregen. Allerdings kann dieser Kampf an der symbolischen Humorfront nicht immer von den realen Ereignissen gelöst werden. Für Skywalker (ebd.: 130) kann das Einstürzen der Twin Towers insofern Gegenstand einer humoristischen Auseinandersetzung werden, wenn sie als Symbol für die Macht bzw. Allmachtsphantasien Amerikas und des westlichen Kapitalismus verstanden werden. Ebenso, wenn die Unternehmer und Mitarbeiter der in den Twin Towers angesiedelten Firmen, als Unterstützer bzw. Diener des kapitalistischen, hegemonialen Systems aufgefasst werden, würde ihr (verzweifelter) Sprung aus den möchte, und zwar durch »die Beschwörung der großen, elementaren Gefühle: Trauer, Entsetzen und Zorn«. Ein emanzipatorischer Umgang mit den Ereignissen vom 11. September 2001 ist hierbei allerdings nicht möglich, vielmehr soll, folgt man dieser Perspektive, Anschluss an die neue Wertegemeinschaft erfolgen, weil diese Werte jedem unmittelbar einleuchten müssen, sie als Bürgerpflicht erscheinen. Ähnlich verhielt es sich mit der Losung, die der amerikanische Präsident George W. Bush für den Kampf gegen den Terror ausgab und dem man sich nur unterordnen konnte, um nicht ins Abseits der Wahrheit und Richtigkeit zu geraten und damit bekämpft zu werden: »Neither you are with us or against us.«

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Fenstern insofern die gleiche Komik besitzen, wie der Einsturz der Twin Towers. Skywalker hat Recht, wenn er eine reflexive Form des Humors fordert, durch die die Situationen, aus denen Ereignisse, wie der 11. September resultieren, offen gelegt werden.113 Allerdings ist der Einsturz der Twin Towers mit Tausenden von Toten verbunden und kann in keiner Weise zum Gegenstand einer humoristischen Auseinandersetzung gemacht werden, denn durch jeden Lacher werden diejenigen individuellen Existenzen verlacht, die ermordet wurden und nicht in ihrer Rolle als Unternehmer oder Arbeiter aufgehen. Die Logik der Morde der RAF, d.h. die Behauptung, es gehe hierbei nicht um die jeweils konkreten Personen, sondern nur um diese Personen als Funktionsträger des Systems, wodurch die Morde als gewaltsamer Widerstand gegen eben dieses erscheinen sollten, spiegelt sich insofern auch in den vorausgehenden Überlegungen von Skywalker wider. Die Spaßunternehmer, die Ikonen der Spaßgesellschaft, scheinen inzwischen diese selbst zu persiflieren und sich über sie lustig zu machen. Vorbereitung zum würdigen Abgang? Büsser (2001: 156) zitiert das Beispiel von Stefan Raab: »Raab antwortet auf die Plattheit der Branche, in der er arbeitet, mit einer noch größeren Plattheit, mit geradezu kalkulierter Dummheit – diese allerdings als gegenüber Kritik erhabenem Spott in Szene gesetzt. Er [...] setzt dem Runtergekommenen lediglich etwas noch Runtergekommeneres entgegen.« Das unterhaltungsorientierte Fernsehen bedient sich in hohem Maße anderer Medieninhalte bzw. Medienpersönlichkeiten. Hier bietet sich die Gelegenheit, die Lust an höchst subjektiver Bewertung aufmerksamkeitsökonomisch in Szene zu setzen. Die Befriedigung dieser Lust kann wiederum selbst Objekt weiterer Unterhaltungssendungen sein. Pionier war dabei Oliver Kalkofe, dessen Mattscheibe sowohl früher auf Premiere als auch heute bei ProSieben mit den Mitteln der Verkleidung, der karikierenden Imitation und der satirischen Kommentierung gesendetes Fernsehen lächerlich macht. Was kommt, wenn der Spaß aufhört? Wird sich Harald Schmidts Prophezeiung, dass nach der Ironie das Pathos komme, bewahrheiten? Werden auch die Massen dem Spruch des englischen Popstars Jarvis Cocker, »Irony is over«, folgen und Einkehr statt Aufbruch pflegen?114 113

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Skywalkers (2002: 133) Vorschlag einer humoristischen Auseinandersetzung mit den fragwürdigen Aktionen der amerikanischen Administration, also ihre Reaktionen auf den 11. September, kann hingegen nur unterstützt werden: »Deshalb sind Witze, die z.B. die Verlogenheit der Amerikaner mit ihren Indexlisten aufs Korn nehmen, wichtig und richtig, weil sie mehr über soziale Verhältnisse, Rezeptionen in Medien und bestehende Moralvorstellungen aussagen, als so vieles andere Geschwafel und Möchtegernanalysen.« Ein Plädoyer für die gesellschaftskritische Funktion der Ironie, das die Forderung von Cocker zurückweisen würde, trägt Kopetzky (2004: 48) vor: »Die ironische Haltung versucht die Mitte zu finden. Sie ist mitfühlend und ernst dem Menschen, unerbitterlich und präzise den Verhältnissen gegenüber. [...] Ironie ist ein Weg, mit der Wahrheit zu leben, die Wirklichkeit nicht zu verleugnen und dennoch nicht zu verzweifeln. Den Kältetod darüber zu sterben,

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Können wir mit einer neuen Ernsthaftigkeit und einer Zuwendung zu festen, wenn auch stärker nutzenorientierten Wertmaßstäben rechnen? Auch diesbezüglich erweist sich Harald Schmidt als Vorreiter. In einem Gespräch mit Günter Gaus bezeichnete er sich als Wertkonservativer und hob die Bedeutung hervor, die verbindliche Wertmaßstäbe, Familie, klassische Bildung und Hausmusik für ihn besäßen. Mit diesem Bekenntnis lag er genau im Trend. Aber auch das nicht nur von Schmidt formulierte Plädoyer für eine neue Ernsthaftigkeit und neue Werte, ist ein Konjunkturprodukt, ebenso wie die Rede vom Ende der Spaßgesellschaft. Beides fungiert als Munition für die Kritiker der Spaßgesellschaft. Welche Kritikmöglichkeiten an der Spaßgesellschaft werden aber konkret geäußert? Harald Schmidt (2002: 240) riet auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik 2001 ganz pragmatisch: »Schauen Sie sich doch diesen Scheißdreck einfach nicht an!« Abschalten als Widerstand gegen den postulierten Spaßrausch in den bzw. der Medien? Sonneborn (2004: 117f.) weist hingegen darauf hin, dass von einem Humor, der auf die Massen schiele, wie es für die TV-Comedy-Formate üblich ist, »nichts Lustiges« zu erwarten sei. Eine andere Betrachtungsweise schlägt der (öffentlich-rechtliche) TV-Moderator und Journalist Ranga Yogeshwar vor (zitiert nach Leder 2002: 138ff.). Er spricht sich gegen eine strikte Trennung zwischen Ernst und Spaß im (öffentlich-rechtlichen) Fernsehen aus und betont, dass in seiner naturwissenschaftlichen Sendung Quarks & Co. (WDR), Spaß und Ernst unmittelbar miteinander verbunden seien. Diese Verbindung sei wichtig, um den Zuschauer erreichen zu können und sich vom Lachen der Comedy- bzw. Nonstop-Nonsens-Formaten zu unterscheiden, die er, mit Blick auf Stefan Raab, als »die Verkommerzialisierung des Moments« beschreibt: »Bei uns lacht der Zuschauer aus einem anderen Grund. Und zwar ist das, meines Erachtens, ein anderes Lachen, es ist das Lachen der Erkenntnis, das Lachen, wodurch man vielleicht irgendeinen Zusammenhang versteht.« Das Lachen der Erkenntnis, als emanzipatorische Form von Humor, für die, folgt man den bisherigen Ausführungen, Harald Schmidt stehen könnte sowie die Überlegung von Skywalker, dass kritischer Humor den Zusammenhang und Entstehungskontext von Situationen aufdecken müsse, entgegen gewohnten oder politisch korrekten Erwartungs- bzw. Beschreibungsmustern. Dieses Lachen, das auch für politisches Kabarett typisch ist, stellt aber nur eine der Möglichkeiten der medialen Inszenierung von Spaß dar, die nicht als die grundsätzlich bessere gegenüber reinen Nonsens-Formaten dargestellt werden kann, weil diese einem Bildungsideal verpflichtet ist, das für reine Spaßformate nicht bindend ist, also letztlich eine interessenpolitische Positionierung darstellt. wie schlecht wir Menschen in überwältigender Weise miteinander umgehen und was wir uns antun.«

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Das Lachen der Erkenntnis ist für Adorno die einzige Möglichkeit emanzipatorischen Humors und heute nur noch im Medium der autonomen Kunst zu verwirklichen, nicht aber im Rahmen der Medienkulturindustrie (zu Adornos Verhältnis zur Spaßkultur vgl. die Beiträge in Seubold/Baum 2004). Adorno (1997i: 342) unterscheidet also zwischen richtigem und falschem Humor, behauptet hierbei aber nicht, dass das Publikum den medienkulturindustriellen Spaßproduktionen ahnungslos ausgeliefert sei: »Man darf annehmen, dass das Bewusstsein der Konsumenten selbst gespalten ist zwischen dem vorschriftsmäßigen Spaß, den ihnen die Kulturindustrie verabreicht, und einem nicht einmal sehr verborgenen Zweifel an ihren Segnungen.« Gegen den Humor bzw. Spaß der Medienkulturindustrie, dem falschen Humor bzw. Spaß (vgl. Adorno/ Horkheimer 1997: 163; Adorno 1997q: 603), führt Adorno die kritische Ironie und den widerständigen Humor, wie er sich etwa in Becketts Endspiel findet, ins Feld: »[...] [D]as Lachen, zu dem es animiert, müsste die Lacher ersticken. [...] Humor selbst ist albern: lächerlich geworden [...]. [...] Noch die Witze der Beschädigten sind beschädigt. Sie erreichen keinen mehr; die Verfallsform, von der freilich aller Witz etwas hat, der Kalauer, überzieht sie wie ein Ausschlag« (Adorno 1997p: 300f.). Nur jenes Lachen, das sich über sich selbst Klarheit verschafft und zudem Einblicke in die Konstitutionsbedingungen sozialer Wirklichkeit vermittelt, kann allein durch emanzipatorische Formen des Humors bzw. Spaßes, ermöglicht werden, denn in ihnen fallen Warenproduktion und Spaßkultur nicht zusammen. Weiterhin stecken sie, so Adorno (1997q: 605), »mit dem Lachen über die Lächerlichkeit des Lachens« an, gerade weil sie in ihrem Lachen auf das Andere der Wirklichkeit hinweisen und Wirklichkeit in ihrer Abgründigkeit entlarven. Das Lachen und die Spaßproduktionen der Spaßgesellschaft, denen es nur darum geht, sich von Sinnstiftungen sowie Schuld- und Betroffenheitskultur zu befreien, zu versuchen, alle möglichen Inhalte zu Trägern des Spaßerlebens, das als reiner Selbstzweck fungiert, zu machen und das Verlachen von allem und jedem, zum kategorischen Imperativ des Spaßgenusses erhebt, führt durch das »Lachen, einst Bild von Humanität, zum Rückfall in die Unmenschlichkeit« (ebd.: 603), affirmiert lediglich die Welt in ihrem status quo. Die Widerständigkeit emanzipatorischen Humors bzw. Spaßes ist aber nicht nur in seiner Kritikfunktion begründet, sondern auch durch seine Kreativitätspotentiale. Adorno und Horkheimer (1997: 164) sprechen sich daher für das »reine Amüsement in seiner Konsequenz, das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziationen und glücklichen Unsinn« aus, das permanent »vom gängigen Amüsement [der Kulturindustrie – MSK] beschnitten« wird. Eine andere Form emanzipatorischen Humors beschreibt Foucault (1976) als eine Form subversiver Heiterkeit: Den »kleinen Nobelpreis des wissenschaftlichen Humors« (ebd.: 131) will Foucault jenen verleihen, die »ein Sandkorn ins Getriebe« (ebd.) der Machtnetze, die uns

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überwachen, disziplinieren und kontrollieren, werfen und die Macht »in einen Hinterhalt [...] locken« (ebd.: 134). Er unterscheidet zwei Arten des wissenschaftlichen Humors: den »Humor der Naivität«, der »eine Zone des Halbschattens [aufsucht], um die die vornehme Welt sich nicht geschert hat, und [...] hartnäckig [...] die Frage [stellt]: ›Können Sie es mir erklären?‹; und zwar bis zu dem Moment, da man das Recht hat zu sagen: sie weigern sich zu sehen, weil sie sonst mit allem wieder bei Null beginnen müssten [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 132); und den »Humor des Verrats«, indem man »irgend etwas Ungeheuerliches [erzählt], durch das die Bude in die Luft gesprengt wird, aber ohne gewaltsamen Ansturm, indem man im Gegenteil ein vertrautes Verhalten an den Tag legt, indem man den Eindruck erweckt, ohne Unruhe das Haus zu bewohnen, das man vermint, und die Sprache zu gebrauchen, die hier alle Tage gesprochen wird« (ebd.). Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, wurden in Deutschland zahlreiche politische Aktionen durchgeführt und Ausdrucksformen politischen Widerstandes erprobt, die in einer Publikation aus dem Jahre 1984 unter dem Begriff Spaßguerilla zusammengefasst wurden (vgl. Spaßguerilla 2001). Diese Spaßguerilla schien Foucaults Forderung nach einem »Humor des Verrats« nicht in wissenschaftlicher, sondern in lebensweltlicher Weise, in die Tat umzusetzen. Ziel der SpaßguerillaAktionen war es, durch die Medien der Verfremdung und Fälschung, etwa von Behördenschreiben115 oder Plakatwänden116, die Eroberung der Öffentlichkeit, durch den symbolischen, gewaltfreien Kampf gegen Bürokratie, Polizeistaat, soziale Ungerechtigkeit und hegemoniale gesellschaftliche Machtzentren, bewirken. Durch solche Aktionen sollte das Vertrauen in die gesellschaftlichen Vertrauens- und Autoritätsinstanzen 115

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Hierbei wurde darauf geachtet, dass der Empfänger oder Betrachter den Eindruck hatte, dass diese offiziellen Charakter hätten und daher als legitim sowie handlungsweisend aufgefasst wurden. Hierdurch konnte Gesellschaftskritik als durch die Autorität des von ihr kritisierten Gegenstandes getarnt, aus diesem selbst heraus die »Bude in die Luft jagen«. »Mit Gratis-Gutscheinen oder der Mitteilung von Strompreis-Ermäßigungen lassen sich [...] die Funktionsweisen einer (oft abstrakten) ausbeuterischen ›Weltordnung‹ oder das Gebaren von Energie-Monopolisten auch für in dieser Hinsicht eher unbedarfte KonsumentenInnen konkret anhand bestimmter Waren vor Augen führen – und: die Menschen, die vielleicht zum Nachdenken über ihr Konsumverhalten gebracht werden, würden zum größten Teil vermutlich nie ihre Füße in einen ›Dritte Welt‹-Laden setzen« (Spaßguerilla 2001: 234f.). »kunststudenten mieten eine werbefläche, montieren auf sie eine friedenstaube, die tot im stacheldraht hing. [...] mitten im deutschen herbst 77 klebte er [Manfred Spies – MSK] die worte ›polizeiterror‹, ›justizterror‹, ›konsumterror‹ und bullenauflauf gebildet. in der nacht wurde das plakat abgerissen. Am nächsten tag klebte spies: ›hier verhinderte das gesunde volksempfinden die freie meinungsäußerung gewaltsam‹ auf die fläche. wieder einen tag später war die fläche von ihrem besitzer mit einer spülmittelreklame überklebt – ›der ursprüngliche glanz erstrahlt – sunlicht‹ [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 29ff.).

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mit Vorbildfunktion, wie z.B. Behörden, Polizei, Politiker oder Medien, erschüttert werden, indem man den Blick auf ihre Konstitutionsbedingungen und Funktionsweisen lenkt. Dadurch soll eine gesellschaftliche Eigendynamik in Gang gesetzt werden, durch die das herrschende Falsche, also die Gesellschaft in ihrem status quo, ins Wanken gebracht wird und zwar durch die Einsicht und den daraus möglicherweise folgenden Aktionen derjenigen, die sich mit den Fälschungen und Verfremdungen auseinandersetzen sowie davon angeregt, selbst Aktionen ausführen. Die Verbindung aus Spaß und Ernst soll hierbei im Idealfall ein Lachen der Erkenntnis erzeugen und zu emanzipatorischen Handlungen anleiten117, wobei diese Anleitung insofern problematisch ist, als die Aktionen der Spaßguerilla fast durchgehend rechtswidrig waren und der Fluchtpunkt der Spaßguerilla-Aktionen die Anarchie war (vgl. zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes bei der Kommunikationsguerilla Kap. 4.2). Lange bevor diese Kritik zum Ausdruck gebracht wurde, und von Journalisten oder Wissenschaftlern, wie etwa Bolz, zurückgewiesen wurde, hat Plessner (2002: 15) 1924 einen Kulturkritikertypus, der Unterhaltung und Vergnügen per se ablehnt bzw. als falsches Bewusstsein bezeichnet sowie die Würde der Kritik als grundlegende Unversöhnlichkeit mit der Welt bzw. Sisyphusarbeit, als radikal zurückgewiesen: »Radikal sein bedeutet Moralismus der Leistung, Misstrauen gegen Freude und Genuss, Verachtung des Scheins, des Leichten, alles dessen, was von selbst geht, Verehrung der Schwierigkeiten und nur zu williges Bejahen der Bitterkeiten, die aus der Inkongruenz unseres Willens mit der Welt hervorgehen.« Was folgt aus dieser Überlegung für eine Kritik an der TV-Spaßkultur? Zum einen, dass sich diese Kritik nicht in starren Oppositionen, wie Spaß und Ernst, bewegen darf, also mit dem Wissen um das eigentlich Wahre und Richtige auftritt, die Maßstäbe ihrer Kritik hierbei aber zumeist unkritisch voraussetzt und als konsensuell gültig betrachtet. Zweitens, dass sie sich vor oberflächlichen, aufmerksamkeitsökonomisch erfolgreichen Verallgemeinerungen hüten muss. Diese folgen zumeist aus dem vorausgehenden Aspekt. Weiterhin darf Kritik nicht als grundlegen117

»spaßguerilla als ausweitung und eingriff: die spaßguerilleros geben damit anderen leuten die möglichkeit zu widerstandshandlungen. sie zeigen ihnen auch vor, wie ein gleichsam unsichtbarer, aber gerade dadurch sehr wirksamer widerstand vorgehen kann. Aber sie treten nicht wie eine politische partei vor das volk. klären es über seine lage auf und fordern es dann auf, gerade zu stehen und mit ganzer person auf einer demo mitzuspazieren. oder mit namen und adresse listen vollzufüllen, die dann mit ›forderungen‹ versehen den unterdrückten übergeben werden [...] nein, sie zeigen den leuten wege, sich in nicht oder kaum greifbarer form zu wehren. das getriebe der herrschaftsmächte zu sabotieren. und diese sabotage hat kein politisches zentrum, sie ist nicht der beruf einiger experten. jeder und jede kann das machen [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 55).

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de Opposition zur Gesellschaft in ihrem jeweiligen status quo aufgefasst werden, denn hierdurch besteht die Gefahr, dass die Kritik und der Gegenstand der Kritik, also in diesem Fall die Gesellschaft, durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt werden. Denkt man den Ansatz von Plessner weiter, so müsste aus dem letzten Punkt folgen, dass Kritik auch Vorschläge zur Veränderung des von ihr Kritisierten anbieten könnte. Weiterhin, dass sie vorsichtig sein sollte, über die Befindlichkeiten der Mediennutzer zu spekulieren, also vermeintlich konkrete Medienwirkungen zu behaupten. Letztlich, dass Kritik sich immer nur als ein (Nutzungs-)Angebot und nicht als ein Gerichtshof verstehen müsste, deren Maßstäbe sich nicht grundlegend in einem von den Gegenständen der Kritik entfernten Raum konstituieren, also realitätsfern bleiben. Zum anderen verschwindet nichts, was einmal in das kulturelle bzw. mediale Gedächtnis aufgenommen wurde, endgültig. Die Rede vom Ende der Spaßgesellschaft ist daher unsinnig. Baudrillard (1994b: 50)118 hat darauf hingewiesen, dass alle Bestände dieser Gedächtnisse nach Belieben erneut zum Leben erweckt, also jederzeit als Retro-Trends wieder als zeitgeistig ausgerufen werden können: »Es ist unglaublich, dass nichts von dem, was man geschichtlich für überholt hielt, wirklich verschwunden ist, alles ist da, bereit zur Wiederauferstehung, alle archaischen, anachronistischen Formen sind unversehrt und zeitlos vorhanden, wie Viren im Inneren des Körpers. Die Geschichte wurde nur aus der zyklischen Zeit herausgerissen, um dem Recycling zu verfallen.«119 Baudrillard übersieht hierbei aber, dass sich beim Recycling das Recycelte verändert, d.h. von den Sinn- und Bedeutungskonstruktionen der jeweiligen historischen, diskursiven, gesellschaftlichen, kulturellen und medialen Situation abhängt. 2.3.2

Unterschichtenfernsehen. Auf dem Weg in eine mediale Klassengesellschaft?

Ein gutes Beispiel für das verändernde Recycling von vermeintlich beendeten Diskursen stellt die Auseinandersetzung mit dem Unterschichtenfernsehen dar. Im Jahr 2004 bot das 20-jährige Jubiläum des Privatfernsehens Anlass für einen kritischen Rückblick sowie Ausblick auf die deutsche Medienentwicklung. Eine Diskussion über die Kontroll- und Kritikfunktion der Medien blieb hierbei allerdings weitgehend aus. RTL produzierte hingegen eine Dschungel-Show (Ich bin ein Star! – Holt

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Baudrillard geht es in dem Aufsatz, aus dem dieses Zitat stammt, um eine Auseinandersetzung mit der Rede vom Ende der Geschichte, also des geschichtlichen Zustandes des Posthistoire (vgl. Kleiner 1999). Mit anderer Akzentsetzung formuliert Benjamin (1992: 142) eine vergleichbare Einschätzung: »Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt der Wahrheit Rechnung, dass nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.«

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mich hier raus), die fast ausnahmslos als Ausverkauf des guten Geschmacks und Steigerung des Ekel- und Lächerlichkeitsniveaus beurteilt wurde, allerdings hohe Einschaltquoten erzielte.120 Nicht nur bei diesem Sendeformat, sondern auch bei der (unkritischen) Selbsthistorisierung121 der privaten Anbieter, entstand der Eindruck, dass es Fernsehanbietern heute einzig um die Anbindung an die Vermarktung ihrer eigenen (Programm-)Leistungen geht, anstatt über die Aufgaben und Perspektiven der Medien in der Gesellschaft zu reflektieren. Seit Beginn des Jahres 2005 findet sich für diese Formate ein neuer Begriff im Umlauf: Unterschichtenfernsehen (vgl. zur pointierten Zusammenfassung dieser Diskussion Tuma 2005a).122 Auf den ersten Blick ist die Bezeichnung leicht zu entschlüsseln: »Im Unterschichtenfernsehen werden Unterschichtler von Unterschichtlern gesehen« (Gertz 2005: 3). Bilder dieser Unterschichtler lassen sich, folgt man den entsprechenden Diskursen, etwa in den Reality-Shows, Mittags- und Boulevardmagazinen oder den Gerichts- und Heimwerkershows der Privatsender finden. Doch mit dem Begriff ist mehr angezeigt: der Wandel des Fernsehens 120

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Dieses Format ist nur eine von mehreren neuen Unterhaltungssendungen, die von den Privatsendern seit längerer Zeit am laufenden Band produziert werden. Hierbei nehmen nicht nur die Halbwertzeit des Publikumserfolges kontinuierlich ab, sondern die Grenzen der Belastbarkeit der Mediengesetze und der Kandidaten werden zunehmend ausgereizt. Besonders auffallend war in der RTL Dschungel-Show der Zynismus, mit dem Personen, die vorher vom Sender selbst aufgebaut wurden und von deren Medienpräsenz RTL profitierte, in die Hände des Publikums gegeben wurden, das bestimmen konnte, wer die besonders geschmacklosen Aufgaben, etwa durch Brackwasser tauchen, eine Kakalakendusche ertragen oder Känguruhoden lutschen, lösen musste. Dieses Format wurde, wie bereits ein gutes Jahr zuvor bei Deutschland sucht den Superstar, von massiver Berichterstattung in Bild begleitet. Die Aufmerksamkeitssteigerung für die Sendung bedeutet für beide Medien einen beträchtlichen ökonomischen Vorteil. Eine gesellschaftliche Debatte blieb ebenso auf der Strecke, wie eine Diskussion über den medienrechtlichen Grenzgang. Während im Dschungel Persönlichkeitsrechte, Jugendschutzbestimmungen und auch der Tierschutz dem Gag auf Kosten anderer geopfert wurden und in der 5. Staffel von Big Brother Judenwitze sowie pornographische Bilder zunächst unentdeckt und unbestraft blieben, versuchten es die zuständigen Aufsichtsbehörden mit einem neuen Debattierklub, der Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM). Hier zeigt sich beispielhaft, dass die Reaktionszeiten und das gesellschaftstheoretische Fundament der Medienkritik in der Bundesrepublik unzureichend sind. Hiermit sind die Jubiläumssendungen von SAT.1 und RTL, die im Januar 2004 gesendet wurden, gemeint. 20 Jahre nach der Einführung des Dualen Rundfunksystems, d.h. dem Start des Kabelpilotprojekts in Ludwigshafen, zeigten die beiden Privatsender Ausschnitte aus ihren frühen Sendungen. Diese Ausschnitte wurden nahezu ausschließlich vom eigenen Personal kommentiert und gefeiert. Als Vorläufer dieser Debatte gab es in den Medienwissenschaften noch eine kaum beachtete Auseinandersetzung mit dem sog. Trash-TV, womit zumeist geist- und anspruchslose sowie vulgäre und skandalisierende, d.h. auf Tabubrüche angelegte Billigproduktionen der Privatsender bezeichnet werden (vgl. u.a. Bergmann/Winkler 2001; Grundstaff 2002).

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und v.a. des Fernsehkonsums in Deutschland bzw. die in den einschlägigen Diskursen konstatierte Widerspiegelung von zunehmenden Schichtdifferenzen der deutschen Bevölkerung, die sich auch im Fernsehprogramm und Fernsehverhalten ausdrücken. Die Protagonisten des Unterschichtenfernsehens sind keine Helden für alle mehr, sondern führen »ein stabiles Nischenleben in ihrem Programm, bei den Privaten, bei ihrem Publikum, dem sie eine Heimat geben« (ebd.). Bei diesem Publikum verstärkt das Fernsehen das Gefühl, ein Verlierer zu sein – die Gesellschaft droht immer weiter auseinander zu driften: »Am Tag, an dem RTL II die erste Folge seiner neuen Big Brother-Staffel startete, gab Wolfgang Clement die Arbeitslosenzahlen bekannt, die höchsten in der Geschichte der Bundesrepublik. Ins Fernsehdorf zogen junge Menschen ein, deren Berufsbezeichnungen mit einem ›Ex‹ begannen. Arbeitslose spielten Arbeitslose, und Arbeitslose schauten ihnen zu. [...] Das Wort tut den Privatsendern weh. Denn in den vergangenen Jahren galten sie wegen ihrer Reality-Shows zwar als Tabubrecher, doch neben den Vorwürfen schwang oft Interesse mit: Tabus zu brechen kann auch innovativ sein, und die hohen Einschaltquoten schienen den Programmmanagern Recht zu geben. [...] Zum Zweiten verdichten sich im Begriff Unterschichtenfernsehen Assoziationen wie Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Bier am Nachmittag und leere Kassen. Es schwingt aber noch mehr mit. Harald Schmidt etwa betont, dass er damit auch geistige Armut meint« (Amend 2005: 57).123 Die These, die Schmidt (2001) für die Spaßgesellschaft aufgestellt hat, nämlich, dass die Auseinandersetzung mit ihr weitestgehend eine Geschmacksfrage, aber keine Schicksalsfrage sei, kann für die Debatte um das Unterschichtenfernsehen nicht behauptet werden, zumindest für die in ihr zum Ausdruck kommende Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg.124 Dementsprechend war die Empörungswelle125, die das

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Anfang 1996 hat die Satirezeitschrift Titanic SAT.1 als Unterschichtenfernsehen bezeichnet; Jochen Hörisch (2002b: 269) nannte auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik 2001 RTL und SAT.1 Unterschichtenfernsehen; der Soziologe Paul Nolte (2004: u.a. 42) verwendetet in dem Buch Generation Reform den Begriff, wodurch Harald Schmidt auf ihn aufmerksam wurde. Schmidts wiederholtes Ansprechen dieser Thematik Ende 2004, löste eine größere Diskussion dieses Begriffs aus, die zumindest bis zum April/Mai 2005 anhielt. Mit dem Begriff Unterschichtenfernsehen wird insgesamt das Programmangebot der Privatsender bezeichnet, hier v.a. die zahlreichen Boulevardformate und Reportagen, Sendungen wie Big Brother (RTL 2), Frauentausch (RTL II) oder Die Burg (Pro 7), aber auch Gameshows und Softsex-Formte (z.B. Sexy Clips, DSF) sowie Spielfilme und Serien. Nicht nur die Programme der Privatsender stehen hier zur Diskussion, sondern auch deren Publikum. Diederichsen (2005: 15) betont zudem, dass in »der Konjunktur dieses Begriffs [...] sich der Wunsch aus[drückt], in stimmigen Bildern formulieren und bannen zu können, was sich als politisches Problem in diesem Leben und diesem System nicht mehr lösen lassen wird: Arbeitslosigkeit, Massenverarmung und Desintegration.«

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Thema Unterschichtenfernsehen als Dauerpointe in der Harald SchmidtShow auslöste, auch erwartbar. Fernsehzuschauer fühlten sich denunziert, Feuilletonisten produzierten Entgegnungen am laufenden Band, Privatsender gaben Studien in Auftrag, die belegen sollten, dass sie mit ihrem niedrigschwelligen Programmangebot nicht nur kulturferne und pauperisierte Bevölkerungsschichten erreichen. Andererseits mussten die Privatsender in die Offensive gehen, denn die Rede vom Unterschichtenfernsehen bedeutete auch ein Ausbleiben von Werbeeinnahmen, weil die Produkthersteller Imageverluste befürchteten: »Was nutzen RTL bei der ›Dschungelshow‹ Quoten von über dreißig Prozent, wenn die mit eigenen Trailern gefüllt werden mussten, weil viele Unternehmen in diesem Umfeld nicht werben wollten. Der Druck der Media-Agenturen, die die Werbung schalten, zwingt nun zu einem erstaunlichen Wandel: Nachdem die Grenze des Anspruchs, des Geschmacks und der Peinlichkeit jahrelang nach unten durchbrochen wurde, scheint Qualität der neue Sex der Medienbranche« (Corsten 2005).126 Einen solchen sozialen Druck hat die Diskussion um die Spaßgesellschaft zwar nicht ausgelöst, allerdings bestehen zwischen beiden Konzepten deutliche Parallelen127: Zum einen brauchte es einschneidende gesellschaftliche Veränderungen, damit diese Begriffe und entsprechende TV-Formate in den Fokus des öffentlichen Bewusstseins gerieten und ihnen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zugewiesen wurde. Die TVFormate allein erreichten nur Spartenaufmerksamkeit, etwa bei Medienkritikern und Programmverantwortlichen. Andererseits basiert die Kritik an ihnen letztlich auf nur einer Forderung, nämlich der, mehr Qualität (Ernsthaftigkeit, Informationen, Anspruchsvolles etc.) zu produzieren, und daher auf der Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Fernsehen, die allerdings zumeist im Geschmack der Kritiker und deren kul125

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Andererseits schien angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen ein Interesse daran zu bestehen, zu erforschen, was die da unten im Fernsehen sehen und worin sich dies vom Qualitätsfernsehen und seinen Rezipienten sowie Produzenten unterscheidet. Diese Einschätzung aus dem April 2005, die nicht nur auf den Fernsehmarkt beschränkt ist, übersieht, dass auch die Diskussion um das Unterschichtenfernsehen nicht zu nachhaltigen Veränderungen im Programmangebot der Privatsender geführt hat, zudem auch keine mediale Klassengesellschaft entstanden ist. Diesen reichte vielleicht die Betonung, dass ihr Programm nicht nur von Unterschichtlern gesehen würde. Nur an den ersten Tagen nach dem 11. September 2001 konnte man konkrete Einschnitte im TV-Programm feststellen. Zudem eine über einige Monate sich erstreckende Diskussion im Feuilleton, die aber nichts Grundsätzliches an der Wirklichkeit des Fernsehens verändert haben. Spaß konnte zwar aus einer kulturkritischen Perspektive denunziert werden, ist allerdings ein so zentraler Aspekt menschlichen Lebens, um unter Generalverdacht gestellt zu werden. Zumindest kann man ihn problemlos abschalten bzw. sich ihm verweigern. Der soziale Abstieg in die Unterschicht ist hingegen eine viel zu existentielle und sozial wirksame Bedrohung, der man sich nicht einfach durch Indifferenz oder Ignorieren entziehen kann.

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KAPITEL 2

turellem Kapital gründet. Damit verbunden waren Nachweise, welche Ideologien, z.B. Frauenbilder, Schönheitsideale, Freizeitverhalten oder sexuelle Orientierungen, durch diese TV-Formate lanciert wurden. Diese Eindimensionalität medienkritischer Positionen ist auch der Grund, warum sie sich in den Debatten um die Spaßgesellschaft und das Unterschichtenfernsehen letztlich bisher nur als zahnlose Tiger erwiesen haben, die an der Wirklichkeit des Fernsehens vorbeiproduzierten. Zudem fungiert der Ruf nach einem neuen Qualitätsfernsehen als Distinktionsund Positionierungspolitik der (selbsternannten) Qualitätssender, wie z.B. ARD oder ZDF, die hierbei zumeist unterschiedliche Selbstverständnisse miteinander konfrontieren sowie über deren Legitimation streiten, weniger aber über konkrete Formate und Inhalte, also um einen Kampf um Zielgruppen, Werbeeinnahmen und unterschiedliche Images.128 Bolz (vgl. Urbe 2005) weist die qualitative Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Fernsehen konstitutiv zurück, weil damit behauptet wird, dass das Fernsehen die Möglichkeit besitze, Aufklärung und Bildung vermitteln zu können, was aber für Bolz nicht der Fall ist. Zudem lehnt er jede klassenspezifische Einteilung der TV-Zuschauer, wie sie etwa im Begriff Unterschichtenfernsehen zum Ausdruck kommt, kategorisch ab, denn soziale Zugehörigkeit und kultureller Geschmack sind für ihn zwei unterschiedliche Aspekte: »Klasse, Schicht, das sind mittlerweile unzutreffende Beschreibungen, die vielleicht vor hundert Jahren stimmig waren. Natürlich gibt es Polarisierungen am oberen und unteren Rand der Gesellschaft, Arme werden ärmer, Reiche noch reicher. Aber das ist abgekoppelt von kulturellen Entwicklungen. Geschmack ist nicht mehr Schicksal. [...] Eigentlich zielt ›Unterschichtenfernsehen‹ als kritischer Ausdruck auf den schlechten Geschmack, und nicht auf die Unterprivilegiertheit derjenigen, die diesen schlechten Geschmack zeigen. Ich sehe darin nur eine geschmacks-ästhetische Kritik am Niveau bestimmter Sendungen, aber die lässt sich nicht in Zusammenhang mit sozialer Zugehörigkeit bringen.« 128

Ein sich vom Unterschichtenfernsehen distanzieren wollendes Rezeptionsverhalten beschreibt Amend (2005: 57) wie folgt: »Mit der Unterschicht haben wir nichts zu tun! Wir sehen ARD, öffentlich-rechtliches Fernsehen! Wir sind gebildet!« Nicht nur die Abgrenzung von den neuen Unterschichtlern ist zur Mode geworden, sondern auch das Aufgeben des Glaubens an ihre Politisierbarkeit. Tuma (2005a: 104) verweist zu Recht darauf, dass Distinktionsversuche und das Plädoyer für neue Qualität sowie Ernsthaftigkeit, nur Ratlosigkeit und Handlungsunfähigkeit derjenigen beweisen, die sie äußern: »Dennoch strengen sich nun viele Fernsehmacher furchtbar an, Info-Eliten zu suchen. Sie haben panische Angst davor, irgendwie ›unterschichtig‹ rüberzukommen. Sie lügen sich lieber noch eine neue Statistik zusammen. Sie haben nichts begriffen. Denn wenn ihnen zum Thema Unterschicht nichts mehr einfällt, dann ist diese mediale Oberschicht aus Fernsehkritikern und -machern zurzeit weiter unten als jede ›Big Brother‹-Fortsetzung oder DschungelcampBewohnerin.«

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Nolte (2004) betont hingegen, dass es eine neue Klassengesellschaft gebe, die mehr durch kulturelle Verwerfungen als durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit gekennzeichnet sei.129 Die neue Untersicht zeichnet sich dementsprechend für Nolte etwa dadurch aus, dass ihre Angehörigen Privatfernsehen konsumieren, Opfer von Fehlernährung und bildungsfremd sind. Soziale Schichtung hängt für Nolte weniger mit einem Mangel an Geldressourcen, sondern vielmehr mit einem Mangel an kulturellen Ressourcen zusammen. Sie drückt sich als Sozialisation in spezifische Lebensweisen, Verhaltensformen und Konsummuster hinein aus. Soziale Differenzierung lässt sich im Habitus, im Lebensstil, im Konsum und in der Alltagskultur nachweisen, Massen- und Medienkultur können so für Nolte durchaus auch als Klassenkultur der neuen Unterschichten bezeichnet werden: »Die Vervielfachung des Angebots hat oftmals den Blick dafür verstellt, dass der theoretische Zuwachs an Optionen in Wirklichkeit sehr klassenspezifisch genutzt wird; mehr noch: der Demonstration und auch der Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Das Fernsehen ist dafür ein hervorragendes Beispiel und ein enorm einflussreicher Faktor zugleich. Der Aufstieg der Privatsender seit den späten 1980er Jahren hat ja nicht einfach, im Sinne einer Angebotsvermehrung, zu der kulturkritisch oft bemäkelten ›Bilderflut‹ geführt, sondern hat v.a. eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Sagen wir es ruhig noch deutlicher: Sie hat mit RTL und SAT 1 ein spezielles Unterschichtenfernsehen entstehen lassen, und deshalb war es auch nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala, Sender wie 3sat oder arte für die gehobenen Schichten etablierten (ebd.: 41f.).« Zudem betont Nolte, dass im Unterschichtenfernsehen Politik weitgehend nicht thema129

Nolte (2004: 44) ruft in diesem Kontext auch zu einem neuen Klassenbewusstsein auf, das eine Annäherung an die Wirklichkeit ermöglichen könnte: »Ein Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein – das mag sich seltsam antiquiert anhören, wie die Aufforderungen zu einer Rückkehr in die Denkwelten der sozialistischen Arbeiterbewegung vor hundert Jahren. Nüchtern betrachtet aber heißt es nur, dass wir in Politik und Gesellschaft ein neu geschärftes Bewusstsein dafür brauchen, in einer Welt zu leben, die durch soziale Ungleichheit, durch Schichtung und Klassendifferenzen auf alte und neue Weisen immer noch maßgeblich geprägt wird. Das zu leugnen oder weiter zu verdrängen, kann angesichts der rasanten Veränderungen, die wir zum Beispiel in der Informations- und Wissensökonomie erleben, und angesichts der Konsequenzen demographischer Veränderungen, denen wir nicht ausweichen können, politisch nicht ratsam, sondern sogar gefährlich sein. Mit ›Klassenkampf‹ hat das nichts zu tun, wohl aber mit gesellschaftlicher Selbstaufklärung.« Nolte definiert in seiner Studie fünf (neu-konservative) Grundbedingungen zur Veränderung der Gesellschaft: Religiöse Fundamente in einer postsäkularen Welt; Eindämmung der Ego-Gesellschaft; Subsidiaritäts- und Netzstrukturen; Identitäten und Identitätsräume; Maßhalten und Machbarkeitsprinzip. Diese Prinzipien können aber, so Nolte, nur verwirklicht werden, wenn sie aus der Haltung einer verantwortlichen Veränderung und reflexiven Modernisierung heraus, angegangen werden.

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tisiert wird und Politiker fast nur als Personen dargestellt werden, die sich selbst bereichern und die Bürger betrügen. In den Eigenformaten der Privatsender finden die Zuschauer aus der neuen Unterschicht, so Nolte, hingegen ihre eigene Lebenswelt dargestellt und erhalten dadurch einen höheren Nutzungsanreiz und stärkere Identifikationsangebote als bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanbietern. Das Anliegen der Privatsender besteht hierbei, wie Nolte betont, nicht im Versuch, die neue Klassengesellschaft aufzulösen und die Lebensbedingungen ihrer Angehörigen zu verändern, sondern vielmehr darin, sie schlicht abzubilden und auszugestalten. Nolte übersieht hierbei aber, dass es in den Privatsendern auch Programme gibt, die Situationsmanagement betreiben, d.h. u.a. demonstrieren, wie man seine Schulden tilgen kann oder wie mit wenig Geld die eigene Wohnung bzw. das Haus umgestaltet werden könne. Diese Formate leiten nicht zu einer grundlegenden Umgestaltung der Lebenswirklichkeiten an, offerieren aber zumindest Optionen zu kleinen Veränderungen, wenngleich die sensationalisierende Darstellung der Abgründigkeit sozialer Wirklichkeit überwiegt.130 Die Studie »Menschen ohne Arbeit – eine kaum erforschte Gruppe«, die Michael Darkow (2006) von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Rahmen der 38. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik präsentierte, ist einer der bisher wenigen Versuche, den vagen Begriff des Unterschichtenfernsehens einzugrenzen und die mit ihm behauptete mediale Klassengesellschaft zu problematisieren. Seiner Studie zufolge sehen Arbeitslose im Schnitt fast fünfundzwanzig Prozent mehr Fernsehen pro Tag, als Zuschauer, die Arbeit haben. Der tägliche Fernsehkonsum von Arbeitslosen beträgt, so Darkow, fünf Stunden und sieben Minuten, der deutschlandweite Gesamtschnitt liegt bei 210 Minuten. Der Fernsehkonsum in Deutschland entwickelt sich, wie Darkow betont, hin zum künftigen Gesellschaftsstand. Wer arbeitslos war, schaut im Schnitt dreizehn Prozent weniger fern, sobald er einen Job hat, umgekehrt sieht derjenige, der seinen Arbeitsplatz verliert, dreizehn Prozent mehr fern. Weiterhin hebt Darkow hervor, dass diejenigen, die früher voll berufstätig waren und jetzt ohne Arbeit sind, mehr fernsehen. Vom Status der Berufstätigkeit sind, wie die Studie zudem zeigte, die »Zeitpunkte und die Dauer der Fernsehnutzung, nicht aber [die] Präferenzen bei Programmgenres« abhängig.131 130

131

Andererseits fungieren die Privatsender durch Gameshows, Soaps, Spielfilme, Berichte aus dem Leben von Stars usw. als gewaltige Illusionsmaschine eines anderen Lebens. Eine von der ProSiebenSat1-Vermarktungsfirma SevenOneMedia veröffentlichte Studie, die sich ausschließlich auf die für die Werbewirtschaft wichtige Zielgruppe der 14 bis 49 Jährigen fokussierte, weist darauf hin, dass der Begriff Unterschichtenfernsehen für das Programm der Privatsender unzutreffend sei, denn Top-Verdiener und Bessergebildete ziehen das Privatfernsehen dem Öffentlich-Rechtlichen häufig vor (vgl. Netzeitung.DE vom 27. April 2005, unter: http://www.netzzeitung.de/medien/336041.html). Bildungsniveau,

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Der Diskurs über das Unterschichtenfernsehen hält, wie dieser kurze Bericht zeigt, davon ab, zu überlegen, welche Möglichkeiten das Fernsehen besitzt, eine politische Lösung gesellschaftlicher Probleme, zumindest aber Bausteine zu einer solchen mitzugestalten. Problemlösungspotential besitzen auch die Analysen der Fernsehmacher und Fernsehkritiker sowie Medien- und Sozialwissenschaftler kaum. Die Feuilleton- und Magazinberichte sowie die wenigen wissenschaftlichen Analysen zum Thema, haben zwar mitunter auf die Unzulänglichkeiten der Diskurse verwiesen, ohne hierbei diesen Unzulänglichkeiten etwas Konkretes entgegenzusetzen. Es reicht gegenwärtig nicht mehr aus, als Medienkritiker nur in seinen Diskursen zu leben, sondern Medienkritik erfordert neben seinen diskursiven Verpflichtungen auch die Gestaltung von alternativen Handlungsszenarien. Martin Keßlers Dokumentarfilm Neue Wut sowie öffentliche Vorführungen und die daran anschließenden Diskussionen, stellen erste Versuche dar, Diskurs und Praxis miteinander zu verbinden und einerseits den direkten Austausch mit denen zu suchen, über die geschrieben und im Fernsehen berichtet wird, andererseits aber auch mit den Diskursstiftern ins Gespräch zu kommen. 2.3.3

Fernsehunterhaltung als Entertainmentfalle?

Mit der Frage, ob Fernsehunterhaltung, zumindest die, die in diesem Kapitel diskutiert wurde, Resultat einer Entertainmentfalle ist, soll auf die konstitutive Selbstbezüglichkeit der Medien(-produktionen) verwiesen werden. Medien beziehen sich zunächst und zumeist auf andere Medien, ihre Produktionen entstehen zum größten Teil aus diesen Selbstbeobachtungen. Bei den TV-Spaßformaten sowie den Diskursen zur Spaßgesellschaft handelt es sich, ebenso wie beim Unterschichtenfernsehen, letztlich um Zwiegespräche zwischen Medienproduzenten und Medienjournalisten, Medienkritikern sowie Medienwissenschaftlern, die ihre Produktionen aber immer im Namen der Gesellschaft realisieren, also ihnen eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zuweisen. Die Medienproduzenten mit Blick auf die vermeintlichen Interessen des Publikums, Medienjournalisten, Medienkritiker und Medienwissenschaftler unter Berufung auf die richtige, wahre Wirklichkeit, mit entsprechenden Wertmaßstäben, Denkvorschriften und unter Berücksichtigung der eigentlichen, menschlichen Interessen der Mediennutzer. Beide Akteursgruppen handeln interessenpolitisch und lassen sich kaum auf eine systematische und fallorientierte Analyse ihrer Untersuchungsgegenstände ein.

Einkommen und berufliche Stellung würden keinen Einfluss auf die Programmwahl nehmen. Tuma (2005a: 103) bewertet Umfragen wie diese zu Recht als sinnlos: »Was beweisen die Zahlen, außer,dass jeder TV-Sender sie sich so lange zurechtschnitzt, bis sie den Erfolg des eigenen Programmschemas zu untermauern scheinen?«

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Aber nicht nur diese Diskurse zeichnen sich durch Selbstbezüglichkeit aus, sondern auch die jeweiligen Fernsehformate sind in ihrer Struktur und in ihren Inhalten sehr homogen. Dies kann als Entertainmentfalle bezeichnet werden, denn zum einen verhindert die konstitutive Selbstbezüglichkeit der entsprechenden Formate zumeist eine sachadäquate, verantwortungsbewusste und mediengerechte Auseinandersetzung mit gesellschaftlich brisanten Themen. Zum anderen reproduzieren sich diese Formate letztlich permanent, ohne über eigenständige Alternativen nachzudenken bzw. hierzu Raum zu schaffen, also einen eigenen Programmstil zu entwickeln – dies gilt gleichermaßen für öffentlich-rechtliche und private Anbieter. Die Auseinandersetzung mit dem Unterschichtenfernsehen hat, im Unterschied zur Spaßgesellschaft, die Programmverantwortlichen unter einen größeren Handlungsdruck gestellt, also mehr Nachhaltigkeit besessen, wobei sich in beiden Fällen die Wirklichkeit der Fernsehproduktion durch diese Diskurse nicht grundlegend verändert hat. Bisher stehen auch noch Studien aus, die die Thesen der jeweiligen Diskurse systematisch durch die Analyse von Fallbeispielen belegen, ohne die Formate im Voraus schon durch feststehende Kategorien, die zumeist an der Wirklichkeit dieser Sendungen, aber auch der Zuschauer, vorbeigehen, zu bewerten. Weiterhin ist bisher nicht geklärt worden, ob der Zuwachs an ComedyFormaten, anstatt auf eine reale Nachfrage, nicht zumeist als Resultat von Selbstbeobachtungen der Medienproduzenten und Medienkritiker verstanden werden muss. Diese Formate werden zwar genutzt, d.h. gesehen, aber wahrscheinlich größtenteils nur, weil keine qualitativ anderen TV-Möglichkeiten, als Resultat der Selbstbeobachtungs- und Entertainmentfalle, zur Verfügung stehen und die zahlreichen Comedy-Formate sich daher letztlich in ihrer Struktur und in ihren Inhalten sehr gleichen. Drittens wurde bis heute nicht umfassend diskutiert, ob nicht auch die Diskurse über Spaßgesellschaft und Unterschichtenfernsehen maßgeblich an den Medienwirklichkeiten beteiligt sind, die von ihnen kritisiert werden. Dass dies prinzipiell zutrifft, haben die vorausgehenden Überlegungen verdeutlicht. Das Erkenntnisinteresse der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie besteht in diesem Kontext darin, die Auseinandersetzung mit der TV-Spaßgesellschaft und dem Unterschichtenfernsehen zunächst auf diskursiver Ebene zu problematisieren und daran anschließend, soweit notwendig, vorzuschlagen, neue Kriterien zum Umgang mit den Themen, die sich hinter diesen Konzepten verbergen, etwa Erlebnisorientierung, Ego-Gesellschaft, Klassengesellschaft oder Arbeitslosigkeit, vorzuschlagen. Andererseits darin, eine alte Überlegung von Negt und Kluge (1972: 143) zu aktualisieren, die sie in ihrer Kritik am Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit geübt haben. Nicht primär durch wertende Kritik kann, so Negt und Kluge, der Gegenstand der Kritik verändert werden, denn Kritikmaßstäbe haben stets nur eine kontex-

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tuelle Legitimation und können niemals als Konsensmodell verwirklicht werden. Konkrete Veränderungen können hingegen nur durch folgende Strategie erzielt werden: Ideen gegen Ideen und Produkte gegen Produkte zu stellen, ohne hierbei mit dem Pathos der Superiorität der eigenen Ideen und Produkte aufzutreten, sondern diese immer nur als Angebote zu verstehen, die in ihrer Verwirklichung konstitutiv von einem Außen (Bürgern, Institutionen, Interessenverbänden, der Politik, anderen Wissenschaftlern, Fernsehsendern etc.) abhängen.132 Eine Diskussion über die Fernsehwirklichkeit, die im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung, Hochkultur und Populärkultur, guter und schlechter Unterhaltung geführt wird und Distinktionskämpfe austrägt, ist hingegen von vornherein vergebens. Ausgehend von diesen Überlegungen müsste sich das Feld der (journalistischen und wissenschaftlichen) Fernsehkritik grundlegend neu konstituieren, um ihre gesellschaftliche Legitimation nicht zu verlieren. Produktiv an Debatten, wie die über Spaßgesellschaft133 und Unterschichtenfernsehen, ist, dass hierbei versucht wird, gesellschaftliche (d.h. diskursive, kulturelle, mediale usw.) Tendenzen auf den Begriff zu bringen bzw. sichtbar zu machen, auch wenn diese Sichtbarkeit zumeist ein Diskurs-Produkt ist. Abgesehen davon, dass solche Debatten zumeist in der Selbstbeobachtungsfalle verharren und nur aus interessenpolitischen Positionierungs- und Distinktionsabsichten erfolgen, wobei die eigentlichen Diskursgegenstände ausgeblendet werden, sind sie dennoch als Diskursgeschichten und Gegenwartsgedächtnisse von zentraler Bedeutung, um gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse führen zu können. Notwendig ist hierbei aber, dass diese Diskurs- und Wirklichkeitsmaterialien von unterschiedlichen kritischen Reflexionen, jeweilig spezifischen Praxisformen und Anbindungen an Institutionen flankiert werden, um einen produktiven Beitrag zur Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit zu leisten.

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Die Aufgabe dieses Kapitels war es, eine Diskursanalyse zu den Konzepten Spaßgesellschaft und Unterschichtenfernsehen durchzuführen und Alternativen zu den jeweiligen Diskurswirklichkeiten anzubieten. Eine hiervon ausgehende Gestaltung der Fernsehpraxis kann nicht rein diskursiv erfolgen, sondern muss in der substantiellen Kooperation mit Medienproduzenten, Fernsehsendern, Interessenverbänden, Politikern, Zuschauern usw. verwirklicht werden. Insgesamt gibt es sechs Positionen, die zum Thema Spaßgesellschaft eingenommen werden: (1) Ja, es gibt sie. (2) Die Rede vom Ende der Spaßgesellschaft. (3) Die Behauptung, dass die Spaßgesellschaft nicht zu Ende sei. (4) Die Aufwertung des Ernstes dem Spaß gegenüber. (5) Die Aufwertung des Spaßes gegen den Ernst. (6) Die Betonung der konstitutiven Durchmischung von Spaß und Ernst.

212

2.4

KAPITEL 2

MEDIEN

UND

MANIPULATION

»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. [...] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen« (Luhmann 1996: 9f.). »Meines Erachtens wird diesen Dingen [d.i. der Versuch der Medien, die Kontrolle über die Gedanken der Öffentlichkeit zu erlangen – M.S.K.] zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, und ich habe das lebhafte Empfinden, dass die Bürger demokratischer Gesellschaften Unterricht in intellektueller Selbstverteidigung nehmen sollten, um sich vor Manipulation und Kontrolle schützen und substantiellere Formen von Demokratie anstreben zu können« (Chomsky 2003: 8).

Informieren Medien objektiv oder inszenieren sie durch Auswahl, Zusätze, Auslassungen und Präsentationsformen gerade das, was für wirklich gehalten wird, obwohl es weder selbst erfahren noch überprüft wurde? Diese Frage verweist auf den grundlegenden Verdacht, der medialen Vermittlungen von Kommunikationsprozessen, Weltbildern und Ereignissen entgegengebracht wird sowie auf den Zweifel an der medialen Konstruktion von Wirklichkeit. Die Behauptung, dass Medien manipulierten, geht von der Überzeugung aus, die Öffentlichkeit werde durch Vermittlung präformierter Wirklichkeitsbilder und Wirklichkeitsinterpretationen gezielt beeinflusst und getäuscht. Als Manipulation wird zudem das Anpassen von Produkten (z.B. in der Werbung) oder Inhalten (von Fernsehsendungen, Zeitungsberichten etc.) an die Bedürfnisse der Verbraucher bzw. Rezipienten bezeichnet. Weiterhin das Konstruieren virtueller Wirklichkeiten durch die technischen Möglichkeiten Neuer Medien, etwa Bildmanipulationen in der Digitalphotographie oder in Fernsehberichten, wie z.B. die von Michael Born, der für Stern-TV (RTL) in den 1990er Jahren zahlreiche Berichte manipuliert hatte. Manipulation soll, aus kommerziellen und/oder politischen Gründen, zur Steuerung von Öffentlichkeit oder zur gezielten Beeinflussung der Interessen, Überzeugungen, Leidenschaften sowie zur Uniformierung des Bewusstseins bestimmter Gesellschaftskreise und Kulturräume (vgl. Chomsky 2003) beitragen. Voraussetzung jeder erfolgreichen Manipulation ist v.a. fehlendes kritisches Bewusstsein und die, z.B. durch Medien oder politische/staatliche Organisationen, gezielt verhinderte Entfaltung desselben. Manipulation kann auch erfolgreich sein, wenn sich die Rezipienten und Konsumenten dieser bewusst sind, wie dies bei der Werbung der Fall sein soll. Manipulation wird in diesen Fällen entweder als konstitutive

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Begleiterscheinung von Werbung hingenommen oder positiv bewertet, im Sinne einer produktiven Färbung der Angebotspalette, letztlich als Unterhaltungsfaktor. Gerade an der Werbung kann aber verdeutlicht werden, dass es sich hierbei zumeist um eine Scheinautonomie der Rezipienten bzw. Konsumenten handelt: Werbung täuscht zumeist nicht über ihre Täuschungsabsicht hinweg, sie deklariert vielmehr ihre Motive offen. Werbung manipuliert aber auch noch subtiler, indem sie »Beihilfe zur Selbsttäuschung des Adressaten« leistet. Werbung setzt ihre Gestaltungsmittel ein, um den Umworbenen ihre eigenen Motive zu verschleiern: »Er wird dann erkennen, dass es sich um Werbung handelt, aber nicht: wie er beeinflusst wird. Ihm wird Entscheidungsfreiheit suggeriert, und das schließt ein, dass er von sich aus will, was er eigentlich gar nicht wollte« (Luhmann 1996: 86f.). Das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels wird von drei Fragen geleitet: Wie wird die Öffentlichkeit durch Medien im Allgemeinen manipuliert? Welche Auswirkungen haben mediale Manipulationen prinzipiell auf soziale Wirklichkeitskonstruktionen? Was kann der Manipulation entgegengesetzt werden? Diese Fragen sollen aus der Perspektive von Bertolt Brecht, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hans Magnus Enzensberger und Pierre Bourdieu, also prominenten Vertretern gesellschaftskritischer Medientheorien (vgl. Kap. 3.2.), beantwortet werden. Die beiden einleitenden Zitate skizzieren den Rahmen der Argumentation: Mit Luhmann wird davon ausgegangen, dass Medien die Wirklichkeitsindustrie (post)moderner Gesellschaften sowie individueller Weltbilder sind und Orientierungswissen über die Welt vermitteln. Diese Vermittlung von Wirklichkeit ist allerdings keine authentische Repräsentation der Wirklichkeit, die wir alltäglich erleben, sondern eine sekundäre Wirklichkeit, die nach den Systemimperativen der Medien, der jeweiligen Medieninstitutionen (Fernsehsender, Zeitungsredaktionen, transnationale Medienkonzerne; vgl. Hachmeister/Rager 2002) und den technischen Möglichkeiten der einzelnen Medien konstruiert wird. Die Realität der Massenmedien besteht für Luhmann (1996: 12ff.) aus zwei Realitäten – er verwendet den Begriff der Realität, daher wird, nur in diesem Kontext, entgegen der ausschließlichen Verwendung des Begriffs der Wirklichkeit in dieser Studie, hier der Begriff der Realität beibehalten: »Die Realität der Massenmedien, ihre reale Realität [...], besteht in ihren eigenen Operationen. Es wird gedruckt und gefunkt. Es wird gelesen. Sendungen werden empfangen. Zahllose Kommunikationen der Vorbereitung und des Nachher-darüber-Redens umranken dieses Geschehen. [...] Es macht daher [...] Sinn, die reale Realität der Massenmedien als die in ihnen ablaufenden, sie durchlaufenden Kommunikationen anzusehen. [...] Man kann aber noch in einem zweiten Sinne von der Realität der Massenmedien sprechen, nämlich im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint [Hervorhebung im Original – MSK].« Massenmedien produzieren und senden ununterbrochen – dies

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KAPITEL 2

ist ihre reale Realität. Dabei liefern sie, wie im Kap. 1 betont wurde, kein Abbild der Realität, sondern können die Realität symbolisch allein aus ihrer spezifischen Perspektive erfassen. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen, ihre Sendungen und Berichte, sind konstruierte Realitäten, die sie ihrem Publikum und damit der Gesellschaft präsentieren, die diese als Realität akzeptieren. Die konstitutive Fragestellung hierbei lautet: Wie werden Medienrealitäten zu Publikumsrealitäten? Realität ist, ganz allgemein formuliert, in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft zunehmend das, was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeiten konstruieren, woran wir dann glauben und gegenüber dem wir entsprechend handeln und kommunizieren. Zunächst wird Realität in eine Medienrealität überführt, danach geht diese Medienrealität in das subjektive Wirklichkeitswissen des Publikums ein, Medienrealität wird zur Publikumsrealität. Eine detaillierte Diskussion des Zusammenhangs von objektiver Realität, Medienrealität und Publikumsrealität, kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Es sei allerdings betont, dass, wenn man das zuvor skizzierte Modell akzeptiert, sechs Wirklichkeitsbegriffe verwendet werden: zwei auf Seiten der Medien (reale und symbolische Realität), drei auf Seiten der Rezipienten (Publikumsrealität, Medienrealität, spezifische soziale und kulturelle Realität einer bestimmten Gesellschaft, zu einer bestimmten Zeit, als Maßstab aller Realitätswahrnehmungen und -konstruktionen) und, zumindest als Fiktion, die Annahme einer objektiven Realität an sich. Luhmann weist weiterhin auf die paradoxe Tatsache hin, dass das Wissen um diese Manipulation durch Medien zwar Allgemeingut ist, aber nicht zu einem veränderten Umgang mit Medien führt.134 Gerade darauf kommt es aber an, wenn Analyse und Kritik mehr als Stilblüten intellektueller Verantwortlichkeit sein wollen. Chomsky (2003: 49) hebt diesen Aspekt hervor, denn es geht in der Auseinandersetzung mit medialen Manipulationen letztlich um die Frage, »ob wir in einer freien Gesellschaft leben wollen oder in einer Art von selbst gestricktem Totalitarismus«.

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Bereits 1953 weist Adorno (1997j: 510) auf diese Paradoxie hin – er bezieht sich hierbei auf Fernsehsendungen: »Der Verdacht, dass die Realität, die man serviert, nicht die sei, für die sie sich ausgibt, wird wachsen. Nur führt das nicht zum Widerstand.«

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Mediale lnformierungen. Die Wirklichkeit der Medien aus der Perspektive von Adorno und Horkheimer135

Die Formung des Menschen zu einem uniformierten Massenmenschen, entspricht der von Adorno (1997f: 204) konstatierten zunehmenden InFormierung des Bewusstseins mittels »fortschreitender kommunikativer Erfassung der Bevölkerung [...], dass es kaum mehr eine Lücke lässt, die es erlaubte, ohne weiteres jener Präformation innezuwerden«. Die Funktionsweisen der »Massenkultur unterm Monopol« zu durchschauen, Medienprodukte als Massenbetrug aufzudecken, um den »Zirkel von Manipulation136 und rückwirkendem Bedürfnis« entgegenzuwirken, sind zentrale Anliegen von Adorno und Horkheimer (1997) in ihrer Dialektik der Aufklärung sowie in Adornos Schriften zur Kultur- und Medienkritik. Die Theorie der Kulturindustrie, die v.a. aus der Erfahrung mit der Massenkulturentwicklung in den 1930er und 1940er Jahren in Deutschland, besonders aber mit dem kapitalistischen Mediensystem in Amerika resultierte, steht im Zentrum der Kultur- und Medienanalysen von Adorno und Horkheimer, in ihnen sind Gesellschafts- und Medienkritik konstitutiv miteinander verbunden. Der Begriff Kulturindustrie soll verdeutlichen, dass die massenmedial verbreitete Kultur eine industriell erzeugte Ware ist: »Der Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang« (Adorno 1997i:

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Die folgende Darstellung der Thesen von Adorno (und Horkheimer) fällt ausführlicher aus, als die zu den anderen Ansätzen, weil seine bzw. ihre Thesen in den Kontext der Theorie der Kulturindustrie eingebettet werden müssen und nicht ausschließlich durch die Lektüre des Kulturindustrie-Kapitels aus der Dialektik der Aufklärung erschlossen werden können – dies gilt v.a. auch für ihren, insbesondere aber Adornos, Medien- und Kritikbegriff. Zudem findet Adornos Auseinandersetzung mit den Medien sowie seine Medienkritik wesentlich im Spannungsfeld von Manipulation und Emanzipation statt, so dass diese hier und nicht im Kapitel zur Medienkritik (vgl. Kap. 3.3) diskutiert werden müssen. Bei den Überlegungen von Brecht, Enzensberger und Bourdieu wird ihre Diskussion des Themas Medien und Manipulation in den jeweils einzelnen Texten deutlich, ebenso wie ihr Medien- und Kritikbegriff. Nicht zuletzt stellen die Überlegungen von Adorno (und Horkheimer) bis heute einen der zentralsten Referenzpunkte dar, wenn über Medien und Manipulation im Allgemeinen nachgedacht wird. Der Bezug auf die Ansätze von Brecht, Enzensberger und Bourdieu hat hingegen einen jeweils (medien-)spezifischeren Hintergrund, d.h. einen Fokus auf die Medien Radio und Fernsehen im Besonderen. Im Prolog zum Fernsehen definiert Adorno (1997j: 514) mediale Manipulation als nicht selbstbestimmte Anpassung des Medienrezipienten an das Bestehende: »[A]uch jene Manipulationen, welche das Publikum nach den Forderungen eines dem Bestehenden angepassten Verhaltens zurechtstutzen, [können] sich immer auf Momente im Bewusstseins- und Unbewusstseinsleben der Konsumenten berufen [...].«

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339).137 Auf Grund des Profitinteresses entsprechen die Kulturwaren nicht den spontanen Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, wie es für eine Volks- und Massenkultur charakteristisch sein müsste: »Die Massen sind nicht das Maß, sondern die Ideologie der Kulturindustrie« (ebd.: 338).138 Für Adorno und Horkheimer ist Medienkultur in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft entfremdet, weil sie durch und durch als Ware fungiert und auf der Basis eines monopolitischen Wirtschaftssystems organisiert wird: »Die Kulturindustrie ging aus der Verwertungstendenz des Kapitals hervor. Sie hat sich unter dem Marktgesetz entwickelt, dem Zwang, ihren Konsumenten sich anzupassen, ist dann aber umgeschlagen zu der Instanz, welche Bewusstsein in seinen je bestehenden Formen, dem geistigen status quo, fixiert und verstärkt« (Adorno 1997d: 17f.). Die Theorie der Kulturindustrie kann aus dieser Perspektive als eine Weiterentwicklung der Marxschen Warenanalyse, der Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert sowie der Analyse des Fetischcharakters der Ware verstanden werden. Dementsprechend versteht Adorno unter (autonomer bzw. authentischer) Kultur das, was sich ökonomischer Zweckrationalität entzieht, Einspruch gegen die Auflösung der notwendigen Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem erhebt, sich als grundsätzliche Widerständigkeit und Inkommensurabilität auszeichnet sowie gesellschaftliche Widersprüche und Ungerechtigkeiten dissonant zum Ausdruck bringt. Zudem muss sie als kulturelles Gedächtnis des Randständigen fungieren und zugleich Artikulationsinstanz für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen sowie kulturelle Manifestationen sein (vgl. Adorno 1997e: 128). Adorno und Horkheimer geht es in der Auseinandersetzung mit der Kulturindustrie um die Beschreibung der »Pathologien des Sozialen«, ihre Diagnosen thematisieren »jene Beeinträchtigung der menschlichen Selbstverwirklichung, die mit dem Prozess der kapitalistischen Modernisierung zusammenhängen soll: ob Verdinglichung oder Gemeinschaftsverlust, ob kulturelle Verarmung oder Aggressionszunahme, den sozialen Bezugspunkt der Analyse bildet stets der einseitige Rationalisierungsdruck der kapitalistischen Wirtschaftsweise« (Honneth 1994: 41f.). Diese hat primär die Akkumulation von Kapital sowie die Verfestigung der 137 138

In seinem Résumé fasst Adorno (1997i) seine Kulturindustrie-Kritik prägnant in 26 Thesen zusammen. Diese Einschätzung entspricht der These von McLuhan (1996: 8), die er im Vorwort seines ersten Buches, Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen, aus dem Jahre 1951 formulierte, ohne sich hierbei aber auf Adorno und Horkheimer zu beziehen: »[D]as Volk [hat] mit der Herstellung von Volkskultur nicht das Geringste zu tun [...]. Das gilt auch für die Volkskultur des industriellen Menschen, die zu einem großen Teil aus Laboratorien, Studios und Werbeagenturen stammt. Inmitten der Vielfalt unserer Erfindungen und abstrakten Techniken der Produktion und Distribution, lässt sich jedoch ein hoher Grad an Zusammenhalt und Uniformität finden.«

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»Macht der ökonomisch Stärksten« (Adorno/Horkheimer 1997: 142), die durch technologische Rationalität, ökonomische und politische Macht über die Gesellschaft erlangen wollen, zum Ziel. Die Konstitution und die Sinnstrukturen der Kulturwaren werden insgesamt von diesen Zwecken bestimmt, in der Technik spiegelt sich die »Rationalität der Herrschaft« (ebd.) wider. Kultur, als idealtypischer Raum zur Ausbildung autonomen Denkens und Fühlens, kreativen Handelns und künstlerischen Schaffens sowie des Widerstandes gegen gesellschaftliche Hegemonie und positivistische Ideale der Naturbeherrschung, wurde, wie Adorno und Horkheimer betonen, zu einer Angelegenheit von Großkonzernen und Bürokratien. Diese Pathologien sind nicht erst mit der zunehmenden sozialen Bedeutung der Medien entstanden, sondern Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Situation, die allerdings einerseits durch die Medien radikal potenziert und andererseits maßgeblich kommuniziert sowie inszeniert wird. Kulturindustrie bedeutet zudem »Anti-Aufklärung [...]. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbstständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann« (Adorno 1997i: 345).139 Der Begriff Kulturindustrie bezieht sich nicht nur auf die massenmedial vermittelte Massenkultur (etwa durch Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Musik, Fernsehen, Film), sondern umfasst alle Institutionen und Netzwerke der Kulturvermittlung (z.B. Theater, Museen, Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, Populärkultur, Sportveranstaltungen) in einer Gesellschaft.140 Die Kulturwaren sind von zentraler Bedeutung für den Prozess der sozialen Wirklichkeitskonstruktion und Sinnvermittlung sowie für die Bewusstseinsbildung der Menschen. Die Institutionen der Kulturindustrie sollen das Bewusstsein der Rezipienten ausschließlich auf das Bestehende fokussieren, deren Bedürfnisse nach politischer Partizipation und Autonomie, nach Bildung und Aufklärung unterdrücken sowie ihre Unterwerfung unter die systembeherrschende Macht und die Anpassung an die von ihr definierte Ordnung fördern – dies alles durch informatorische Eindeutigkeit: »Die Ord139

140

Als Leitbild von Adornos Aufklärungsverständnis könnte Kants (1999: 20) berühmte Definition aus dem Jahre 1784 betrachtet werden: »Aufklärung ist Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Ich werde im Folgenden nicht nur von Kulturindustrie sprechen, sondern auch von Medienkulturindustrie und zwar dann, wenn es darum geht, den Standort der Medienkritik von Adorno sowie Adorno und Horkheimer hervorzuheben. Wie die obigen Ausführungen verdeutlicht haben, umfasst der Begriff Kulturindustrie mehr als die Medienlandschaft, wenngleich alle kulturellen Manifestationen und Institutionen medienbedingt sind.

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nungsbegriffe, die sie [die Kulturindustrie – MSK] einhämmert, sind allemal solche des status quo. [...] Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie [...] lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken. Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewusstsein« (ebd.: 343). In seinem Aufsatz On popular music, der im Rahmen von Adornos (1941) Tätigkeit beim Princeton Radio Research Project entstanden ist, hebt er entsprechend die Interdependenz zwischen den Konsumenten und den kulturindustriellen Produkten hervor, denn beide sind für Adorno Produkte des gleichen Produktionszusammenhangs: »They want standardized goods and pseudo-individualization, because their leisure is an escape from work and at the same time is molded after those psychological attitudes to which their workaday world exclusively habituates them. Popular music is for the masses a perpetual busman’s holiday« (ebd.: 38).141

Adorno (1997s: 342f.) hebt an anderer Stelle hervor, dass der Musikkritiker und der Gegenstand seiner Kritik, also das Medium der Musik, in Interdependenz miteinander stehen müssen. Nur so kann Musikkritik sich in die Eigengesetzlichkeiten der Musik vertiefen: »Indem der Hass gegen den Kritiker Musik vorm Bewusstsein schirmt und in die halbe Wahrheit ihrer Irrationalität sich verschanzt, lädiert er die Musik, die selbst Geist ist wie der, welcher in sie eindringt. [...] Der Musik selbst ist Kritik immanent, das Verfahren, das objektiv jede gelungene Komposition als Kraftfeld zu ihrer Resultante bringt. Kritik an Musik wird von deren eigenem Formgesetz gefordert: die geschichtliche Entfaltung der Werke und ihres Wahrheitsgehalts ereignet sich im kritischen Medium.« Ein weiteres zentrales Moment der Musikkritik ist die Notwendigkeit des Einbringens der Subjektivität des Kritikers: »Kritiker sind schlecht nicht dann, wenn sie subjektive Reaktionen haben, sondern wenn sie keine haben oder wenn sie undialektisch dabei verharren und kraft ihres Amtes den kritischen Prozess sistieren, zu dem ihr Amt verpflichtet. [...] Der Verfall von Kritik als eines Agens der musikalischen öffentlichen Meinung, offenbart sich nicht durch Subjektivismus, sondern durch Schrumpfung von Subjektivität, die sich als Objektivität verkennt [...]« 141

An anderer Stelle betont Adorno (1997l: 653) allerdings, dass es sich hierbei letztlich um ein Ungleichgewicht zwischen Konsumenten und den Produkten der Medienkulturindustrie handelt: »Ohnehin ist Grund zur Annahme, dass die Produktion den Konsum wie im materiellen Lebensprozess so auch im geistigen reguliert, zumal dort, wo sie so sehr der materiellen sich angenähert hat, wie in der Kulturindustrie. Man sollte also meinen, die Kulturindustrie und ihre Konsumenten seien einander adäquat. Da aber unterdessen die Kulturindustrie total wurde, Phänomen des Immergleichen, von dem die Menschen temporär abzulenken sie verspricht, ist daran zu zweifeln, ob die Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewusstsein aufgehe.«

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(ebd.: 343). Subjektivismus bedeutet hier die intime Kennerschaft und Vertrautheit mit dem Gegenstand der Kritik und nicht subjektivistische Meinung, sondern ein begründetes, sachkundiges und streng gegenstandsorientiertes Urteilen. Diese Anforderungen, die Adorno an produktive bzw. autonome Musikkritik stellt, kann er allerdings hinsichtlich anderer Medien, wie etwa beim Radio, Film oder Fernsehen kaum selbst einhalten, denn nur im Feld der Musik konnte Adorno eine exklusive Position einnehmen, weil er Musiker, Musikkritiker und Musikwissenschaftler zugleich war. Beim Radio, Film und Fernsehen hingegen nahm Adorno zumeist die Position des distanzierten Beobachters ein, der sich nicht mit seiner Subjektivität auf die vielfältigen Erscheinungsformen und Produkte dieser Medien eingelassen hat. Diese Einschätzung lässt zumindest das Studium seiner entsprechenden Texte zu. Dass seine Ausführungen zur Musikkritik hätten stellvertretend für seine prinzipielle Beschreibung der Rolle der Medienkritik gelten müssen, ergibt sich aus der Tatsache, dass für Adorno alle Medien Teil eines umfassenden Medienverbundes, d.h. der Medienkulturindustrie sind und daher nach vergleichbaren Kategorien analysiert und kritisiert werden müssen. Andererseits behauptet Adorno (ebd.: 422, 425), etwa in seiner Einleitung in die Musiksoziologie, dass die Gestaltungsmittel der (autonomen bzw. authentischen) Musik Produktivkräfte sind, weil sie künstlerische Kreativität ermöglichen: »Zur Produktivkraft rechnet dabei nicht nur Produktion im engeren musikalischen Sinn, also das Komponieren, sondern auch die lebendige künstlerische Arbeit der Reproduzierenden und die gesamte, in sich inhomogen zusammengesetzte Technik: die innermusikalisch-kompositorische, das Spielvermögen der Reproduzierenden und die Verfahrungsweisen der mechanischen Reproduktion, denen eminente Bedeutung zukommt. [...] Als ein Geistiges ist musikalische Produktion selbst gesellschaftlich vermittelt, kein Unmittelbares. Strengen Sinnes ist Produktivkraft an ihr allein die von den Vermittlungen nicht abzulösende Spontaneität. Unter gesellschaftlichem Blickpunkt wäre es die Kraft, die über die bloße Wiederholung der von den Typen und Gattungen vertretenden Produktionsverhältnissen hinausgeht. [...] In ihr stecken stets gesellschaftliche Produktivkräfte, die von der Gesellschaft in ihren realen Formen noch nicht absorbiert worden sind.« Das widerständig-emanzipatorische Potential der Musik besteht für Adorno ferner in den gelingenden Versuchen, sich vom Determiniertsein durch ihre jeweilige gesellschaftliche Funktion zu lösen. Dies kann der Musik v.a. durch die Widerständigkeit des musikalischen Materials gelingen.142 142

Schweppenhäuser (2003: 125ff.) deutet diese These Adornos wie folgt: »Fortschreitende Autonomie der Kompositionsverfahren ist fortschreitende Beherrschung der Natur in Gestalt des vorfindlichen Materials, das der Logik seiner stimmigen Organisation und Konstruktion unterworfen wird. Je mehr das geschieht, desto größer ist in der Musik der Klassik das Potential an Humanität

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Gleichwohl wird alle produktive Spontaneität der Musik, ebenso wie der Medien im Allgemeinen, durch die historische Gewordenheit und gesellschaftliche Bedingtheit der Musikproduktion und -rezeption (mit-)bestimmt: »Nicht bloß ist das Bewusstsein der Hörerschaft vom Wechsel der gesellschaftlichen Bedingungen abhängig; nicht bloß das der Reproduzierenden vom Stande der musikalischen Gesamtverfassung: Die Werke selber haben ihre Geschichte und verändern sich in ihr« (Adorno 1997t: 753). Im Zentrum der Medienkritik von Adorno und Horkheimer steht das Anliegen, den Medienkonstruktivismus der Kulturindustrie zu decouvrieren (vgl. Kap. 1). Dieser realisiert sich v.a. durch die In-Formierung des menschlichen Bewusstseins durch Information, Unterhaltung, Begehren und Sprache. Kulturindustrie muss als Bewusstseinsindustrie143 aufgefasst werden, die das Ziel verfolgt, »das Bewusstsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen« (Adorno 1997j: 507; vgl. Adorno 1997i: 337).144 Alle Medien der Massenkommunikation produ-

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[...] und in der Musik der freien Atonalität das Potential an Freiheit, Spontaneität und Ausdruck des Subjekts [...]. Doch dieser Zugewinn an Freiheit ist nach Adorno nicht zu trennen von seinem Gegenteil: Das ist die heteronome Bestimmung von Material und komponierendem Subjekt selbst durch die Zwänge der kompositorischen Verfahren, die sich zum System verfestigen und dadurch den Spielraum subjektiver Freiheit wiederum verengen, den sie einmal erschließen halfen.« Enzensbergers (1964: 8f.) Kritik am Begriff der Kulturindustrie und sein Vorschlag, diesen durch Bewusstseinsindustrie zu ersetzen, gründet dementsprechend auf einer nicht zutreffenden Interpretation der Kulturindustrie-Kritik von Adorno und Horkheimer: »Er [der Name Kulturindustrie – MSK] ist einer Augentäuschung ihrer Kritiker zuzuschreiben, die sich’s haben gefallen lassen, dass die Gesellschaft sie kurzerhand dem so genannten Kulturleben zurechnet [...]. Immerhin weist der Name, wenn auch undeutlich, auf den Ursprung jenes ›gesellschaftlichen Produktes‹, des Bewusstseins hin. Er liegt außerhalb aller Industrie. [...] Er [der Name Kulturindustrie – MSK] verharmlost die Erscheinung und verdunkelt die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen, die sich aus der industriellen Vermittlung und Veränderung von Bewusstsein ergeben.« Zudem sind die von Enzensberger genannten Charakteristika der Bewusstseinsindustrie, wie deren Entstehungsbedingungen (z.B. Aufklärung, Ökonomie oder Industrialisierung), die hauptsächliche Immaterialität ihrer Produkte (etwa in Form von Meinungen, Urteilen, Ideologien usw.) oder die Dialektik von Versprechen und Entsagen, alles Merkmale, die Adorno und Horkheimer der Kulturindustrie zuschreiben. Das Fernsehen unterstützt, so Adorno (vgl. 1997j: 507), diese Tendenz und gibt ihr durch seine spezifische Medialität und als multidimensionales Bedingungsgeflecht eine eigene Form bzw. Ausprägung. Ziel dieser Bewusstseinsindustrie ist es, eine Hyperrealität zu erzeugen bzw. die wirkliche Wirklichkeit der alltäglichen Lebenswelt zu verdoppeln und somit eine Medienwirklichkeit zu erzeugen, die als eigentliche, wirkliche ausgefasst wird und diese nach deren Vorbild gestaltet, gerade dadurch, dass im Fernsehen vorgespielt wird, Wirklichkeit zu repräsentieren, als Vorwand, sie allererst zu konstruieren. Diese TV-Bewusstseinsindustrie befördert, wie Adorno betont, eine Bewusstseinsverstümmelung auf Seiten der Zuschauer (vgl. ebd.: 511): »Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie« (ebd.: 508), d.h. je realer diese erscheinende Welt des Fernse-

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zieren auf der Grundlage von künstlich erzeugten Bedürfnissen, soziale und kulturelle Standardisierungen und Serienproduktionen, wie Adorno und Horkheimer, ausgehend von den Genrefilmen und Seifenopern im Radio aus den 1930er und 1940er Jahren zeigen. Diese Standardisierungen der Kulturwaren führen zur Etablierung von konventionalisierten Stereotypen sowie zu für Waren typische Uniformität, wie die Handlungsabläufe, Themen und Charaktere verdeutlichen. Die Medienkulturindustrie erzeugt somit umfassende Uniformität. Ein Blick auf einige Sendeformate der deutschen TV-Landschaft der Gegenwart veranschaulicht eindringlich, was hiermit gemeint ist: zahlreiche, nach gleichem Schnittmuster gedrehte, Gerichts-, Koch-, Talk-, Quiz- und Casting-Shows, Krimiserien oder Comedy-Sendungen, die, um die Massen zu erreichen, massenwirksame Meinungen und Werthaltungen kommunizieren und damit einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Gesamtsystems leisten. Aus der Tatsache, dass Medienkultur, so Adorno und Horkheimer, überall identisch wird und sich ausschließlich als Geschäft versteht, machen die Produzenten der Medienkulturindustrie eine Ideologie. Die Produktion von Massenkultur wird durch die Nachfrage der Konsumenten gerechtfertigt, die standardisierte Produktionsmechanismen verlangen, um alle bedienen zu können. Nur so lässt sich der Erfolg der Kulturwaren erklären.145 Andererseits wird, das kann als dialektisches Moment dieser Ideologie bezeichnet werden, mit der großen Vielfalt der Angebotpalette geworben. Auch wenn sich z.B. Filme oder Serien in viele Genres differenzieren lassen, so stimmen doch letztlich alle Genres im Zeitalter der intensivierten Massenkommunikation, nach der Auffassung von Adorno und Horkheimer, zwangsläufig mit den herrschenden gesellschaftlichen Normen überein und bestätigen diese. Sie sind nur Modelle des uniformierten Systems der Kulturindustrie und gerade nicht Ausdruck von Pluralität und Differenz. In den Kompositionen für den Film betonen Adorno und Eisler (1997: 56f.), mit Blick auf die Filmindustrie, entsprechend: »Ihre [d.i. die Filmmusik – MSK] aufgeblasene Macht und Größe demonstriert unmittelbar die ökonomische, die dahinter steht. Ihr Farbenreichtum betrügt die Monotonie der Serienproduktion. Ihr beflissenpositiver Charakter unterstreicht die allgemeine Reklame für die Welt.« Die Kulturwaren sollen den Rezipienten somit zu einer Identifizierung mit der sozialen Wirklichkeit animieren. Nur in der authentischen und autonomen Kunst (etwa die Kompositionen von Alban Berg, die Malerei von Pablo Picasso, die Lyrik von Ezra Pound oder die Dramatik von Samuel Beckett) als Leistung eines schöpferischen Individuums ist es mög-

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hens, der Medienkulturindustrie, ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie als echte bzw. wahre Erscheinung angesehen und geglaubt wird, ihre Produkte angenommen werden und ihre Wirkung entfalten können. Vgl. Adorno (1997k: 519) und das Kapitel Dienst am Kunden aus der Minima Moralia (Adorno 1997a: 228f.).

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lich, die bestehenden sozialen Zustände symbolisch zu überschreiten bzw. zu problematisieren und deshalb in Opposition zum repressiven Allgemeinen, das sich selbst als Reich der Freiheit und der unbegrenzten Wahlmöglichkeiten anpreist, zu treten. Die Unterschiede zwischen Massenkultur und authentischer Kunst, die hier nicht diskutiert werden können, sollen durch einen schlagwortartigen Vergleich illustriert werden: Adorno und Horkheimer verbinden mit dem Begriff Massenkultur folgendes semantisches Feld: Identität, Affirmation, Ware, Unfreiheit/Entmündigung, trügerischer Schein/technologische Vernunft. Authentische Kunst kann hingegen durch Begriffe wie Differenz, Freiheit, Werk, Mündigkeit, Aura, Avantgarde, Wahrheit, Logik der Sache beschrieben werden. Diese Thesen weisen Adorno und Horkheimer zurück, weil Medienprodukte nicht den Bedürfnissen der Rezipienten angepasst werden, sondern diese instrumentalisieren. Die Nachfrage gründet nicht auf den spontanen Bedürfnissen der Massen, sondern wird, so Adorno und Horkheimer, von den Agenturen der Medienkulturindustrie selbst erzeugt und sind daher wesentlich fiktiv. Durch ein umfassendes Netzwerk von Informationen über die Kulturwaren soll diese Instrumentalisierung durch In-Formierung der Rezipienten realisiert werden. Die vermeintlichen Informationen über die Sache, führen zur Konditionierung der Rezipienten, denn sie sollen nicht agieren und reflektieren, sondern reagieren und akzeptieren. Einer kritischen Auseinandersetzung mit den Schematismen der Medienkulturindustrie soll damit entgegengewirkt, ein konformer Konsument, dem das selbstständige Denken, Phantasie und Spontaneität weitgehend abhanden gekommen sind, erzeugt werden. Da jede Kulturware lediglich ein Modell des Systems ist, werden die Konsumenten unweigerlich an das System gebunden. Adorno und Horkheimer haben zwar bei diesen Überlegungen nur die Informationen über die Produkte der Kulturindustrie im Auge, ihre Ausführungen können aber auch auf den Nachrichtensektor sowie alle Medienformate, die Orientierungswissen kommunizieren, wie etwa Talkshows, Lifestyle-, Ratgeber-, Wissenschafts- oder Boulevardmagazine, ausgedehnt werden. Diese umfassenden Informationsangebote werden zur Ideologie verklärt. In einer chaotischen Welt kann dem Rezipienten dadurch einerseits Orientierung vermittelt und ihm andererseits das Anpassen an die Erfordernisse der Wirklichkeit erleichtert werden. Die Rezipienten werden nicht nur durch Anpassung an standardisierte Produkte und Meinungskonditionierung durch Informationsdesign informiert, sondern auch durch Entertainment in Form von Amüsement und Spaß: »[D]ie Kulturindustrie [ist] der Amüsierbetrieb. Ihre Verfügung über den Konsumenten ist durchs Amüsement vermittelt; nicht durchs blanke Diktat« (Adorno/Horkheimer 1997: 158). Die permanente Reproduktion der medialen Spaßfabrik ist zur Botschaft aufgestiegen (vgl. Kap. 2.3): »Vergnügtsein heißt Einverstandensein« (ebd.: 167). Das

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medienkulturindustriell produzierte Amüsement wird durch immer besser gemachte Waren zur gewünschten Freizeitbeschäftigung, zur industriell ermöglichten Regression. Vergnügen ist zudem harte Arbeit und ein ernstes Geschäft. Mediale Spaßkultur gibt hierbei vor, nichts vorzugeben, und betreibt dennoch die Verteidigung des gesellschaftlichen status quo, fungiert als Instrument der Regulierung sozialer Verhältnisse. Dies veranschaulichen Adorno und Horkheimer (ebd.: 160) etwa am Einüben sozialer Rollen in Trickfilmen sowie Adorno (1997k) an klischeehaften Rollenmustern in Fernsehserien. Die In-Formierung des menschlichen Begehrens wird zudem durch die Instrumentalisierung menschlichen Begehrens erzielt: »Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht« (Adorno/Horkheimer 1997: 161). Was hiermit gemeint ist, kann an der Ideologie der deutschen TV-Casting-Shows der letzten Jahre veranschaulicht werden: Deutschland sucht den Superstar (RTL), Fame Academy (RTL II), Die deutsche Stimme (ZDF), Star Search (SAT 1), Pop Stars (Pro7). In diesen Formaten wird mit dem Wunsch nach Ruhm und Reichtum Quote gemacht und Öffentlichkeit bewegt.146 Jeder kann, wenn er sich nur anstrengt und ein wenig Glück hat, zum Star werden und öffentlich existieren. So suggeriert es zumindest der Pseudo-Realismus dieser Formate – und Star-sein ist eine Subjektposition, die viele gerne einnehmen möchten. Die Wirklichkeit dieser Casting-Shows sieht aber anders aus: Aus einem potentiellen Versprechen für (fast) alle, wird eine standardisierte Wirklichkeit für die Allerwenigsten und ein vorkalkuliertes Versagen für die Massen. Nur die, die sich als formatgerecht und medientauglich erweisen, können, wenn auch 146

In Fernsehen und Bildung beschreibt Adorno (1971: 55) das, was er unter der Ideologie des Fernsehens versteht, wie folgt: »[D]ass nämlich falsches Bewusstsein und Verschleierungen der Wirklichkeit den Menschen eingetrichtert werden, und dass, wie man so schön sagt, eine Reihe von Werten als schlechterdings dogmatisch positiv geltend den Menschen aufgeschwatzt werden, während die Bildung, von der wir sprechen, gerade darin bestünde, dass man solche Begriffe, die hier als positiv gesetzt werden, in ihrer Problematik durchdenkt und dass man zu einem selbständigen und autonomen Urteil über sie gelangt.« Ziel einer entsprechenden Ideologiekritik des Fernsehens besteht darin, dass Bewusstsein bzw. das Denken und Handeln, d.h. den Fernsehgebrauch, nachhaltig zu verändern. Adorno bleibt in dieser Hinsicht zu allgemein und hätte Möglichkeiten vorschlagen müssen, wie diese Forderungen unter Fernsehbedingungen hätten realisiert werden können. Adorno versteht Fernsehkritik grundsätzlich als Ideologiekritik, die, bezogen auf konkrete TV-Formate, über den Weg der content analysis und, auf institutioneller Ebene, der immanenten Analyse, d.h. dem Studium der inneren Strukturmuster des Mediums Fernsehen vollzieht. Weiterhin müssen die Ergebnisse dieser Hinsichten auf das Fernsehen in Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Fernsehens gesetzt werden. Adornos Rede vom Medienverbund signalisiert, dass die gesamtgesellschaftliche Situierung der jeweiligen Medien ihnen letztlich ihre Bedeutung zuweist, und jedes Medium in einer zweifachen Abhängigkeit steht: einerseits zur Gesamtgesellschaft und andererseits zum jeweiligen Mediensystem der Gesellschaft.

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zumindest nur kurzfristig, diese Subjektposition übernehmen, also Einer von Tausenden. Dass dies freilich nichts Neues, sondern Alltag in der Entertainmentbranche ist, also Profit mit Pseudo-Realismus und PseudoIndividualismus gemacht wird, hatten Adorno und Horkheimer schon zu Beginn des Zeitalters der Massenunterhaltung diagnostiziert. Zudem ermöglichen in diesen Casting-Shows die Massen größtenteils selbst diese Wirklichkeit für die Wenigen, indem sie einerseits als Ungeeignete den Glanz der Geeigneten erst richtig zum Vorschein bringen und andererseits als Jury (die Zuschauer entscheiden in diesen Sendungen ab einem bestimmten Zeitpunkt über das Weiterkommen und Siegen der Kandidaten) bestimmen, was geht. Dass sie für diese vermeintliche Wahlfreiheit bezahlen müssen (jeder Anruf kostet nicht die üblichen Telefongebühren, sondern ein Vielfaches hiervon) und eigentlich auch nur über das entscheiden können, was ihnen vorgesetzt wird, bleibt zumeist unberücksichtigt: »Die [Kultur]Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht« (ebd.: 169). Adorno und Horkheimer betonen weiterhin, dass das Fernsehen, aber auch das Radio, nicht nur unser Denken, Wahrnehmen und Verhalten beeinflussen, sondern v.a. unsere Sprache (vgl. ebd.: 187; vgl. Adorno 1997j: 512). Unsere Sprache und damit die Ausdrucksweisen unserer Welt- und Selbstkonstruktion bzw. unsere Versuche, Welt und Selbst diskursiv aufzuschlüsseln, sie zu verstehen und kreativ zu gestalten, entwerfen und verändern, verkümmern, so könnte man ihre These zuspitzen, durch Mediensprachen. Diese werden zu Vorschriften, die den Dialog und die Reflexion durch Unterhaltung sowie Programmatik ersetzen, Menschen sprachlos und dadurch unmündig werden. Der Rezipient wird durch Mediensprachen letztlich ein Höriger, also völlig passiv und undifferenziert im Hinblick auf das Wahrnehmen, Erleben und Verstehen von Welt – und kein Sprechender, das heißt, im Sinne Adornos und Horkheimers, ein kritisch-reflektierender und emanzipierter Akteur. So verkümmern durch die Medien Sprache und Erleben der Menschen, also letztlich er selbst. So auch brisante gesellschaftliche Themen, wie z.B. der Krieg, zu inhaltsloser Rhetorik, zu leidenschaftslosem Pathos, zu Phantomen und Schablonen, die zwar die mediale Wirklichkeit widerspiegeln, aber sozial erfahrungsdicht sind, d.h. wirkliches Erleben und kritische Auseinandersetzung unterdrücken. Werden diese Informierungspraktiken und Manipulationsarbeiten von den Rezipienten durchschaut? Das Verhalten der Medienrezipienten schätzt Adorno (1997i: 342) grundsätzlich als ambivalent ein: »Man darf annehmen, dass das Bewusstsein der Konsumenten selbst gespalten ist zwischen dem vorschriftsmäßigen Spaß, den ihnen die Kulturindustrie verabreicht, und einem nicht einmal sehr verborgenen Zweifel an diesen Sendungen.« Die Rezipienten können also einerseits zwischen ihren rea-

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len Erfahrungen in konkreten Lebenszusammenhängen und der medienkulturindustriellen Inszenierung differenzieren, also diese distanziert wahrnehmen und sich aneignen. Andererseits beschreibt Adorno die Medienrezeption147 als fatalistische Dialektik des Wissens um die Manipulationen der Medienkulturindustrie und der existentiellen Bedeutung, die deren Produkte dennoch im Leben der Rezipienten spielen: »Der Satz, die Welt wolle betrogen sein, ist wahrer geworden, als wohl je damit gemeint war. Nicht nur fallen die Menschen [...] auf den Schwindel herein [...]; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird. Uneingestanden ahnen sie, ihr Leben werde ihnen vollends unerträglich, sobald sie sich nicht länger an Befriedigungen klammern, die gar keine sind« (ebd.). In zwei Texten aus den 1960er Jahren, nämlich Kann das Publikum wollen? (Adorno 1997u) und dem Rundfunkgespräch Fernsehen und Bildung (Adorno 1971: 50-69), differenziert Adorno seine Einschätzung der Position des Medienrezipienten aus. In beiden Texten stehen medienpädagogische Überlegungen im Vordergrund. Der Aufsatz Kann das Publikum wollen? ist einer der wichtigsten, weil direktesten und zusammenhängendsten Texte von Adorno zu den Themen Medienrezeption und Mediennutzung. Adornos Auseinandersetzung hiermit fokussiert sich auf das Medium Fernsehen und dessen Einflussmöglichkeiten auf die Rezipienten sowie die Möglichkeiten eigensinniger Mediennutzung148. Zunächst lehnt Adorno zwei Richtungen der Kommunikationsforschung seiner Zeit ab: zum einen die Betonung einer »Einbahnstruktur der Massenmedien«, andererseits die Behauptung der nicht unbeträchtlichen Einflussmöglichkeiten der Rezipienten. Adorno (1997u: 343) fokussiert sich hingegen auf drei zentrale Fragerichtungen: »[K]ann das Publikum wollen?, mit dem Akzent auf dem letzten Wort. Dann: soll es überhaupt wollen? – und das ist nicht zu trennen von der Frage: Was soll es wollen? 147

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Adorno unterscheidet prinzipiell zwischen Formen der Medienrezeption und Medienwirkung sowie der Medienaneignung bzw. Mediennutzung. Wenngleich sein Akzent stärker auf den nicht bzw. kaum eigensinnigen und selbständigen Formen, also Medienrezeption und Medienwirkung, liegt, begreift Adorno diesen Bereich als grundlegend ambivalent und widersprüchlich. Kausch (1988: 214) betont allerdings, dass Adorno in seinen medienpädagogischen Arbeiten die Position eines autonomen Mediennutzers nur sehr rudimentär ausgearbeitet hat und diese Ansätze daher nicht überbewertet werden dürfen: »Adornos aktiver Rezipient ist der Abwehrspieler, der nicht gleich auf alles und jedes hereinfällt. Er braucht nicht zu hoffen, etwas Positives im massenkommunikativen Rezeptionsprozess zu erfahren. Für ihn gibt es keinen Gewinn in der Massenkommunikation. Aber er kann das massenkommunikative Spiel auch nicht verlassen. Wenn er sich nur geschickt verhält, so kann er hoffen, mit halbwegs heiler Haut davonzukommen.« Grundsätzlich gilt für Adorno (1997t: 732), dass von autonomen Kultur- und Medienprodukten ein »Erkenntnischarakter [Hervorhebung im Original – MSK]« verlangt werden muss, wie er etwa am Beispiel der Musik betont.

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[Hervorhebung im Original – MSK]« Hinter diesen Fragen verbergen sich drei Thesen: (1) Medienrezeption als Bedürfnisartikulation, (2) Medienrezeption als Selbstbetrug oder expertengelenkte Anleitung zur eigensinnigen Medienrezeption, (3) Medienrezeption als Medienqualitätsprüfung. Was zeichnet für Adorno Medienrezeption als Bedürfnisartikulation aus? Die Bedürfnisartikulation kann sich nur gesellschaftlich ausbilden und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wirklichkeit beurteilt werden. Hiermit betont Adorno die Interdependenz zwischen Medien und Gesellschaft. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrem status quo ist der Möglichkeitsraum zur Konstitution und zum Verstehen von Welt, Kultur, Medien und Selbst – der Akzent liegt hierbei auf der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Wird den Menschen ihre Bedürfnisartikulation und -konstruktion von gesellschaftlichen und/oder kulturindustriellen Instanzen abgenommen und sie nur auf die Wirklichkeit(en) bzw. Möglichkeiten des status quo fixiert, sterben die Möglichkeiten autonomer bzw. eigensinniger Fantasiearbeit, also der Vorstellungen und aktiven Konstruktionen anderer Wirklichkeiten, ab. Aus diesem Grund ist die Wirklichkeit des Sozialen die Basis, um Medienangebote zu rezipieren oder sich anzueignen. Welche Gefahr besteht diesbezüglich, aus der Sicht von Adorno? Im pseudodemokratischen Einholen von Publikumsmeinungen bzw. deren vermeintliche Einbindung in die Medienproduktion, kommt zumeist eine Befürwortung des status quo heraus, die zur Legitimation der Medienkulturindustrie genutzt wird, weil dieser auch die Vorstellungswelten der Rezipienten prägt. Adorno beschreibt Medienrezeption in dieser Hinsicht als Partizipationsfiktion. Was wäre der erste Schritt, um diesen Zustand zu überwinden? Die Unterbrechung der »stillschweigende(n) Identifikation mit dem übermächtigen Verfügbaren« (ebd.). Hieraus könnte es zu einer Ich-Stärkung des im Kontext der Kulturindustrie fast ausschließlich als Ich-Schwach dargestellten Rezipienten kommen, weil das schwache bzw. bequeme Ich am selbstbestimmten Wollen gehindert wird bzw. sich hierbei selbst behindert. Für Adorno besteht allerdings das Problem, dass Anpassung einerseits bequemer ist, als eigensinnige Nutzung und Kritik. Andererseits Abweichung zum »Gefühl sozialer Isolation« (ebd.) beitragen kann. Dies erzeugt wiederum Anpassungsdruck, d.h. eine implizite medienkulturindustrielle Kontrolle des Bewusstseins, die als vermeintliche Selbstkontrolle erscheint. Für Adorno ist insgesamt kaum entscheidbar, ob die Medienprodukte sich den bewussten oder unbewussten Bedürfnissen der Rezipienten anpassen oder diese sich bereits an die Bedürfniskonstruktionen/-fiktionen der Medien angepasst haben. Wie beschreibt Adorno den Aspekt Medienrezeption als Selbstbetrug oder expertengelenkte Anleitung zur eigensinnigen Mediennutzung? Der Rezipient stimmt seiner kulturindustriellen Instrumentalisierung und Informierung zu und hält diese Zustimmung für eine autonome Wahl, weil

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er keine Möglichkeitsräume besitzt, dies zu durchschauen. Aus diesem Grund müssen zunächst Möglichkeiten geschaffen werden, in denen sich autonome Mediennutzung herausbilden kann, um ein eigensinniges Wollen zu ermöglichen. Hieraus folgt, dass nicht das Publikum über ihr Wollen, sondern allein Experten über Produkte der Medienkulturindustrie entscheiden sollten. Kritik-Maßstäbe wären hierbei etwa Wahrheit, Objektivität, Sachkenntnis, politische Korrektheit oder Humanität. Fraglich bleibt in diesem Kontext, ob Adornos These, dass der »Allgemeinwille des Publikums [...] sein objektives Interesse an geistigen Gebilden« (ebd.: 345) sei, zutrifft. Als Instanzen, die über objektive Qualität von geistigen Objekten entscheiden könnten, nennt Adorno einerseits eine voll entfaltete Theorie der Kunst und der Gesellschaft sowie andererseits »Menschen, die der Gesetzmäßigkeit und Stimmigkeit der Gebilde ungeschmälert, ohne Vorurteil und Vorbehalt sich anvertrauen« (ebd.). Wie beschreibt Adorno das Thema Mediennutzung als Medienqualitätsprüfung? Die Auseinandersetzung mit dem Feld der Medienrezeption muss sich immer an den Inhalten des Wollens orientieren und nicht an Floskeln wie, »Der Kunde ist König« (ebd.: 345), also der Behauptung, dass Medienproduktionen sich immer nur an den selbstbestimmten bzw. ureigensten Bedürfnissen ihrer Rezipienten orientieren. Die Auseinandersetzung mit Medieninhalten verweist auf das Thema Medienqualität. Qualität ist für Adorno etwas Objektives, also unabhängig von Perspektiven, Geschmackspräferenzen etc. Allerdings erachtet es Adorno für falsch, einen Kanon von Qualitätskategorien aufzustellen und schreibt die Verantwortung, über Qualität entscheiden zu können, zunächst wesentlich Experten bzw. Sachverständigen zu. Wie könnte man Medienqualitäten konkret bestimmen? Einige Kategorien zur Benennung von Medienqualitäten führt Adorno implizit an, z.B. Kunst/Unterhaltungskultur, Haltung/Anbiederung, Drängen auf Resultate/Ausweichen vor Resultaten, Beherrschung von Ausdrucksmitteln/Nachahmung von Ausdrucksmitteln. Warum spielt Erziehung so eine entscheidende Rolle im Kontext der Kompetenzausbildung, im Umgang mit und der Bewertung von Medienqualitäten? Medienkompetenz kann sich nur ausbilden, wenn sie so früh wie möglich erlernt wird, etwa im Schulunterricht, um fallorientiert einen »Widerwillen« zu erzeugen, »sich übers Ohr hauen zu lassen, den Dummen zu spielen« (ebd.: 346). Wann wäre eine selbstbestimmte Medienaneignung für Adorno allererst möglich? Wenn man einerseits Medienkompetenzcenter einführt und Medienkritik institutionalisiert sowie zugleich andere Räume zur Medienproduktion und -rezeption schafft: »Wahrscheinlich bejahen sie [die Massen – MSK], womit man sie füttert, so krampfhaft nur, weil sie das Bewusstsein davon abwehren müssen, solange sie nichts anderes haben. Dies Bewusstsein wäre zu erwecken und dadurch dieselben menschlichen Kräfte gegen das herrschende Unwesen,

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die heute noch fehlgeleitet und ans Unwesen gebunden sind« (ebd.: 347)149. Im Rundfunk-Gespräch Fernsehen und Bildung diskutiert Adorno (1971) die Möglichkeiten der emanzipatorischen Nutzung des Fernsehens, auf den Ebenen der Produktion und Konsumption. Für Adorno besteht das emanzipatorische Potential des Fernsehens z.B. darin, wenn es, wie etwa beim Schulfernsehen, unmittelbar der Bildung dient. Andererseits nennt Adorno auch eine negative Bildungsfunktion des Fernsehens, nämlich Meinungen und Haltungen durch Sendungen zu präformieren. Adornos Erkenntnisinteresse im Umgang mit dem Fernsehen besteht nicht in der Auseinandersetzung mit seiner spezifischen Medialität150, sondern ist auf die Frage nach den Effekten, die das Fernsehen auf seine Zuschauer hat, fokussiert sowie auf seinen Gebrauch. Mit dieser Perspektive wendet er sich (implizit) gegen die Ausschließlichkeit einer materialistischen Medientheorie (vgl. Kap. 1.; Kap. 3.4). Die Informationsfunktion des Fernsehens ist für Adorno (1971), um zu den Argumenten aus Fernsehen und Bildung zurückzukehren, seine 149

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Vielleicht kann hierdurch die »Lücke« zum Durchbruch zu einer anderen Medien- und Gesellschaftswirklichkeit, die durch die Kulturindustrie »verstopft« (Adorno 1997j: 507) wird und die sich durch die Visualität des Leitmediums der Kulturindustrie, dem Fernsehen, weiter verfestigt hat, durch diese Strategie wieder freigelegt werden. Dieses utopische Moment von Adornos Fernsehkritik veranschaulicht, dass für ihn Kritik nur dann effektiv sein kann, wenn sie aus der Wirklichkeit heraus, die durch sie kritisiert wird, diese zu verändern versucht und Kritik nicht von einer völlig distanzierten Position geübt wird. In seinem Aufsatz Kultur und Verwaltung weist Adorno (1997e: 142ff.) entsprechend darauf hin, dass authentische bzw. autonome Kultur, verstanden als das letztlich nicht völlig Inkonsumerable, Widerständige, Emanzipatorische und Spontane, zu seiner nachhaltigen Entfaltung auch, vielleicht sogar vor allem, einer Kulturpolitik bedarf, um dieses Kritik- und Emanzipationspotential, auch in einer verwalteten Welt bzw. in und durch bürokratische Organisationen, entfalten zu können. In diesem Kontext hebt Adorno auch die Bedeutung von Experten hervor, die sich in der Gesellschaft und den Verwaltungen gegen diese stellen, also versuchen, das System (der Kulturindustrie bzw. der ungerechten Gesellschaft) von innen heraus zu verändern. Adorno betont in diesem Zusammenhang, dass das Fernsehen zwar eine technische Neuerung darstellt, seine Inhalte hingegen nicht neu sind. Er lässt hierbei außer Acht, dass jedes Medium nur bestimmte Möglichkeiten zu Inszenierung von Inhalten zulässt und dadurch auf die Inhalte selbst einen nicht unbedeutenden Einfluss nimmt. Mit traditionellen Formen der Bildkritik kann die Wirklichkeit der Visualität des Fernsehens zudem nicht umfassend erklärt bzw. kritisiert werden. Hier offenbart sich ein grundsätzliches Problem, das sich für alle medienkritischen Ansätze stellt, die keinen eigenen, zumindest theorieimmanenten, Medienbegriff ausarbeiten. Für Adorno stellt sich dieses Problem insofern nicht, weil er Medien stets in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung untersucht. Allerdings bleiben die Medienanalysen von Adorno aus dieser Perspektive zu generalisierend, weil er die postulierte gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Medien kaum an konkreten Beispielen untersucht. Im Unterschied zu seiner Rundfunk-, Film- und Fernsehkritik sowie seiner allgemeinen Kultur- und Medienkritik, finden sich in den musiksoziologischen Studien von Adorno hingegen zahlreiche konkret fallbezogene Analysen.

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produktivste Seite, durch die auch zwischen gutem und schlechtem Fernsehen unterschieden werden könnte. Generell erfordert Fernsehen, so Adorno, die Ausbildung einer spezifischen Fernsehkompetenz auf Seiten der Zuschauer, die darin besteht, die Ideologien und Strukturen des Fernsehens zu verstehen – konkreter wird Adorno hierbei aber nicht. Offen bleibt in diesem Kontext die Frage, warum nicht auch bzw. v.a. Fernsehkritiker, wie Medienkritiker generell, Fernseh- und Medienkompetenz erwerben müssen, bevor sie Medien kritisieren.151 Medienkompetenzförderung, dies hat Adorno wiederholt betont, muss so früh wie möglich, spätestens aber in der Schule, beginnen. Die Gefahr des Fernsehens, seine Ideologie, besteht für Adorno in der Inszenierung von Wirklichkeitswelten unter den Vorzeichen der Abbildung der alltäglichen Wirklichkeit, so wie sie sich ereignet und für jeden erfahrbar ist. Eine der erfolgreichsten Ideologien, die das Fernsehen vermittelt, besteht, so Adorno, in der Vermittlung der Auffassung, dass die in den einzelnen Formaten dargestellten Probleme lösbar sind und somit eine Harmonisierung der Welt betreiben.152 Adorno spricht in diesem Kontext von »verlogenen Gebilden«, »Pseudorealismus«, »der grauenhaften Welt der Leitbilder eines ›heilen Lebens‹«, »Schwindel« und »Illusion« (ebd.: 59f.). 151

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Hagen (2003: 43-91) hat überzeugend nachgewiesen, wie sehr die fehlende Medienkompetenz von Adorno hinsichtlich des Rundfunks, seine dementsprechenden Analysen behindert hat, d.h. die Eigengesetzlichkeiten des Mediums Rundfunk hat übersehen lassen. Auch hinsichtlich des Jazz hat Adorno fehlende Medienkompetenz bewiesen, denn seine Jazzkenntnisse waren sehr begrenzt und erstreckten sich nur auf die populäre Unterhaltungsmusik der 1920er und 1930er Jahre. Jazzer von avantgardistischem Format, wie John Coltrane oder Charlie Parker, kannte er nicht, seine Kritiken traten aber mit dem Pathos verbindlicher und umfassender Gültigkeit auf (vgl. Eichel 1993; Steinert 1992). Seine Jazz-Kritiken folgten der ästhetischen Logik europäischer Kunstmusik und ließen sich nicht auf die Eigensinnigkeit dieser Musik ein. Im Fokus der Kritik von Adorno standen Aspekte wie z.B. die permanenten Wiederholungen und die Scheinfreiheit der Improvisation, die zu einer Verdinglichung des musikalischen Materials führten. Zwei TV-Formate, in denen gesellschaftliche Probleme, nämlich Kindererziehung und Wohnungsgestaltung mit bescheidenen finanziellen Mitteln, gegenwärtig thematisiert werden und die von der Haltung des »Alles kann gut werden« leben, sind Die Supermamas – Einsatz im Kinderzimmer (RTL II) und diverse Heimwerkersendungen. Bei den Supermamas werden völlig ratlose sowie überforderte Eltern von schwer erziehbaren Kindern bzw. extrem schwierigen Kindern, durch zwei Nannys angeleitet, mit ihren Kindern richtig umzugehen. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass dies jedes Mal gelingt und hervorgehoben wird, wie sehr der Einsatz im Kinderzimmer das Leben der jeweiligen Familien zum Besseren verändert hätte. Bei den Heimwerker- und Decosendungen (Einsatz in 4 Wänden, RTL; Wohnen nach Wunsch – Ein Duo für vier Wände, VOX; Unser Traum vom Haus, VOX) wird demonstriert, dass mit wenig Geld aus jedem Raum eine Oase der Wohnlichkeit gemacht werden kann. Natürlich wird dies von Experten, die der jeweilige Sender engagiert, realisiert bzw. werden die ideenlosen Kandidaten angeleitet, es richtig zu machen (Stand: Juli 2005).

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KAPITEL 2

Als Maßstäbe der Fernsehkritik nennt Adorno drei Aspekte: erstens, der Ideologisierung des Lebens durch das Fernsehen entgegenzuwirken; zweitens, im Fernsehen keine Reproduktion der alltäglichen »Oberflächenrealität« (ebd.) zu bieten, die drittens, mit einer Harmonisierung und Banalisierung der Wirklichkeit einhergeht. Zum Ende dieses RundfunkGesprächs hebt Adorno noch zwei Möglichkeiten zur strukturellen Umgestaltung des Fernsehens, die dessen spezifische Potentiale berücksichtigen, hervor: Zum einen sollte es Sendeplätze für qualifizierte Minderheitenprogramme geben, die nicht dem Masseninteresse folgen müssten, aber auch nicht hermetisch abgeriegelt, nur für Insider zugänglich sein und deren Verantwortliche in einem intensiven Austausch mit denen der anderen Programme stehen sollten.153 Andererseits sollten dem Medium Fernsehen gerecht werdende Produktionen hergestellt werden. Einer der Fluchtpunkte dieser Gestaltungsmöglichkeiten bleibt das Anliegen, das Adorno (1997i: 342) im Résumé formuliert hat: »Was überhaupt ohne Phrase Kultur konnte genannt werden, wollte als Ausdruck von Leiden und Widerspruch die Idee eines richtigen Lebens festhalten.« Ein Problem der Auseinandersetzung Adornos mit dem Thema Medien und Manipulation sowie mit seinen medienanalytischen und -kritischen Ansätzen insgesamt, besteht darin, dass er keinen eigenständigen Medienbegriff entwickelt hat. Für ihn war die Auseinandersetzung mit den Medien nur vor dem Hintergrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Situierung, von der ihre jeweiligen Wirklichkeiten abhängen, möglich. Seine Medienanalysen fokussierten sich hierbei wesentlich auf Inhalte154, ästhetische Strukturen, Gattungsanalysen, langfristige kulturelle Medieneffekte und mediale Machtkonstellationen. Die Untersuchung ihrer spezifischen Medialitäten bzw. Technizitäten bleibt hierbei auf der Strecke. Insofern ist die Behauptung von Göttlich (1996: 66) falsch, dass Adorno und Horkheimer in ihrer Kulturindustrie-Kritik unmittelbar eine »Analyse der Rolle der Medientechnik« präsentieren. Adorno und Horkheimer sowie Adorno stellen vielmehr Thesen zur Medientechnik aus einer übergreifenden Perspektive, d.h. ihrem Kulturindustrie-Konzept sowie ihrem Verständnis autonomer Kunst als Gegenbild zu dieser, auf, ohne aber die jeweiligen Medientechniken in ihren Eigengesetzlichkeiten zu untersuchen. Sie reden also lediglich über Medientechnik und medientechnologische Rationalität, ohne sich auf diese Aspekte einzulassen (vgl. Kap. 3.4.). Die Medien wurden von Adorno, trotz seiner intensiven Auseinandersetzungen mit einzelnen Medien (Film, Radio, Fernsehen, 153

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Beispiele hierfür wären etwa arte und 3sat sowie entsprechende Themenund Nachrichtenkanäle (n-tv, N 24, Phoenix, ZDF info, ZDF doku oder ZDF theater). Seine ideologiekritischen Inhaltsanalysen folgen dem Prinzip der immanenten Analyse, d.h., sie messen die Inhalte der jeweiligen Medienproduktionen an dem, was sie von sich aus zu beanspruchen vorgeben, also an ihren inneren Struktur- und Diskursmustern.

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Musik, Kunst, Literatur), konstitutiv als ein Medienverbund aufgefasst, d.h. als unterschiedliche Teile eines Systems, nämlich der MedienKulturindustrie. Dieser Medienverbund bildet wiederum ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht mit der gesamtgesellschaftlichen und gesamtkulturellen Wirklichkeit. Adorno verwendet in seinen Medienanalysen und -kritiken einen negativ-dialektischen Kritik-Begriff, den er wesentlich durch das Positive bzw. Emanzipatorische der Negation bestimmt: »Wie allerorten aber wäre der Kanon des Negativen nicht weit vom Positiven« (1997k: 532). An anderer Stelle heißt es entsprechend: »[D]as Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, [ist] bereits Index des Richtigen, Besseren« (1997m: 793). Kritik verweist bei Adorno also stets auf das, was mehr wäre als die Immanenz des Bestehenden. Durch sie soll der gesellschaftliche, kulturelle und mediale status quo permanent problematisiert werden, um diese Wirklichkeiten nicht zu unveränderlichen Gebilden erstarren zu lassen. Kritik muss für Adorno darauf verweisen, dass die gesellschaftliche Faktizität stets hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Der Kritiker darf daher des Zustands bzw. Gegenstands, den er kritisiert, nicht enthoben sein, sondern muss gleichzeitig an ihm teilhaben und ihm dennoch auch distanziert gegenüberstehen, d.h. nicht in ihm aufgehen (vgl. Adorno 1997h: 29). Den negativ-dialektischen Kritiker zeichnet es aus, sich dieser Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, in der sich jeder kritische Standpunkt zwangsläufig befindet, zu stellen, ohne aber die Hoffnung zu hegen, diese jemals aufzulösen: »Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als dass er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll – der Gestus Münchhausens, der sich aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf. Und dann kommen noch die angestellten Philosophen und machen uns zum Vorwurf, dass wir keinen festen Standpunkt hätten« (Adorno 1997b: 82).155 Zentral für Adornos Kritikverständnis ist es, dass diese nicht auflösbaren Widersprüche, Spannungen und Unentscheidbarkeiten vom Kritiker ausgehalten und permanent vergegenwärtigt werden. Das Grundmuster dieses negativ-dialektischen Kritikverständnisses bildet Adornos (ebd.: 398) Rede von der »Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht«.156 Diese Haltung von Kritik als negative Dia155

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Vgl. hierzu auch Adorno (1997b: 398): »Dialektik ist das Selbstbewusstsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel.« Gripp (1986: 112f.) interpretiert diese These von Adorno wie folgt: »Zum einen ist die philosophische Frage nach dem Sein des Seienden, nach dem Absoluten, der Struktur nach zu verändern [...]. Zum anderen ist der Begriff der Wahrheit zu überdenken. Denn ist alles Denken an Begriffe gebunden und geht in den Begriffen das Falsche, Negative als dessen Anderes immer schon ein, dann geht auch in dasjenige, das als wahre Erkenntnis gilt, also in den Begriff der Wahrheit selbst, eben dieses Falsche, Negative ein.« Gripp

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lektik bedeutet für Adorno (1997n: 798f.) zugleich eine Glückserfahrung: »Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein.« Ein konstitutiver Fluchtpunkt der Kritiken von Adorno ist die niemals zu erreichende Utopie einer gerechten bzw. emanzipatorischen Gesellschaft, die (diskursiv) durch die Kritik der bestehenden Gesellschaft und der Gegenentwürfe zu dieser anvisiert werden kann, d.h. theoretisch die Grundlagen für eine bessere Gesellschaft zu schaffen (vgl. z.B. Adorno 1997a: 175f.; zum utopischen Charakter der Kunst etwa Adorno 1997c: 55f.). Auf eine positive bzw. konkretere Bestimmung einer gerechten Gesellschaft lässt sich Adorno aber nicht ein.157 Weiterhin kann Medienkritik für Adorno zur Bewusstmachung über die Eigengesetzlichkeiten der Medienprodukte und der Medienproduktionszusammenhänge bei den Mediennutzern beitragen. Mit Bezug auf das Fernsehen spricht Adorno (1997k: 531) etwa von einer »Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie«.158 Auf Grund der wesentlich ideologiekritischen Ausrichtung seiner Medienkritik, entgehen Adorno aber die vielfältigen Erscheinungsformen der Medienlandschaft, die nur schwer durch eine (statische) theoretische Hinsicht erfasst werden können. Symptomatisch hierfür ist Adornos eindimensionaler Umgang mit der Unterhaltungsfunktion der Medien.

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macht darauf aufmerksam, überträgt man ihre Interpretation von der erkenntnistheoretischen auf eine medienkritische Ebene, dass Adornos negativdialektisches Kritikverständnis diesem seine verbindliche Legitimität nimmt, Kritik niemals im Namen der absoluten Wahrheit urteilen kann. Dies lässt den (gesellschaftlichen) Status der Kritik problematisch erscheinen, weil sie aus dieser Perspektive andere Legitimationsinstanzen benötigt, um ihre gesellschaftliche Funktion veranschaulichen zu können und sich somit andererseits durch neue Strategien vor dem Attestieren ihrer Beliebigkeit bzw. Belanglosigkeit schützen muss. Dieser Herausforderung stellt sich Adorno in seinen konkreten, fallbezogenen Medienkritiken allerdings zu selten, weil er hierbei zumeist mit dem Pathos der konsensuellen Verbindlichkeit über die jeweiligen Medien urteilt. Im Kapitel Sur L’eau aus der Minima Moralia liefert Adorno (1997a: 179) für diese Verweigerung eine Begründung: »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Nöte nicht kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuss selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann.« An anderer Stelle betont Adorno (1997u: 346): »Dazu [zum richtigen Wollen – MSK] müsste es [das Publikum – MSK] erst gebracht werden, durch sich selbst und gegen sich selbst zugleich.«

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Im Vortrag Kritik betont Adorno, dass Demokratie, Mündigkeit, Politik und Kritik ein konstitutives Interdependenzverhältnis bilden müssen und begründet diese Einschätzung wie folgt: Politik ist kein in sich geschlossenes Teilsystem der Gesellschaft, sondern konstitutiv mit dem gesellschaftlichen Ganzen verbunden. Kritik ist das Grundelement aller Demokratie, in der die »Freiheit zur Kritik« (Adorno 1997m: 785) ein Grundrecht sein muss bzw. ein »Menschenrecht und [eine] Menschpflicht des Bürgers« (ebd.: 789). Die Mündigkeit der Bürger, verstanden als selbständige bzw. selbstbestimmte Entscheidungs- und Urteilskompetenz, braucht (gesellschaftlich bzw. staatlich verbürgte) Entfaltungsfreiheit, um ihrer Aufgabe, d.h. den permanenten (vernunftbestimmten und rationalen) Widerstand gegen die bzw. Affirmation der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrem status quo, zu ermöglichen. Hierzu bedarf es der diskursiven und praktischen Urteilskraft der Bürger. Kritik verlangt, so Adorno weiter, Verantwortung. Daher dürfen nur diejenigen Kritik üben, die sich in verantwortungs- und machtvollen Positionen befinden, was wiederum nur eine gesellschaftliche Minderheit ist. Kritik verkommt so, wie Adorno hervorhebt, zu einem Privileg für diejenigen, die die Macht haben, sich öffentlich zu äußern und zu inszenieren. Diese Situation trägt zur Nivellierung von Kritik bei und macht aus ihr ein hegemoniales Ausschlusssystem, in dem diejenigen diffamiert werden, die vermeintlich nicht zur Kritik berechtigt sind: »[D]urch die antikritische Struktur des öffentlichen Bewusstseins wird der Typus des Dissentierenden wirklich in die Situation des Querulanten gebracht und nimmt querulantenhafte Züge an, sofern sie ihn nicht schon zur hartnäckigen Kritik treiben [...]« (ebd.: 790). Wie könnte man die zuvor skizzierte Situation, im Verständnis Adornos, ändern? Zunächst durch umfassende, permanente und multiperspektivische Aufklärung über den Umgang mit Kritik. Dieser Bildungsprozess müsste bereits in der Schule, als basalem Ort, um Kritik bzw. Kritikfähigkeit auszubilden, beginnen. Weiterhin müsste es eine intensive und öffentliche Auseinandersetzung mit den Kritikern geben, in der etwa über ihre gesellschaftliche Funktion, ihre Kritikmaßstäbe und Abhängigkeiten gesprochen würde. Außerdem müsste es eine Kritik an der mangelnden Mithilfe der meinungsbildenden Medien (hier der Zeitungen), der Konsumenten sowie der (Macht-)Politik an diesem Prozess geben, weil sich diese Gruppen letztlich in ihrem Handeln fremdbestimmen lassen bzw. sich in ihrem Handeln opportun ausrichten und nicht gemäß der »Solidarität mit der Freiheit zur Kritik und ihrer Voraussetzung, der unbehinderten Information« (ebd.: 792) agieren. So lange sich die gesellschaftliche Situation der Kritik nicht grundlegend ändert, bleibt diese für Adorno wesentlich folgen- und damit bedeutungslos. Welche Grundoperation einer negativ-dialektischen Kritik stellt Adorno diesem gesellschaftlichen Verfallsprozess von Kritik entgegen? Im Kritik-Vortrag nennt Adorno die zuvor beschriebene Methode der

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immanenten Analyse159 und das Positive der Negation. Ansatzweise betont er aber auch, was für Adorno sehr untypisch ist, dass »der Kritik die unmittelbare praktische Empfehlung des Besseren« (ebd.) beigegeben werden könnte, wenngleich er dies v.a. darauf beschränkt, die jeweils kritisierten Wirklichkeiten an dem, was sie zu sein vorgeben, zu messen und mit anderen, alternativen Produktionsmaßstäben bzw. Wirklichkeitsbildern zu konfrontieren, ohne hierbei aber wiederum konkreter zu werden. Manipulierte Manipulatoren: Die Fernsehkritik von Bourdieu

Bourdieu (1998: 9-96) hielt 1996 zwei Fernsehvorträge über Struktur und Wirkung des Fernsehens, die vom Privatsender Paris Premiere ausgestrahlt wurden. Bourdieu übt Fernsehkritik im Fernsehen, diskursive Kritik am Visuellen.160 Er möchte, indem er auf alle üblichen Inszenierungstechniken (etwa Zeitbegrenzung oder Themenauswahl) verzichtet, das Medium gegen das Medium verwendet, Distanz zwischen Medium und Rezipienten schaffen, um so die Funktionsweisen und Ideologie des Fernsehens aufzudecken. Ziel der Überlegungen Bourdieus ist es, »denen Werkzeuge und Munition zu liefern, die [...] dafür kämpfen, dass, was ein hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte werden können, sich nicht endgültig in ein Mittel symbolischer Unterdrückung« (ebd.: 13) verwandelt. Als Adressaten hat Bourdieu einerseits die Rezipienten und andererseits die Produzenten aus dem Medienbereich (z.B. Journalisten, Redakteure, Moderatoren) im Blick. Der Begriff Manipulation taucht nur an wenigen Textstellen auf, dennoch ist er das zentrale Thema der Überlegungen von Bourdieu. Wie die »Manipulationsarbeit« (ebd.: 47) des Fernsehens funktioniert, veranschaulicht Bourdieu, indem er aufzeigt, welche konstitutiven Faktoren Fernsehsendungen insgesamt bestimmen – hierbei hat er v.a. Nachrich159

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Die immanente Analyse ist für Adorno (1997o: 813) grundsätzlich besser geeignet, um Erkenntnisse über Medien- und Kulturprodukte zu erlangen, als Ansätze der Rezeptions-, Wirkungs- und Nutzungsforschung: »Wie in der Ästhetik gehe ich auch in der Soziologie gerade nicht von der Wirkung, sondern von dem wirkenden Gebilde, insgesamt von der Produktionssphäre aus.« Andererseits betonte Adorno aber auch die Notwendigkeit von Rezeptionsforschung (vgl. Adorno 1997s: 180). Diskursive Medienkritik in den Medien, hier im Radio, haben auch Brecht, etwa in seinen Rundfunkvorträgen, und Adorno (1971) in seinen Vorträgen und Gesprächen, die er zwischen 1959 und 1969 in der Reihe »Bildungsfragen der Gegenwart« im Hessischen Rundfunk gehalten bzw. geführt hat, geübt. Die Intention dieses medial paradoxen Vorgehens besteht darin, dass »die auf Argumenten aufgebaute öffentliche Rede einer der verlässlichsten Formen des Widerstands gegenüber Manipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit« (Bourdieu 1998: 12) bleibt. Fraglich ist, ob diese Intention sowie der Versuch, einen emanzipatorischen Medienbebrauch auf diesem Weg auszubilden und das Fernsehen zu einem »Instrument direkter Demokratie« (ebd.: 13) zu machen, auch medial kommunizierbar ist.

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ten-, Informations- und Talk- bzw. Diskussionssendungen im Blick. Bourdieu unterscheidet drei Aspekte, die diesen Medienkonstruktivismus auszeichnen: (1) technische Manipulation, etwa in Form von Bildeinstellungen und -manipulationen, Aufnahmetechnik oder Beleuchtung; (2) inhaltliche Manipulation bei der Kommunikation und Inszenierung von Themen und Ereignissen161; (3) institutionelle Manipulation, etwa durch 161

Die einzelnen Aspekte können an dieser Stelle nur summarisch aufgeführt werden: (1) Themenselektion, die zielgruppenspezifisch, also marktorientiert ist. Sie muss Rezipienten und Werbekunden gleichsam ansprechen. Zudem wird die Selektion durch spezifische Sichtweisen, Bourdieu (1998: 25) spricht von »Brille[n]«, bestimmt. Diese Sichtweisen setzen sich aus Faktoren, wie etwa Berufsethos, Bildung, Senderpolitik, Zeitgeist, Wettbewerbslogik oder Konkurrenzdruck zusammen. (2) Die Wahrnehmung, Inszenierung und Kommunikation dieser Themen wird v.a. durch folgende Aspekte bestimmt: (a) unmittelbare Anschlussfähigkeit durch Produktion von »Omnibus-Meldungen«, »die Aufmerksamkeit auf Dinge [...] lenken, die alle Welt interessieren« (ebd.: 22). Das Diktat der Anschlussfähigkeit fordert Kommunikation in Gemeinplätzen, Phrasen bzw. »konventionelle[n] Vorstellungen, wie alle sie haben; es handelt sich um Vorstellungen, die jeder versteht, so dass das Problem ihres Verständnisses sich gar nicht erst stellt« (ebd.: 39). Zudem sind diese Omnibus-Meldungen konformistisch und unpolitisch, Produkte des Durchschnittsgeschmack, und machen so kritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten überflüssig, sie erzeugen Konsens, geben zu keinen Konsequenzen Anlass und lenken von Themen ab, die nicht nur eine mediale Wirklichkeit besitzen (vgl. ebd.: 23ff., 62ff.); (b) permanente Suche nach dem Sensationellen und Skandalösen in alltäglichen Rationen; (c) tägliche Jagd nach der Exklusivmeldung; (d) permanenter Zwang zur Aktualität, der aus Journalisten, so Bourdieu (ebd.: 137f.), »Tagelöhner des Alltäglichen« macht und sie »zur Produktion einer Wiedergabe von Welt verurteilt, die sie als diskontinuierliche Abfolge von Momentaufnahmen erscheinen lässt.« (e) Standardisierung und Homogenisierung der Produkte, um die Faktoren a-d verwirklichen zu können. (3) Diese medialen Konstruktions- und Kommunikationsmechanismen von Wirklichkeit verlangen bestimmte Inszenierungstechniken: (a) Dramatisierung und Theatralität – damit alle Medieninhalte unterhalten können; (b) Instrumentalisierung der »primitiven Leidenschaften« (ebd.: 11) der Rezipienten bzw. Konsumenten, also ihrer (zumeist unerfüllten) Triebe, Begierden, Wünsche; (c) Moralisierung; (d) Angstproduktion/-rhetorik; (e) Psychologisierung; (f) Privatisierung des Öffentlichen, Veröffentlichung des Privaten. (4) Dieser »manipulatorische Zynismus der Fernsehproduzenten« (ebd.: 140) hat v.a. negative soziale Auswirkungen: (a) Medientauglichkeit verlangt Markttauglichkeit und Markttauglichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit von Medientauglichkeit. Damit wird im Mediensystem alles der »Herrschaft der kommerziellen Logik« (ebd.: 114) untergeordnet; (b) Gefährdung der kulturellen Produktionen und intellektuellen Ökologie (die durch die Autonomie etwa von Wissenschaft, Kunst, Literatur oder Religion erzielt wird), deren Autorität von der Sache und nicht von Fragen der Markttauglichkeit ausgeht; (c) Eindämmung des kritischen Bewusstseins der Rezipienten bzw. Konsumenten; (d) Förderung der konformistischen Akzeptanz des sozialen status quo; (e) individuelle und soziale Wirklichkeitskonstruktionen werden eindimensionaler; (f) zunehmende Verquickung von Medien(industrie) und Politik sowie permanent steigender Einfluss von Medienmogulen (wie Silvio Berlusconi, Ted Tuner, Bill Gates) auf Politik und Gesellschaft – dies führt zur Beeinträchtigung der demokratischen Strukturen einer Gesellschaft; (f) negativ mobilisierende Wirkungen, z.B. die (zum Teil unfreiwillige) Förderung von Fremdenhass, Nationalismus, Rassismus durch Berichte über ausländische Straftäter.

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die Systemimperative der Medienkonzerne (v.a. ökonomische Interessen), des journalistischen Feldes (wie z.B. die Jagd nach der Exklusivmeldung), der Redaktionen (etwa der Kampf um Marktanteile und Werbekunden oder das Sendekonzept) und staatliche Regulierungen sowie Schaffung von Rahmenbedingungen (in Form von Medienrecht, Garantie auf Pressefreiheit, Subventionen, Zensur). Hinter diesen drei Faktoren verbirgt sich die »Logik der Schlacht um die Einschaltquoten« (ebd.: 10). Die Einschaltquote ist der »verborgene Gott dieses [des medialen – MSK] Universums« (ebd.: 33), überall dominiert der Markt als »legitime Legitimationsinstanz«. Dieser Einschaltquotenfetischismus »trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die [...] mit dem demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts zu tun hat« (ebd.: 96). Aus dem Fernsehen wird, durch das Diktat der Einschaltquote, ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Wirklichkeit in ihrem jeweiligen status quo. Dies ist für Bourdieu ein bedrohlicher Zustand, da die Medienakteure ein Monopol über die Instrumente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen besitzen, also einen maßgeblichen Einfluss auf die Konstruktion von Wirklichkeit ausüben sowie den Zugang von Informationen und Personen zur Öffentlichkeit kontrollieren, was ihnen wiederum massiven gesellschaftlichen Einfluss verschafft. Bourdieu möchte daher gegen die Einschaltquotenmentalität und die Dominanz des Ökonomischen in allen sozialen Teilbereichen und für die Autonomie des kritischen Diskurses, also der permanenten Problematisierung der jeweiligen sozialen Verhältnisse, eintreten. Bourdieu weist ferner darauf hin, dass nicht nur die Rezipienten bzw. Konsumenten instrumentalisiert und manipuliert werden, sondern ebenso die Produzenten und Kommunikatoren aus dem Medienbereich, die Bourdieu (ebd.: 21) als manipulierte Manipulateure bezeichnet: »[D]ie Beteiligten [sind] manipuliert [...] und Manipulateure zugleich. Sie manipulieren sogar sehr oft umso besser, wenn sie selbst manipuliert sind, ohne es zu wissen.« Als Bestandteil des Mediensystems müssen sie sich diesem und seinen Funktionsweisen anpassen – dadurch werden sie manipuliert. Hierzu gehört, neben den Charakteristika des Medienkonstruktivismus, die Selbstmanipulation der Medienproduzenten, die in der permanenten wechselseitigen Selbstbeobachtung gründet (vgl. ebd.: 31f.; vgl. Kap. 2.3.; Kap. 3.3.). Die Wahrnehmung, Inszenierung und Kommunikation von Wirklichkeit geschieht durch spezifische Brillen – so werden sie zu Manipulateuren. Ihre Produktionen hängen von den Möglichkeiten der zensierten Rahmenbedingungen (d.h. von den Elementen des zuvor skizzierten Medienkonstruktivismus sowie den technischen,

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ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen) ab – so werden sie zu manipulierten Manipulatoren.162 Produzenten und Rezipienten, dies müsste auch für die Medienkonzerne und Medienmogule gelten, sind »Marionetten eines Zwangszusammenhangs [...], der zu beschreiben, einer Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen ist« (ebd.: 53), um aus gefesselten Kommunikationsinstrumenten Instrumente direkter Demokratie zu machen (vgl. ebd. 13, 50). Aus seiner Fernsehkritik entwickelt Bourdieu, am Beispiel der Fernsehauftritte von Intellektuellen, eine Pragmatik für einen emanzipatorischen Mediengebrauch. Intellektuelle sollten sich vier zentrale Fragen vor jedem Fernsehauftritt stellen (ebd.: 18): (1)

Habe ich etwas Sinnvolles zum Thema zu sagen? Bin ich wirklich Experte? (2) Ist mein Thema von allgemeinem Interesse? (3) Kann ich das Thema anschlussfähig, also für jedermann verständlich, kommunizieren? (4) Sind die Voraussetzungen (also der institutionelle Rahmen) geeignet, um zu informieren? Diese Fragen sollte nicht nur jeder Einzelne für sich beantworten, sondern sie sollten von den Intellektuellen als Kollektiv erarbeitet und in einer Art Manifest bzw. Vertrag festgeschrieben werden. Daraus könnte dann wiederum eine Art Ethos der Fernsehauftritte von Intellektuellen entstehen, von dem ausgehend jeder Einzelne entscheiden müsste, ob er an einer Fernsehsendung teilnimmt oder nicht (vgl. Kap. 4.1.). Emanzipatorischer Mediengebrauch: Die Baukästen von Brecht und Enzensberger

Brecht (1997a/b) und Enzensberger (1999) konzentrieren sich v.a. auf die Darstellung der Möglichkeiten eines emanzipatorischen Mediengebrauchs, die detaillierte Darstellung der Manipulationsmechanismen tritt in den Hintergrund. Brecht thematisiert primär die sozialen, kulturellen und politischen Funktionen und Potentiale des Rundfunks, unter den Bedingungen radikaler Demokratie (utopischer Aspekt) sowie seine gegenwärtige sozialhistorische Wirklichkeit (realistischer Aspekt). Seine Überlegungen zielen auf eine Veränderung der Wirklichkeit durch Medien. Für Brecht ist 162

Die Kritik an der Manipulation durch Medien ist in gewisser Hinsicht selbst manipulativ, da sie, wie die Medien, von spezifischen Selektionsmechanismen ausgeht, die wiederum ihre Wahrnehmung der Medien präformiert. Definitive Legitimität oder allgemeinverbindliche Normativität können gesellschaftskritische Medientheorien daher nicht anstreben.

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die kritische und informierte Öffentlichkeit die Voraussetzung einer demokratischen Öffentlichkeit. Das Radio, das eine massenhafte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht, könnte zur Ausbildung dieser beiden Faktoren entscheidend beitragen, sie aber zugleich verhindern, wenn man sich z.B. den enormen Einsatz des Rundfunks durch die Nationalsozialisten vor Augen führt, für die das Radio das wichtigste Propagandamedium war. Brecht fordert produktivere Formen der Präsentation im Rundfunk, die nicht nur Reproduktionen und Eigenproduktionen sein sollten, da so lediglich präformierte Wirklichkeitsbilder kommuniziert werden, die ohne Mitwirkung der Öffentlichkeit entstehen. In seinem Vortrag »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks«, aus dem Jahre 1932, fasst Brecht (1997b: 147f.) seine Forderungen pointiert zusammen: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens [...], wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur zu hören, sondern auch sprechen zu machen und nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.« Die soziale Hauptfunktion des Rundfunks darf es also nicht sein, Stellvertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Institutionen zu sein oder primär als Unterhaltungsinstitution zu fungieren. Vielmehr muss er (a) über alle wichtigen sozialen, kulturellen, ökonomischen und kulturellen Ereignisse berichten und somit die Zuhörer informieren (Ebene der Reproduktion sozialer Wirklichkeit), (b) die Öffentlichkeit dialogisch an diesen Prozessen beteiligen (Ebene der Rezipientenpartizipation) und (c) jede Form der »Folgenlosigkeit« (ebd.: 148), die für Brecht das Handeln der meisten sozialen Institutionen charakterisiert, unterbinden, also engagiert und politisch orientiert handeln sowie solche Handlungen in der Bevölkerung erzeugen bzw. organisieren, mit dem Ziel der »Veränderung der Wirklichkeit« (ebd.) (Ebene der Medienpragmatik) – genau dies würden die »Mächte der Ausschaltung« (ebd.: 149), für Brecht etwa Wirtschaftskonzerne oder der Staat, verhindern, um Knechte zu produzieren, die den gesellschaftlichen status quo aufrechterhalten und so nicht zu emanzipierten Akteuren werden können. Brecht geht es hingegen um die Aufhebung der Trennung von Produzenten und Rezipienten. Bei der Diskussion um die Frage nach der gesellschaftlichen Verteilung von Kommunikationschancen und dem Zugang zu Medientechniken, muss den Rezipienten die Möglichkeit zu strukturell relevanten Mitbestimmungen eingeräumt werden. Enzensberger (1999: 271), der sich auf die zentralen Thesen von Brecht bezieht, definiert Manipulation zunächst als neutrales technisches Verfahren, das unmittelbar in jeden Mediengebrauch eingeht: »Manipulation, zu deutsch Hand- oder Kunstgriff, heißt soviel wie zielbewusstes

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technisches Eingreifen in ein gegebenes Material.« Medien sind ihrem Prinzip nach »egalitär«, »aktionsorientiert« und »sozialisierte Produktionsmittel« (ebd.: 272), sie können zugleich Sender und Empfänger sein, jeder kann sie potentiell nutzen. Aus diesen Überlegungen leitet Enzensberger die Forderung ab, dass Medien in den Dienst einer kollektiven Strategie zu stellen sind, deren Ziel es sein muss, die »Isolation der einzelnen Teilnehmer am gesellschaftlichen Lern- und Produktionsprozess aufzuheben« (ebd.: 275). Enzensberger möchte zur »Entfesselung der emanzipatorischen Möglichkeiten, die in den neuen Produktivkräften stecken« (ebd.: 265), beitragen. Das entscheidende politische Moment der Medien ist ihre mobilisierende Kraft, d.h. die Menschen zu aktiven Subjekten der Gesellschaft und Geschichte, also zu emanzipierten, vernunftbewegten und politisch verantwortlichen Akteuren werden zu lassen. Dies ist möglich, weil Medien potentiell demokratisch sind, d.h. die Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen fördern bzw. allererst ermöglichen. Der Einsatz von Medien zu Propagandazwecken, wie etwa im Nationalsozialismus, macht aus den Menschen hingegen lediglich Objekte der Politik und die Medien zu Instrumenten repressiver Systeme. Bisher sind Medien, wie z.B. Fernsehen oder Radio, noch keine Kommunikationsapparate, weil sie kaum Wechselwirkungen zwischen Sender (Kommunikator aus dem Medienbereich, etwa ein Moderator) und Empfänger (Rezipient, z.B. Hörer oder Zuschauer) entstehen lassen, dialogische Kommunikation und demokratische Partizipation verhindern. Dies gilt, so Enzensberger, auch für konventionelle Rezipientenbeteiligungen, etwa bei Hörer- oder Zuschauertelefonaten, in denen kommunikative und thematische Publikumsnähe erzielt, den Interessen der Medienrezipienten nachgekommen und deren Bedürfnisse hörernah befriedigt werden sollen. Diese Formen der Rezipientenpartizipation sind für Enzensberger bisher noch Instrumentalisierungen und Manipulationen »kollektive[r] Wünsche« (ebd.: 277). Sie suggerieren, dass ein emanzipatorischer Mediengebrauch stattfände, die Rezipienten aus der Passivität (des Konsums) in die Aktivität (der Programmgestaltung), also aus der Hörigkeit in die Mündigkeit treten könnten. Für Enzensberger handelt es sich hierbei aber nur um Partizipationsfiktionen und Pseudokommunikationen, da der Rahmen und letztlich auch die Inhalte dieser Partizipation bzw. Kommunikation fremdbestimmt sind, d.h. einseitig von der Kommunikatorseite (z.B. dem Sender, dem Sendungsformat und dem Moderator) inszeniert und reglementiert werden.163 Es wird jedem Einzelnen 163

Ein gutes Beispiel aus der aktuellen (deutschen) Medienlandschaft ist die Umstrukturierung des Fernsehsenders TM3, der jetzt den Namen NeunLive trägt, die zum Ziel hatte, das erste interaktive Fernsehen ins Leben zu rufen, das 24-Stunden live auf Sendung ist und mit dem die Zuschauer rund um die Uhr sprechen, also interagieren können und aktiv an der Programmgestaltung beteiligt sind sowie den Programmerfolg bestimmen. Dass es sich hierbei, aus

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KAPITEL 2

vermeintlich die Chance gegeben, teilzunehmen und zu handeln, also Produzent zu sein oder bei human interest-Themen wie Liebe, Geld, Gesundheit oder Sport das Gefühl vermittelt, Fachmann zu sein, weil man aus der Vielzahl von Anrufern als Gesprächspartner auserwählt wurde. Dies sind lediglich Strategien der Medien(industrie), um die kollektive Struktur der Medien nicht politisch wirkungsmächtig werden zu lassen, indem hauptsächlich individuelle Mediennutzung bzw. -partizipation gefördert wird, um vereinzelte Amateure, nicht aber kollektive Produktionsformen zu erzeugen. Somit bleibt die individuelle Mediennutzung gesellschaftlich irrelevant, indem die emanzipatorischen Potentiale der Medien reglementiert werden. Rezeptionsvorgänge sind somit keine aktiven Aneignungsprozesse. Diese Verhinderung des Übergangs der Medien (Radio und Fernsehen) von Distributions- zu Kommunikationsapparaten, hat machtpolitische Gründe und spiegelt den gesellschaftlichen Grundwiderspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bzw. herrschenden und beherrschten Klassen wider. Solange die Medien nicht substantiell in den Dienst der Öffentlichkeit treten, bewirken sie lediglich die Reproduktion und Affirmation des gesellschaftlichen status quo. Der medialen Manipulation soll nicht durch Zensur oder Kulturpessimismus begegnet werden, »sondern nur durch direkte gesellschaftliche Kontrolle, das heißt durch die produktiv gewordenen Massen« (ebd.: 271) – dies bedeutet also, gesellschaftliche Kontrolle durch kollektive Selbstorganisation und -produktion. Enzensberger formuliert programmatisch: »Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muss nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen Jeden zum Manipulateur zu machen« (ebd.). Damit jeder zum Manipulateur im Dienst des Kollektivs, also einer kritischen und emanzipatorischen Öffentlichkeit werden kann, muss es zu einem Zusammenschluss bzw. einer Organisation der Manipulateure kommen, denn nur diese kann gesamtgesellschaftlich wirksam werden. Die Realisation der Entwürfe von Brecht und Enzensberger hat eine grundlegende Veränderung nicht nur des Mediensystems, sondern der Gesellschaft im Ganzen zum Ziel, denn ihre Entwürfe zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch können nur in »eine[r] freie[n] sozialistische[n] Gesellschaft« (Enzensberger 1999: 273) verwirklicht werden. der Perspektive von Brecht und Enzensberger, um Scheinautonomie bzw. Scheindemokratie handelt, kann man u.a. daran erkennen, dass jede Beteiligung kostenpflichtig ist, die äußerst eindimensionalen Programmwahlmöglichkeiten vom Sender festgelegt sind, vermeintliches Bildungsfernsehen als Quizshow (Beantwortung von PISA-Fragen mit monetären Gewinnchancen) inszeniert oder das ganze Sendekonzept nicht mehr als ein visuelles Warenhaus darstellt, also den Zuschauer mit Unterhaltung, Reisemagazinen, Gewinnspielen, Softsex zum scheinaktiven User, nicht aber zum emanzipierten Produzenten macht.

MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

241

Gesellschaftskritische Medientheorien im Spannungsfeld von Manipulation und Emanzipation

»Medienkritik war, ist und bleibt ein hilfloses Geschäft – wenn sie sich fundamentalistisch gegen Medien als solche wendet« (Hörisch 2001: 178). Dieser Vorwurf kann den zuvor diskutierten gesellschaftskritischen Medientheorien nicht gemacht werden. Aus der Kritik an der Medien(kultur)industrie und ihren Medien sollen Vorschläge zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch generiert werden. Medien können potentiell entscheidend dazu beitragen, eine demokratische und emanzipatorische Öffentlichkeit herzustellen. Daher steht die Diskussion des Bedingungszusammenhangs von Demokratie, Öffentlichkeit und Medienverfassung im Zentrum gesellschaftskritischer Medientheorien. Die Frage, wie Öffentlichkeit durch Medien manipuliert wird, beantworten Brecht, Adorno, Horkheimer, Enzensberger und Bourdieu durch die Darstellung des Medienkonstruktivismus. Die medialen Wirklichkeitskonstruktionen verhindern zumeist die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins und einer emanzipatorischen Öffentlichkeit nachhaltig (deskriptiv-empirische Ebene). Diese Kritik rührt daher, dass es die soziale Hauptfunktion der Medien sein sollte, praktische Aufklärung zu leisten, die Meinung und den Willen des Volkes zu artikulieren bzw. als Vermittler von Meinungs- und Willensbildungsprozessen zu fungieren (normativ-kritische Ebene). Der Umstand, dass Medienunternehmen primär marktorientierte Wirtschaftsunternehmen sind, denen es v.a. um Profitmaximierung geht, verhindert die Realisation dieser (idealtypischen) Forderungen massiv. Durch die Fokussierung auf die Aufklärungsfunktion der Medien kann allerdings die Bedeutung von Unterhaltung, einem konstitutiven und zugleich durchweg negativ belegten Bestandteil der Medien, nur eingeschränkt verstanden werden (vgl. Kap. 2.3). Massenmediale Angebote müssen unterhaltend sein, um eine große Öffentlichkeit zu erreichen, Interesse zu wecken, gehört, gelesen, gesehen zu werden. Unterhaltung muss nicht zwangsläufig zur Instrumentalisierung von Öffentlichkeit führen, sondern kann z.B. auch einen Beitrag zur Partizipation der Öffentlichkeit an politischen Entscheidungen leisten und somit eine wichtige Funktion im Demokratisierungsprozess von Gesellschaften einnehmen (vgl. Maase 1997). Durch (mediale) Unterhaltung können (soziale) Unterhaltungen angeregt und so zur Selbstverständigungen der Gesellschaft beigetragen werden, ebenso können Fakten (Informationen) in entsprechender Darstellung durchaus der Unterhaltung dienen. Die starre Polarisierung von Information und Unterhaltung kann zudem nicht aufrechterhalten werden, da Medien die Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht repräsentieren, sondern vielmehr Selektionen, Interpretationen und Konstruktionen des gesellschaftlichen Geschehens bzw. der Wirklichkeit bieten. Medienwirklichkeit wird also konstruktiv und in einem spezifischen Inszenierungsrahmen geschaffen, bietet Diskursbau-

242

KAPITEL 2

steine zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und vermittelt zwischen Alltagserfahrung und Weltereignissen. Die Medienrezeption bzw. die Medienaneignung, also der Übergang von Medienrealität zur Publikumsrealität, wird zwar von den diskutierten Vertretern gesellschaftskritischer Medientheorien als ambivalent angesehen, dennoch stehen die negativen Wirkungen von Medienangeboten, v.a. soziale Kontrolle und Manipulation, im Vordergrund ihrer Medienanalysen. Die produktive und kreative Medienaneignung der Rezipienten, gemäß ihren Alltagsinteressen und -bedürfnissen, durch die den Medienangeboten eine eigene Bedeutung, in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen kulturellen Milieu verliehen wird, wird hingegen nur eingeschränkt wahrgenommen. Durch diese These wird das Thema Manipulation durch Medien zwar relativiert, die Notwendigkeit der permanenten Problematisierung des Medienkonstruktivismus, auf den sich der Manipulationsverdacht bezieht, bleibt allerdings bestehen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass in einer Gesellschaft, in der ommnipräsente Massenmedien die Funktion erfahrungsbestimmter Wirklichkeitskonstrukteure haben, Wirklichkeit zunehmend das ist, was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeiten konstruieren, woran wir dann glauben und gegenüber dem wir entsprechend handeln und kommunizieren. Unser Wissen von der Gesellschaft wie auch unser Wissen von der Welt, wird also primär durch die Massenmedien und daher über Sekundärinformationen bzw. über eine vorfabrizierte Erfahrungswelt vermittelt. Daher muss ein fundiertes Wissen über Medien und die Fähigkeit, sich ihrer souverän und funktional zu bedienen, von jedem Einzelnen erworben werden, um möglichen Manipulationen vorzubeugen und Maßstäbe zur Kritik an der Wirklichkeit der Medien auszubilden (vgl. Kap. 4.1.). Die gesellschaftskritischen Medienanalysen von Brecht, Adorno, Horkheimer, Enzensberger und Bourdieu zielen daher auf die Ausbildung eines emanzipatorischen Mediengebrauchs bzw. von Medienkompetenz sowie zur Konstitution anderer Räume, in denen alternative Medienwirklichkeiten gestaltet werden könnten (pragmatische Ebene). Hinter diesem Anliegen verbirgt sich die Überzeugung, dass die gesellschaftliche sowie mediale Wirklichkeit in ihrem jeweiligen status quo nicht die beste aller möglichen Wirklichkeiten, sondern ein Steinbruch, an dem permanent gearbeitet werden muss, sind. Durch theoretische Reflexion die Bedingungen für eine bessere Gesellschaft (sowie ein besseres Mediensystem) zu schaffen und dadurch die praktische Veränderung der sozialen (sowie medialen) Wirklichkeit zu erzielen, ist der von Beginn an leitende Impuls gesellschaftskritischer Medientheorien.

MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

2.5

ZUSAMMENFASSUNG: GIBT JENSEITS DER MEDIEN?

243 ES

(K)EIN

Mit dem Titel dieser Zusammenfassung wird auf eine These von Bolz (1994: 13), in der er behauptet, »[e]s gibt kein Jenseits der Medien«, angespielt. Hiermit meint Bolz, dass keine Möglichkeit bestehe, aus der Medienwirklichkeit herauszutreten, ebenso wenig gebe es keine Formen der Darstellbarkeit dessen, was jenseits der Medien ist. Ein Wirkliches, das es vermeintlich neben und unabhängig von der Medienwirklichkeit geben könnte, sei somit nicht artikulierbar, konzeptualisierbar, symbolisierbar und auch nicht ins Bild zu bringen. In diesem, ebenso wie im vorausgehenden Kapitel, wurde (implizit) die These von Bolz fallspezifisch diskutiert. Hierbei standen v.a. Diskursanalysen journalistischer und wissenschaftlicher Konzeptualisierungen der jeweiligen Themen im Vordergrund, weil in dieser Studie keine Aussagen über konkrete Medien-Wirkungen und Medien-Nutzungen getroffen bzw. unterstellt werden. Hingegen wurden die diskursiven Zuschreibungen zu den jeweils behandelten Themen herausgearbeitet, um zu zeigen, wie über die soziale und mediale Konstruktion von Wirklichkeit sowohl allgemeintheoretisch als auch diskursspezifisch gesprochen wird. In der Auseinandersetzung mit den Medien wird häufig ausgeblendet, dass die Wirklichkeit der Medien zunächst und zumeist die Wirklichkeit der Diskurse über Medien ist. Diese Diskurse, die auch, etwa in Form von Produkt- bzw. Format-PR, von den Medienproduzenten und -akteuren selbst initiiert werden (können), fungieren als konstitutive Referenzsysteme der sozialen und individuellen Konstruktion medialer Wirklichkeit.164 Weiterhin können auch konkrete Medienwirklichkeiten, wie z.B. eine Fernsehsendung oder eine Zeitungskolumne, neben ihrer Informations- oder Unterhaltungsfunktion, prinzipiell zur Produktion von Diskursen und sozialen Gesprächen bzw. Interaktionen beitragen. Im Unterschied zur These von Bolz wurde in diesem Kapitel aber deutlich, dass auch dann, wenn Medien und Gesellschaft bzw. mediale und soziale Konstruktion von Wirklichkeit letztlich (diskursiv und lebensweltlich) nicht eindeutig, auch nicht idealtypisch, differenziert werden können, sich u.a. im Kontext der Auseinandersetzung mit der Unterhaltungsfunktion der Medien (vgl. Kap. 2.3.) zeigte, dass es gesellschaftliche Themen, wie etwa Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg, gibt, die in ihrer medialen Aufarbeitung und Inszenierung zwar aufmerksamkeitsökonomisch wirkungsvoll sein können, sich aber hinsichtlich der entsprechenden Themen als wirklichkeitsverzerrend165 und unverantwortlich 164

165

Hiermit wird allerdings nicht behauptet, dass die potentielle Wirkung bzw. Nutzung dieser Diskurse von vornherein abgeschätzt werden kann oder so ausfällt, wie von Produzentenseite aus erwartet wird. Mit dem Begriff wirklichkeitsverzerrend werden alle medialen Darstellungen und Diskussionen sozialer Themen bezeichnet, die deren Eigensinnigkeiten

244

KAPITEL 2

erweisen. Mit dieser Kritik sollte veranschaulicht werden, dass es durchaus externe, also soziale Wirklichkeitsebenen gibt, die nicht vollständig von medialen vereinnahmt werden können und dementsprechend auch nicht nur eine mediale Hyperrealität existiert, aus der man nicht heraustreten kann. Zudem wurde durch diese Kritik gezeigt, dass bestimmte Themen, wie z.B. die Hartz IV genannte Sozialreform, in einzelnen Medien-Formaten nicht behandelt werden können, sondern eigensinnige Formen ihrer medialen Inszenierung erfordern, die außerhalb der Diskurs- und Produktionslogik herkömmlicher Medien allererst entwickelt werden müssen (vgl. Kap. 4.1.). Andererseits gibt es aber auch, wie im Kap. 1. und Kap. 2. deutlich wurde, keine völlig medienfreien Räume oder Diskussionen sozialer Themen, die sich auf Wissensformen, die zumindest von medialem Wissen, z.B. in Form von Büchern, Zeitungen, Fernsehen, Filmen oder Werbung mitgeprägt werden, beziehen. Auch wenn alle Referenzsysteme, aus denen soziale Wirklichkeit konstruiert wird, nicht a priori mediale bzw. primäre mediale sind, so kann gleichwohl auch nicht behauptet werden, dass es jemals gänzlich medienfreie Referenzsysteme gibt. Die Frage nach dem Jenseits der Medien erweist sich, ebenso wie die nach einem Jenseits der Gesellschaft, als unmöglich, d.h. nicht beantwortbar. Der wirklichkeitsentzerrende Beitrag einer gesellschaftskritischen Medientheorie besteht in diesem Kontext darin, erstens, die jeweilige Akzentsetzung hervorzuheben; zweitens, diese diskurs- und fallspezifisch zu beschreiben; drittens, zu erklären, wie die Interdependenz von Medien und Gesellschaft und/oder Medien und Individuum funktioniert; viertens, deren Unterschiede aufzuzeigen; und fünftens, ausgehend von immanenten Analysen, Möglichkeiten der Kritik an der medialen Konstruktion von Wirklichkeit vorzuschlagen. Allerdings ist die Wahrnehmung von (sozialer und medialer) Wirklichkeit wiederum durch das spezifische Erkenntnisinteresse und die diskursiven Grundlagen einer gesellschaftskritischen Medientheorie selbst präformiert. Insofern kann der wirklichkeitsentzerrende Beitrag einer gesellschaftskritischen Medientheorie nur als alternatives Angebot zum Verstehen sowie zur Kritik an der medialen Konstruktion von Wirklichkeit genutzt werden und hierbei keinen Anspruch auf Gültigkeit und Objektivität erheben. Aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie führt die Auseinandersetzung mit der Frage nach der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, zunächst grundsätzlich zur Diskussion der Themen Öfnicht gerecht werden bzw. kein Eigeninteresse an diesen zeigen, sondern sie nur als Gegenstände benutzt, durch die die Maschinerie der Medienproduktion eigenlogisch am Laufen gehalten werden kann, d.h. aus ihnen Medienwirklichkeiten macht, die mit der sozialen Wirklichkeit dieser Themen fast gar nichts mehr gemeinsam haben (vgl. Kap. 4.1.). Wirklichkeitsentzerrend sind hingegen alle Versuche, der konstitutiven Interdependenz von Medien und Gesellschaft, durch entsprechende Diskurse und Medienproduktionen fallspezifisch gerecht zu werden.

MEDIALE KONSTRUKTION SOZIALER WIRKLICHKEIT

245

fentlichkeit und öffentliche Meinung. Der medialen Konstruktion von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung werden, mit Blick auf die Zeitungs- und Fernsehöffentlichkeit, vier konstitutive Ausprägungen zugeschrieben: Information, Kritik, Unterhaltung und Manipulation. In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde betont, dass sich die Beschreibung der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie, nur auf diese drei Themen Öffentlichkeit, Unterhaltung und Manipulation fokussiert. Eine grundlagentheoretische Diskussion anderer Themen, wie etwa Medien und Kultur, ist nur sinnvoll, wenn es hierzu im Feld gesellschaftskritischer Medientheorien eigenständige theoretische Grundlagen gibt. Gesellschaftskritische Medientheorien haben aber nur zum Thema Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, bedingt auch noch hinsichtlich der Frage nach der manipulativen Kraft von Medien, solche anzubieten. Die Auseinandersetzung mit anderen Themen ist hingegen ausschließlich kritisch – die Maßstäbe der Kritik bilden wesentlich die Prinzipien der Öffentlichkeitstheorie. Um die Basis für eine umfassendere Analyse der medialen Konstruktion von Wirklichkeit zu schaffen, werden in den folgenden beiden Kapiteln weitere theoretische Grundlegungen, und zwar zur Medienkritik (vgl. Kap. 3.) und Medienpragmatik (vgl. Kap. 4.), vorgenommen. In der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien gibt es zwar bisher zahlreiche medienkritische und auch einige medienpragmatische Perspektiven, die aber insgesamt, abgesehen vielleicht von Adorno, nicht systematisiert und zu einem anschlussfähigen Forschungsprogramm ausgearbeitet wurden.

3. M E D I E N K R I T I K Nachdem in den beiden vorausgehenden Kapiteln die mediale Konstruktion von Wirklichkeit diskutiert wurde, steht im Folgenden die Bedeutung der Medienkritik für den Diskurs gesellschaftskritischer Medientheorien im Vordergrund. Einleitend wird ein kurzer Überblick über die Diskursgeschichte der Medienkritik in Deutschland präsentiert (vgl. Kap. 3.1.), um, im Kontrast hierzu, den spezifisch medienkritischen Ansatz gesellschaftskritischer Medientheorien zu verdeutlichen. In diesem Kapitel wird es nicht darum gehen, den gesamten medienkritischen Diskurs in Deutschland aufzuarbeiten. Vielmehr fokussiert sich die Darstellung auf sechs Reader, die versuchen, das Feld der Medienkritik zusammenhängend und multiperspektivisch zu thematisieren. Die Auseinandersetzung mit dem Genre des Überblickbandes ist in diesem Kontext wichtiger als die Diskussion einzelner medienkritischer Monographien und spezifischer Medienkritiken, wie z.B. zur Fernsehkritik, weil, ausgehend von diesen Überblicksarbeiten, die Funktion und Bedeutung der Medienkritik als eigenständige Forschungsperspektive thematisiert werden kann. In diesen Kontexten sind v.a. die allgemeinen Bestimmungen dessen, was Medienkritik ist, welche gesellschaftliche Bedeutung sie hat, nach welchen Kritikmaßstäben sie urteilt oder ihre Situierung im Feld wissenschaftlicher Medienforschung von Interesse. Die folgende Rekonstruktion der sechs grundlegenden medienkritischen Reader, die in Deutschland erschienen sind, wird keine Nacherzählung aller in diesen Bänden dokumentierten Positionen sein, sondern eine Archäologie der dort präsentierten allgemeinen Bestimmungen der Medienkritik. Weiterhin wird eine, zumindest heuristische, Definition des Begriffs Medienkritik erarbeitet, die in Korrespondenz zum grundlegenden Medien-Begriff dieser Studie, dem Medien-Werden, steht (vgl. Kap. 2.1). Auffallend ist, dass in den medienkritischen Readern die Definitionsarbeit fast ausschließlich durch Zu- und Umschreibungen geschieht. Dies entspricht der in dieser Studie herausgestellten Intention des Medien-Werdens und der Methode der Theoriefiktion, weil aus dieser Perspektive immer wieder von neuem, ausgehend vom spezifischen Dis-

MEDIENKRITIK

247

kursmaterial, flexible Begriffsbestimmungen möglich sind sowie eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den Medien erzielt wird. Diese ist von konstitutiver Bedeutung, um Wandlungsprozesse nicht nur diskursiv aufzuarbeiten, sondern die wissenschaftliche Analyse selbst als Ausdruck von Wandlungsprozessen zu verstehen. Ausgehend von diesen allgemeinen Bestimmungen zum Ort und zur Bedeutung der Medienkritik, werden die entscheidenden medienkritischen Positionen gesellschaftskritischer Medientheorien vorgestellt und Medienkritik als blinder Fleck sozialwissenschaftlicher Medienforschung aufgedeckt (vgl. Kap. 3.2). Nicht nur die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medienkritik, also die Bestimmung von Medienkritik als Diskurs, ist für gesellschaftskritische Medientheorien von Bedeutung. Gleichwohl muss auch über die Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland gesprochen werden (vgl. Kap. 3.3). Der Gang der Medienkritik durch die Institutionen, verstanden als Gestaltungsformen kritischer Medienpraxis, ist einer der beiden Wege, Medienkritik gesellschaftlich wirksam zu verankern und gleichzeitig als Diskurs sowie Praxisform neu zu entwerfen.1 Kontrastiert wird diese Diskussion durch die Kritik an der Medienkritik sowie den Medienanalysen gesellschaftskritischer Medientheorien, die aus der Perspektive einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie, hier in Form der Thesen des Berliner Medienwissenschaftlers Wolfgang Ernst geübt wird (vgl. Kap. 3.4). Diese Kritik verdeutlicht, dass, neben der bislang zu eindimensional geführten Auseinandersetzung, etwa mit dem Feld der Unterhaltung (vgl. Kap. 2.3), die notwendige Diskussion der Medialität bzw. Technizität der jeweils kritisierten Medien nicht geführt und somit (teilweise) über Medien geurteilt wird, ohne konkret auf deren Eigensinnigkeiten einzugehen. Dies kann als blinder Fleck der Medienanalysen und der Medienkritik gesellschaftskritischer Medientheorien bezeichnet werden. Abgeschlossen wird die Auseinandersetzung mit der Medienkritik gesellschaftskritischer Medientheorien durch eine Auswertung der bisherigen Überlegungen, die sich auf die Frage fokussieren, ob Medienkritik letztlich ein zahnloser und, sowohl von Seiten der Mediennutzer, als auch der Medienmacher, kaum beachteter Diskurstiger ist oder Möglichkeiten bestehen, durch Medienkritik nachhaltig Einfluss auf die mediale Konstruktion von Wirklichkeit zu nehmen (vgl. Kap. 3.5).

1

Vgl. zum anderen Weg, d.h. dem der Medienkompetenz und Medienpragmatik als Heterotopie, die Überlegungen in Kap. 4.

248

3.1

KAPITEL 3

MEDIENKRITIK IN DEUTSCHLAND. EIN DISKURSÜBERBLICK

»Medienkritik stiftet ein argumentatives Reden über Medien, ohne die Rede über sie kommen diese selbst nicht aus, kommt auch die Gesellschaft nicht aus. Medienkritik stiftet den Diskurs über die Medien, sie findet nicht nur in den publizistischen Formen statt, sondern auch in den Institutionen. [...] Der Diskurs, die Erzeugung von ›Redegewissheit‹ über die Medien und ihre Aufgaben und Funktionen, ist unabdingbar für den gesellschaftlichen Umgang mit den Medien. Er bildet das Fundament für das Selbstverständnis sowohl der Produzenten als auch der Nutzer« (Hickethier 1997: 62).

Seit 1968 sind sechs Sammelbände zur Medienkritik in Deutschland erschienen, die versuchen, einen Überblick über dieses Feld wissenschaftlicher Medienforschung und journalistischer Medienbeobachtung zu vermitteln: Hamm (1968a); Baacke (1974a)2; Fischer (1983a); Bundeszentrale für politische Bildung (1988); Weßler/Matzen/Jarren/Hasebrink (1997) und Hallenberger/Nieland (2005a). Weiterhin muss auf zwei Studien verwiesen werden, die 2006 erscheinen und bisher die systematischsten Ansätze darstellen, Medienkritik als Diskurs wissenschaftlich zu institutionalisieren (vgl. Kleiner/Nieland 2007a/b). In den Grundlagentexten zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik (Kleiner/Nieland 2007a) wird dieses Feld von Mitte des 19. Jahrhunderts, beginnend mit den Arbeiten von Marx und Schäffle (vgl. Kap. 2.2.1), bis zur Gegenwart, systematisch sowie quellenbezogen dokumentiert und kommentiert. Als Selektionsfilter und thematischer Rahmen dient das Konzept einer gesellschaftskritischen Medientheorie, durch die die heterogenen Ansätze medienkritischer Positionen in einem gemeinsamen Kontext diskutiert werden können. Diese Systematisierung macht es möglich, von einer Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik zu sprechen, die im akademischen Diskurs bis heute marginalisiert wird. Durch das umfassend quellenbezogene Herausarbeiten dieser Tradition und deren Einordnung in das Feld der Medienkritik sowie der jeweiligen Medienanalysen der einzelnen Fächer, soll eine systematische Auseinandersetzung mit ihr möglich werden. In Medienkritik multidisziplinär. Positionen, Perspektive, Programme weisen Kleiner und Nieland (2007b) auf einen zweiten blinden Fleck im Feld der Medienkritik hin: Was bei den zuvor genannten Überblicksarbeiten sowie im medienkritischen Diskurs generell fehlt, ist ein Reader, der die Auseinandersetzung mit der Medienkritik in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, die Medienforschung betreiben, zusammenhängend dokumentiert und kommentiert. Der Aufgabe, diese Lücke zu schließen, nimmt sich dieser Band an. Die einzelnen Beiträge des Readers geben einen Überblick über den medienkritischen Diskurs, in der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin, 2

Auf diesen Band wird im Kap. 3.2 eingegangen.

MEDIENKRITIK

249

und stellen dieses Thema nicht aus der spezifischen Forschungsperspektive des einzelnen Autors vor. Dadurch wird eine möglichst umfassende Einführung in die fachspezifische Auseinandersetzung mit der Medienkritik erzielt. Neben diesen Bänden gibt es noch einige medienkritische Überblicksbände, die sich auf ein Medium fokussieren, so etwa Hickethier (1994b) zur Fernsehkritik, Weiß (2005) hinsichtlich der Thematisierung des Fernsehens in den Printmedien, Lovink (2003) zur kritischen Internetkultur, Anz und Bausner (2004) sowie Neuhaus (2004) zur Literaturkritik, Döpfner (1991) zur Musikkritik oder Schenk (1998) zur Filmkritik. In diesem Kontext müssen auch zwei Arbeiten erwähnt werden, die sich der journalistischen Medienkritik widmen. Es handelt sich hierbei um die Diskussion der Grenzen und Grenzgänge des Medienjournalismus bei Beuthner/Weichert (2005) und um Schalkowskis (2005) Rezension und Kritik – dieser Band kann als Aktualisierung von Hamm (1968a) verstanden werden. Meine schwerpunktmäßige Fokussierung auf die Darstellung der Medienkritik in Deutschland, resultiert aus dem Problem, dass Mediensysteme, Medienwirklichkeiten und Mediennutzungen nicht weltweit gleich sind, sondern von gesellschaftlichen, kulturellen, medialen, politischen, individuellen usw. Eigensinnigkeiten abhängen. Medienforschung und Medienkritik, die nicht oberflächlich generalisierend vorgehen möchten, müssen sich bei ihren Analysen also jeweils auf diese Besonderheiten einlassen, um nicht von einer den konkreten Mediensituationen enthobenen Position aus zu analysieren. Was bisher im medienkritischen Diskurs fehlt, sind Versuche, die unterschiedlichen nationalen Aspekte der Medienkritik miteinander in einen Dialog zu bringen. Es gibt zwar ansatzweise vergleichende Medienforschung, aber nicht im Feld der Medienkritik. Generell könnte diese Aufgabe nur durch das Zusammenführen von (journalistischen und wissenschaftlichen) Medienkritikern verwirklicht werden, die zum einen in den jeweiligen Ländern leben und andererseits sich mit Medienkritikern aus den anderen Ländern über ihre Mediensysteme und den Stand der Medienkritik intensiv austauschen. Ausgehend von der Kultivierung und Institutionalisierung dieser Dialoge, könnten Netzwerke, Diskursgemeinschaften, Interaktionsplattformen usw. erarbeitet werden, durch die die Bedeutung der Medienkritik einerseits national sowie international gestärkt, ebenso wie dadurch andererseits (idealtypisch) der Rechtfertigungsdruck von Medienunternehmen erhöht werden könnte. Andererseits könnte, ausgehend von diesen Diskursgemeinschaften, über transnational institutionalisierte Kooperationen, Medienkritikordnungen etc. nachgedacht werden, um die Möglichkeiten zu potenzieren, die Medienpraxis von medienkritischen Akteuren aktiv mitgestalten zu lassen (vgl. Blumler 1997: 268f.). Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Globalisierung der Kommunikationsfreiheiten hat sich u.a. Haller (2003b/c; vgl. hierzu auch

250

KAPITEL 3

insgesamt die Beiträge in Haller 2003a) mit der Frage nach Notwendigkeiten und Möglichkeiten transnationaler Medien- bzw. Kommunikationsordnungen beschäftigt.3 Haller (2003c: 96) greift einen aktuellen Aspekt der Entwicklungen der internationalen Medienlandschaft heraus und zwar die »derzeit ablaufenden Transformationsprozesse [...] des Übergangs von einer nationalen Staatsgesellschaft zur transnationalen Mediengesellschaft, die wir als eine sich selbst regulierende Civil Society verstehen möchten [Hervorhebung im Original – MSK].« Die Entwicklung neuer Informationstechnologien, so Haller (ebd.), führe zugleich zu einem Wandel des Kommunikationsverhaltens bzw. zur Modifikation vertrauter, alltäglicher Kommunikationsmodi. Daraus folge für ihn (ebd.), dass die »Rede von einem integralen Freiheitsrecht der Kommunikation«, »›als Ressource einer leistungsfähigen Gesellschaft‹« funktionieren sollte. Und zwar v.a. deshalb, weil nationalstaatliche Kommunikationsgrenzen durch diese Entwicklung permanent entgrenzt bzw. überschritten und damit auch die Bedeutung nationalstaatlicher Regulierungsmöglichkeiten und Zuständigkeiten eingeschränkt würden. Hieraus ergibt sich wiederum die Frage: Wie können diese Prozesse demokratisch und von welchen Instanzen, Organisationen und Institutionen gesteuert werden? Es geht Haller letztlich darum, das (europäische und globale) Zusammenwachsen der Welt als Handlungschance zur Gestaltung einer transnationalen Kommunikationsordnung zu nutzen, durch die Menschen- und Freiheitsrechte ausgebaut, ebenso wie autonome Meinungsund Willensbildungsprozesse ermöglicht, aber auch Sanktionsmittel gegen ihre Verstöße erarbeitet werden, die für alle Vertragspartner bindend wären. Dieser letzte Aspekt ist für Haller im Konsens der westeuropäischen Gesellschaften, dass das rechtstaatliche Grundrecht der »Freiheit (hier als Zugangsfreiheit zum medialen Kommunikationssystem) durch normativ wirksame Regelungen an die Erfordernisse der sich entgrenzenden Zivilgesellschaft heranzuführen« (ebd.: 97), begründet. Daher müsse, so Haller (ebd.), von einer »normativ regulierte[n] Deregulierung« gesprochen werden, um die angesprochenen Transformationsprozesse auch demokratisch gestalten zu können. Hierzu bedürfe es einer »Harmonisierung der für die Medienfreiheit konstitutiven Grundrechte in Europa«. Allerdings bleibe fraglich, ob »Kommunikations-Chancengleichheit« (ebd.) überhaupt transnational und konsensuell installierbar sei.4 Als Lösungsansatz spricht Haller (ebd.: 108f.), ohne diesen Aspekt näher zu bestimmen, von regulierter Selbstregulierung, d.h. der Zusam3

4

Die Überlegungen von Haller werden im Folgenden kurz vorgestellt, weil das Thema der Kommunikationsfreiheiten in Demokratien von großer Bedeutung für das Feld der Medienkritik ist. Und zwar aus den kulturellen und nationalstaatlichen Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaften, aus der die Fokussierung auf die Darstellung der Medienkritik in Deutschland in diesem Kapitel resultiert.

MEDIENKRITIK

251

menführung und Harmonisierung von disparaten (nationalstaatlichen) Kommunikationsordnungen, im Hinblick auf die multimedialen Kommunikationsfreiheiten transnationaler Multimedia-Netzwerke. Zur Aufhebung der Widersprüche zwischen unterschiedlichen Traditionen im Umgang mit der Presse- bzw. Kommunikationsfreiheit, etwa zwischen Gemeinwohlbildung (Deutschland) und Vermarktungsinteresse (England), könnte das »Leitbild ›gelingende gesellschaftliche Kommunikation‹« als Paradigma einer zukünftigen europäischen Medienlandschaft installiert werden. Hinsichtlich der technischen Informationsverbreitung sei diese Lösung schon erprobt, etwa bei den international tätigen Medienkonzernen, die z.B. »mit multinational organisierten Satelliten und Kabelnetzen« arbeiteten und »den ›flow of information‹ über global funktionierende Netze« (ebd.: 109) steuerten. Die Informationszugangsund Umgangsbestimmungen seien hingegen immer noch von nationalstaatlichen Besonderheiten abhängig, die überwunden werden müssten, um eine EU-Charta konsensuell und rechtlich bindend ins Leben zu rufen. Die Aufgabe des folgenden Diskursberichtes ist, im Vergleich zu diesem Thema, bescheidener. Es geht darum, das allgemeine Klima der Medienkritik in Deutschland idealtypisch zu rekonstruieren und andererseits auf bestehende Probleme hinzuweisen. Leitend sind hierbei drei Fragen: (1) Welche gesellschaftliche Bedeutung wird der Medienkritik und dem Medienkritiker allgemein zugeschrieben? (2) Welche Kritikmaßstäbe werden genannt? (3) Welche (diskursiven und institutionellen) Probleme der Medienkritik werden hervorgehoben? Der von Hamm (1968a) herausgegebene Sammelband ist der erste in Deutschland, der das Feld der Medienkritik aus unterschiedlichen Positionen, einerseits prinzipiell sowie andererseits mit Bezug auf unterschiedliche Medien (Kunst, Theater, Musik, Literatur und Film) diskutiert. Ausgespart werden eigenständige Artikel zur Zeitung, zum Radio und Fernsehen. Bei den Autoren handelt es sich v.a. um Journalisten sowie freie Schriftsteller bzw. Autoren. Im Zentrum stehen entsprechend, wesentlich Medienkritiken in Zeitungen. Das ist auch der Grund, warum in diesem Band nicht der Versuch unternommen wird, aus dem Feld der Medienkritik ein eigenständiges (wissenschaftliches) Forschungsfeld zu machen, sondern die Analysen eher als Leitbilder, Standortbestimmungen und Tätigkeitsberichte aus der journalistisch-medienkritischen Praxis zu verstehen.5 Die Vorbemerkungen von Hamm und der abschließende Artikel von Helms (1968) bilden den theoretisch-programmatischen Rahmen dieses Bandes, insofern sie die allgemeine gesellschaftliche Bedeutung von Kritik hervorheben.

5

Vgl. zum Verhältnis von journalistischer Medienkritik, Medienjournalismus und (Medien)Wissenschaft Hickethier (2005c).

252

KAPITEL 3

In seinen Vorbemerkungen spricht Hamm (1968a) einige grundlegende Probleme an, mit denen der medienkritische Diskurs grundsätzlich konfrontiert wird. Zunächst hebt er die Frage nach der Legitimation6 der Kritikmaßstäbe und der Kompetenz bzw. exklusiven Zuständigkeit des Kritikers hervor.7 Weiterhin betont er, dass geklärt werden muss, welche Zielgruppen Kritik anvisiert und tatsächlich erreicht, aber auch, welche spezifischen Ziele bzw. Interessen die Kritiker verfolgen. Diese Ziele muss jeder Kritiker, das müsste aus den Überlegungen von Hamm folgen, jederzeit klar herausstellen sowie die jeweiligen Kritikmaßstäbe verdeutlichen. Nicht zuletzt muss Aufschluss über die soziale Situierung des Kritikers gewonnen werden, ebenso wie über die Frage, für wen er arbeitet. Hiermit weist Hamm auf die Gefahr hin, dass Kritiker sich zuweilen mehr auf Marktlagen, Interessengruppen und die Wünsche ihrer Auftraggeber konzentrieren, als auf eine möglichst sachadäquate Bewertung der Gegenstände ihrer Kritik selbst. Hamm schließt seinen Fragenkatalog mit der Bemerkung ab, dass zudem unklar wäre, für wen Kritik überhaupt nützlich sei und was sie bewirke. Als ständigen Weggefährten der Kritik nennt Hamm (ebd.: 7) das »Misstrauen gegen die Institution der Kritik«, d.h. gegen ein Urteilen, das mit dem Anspruch von Notwendigkeit, Wahrheit, Objektivität und Legitimität auftritt, zumeist aber die6

7

Eine umfassende Diskussion der Bedeutung und Funktion von Medienkritik, in Form eines einführenden Lehrbuchs, haben Scodari und Thorpe (1993) vorgelegt. Grundlegend für sie ist die Diskussion dessen, was sie als legitime Medienkritik bezeichnen: »In the academic environment we are concerned with legitimate forms of media criticism performed for scholarly and/or professional purposes. Simply stated, legitimate media criticism involves the intellectual, subjective analysis and/or evaluation of media artifacts, policies, technologies, and/or institutions by ›disinterested‹ persons who do not stand to personally profit as a consequence of their specific criticism. Although approached subjectively in order to render a judgment or increase understanding, criticism’s claims should be validated through logical, well-supported arguments. Furthermore, as much as criticism may benefit by using ›scientific‹ research data to lend further credibility to the arguments advanced, it is the subjective, interpretive approach and/or the evaluative element that ultimately labels the discourse as criticism.« Es sind v.a. vier Gegenstandsbereiche, auf die sich eine so verstandene Medienkritik bezieht (vgl. ebd.: 2ff.): Erstens, die Medienprodukte selbst und zwar durch Inhaltsanalyse sowie Analyse der Techniken, mit denen die Inhalte kommuniziert werden; zweitens, »controversies about written or unwritten policies and laws that might govern the media or media institutions« (ebd.: 4); drittens, die Auseinandersetzung mit Medientechnologien, allerdings heben Scodari und Thorpe hierbei nur die soziale Bedeutung und Verwendung von Medientechnologien hervor, nicht aber die Analyse der spezifischen Medialitäten der jeweils untersuchten Medientechnologien; viertens, das Handeln von Medieninstitutionen und -unternehmen. Auch für Hickethier (1997: 60f.) stellt die Aufgabe der (Selbst-)Legitimation von Medienkritik eines ihrer Grundthemen bzw. zentralen Herausforderungen dar. Unter Kritik versteht er prinzipiell ein begründetes Urteilen und Bewerten von Gegenständen und Personen. Um Kritik üben zu können, bedarf es einer umfassenden Sachkompetenz und der intensiven Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Kritik.

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sen Anspruch unkritisch voraussetzt und entsprechend selbst nicht mehr begründend rechtfertigt. Die Beantwortung dieser Fragen wird, im Band von Hamm, von den Betroffenen, also den journalistischen Medienkritikern selbst, übernommen.8 Das Anliegen des Bandes von Hamm besteht ferner darin, etablierten und jungen Medienkritikern eine Plattform zur Selbstdarstellung zu geben, um so die Veränderungen im Feld der journalistischen Medienkritik zu veranschaulichen. Dieses Ziel konnte, wie Hamm (ebd.: 9) betont, nur bedingt erreicht werden, weil einige der etablierten Medienkritiker, die er namentlich nennt, nicht mitspielten, d.h. etwa angekündigte Beiträge kommentarlos zurückzogen.9 Somit sind in den einzelnen Beiträgen häufig Kritiken von Medienkritiken und Medienkritikertypen samt ihrer Kritikmaßstäbe zu finden. Dennoch nennt Hamm (ebd.) folgende generationsspezifische Kritikverständnisse: Ältere Kritikergenerationen setzen die Autonomie der Kunst als conditio sine qua non jeder Kritik grundsätzlich voraus und leiten hieraus alle Kritikmaßstäbe sowie ihre Kritikerrolle ab. Die jüngeren Generationen verstehen hingegen alles Kulturelle, Künstlerische, Geistige als gesellschaftlich bedingt, »verweisen [...] auf Marktgesetze und sprechen [...] vom Warencharakter [...] der Kunst und von einer Gesellschaft, die sich ihre Kritiker sicher nicht grundlos etwas kosten lässt. Kosten, ökonomische Bedingtheiten, Ideologiekritik, das scheint das Feld der Jüngeren, wohingegen die Älteren Kunst und Konsum streng auseinander zu halten versuchen [...]« (ebd.: 9f.). Aus der Behauptung der Autonomie der Kunst leiten die Älteren zudem ihre Funktion als Vermittler zwischen Kunst und Leben ebenso her, wie ihr Selbstverständnis als Ordnungsstifter im Bereich der Kulturproduktionen. Als leitend für die Positionen des Bandes nennt Hamm (ebd.: 10) folgendes Ziel: Medienkritik müsse die permanente Erschütterung von Gewissheiten bzw. eines vermeintlichen Kanons der Gebote, durch den anscheinend objektiv zu entscheiden ist, was z.B. gut und schlecht, künstlerisch wertvoll und minderwertig, niveauvoll und niveaulos oder zeitlos und nur zeitgeistig, bewirken. Daraus folgt aber auch, dass Produzenten, Kritiker und Konsumenten flexibel und offen bleiben müssen, d.h. in der Lage sind, sich auf die eigensinnigen Veränderungen im künstlerischen, kulturellen und medialen Feld einzulassen sowie diese entsprechend nicht durch Kategorien beurteilen zu wollen, die diesen äußerlich sind (vgl. Kreimeier 2005: 89). Nicht zuletzt wird Medienkritik 8

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Diese grundlegenden Themen der Medienkritik spielen auch knapp vierzig Jahre später im Band von Hallenberger und Nieland (2005a) eine konstitutive Rolle und können daher als einige der zentralen Grundthemen des medienkritischen Diskurses bezeichnet werden. Eine solche theoriepolitische Akzentsetzung ist zumeist nur im journalistischen Bereich möglich. Im wissenschaftlichen Feld würde so etwas als unsachlich zurückgewiesen bzw. diskursiv, d.h. durch Kritik an Theorien bzw. theoretischen Hinsichten, nicht aber an Personen, entschärft.

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aus dieser Perspektive als Phantasiearbeit beschrieben, die Möglichkeitsräume der Kritik und der Praxis öffnen muss. Helms (1968) thematisiert, ausgehend von diesen Überlegungen, die gesellschaftliche Funktion der Kritik. Grundlegend für ihn ist die These, dass Kritik, die nicht in Korrespondenz mit der gesellschaftlichen Basis bzw. Praxis steht, sondern selbstreferentiell um die jeweiligen Kritikgegenstände, die eigenen Kritikmaßstäbe sowie die der Kollegen kreist, pseudokritisch ist und zur Verfestigung gesellschaftlicher Hegemonie beiträgt. Weiterhin führt die Kenntnis zahlreicher Publikationen, etwa von Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern, zur Sozialisierung von Halbbildung, so lange sie nur dazu genutzt wird, Distinktionskämpfe zwischen diesen auszutragen. Dieses Verhalten kritisiert an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei und hat somit keine wirkliche gesellschaftliche Bedeutung (vgl. ebd.: 134). Ein wesentlicher Grund hierfür ist die arbeitsteilige Organisation des kritischen Feldes, das selbstgenügsame Spezialistentum also, sowie die daraus resultierende »kategoriale Unterscheidung von Kultur- und Gesellschaftskritik« (ebd.: 135). Demgegenüber muss Kulturkritik zugleich Gesellschaftskritik sein, weil jede kulturelle Manifestation (auch) eine gesellschaftliche Bedeutung hat bzw. gesellschaftlich bedingt ist und umgekehrt (vgl. Kreimeier 2005: 93f.).10 Auf den Kontext dieser Studie bezogen wird also von Helms die These bestätigt, dass Gesellschaftsund Medienkritik ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht bilden und dies in jeder Einzelkritik bedacht werden muss.11 Helms plädiert weiterhin dafür, dass das Feld der Kritik, neben jeweils sachkompetenten Einzelanalysen, die immer vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Gegenstände durchgeführt werden müssen, den Dialog zwischen den jeweiligen Kritikfeldern zu intensivieren, um die Interdependenzen im Bereich gesellschaftlicher und medialer Produktion möglichst umfassend herauszuarbeiten. Der Grund für das regelmäßige Aneinandervorbeiproduzieren etwa von Kunst und Kunstkritik, so Helms (1968: 136), ist, dass beide Bereiche anderen Diskurs- bzw. Produktionslogiken folgen: die Kunstkritiker der ideologischen Inhaltsästhetik und die Künstler einem Materialfetischismus. Beide Gruppen müssten lernen,

10 Vgl. zur Kritik an dieser Position Roß (1997: 39). 11 Brock (1968: 122f.) hebt hervor, dass sich Kritik solange selbst entschärft bzw. wirkungslos macht, bis die arbeitsteilige Aufspaltung der Kritik in Spezialgebiete (Theater-, Literatur-, Musik-, Kunstkritik usw.) überwunden und Kritik ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung bewusst wird. Hiermit plädiert Brock nicht für eine einzige, generalisierende Kritikform, sondern vielmehr für eine substanzielle Kooperation der Spezialgebiete der Kritik, durch die allererst gesamtgesellschaftliche Urteile gefällt werden können. Einzelkritiken in den Spezialgebieten können dies, so Brock, nicht leisten, weil sie ihre jeweiligen Gegenstände dadurch in ihrer Bedeutung ungerechtfertigt verabsolutieren würden (vgl. Hickethier 2005b: 82).

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die Sprachen der Kritik bzw. der künstlerischen Produktion in ihren spezifischen Eigensinnigkeiten zu verstehen. Als ein zentrales Kriterium der Kritik nennt Helms, am Beispiel der Literaturkritik, etwa das möglichst vorbehaltlose Sich-Einlassen auf die Kritikgegenstände12 sowie die Erklärung der gesellschaftlichen Bedingungen literarischer Produktion, um der Gefahr der Äußerung von ideologisch vorgeformten Klischees und Privatmeinungen zu entgehen. Aufgabe des Kritikers ist es nicht, allein über das Wesen des Kritikgegenstandes zu sprechen, sondern den Zusammenhang von gesellschaftlicher Basis und ideologischem Überbau, also zwischen der gesellschaftlichen Situation, den politisch-ökonomischen Zuständen, d.h. den Produktionsverhältnissen, Produktionsmitteln, Produktionsprozessen sowie deren Kontrolle darzustellen. Dies kann als allgemeine Kompetenz des Kritikers bezeichnet werden. Eine weitere Kritikerkompetenz, die Helms nennt, ist die Sachkenntnis aus dem Materialbereich des zu kritisierenden Gegenstandes. Dies kann als spezifische Kompetenz des Kritikers aufgefasst werden: »Ein sprachliches Kunstwerk ist in Hinsicht auf die geleistete Arbeit in den Dimensionen der Sprache – Semantik, Grammatik, Phonetik – zu analysieren. Seine Relevanz hängt ferner davon ab, ob das künstlerische Produkt seinen eigenen Produktionskriterien genügt, ob es zur Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse verhelfen kann, ob es den historischen Ort seiner Entstehung reflektiert. Ein sprachliches Kunstwerk [...] ist ein durch Sprache konstruiertes und durch Sprache mitgeteiltes Fragment der Geschichte. Es existiert nicht unabhängig vom Material [...], es existiert nur in dieser einen unverwechselbaren materialen Konkretion« (ebd.: 137). In dem von Fischer (1983a) 1983 herausgegebenen Sammelband zur Medienkritik, geht es um zwei Themen: einerseits um die Äußerungen von Kritik in Massenmedien und andererseits um die Kritik der Medien in und durch die Medien. Als Gegenstandsbereich einer Kritik in Massenmedien werden die Universität, die Politik, die Wirtschaft und die Justiz diskutiert; auf Kunst, Musik, Theater, Fernsehen, Film und Buch 12 Aus diesem Sich-Einlassen auf die Gegenstände entwickelt Kesting (1983: 218), am Beispiel der Literaturkritik, eine grundsätzliche Qualitätsanforderung an die Medienkritik. Literaturkritik darf, so Kesting, nicht hinter den Reflexionsstand und das Niveau ihrer Gegenstände zurückfallen: »Hieraus erwachsen bestimmte Kriterien, nicht im traditionellen Sinne einer Norm, sondern eher einer Normüberschreitung; es schränkt das, was man die ›impressionistische‹ Kritik nennt – worin also ein Kritiker, konfrontiert mit dem Buch, seine subjektiven Eindrücke und Stimmungen verbreitet –, in gewissem Sinne ein, damit aber auch den Grad der subjektiven Willkür gegenüber dem Buch, d.h. diese ist nur gegenüber der schlichteren Produktion angezeigt, über die man sogar seine Späße zu machen, durchaus berechtigt ist. Wie selbstverständlich auf der einen Seite das Subjekt des Kritikers ins Spiel kommt, eine Kritik immer auch die Begegnung eines speziellen Lesers mit einem Autor und einem Buch ist – diese Subjektivität grenzt sich ein durch die Erfordernisse im Buch selbst.« Dieser Ansatz ist wiederum auch ein Beispiel für die Abhängigkeit der Medienkritik von ihren Gegenständen.

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fokussiert sich die Auseinandersetzung mit der Medienkritik. Im Unterschied zum Band von Hamm handelt es sich bei den Autoren ausschließlich um Wissenschaftler. Fischer (1983b) bezieht sich in seinen vororientierenden Positionen einleitend auf eine Überlegung von Bormann (1974: 1ff.). Dieser hebt die bedeutungsgeladene Diffusität des Begriffs der Kritik sowie seinen inflationären Gebrauch hervor und bezeichnet Kritik grundsätzlich als ein Unterscheidungsmedium, das das »je Gemeinte vom schon vorher Geltenden absetzen soll« (ebd.: 3). Weiterhin weist Bormann auf die paradoxe Tatsache hin, dass Kritik selbst kaum zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung wird. Diese Arbeit hat Bormann für den Zeitraum von der Antike bis zur Neuzeit geleistet. Fischer (1983b: 12) ergänzt diese Einschätzung von Bormann um die Forderung nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Kritik in und an den Massenmedien. Und zwar im Spannungsfeld der Frage, ob es sich bei der Kritik in Medien sowie der Medienkritik um objektive Kriterien oder subjektive Wertungen handele.13 Als erste Definitionen, besser Umschreibungen dessen, was Kritik ist, nennt Fischer (ebd.: 14), unter Bezugnahme auf Ansätze von Kant, Lessing und Leopold von Wiese, das Ordnen, Scheiden, (bewusst unterscheidende und wertende) Beurteilung, Erkenntnis des Wesentlichen, gründliches Wissen, ein Gefühl für das Wesentliche, das Berichten, Richten, Erklären, Verurteilen, das Meinungsäußern. Allerdings betont Fischer, dass durch solche sehr allgemeine Umschreibungen noch keine Maßstäbe für Kritik gefunden werden könnten. In diesem Kontext weist Fischer auch auf einen grundlegenden Unterschied zwischen philosophischer und journalistischer Kritik hin. Letztere begnüge sich mit der Beurteilung ihrer Gegenstände und versuche nicht, diese Gegenstände zu verbessern oder ihnen eigene Produktionen gegenüberzustellen.14 Weiterhin thematisiert Fischer (ebd.: 19f.) die Rolle des Kritikers. Selten findet man, so Fischer, eine nüchterne Auseinandersetzung mit ihm, hingegen wird er zumeist auf Rollen wie den Nörgler, Besserwisser, Schulmeister, Richter, Advokaten oder Ankläger festgelegt. Hiermit verweist Fischer auf die in diesen Zuschreibungen zum Ausdruck kommende Behauptung einer grundsätzlichen Kluft zwischen dem Kritiker und dem Gegenstand seiner Kritik. Auch Diskussionen, die z.B. zwischen po13 Becker (1983: 127f.) betont etwa, mit Blick auf die Musikkritik, dass die notwendige Subjektivität des Urteils des Medienkritikers nicht zugleich Beliebigkeit oder Willkür bedeuten muss, sondern diese Subjektivität bildet sich auf der Basis einer analytischen und sachkompetenten Erkenntnis, die zwar nicht allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen kann, wohl aber argumentative Plausibilität. Den Musikkritiker bezeichnet er (ebd.: 130f.) als Zeitzeugen, der Erfahrung, Sachkenntnis, Zivilcourage und den Mut, öffentlich auch nicht konsensuelle Meinungen bzw. Haltungen vertreten zu können, besitzen muss. 14 Vgl. zur allgemeinen Bestimmung von Kritik in diesem Band auch Becker (1983: 111f.).

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sitiver und negativer oder bösartiger und konstruktiver Kritik unterscheiden, führen, wie Fischer betont, ins Leere, weil hierdurch die Aufmerksamkeit von der Auseinandersetzung mit den Kritikgegenständen selbst genommen wird. Ein grundsätzliches Problem, das Fischer (ebd.: 23) in diesem Kontext nennt, ist die mangelnde institutionelle Verankerung von Medienkritik bzw. Institutionen, die Kritiker ausbilden – diesen Befund findet man in allen sechs Überblicksbänden zur Medienkritik (vgl. hierzu auch Kap. 3.3.). Diese Institutionen wären aber von großer Bedeutung, damit Kritiker eine umfassende Kritikkompetenz und ein Selbstverständnis von ihrer sozialen Funktion erlangen könnten. Hiermit hängt auch die Frage danach zusammen, »was bzw. wer einen Kritiker überhaupt zur Kritik legitimiert« bzw. die Kontrolleure kontrolliert (ebd.: 24f.).15 Abgeschlossen werden die Überlegungen von Fischer durch die Einsicht, dass Kritik primär subjektive Meinungsartikulation ist und nicht viel mit Objektivität, Ausgewogenheit und konsensuellen Kritikmaßstäben zu tun hat. Einen Beweis für diese Einschätzung sucht man im Text aber vergebens, wenngleich der subjektive Faktor der Kritik auch im Band von Hamm, dort aber in jedem Beitrag jeweils begründet, als zentraler und notwendiger Aspekt von Kritik hervorgehoben wird. Entsprechend kann der Kritiker auch keine allgemeinen Maßstäbe seiner Kritik benennen, geschweige allgemeinverbindlich legitimieren. Der, von der Bundeszentrale für politische Bildung 1988 herausgegebene Band Medienkritik im Blickpunkt, führt »Macher von Programm, Kritiker und Nutzer von Programm und Kritik« (ebd.: 9) zusammen und 15 Fischer (1983b: 27f.) erwähnt zudem einen Fragenkatalog, der von English (1979) aufgestellt wurde und durch den die Kritik von Kritikern fallorientiert und nicht global beurteilt werden kann. Der Vorschlag von English, für den Kritik immer Beschreibung, Interpretation und Bewertung leisten muss, kann an dieser Stelle nur zitiert, nicht aber eingehend diskutiert werden. Es handelt sich hierbei letztlich um eine Diskursanalyse von Kritiken, die nicht mit von vornherein feststehenden Kategorien arbeitet, sondern eine immanente Kritik der Kritik beabsichtigt, die seine Konstitutionsbedingungen, diskursiven Praktiken, unhinterfragte Voraussetzungen, Kritikmaßstäbe usw. herausarbeiten soll: »1. Bietet der Kritiker Beschreibung, Interpretation und Bewertung in ausreichendem Maße, um den Leser zufrieden zu stellen? 2. Erscheint die Besprechung des Kritikers voll lebhafter Berichterstattung und Beobachtung? 3. Bezieht sich der Kritiker auf seine persönliche Erfahrung und auf seinen Vorrat an Informationen, und stellt er einen Bezug her zwischen früheren und gegenwärtigen Beispielen? 4. Drückt der Kritiker seinen Standpunkt mit Überzeugung, Leidenschaft und auch mit Verständlichkeit aus? 5. Ist der Schreibstil des Kritikers kommunikativ? 6. Gebraucht der Kritiker häufig Bezugspunkte, die außerhalb seines Fachbereichs liegen? 7. Reflektiert das Vokabular des Kritikers seine Maßstäbe, nach denen er Kunst bewertet? 8. Gibt der Kritiker seinen Standpunkt oder seine ideologische Bindung offen und ehrlich zu? 9. Haben Kritiker irgendwelche bekannten oder verdeckten Interessenkonflikte, die das Schreiben über einen bestimmten Gegenstand beeinträchtigen? 10. Wem soll der Kritiker dienen – sich selbst oder seinen Lesern? 11. Scheint der Kritiker seine Arbeit und sich selbst ernst zu nehmen? 12. Können Leser träge und ermüdete Kritik erkennen, indem sie sich ihre Texte ansehen? 13. Wie können Leser lernen, Kritiken für sich zu nutzen?«

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fokussiert sich, neben allgemeinen Bestimmungen zur Medienkritik, auf das Fernsehen, den Hörfunk, die Presse und den Schulfunk bzw. das Schulfernsehen. In der Einleitung zu diesem Band beschreibt Hoffmann (1988: 13) die Rolle des Kritikers als einem zwischen Produzenten und Rezipienten Stehenden. Auf Grund der Vielfalt des Medienmarktes sieht es Hoffmann als notwendig an, dass sich bisherige Medienkritik sowie die Medienkritiker einer grundlegenden Selbstreflexion aussetzen, um nicht an ihren Gegenständen bzw. den Medienwirklichkeiten vorbei, zu kritisieren. Leder (1988), der sich wesentlich auf journalistische Medienkritik bezieht und die Wissenschaft hierbei völlig ausblendet, hebt ein grundlegendes Problem des Medienkritikers hervor: einerseits muss er sich und seine Kritikmaßstäbe permanent legitimieren sowie einer Selbstkritik unterziehen, andererseits aber zugleich den Sinn von Kritik voraussetzen (vgl. Roß 1997: 38).16 Selbstkritik und Selbstreflexion werden für Leder (1988: 18) durch drei Aspekte bestimmt: durch eine Auseinandersetzung mit den Inhalten und Methoden der Kritik sowie mit der gesellschaftlichen Bedeutung des Kritikers.17 Ausgehend hiervon benennt er die drei grundlegenden Aufgaben der Medienkritik, d.h. Beschreibung, historische Einordnung und Bewertung (vgl. Streier 1988: 83). Grundlegend für eine so verstandene Medienkritik ist für Leder die Form immanenter Kritik, die Medienproduktionen an den von ihnen geleisteten gesellschaftlichen Arbeit und ihren eigenen Ansprüchen an Professionalität misst – der erste Aspekt wird von Leder nicht eingehender erläutert. Medienkritik, als in dieser Form sich vollziehende Produktkritik (vgl. Streier 1988: 82), ist für ihn nicht auf bestimmte Formate festgelegt, sondern muss sich allen Programmen öffnen und zudem die Bedingungen thematisieren, unter denen Medienprodukte entstehen (vgl. Wagner 1988: 179). Dabei kann, wie Leder betont, Kritik niemals umfassend sein, sondern sich nur auf einige signifikante Aspekte ihrer Gegenstände beziehen. Dementsprechend müsste Medienkritik ihre Begrenztheit stets mitbedenken und nicht mit einem falsch verstandenen Totalitätsanspruch auftreten.

16 Aus Waldmanns (1988; vgl. Kübler 1988: 41) Bericht über das Scheitern der fernsehkritischen Sendungen im Fernsehen kann die Frage abgeleitet werden, ob die Forderung nach Selbstkritik und Selbstreflexion der Medien in den Medien mehr als ein diskursives Postulat sein kann oder Medien, hier das Fernsehen, zumindest hinsichtlich der Anforderungen, die bisherige medienkritische Positionen hieran stellen, kritikresistent sind und sich Selbstkritik hier auf anderen Ebenen findet, die diese Ansätze nicht wahrnehmen (vgl. hierzu Kap. 3.4.). Allerdings sollte diese Einschätzung nicht dazu führen, dass über Möglichkeiten der Selbstkritik der Medien in den Medien und durch die Medien nicht mehr nachgedacht wird. Vielmehr müssten mediengerechte Formen zur Selbstkritik konzipiert werden (vgl. hierzu Kap. 2.2.1., Kap. 2.4., Kap. 4.1. und Kap. 4.2.). Fraglich bleibt, ob diese Formate auf das Interesse der Produzenten und Konsumenten treffen würden. 17 Vgl. zu den Schwierigkeiten medialer Selbstkritik u.a. auch Jarren (1988: 91ff.).

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Medienkritik hat prinzipiell, so Leder (1988: 22), drei Ausrichtungen: einerseits versteht sie sich als »bewusst machende Kritik«, die ihre Leser über den kritisierten Gegenstand aufklären will; zweitens nennt Leder die »rettende Kritik«, die sich als Arbeit am Gegenstand versteht, durch die sie dazu beitragen will, diesen weiterzuentwickeln; und drittens die »radikale Kritik«, die den Gegenstand vor dem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem er entstanden ist und existiert, betrachtet: »Allen drei Absichten liegen bestimmte Normvorstellungen zugrunde. Der ersten die Vorstellung einer ästhetischen Qualitätshierarchie, der zweiten die Idealität des künstlerischen, intellektuellen Produzierens, der dritten die Utopie einer anderen gesellschaftlichen Kommunikation.« Bewusstmachende Kritik, durch die der Konsument bei seiner Meinungsbildung unterstützt werden soll, bezeichnet auch Hiegemann (1988: 31f.) als eine der zentralen Aufgaben von Medienkritik (vgl. Schmid 1983: 181; Heinzelmann 1988b: 146). Entsprechend betont Schütte (1968: 71) hinsichtlich der Film-Kritik: »Ziel [...] [der] Filmkritik ist es, den Leser selbst zum potentiellen Kritikers des Films (und des Filmkritikers) zu machen.« Als Kritikmaßstäbe, die Kritiker und Konsumenten bzw. Leser besitzen müssen, nennt Schütte (ebd.) entsprechend: »Rationale Phantasie, utopisches Überschreiten dessen, was der Fall ist, kraft der autonomen, selbstbewussten und selbstgewissen eigenen Vernunft [...].« Imdahl (1983: 104, 108) betont in diesem Kontext mit Blick auf die Kunstkritik, dass Medienkritik nicht nur zur Meinungsbildung beitragen, sondern auch festgefahrene Meinungen erschüttern und in Bewegung bringen sollte, um Erfahrungs- und Erlebnishorizonte zu öffnen, die das Selbstverständnis des Rezipienten beleben (vgl. Kaiser 1968: 18f.; vgl. Karasek 1968: 51). Somit wäre es der Kritik möglich, neue, originelle Einsichten zu vermitteln. Entsprechend könnte man, ausgehend von der These Imdahls, auch fordern, dass diese Maßstäbe ebenso für Kritiker gelten müssten, damit sie nicht nur fertige Meinungen, in diesem Fall etwa die der Kunstgeschichte, wiedergeben und ihre Gegenstände nach Qualitätsmaßstäben beurteilen, die diesen (teilweise) äußerlich sind, ohne sich auf ihre Eigensinnigkeiten einzulassen. Diesen Aspekt betont auch Walser (1968: 13), denn für ihn besteht produktive Kritik darin, dass der Kritiker sein Interesse am Allgemeinen reduziert und mit seiner eigenen Empfindsamkeit über die Gegenstände seiner Kritik urteilt bzw. mit seiner eigenen Person auf diese Gegenstände antwortet.18 Dadurch könnte Kritik authentische und exemplarische Erlebnisweisen vermitteln. Weiterhin hebt Imdahl (1968: 103f.) die Macht der Kritiker hervor, die eine Produktion öffentlicher Urteilsbildung leisten, insofern ihre Meinung als öffentliche Vormeinung bzw. repräsentatives Urteil über die Gegenstän18 Leder (2005: 374) betont, dass der Medienkritiker sich selbst als Mediennutzer begreifen und die Formen seiner individuellen Nutzung als eine Art Erfahrungsklima mit in seine Kritiken einfließen lassen muss.

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de ihrer Kritik erscheint. Hickethier (2005b: 62) beschreibt mit seiner Rede vom Herbst der Medienkritik das zu Ende kommen des Vertrauens in die Auffassung der aufklärenden, bewusst machenden bzw. emanzipatorischen Wirkung der Medienkritik.19 Am Beispiel der Fernsehkritik hebt Leder (1988: 21) ein weiteres Problem der Medienkritik hervor – er geht an dieser Stelle auf die Berichterstattung über die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl ein. Medienkritik muss stets die spezifische Medialität der Medien bedenken, über die man schreibt, ebenso wie die medialen Bedingtheiten der Kritik selbst (vgl. u.a. Schütte 1968: 68; vgl. Kammann 1997: 90).20 Insofern finden im Fernsehen weniger ideologische Kämpfe statt, sondern Bilderkriege. Eine rein inhaltsbezogene Fernsehkritik erweist sich aus dieser Perspektive als nicht medienkompetent und schreibt an den Medien vorbei.21 Andererseits muss sich, denkt man diese Überlegung von Leder weiter, Medienkritik aktiv der Medien bedienen, die sie kritisiert, ohne sich weitestgehend nur auf ein Hauptmedium der Kritikdarstellung, den Text, zu fokussieren. Für Walser (1968: 11) zeichnet sich Kritik gerade durch den intimen Umgang des Kritikers mit dem Medium Sprache aus. Medienkritik, er bezieht sich hierbei auf das literarische Feld, ist für ihn Arbeit an der Sprache und mit der Sprache. Produktiv ist Kritik dann, wenn sich in ihr die »Intimität der Sprache zur Erfahrung dessen, der da schreibt« artikuliert. Entsprechend betont Kübler (1988: 41), als Kritik an der Textfixiertheit der Kritik: »Externe Medienkritik gleicht in der Regel immer noch einer medialen Einbahnstraße: Das ältere, das gedruckte und schriftliche Medium wird gemeinhin genutzt, um die Jüngeren, die Audiovisuellen zu kritisieren und zu analysieren. Umkehrungen sind äußerst selten, zumindest nicht regelmäßig. Medienkritik hat Medienvielfalt noch kaum entdeckt. Insgeheim huldigt sie – wie alle intellektuelle Beschäftigung – dem Vorbehalt der Schriftlichkeit. [...] Daher wäre zu ergründen und zu problematisieren, welchen medialen Konventionen [...] Medienkritik unterliegt oder unbewusst frönt und welche Alternativen sich den19 Vgl. das Plädoyer für die Aufklärungsfunktion der Medienkritik bei Kammann (2005: 384f.). 20 Vgl. zum Zusammenhang von Medienentwicklung und Ausdifferenzierung der Medienkritik Hickethier (2005a: 141) und Engels (2005: 404). 21 Hiegemann (1988: 35) würde diese Einschätzung von Leder mit ihrer These vom gleichgültigen medialen Realitätseintopf stützen: »Die Massenmedien lassen von sich aus rein gar nichts durchschaubar werden. Sie erst haben eine Kapazität entwickelt, die über die einer rationalistischen Enzyklopädie, eines Kunstwerks und einer Lebensphilosophie weit hinausgeht: Sie steuern mit unermesslicher Fassungskraft auf die Totalsynthese hin – in Gestalt einer Totaladdition [...]. Sie können von allem berichten, alles speichern und alles nebeneinander stellen. [...] Die Medien servieren dem Publikum täglich einen ›Realitätseintopf‹ mit vielen Zutaten, der jedoch heute so ist wie gestern und vorgestern. Die Beiträge sind gekennzeichnet durch Gleichförmigkeit und eine subjektive Gleichgültigkeit. Der Zuschauer erhält keine Anhaltspunkte für Beziehungen zwischen den einzelnen Aspekten und ist auf Grund seiner eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit auch nicht selbst in der Lage, diese zu erkennen.«

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ken lassen bzw. schon erprobt worden sind.«22 Medienkritische Diskurse haben bis heute kaum systematisch über ihre eigene Medialität und Möglichkeiten multimedialer Inszenierungen nachgedacht (vgl. Kreimeier 2005: 96). Der von Weßler, Matzen, Jarren und Hasebrink 1997 herausgegebene Band Perspektiven der Medienkritik differenziert die Auseinandersetzung mit der Medienkritik, v.a. im Hinblick auf ihre Institutionalisierung, weiter aus. Autoren sind hier Wissenschaftler und Journalisten. Weßler (1997: 15f.) sieht die erste Aufgabe der Medienkritik darin, die Alltäglichkeit der Mediennutzung, in der Medien zumeist als selbstverständlich wahrgenommen werden und unhinterfragt bleiben, zu problematisieren, um aus der Distanz, den Blick auf ihre Eigengesetzlichkeiten und Wirklichkeiten zu lenken. Zudem betont Weßler (ebd.: 16), dass Urteile über Medienangebote größtenteils in den jeweiligen Nutzungsweisen von Medien gründen, weniger in einer Analyse von deren Eigensinnigkeiten (vgl. Leder 2005: 370f.). Die Nutzungsweisen sind für Weßler (ebd.: 16) zugleich individuelle Formen der Medienkritik: »Diese Nutzungsweise schreibt dem Medienangebot unsere eigenen Wahrnehmungen als Eigenschaften zu. In unserem Ärger und unserer Begeisterung für dieses Angebot artikuliert sich also letztlich die Art und Weise, wie wir das Angebot nutzen. Unsere alltägliche Medienkritik spiegelt die Gebrauchsweisen wider, mit denen wir dem Medienangebot begegnen.« Medienkritik, ebenso wie die Mediennutzung, sollten primär von sozialer Neugier geleitet werden, d.h. von dem Interesse, was man alles mit den Medien ma22 Heinzelmann (1988: 147f.) entwirft, im Sinne von Leder und Kübler, eine idealtypische Fernsehkritik, die eindimensionalen Betrachtungen des Fernsehens zu entgehen versucht (vgl. Knoll 1983: 152; vgl. Bleicher 1997; vgl. Hoff 1997), aber im Umfang noch ergänzt werden müsste. Ein einzelner Kritiker ist mit diesem Anforderungskatalog überfordert. Es wären diesbezüglich medienkritische Netzwerke notwendig, die, durch das Einbringen ihrer spezifischen Kompetenzen sowie deren Verbindungen, eine neue Medienkritik konzipieren könnten, die aber zudem entsprechende Orte der Publikation bräuchten (vgl. Hickethier 1997: 65): »A. Formale Analyse[:] 1. Kamera (Bewegung; Objektivwechsel; Einstellungsgröße; Bildausschnitt), 2. Schnitt (Organisation des Bildmaterials; elektronische Mischung), 3. Ton (Musikauswahl; O-Ton; Tonmischung; Kommentar, Dialog: Ton – Bild – Korrespondenz), 4. die psycho-emotionelle Beeinflussung des Rezipienten durch die angewandten formalen Mittel. B. Historische Analyse[:] 1. Einordnung der Sendung in die Programmgeschichte des Mediums, 2. Diskussion der Gattung (Fernsehform), der die Sendung zugeordnet wird. C. Soziopolitische Analyse[:] 1. Stellung der Sendung im Gesamtprogramm; evtl. Diskussion des programm- und personalpolitischen Umfelds; 2. Funktion der Sendung im tagespolitischen Umfeld (Klima; Parteienstreit; Wahlkampf; Wertediskussion), 3. Verfestigung oder Aufweichung sozialer Normen und Einfluss der Sendung auf soziale Konflikte (Stellungnahme; Klischee-Einsatz; Vermittlung von Leit- und Wertbildern; Reaktion auf gesellschaftlich aktuelle virulente Themen), 4. Ökonomische Funktion (Reklame-Affinität; Product Placement; Sponsorship). D. Analyse der Inszenierung (Regie und Dramaturgie im fiktionalen Bereich; journalistische Form bei der Non-Fiktion). E. Basis-Analyse (Produktionsbedingungen, Prominenten-Fixierung; Frage nach der Zielgruppe der Sendung.«

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chen kann. Dieser Ansatz könnte helfen, die (interessenpolitische) Beschränktheit des (wissenschaftlichen und journalistischen) Blicks auf die Medien zu überwinden. Eine gegenstandsorientierte Auseinandersetzung mit den vielfältigen sozialen Gebrauchsweisen und kreativen Nutzungsmöglichkeiten, ohne hierbei die Kritik an Medienwirklichkeiten zu vernachlässigen, erscheint für Weßler produktiver als die bisherigen Distinktionskämpfe im Feld der Medienanalysen bzw. Medienkritik, weil es in diesen vorwiegend um die Wahrheit der eigenen Position und weniger um das Verstehen der Medien in ihren Eigengesetzlichkeiten geht.23 Zwei Grundformen dieser Mediendiskurse sind für Weßler (ebd.: 17ff.) die fortschrittsoptimistische und die kulturpessimistische sowie die erzieherische und die liberalistische Richtung (vgl. Roß 1997: 30ff.). Beide Richtungen verlaufen relativ beziehungslos nebeneinander, ohne dass es substantielle Versuche gegeben hätte, zwischen beiden zu vermitteln. Zudem sind mit beiden Richtungen spezifische Aussagen über die Wirkungen von Medien verbunden: entweder wird eine Stimulus-Response-Perspektive propagiert, indem von einem zwangsläufigen Zusammenhang von medialen Ursachen und sozio-kulturellen Folgen ausgegangen wird oder es wird die Eigensinnigkeit der Mediennutzer betont. Für fortschrittsoptimistische und liberalistische Modelle sind zum einen »die Glücksversprechen, die sich an neue Medientechnologien knüpfen, [...] die Hoffnung auf echte Interaktivität in der Kommunikation« von Bedeutung. Andererseits orientieren sie sich am Publikumsgeschmack und führen dessen Wahlfreiheit gegen normative Standards, die die Medienkritik an Medienangebote stellt, ins Feld. Das Publikum ist aus dieser Perspektive die entscheidende medienkritische Instanz. Die entgegengesetzten Modelle konstatieren v.a. Verfallsdiagnosen, wie z.B. die Manipulation der Nutzer durch die Medien, den Verlust von Primärerfahrungen sowie echter interpersonaler Kommunikation. Andererseits geht es in dieser Perspektive um die Rettung hochkultureller Werte, die durch populäre Medienproduktionen bzw. Medienwirklichkeiten bedroht werden. Die Aufgabe der Medienkritik besteht für Weßler (ebd.: 19) darin, eine permanente öffentliche Reflexion über die Medien in Gang zu setzen, an der alle Nutzer und nicht nur Experten sowie Medienproduzenten

23 Entsprechend weist Roß (1997: 29) darauf hin, dass Medien für Mediendiskurse tendenziell mehr bedeuten, als sie eigentlich sind, denn nicht die sorgfältige Auseinandersetzung mit den spezifischen Medienwirklichkeiten steht hierbei im Zentrum, sondern mit unterschiedlichen »politisch-soziale[n] Konzepte[n] und gegensätzliche[n] kulturelle[n] Wertsysteme[n]« (ebd.: 33). Medien sind daher zumeist nur Projektionsflächen für (außer-mediale) Diskurse. Für Roß (ebd.: 35) sind es v.a. drei Gegenstandsbereiche, die Medien(Kritik)Diskurse bestimmen: Politik, Kultur und Wirtschaft. Roß (ebd.: 38f.) hebt weiterhin hervor, dass die Medienkritik die Wirkung und Bedeutung von Medien prinzipiell überschätzt und sie diese ernster nimmt, als diese sich selbst bzw. ihre Macher.

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teilnehmen sollten, wodurch Medienkritik eine realistische (Mit)Steuerungsmöglichkeit des Mediensystems bekommen könnte: »Denn am gesellschaftlichen Gewicht solcher Phantasien erweist sich immer auch, wie die Wissensressourcen in einer Gesellschaft verteilt sind: Wer besitzt die Möglichkeit, Analysen, Prognosen oder auch nur Thesen über die Medienentwicklung zu generieren und in Umlauf zu bringen? Wer hat die Reflexionskompetenz, solches Wissen zu hinterfragen und einzuschätzen? Und wer stellt solche Kompetenz für die Öffentlichkeit bereit?«24

Um Medienkritik als Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften umfassend zu legitimieren und institutionalisieren, müssten, wie Weßler (1997: 22ff.) betont, sechs Kriterien erfüllt werden: »[...] Medienkritik sollte offen sein für alle Medien, alle Gattungen und alle kulturellen ›Niveaus‹ (vgl. Leder 2005: 376, These 22). [...] Medienkritik sollte die spezifischen Eigenschaften der unterschiedlichen Medien ernst nehmen. [...] Medienkritik sollte größeres Augenmerk auf den Mediennutzungsmix der Rezipientinnen und Rezipienten legen. [...] Medienkritik sollte die Stimme des Publikums stärken.25 [...] Medienkritik sollte die alltägliche, die professionelle und die wissenschaftliche Sichtweise auf die Medien stärker miteinander verschränken. [...] Medienkritik sollte medienkritische Interventionen durch abgestimmtes Timing zwischen verschiedenen Akteuren koordinieren [Hervorhebung im Original – MSK].« Damit (wissenschaftliche und journalistische) Medienkritik diese Aufgaben erfüllen kann, muss eine intensive Kooperation mit der Medienpolitik angestrebt werden (vgl. hierzu Kap. 3.3.; vgl. Streier 1988: 82). Der von Hallenberger und Nieland 2005 herausgegebene Band Neue Kritik der Medienkritik fasst im Untertitel pointiert vier der grundlegenden Ebenen der Medienkritik in Deutschland zusammen, wobei allerdings die Praxisebene und Institutionalisierung fehlen, wenngleich diese Aspekte im Band eine zentrale Rolle spielen: Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion und Kulturkritik. Diskutiert werden diese Ebenen von Wissenschaftlern, Journalisten und Medienschaffenden. Hallen24 Blumler (1997: 266ff.) hebt fünf Bedingungen hervor, durch deren Verwirklichung der Einfluss von der Medienkritik auf die Medienpraxis steigen könnte: »1. Eine stärkere Responsivität gegenüber der Gesellschaft ist zu erwarten, wenn Medienorganisationen formal auf ihre öffentliche Aufgabe verwiesen werden. [...] 2. Der Prozess der Kritik ist am effektivsten bei Wendepunkten der Medienentwicklung, wenn große gesellschaftliche Entscheidungen gefällt werden müssen und sich viele Stimmen an der öffentlichen Diskussion beteiligen. [...] 3. Strategisch geplante Formen der Medienkritik haben aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Erfolg als vereinzelte und punktuelle Aktionen. [...] 4. Der Prozess der Medienkritik wird gestärkt, wenn sich auch in der breiten Gesellschaft ein Bewusstsein über die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Medien durchsetzt. [...] 5. Für eine Effektivität von Medienkritik muss diese unabhängig institutionalisiert werden [Hervorhebung im Original – MSK].« 25 Knoll (1983: 168) fordert entsprechend den Ausbau der Mitsprachmöglichkeiten des Publikums, bei der Programmgestaltung und -bewertung.

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berger und Nieland (2005b: 7f.) beginnen ihre einleitenden Überlegungen mit dem Hinweis auf den konstitutiven Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Medienkritik.26 Setzt man voraus, dass gegenwärtige (westliche) Gesellschaftsformationen Mediengesellschaften sind, dann wird, wie die Autoren betonen, Medienkritik zum zentralen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurs.27 Andererseits heben sie hervor, dass Medienkritik durch die Ausdifferenzierung des Medienmarktes an Profil verliert und die durchaus diffusen Anforderungen an sie nicht mehr erfüllen kann. Diese Situation zu überwinden sowie einen Beitrag zur Verbesserung der Verbindung von Medientheorie und Praxis zu leisten, haben sich die Autoren dieses Bandes zur Aufgabe gemacht. Voraussetzung, um diese Aufgabe zu erfüllen ist, so Hallenberger und Nieland, einerseits eine Grundsatzdiskussion über Gegenstände, Kriterien und Ziele der Medienkritik, andererseits eine intensive Auseinandersetzung mit den Institutionen der Medienkritik in Deutschland zu führen. Weiterhin muss, wie die Autoren betonen, die Kluft zwischen der Ausdifferenzierung sowie dem Ausbau der Berichterstattung über die Medien, die v.a. das Resultat permanenter Veränderungen des Medienmarktes sind und dem gleichzeitigen Profilverlust sowie der strukturellen Entschärfung medienkritischer Diskurse, überwunden werden (vgl. Hickethier 2005b: 61ff.), damit Medienkritik nicht noch weiter in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit abgedrängt wird (vgl. Kammann 2005: 378, 383). Nicht zuletzt müssen tradierte Orte der Medienkritik (z.B. Medienseiten und -redaktionen) gefestigt sowie ausgebaut und andererseits neue medienkritische Räume geschaffen werden. Als eines der Hauptprobleme für die umfassende gesellschaftliche Verankerung von Medienkritik, nennen Hallenberger und Nieland (ebd.: 13f.) den economic turn bzw. die Fokussierung der Medienkritik hin auf die Kritik des ökonomischen Feldes und die Zurückdrängung der Auseinandersetzung mit den Medien als ein Kulturwert, d.h. Möglichkeiten für Nutzer, Orientierung, Sinn, Wissen, Unterhaltung usw. herzustellen. Me26 Medienkritik definieren Hallenberger und Nieland (2005c: 402) allgemein als »wertende[n] Umgang mit Medien und ihren Angeboten«. Kammann (2005: 384) spricht von der Medienkritik als einer »wertenden Unterscheidung, [...] einordnenden Zuweisung, [...] deutenden Vergewisserung«, die das Bewusstsein der Nutzer und Produzenten für Medienwirklichkeiten ausdifferenzieren soll. Um dieses Ziel zu verwirklichen braucht, so Kammann, Medienkritik öffentliche Foren und nicht nur Expertenöffentlichkeiten. 27 Kammann (2005: 387) betont die konstitutive Verbindung von medienkritischen und zivilgesellschaftlichen Diskursen: »Gelingt dies [das Medienkritik als Fernsehkritik Bilder entwirft, indem sie Bilder betrachtet, untersucht und beurteilt – MSK], dann gehört das zu den notwendigen Schritten hin zu einer Bürgergesellschaft, zu einer zivilen und zivilisieren Lebensart, die sich nicht am ökonomischen Egoismus und Rigorismus orientiert, sondern die sich von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt – ohne dem individuellen Genuss und der unmittelbaren Sinnlichkeit abzuschwören. Medienkritik ist, so gesehen, nichts anderes als Arbeit für eine Bürgergesellschaft, die auf selbstbestimmte, selbstbestimmende Menschen baut« (vgl. Engels/Hickethier/Weiß 2005: 525).

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dien sind daher mehr als reine Wirtschaftsgüter: »Nachdem mit der Dualisierung ab 1984 auch in der Bundesrepublik Deutschland das öffentlich-rechtliche Monopol aufbrach, bewegen sich heute alle Anbieter weitgehend in Marktkontexten. Öffentlich-rechtliche wie private Sender sind essenziell [...] auf (hohe) Zuschauerzahlen angewiesen, ihr Angebot besteht überwiegend aus Kauf- und Auftragsproduktionen, und auch auf dem Werbemarkt herrscht große Konkurrenz. Als Folge tummeln sich im Medienbereich nicht immer mehr und immer neue Unternehmen, sondern auch neue Verbände, Wirtschaftspolitik und Standortpolitik sind auf dem Vormarsch – die Deregulierung ist dabei nur der Ausgangspunkt für diese Entwicklung gewesen« (vgl. Hallenberger/Nieland 2005c: 393). Der economic turn macht aus der Medienkritik wesentlich einen Nutzerservice, Sales Promotion, einen Branchendienst oder ein Sprachrohr der Pressestellen von Medienunternehmen (vgl. Kreimeier 2005: 88; Leder 2005: 368, 375). Hingegen wird das eigentliche Feld der Medienkritik, d.h. v.a. die Inhalts-, Produkt-, Technik-, Kultur- und Gesellschaftskritik zurückgedrängt. Zudem vernachlässigt diese Fokussierung die Diskussion der Medien, der Medienunternehmen und Medienmärkte in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung, wenn fast ausschließlich über Besitzverhältnisse, Gewinnsteigerung, Kapitalflüsse und Bilanzen sowie das Führungspersonal von Medienunternehmen gesprochen wird.28 Diese Ökonomieorientierung der Medienkritik kann mitunter aber auch als wirkungsvolle bzw. produktive Form der Medienkritik verstanden werden, wie Hickethier (2005b: 63f.) betont – er bezieht sich hierbei ausschließlich auf journalistische Berichterstattung. Aus dieser Perspektive vermittelt Medienkritik dem Publikum Informationen über die Markt- und Anbieterstrukturen von Medienunternehmen sowie über deren Unternehmensstrukturen. Weiterhin können in diesem Feld nichtöffentliche Informationen der Branche publiziert werden, die direkte personelle und ökonomische Folgen haben, wie dies etwa durch die Veröffentlichung der »Bemerkung des Deutschen-Bank-Chefs Breuer über die mangelnde Kreditwürdigkeit Leo Kirchs, die den letzten Anstoß zu den Insolvenzen der Kirchgruppe gab« der Fall war. Als weitere Veränderungen im Feld der Medienkritik nennt Hickethier (ebd.: 68ff.), mit Blick auf die Fernsehkritik: die Reduktion der politisch begründeten Kritik des Fernsehens sowie den Verlust von Mediennutzungsutopien; dass es im Feld der Fernsehkritik kaum noch den Glauben an objektive Kriterien für grundsätzliche Aussagen über Fernsehwirkungen gibt, sondern die Vielfalt von Nutzungsformen betont wird; Fernsehkritik sich verstärkt auf die Verkündung von Medientrends, also auf Sales Promotion, konzentriert; 28 Als aktuellste Themenfelder der Medienkritik nennen Hallenberger und Nieland (2005c: 393ff.) das Crititainment und den Medienverbraucherschutz (vgl. Kap. 3.3.). Mit diesen beiden Aspekten hängt die »Berücksichtigung der Nutzerperspektive bei der Bewertung von Medienangeboten« (ebd.: 403) aufs Engste zusammen.

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KAPITEL 3

Komplexitätsreduktion betrieben wird, indem aus der Analyse von symptomatischen Details auf das Gesamtsystem Fernsehen geschlossen wird; andererseits eine Fokussierung auf die Berichterstattung über Medienpersönlichkeiten stattfindet, die als stellvertretend für das Medium Fernsehen angesehen werden; schließlich, dass Medienberichterstattung Aufmerksamkeitsgewinne für das eigene Medium, also die jeweilige Zeitung organisiert. Als Fazit hält Hickethier (2005b: 83) fest: »Damit droht auch die Medienkritik ihre Funktion zu verlieren, eine Instanz der Reflexion und Kontrolle der gesellschaftlichen Kommunikation zu sein. Das Laub der Kritik ist zwar bunter und vielfältiger geworden, aber dies kann die Farbigkeit kurz vor dem eigenen Tod sein.« Als lebendiger schätzt Schmidt (2005) die gesellschaftliche Rolle der Medienkritik, aus einer konstruktivistischen Perspektive ein. Ausgangspunkt ist folgende Definition, die die konstitutive Interdependenz zwischen Medien und Medienkritik betont: »Wie immer man Medienkritik modelliert: sie vollzieht sich als Medienbeobachtung, Medienbeschreibung und Medienbewertung von Medien in/mit Medien. Und was immer man an Medien beobachtet, beschreibt und bewertet, ist Medieninduziert. Mit anderen Worten: Bei der Medienkritik gibt es kein Jenseits der Medien. Und die verschiedenen Medien bilden ihrerseits wieder einen systemischen Zusammenhang, der alle sie betreffenden Sachverhalte wie Beschreibungen zu strikt intermedialen Phänomenen werden lässt« (ebd.: 22). Grundsätzlich thematisiert Medienkritik, so Schmidt weiter, das Verhältnis von Medien und Wirklichkeit29, d.h. den Beitrag der Medien zur Wirklichkeitskonstruktion der Mediennutzer.30 Leitend ist in diesem Kontext die Anerkennung der Pluralität von Wirklichkeiten, die als gleichberechtigt, nicht aber als gleichwertig, aufzufassen sind. Die Aufgabe der Medienproduzenten besteht, gerade auf Grund ihres privilegierten Zugangs zur Öffentlichkeit, u.a. darin, ihre Wirklichkeitskonstruktionen zu rechtfertigen und sozial verträglich zu machen. Schmidt (ebd.: 23) weist den Anspruch auf eine Kritik bzw. Beschreibung der Medien in den Kategorien von Wahrheit und Objektivität 29 Leder (2005: 373) betont, dass es Aufgabe der Medienkritik sei, die medialen Vermittlungen von Wirklichkeit herauszuarbeiten, weil Medienwirklichkeiten zumeist nicht auf persönlichen Wahrnehmungen beruhen und auch nicht durch die eigene Erfahrung überprüft werden können. Kreimeier (2005: 92) beschreibt die (Medien-)Wirklichkeitsarbeit der Medienkritik als Herausforderung, »auf der Höhe der Entwicklung den Unübersichtlichkeiten der aktuellen Situation, dem globalisierten Medienuniversum und seinen vielfältigen Erscheinungsformen, seiner Ökonomie und seinen sozio-kulturellen Aspekten gerecht zu werden«. 30 Vgl. die Rollen-Typologie von Weischenberg (2004a/b) zu den unterschiedlichen Akteuren im Mediengeschehen, durch die Medienwirklichkeiten konstruiert und bestimmt werden: der Kritiker, der Theoretiker, der Forscher, der Zyniker, der Programm-Macher, der Lobbyist, der Politiker, der Rezipient, der Jurist, der Rundfunkrat und der Intendant. Den Kontext der Überlegungen von Weischenberg bildete eine Podiumsdiskussion zum Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in der Akademie der Künste in Berlin.

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konstitutiv zurück: »Sie [die Medienkritik – MSK] kann theoretisch modelliert werden als reflexive Thematisierung von Routineprozessen aller am ›Medienprozess‹ Beteiligten, wobei diese Thematisierung ein neues Beobachtungsmanagement der jeweils eigenen wie der jeweils beobachteten Prozesse erlaubt, indem die Ergebnisse der Fremdbeobachtung in die eigene Selbstbeobachtung eingetragen und verarbeitet werden können und umgekehrt. Mit dieser Modellierung soll von vornherein das traditionelle Guckkasten-Modell von Beobachtung ad acta gelegt und verdeutlicht werden, dass Beobachten stets eine Form von riskanter Einmischung darstellt, die ihre eigenen Voraussetzungen nur partiell bewusst mitführt bzw. post festum ermitteln kann. Kein Kritiker, heißt das, ist ›unschuldig‹ oder ›objektiv‹ – genauso wenig wie die Akteure in den Medien.« Eine weitere zentrale Aufgabe der Medienkritik besteht, so Schmidt (ebd.: 32ff.), darin, Fremdbeobachtungen von Mediensystemen zu leisten, weil diese sich selbst nicht in ihrer Totalität beschreiben können. Mit diesen Fremdbeobachtungen müssen die Mediensysteme öffentlich konfrontiert werden, um sie dadurch zu einer öffentlichen Selbstbeobachtung zu zwingen. Die Durchsicht der Medienkritik-Reader verdeutlicht zum einen, dass medienkritische Studien auf diskursiver Ebene anscheinend nicht mehr sein können als Werkzeugkisten, die Gebrauchsgegenstände für Interessenten aller Art anbieten. In Anlehnung an eine Überlegung von Negt und Kluge (1972: 143), kann die Aufgabe von Medienkritik als Diskurs, als Versuch bezeichnet werden, Ideen gegen Ideen zu stellen, die gleichberechtigt, aber nicht gleichwertig sind. Hierbei ist nicht von vornherein zu entscheiden, welche Ideen sich durchsetzen werden. Mit dem Pathos von Wahrheit, selbstverständlicher Legitimität oder sachgerechter Objektivität können diese Ideen bzw. Diskurse nicht auftreten. Viel zu selten wird aber darüber nachgedacht, dass auch medienkritische Diskurse Phantasiearbeit leisten müssten, d.h. ausgehend von ihrer Kritik, alternative und konkrete Medienwirklichkeiten bzw. Medienproduktionsszenarien zu entwerfen, die zu konkreten Gebrauchsgegenständen für die Medienpraxis werden könnten. Hierbei würde es, gemäß Negt und Kluge (ebd.), darum gehen, Produkte gegen Produkte sowie Produktionszusammenhänge gegen Produktionszusammenhänge zu stellen.31

31 Das Kreative der Fernsehkritik beschreiben Engels/Hickethier/Weiß (2005: 525) wie folgt: »[...] Kritik [...] ermöglicht ein anderes Sehen und Hören bei den Lesern und Zuschauern. Indem Kritik benennt, beschreibt, zerlegt (analysiert) und wieder neu – nach anderen Kategorien – zusammensetzt (interpretiert), schafft sie die Voraussetzungen für eine andere Rezeption, die sich das Publikum zu eigen machen oder der es sich auch verweigern kann. Kritik schafft zudem auf unmittelbare Weise – indem sie die Bedingungen der sozialen Akzeptanz von Fernsehleistungen verhandelt – auch Voraussetzungen für eine andere Produktion.«

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KAPITEL 3

Medienkritik als Krisenphänomen

Ein Aspekt, der in den zuvor thematisierten Readern immer wieder, wenn auch jeweils nur als Zusammenfassung eines Meinungsklimas betont wird, ist die Rede von der (Dauer-)Krise der Medienkritik. Schon seit Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wird zunehmend von der Krise der Medienkritik gesprochen, v.a. im Hinblick auf die Fernsehkritik, obwohl sie, die Medienkritik, gerade im Zeitraum von 1960 bis Mitte der 1980er Jahre eine sehr intensive Phase erlebte.32 Andererseits tritt Medienkritik, dies wird in den Readern durchweg betont, zugleich als Selbstkritik auf.33 Schließlich als (mehr oder weniger wissenschaftliche) Medienkritik in den Medien (vgl. etwa Adorno 1971; Bourdieu 1998) sowie Kritik der Medienkritik in den Medien durch Medienproduzenten (z.B. Reaktionen von Redaktionen auf Presseberichte, etwa von Endemol auf die Big Brother-Kritik oder Gegendarstellungen, wie in den AntiGewalt-Werbeanzeigen von RTL nach dem Vorwurf, durch bestimmte Sendeformate Gewaltbereitschaft zu erzeugen)34 und schließlich Kritik der Medien an den Medien – wie etwa die Kommentierung bzw. Ironisierung der Peinlichkeiten des TV-Alltags durch Stefan Raab zu Beginn jeder Sendung von TV Total (PRO7), bei Kalkhofes Mattscheibe (PRO 7) oder Film-, Radio-, Fernsehkritik im Feuilleton. In den Texten, die eine (allgemeine oder spezifische) Kritik an der Medienkritik, ob von Seiten der Medienmacher oder der Medienkritiker betreiben, wird einerseits betont, dass Medienkritik drohe, folgen- und damit bedeutungslos zu werden, andererseits wird auf die gesellschaftspolitische Notwendigkeit von Medienkritik insistiert (vgl. u.a. Münster 1969; Hiegemann 1988). Gründe für diese negative Zustandsbeschreibung von Medienkritik sind unter anderem die Tatsache, dass sich weder die Hoffnungen in eine Reorganisation35 erfüllt haben, noch konnten die 32 Vgl. u.a. Kirst (1963); Delling (1972); Prümm (1977); Kraft (1985); Leder (1985); Thomas (1985); Sauer (1988), Weßler (1997: 24); Kammann (1997: 90) – unberücksichtigt bleiben in dieser Auflistung feuilletonistische Artikel. 33 Vgl. z.B. Elsch (1962); Stolte (1969); Baroth (1975); Hall (1977); Kreuzer (1980); Fischer (1983a); Bundeszentrale für politische Bildung (1988); Gangloff/Abranarell (1994); Weßler et al. (1997); Hall (2003); Königstein (2003); Hallenberger/Nieland (2005a); Beuthner/Weichert (2005). 34 Vor dem Hintergrund massiv zurückgehender Werbeeinnahmen kündigte der Intendant des WDR im Winter 1993 eine Tagung zur Medienethik an, die die ethische Qualität des öffentlich-rechtlichen Programms unter Beweis stellen sollte. Die Privaten suchten der Stigmatisierung durch eine PR-Kampagne zu entgehen, die normative Muster ebenso zu bedienen suchte wie die ÖffentlichRechtlichen. Zwei Beispiele aus dieser Kampagne: »Wer schützt Sie vor uns? Unabhängige Gutachten belegen: RTL ist eines der gewaltfreisten Programme« oder »Das Programm für Kinder, die Hilfe brauchen«. 35 Hierzu zählen die Reform des Preiswesens und die Neustrukturierung der Filmförderung, wie sie in den letzten Jahren durch die Bundesregierung und in einigen Bundesländern angestoßen wurde sowie die Steigerung der Transparenz der Arbeit des Presserates (vgl. grundsätzlich zum Preiswesen Scherfer 2005).

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Teilergebnisse der seit den 1970er Jahren geführten Vielfalts- und Qualitätsdebatten36 berücksichtigt werden. Zudem haben sich Angebot und Nutzung der Medien nicht nur ausgeweitet und differenziert, wodurch Medienkritik immer mehr mit Unüberschaubarkeit und unklaren bzw. komplexen Erwartungshaltungen konfrontiert wird.37 Angesichts der erst boomenden, dann nahezu kollabierenden Medienökonomie38, einer Medienpolitik, die sich in der Regel zuallererst als Standortpolitik versteht39 und der eher größer werdenden Verunsicherung, welche Konsequenzen Mediennutzung hat bzw. haben kann, scheint Medienkritik insgesamt zur Disposition zu stehen. Wie kann dieses Unbehagen an der Medienkritik erklärt werden? Adorno (1997r: 663) hat unter anderem am Beispiel der Literaturkritik darauf aufmerksam gemacht, dass (Medien-)Kritik, bevor sie sich auf einzelne Gegenstandsbereiche fokussiert bzw. sich in diese ausdifferenziert, immer vom gesamtgesellschaftlichen Klima abhängt, die Realität von Kritik also von diesem konstitutiv bestimmt wird: »Die Krisis der Literaturkritik und übrigens wohl der gesamten künstlerischen Kritik, besonders auch der musikalischen, ist keine bloße Sache der Unzulänglichkeit von Spezialisten. Sie weist auf die gegenwärtige Gesamtverfassung des Daseins zurück. Einerseits ist jede bestätigte Macht der Tradition zerfallen, an

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Die Steigerung der Transparenz der Arbeit des Presserates hat sich der Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPS) zur Aufgabe gemacht. Dabei wurden folgende Ziele formuliert: Erstens betont der FPS den Stellenwert des Prinzips der publizistischen Selbstkontrolle, zweitens will er die Abhängigkeit der Pressefreiheit von der Wirksamkeit der publizistischen Selbstkontrolle verdeutlichen, drittens das gesellschaftliche Interesse an der publizistischen Selbstkontrolle stärken, viertens für eine flexible publizistische Selbstkontrolle eintreten und schließlich für mehr Transparenz der publizistischen Selbstkontrolle sorgen. Gerade zum letzten Punkt bemüht sich der Verein um eine Kooperation mit weiteren Organen der publizistischen Selbstkontrolle: z. B. dem Deutschen Presserat, der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM), der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), der Freiwilligen Selbstkontrolle Kino (FSK), dem Deutschen Werberat und dem Deutschen Rat für Public Relations. Der 2004 gegründete Verein leistet auch eine Vermittlung der Ziele in die Journalismusausbildung und besetzt damit ein wichtiges Feld der Verankerung von Medienkritik (vgl. www.publizischtische-Selbstkontrolle.net). Vorsitzender des Vereins ist der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker, weitere Vorstandsmitglieder sind Wolfgang Langenbucher, Achim Baum und Christian Schicha. Angesprochen sind damit die Debatten über interne und externe Programmbeobachtung, Programmbewertung und Programmkontrolle (vgl. Schatz/Schulz 1992; Stolte 1992; Naehler 1993; Grobel et al. 1995; Breunig 1999) sowie die Überlegungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt (vgl. aktuell LMA 2004). Zu diesen Erwartungen gehört sowohl die Förderung von Lebenshilfe, Medienkompetenz und auch Unterhaltung (Vergnügen) bei den Nutzern, als auch die Einnahme von Werbeerlösen, Profitsteigerung und Synergieeffekten bei der Vermarktung. Vgl. Hachmeister/Rager (2000); LMA (2004); Röper (2004); Kiefer (2004). Die Medienpolitik gilt als eines der letzten Refugien der Landespolitik – dies trifft insbesondere auf die Aktivitäten der Ministerpräsidenten zu.

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der Kritik, wenn auch im Widerspruch, sich bilden könnte. Andererseits lähmt das herrschende Gefühl der Ohnmacht der Individuen jene Impulse, die der Kritik ihre Energie verleihen könnten. Große Kritik ist denkbar nur als integrales Moment geistiger Strömungen, denen sie sei’s hilft, sei’s widerspricht, und die selber ihre Kraft aus gesellschaftlichen Tendenzen ziehen. Angesichts eines zugleich desorganisierten und epigonalen Bewusstseinsstandes fehlt es der Kritik an der objektiven Möglichkeit des Ansatzes. Der Mangel an Authentizität, das Ausgehöhlte, an dem alle literarischen Produkte, wie sie sich auch anstrengen mögen, heute leiden; die Ahnung von der Gleichgültigkeit dessen, was heute unter dem Namen Kultur weiter betrieben wird, im Schatten der realen Mächte der Geschichte, lassen jenen Ernst nicht aufkommen, dessen die Literaturkritik bedarf.«

Hiermit skizziert Adorno bereits 1952/3 scharfsinnig einen der zentralen Gründe für die Dauerkrise der Medienkritik, bevor diese überhaupt massiv thematisiert wurde. Ausgehend von dieser Beobachtung Adornos betonen Kleiner und Chlada (2002: 56): »Indem sich die Logik der Medienkritik bisher fast ausschließlich darauf beschränkt, auf Phänomene der Medienunterhaltungskultur zu reagieren und sich zunehmend selbst wie Unterhaltung liest bzw. anhört, affirmiert und reproduziert sie zuallererst den Gegenstand ihrer Kritik – die Medienkulturindustrie. Dadurch wird diese immun gegen Kritik. Die Medienkulturkritik verleiht der Medienkulturindustrie allererst die von ihr unterstellte Macht, da sie diese andauernd thematisiert und damit für allmächtig erklärt.« Bevor im nächsten Kapitel die medienkritischen Grundpositionen gesellschaftskritischer Medientheorien vorgestellt werden, soll dies im Folgenden durch eine kurze Begriffsbestimmung sowie historische und inhaltliche Auseinandersetzung mit der Medienkritik vorbereitet werden. Medienkritik. Begriff, Geschichte, Inhalte

Das griechische krinein40, von dem das Wort Kritik hergeleitet ist, begegnet, wie Konersmann (2001: 13) hervorhebt, »ursprünglich im Be40 Hiegemann (1988: 29f.) schlägt folgende Aufgabenbeschreibung der Kritik vor: »Kritik ist eine Denkbewegung, die etwas in Relation auf eine Norm hin beurteilt, d.h. dass im Vollzug des Kritisierens eine Norm als Kriterium in Anspruch genommen wird, die im Prozess des Kritisierens selbst nicht in Frage gestellt werden darf. Auch wenn bestimmte Normen selbst zum Gegenstand der Kritik werden, stellen sie immer wieder höhere Normen der Beurteilungskriterien dar, so dass Kritik immer nur funktional uns instrumental verstanden wird. Eine neue Bedeutung erhält der Kritikbegriff dadurch, dass Normen an sich in den Mittelpunkt der Kritik geraten. Nach diesem neuzeitlichen Verständnis will Kritik nicht nur dienendes Instrument sein, sondern tritt als Gegeninstanz zu unbezweifelten und selbstverständlichen Normen auf. [...] Das Neuartige dieser Kritik ist ihre Absolutheit; sie bezieht sich nicht mehr auf eine Norm, die für sich gesetzt ist, sondern mit Relativierung der geltenden Autoritäten weichen alle Normen ins Unausdrückliche zurück oder werden sogar im Vollzug der Reflexion erst hervorgebracht. Kritik ist hier mehr als nur Reflexion oder gar Urteil, in ihr ist ein ethisches Moment mit dem theoretischen vermischt. Gemeinsam ist aller Wi-

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reich des Rechts, insbesondere aber in den älteren Textwissenschaften, also in Philologie und Rhetorik. ›Kritik‹ meint die Kunst des Scheidens, auch des Entscheidens, des Trennens, Beurteilens sowie des Anklagens. Wer kritisiert, geht auf Distanz zum unmittelbar Dargebotenen, behauptet die Chance, wenn nicht die Pflicht zum Wandel und zur Besserung« (vgl. Bormann 1974).41 Generell gilt für eine gesellschaftskritische Medientheorie, die als Theoriefiktion und Heterotopie konzipiert ist, dass allgemeine und statische Definitionen des Begriffs Medienkritik kaum Einblicke in das medienkritische Feld bzw. die medienkritische Tätigkeit verschaffen. Andererseits findet man, etwa in allen untersuchten Readern, zumeist nur Umschreibungen dessen, was Medienkritik allgemein ist bzw. sein sollte. Der Medienkritik werden hier u.a. folgende Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben, die als Methoden- und Perspektivenmix beschrieben werden können: urteilen, richten, bilanzieren, resümieren, vermitteln, informieren, aufdecken, durchschauen, berichten, analysieren, bewerten, interpretieren, voraussetzungsreich, vielfältig, multiperspektivisch, wirkungslos, selbstreferentiell, antiquiert, erkenntnisfördernd, auswählend, reagierend, nicht aktiv, kulturbegleitend, qualitätsermittelnd, gegenstandsbezogen, ökonomisch erfolglos, subjektive Meinungsäußerung bzw. subjektives Geschmacksurteil, Luxusartikel, Reflexionsmedium der jeweils kritisierten Medien, Diskursgrenzen bestimmend, eine Vorauswahl treffend, Kundendienst, Wahrheitsarchäologie, Machtinstrument, Auftragsarbeit, Trendforschung, Qualitätsgefühl,

dersprüchlichkeit der verschiedenen Formen und Auffassungen von Kritik, dass sie veranlasst ist durch freies Handeln. [...] Kritik ist also Abwägung des ›richtigen‹ Handelns oder Sollens, damit Verwerfung anderer Möglichkeiten und steht somit der Rechtspraxis nahe. [...] So bleibt festzustellen, dass Kritik immer nur Methode ist – sie ist Weg zur Wahrheit, nicht diese selbst – und angewandt wird vom Menschen, der aus einer Sprache und seiner geschichtlichen Welt heraus kritisiert und dieser naiven Selbstverständlichkeit nie entfliehen kann. Kritik beginnt bei einem konkreten Anlass und endet bei einer relativen Wahrheit, bei einer emotionalen Wahrheit, die durch eine verbindliche Identität begrenzt wird. [...] Kritik hat ein Ziel, ohne es genau zu sehen.« Die Freiheit der bzw. zur Kritik wird durch die Arbeits- und Gesellschaftsbedingungen, aus denen Kritik entsteht und von denen Kritik abhängt, grundsätzlich mitbestimmt (vgl. Schütte (zur Filmkritik in der Presse) 1968: 65; Heinzelmann (zur Presse) 1988a: 87; vgl. Kesting 1983: 229f., zu den Einschränkungen, die das Feld der Literaturkritik reglementieren; vgl. Engels 2005). 41 Die konstitutive gesellschaftliche Bedeutung von Kritik heben u.a. Scoradi und Thorpe (1993: 3) hervor: »In his Essays in Criticism, Matthew Arnold declares: ›Criticism is a disinterested endeavour to learn and propagate the best that is known and thought in the world‹ [...]. To many, however, the very word ›criticism‹ carries with it unsavory connotations, calling to mind images of nagging, negativity, and narrow-mindedness. But in its nobelst tradition, criticism serves vital philosophical and practical purposes. Altough it often requires the passing of judgment, that judgment may be positive as well as negative. Its goal should not be simply to find fault or to render ill-informed opinions, but to thoroughly analyze, consider, and nurture the growth and evolution of critical objects, their creators, and their consumers.«

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KAPITEL 3

Produktanalyse, Kritik als Beruf, Kritiker als Verwalter, Produzent des ideologischen Scheins. Unentscheidbar wäre auf allgemeiner Ebene, welche dieser Zuschreibungen vermeintlich objektive Gültigkeit besitzen. Vielmehr muss aus jedem medienkritischen Text allererst das spezifisch Medienkritische herausgearbeitet werden, um ausgehend hiervon, zu einer kontextgebundenen Bestimmung des Begriffs Medienkritik zu kommen. Medienkritik wird entsprechend konstitutiv als eine Tätigkeit verstanden, die ihre Kritikmaßstäbe niemals von ihren Gegenständen lösen kann, also von einem vermeintlich souveränen Außen agieren darf. Medienkritik kommt erst als sich vollziehende Tätigkeit zu sich selbst, d.h. wird dadurch zur Medienkritik.42 Hiermit wird nicht behauptet, dass der Medienkritiker keine Kritikmaßstäbe besitzen sollte bzw. die Ausbildung dieser prinzipiell unproduktiv sei. Allerdings müssen sich Kritikmaßstäbe immer wieder von neuem an ihren Gegenständen bewähren. Nur so kann gewährleistet werden, dass diese sowie der Kritiker selbst, ihre bzw. seine notwendige Offenheit gegenüber den unterschiedlichen Materialien, den jeweiligen gesellschaftlich-diskursiven Situationen sowie seinem Selbstverständnis als Kritiker besitzt.43 Offenheit bedeutet in diesem Kontext die grundsätzliche Bereitschaft und Flexibilität des gegenstandsorientierten Sich-Einlassens, ohne hierbei im Voraus, gemäß seiner eigenen Kritikmaßstäbe und kulturell-medialen Sozialisation zu wissen, wie der jeweilige Gegenstand zu beurteilen ist.44 Die geforderte Offenheit und Flexibilität redet aber keinem Relativismus bzw. keiner tendenziösen, zeitgeistigen Beliebigkeit das Wort. Vielmehr soll sie einerseits einen intimeren Sachbezug der Kritik erzeugen, den Kritiker dadurch andererseits beweispflichtiger (selbstkritischer) machen, weil er somit von keinen statischen Kritikmaßstäben mehr ausgehen kann, und drittens könnten ihm hiermit die Grenzen seiner Kompetenz vor Augen geführt werden. Ein Aspekt, der zu selten in diesem Kontext angesprochen wird, ist, dass den Medienkritiker seine Gegenstände zumeist überfordern, d.h. es ihm gar nicht möglich ist, 42 Entsprechend dem leitenden Medienbegriff dieser Studie, dem Medien-Werden (vgl. Kap. 2.1.), wird Kritik bzw. Medienkritik wesentlich als Kritik- bzw. Medienkritik-Werden verstanden. 43 Entsprechend betont Ohff (1968: 116) am Beispiel der Kunstkritik, dass Kritikmaßstäbe stets nur »aus der Zeit und für die Zeit« aufgestellt werden können. 44 Vgl. zur historischen Bedingtheit bzw. Wandelbarkeit von Kritikmaßstäben und gegen die Behauptung ihrer Objektivität auch Hamm (1968b: 24f.) allgemein; Becker (1983: 114f.) zur Musikkritik; Schmid (1983: 176) zur Filmkritik; Kesting (1983: 220f.) zur Buchkritik. Roß (1997: 36) führt diese Einschätzung einerseits auf das von der Medienkritik nicht mehr in seiner Totalität zu erfassende disparate Medienangebot zurück, durch das Medienkritik zwangsläufig zu einer eklektischen Tätigkeit werden muss, also keine allgemeinen, objektiven und verbindlichen Maßstäbe ausbilden kann. Andererseits wird Medienkritik immer von ihren Gegenständen mitbestimmt: »Damit entsteht eine Mischung aus Zufall und Willkür, die erklären könnte, warum die verschiedenen Varianten der Medienkritik sich kaum wechselseitig beeinflussen, sondern eher als Reservate von Überzeugungen hermetisch und beziehungslos nebeneinander stehen.«

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diese in ihrer Totalität zu bewerten, sondern er sich hingegen immer nur auf Auswahlen beschränken muss. Mit Blick auf die Film-Kritik betont Schmid (1983: 175) entsprechend: »Sie [die Filmkritiker – MSK] müssten eine solche Fülle von Kenntnissen einbringen, dass die Frage berechtigt erscheint, ob Filmkritik überhaupt von einem einzelnen Fachkritiker geleistet werden kann, oder ob sie nicht eigentlich Aufgabe eines Teams verschiedener Rezensenten, die aus verschiedenen Fachrichtungen kommen müssten, sein sollte.« Grundlegend für meine Auseinandersetzung mit Medienkritik ist weiterhin die These, dass »Medienkritik so alt wie ihr Gegenstand [ist]. Mit Beginn jener historischen Zeitphase, in der institutionalisierte Medien über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg die Kommunikationsprozesse vermitteln, ist diese Vermittlungsfunktion mit Skepsis beobachtet worden«, wie Müller-Doohm (2000: 69) betont (vgl. Roß 1997: 29). Zur Erläuterung dieser These kann auf ein prominentes historisches Beispiel verwiesen werden: Gegen den Gebrauch der Schrift als einem damals neuen Medium bringt Platon (2004b) im Phaidros vor, sie schwäche – indirekt – das Gedächtnis, führe aber v.a. zu Vermittlungsproblemen, da auch in der Thematik Unkundige einen Text lesen, jedoch auf Grund mangelnder Sachkenntnis oder wegen unterschiedlicher Lebenserfahrungen dessen Sinn und das vom Autor Gemeinte kaum erfassen können. Kritischen Vorbehalten gegen historisch jeweils Neue Medien hatte Platons Schriftkritik damit die paradigmatische Form gegeben: »War es bei Platon die Schrift, so ist es heute das Internet, das die Angst vor einer Verkümmerung des Gedächtnisses und der authentischen dialogischen Rede zwischen Anwesenden hervorruft. Und das christliche Bilderverbot hat in unserer Kultur nicht nur über lange, heute vermeintlich abgeschlossene Zeiträume hinweg eine bedeutende Rolle gespielt. Vielmehr beobachten bis heute die christlichen Kirchen aufmerksam die Bildmedien (und die Medien überhaupt)« (Helmes/Köster 2002: 17f.). Ernst (2002a: 144) bezeichnet diese konstitutive Interdependenz zwischen Medien und Medienkritik bei Platon als Medieneffekt: »Womit diese Form von Medienkritik an der Schrift selbst schon ein Medieneffekt ist, denn Platon vertraute sich der Schrift an, um diese Kritik zu kommunizieren und übertragbar im Sinne der Tradition zu machen.« Ausgehend von dieser Überlegung, stellt Ernst die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Medienkritik in der Tradition von Adorno und Horkheimer, die sich nicht für die Materialität von Medien interessiere, insgesamt in Frage: »Wenn keine ideologiekritische Verblendungsthese mehr den Blick auf Nachrichtensatelliten, Kabel, Videorekorder, Fotokopierer und Computer selbst verblendet, ist Kulturkritik notwendig Medienanalyse. Begreifen wir Kultur also nicht primär unter dem Aspekt von Geist und Sinn (ihre Sekundärtugenden), sondern als System von Techniken und verstehen wir sie kultursemiotisch als Funktion ihrer Speicher und- und Übertragunsgmedien« (ebd.: 143). Diese These muss

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eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Medienkritik, zumindest aber die, die sich als gesellschaftskritische Medientheorie versteht, konstruktiv ernst nehmen, da sich an ihr die Frage nach dem Status von Medienkritik entscheidet. Muss Medienkritik bzw. müssen Medienanalysen, entsprechend diesen Überlegungen von Ernst, primär als Technikanalyse oder als Interdependenzgeflecht aus Gesellschafts- und Medientheorie bzw. -kritik, in deren Zentrum Medienkonstruktivismus, Diskursanalyse und Medienpragmatik stehen, konzipiert werden. Medienkritik gibt es prinzipiell in allen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Realität der Medien auseinander setzen. Medienkritik ist dabei immer medial verfasst, setzt voraus, was sie kritisiert bzw. braucht den Gegenstand ihrer Kritik als Existenzberechtigung. Medienkritik bleibt also stets an den zu kritisierenden Gegenstand gebunden, kann insofern keine Metaposition einnehmen – so ist etwa Sprachkritik stets sprachlich vermittelte, die sich der Sprache bedient. Diskutiert werden muss daher, ob die Inhalte und Maßstäbe der Medienkritik wirklich nicht unabhängig von den jeweils zu kritisierenden Medien formuliert werden können. Die konstitutiven Gegenstandsbereiche, Akteure, Kritikausrichtungen und Maßstäbe der Medienkritik lassen sich, fasst man die zuvor diskutierten medienkritischen Reader zusammen, allgemein wie folgt unterteilen: (1) Kritikebenen/-inhalte: Ɣ Kritik der Medienkulturindustrie bzw. des Mediensystems insgesamt. Hierbei wird die konstitutive Interdependenz von Medienverbund und Gesellschaftssystem sowie Medien- und Gesellschaftskritik vorausgesetzt; Ɣ Kritik des Mediums (als Einzelmedienkritik, etwa am Buch, Fernsehen, Radio, Film und Internet oder als Kritik der Kommunikationsmedien, wie z.B. der Sprache); Ɣ Kritik eines speziellen Formats sowie seiner Inhalte (speziell/allgemein) (Bsp.: Christoph Schlingensiefs Fernsehsendung U3000 [MTV] oder seine Dokumentation Freak-Stars) in den Medien bzw. bestimmter Format-Modelle (Bsp.: Gerichts- oder Castingshows); Ɣ Kritik der Medientechnik sowie der Anwendung von Medientechnik. (2) Akteure: Ɣ Journalisten (sie sind Bestandteil des Mediensystems sowie eines speziellen Mediums, üben Kritik an einem Medienereignis, an dem sie nicht beteiligt sind oder am Mediensystem im Allgemeinen.); Ɣ Wissenschaftler (als Medienbeobachter, als Gutachter von Medienproduzenten oder staatlicher/sozialer Institutionen, als Experten und Medienschaffende sowie als Teil des Mediensystems); Ɣ Medienproduzenten (Qualitätsoptimierung etc.);

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Ɣ Medienpersönlichkeiten (interne Kritik als Teil des Mediensystems); Ɣ Zuschauer (Publikumsorganisationen, Zuschauerverhalten etc.); Ɣ Politiker/staatliche Institutionen oder Organisationen (Subventionen, Mediengesetze, Landesmedienanstalten usw.); Ɣ Gesellschaftliche Institutionen (z.B. Kirchen oder Interessenverbände); Ɣ Künstler, Literaten und andere Medienschaffende; Ɣ Hersteller von Medientechnik und Anwender von Medientechnik (etwa Photographen, IT-Fachleute etc.). (3) Kritikausrichtungen: Die Kritikausrichtung ist abhängig vom jeweiligen Kritik- und Medienbegriff, von der spezifischen theoretischen Ausrichtung und dem Ziel sowie dem pragmatischen Interesse des Kritikers. Allgemein lassen sich hierbei sechs Kritikrichtungen unterscheiden: Ɣ destruktiv (Rede vom Kulturverfall; Verblödungsthese); Ɣ anachronistisch (aus dem Jenseits des Mediengebrauchs); Ɣ pragmatisch (z.B. Veränderung der aktuellen Medienlandschaft oder Akzeptieren bzw. Arrangieren mit derselben); Ɣ politisch (etwa die Regulierung von Medienprodukten durch Mediengesetze); Ɣ emanzipatorisch (grundlegende Veränderung des Mediensystems, die auch eine konstitutive Veränderung des Gesellschaftssystems bedeuten würde; Förderung der Ausbildung von Medienkompetenz auf Seiten der Konsumenten, Produzenten und Kritiker, wobei der Kompetenzausbildungsprozess niemals aufhört; Nutzung von Medientechniken zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation; Ɣ funktional (Verbesserung von Medientechnik oder Rekonstruktion des Prozesses medialer Wirklichkeitskonstruktionen). Die Diskussion der in Deutschland erschienenen medienkritischen Sammelbände verweist auf einige Probleme: Einerseits ist es bisher, abgesehen von den Hinweisen auf die Notwendigkeit (vgl. Roß 1997: 42f.) und die vielfältigen Arbeitsgebiete der Medienkritik, kaum gelungen, Medienkritik als konkretes wissenschaftliches Forschungsfeld herauszuarbeiten sowie zu institutionalisieren (vgl. Kreimeier 2005: 96; vgl. Kap. 3.2.). Entscheidend hierbei wäre es, diese Arbeit nicht auf einer allgemeinen Ebene zu leisten, d.h. ein (singuläres) Spezialgebiet der Medienforschung mit dem Titel Medienkritik zu entwerfen, sondern die Auseinandersetzung mit Medienkritik auf Mikroebenen, also jeweils in den einzelnen Wissenschaften, die Medienforschung betreiben, zu führen und dort zu institutionalisieren. Wichtig wäre es, im Anschluss an diese Arbeit, dass sich die unterschiedlichen Ausrichtungen der Medienkritik in einem permanenten Austausch befänden und gemeinsame Projekte konzipierten.

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KAPITEL 3

Auch die Auseinandersetzung mit den Wegen und Möglichkeiten der Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland, müsste dementsprechend mit Blick auf die jeweilige Mikroebene geführt werden, d.h. die Arbeiten der existierenden medienkritischen Institutionen (vgl. Kap. 3.3.) miteinander zu vernetzen und ausgehend hiervon zu diskutieren, worin etwa grundlegende Probleme für den Ausbau von Medienkritik in Deutschland bestünden, wie bereits existierende medienkritische Institutionen gestärkt werden könnten oder ob es sinnvoll wäre, über die Gründung weiterer Institutionen nachzudenken. Weiterhin könnte auch über Kooperationen mit internationalen Institutionen der Medienkritik nachgedacht werden. Diese Aufgabe wird in einem zunehmend von transnationalen Medienkonzernen regulierten Medienmarkt sowie durch das Entstehen transnationaler Kommunikationsräume und -ordnungen zu einem konstitutiven Thema. In diesem Kontext könnte weiterhin gefragt werden, was die jeweiligen medienkritischen (journalistischen und wissenschaftlichen) Positionen zum Ausbau der Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland anbieten. Zudem müsste über Wege der Kooperation zwischen Wissenschaft, Journalismus, Interessenverbänden, Verbraucherschutzorganisationen, existierenden medienkritischen Institutionen, Medienunternehmen, der Medienpolitik und den Mediennutzern nachgedacht werden. Wichtig für den Ausbau der Medienkritik in Deutschland ist die Ausbildung umfangreicher medienkritischer Netzwerke45, die einerseits autonom agieren, andererseits ihre jeweiligen Kapazitäten und Kompetenzen miteinander verbinden müssen, damit die Stimmen der Medienkritik nicht nur in kleinen Kreisen vernommen werden und dadurch nachhaltigen Einfluss auf konkrete Medienwirklichkeiten nehmen können. Die Auseinandersetzung mit dem Publikum bzw. den Mediennutzern sollte die Medienkritik, zumindest aber eine gesellschaftskritische Medi45 Chancen und Risiken medienkritischer Netzwerke schätzt Jarren (1997: 325f.; vgl. ebd.: 318f.) wie folgt ein: »Netzwerke sind fragil, kaum zentral zu planen oder gar zu steuern, und sie entwickeln eine gewisse Eigendynamik. Und eben das ist ihre Stärke und ihr Vorteil, zumal dann, wenn es immer weniger möglich sein wird, wenige ›starke‹ Institutionen auf Basis einer positiven Ordnung zu schaffen und mit sanktionsfähigen Kompetenzen auszustatten. Die Fragilität ist allerdings auch die Schwäche des Netzwerks: Bei Verlust eines Teilsegments entstehen Risiken, die sich durchaus negativ insbesondere auf die gestaltende, initiierende Rolle von Politik auswirken können. Die Etablierung von Netzwerken ist ebenso riskant wie der Prozess, der von ihnen dann organisiert wird. Dennoch gibt es wohl keine Alternative zu diesem Konzept. Durch die Etablierung unterschiedlicher Akteure innerhalb und außerhalb des Marktgeschehens, durch Vernetzungsoptionen und durch die Erhöhung der Chancen zur Herstellung von Teilöffentlichkeit, kann die Chance zur Erhöhung der Lernfähigkeit für alle an der öffentlichen Regelung beteiligten Akteure verbessert werden. Es bedarf dazu vielfältiger, miteinander konkurrierender Analyse-, Rechtfertigungsund Sanktionsinstanzen und unterschiedlicher Formen – medieninterner wie medienexterner – medienkritischer Öffentlichkeit [Hervorhebung im Original – MSK].«

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entheorie, wie sie in dieser Studie entworfen wird, nicht führen. Vielmehr müsste darüber nachgedacht werden, wie das Publikum in die kritische Tätigkeit mit eingebunden werden könnte, ebenso wie die Macher und Medienpolitiker. Hierdurch könnte ein Beitrag dazu geleistet werden, die Kluft zwischen Kritik, Produktion und Konsum zu überwinden. Solange es keine substanziellen und nicht nur taktisch gewählte Kooperationen zwischen Medienkritikern, Programmmachern, dem Publikum, Interessenverbänden und der Medienpolitik gibt, wird Medienkritik, trotz aller Gefahren, mit denen sie in einem solchen Interaktionsgeflecht konfrontiert wäre, wie etwa dem Autonomieverlust der einzelnen Akteure oder das Durchsetzen der Interessenpolitik der stärksten Glieder dieser Interaktionsgemeinschaften, letztlich gesamtgesellschaftlich folgenlos und nur diskurs-intern gewisse Nachhaltigkeiten erlangen.46 Die notwendige Unabhängigkeit, etwa des Kritikers, kann in diesem Kontext nicht als überzeugendes Gegenargument ins Feld geführt werden, denn auch der (journalistische und/oder wissenschaftliche) Kritiker wird von einem Abhängigkeits- und Referenznetz bestimmt: er ist u.a. abhängig von seinem Arbeitsumfeld, seinem kulturellen Kapital, den Gegenständen der Kritik, den Orten bzw. Medien, in denen er sich äußert, seinem Geschmack, seiner wissenschaftlichen, d.h. v.a. theoretischen Sozialisation oder politischen Überzeugungen. Ein weiteres grundlegendes Problem der Medienkritik besteht darin, dass medienkritische Positionen und Akteure sich in der Selbstbeobachtungsfalle befinden.47 Hiermit soll herausgestellt werden, dass der medi46 Denkbar wäre u.a. das Einbeziehen von zwei Medienkritikern, einem journalistischen und einem wissenschaftlichen, in Stefan Raabs TV Total oder der Harald Schmidt Show (vgl. 2.3.2.). Diese Kritiker könnten Raab oder Schmidt am Ende jeder Sendung mit ihren Kritiken konfrontieren und diese auffordern, ihre Kritiken zu kommentieren. Weiterhin könnten die Kritiker aufgefordert werden, ihre Kritik nicht nur vorzutragen, sondern diese in die Produktion der nächsten Sendung mit einzubeziehen. Nicht zuletzt müssten Raab oder Schmidt und diese Medienkritiker versuchen, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen und diese nach ihrer Einschätzung der Sendung, der Kritiken und Entgegnungen von Raab oder Schmidt zu befragen. In diesem Kontext dürften wechselseitig keine Berührungsängste bestehen, um eine größtmögliche Unmittelbarkeit und Aktualität von Medienkritik zu erzielen sowie diese zudem in eine Medienpraxis zu überführen. Wichtig wäre hierbei, dass dieses Experiment nicht von vornherein als aufmerksamkeitsökonomische Spaßaktion oder Anbiederung der Medienkritik an die Medienpraxis zurückgewiesen und von Seiten der Medienmacher die Offenheit aufgebracht wird, sich auf dieses Experiment einzulassen, ohne hierbei die Produktionsregeln bestimmen zu wollen. Die Praxis würde zeigen, ob hierdurch eine produktive und nachhaltige Veränderung dieser spezifischen Medienwirklichkeiten erzielt werden könnte. 47 Vgl. Kap. 3.3.; vgl. zur Selbstbeobachtungsfalle im Medienjournalismus die Beiträge in Beuthner/Weichert (2005); vgl. Hickethier (2005c: 394). Kübler (1988: 41f.) beschreibt diesen Zusammenhang, mit Blick auf die Medienkritik in der Presse, wie folgt: »Gedruckte Medienkritik richtet sich überwiegend an ein generalisiertes Publikum [...]. Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings dieses generalisierte Publikum [...] als reichlich knapp bemessene, schon weit abgehobene Teilöffentlichkeit aus Insidern und Experten. [...] [D]as Publikum der

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enkritische Diskurs zumeist für sich selbst produziert bzw. (journalistische und wissenschaftliche) Medienkritiker die Hauptadressaten von Medienkritik sind. Fragen nach der grundsätzlichen bzw. allgemeinverbindlichen Legitimation von Medienkritik sind, wie der vorausgehende Diskursbericht veranschaulicht hat, unbrauchbar und fokussieren die Diskussion auf eine letztlich nicht entscheidbare Ebene. Legitimiert werden müssen, zumindest kontextrelativ aber, die Maßstäbe der jeweiligen Kritiken. Das Entscheidungskriterium über Kritikmaßstäbe müsste nicht normativ sein, sondern in der analytischen Schärfe, der Phantasiearbeit, der Originalität und der Herausforderung an die Adressaten der Kritik liegen, die von medienkritischen Diskursen, Produktionen und Aktionen ausgehen.48 Die Arbeit der Medienkritik wird in Deutschland massiv dadurch erschwert, dass es bisher noch kein zentrales und einer breiten Öffentlichkeit zugängliches audiovisuelles Medienarchiv gibt.49 Ein wesentlicher Grund für die Einrichtungen von Medienarchiven ist die Flüchtigkeit von Medien und Medienproduktionen.50 Erstaunlich ist in diesem Kontext, dass es über Jahrhunderte öffentliche Bibliotheken gab, die das kulturelle Wissen einer Gesellschaft aufbewahrten und zur Nutzung bereit gehalten haben, die Bedeutung audiovisueller Medienarchive bis heute aber nicht in vergleichbarer Weise wahrgenommen wurde. Ernst (1999: 138) betont, dass Europa erst Ende der 1990er Jahre zu begreifen scheint, »dass dieses Jahrhundert ein zunehmend audiovisuell überliefertes ist, lange Zeit aber kulturpolitisch im Schatten der Speicheragenturen des 19. JahrMedienkritik ist deutlich gestaffelt, mit unterschiedlichen, nicht mehr zu vereinbarenden Einflusspotentialen und wohl auch auseinander gehenden Erwartungen. [...] Medienkritik [...] zirkuliert innerhalb einer kleinen, weitgehend abgeschotteten Fachöffentlichkeit, bestätigt oder bekrittelt die Produzenten, ernährt wenige Insider – allerdings mit dem selbstgefälligen, jeweils wieder hervorkehrbaren Anspruch der allgemeinen unmittelbaren Unterrichtung und Teilhabe. [...] Als generalisierte Medienkritik wird diese in einer sich zunehmend vervielfältigenden und mannigfaltiger werdenden Medienlandschaft einen schweren Stand haben; die Vorstellung, eine Mehrheit informiere sich und diskutiere über ein zentrales ›Medienereignis‹, dürfte heute schon immer weniger gültig und bald vollends überholt sein« (vgl. hinsichtlich der Betonung der letztlich nicht feststellbaren Wirkung der Musikkritik, Becker 1983: 113; mit Blick auf das Fernsehen Knoll 1983: 158; vgl. hinsichtlich des Films Schmid 1983: 185). 48 Vgl. hierzu Kap. 2.2., Kap. 2.3.2., Kap. 3.1., Kap. 3.2., Kap. 3.3., Kap. 4. 49 Für Leder (2005: 370) ist, mit Blick auf das Fernsehen, der Zusammenhang von Medienkritik und Medienarchiven evident, denn »Medienkritik ist [...] ein Archivmedium«. Leuffen und Weichert (2005: 374ff.) weisen in diesem Kontext darauf hin, dass es in Deutschland derzeit, d.h. im Jahr 2005, ca. 1200 audiovisuelle Mediensammlungen gibt, die keiner breiten Öffentlichkeit zur Nutzung bereit stehen. 50 Hinsichtlich der Literaturkritik beschreibt Kesting (1983: 219) die Literaturgeschichte als Gedächtnis bzw. Archiv der Literaturkritik, versammelt historische Qualitätskriterien der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte und spiegelt sich in allen (aktuellen) Bewertung von Literatur wider, weil diese sich auf jene zur Beurteilung ihrer Gegenstände beziehen (vgl. zur Bedeutung von Aktualität und Historie des Theaters für die Theaterkritik Rischbieter 1968: 60).

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hunderts stand«, also sich durch die Fokussierung auf das Prinzip der Schriftlichkeit auszeichnete. Die aus dieser Situation resultierenden, gesamtgesellschaftlichen Bedrohungen, d.h. die Verluste an medienkulturellem Kapital, durch das zukünftigen Generationen Gesellschaftsspuren, -zeugnisse und v.a. -bilder vermittelt werden könnten, bringen Leuffen und Weichert (2005: 365f., 373) pointiert zum Ausdruck: »Große Teile des audiovisuellen Kulturguts verpuffen im Augenblick ihrer Übertragung – der Journalist spricht in seinem Berufsjargon von ›versenden‹. Der unaufhörliche Strom des 24-Stunden-Programmflusses versickert in den Archivabgründen der Rundfunkanbieter. Die so genannte Mediengesellschaft [...] geht verschwenderisch mit der teueren Ressource der Information um und verwischt ihre eigenen Spuren. [...] Doch durch die archivarische Enthaltsamkeit drohen nicht nur zukünftig gravierende Wissenslücken über unsere Kultur und Lebensweise, bereits heute verschließt sich die Mediengesellschaft dem Potenzial eines kulturkritischen Reflexionsraums, der zur Selbstbeobachtung der Medien51 beitragen könnte. [...] In der Regel sammeln die deutschen TV-Veranstalter ihr Sendematerial und bewachen es wie einen Schatz [...]. Dabei geht es zunächst weniger darum, den Nachgeborenen ein Kulturgut zu erhalten. Die Rundfunkanbieter, öffentlich-rechtlich wie privat, leben schlicht von Zweit- und Mehrfachausstrahlungen. Programmarchive dienen ganz nüchtern betrachtet zunächst der Gewinnerzielung [...]. [...] Da wir in einer Mediengesellschaft leben, ist es also von zentraler Bedeutung, audiovisuelle Medienprodukte – entgegen ihrer angenommenen Schnelligkeit – angemessen zu verwahren, zu erhalten und darüber hinaus einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ansonsten droht das 20. Jahrhundert wegen unserer Nachlässigkeit im Umgang mit seinem Informationsreichtum womöglich zu einem ›dunklen Zeitalter‹ in die Geschichte einzugehen [Hervorhebung im Original – MSK].«

Die Arbeit der Medienkritik würde durch das Einrichten umfassender audiovisueller Medienarchive entscheidend unterstützt, weil hierdurch das gesamte Spektrum der entsprechenden Medienproduktionen zugänglich wäre und ausgehend hiervon, allererst vergleichende Medienanalysen sowie fallorientierte Grundsatzdiskussionen geführt werden könnten. Medienkritische Diskurse würden somit viel von ihrer oberflächlichen Allgemeinheit bzw. nur selten umfassend fallbezogenen Pauschalisierungen verlieren (müssen). Für audiovisuelle Medienarchive trifft letztlich das zu, was Ernst (2002b: 12) als eines der grundlegenden Charakteristika von Archiven hervorhebt, nämlich, dass sie utopische Produktivkräfte sind: »Die archivische Operation liegt [...] darin [...], die Dinge einer überkommenen

51 Durch (audiovisuelle) Medienarchive könnte auch ein Beitrag dazu geleistet werden, die zuvor angesprochene Selbstbeobachtungsfalle der Medienkritik, wenn nicht zu überwinden, so doch umfassend einsichtig zu machen.

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Welt in Material für eine noch zu fabrizierende Welt zu verwandeln [Hervorhebung im Original – MSK].«52

3.2

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ALS BLINDER FLECK SOZIALW ISSENSCHAFTLICHER M E D I E N F O R S C H U N G 53

Medienkritik ist ein blinder Fleck sozialwissenschaftlicher Medienforschung. Jede Beobachtung, auch die der Wissenschaft, enthält als ihre Bedingung und ihren Eigenwert, wie Luhmann betont, einen blinden Fleck, d.h. sie kann nie vollständig sein und ist nie komplett überschauund überprüfbar: »Man kann nicht sehen«, so Luhmann (1991: 66; vgl. 1996: 170; 1997: 1061, 1127), »dass man nicht sieht, was man nicht sieht.« Der blinde Fleck jeder Beobachtung, als Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung, entsteht dadurch, dass der Beobachter zwar reflektieren kann, dass er beobachtet, aber nicht, wie und warum gerade so und nicht anders. Dementsprechend sucht man vergebens nach einer systematischen, quellenbezogenen Auseinandersetzung mit den einschlägigen Positionen sozialwissenschaftlicher, d.h. soziologischer und politikwissenschaftlicher Medienkritik einerseits sowie einer Wahrnehmung und einer Problematisierung dieses Mangels andererseits. Dies verwundert umso mehr, da es in den Sozialwissenschaften schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen medienkritischen Diskurs gab, der allerdings bis heute im Feld sozialwissenschaftlicher Medienforschung marginalisiert wird. Dieser blinde Fleck resultiert im Wesentlichen aus drei Gründen: Einerseits hat sich keiner, der von mir im Folgenden zu dieser Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik zugeordneten Autoren als Bestandteil einer solchen Tradition aufgefasst. Es handelt sich hierbei also um eine idealtypische (Re-)Konstruktion, die es sich zur Aufgabe macht, die Gemeinsamkeiten der einzelnen Ansätze herauszuarbeiten und in eine gemeinsame Forschungsperspektive, die ich als gesellschaftskritische Medientheorie bezeichne, zu überführen. Die projektierte Forschungs52 Zur medienwissenschaftlichen Bedeutung von Archiven vgl., neben der oben zitierten Studie Das Rumoren der Archive, grundlegend Ernst (2003d) sowie Ernst (1998, 1999). 53 Die Ausführungen in diesem Kapitel wirken mitunter wie ein Gang entlang der Regale einer medienkritischen Bibliothek. Das Ziel dieses Kapitels ist es aber, nicht umfassende Lektüren aller aufgeführten Positionen vorzustellen, sondern Medienkritik als blinden Fleck sozialwissenschaftlicher Medienkritik auszuweisen, und zwar vor dem Hintergrund einer idealtypischen Rekonstruktion dieses Feldes sozialwissenschaftlicher Medienforschung. In den Grundlagentexten zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik haben wir die entsprechenden Texte der hier aufgeführten Autoren hingegen umfassend dokumentiert und kommentiert (Kleiner/Nieland 2007a).

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perspektive soll nicht nur Diskurs-interne, also mediensoziologische und medienpolitische Relevanz besitzen, sondern auch zu einer weiteren Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland beitragen (vgl. Kap. 3.4.). Der zweite Grund für die Marginalisierung dieser Tradition besteht darin, dass im Feld sozialwissenschaftlicher Medienforschung andere Forschungsperspektiven, wie z.B. die Massenkommunikationsforschung, empirische Medienanalysen, konstruktivistische und systemtheoretische Ansätze oder der Cultural Studies Approach dominieren. Drittens bezieht man sich, wenn im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Medienkritik gesprochen wird, fast ausschließlich auf das Theorem der Kulturindustrie, wie es Horkheimer und Adorno (1997) ausgearbeitet haben – dieses wird dann, zumindest zwischen den 1940er und 1970er Jahren, als der entscheidende sozialwissenschaftliche Beitrag zur Medienkritik aufgefasst. Die weiteren Medienanalysen von Adorno (vgl. Kap. 2.4.), die konstitutive Ausdifferenzierungen der Kulturindustrie-These darstellen, bleiben hierbei in ihrem grundlegenden Zusammenhang zumeist unberücksichtigt. In prominenten soziologischen54 und politikwissenschaftlichen55 Lexika gibt es ebenfalls keinen Eintrag zum Thema Medienkritik, sondern nur zu Stichworten wie Medien, Massenmedien, Massenkommunikation, Mediensoziologie56 oder Medienpolitik. Meine Kritik am blinden Fleck sozialwissenschaftlicher Medienforschung soll dazu beitragen, dass dieser überwunden wird, also, in der Diktion von Luhmann (1990: 16), man »nicht nur diesen ihren Gegenstand sieht (= unterscheidet), sondern auch noch sieht, was er sieht und wie er sieht, was er sieht; und eventuell sogar sieht, was er nicht sieht, und sieht, dass er nicht sieht, dass er nicht sieht, was er nicht sieht.« Medienkritik in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung

Ausnahmen von dieser Marginalisierung der Medienkritik in den Sozialwissenschaften bilden v.a. die Arbeiten von Dieter Prokop, aber auch die von Heinz Steinert (1989, 1992, 1998) und Stefan Müller-Doohm (2001, 2003). International ist es v.a. Douglas Kellner (u.a. 1982, 2003), 54 Fuchs-Heinritz/Lautmann/Rammstedt (1993); Hillmann (1994); Reinhold/Lamnek/Recker (1997); Endruweit/Trommsdorf (2002). 55 Schmidt (1992); Nohlen/Schultze/Schüttemeyer (1998); Nohlen (1998); Korte/ Schäfers (2002); Schubert/Klein (2003). 56 Auch in soziologischen Einführungen und themenbezogenen Überblicksarbeiten (u.a. Stromberger/Teichert 1986; AG Soziologie 1992; Helle 1997; Abels 2001a/b; Esser 1999, 2002a/b/c/d/e/f/; Münch 2004a/b/c; Korte 2003, 2004; Treibel 2004) findet sich keine Auseinandersetzung mit der Medienkritik als eigenständigem Feld sozialwissenschaftlicher (Medien-)Forschung. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Göttlich (2005) im von Jäckel (2005) herausgegebenen Lehrbuch zur Mediensoziologie, dass eine umfassende Kartographie der Mediensoziologie präsentiert, in dem Grundbegriffe der Soziologie in Verbindung mit dem Medien-Begriff diskutiert werden.

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der, aus der Perspektive des Cultural Studies Approach versucht, die Medienanalysen von Adorno kritisch weiterzuentwickeln. Es waren insgesamt v.a. die Cultural Studies, die sich um eine kritische Weiterentwicklung der Auseinandersetzung der Kritischen Theorie mit der Populär- und Medienkultur bemüht haben, gerade im Hinblick auf die Diskussion der in den Kultur- und Medienanalysen Adornos zu eindimensional ausgearbeiteten Themen (aktive, eigensinnige) Medienaneignung, Widerständigkeit bzw. Subversion der Populär- und Medienkultur sowie Unterhaltung – zwei Themen, die letztlich schon Brecht57 und Benjamin (1977: 39) diskutiert haben. Gleichwohl gehören diese Themen bis heute, zusammen mit der Frage nach Institutionalisierungsmöglichkeiten der Medienkritik sowie der Legitimation der Kritikmaßstäbe und der Rolle des Medienkritikers, zu großen Problemfeldern gesellschaftskritischer Medientheorien. In diesem Kontext muss der Aufsatz Kritische Medientheorie – die Perspektive der Frankfurter Schule von Müller-Doohm (2000) erwähnt werden. Dieser Beitrag könnte zu einer Integration medienkritischer Reflexionen im Feld sozialwissenschaftlicher Medienforschung beitragen, da die Kritische Medientheorie, neben der Systemtheorie, dem Poststrukturalismus, dem Cultural Studies Approach und der Publikumsforschung, zu den zentralen Theorien der Medien- und Kommunikationssoziologie gezählt wird. Auch Göttlich (2005) stellt aktuell Medienkritik als zentrales Feld (medien-)soziologischer Forschung dar. Allerdings präsentiert Göttlich ein verzerrtes Bild der Geschichte, Inhalte, Fragestellungen, Praxisfelder und Akteure sozialwissenschaftlicher Medienkritik.58 Dieses reicht u.a. von einer problematischen Hervorhebung der Literaturkritik als Grundform des medienkritischen Diskurses, über eine durchgehend unpräzise Begriffsarbeit59 und eine stereotype Darstellung der Kulturindustriekritik sowie der Medienanalysen bzw. -kritik von Adorno (vgl. Kap. 2.4.), bis hin zur feldhistorisch fragwürdigen Einteilung60 in die drei Entwick57 Brecht nutzte u.a. eines der Unterhaltungsformate des Radios, d.h. das Hörspiel, um seine Gesellschaftskritik medial zu inszenieren. Prominente Hörspielproduktionen von Brecht sind Mann ist Mann (1927), Macbeth (1927), Lindberghflug (1927) bzw. Ozeanflug (1950). Andererseits entwarf er in seinen Radio-Essays (vgl. u.a. Brecht 1997a/b) Überlegungen, unter welchen Bedingungen Medien emanzipatorisch und kritisch genutzt werden könnten. 58 Die Maßstäbe der Kritik an der Darstellung von Göttlich ergeben sich aus der Systematisierung des medienkritischen Feldes, wie sie im Kapitel 3. der vorliegenden Studie präsentiert wird. 59 Eine zumindest heuristische Definition des Medien- und Kritikbegriffs sucht man zudem vergebens. 60 Als Beispiel für problematische feldhistorische Einteilungen kann folgende Passage hervorgehoben werden: »Die Arbeiten Theodor W. Adornos, Walter Benjamins, Siegfried Kracauers und Leo Löwenthals zu unterschiedlichen Bereichen der Massenkultur- und Kulturindustrieentwicklung stellen erstmals exemplarische Beispiele für Medienkritiken dar, die zugleich kultur- und sozialtheoretisch eingebunden waren und parallel mit der Entwicklung der noch jungen Dis-

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lungsphasen Literaturkritik, Massenkulturkritik und Kritik öffentlicher Kommunikation, nicht transparenten Referaten theoretischer Positionen sowie einem schwer nachvollziehbaren Bezug zur Wissenssoziologie, als Herausforderung für die gegenwärtige Entwicklung der (sozialwissenschaftlichen) Medienkritik. Andererseits muss auf den Aufsatz Media Critique von Miller (2004) verwiesen werden – allerdings ist die Darstellung von Miller auf die USamerikanische Gesellschaft und deren Mediensystem sowie auf medienkritische Ansätze zu deren Verständnis beschränkt. Medienkritik fokussiert sich für Miller wesentlich auf zwei Aspekte: Inhaltsanalyse und Wirkungsforschung. Sechs Themen stünden, so Miller (ebd.: 494), im Fokus US-amerikanischer Medienkritik: die Erfahrungs- und Erlebniswelten der Mediennutzer; die Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Medienkonsum und daran orientiertem Verhalten; Inhaltsanalyse von Medien-Programmen; die Erforschung psychischer Prozesse beim Medienkonsum; und die Diskussion ökonomisch-politischer Fragen der Medienwirklichkeit, unter anderem hinsichtlich der Regulierung des Medienmarkts, von Medienunternehmen und -inhalten sowie die Folgen von Medienkonzentrationen. Zudem zeichne sich Medienkritik durch eine umfassende Historisierung ihrer Untersuchungskontexte aus, d.h. einer Diskussion der Bedingungen, unter denen Medienangebote produziert, verbreitet, rezipiert und kritisiert werden (vgl. ebd.: 498). Eine weitere Stimme der amerikanischen Medienkritik findet sich bei Kellner (u.a. 1982). In seinem Aufsatz Kulturindustrie und Massenkultur. Die Kritische Theorie und ihre Folgen geht es um eine kritische Würdigung der Ansätze der Kritischen Theorie, vor dem Hintergrund der Diskussion um deren Bedeutung für die amerikanische Massenkommunikationsforschung. Kellner beginnt seine Überlegungen mit dem Hinweis, dass sich die einflussreichsten Beiträge zu einer Theorie der Massenkommunikation und der Massenkultur in den Analysen der Kulturindustrie fänden (ebd.: 482). Das Interesse von Adorno und Horkheimer gelte der Bedeutung von Massenkommunikation und Massenkultur, hinsichtlich der Reproduktion des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Kellner (vgl. ebd.: 489) betont, dass der Terminus Kulturindustrie die Macht der bestehenden Gesellschaft bezeichne, in der Kultur, die traditionell als zentraler Aspekt von Aufklärung, Humanität und Freiheit aufgefasst wurde, zu einem Instrument der sozialen Kontrolle verkommen sei. Die Theorie der Kulturindustrie stelle somit ein Modell dar, das die Massenmedien als Instrumente der Manipulation bezeichne. ziplin Soziologie ihren Aufschwung nahmen« (Göttlich 2005: 168). Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Medienkritik ist allerdings die Öffentlichkeitstheorie, die bereits bei Schäffle und Marx eine kultur- und sozialtheoretische Fundierung aufweist und bedeutend früher auf die konstitutive Rolle von Medienanalyse und -kritik im Feld sozialwissenschaftlicher Forschung hinweist (vgl. Kap. 2.).

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Intensiv beschäftigt sich Kellner (vgl. ebd.: 490) mit der Leistung der Kritischen Theorie beim Aufbau der US-amerikanischen Massenkommunikationstheorie, wobei er zum Schluss kommt, dass diese Disziplin ohne die Kritische Theorie eine andere Gestalt angenommen hätte. Kellner61 betont allerdings auch, dass, im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer, Lazersfeld62 sowie später Mills (1955, 1962, 1963b), nicht von einer direkten Manipulation durch Massenmedien ausgegangen seien. Bei der Betrachtung des Verhältnisses der Kritischen Theorie zur Populärkultur hebt Kellner (ebd.: 498f.) hervor, dass das »Konzept der Kulturindustrie und die Betonung der in der zeitgenössischen Gesellschaft zentralen Rolle von Massenmedien und ›popular culture‹ [...] in den Werken von Erich Fromm (1955), Leo Löwenthal (1961) und Herbert Marcuse (u.a. 1968) popularisiert und in die Gesellschaftstheorie eingebracht [wurden]. Fromm unterstrich die Bedeutung der Massenmedien bei der Erzeugung einer passiv-rezeptiven Charakterstruktur, und Löwenthal entwickelte historisch-kritische Analysen der ›popular culture‹«. Die Forschungen der Kritischen Theorie zur Populärkultur seien, so Kellner (ebd.: 506), ein wesentlicher Bestandteil ihrer Gesellschaftskritik. Diese Forschungen seien zwar zumeist, v.a. bei Horkheimer und Adorno, negativ konnontiert, würden aber dennoch auf den zentralen Aspekt hinweisen, dass die Populärkultur ein Feld von Machtkämpfen bzw. ein Ausdruckfeld gesellschaftlicher Macht sei, die man analysieren sowie kritisieren müsse, um gegen den Ausbau gesellschaftlicher Machtzentren Einspruch zu erheben. Die Würdigung und Kritik der Rolle der Kritischen Theorie für die amerikanische Massenkommunikationsforschung, fällt bei Kellner (ebd.: 507) allerdings ambivalent aus: »Viele Tendenzen, wie sie die Kritische Theorie in den dreißiger und vierziger Jahren in Amerika beobachtete, haben sich in den folgenden Jahrzehnten beängstigend entfaltet, und bis heute kann es keine Medientheorie an Eindringlichkeit, Brillanz der Formulierung und provokativer Einsicht mit der klassischen kritischen Theorie der Kulturindustrie aufnehmen [Hervorhebung im Original – MSK]«. Andererseits übt Kellner (ebd.: 507ff.) aber auch eine deutliche Kritik an diesen Ansätzen: Erstens würde das Mediennutzungsverhalten bzw. die Medienaneignung zu eindimensional beschrieben, ohne zu berücksichtigen, dass die Mediennutzer der Kulturindustrie nicht bedingungslos unterworfen seien und so rezipieren, also handeln und denken würden, wie es die Medienproduzenten vermeintlich voraussetzten. Vielmehr müsste von einer eigensinnigen, kreativen Mediennutzung ausgegangen werden, d.h. unterschiedliche Individuen und soziale Gruppen 61 Hier und im Folgenden wird die Literatur von Autoren, auf die sich Kellner bezieht, so zitiert, wie sie sich in seinem Aufsatz findet. 62 Vgl. Lazarsfeld (1941, 1968); vgl. Lazarsfeld/Berelson/Gaudet (1948); vgl. Lazarsfeld/Katz (1955).

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nutzen Medienangebote auf je unterschiedliche Weise und zwar gemäß ihrer je spezifischen sozialen, individuellen, kulturellen und historischen Situierung. Zweitens sei es, so Kellner, fraglich, ob die Behauptung, dass die Kulturindustrie bzw. die Populärkultur nur die Ideologien der bestehenden Gesellschaft, also der herrschenden Klassen reproduziere, haltbar sei oder man nicht auch davon ausgehen könne, ob es in der Kulturindustrie bzw. Populärkultur nicht auch emanzipatorische Momente gebe. Drittens sei die Theorie der Kulturindustrie a-historisch, weil das »Frankfurter Modell der Kulturindustrie [...] unterschiedslos Erfahrungen der Weimarer Zeit, des Faschismus und der Vereinigten Staaten zur Zeit des New Deal [verallgemeinert], ohne auf das Besondere der Kulturindustrie in den verschiedenen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften einzugehen« (ebd.: 509). Versuche zur Systematisierung sozialwissenschaftlicher Medienkritik

Umfassende sozialwissenschaftliche Studien zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik, mit Fokus auf die Ansätze der Kritischen Theorie und dem Cultural Studies Approach, haben Kausch (1988) und Göttlich (1996) ausgearbeitet. Kausch hat mit seiner Studie Kulturindustrie und Populärkultur die erste umfassende Darstellung der Medientheorien der Kritischen Theorie vorgelegt. Hierbei unterscheidet er (Kausch 1988: 237f.) idealtypisch zwischen drei Hauptströmungen der kritischen Medientheorien: Zunächst nennt er die »Naiven«, die eine einfache Manipulationstheorie und ein dementsprechend monokausales Stimulus-ResponseModell vertreten. Den Massenmedien der total verwalteten Gesellschaft müssen, aus dieser Perspektive, kleine alternative Mediennetze oder Formen proletarischer Gegenöffentlichkeit entgegengesetzt werden. Als zweite Hauptströmung spricht Kausch von den »Fundamentalisten«, die ein dialektisches Stimulus-Response-Modell entwickeln, »in dem kulturindustrielle Produktion und Konsumtion [...] [sich] in einen hermetisch abgeschlossenen Verblendungszusammenhang« befinden. Die »Realisten« sind für Kausch die dritte Hauptströmung. Dieses Modell vertritt einen offenen dialektischen Stimulus-Response-Ansatz und kennt »keine eindeutig bestimmten Systemgrenzen und auch keine eindeutig empirisch verifizierbare Grenze zwischen Populärkultur und Kunst.« Göttlich ging es in seiner Studie Kritik der Medien einerseits um den Versuch einer theoriegeschichtlich angelegten Klärung der Schlüsselprobleme kritisch-materialistischer Medientheorien, unter besonderer Berücksichtigung der Ansätze von Leo Löwenthal und Raymond Williams, andererseits um die Vermittlung zwischen Kritischer Theorie und Cultural Studies Approach, im Interesse der Reformulierung einer Kritik der Medien. Grundlegend für den Ansatz von Göttlich (ebd.: 24, 309f.) sind u.a. das Verständnis von Kommunikationsforschung als Kulturwissenschaft und von Medien als Durchgangspunkte sozialer Praxis: »Hie-

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rüber können die Elemente einer Medienkritik als Momente kultureller Praxis eingebracht werden, die sich eben nicht nur auf eine Kritik der inhaltlichen Seiten des Medienangebots und dessen möglicher Wirkungen beziehen, sondern auch auf die Möglichkeiten von Kontrolle, Partizipation und Einflussnahme der Zuschauer bei der Nutzung und Fortentwicklung gesellschaftlicher Kommunikationssysteme eingehen. [...] Ein Ziel der Cultural Studies ist es hier, den Zuschauern Kompetenzen im Umgang mit der Kulturindustrie zu vermitteln, um den hegemonialen Kräften einer massen- bzw. populärkulturellen Vereinnahmung widerstehen zu können«. Die Medienkritik der Cultural Studies verfolgt also das Ziel, zum einen den Möglichkeiten neuer Praxisformen nachzugehen und zum anderen, »von der Ebene der Technologie ausgehend – bzw. der Ebene neuer kultureller Formationen und Bewegungen« (ebd.: 311) sich zudem mit Medien und Medieninhalten auseinander zu setzen bzw. diese zu kritisieren. In zwei aktuellen Publikationen setzt sich Prokop (2003, 2005) dezidiert mit den Möglichkeiten der Weiterentwicklung der KulturindustrieKritik auseinander. In seiner Adorno-Festschrift, zu dessen 100. Geburtstag im Jahr 2003, arbeitet er eine negative Dialektik der Kulturindustrie aus, die sich auf die Spannungsfelder Identisches versus Nichtidentisches63, Tauschabstraktion versus Produktivkräfte, positivistische versus kritische Erfahrung (vgl. Prokop 2003: 21, 33ff.), Subjekt-unterdrückende versus Subjekt-ermächtigende Momente der Kulturindustrie, NichtQualität versus Qualität64 fokussiert. Prokops (ebd.: 43ff.) neues dialektisches Modell der Kulturindustrie besteht aus drei Ebenen: einer »Antithesis über kulturindustrielle Unfreiheit [Hervorhebung im Original – MSK]«, die betont, dass die Kulturindustrie ausschließlich vom Identi63 Das Nichtidentische ist für Prokop (2003: 295) »eine Suche nach Grenzüberschreitungen zum Unvertrauten« bzw. nach dem Anderen des Alltags. 64 Ausgangspunkt seiner Diskussion des Qualitätsbegriffs ist folgende AdornoPassage (1997u: 346): »Immerhin, wer überhaupt einmal den Unterschied zwischen einem konsequenten und reinen Gebilde und einer Schnulze, zwischen einem Stück, das etwas ausdrückt, und einem, das sich anbiedert; zwischen einem, das die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zieht; und einem, das die Konsequenzen abbiegt; zwischen einem, das über die Mittel selbständig verfügt, und einem, das erprobte Wirkung imitiert – wer solche Unterschiede überhaupt einmal wahrgenommen hat und zugesteht, der gesteht damit, ob er es will oder nicht, auch der Möglichkeit objektiver Unterscheidung zu.« Prokop betont allerdings, dass es auch in der Medienkulturindustrie objektive Qualität gibt und diese, entgegen Adorno, nicht nur ein Ort ist, an dem die Ausbildung autonomer Kreativität (in Produktion und Konsumption), kreativer Warenstrategien sowie von Freiheit und Medien-Produkten als Gebrauchswerten verhindert wird, weil für ihn Kulturindustrie von der Herrschaft des Tauschwertes und dem Fetischcharakter der Ware bestimmt wird. Für Prokop können aber nicht nur in der autonomen Kunst bzw. Musik, sondern auch in der Kulturindustrie, Tragik, Sehnsucht, die Suche nach dem Wahren, befreiendes Lachen usw. erfahren bzw. erlebt werden (vgl. auch Prokop 2002b: 133, 137). Als Qualitätsdimensionen im Fernsehen nennt Weiß (1997: 188ff) Vielfalt, Relevanz, Professionalität, Rechtmäßigkeit und Akzeptanz (vgl. auch Hasebrink 1997).

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schen, der Waren-Wertform65, der Tauschabstraktion und den »materiellen Gesetzmäßigkeiten der Produktionsverhältnisse [Hervorhebung im Original – MSK]« bestimmt wird. Zweitens, einer »Thesis über kulturindustrielle Freiheit [Hervorhebung im Original – MSK]«, durch die auf kulturindustrielle Produktivkräfte und »Elemente des Nichtidentischen, die ein Denken im Widerspruch, einen kritischen Erfahrungsmodus hervorbringen [Hervorhebung im Original – MSK]«, hingewiesen wird. Kulturindustrielle Produktivkräfte zeichnen sich für Prokop (ebd.: 209) durch ihre Widerständigkeit, etwa gegen Standardisierungen und Typisierungen, aus; durch ihre Potentiale zum Ausbau gestalterischer und technischer Mittel; durch das Ansprechen des Verstandes und der Phantasiearbeit des Publikums; zur Ausdifferenzierung der Kennerschaft des Publikums, z.B. hinsichtlich des historischen Entwicklungsstands der Gestaltungsmittel und durch ein kritisches Denken, das Leiden und Widerspruch artikuliert sowie an der Idee eines richtigen Lebens festhält: »Das wirklich freie Subjekt ist eines, das sich von seinem individuellen Lebenskampf, vom Geprägt-Sein hierdurch, zu distanzieren vermag. […] Dass sich weltweit die Unabhängigkeit des Subjekts – die produktive, ichstarke Negation des eigenen Geprägt-Seins – nicht an Hand politischer oder soziologischer Aufklärung herstellt, sondern im Mit-Leiden am Schicksal einer Prinzessin oder eines Fußballtrainers; im formalsten Spiel eines Actionfilms oder einer Gameshow – damit muss Kritik fertig werden« (ebd.: 290).66 Hiermit betont Prokop, dass Medien-Produktivkräfte auch durch Medien-Produktionsverhältnisse ermöglicht werden können, Kreativität und Freiheitsmomente in den Waren-Strukturen, Waren-Strategien und Waren-Formen enthalten sein können. Eine Weiterentwicklung der Kulturindustrie-Kritik Adornos besteht für Prokop in diesem Kontext darin, das Spannungsfeld sowie die Vermittlung zwischen kulturindustrieller Freiheit und Unfreiheit zu analysieren. Hierzu entwickelt Prokop (ebd.: 50) eine »[ü]bergreifende Thesis über die dialektische Vermittlung« beider Ebenen: »Das Nichtidentische der Kulturindustrie – Produktivkräfte, unperfekte Waren-Wertform, kritischer Erfahrungsmodus – verhindert, dass deren Identität in ewiger Wiederholung erstarrt. Umgekehrt ist das Identische der Kulturindustrie – Tauschabstraktion, perfekte Waren-Wertform, positivistischer Erfahrungsmodus – Voraussetzung der Entfaltung ihres Nichtidentischen, denn es bietet einfaches, leicht konvertibles Material der Welterfahrung [Hervorhebung im Original – MSK].« Die Position des Medienrezipienten beschreibt er (ebd.: 295) als die eines Spielers, der sich (permanent und bewusst) zwischen dem Identischen (der Abbildung der Wirklichkeit in ihren status quo bzw. das, durch das gesellschaftliche Umfeld Defi65 Zur Unterscheidung verschiedener Waren-Wertformen und Waren-Strategien vgl. Prokop (2003: 272-276). 66 Vgl. hierzu auch Prokops (2003: 296ff.) Ausführungen zur Suche nach dem Nichtidentischen, im Spiel mit dem Unvertrauten in populären Universen.

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nierte) und dem Nichtidentischen (das Widerständige, Undefinierbare, Unterdrückte) hin und her bewegt, immer vom rationalem Interesse begleitet, sowohl vom Unvertrauten ins Vertraute, als auch vom Vertrauten ins Unvertraute wieder zurückzugelangen. Hiermit behauptet Prokop aber nicht, dass die Medienrezipienten völlig frei seien, sich ihre (Medien)Welt selbst zu gestalten. Vielmehr sind die »die tauschabstraktiven medienkulturellen Muster vorgegeben. Weder können sich die Konsumenten zusammenfantasieren, was sie wollen, noch können die Medienproduzenten, die Macher, tun was sie wollen. Von beiden Seiten her geht es um etwas Gesellschaftliches, ein sicheres Spiel.« Prokop betont zwar, dass sein Neuansatz konstitutiv mit bedenke, was die empirischen Subjekte für angemessen hielten, also nicht einfach über die Medienrezipienten geurteilt werde, wie dies für Adorno typisch war. Dennoch ist auch seine Betonung der Medienrezeption als eines sicheren Spiels eine, wenngleich offenere Behauptung, die er an keiner Stelle belegt, sondern sie vielmehr nur postuliert. Auch durch die Faszination an kulturindustriellen Angeboten könnten sich die Rezipienten, so Prokop (1979: 1), potentiell einer umfassenden Manipulation (bedingt) entziehen: »Wenn man von etwas fasziniert ist, wird man vom betreffenden Gegenstand nicht vollständig manipuliert. Die Aufmerksamkeit ist fixiert, aber bei wachem Ich.« Fraglich ist bei den Unterscheidungen von Prokop, ob alle Betrachtungsebenen nicht allererst durch die jeweilige (diskursive und/oder geschmackliche) Hinsicht bzw. Nutzung kulturindustrieller Angebote entstehen und weniger den konkreten Warencharakter der einzelnen Produkte kennzeichnen, also nicht ausgehend von konkreten Produktanalysen gewonnen, sondern nur behauptet werden. Problematisch an Prokops Hinweis auf kulturindustrielle Produktivkräfte und Freiheitsmomente, die kritisches Denken und eigensinnige Erfahrungen ermöglichen, ist weiterhin, dass er diese zwar an einigen Beispielen, etwa dem Film Pulp Ficition oder Stefan Raabs Sendung TV total, veranschaulicht, hierbei aber nicht auf die Medien-Produkte selbst eingeht, d.h. diese einer mehrstufigen Analyse unterzieht, die detailliert aufzeigt, wie sich Antithesis und Thesis bedingen, worin also konkret (fallspezifisch) die Unfreiheitsund Freiheitsmomente bestehen. Prokop spielt hingegen nur diskursive Positionierungen hierzu durch, die zumeist als Stereotype erscheinen, d.h. die jeweiligen Positionen, etwa der Cultural Studies oder der Postmoderne, teilweise nur sehr unpräzise wiedergibt und diese als Kontrastfolie der eigenen Argumentation benutzt.67 67 Dieser Ansatz aus seiner Adorno-Studie wird von Prokop in der 2005 erschienenen Aufsatzsammlung Das Nichtidentische der Kulturindustrie ausdifferenziert. Hier thematisiert Prokop, mit Bezug auf Adornos musiksoziologische Studien (vgl. auch Prokop 2002b: 134ff.), für die die Betonung der Produktivkraft der Spontaneität, als freier Arbeitsmöglichkeit des autonomen Subjekts, zentral ist, und seine Negative Dialektik, das Kreative der Medien-Waren bzw. der Me-

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In den aktuellen Publikationen von Prokop (2003, 2005) finden sich, wenn auch in modifizierter Form, Ansätze wieder, die Prokop seit den 1970er Jahren verfolgt, so z.B. die Auseinandersetzung mit den Machtpotenzialen und Machtgefällen zwischen Produktion und Rezeption von Medien-Produkten oder seine kategorische Ablehnung aller strukturellfunktionalen Ansätze der Kommunikations- und Medienforschung, denn für ihn bedeutet kritische Medienforschung immer auch eine notwendige Opposition zum Bestehenden, ohne das Bestehende aber einer einseitigen Fundamentalkritik zu unterziehen, sondern immer zugleich auch die Freiheitsmomente der sozialen Wirklichkeit bzw. der Medienkulturindustrie hervorzuheben. In Prokops (1974a) Aufsatzsammlung Massenkultur und Spontaneität aus dem Jahr 1974, v.a. aber in dem Aufsatz Versuch über Massenkultur und Spontaneität (1974b), ist dieser Ansatz grundgelegt: »Die Integration der Gesellschaftsmitglieder und ihrer Bedürfnisse, erfolgt in hochindustrialisierten Ländern über die Garantie von Wohlfahrtsminima: Die Garantie von Vollbeschäftigung und eines bestimmten Konsumniveaus durch staatliche Interventionen, sichert von Seiten der Gesellschaftsmitglieder eine gewisse ›Toleranz‹ gegenüber den Machtund Herrschaftsstrukturen, sofern diese sich als ›funktionsgerecht‹ legitimieren können. [...] Auf der anderen Seite aber sehen sich die hochindustrialisierten Gesellschaften ständig mit der Möglichkeit konfrontiert, dass aus den Primärerfahrungen von manifest sichtbarer und durchschaubarer Regression, Abhängigkeit und Systemirrationalität, die die Gewerkschaftsmitglieder in den Fabriken, Schulen und Büros machen, alternative Bedürfnisstrukturen entstehen, die inhaltlich an der Vernünftigkeit der gesellschaftlichen Ordnung, d.h. nicht mehr allein an technischer Effektivität, orientiert sind [...]. [...] Auch die für den Massenkonsum bestimmter Produkte sind gegenüber diesen Erfahrungsstrukturen, Bedürfnissen und Interessen – ›freiere‹, d.h. polypolistische oder manchmal auch oligopolistische Marktformen vorausgesetzt – zumindest tendenziell offen (Slapstickfilm, etc.). In der Ästhetik (in Inhalt und Form) dieser nicht nach Absatzerwägungen industriell durchkalkulierten, aber dennoch massenverbreiteten Produkte artikulieren jene sich auf eine Weise, entwickeln sich Modelle emanzipatorischer Kommunikation, die Ästhetik als exemplarisch für den entwickelten Stand der Produktivkräfte angemessene Kommunikationsformen erscheinen lassen [...]« (ebd.: 44f.). Kennzeichnend für alle Ansätze sozialwissenschaftlicher Medienkritik, die ich herausstelle, ist Prokops Auffassung, dass Medien und dienkulturindustrie, denn dies sei einer der blinden Flecken der KulturindustrieKritik. Bezugspunkte bilden hierbei Adornos Thesen über den Warentausch und die Frage, welche geistige Arbeit hierbei impliziert sei, sowie über die Produktivität in der Musik, aber auch seine Analyse der negativen Dialektik des Identischen und Nichtidentischen. Andererseits betont Prokop, dass die Kulturindustrie-Kritik von Adorno keine negative Dialektik sei, weil sie die Kulturinduistrie nur eindimensional (undialektisch) als das Reich des Bösen aufgefasst habe.

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Kommunikation in ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit analysiert werden müssten, nicht aber als singuläre Phänomene.68 In Anlehnung an Adorno sind für Prokop die widerständigen Momente der Medienkulturindustrie im Feld der Ästhetik zu finden. Diese ästhetischen Freiheitsmomente, das Reich des Nichtidentischen, ist zwar stets an die Unfreiheit des medienkulturindustriell Identischen, also des jeweiligen Angebots der Medienkulturindustrie und des Sinngehalts von deren Produkten rückgebunden, kann aber letztlich nicht in seinen Wirkungen vollständig determiniert werden. Prokop plädiert hierbei für das Aufdecken und Stärken der produktiven Spontaneität, um mit den ästhetischen Mitteln der Massenkultur, die Überwindung des Warencharakters der Kulturprodukte bzw. der Institutionen der monopolitischen Massenkultur voranzutreiben, zumindest aber ein Gegengewicht gegen beide zu initiieren. Entscheidend ist für ihn die emanzipatorische Praxis, die von den Konsumenten selbst ausgehen muss und nicht allein durch die Vermittlung abstrakter Theorie verwirklicht werden kann: »Der emanzipatorische Charakter von Praxis besteht nicht im Konsum emanzipatorischer Tendenz auf der Ebene reinen Bewusstseins, sondern auf der Ebene konkreter Arbeit. Der Aufhebung der Herrschaft implizierenden Arbeitsteilung, die dies zur Folge haben würde, entspricht auf der Bewusstseinsebene die Wiedereinführung der sinnlichen Erfahrung, die Verwandlung abstrakter Sinnlichkeit in menschliche Sinnlichkeit. [...] Die aus einer abstrakten Sinnlichkeit in eine reiche Sinnlichkeit verwandelte Erfahrung des Subjekts ist in der Lage, in der Arbeit am Objekt (in der Produktion oder Rezeption) an eigene Erfahrung, an konkrete Praxis anzuknüpfen« (ebd.: 97f., 100). Genau diese Forderung nach einer eigensinnigen Medienpraxis, die aus den Bedürfnissen der Mediennutzer resultiert, ist bis heute, ebenso wie die praxisbezogenen Möglichkeiten professioneller Mediengestaltung, eine weitge68 »Es geht immer um das Ganze der Medien und der Gesellschaft« (Prokop

2003: 15). Medienkritik ist für Scodari und Thorpe (1993) darüber hinaus nicht nur ein singuläres Feld der Medienforschung, sondern muss stets vor dem Hintergrund der Bedeutung von Kritik in einer und für eine freiheitliche, demokratisch verfasste Gesellschaft diskutiert werden – also im Zusammenhang mit der konstitutiven Interdependenz von Medien und Gesellschaft. Insofern erfordert legitime Medienkritik aus ihrer Perspektive nicht nur intellektuelle und analytische Kompetenzen, sondern auch Verantwortungsbewusstsein hinsichtlich der Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Scodari und Thorpe (ebd.: 8ff.) heben weiterhin drei grundlegende Aspekte der Medienkritik hervor: zum einen Produktkritik als Service für die Mediennutzer; zum anderen müsste Medienkritik als Gesellschaftskritik begriffen werden; letztlich »interpretive analysis«: »Essentially, an interpretive analysis is not a journalistic endeavour, but rather, an academic pursuit targeted toward the critic’s peers as scholars and/or professionals in the board and varied field of communication. It might find its forum in classroom or boardroom, at an academic or professional conference, or in a scholarly or professional journal. It is generally lenghty, detailed, and meticulously conceived and documented. Its argument, while advanced subjectively, must live up to rigorous standards for logic and evidence« (ebd.: 9f.).

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hend unerfüllte Aufgabe jener Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik, die ich als gesellschaftskritische Medientheorien bezeichne. Die Arbeit Medienanalyse. Ansätze zur Kultur- und Gesellschaftskritik von Heinze (1990) ist in diesem Kontext ebenfalls von Bedeutung. Heinze untersucht hier die Funktion, Bedeutung und Wirkungsweise der Massenmedien, Massenkultur und Kunst in der gegenwärtigen Gesellschaft. Dies v.a. aus einer kultur- und gesellschaftskritischen Perspektive, die sich mit der (neuen) anthropologischen Situation der Mediengesellschaft theoretisch und empirisch auseinander setzt. Ausgangspunkt der Studie von Heinze ist folgende Überlegung: »In einer Gesellschaft, in der der technische und ökonomische Fortschritt sich anschickt, zur zentralen Legitimierungsinstanz für soziale Integration zu werden, fällt insbesondere den Sozialwissenschaften die Aufgabe zu, grundsätzliche Überlegungen darüber anzustellen, welche neuen humanen Arbeits- und Lernmöglichkeiten die zu erwartende Entwicklung technischer Medien zu erschließen vermag. Dabei ist zu bedenken, wie das Potential technologischen Wissens und technischer Kapazität in die praktische Lebenswelt handelnder Menschen eingeholt und über alternative Verwendungsweisen kommuniziert werden kann. Wenn wir die sozialwissenschaftliche Phantasie für die Technologie von heute und morgen nicht entwickeln, wird die Technologie die Notwendigkeiten der Gesellschaft diktieren« (ebd.: 12). Heinze weist den Sozialwissenschaften eine entscheidende Rolle zu, die heutige Mediengesellschaft verstehend deuten zu können, erklärt also hiermit Medienanalyse zu einem Kernbereich sozialwissenschaftlicher Forschung. Medienkritik wird in diesem Kontext u.a. als Grundlage zur Ausbildung von Medienkompetenz (vgl. ebd.: 13) verstanden, durch die wiederum die Möglichkeit besteht, Medienrealitäten zu verändern, v.a. von individueller Seite aus (vgl. ebd.: 15).69 Die Auseinandersetzung mit Positionen der (sozialwissenschaftlichen) Medienforschung versteht sich hierbei als Rekonstruktion, die stets die technologischen Veränderungen im Gesellschafts-, Kultur- und Medienbereich sowie die veränderten Rezeptions- und Produktionsbedingungen berücksichtigt, um bloße Traditionsbeschwörung zu vermeiden. Die Arbeiten von Göttlich, Kausch und Heinze weisen insgesamt die Tendenz auf, die Ansätze der Kritischen Medientheorien v.a. durch eine konstruktive Auseinandersetzung mit der populären Kultur sowie durch Methoden empirischer Medienforschung weiterzuentwickeln, um die Lebenswelt der Rezipienten, ihre Bedürfnisse und Erfahrungen besser ver69 Zentrale Theoretiker, die Heinze diskutiert, sind Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Günther Anders, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Haug, Herbert Marcuse sowie Herbert Marshall McLuhan, als Kontrast zu den Ansätzen der Kritischen Theorie. Weiterhin beschäftigt sich Heinze mit der Bedeutung des Theaters, mit qualitativen Methoden zur Codierung und Decodierung von Produkten der Massenkultur und präsentiert Fallanalysen zur populären Kultur, etwa die Fernsehserien Dallas und Denver sowie zur BILD-Zeitung.

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stehen zu können. Zusammen mit den Arbeiten von Prokop70 können sie als die bisher umfassendsten, systematischen sozialwissenschaftlichen Versuche, Medienkritik als genuines Feld sozialwissenschaftlicher Medienforschung darzustellen, verstanden werden – dies gilt zu großen Teilen auch für den internationalen Forschungskontext, sieht man von den einzelnen Ansätzen der Cultural Studies, wie z.B. denen von Fiske und Kellner, ab (vgl. in diesem Kap. Fußnote 75). Allerdings sind diese Ansätze auf spezielle Erkenntnisinteressen fokussiert und daher nicht in der Lage, einen systematischen Überblick über das Feld sozialwissenschaftlicher Medienkritik zu geben. Diesen Mangel einerseits zu überwinden sowie andererseits das Feld sozialwissenschaftlicher Medienkritik, das sie, in Anlehnung an Kleiner (2004), unter dem Konzept einer gesellschaftskritischen Medientheorie zusammenfassen, grundlegend aufzuarbeiten und auszudifferenzieren, haben sich Marcus S. Kleiner und Jörg-Uwe Nieland gegenwärtig zur Aufgabe gemacht.71 Ihr Ausbau der Medienkritik ist hierbei nicht nur auf das sozialwissenschaftliche Feld beschränkt, sondern als bisher in dieser umfassend-systematischen Form noch nicht vorhandene Standortbestimmung der Medienkritik zu verstehen. Dies v.a. im Hinblick auf die konstitutive Bedeutung der Medienkritik für gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse sowie die gesellschaftliche und individuelle Konstruktion von Wirklichkeit. Kleiner und Nieland beschränken sich nicht auf einen Gang durch die Diskurse, sondern ihr Ziel ist es, medienkritische Praxisformen und Kommunikationsnetzwerke auf unterschiedlichsten Ebenen anzuregen bzw. (selbst) zu gestalten, durch die Medienkritik allererst gesellschaftliche Nachhaltigkeit erzielen könnte. Leitend für mein Verständnis einer gesellschaftskritischen Medientheorie, das ich im Folgenden vorstelle, ist Adornos Verständnis von Soziologie. Die Wissenschaft von der Gesellschaft muss, wie es in Adornos (2003: 31) Einleitung in die Soziologie heißt, »Einsicht in das, was ist« liefern, »aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ›der Fall ist‹ [...] an dem misst, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch [zwischen Sein und Sollen – MSK] zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren.« Dieser kurze Überblick über die Geschichte der Marginalisierung von Medienkritik im Feld sozialwissenschaftlicher Medienforschung, 70 Vgl. Prokop (1970, 1972, 1973, 1974a/b/c, 1977, 1979, 1981, 1985a/b/c, 1986a/b, 1995, 1998, 2000, 2001, 2002a/b, 2003, 2004, 2005a/b). In Deutschland hat sich kein Vertreter kritischer Sozial- und Medienforschung, nach Adorno, so kontinuierlich und intensiv mit dem Feld der Medien auseinandergesetzt, wie Prokop (vgl. Jacke 2004: 100). 71 Vgl., abgesehen von der grundlagentheoretischen und fallspezifischen Arbeit in dieser Studie, u.a. Kleiner (2006); Nieland (2002, 2004); Nieland/Schatz (2004); Nieland/Schatz/Weichert (2005); Kleiner/Nieland (2007a/b); Hallenberger/Nieland (2005a).

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wird im Folgenden mit dem Nachweis einer lebhaften Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik konfrontiert. Grundpositionen sozialwissenschaftlicher Medienkritik

Der Diskurs gesellschaftskritischer Medientheorien, auf den ich mich beziehe, setzt mit der Marxschen Diskussion des Themas Pressefreiheit und Zensur bzw. seiner medialen Öffentlichkeitstheorie sowie Schäffles Thesen zur Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung durch die Presse ein (vgl. Kap. 2.2.1.). Dieser sozialwissenschaftlichmedienkritische Diskurs erhält seine bisher prägnanteste, weil umfassendste gesellschafts- und medientheoretische Ausprägung in den Studien von Adorno, der wie kein anderer im Feld gesellschaftskritischer Medientheorien versucht hat, Medienkritik als Gesellschaftstheorie zu entwerfen und damit betont, dass Medien- und Gesellschaftsanalyse sich notwendig bedingen bzw. ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht sind. In den 1970er Jahren wird der Ansatz Adornos sowie der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien aus der Perspektive einer materialistischen Gesellschafts- und Medientheorie weiterentwickelt. Unter einer materialistischen Medientheorie bzw. einer Medienkritik verstehe ich eine Kritische Medientheorie als materialistische Gesellschaftstheorie.72 Hierbei ist, wie Baacke (1974b: 7) betont, der Ausgangspunkt der medienkritischen Reflexionen nicht die genuine Auseinandersetzung mit den Medien selbst, sondern diese werden in den Kontext einer materialistischen Gesellschaftstheorie gestellt, das System der Massenkommunikation wird entsprechend als Bestandteil und Resultat der kapitalistischen Warenproduktion aufgefasst. Baacke (ebd.) betont, dass hierbei stets versucht wird, »Theorie zur gesellschaftlichen Praxis ins Verhältnis zu setzen, die verstanden wird als antagonistisches Klassenhandeln.« An die72 Zentrale Referenzpunkte für eine gesellschaftskritische Medientheorie sind hierbei die Ansätze von Holzer (v.a. 1967, 1971a, 1974, 1975), Hund (v.a. 1970, 1971, 1976), Kreimeier (1971), Haug (1971), Dröge (v.a. 1972, 1974), 1974), Michel (1973), Prokop (v.a. 1974a/b/c) und Baacke (1977). Einen quellenbezogenen Überblick über einen Teil dieser Debatte bietet Baacke (1974b). Zudem sind in diesem Band die Entgegnungen auf die Texte von Negt/Kluge, Dröge, Holzer, Prokop und Weißborn von Bedeutung (vgl. ebd.: 180-269). Die Beiträge, die im von Buselmeier (1974a) herausgegebenen Band Das glückliche Bewußtsein. Anleitung zur materialistischen Medienkritik versammelt sind, bieten eine weitere Ausdifferenzierung des Feldes materialistischer Medienkritik. Dieser Band wurde bis heute aber kaum wahrgenommen. Buselmeier (1974b: 13ff.) teilt das Feld der materialistischen Medientheorie/-kritik, im Unterschied zu Baacke, in drei Hauptrichtungen ein: erstens, die »radikaldemokratisch-empirische Forschung«, wie sie u.a. durch Holzer vertreten wird; zweitens, der »politökonomische Ansatz«, den etwa Dröge und Hund vertreten; und drittens die »antidogmatisch-marxistische Richtung«, wie z.B. bei Prokop oder Negt/Kluge. Zur Kritik an der materialitischen Medientheorie/-kritik vgl. u.a. Bisky (1976) und Robes (1990).

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sem Ansatz wird deutlich, dass eine der Hauptkritiken materialistischer Medientheorie/-kritik an der Medienkritik von Adorno, in dessen Praxisdistanzierung und seiner Zurückhaltung politischen Positionierungen gegenüber, besteht, d.h. der Weigerung, mit seiner Theorie Handlungsanweisung zur Gestaltung einer gesellschaftlichen Praxis zu geben. Weiterhin wird an Adorno kritisiert, dass er die konkreten historischen Erfahrungen und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse (bzw. der Medienrezipienten) in seinen Studien aus dem Blick lässt. Andererseits ist für die Vertreter einer materialistischen Medientheorie/-kritik zentral, dass die Analyse der gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse, des Mediensystems und der Medienprodukte nur aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, die auf Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit zielt, möglich ist. Kommunikations- und Medienforschung dürfen, aus dieser Perspektive, also nicht als ein bloß funktionales, positivistisches Sammeln von Daten über die Felder Kommunikation und Medien sein, wenn sie deren gesellschaftliche Bedeutung konstruktiv ernst nehmen. Fraglich hierbei bleibt, wie Dröge (1974: 98ff.) hervorhebt, ob die Praxisvorgabe und der diskursive Allgemeinheitsanspruch der materialistischen Medientheorie/-kritik ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis widerspiegelt, um ausgehend hiervon, die postulierte gesellschaftliche Notwendigkeit zur Veränderung der Medienwirklichkeiten in legitimer Weise umsetzen zu können. Für Baacke (1974b: 16f.) sind es wesentlich sieben Themen, die den Diskurs der materialistischen Medientheorie/-kritik bestimmen: die Kritik an der empirischen Kommunikations- und Medienforschung, v.a. ihre beschreibende und datensammelnde Ausrichtung; die Kritik der politischen Ökonomie der Gesellschaft sowie der Medienproduktion; die umfassende Auseinandersetzung mit der medialen Konstruktion von Öffentlichkeit und den Möglichkeiten von Gegenöffentlichkeiten; die Berücksichtigung der realen Erfahrungen der Bürger (hinsichtlich der Medienrezeption sowie ihrer gesellschaftlichen Situierung, die jene bedingt); kritische Inhaltsanalyse; eine Auseinandersetzung mit den Medienunternehmen, v.a. der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten; und die Diskussion der Kreativpotentiale und Freiheitsmomente in der Medienkulturindustrie.73 73 Prokop (2003: 38) unterzieht die Ansätze einer materialistischen Medientheorie/kritik einer umfassenden Kritik. Sie »setzen abstrakt Kapital und Arbeit entgegen; herrschende Klasse und Arbeiterklasse; Warenform und Gebrauchswert. Das, was ist, war von vornherein schlechte Realität. Das ergab sich nicht aus einer Analyse von realen, empirischen Mechanismen, sondern aus abstrakten ›Ableitungen‹ aus den Gesetzen ›des‹ Kapitalismus; ›des‹ Profitinteresses; ›des‹ entfremdeten Arbeitsprozesses; ›der‹ Klasseninteressen; ›der‹ Funktion der Werbung im Monopolkapitalismus – angeblich verwandelt jene Warenkapital in Geldkapital – etc. Vieles war nicht falsch. Nur: In der Realität der 1970er Jahre gab es zwar Klassen – Schranken des Einkommen, der Schulbildung und der Mobilität –, aber nicht ›das Proletariat‹ und auch ›die Arbeiterklasse‹ nicht.

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Das Anliegen einer materialistischen Medientheorie/-kritik fasst Baacke (1974b: 17f.) entsprechend programmatisch zusammen: »Theorie und Praxis und die beide anleitende Strategie: diese Stichworte fassen noch einmal zusammen, was jetzt an der Zeit ist, wissenschaftlich für die Praxis und mit der Praxis abzuklären. Medienpolitik braucht Medientheorie, die sich wohl gefallen lassen muss, dass man auch eklektisch von ihr Gebrauch macht. ›Gebrauchswert‹ erlangt sie nur, wenn sie auch zur Verfügung steht. [...] Die hochgespannten Erwartungen in den Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, haben ihren euphorischen Charakter verloren. Die Medien haben die Welt bisher nicht radikal verändert, wie man das wohl erwartete. Dennoch bleiben sie Träger einer legitimen Utopie: dass sie nicht Instrumente weniger sein sollten, sondern in einer durch und durch arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, Widersprüche und Konflikte, aber auch Erwartungen, Hoffnungen und Befriedigungen allgemein machen – nicht, damit jeder sie in ihrer Gesamtheit teile, aber damit jeder ›Bescheid weiß‹ und die Möglichkeit hat, seine Erwartungen für sich und seine Gruppe zu artikulieren [Hervorhebung im Original – MSK]« (vgl. Buselmeier 1974b: 17). In den 1980er und 1990er Jahren widmet sich der von mir herausgestellte Diskurs sozialwissenschaftlicher Medienkritik einerseits der Fernsehkritik, wie sie sich z.B. in den Studien von Neil Postman (1992), Joshua Meyrowitz (1990a/b), Todd Gitlin (1977, 1981, 1987, 1994), Pierre Bourdieu (1998; vgl. hierzu Kap. 2.4.), Herbert I. Schiller (1988, 1989) oder Horace Newcomb (1974, 2000; vgl. Newcomb/Hirsch 2000) findet. Gegenstand der Untersuchung von Postman ist die grundlegende Transformation einer Schrift- in eine Bild(schirm)kultur und die daraus resultierenden sozialen und individuellen Wandlungsprozesse, die nicht nur diskursiv, sondern v.a. medientechnisch bedingt sind. Postman bezieht sich hierbei wesentlich auf die amerikanische Gesellschaft. Solange sich das Fernsehen, wie Postman betont, darauf beschränkt, nur Entertainment zu produzieren und inszenieren, gibt es kein Problem. Erst wenn das Fernsehen versucht, »Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften« zu werden, wird dieses Medium zur Bedrohung für den öffentlichen, aufgeklärten Diskurs, der seine Wurzeln in der Buchdruckkultur hat – zumal es sich beim Fernsehen um das Leitmedium (westlicher) Kulturen handelt (vgl. Postman 1992: 26f.). Problematisch am Fernsehen ist für Postman (ebd.: 110) also nicht, dass es unterhaltsame Themen präsentiert, sondern gerade jedes Thema als Unterhaltung inszeniert.74 Und ›die Warenform‹ ist nicht das Böse schlechthin – und um Warenkapital in Geldkapital verwandeln zu können, müsste Werbung zunächst einmal wirken, doch weiß niemand, ob Werbung wirklich Wirkungen auf das Kaufverhalten hat, […] vielleicht ist Werbung eine Form der Vernichtung von Kapital? […] Das alles ging in den ›Ableitungen‹ unter [Hervorhebung im Original – MSK].« 74 Den Unterschied zwischen Schrift- und Bild(schirm)kultur beschreibt Postman (1992: 82, 114ff.) als eine Entwicklung vom Zeitalter der Erörterung hin zum Zeitalter des Showbusiness: »Ich möchte diese Zeit, in der der amerikanische

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Meyrowitz spricht von der Fernsehgesellschaft, in der das Private immer mehr in die Öffentlichkeit gezogen wird und in der das Fernsehen den politischen Helden von seinem Sockel stößt. Newcomb und Hirsch betonen die kulturelle Dimension des Fernsehens. Damit positionieren sie sich gegen die, gerade in den USA verbreitetere Auffassung, Rundfunk als Ware bzw. als Wirtschaftsgut zu verstehen. Schiller schließlich analysiert die fortschreitende Kommerzialisierung der Medien und ruft dazu auf, die Machtkonzentration zu begrenzen. Schiller leistet damit eine wichtige Grundlegung für Ansätze der Medienregulierung und Programmaufsicht. Andererseits erhält der Diskurs sozialwissenschaftlicher Medienkritik, auf den ich mich beziehe, in den 1980er und 1990er Jahren einen wichtigen kritischen Impuls durch den Cultural Studies Approach75. Die Cultural Studies haben den medienkritischen Diskurs v.a. durch zwei Aspekte bereichert: zum einen durch ihre grundlagentheoretische und fallbezogene Auseinandersetzung mit dem, von der klassischen kritischen Theorie zu einseitig bewertetem Feld der populären Kultur bzw. der Unterhaltungskultur. Andererseits durch ihre intensive Auseinandersetzung mit sozialen, kulturellen und medialen Macht- und Herrschaftsprozessen sowie der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit in sozialen, kulturellen und medialen Diskursen. Die Aufwertung der Position des Rezipienten, d.h. die Betonung seiner lustvollen Eigensinnigkeit und Aktivität, verstehe ich allerdings nicht als bemerkenswerte Leistung der Cultural Studies, denn, wenn diese per se immer schon existieren, müssen sie nicht aller erst wissenschaftlich legitimiert bzw. die Rezipienten diskursiv befreit werden. Dieser symbolische Versuch der Befreiung der Freien ist letztlich nur eine Umkehrung des Ansatzes der klassischen Geist unter der Souveränität der Druckerpresse stand, das Zeitalter der Erörterung nennen. Die Erörterung ist zugleich Denkweise, Lernmethode und Ausdrucksmittel. Fast alle Eigenschaften, die wir einem entfalteten Diskurs zuordnen, wurden durch den Buchdruck verstärkt, der die stärkste Tendenz zu einer erörternden Darstellungsweise aufweist: die hochentwickelte Fähigkeit zu begrifflichen, deduktivem, folgenrichtigem Denken; die Wertschätzung von Vernunft und Ordnung; der Abscheu vor inneren Widersprüchen; die Fähigkeit zur Distanz und zur Objektivität; die Fähigkeit, auf endgültige Antworten zu warten. […] [D]as Zeitalter der Erörterung [neigte sich] mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert seinem Ende zu […] Es kam das Zeitalter des Showbusiness. […] Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an […]. Es gibt dabei nicht viel zu sehen. Mit einem Wort, Denken ist keine darstellende Kunst. Doch das Fernsehen erfordert die Kunst der Darstellung […]. Aus dem Wesen dieses Mediums ergibt sich, dass es den Gehalt von Ideen unterdrücken muss, um den Ansprüchen optischer Anziehungskraft, das heißt: den Wertmaßstäben des Showgeschäfts, zu genügen. […] Es geht nicht bloß darum, dass das Entertainment auf dem Bildschirm zur Metapher für jeglichen Diskurs wird. Es geht darum, dass diese Metapher auch jenseits des Bildschirms dominiert.« 75 Hier v.a. durch die Arbeiten von Douglas Kellner (1979, 1982, 1990, 1995, 1997, 2003), John Fiske (1994, 1999, 2001a/b/c), Ien Ang (1990, 1991, 1997, 2003) und Lawrence Grossberg (1982, 1993, 2000a/b).

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Kritischen Theorie, nämlich die vermeintlich Unfreien zu befreien, indem sie zur Freiheit frei gesetzt werden. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit den Mediennutzungen der Mediennutzer eine wichtige Alternative zur Markt- und Medienforschung, die nicht in der Lage sind, die symbolische Konstruktion von Wirklichkeit nachzuzeichnen sowie dem Einzelnen Handlungsmöglichkeiten und Praxisformen im Umgang mit den Medien aufzuzeigen. Gegenwärtig findet sich der sozialwissenschaftlich-medienkritische Diskurs teilweise in den Arbeiten von Klaus Neumann-Braun und Stefan Müller-Doohm76 und, wie bereits erwähnt, v.a. von Kleiner und Nieland sowie Prokop wieder. Letzterer hat seit Anfang der 1970er Jahre mit dem Ziel einer kritischen Weiterentwicklung der Ansätze von Adorno bzw. der Kritischen Theorie versucht, die Entwicklung der Medienkritik, Prokop spricht zunächst von Massenkommunikationsforschung, dann von neuer kritischer Medienforschung, in Deutschland voranzutreiben und kontinuierlich reflexiv zu begleiten: »›Neu‹ ist meine Arbeit, weil ich die Medien, die Kulturindustrie nicht, wie die Klassiker der kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, als Reich des Bösen – des absolut Identischen – ansehe. Die freiheitlichen, kreativen Aspekte müssen herausgearbeitet werden. Wenn man noch mehr ›Positionierung‹ will, kann man das Neue als ›negativ-dialektisches Kulturindustrie-Paradigma‹ bezeichnen« (Prokop 2004: 13). Es sind v.a. sechs Themen, die die neue kritische Medienforschung von Prokop bestimmen: erstens, Kritik am Medien-Oligopol-Kapitalismus; zweitens, Kritik an der bisherigen Medienforschung; drittens, Maßstäbe bzw. analytische Kategorien zur Beurteilung von Qualität und Nicht-Qualität von Medienprodukten zu erarbeiten; viertens, zur Stärkung des autonomen, kreativen Subjekts beizutragen: »Kritische Medienforschung darf nicht der Wirtschaft dienen, sie muss den souveränen Staatsbürgern dazu verhelfen, ihre Bürgerrechte möglichst rational wahrzunehmen« (Prokop 2002a: 13); fünftens, Produktanalysen durchzuführen; und sechstens die Analyse der strukturellen Bedingungen von Medienentwicklungen und Medienwirkungen.77 Zudem hat Prokop durch seine medienpraktischen Arbeiten, er arbeitete von 1980 bis 1988 (vgl. Prokop 2003: 74) als freischaffender Fernsehjournalist, Regisseur und Moderator für ARD und ZDF, schon früh den jüngst im call for papers zur Paderborner-Tagung Kritik der Medien und Medien der Kritik

76 Allerdings nur im Grundanliegen der von ihnen editierten Bände zum Feld von Kultur, Medien, Öffentlichkeit (vgl. Müller-Doohm/Neumann-Braun 1991, 1995, 2000; Neumann-Braun 1999, 2002; Neumann-Braun/Schmidt/Mai 2003). Eigenständige medienkritische Positionen haben beide nicht ausgearbeitet. 77 Zur Bewertung Prokops vgl. u.a. (sehr oberflächlich) Schicha (2003: 119-121), knapp einige Thesen aus den 1970er Jahren zusammenfassend Faulstich (1991: 136ff.) und (bedeutend gründlicher) Jacke (2004: 100-134). Prokop ist aber im Feld sozial- und medienwissenschaftlicher Medienforschung insgesamt marginalisiert, seine Studien haben keine breite Rezeption gefunden.

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als zentral78 herausgestellten »Wande[l] des Medienkritikers vom mediendistanzierten zum medienbeteiligten Beobachter« vollzogen: »Diese Arbeit zeigte mir, wie lebendig die Praxis der Kulturindustrie trotz aller ökonomischen und politischen Machtkämpfe und ›fernsehgerechter‹ Gestaltungszwänge tatsächlich ist. [...] Außerdem lernte ich als Journalist, dass es auf einen zurückfällt, wenn man zu Gunsten rhetorischer Gags die Realität verbiegt« (ebd.). Den bisherigen Schlusspunkt der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien bildet, abgesehen von den Neuansätzen von Kleiner und Nieland, die Kommunikationsguerilla (vgl. Kap. 4.2.).79 Gesellschaftskritische Medientheorien

Grundlegend für mein Verständnis von sozialwissenschaftlicher Medienkritik ist, wie zuvor bereits erwähnt, die Konzeption einer gesellschaftskritischen Medientheorie bzw. von Medienkritik als Gesellschaftstheorie – um die Transparenz zu erhöhen, wiederhole ich an dieser Stelle die Definition aus der Einleitung zur vorliegenden Studie: Gesellschaftskritische Medientheorien thematisieren die sozialen Funktionen und Gebrauchsweisen von Medien, die Wirkungen der verschiedenen Medientypen und Medieninhalte auf Gesellschaft und Individuum, die Rolle der Medien in der Sozialisation des Individuums und in der Ausbildung kollektiver Identitäten sowie die Fähigkeit der Medien zur ideologischen Beeinflussung und zur Manipulation von Konsumentscheidungen sowie zu sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Leitend für gesellschaftskritische Medientheorien sind hierbei zwei Prämissen: Einerseits wird Medienanalyse als Gesellschaftsanalyse begriffen und andererseits Medienkritik als Gesellschaftskritik begründet. Medien und Gesellschaft sind ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht. Die Medien haben gesellschaftliche Grundlagen, die Gesellschaft mediale. Medienentwicklungen werden als ein zunehmend wichtiger werdender Teilprozess allgemeiner Gesellschaftsentwicklungen angesehen. Medientheorie ist daher Element einer Sozialtheorie, Medienkritik, Element einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Den apparativen und technologischen Dispositiven von Medien als Kulturtechniken, der Medialität der Medien, widmen sich gesellschaftskritische Medientheorien hingegen kaum – dies steht im Zent-

78 Für die Veranstalter dieser Tagung, Barbara Becker und Josef Wehner (Institut für Medienwissenschaft), stellt dieser Wandel eine konstitutive Strukturveränderung im Feld der Medienkritik dar, durch die das Feld der Medienkritik neu zu rekonstruieren, auszubauen und zu aktualisieren sei. Dieser Wandel ist aber von Beginn der Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik an, also seit den Arbeiten von Marx und Schäffle, ein konstitutiver Bestandteil der Diskurse und Medienpraxis fast aller Vertreter gesellschaftskritischer Medientheorien. 79 Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.2.

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rum einer nachrichtentechnisch informierten Medienwissenschaft.80 Bei gesellschaftskritischen Medientheorien handelt es sich also erstens, um grundlagentheoretische Reflexionen zum Verhältnis von Medien und Wirklichkeit bzw. Mediensystem und Gesellschaftsstruktur; zweitens, um Kritik an der Wirklichkeit der Medien bzw. des Mediensystems in ihrem jeweiligen status quo sowie an Medienangeboten und deren Vermarktung und drittens, um eine Anleitung zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch sowie zur gestaltenden Veränderung konkreter Medienwirklichkeiten. Gesellschaftskritische Medientheorien setzen sich mit den Medien im Spannungsfeld von Nähe und Distanz auseinander: Sie setzen auf Distanz zu den Medien, da der Versuch, die Differenz von Nähe und Distanz zwischen Medium, Kommunikat (Inhalt) und Rezipient aufzulösen, eine der Grundoperation der Medien, v.a. des Radios und des Fernsehens ist, um Publikumsbindung zu erzielen und den Rezipienten in die Mediensendungen zu integrieren. Eine kritische Medienanalyse muss dieses Vorgehen umkehren. Nur mit einer gewissen Distanz und einigem Überblick kann man erkennen, wie Medien funktionieren und welchen Einfluss sie ausüben. Als Dauer-User oder Medien-Junkie ist man hingegen viel zu narkotisiert, um die medial bedingten Veränderungen im Menschen und seiner gesamten sozial-kulturellen Umwelt wahrzunehmen bzw. zu analysieren. Es geht gesellschaftskritischen Medientheorien darum, das Gewöhnliche ungewohnt zu machen. Nicht nur Distanzierung, sondern auch entfremdete Annäherung zeichnet die Strategie gesellschaftskritischer Medientheorien aus – einerseits in Form (diskursiver) Medienkritik in den Medien, andererseits als Störaktion des alltäglichen Medienbetriebs. Nur durch eine spannungsreiche Interdependenz zwischen Nähe und Distanz kann Medienkritik, zumindest die gesellschaftskritischer Medientheorien, erfolgreich sein. In diesem Kontext möchte ich noch einmal auf den im Paderbornercall for papers als zentral hervorgehobenen »Wande[l] des Medienkritikers vom mediendistanzierten zum medienbeteiligten Beobachter«, »der 80 Dieses Konzept gesellschaftskritischer Medientheorien ist bedeutend umfangreicher als das, was Faulstich (1991: 122-149) darunter versteht. Als gesellschaftskritische Medientheorien bezeichnet er die Ansätze von Walter Benjamin und Max Horkheimer/Theodor W. Adorno als Hintergrundtheorien der Ansätze von Horst Holzer, Hans-Magnus Enzensberger, Dieter Prokop, Oskar Negt/ Alexander Kluge und Franz Dröge. Die Wirkungszeit dieser Anätze wird auf Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre beschränkt, womit Faulstich zahlreiche Ansätze ignoriert, die in diesem Kontext von konstitutiver Bedeutung wären. Gemeinsam sei den von Faulstich als gesellschaftskritische Medientheorien gekennzeichneten Ansätzen, dass sie »[t]echnische Medien [...] im Zusammenhang von Kultur als Prozess, gelegentlich auch im Zusammenhang von Gesellschaft thematisieren. In ihrer kritischen Stoßrichtung formulieren sie auf dem Hintergrund des Aufbruchs von 1968 eine direkte Reaktion auch auf die tendenziell eher affirmativen Kommunikationstheorien, speziell auf die traditionelle Publizistik« (ebd.: 122).

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den Verhältnissen, die er kritisiert, immer schon vorgängig angehört« (Barbara Becker/Josef Wehner), zurückkommen. Diese Formulierung lässt fragen, sieht man einmal von der basalen und nicht als ungewöhnlich zu kennzeichnenden Tatsache ab, dass Medienkritiker fernsehen, Zeitung lesen, im Internet surfen oder ins Kino gehen, ob jeder Medienkritiker selbst in den Medien, die er kritisiert, substanzielle Erfahrungen erlangt haben muss, um seine Kritik sachadäquat äußern zu können. Dies wäre fast unmöglich bzw. würde (wissenschaftliche) Medienkritik so gut wie unmöglich machen. Besteht bezüglich dieser Problematik vielleicht ein Ausweg durch eine, zumindest für den sozialwissenschaftlichen Medienkritiker notwendige Umwandlung dessen, was Schneider (2004) als »Praxis-Theoretiker [Hervorhebung im Original – MSK]« bezeichnet? Schneider hat Dieter Stolte, wie auch Adolf Grimme, Clemens Münster und Klaus von Bismarck, als einen solchen Typ von »Praxis-Theoretiker [Hervorhebung im Original – MSK]« bezeichnet, d.h. als Idealtypus eines Medienakteurs, der zugleich Medienmacher und Medienkritiker ist. Es sind v.a. zwei Aspekte, die Schneider in diesem Kontext hervorhebt: »Stolte [...] [müht und sorgt sich] um Maßstäbe [...], mit denen man Programme von Massenmedien verantworten kann, und als einzigen Maßstab am Ende den Menschen selbst nennt, der Dinge zwar tun oder lassen kann, der jederzeit janusköpfig bleibt, [...] aber immer seine unantastbare Würde behalten muss. [...] Er schreibt die Tradition derer fort, die Fernsehen als ein Instrument zur Erziehung sehen, als ein Fenster zur Welt und jedenfalls nicht als ein Schlüsselloch, durch das man in die dämmrigen Räume der menschlichen Seele schauen kann, wenn plötzlich der Voyeur im Zuschauer erwacht« (ebd.: 11). Neben der Formulierung von konkreten Maßstäben der Produktion und Kritik nennt Schneider als zweites grundlegendes Charakteristikum des »Praxis-Theoretikers [Hervorhebung im Original – MSK]«, Verantwortungsbewusstsein hinsichtlich der Wirkmächtigkeit seines Handelns und Entscheidens sowie die Weigerung, den Publikumswillen auf die Quote zu reduzieren (vgl. ebd.: 12f.; vgl. zur Ausdifferenzierung von Medienkritikertypen Weischenberg 2004a/b). Die von mir zur Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien zugeordneten Autoren stellen, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen, d.h. als Theoretiker-Praktiker, zum Teil diesen Typus von Medienakteur dar. Zur Institutionalisierung dieser Tradition ist es konstitutiv notwendig, dass sich diese (sozialwissenschaftlichen) Medienkritiker zu TheoretikerPraktikern weiterentwickeln, um alternative medienkritische Netzwerke und Plattformen zu den bereits vorhandenen Institutionen zu generieren. Anforderungen an eine aktuelle kritische Medienforschung Welche Anforderungen an den Ausbau sozialwissenschaftlicher Medienkritik, verstanden als Traditionslinie gesellschaftskritischer Medientheorien, können abschließend gestellt werden, um aus diesem Ansatz eine

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grundlegende Forschungsperspektive, die institutionell verankert werden kann und aus der produktive Praxisformen entstehen können, zu entwickeln? Zunächst wird es darum gehen, dass die sozialwissenschaftliche Medienforschung Medienkritik als ihren blinden Fleck anerkennt und als eigenständigen Teilbereich in den Kanon ihrer Theorien und Methoden aufnimmt. Gerade durch diese Marginalisierung der Medienkritik, sowohl in den Sozialwissenschaften, als auch bei den Medien-Praktikern, ist die Umsetzung des Modells von Schneider, d.h. des Praxis-Theoretikers bisher kaum verwirklicht worden. Diese Kluft verweist auf das Aneinandervorbeilaufen von Diskurs und Praxis, durch das Medienkritik bisher keine gesellschaftliche Nachhaltigkeit erzielen konnte. Den wenigen Praxis-Theoretikern, wie etwa Klaus von Bismarck, Clemens Münster und Dieter Stolte, gelang es zwar einen medienkritischen Diskurs in den jeweiligen Medieninstitutionen zu initiieren, allerdings lieferten sie kaum Anstöße für die konkrete medienjournalistische Arbeit einerseits, und die Medientheoriebildung andererseits. Als Ausweg bleibt nur, das Modell von Stolte vom Kopf auf die Füße zu stellen und den Theoretiker-Praktiker zu fordern. Basis für dessen Arbeit ist die Identifikation und kritische Auseinandersetzung mit der Tradition sozialwissenschaftlicher Medienkritik. Durch die kritische Auseinandersetzung mit diesen Studien gelingt es, das Grundgerüst gesellschaftskritischer Medientheorie herauszuarbeiten. Zu einem sozial wirksamen Ausbau der Medienkritik kann es nur durch eine, wie im nächsten Kapitel veranschaulicht wird, umfassende Institutionalisierung der Medienkritik kommen. Dafür schlage ich u.a. vor, dass das Feld der Medienkritik an Hochschulen fest verankert wird, etwa durch die Einrichtung eigener Lehrstühle und Einrichtungen eigener Fachgruppen in den wissenschaftlichen Vereinigungen. Thematisch müsste es zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den konzentrationsrechtlichen sowie inhaltlich-ästhetischen Herausforderungen des Digitalen Fernsehens und des Pay-TVs kommen. Außerdem wartet die Verschmelzung unterschiedlicher Medien-Techniken (etwa die Möglichkeit, auf dem Handy Musik zu hören oder fernzusehen) auf eine systematische Aufarbeitung, etwa unter Aspekten des Jugendschutzes. Schließlich müsste das Spannungsfeld zwischen Zensur und Kommunikationsfreiheit im Internet grundsätzlich aufgearbeitet werden. Zivilgesellschaftlich notwendig ist die Diskussion von medienkritischen Widerstandspotentialen. Um diese Anforderungen erfüllen zu können, müssen sich (sozialwissenschaftliche) Medienkritiker zu Theoretiker-Praktikern entwickeln.

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DISKURS UND PRAXIS. ZUR INSTITUTIONALISIERUNG DER MEDIENKRITIK IN DEUTSCHLAND

Moderne Gesellschaften sind, wie bereits in der Einleitung zur vorliegenden Studie erwähnt, auf Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen angewiesen. Medienkritik sollte, insbesondere wenn sie sich als gesellschaftskritische Medientheorie versteht, an diesen Diskursen und Beschreibungen beteiligt sein. Gerade angesichts der »heimlichen Medienrevolution« (Möller 2005)81 und der anhaltenden Ökonomisierung des bundesdeutschen Mediensystems82, ist zu fragen: Wie lässt sich Öffentlichkeit für Medienfragen herstellen und wie lässt sich ein darauf bezogener anhaltender Kommunikationsprozess institutionell absichern?83 Auf den ersten Blick scheint der medienanalytische und -kritische Selbstverständigungs- und Selbstbeschreibungsdiskurs in Deutschland zu funktionieren. Insbesondere die Aufdeckung des Schleichwerbungskandals durch Volker Lilienthal (2005b)84 kann als Beleg für den Erfolg von investigativem Medienjournalismus85 gelten – und mit dem Fachdienst 81 Möller räumt den Wikis, der freien Software und v.a. den Weblogs enorme Widerstands- und Veränderungspotenziale ein. So nennt er eine Reihe von Beispielen, bei denen die Kommunikation in Weblogs die staatliche Zensur umgehen konnte. Der Gebrauch von freier Software schränkt nicht nur Macht und Profit des quasi Monopolisten Mircosoft ein, sondern verspricht eine benutzerfreundliche Anwendung und schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Nutzern (vgl. zu dieser Thematik auch Nettime (1997); Lovink (2003) und mit einer Bewertung dieser Arbeiten sowie weiteren Literaturverweisen Kap. 4.2. zur Kommunikationsguerilla). 82 Ökonomisierung meint, dass »ökonomische Prinzipien und Handlungsrationalitäten einen wachsenden Einfluss bei der Institutionalisierung, Diversifizierung, Produktion und Konsumption von Medien bzw. deren Inhalten haben« (Meier/ Jarren 2001: 146). Die Ökonomisierung führt u.a. zu Konzentrationsprozessen auf den Medienmärkten. Bisher wurden die gesellschaftlichen Folgen dieser Konzentrationsprozesse aber kaum systematisch untersucht (vgl. Trappel/Meier/Scharpe/Wölk 2002). 83 Institutionalisierung beschreibt die Entstehung von Institutionen. Saxer (1998: 662) hat vier Grundmuster identifiziert, wie Gesellschaften ihre Mediensysteme institutionalisieren: autoritär, liberal, totalitär oder demokratisch kontrolliert. Demokratisch kontrollierte Mediensysteme benötigen, aus demokratietheoretischen Erwägungen, die Transparenz, Partizipation und Kritik erfordern, die Institutionalisierung von Medienkritik. 84 Der Beitrag von Lilienthal löste sowohl unter den Medienjournalisten, als auch bei den betroffenen Medienanbietern bzw. Produktionsfirmen, eine anhaltende und umfangreiche Anschlusskommunikation aus (vgl. bspw. Treffer/Baden 2005; Rosenbach 2005 sowie die WDR-Sendung am 21.07.2005, in der Lilienthal und der WDR Intendant Fritz Pleitgen diskutiert haben, und der WDR-Intendant sich den Fragen der Zuschauer stellte). 85 Die Kriterien eines investigativen Medienjournalismus wurden jüngst von Lilienthal (2005a) selbst beschrieben. Unter investigativ eingreifender Medienkritik versteht Lilienthal »umfassend angelegte Programmbeschreibungen« (ebd.:

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epd Medien existiert auch ein in der Branche angesehenes Forum für den medienkritischen Diskurs. Neben diesem aktuellen, positiven Fall kann beobachtet werden, dass sich einerseits der Diskurs über die Rolle der Medien (und auch die Medienkritik) in den Medien-, Kommunikationsund Sozialwissenschaften spürbar ausdehnt86, andererseits aber nicht von einer Stärkung der Position der Medienkritik in der Gesellschaft gesprochen werden kann (vgl. Hallenberger/Nieland 2005a). Tatsächlich genügen diese Beispiele für einen funktionierenden medienkritischen Selbstbeschreibungsdiskurs und die erhöhte Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften gegenüber der Medienkritik noch nicht, um die in demokratischen Gesellschaften an die Selbstverständigungsdiskurse gestellten Anforderungen zu erfüllen. Vielmehr benötigt die Zivilgesellschaft87 kulturelle Codes und Erzählungen sowie spezifische Institutionen, um zwischen der guten und der unzivilen Gesellschaft zu unterscheiden (Adolff 2005: 88). Die Institutionen der Medienkritik müssen sich konstitutiv und fortwährend an diesen Erzählungen beteiligen. Zwei Gruppen erlangen hierbei besondere Bedeutung: einzelne Medienjournalisten, wie im oben geschilderten Fall Volker Lilienthal, und spezifische Diskursmedien88. Die Kritik der Medien bedarf besonderer Medien der Kritik. 276); eine Kritik als abwägende, argumentative Nachbereitung, die das Fernsehen als öffentliche Angelegenheit herausstellt (ebd.). Investigative Recherche muss sich in seinen Augen »auf die innere Struktur der Sender richten, das Handeln Verantwortlicher auf mögliche Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit prüfen, fallweise Fehlentwicklungen und auch Funktionsversagen von Kontrolleinrichtungen aufdecken« (ebd.: 277). 86 Vgl. hierzu aktuell Weiß (2005); Beuthner/Weichert (2005a); Hallenberger/Nieland (2005a). Die Bände schließen v.a. an die medienkritischen Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung (1988) und Weßler/Matzen/Jarren/ Hasebrink (1997) an. 87 »Unter civil society, also Zivil- und Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht. Die meisten Autoren, die sich mit Zivilgesellschaft beschäftigen, grenzen diesen Raum darüber hinaus von der Privatsphäre, zum Beispiel der Familie, ab und betonen, dass zur Zivilgesellschaft Öffentlichkeit gehört. Die Zivilgesellschaft ist auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten angewiesen, also auf einen staatlichen Schutz der Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit. [...] Schließlich beinhaltet das Zivilgesellschaftskonzept auch ein utopisches Moment: das selbstregierte demokratische Zusammenleben« (Adloff 2005: 8). 88 Hierzu zählen in erster Linie die Fachdienste, wie etwa epd Medien und Funkkorrespondenz, Zeitschriften (u.a. Ästhetik & Kommunikation) sowie insbesondere wissenschaftliche Beiträge, die auch den Dialog mit den Praktikern (z.B. den Medienkritikern selbst sowie den Verantwortlichen in den Medien und den Aufsichtsbehörden) herstellen können. Ein großer Teil dieser Diskursmedi-

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Vor diesem Hintergrund ist eine Bestandsaufnahme der Institutionalisierungsbemühungen von Medienkritik in Deutschland notwendig (vgl. Jarren/Zielmann 2005)89. Im Folgenden werde ich zunächst einige ältere und neuere Institutionalisierungskonzepte vorstellen, um dann, unter Hinweis auf die Fallstricke der Medienkritik, zu gelungenen Beispielen medienkritischer Praxis jenseits der etablierten Institutionen überzuleiten. Institutionen der Medienkritik als Forschungsgegenstand

Die Medien- und Kommunikationswissenschaften haben bislang die institutionellen Rahmenbedingungen und Organisationen der öffentlichen Kommunikation als Forschungsgegenstand vernachlässigt (vgl. Jarren 2003: 13). Diese Tatsache erscheint problematisch, weil die Medienleistungen und spezifischen Programmqualitäten von der Medieninstitutionalisierung, der rechtlichen Verfasstheit der Medien, den ökonomischen Zielsetzungen, den redaktionellen Organisationsformen sowie den publizistischen Entscheidungsprogrammen abhängig sind (ebd.; vgl. auch Theis 1993).90 Die Betrachtung konkreter Organisationsformen im Medienbereich leitet ihre (kommunikations-)wissenschaftliche Relevanz daraus ab, dass sie einen Beitrag zu (a) der Organisationsoptimierung (Effizienz und Effektivität, bspw. bei der Verwirklichung von Programmzielen), (b) dem Medien- und Qualitätsmanagement (etwa die Überprüfung von redaktionellen Abläufen bezogen auf das Ziel, die publizistische Qualität zu kontrollieren) und (c) der staatlichen Regulierung und Selbstkontrolle (z.B. ob und wie die Jugendschutzbeauftragten oder auch die Selbstregulierung leistungsfähig im Sinne der (medien-)politischen Vorgaben sind) leisten kann (vgl. Jarren 2002: 25). Eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der Medienkritik erfordert, die ökonomischen Vorgaben, die medienpolitischen Regelungen und den (medien-)rechtlichen Rahmen ebenso wie die Organisationsvorschriften und das Selbstverständnis der (Medien-)Journalisten in den Blick zu nehmen. en wird von Institutionen der Medienkritik (Adolf Grimme Institut oder einzelnen Landesmedienanstalten) initiiert und unterstützt. 89 Jarren und Zielmann konfrontieren in ihrem Beitrag die Institutionalisierung der Medienkritik mit den Befunden zur Fernsehkritik in den Printmedien (vgl. die Beiträge in Weiß 2005). Vor diesem Hintergrund bewerten sie die (kontinuierliche) Medien- bzw. Fernsehkritik in den Printmedien und zeigen angesichts der Veränderungen des Mediensystems zusätzliche Institutionalisierungsmöglichkeiten auf (insbesondere auf Basis von Media-Governance-Konzepten). Ihrem Bild der kontinuierlichen, positiven Medienkritik sowie den Aussichten auf gelingende Institutionalisierung von Medienkritik folge ich nur bedingt, weil ich die soziale und mediale Wirksamkeit der Institutionen der Medienkritik im Wesentlichen als gering und folgenlos bewerte. 90 Vgl. zu den Medienstrukturen und -funktionen grundlegend die Beiträge in Haas/ Jarren (2002); zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk Rider/Langenbucher/Saxer/ Steiniger (2005).

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Um einschätzen zu können, welchen Entwicklungsstand die Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland erreicht hat, stellt der nächste Abschnitt eine Übersicht zu den verschiedenen Ansätzen und Institutionalisierungsanstrengungen vor. Zur Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland

Zu Beginn der Versuche zur Institutionalisierung der bundesdeutschen Medienkritik91 ist das Bemühen unübersehbar, an Ansätze sozialwissenschaftlicher Medienkritik anzuschließen. Das Hans-Bredow-Institut92 eröffnete 1953, in der zweiten Ausgabe der neugegründeten Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen, die Diskussion um die Positionierung der Fernsehkritik mit Adornos Aufsatz Prolog zum Fernsehen. Schon zu Beginn der Institutionalisierungsphase zeigte sich eine bis heute beobachtbare Kluft zwischen Diskurs und Praxis. Hat Adorno (vgl. u.a. 1997v/w) für seine Forschung stets betont, dass es ihm nicht darum geht, Handlungsanweisungen zur Gestaltung sozialer Wirklichkeit zu erteilen bzw. das Diskurs und Praxis zwei konstitutiv unterschiedliche Bereiche sind, verbleiben auch die von mir im Folgenden vorgestellten Institutionen der Medienkritik in Deutschland zumeist Diskurse für bestimmte Kreise, denen keine substantielle Öffnung zur Medienpraxis sowie den Rezipienten gelingt. Die Gestaltung der Wirklichkeit der Medien bleibt somit (fast ausschließlich) den Medienproduzenten überlassen, (wissenschaftliche und journalistische) Medienkritiker sowie medienkritische Institutionen erweisen sich dementsprechend wesentlich als zahnlose Tiger, Diskurs und Praxis stehen unvermittelt nebeneinander bzw. produzieren aneinander vorbei. Ende der 1950er Jahre erhielt die Fernsehkritik in verschiedenen (Tages-)Zeitungen einen festen Platz93, aber das Selbstbewusstsein der Kritiker war nur schwach ausgebildet94. Dadurch ergab sich in der Zusammenarbeit zwischen Kritikern und Kritisierten ein Ungleichgewicht (vgl. Hickethier 1994a: 154; vgl. auch Hickethier 1994b und Saur/Steinmetz 1988). In den 1960er Jahren rückte neben die Kritik an einzel91 Wenn hier und im Folgenden von Medienkritik die Rede ist, dann ist hauptsächlich die Fernsehkritik gemeint. 92 Einen Rückblick auf die Bedeutung des Hans-Bredow-Instituts für die Medienforschung (nicht nur) in Deutschland liefert der von Hasebrink und Matzen (2001) herausgegebene Band. 93 Hickethier (1994a: 145-154) setzt sich ausführlich mit den Arbeiten von Martin Morloch (Süddeutsche Zeitung), Christian Ferber (Die Welt), Hellmuth A. Lange (Frankfurter Rundschau), Ernst Johann (FAZ) und Matthias Reihl (Tagespiegel) auseinander. 94 Hickethier (1994a: 154) zitiert u.a. als Beispiel für diese Diagnose Clemens Münster, der 1963 angibt, dass die Fernsehmacher die Kritiker in den Tageszeitungen (»sie war eine Institution geworden«) für dilettantisch und nutzlos hielten: »[M]erkwürdigerweise prägte diese von den Kritisierten formulierte Kritik auch bei der Kritik das eigene Bild von sich selbst.«

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nen Medienprodukten, d.h. der klassischen Werkkritik, die politische und gesellschaftliche Dimension des Fernsehens ins Blickfeld. Verstärkt wurde die Konstitution des Fernsehens als öffentlich-rechtliches Medium, der Verfassungsstreit zwischen Bund und Ländern, um die Länderkompetenzen in Rundfunkfragen, die Begehrlichkeiten der Industrie (sie wollten in das Geschäft der Fernsehproduktion einsteigen), die »Machenschaften der Bundesregierung« (gemeint ist der Versuch, mit der Deutschland Fernsehen GmbH einen staatsnahen zweiten Sender zu konstruieren) und die Stellung der deutschen Filmwirtschaft95 thematisiert. Auf einen Nenner gebracht: Die Medienkritik beschäftigte sich mit ordnungspolitischen Fragen und nicht mit gesellschaftskritischen Ansätzen (vgl. Hickethier 1994a: 156). Hickethier (ebd.) führt dies unter anderem darauf zurück, dass zu diesem Zeitpunkt weder die Kommunikationswissenschaft etabliert oder entwickelt96, noch in den Sozialwissenschaften die Beschäftigung mit den Medien ausgebildet war. Jarren und Zielmann (2005: 549f.) nennen die »publizistische Gewaltenteilung«, d.h. die »außenplurale Kontrolle« des Pressewesens auf der einen Seite und den »binnenplural« organisierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf der anderen Seite, als Fundament des medienpolitischen und -kulturellen Konsens in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre. Aber auch ohne eine Institution wuchs das kritische Bewusstsein in der (jungen) Bundesrepublik. Schriftsteller und junge Filmemacher wählten andere Medien der Kritik: Ihre Romane und Filme lieferten düstere Zustandsbeschreibungen des Landes.97 Die Medienkritik war ein Teil dieser »Bewegung«98 – unter anderem beteiligte sich Hans Magnus Enzensberger an dieser publizistischen Debatte über die Medien. Enzensberger hat in seinen medienkritischen Essays eine Reihe von Themen diskutiert, die bis heute einen wichtigen Referenzpunkt für den Diskurs der Medienkritik bilden, etwa seine Auseinandersetzung mit der Sprache 95 Es ging hierbei um die Inhalte (Heimatfilme, Schlagerfilme usw.) und die ökonomische Basis, d.h. die Filmindustrie erlebte eine Fernsehkrise, weil das Fernsehen zum Leitmedium aufstieg, und der Staat gewährte Subventionen, Steuernachlässe und günstige Kredite. Erst mit der Gründung des ZDF und den Aktivitäten des Filmhändlers Leo Kirch wurde der Produktionssektor gestärkt. 96 Es existierten nur weinige Zentren (etwa München, Mainz und Münster) – und diese verstanden Kommunikationswissenschaft hauptsächlich als Zeitungskunde. Erst das Lehrbuch von Burkart (2002) bestimmt die Kommunikationswissenschaft als interdisziplinäre Sozialwissenschaft. 97 Als Beispiel lassen sich etwa der Film Abschied von gestern (1966) und Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968) von Alexander Kluge nennen oder Volker Schlöndorffs Roman-Verfilmung Der junge Törless (1967). Literaten, die in diesem Kontext hervorgehoben werden müssen, sind u.a. Heinrich Böll, Günther Grass, Peter Handke, Hans Magnus Enzensberger, Günter Wallraf, Dieter Wellershof und später Rolf Dieter Brinkmann. 98 So wandte sich die Gruppe 47 in einem Boykott-Aufruf gegen das AdenauerFernsehen, d.h. den Versuch des Bundeskanzlers Adenauer, mit einer zweiten Sendekette ein Staatsfernsehen einzuführen. Dieses Ansinnen wurde 1961 durch das 1. Rundfunkurteil vom Bundesverfassungsgericht untersagt.

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und Ideologie des Spiegels (Die Sprache des Spiegels, 1957), die Diskussion der technischen und sozialen Möglichkeiten neuer Medien (Baukasten zu einer Theorie der Medien, 1970), die Möglichkeiten der Kritik an der Bild-Zeitung (Der Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit, 1983) oder über die Programmlosigkeit des Fernsehens (Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind, 1988).99 Auch das Fernsehprogramm wies zunehmend kritische Beiträge aus – maßgeblich getragen wurde diese Entwicklung von den politischen Magazinen. Nicht nur die technische Verbreitung des Fernsehens stieg, es wurde zum Leitmedium und damit auch von »der Politik« ernster genommen (vgl. Hickethier 1994a: 160). Vor diesem Hintergrund setzte Medienkritik auf der Ebene der allgemeinen Kritik der Medien an. Diese Form der Medienkritik breitete sich v.a. an den Universitäten aus: insbesondere im Umkreis von Friedrich Knilli, Franz Dröge, Horst Holzer sowie der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation (ebd.).100 Stellvertretend sei aus dieser Vor- bzw. Frühphase der Institutionalisierung der Medienkritik an den Universitäten Holzer (1971b: 101) zitiert. Er schließt sich, vor dem Hintergrund einer (Inhalts)Analyse zu Bild und Spiegel, den Forderungen nach einer Umstrukturierung des massenkommunikativen Bereichs an. Konkret fordert er: (a) die Herstellung einer politisierten Öffentlichkeit durch Aktivierung inner- und überbetrieblicher Mitbestimmung, (b) den Abbau der unmittelbaren Abhängigkeit der Medien von der werbetreibenden Industrie durch Einrichtung von Anzeigengenossenschaften, (c) die Installierung einer innerbetrieblichen Mitbestimmung von Journalisten, durch Fixierung von Redaktionsräten. Holzer ruft dazu auf, an diesen Vorschlägen theoretisch und praktisch konsequent weiterzuarbeiten, indem »weitere kritische Studien zu den gesellschaftlichen Folgen der Massenkommunikation in der Bundesrepublik erstellt werden« (ebd.). Diesem Anspruch wurden bis auf wenige Ausnahmen, weder in den 1970er Jahren noch heute, Medientheoretiker oder Praktiker gerecht.

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Zusammengefasst wurden diese Texte in Enzensberger (1997), einem von Peter Glotz zusammengestellten und kommentierten Band. 100 Von der (allgemeinen) Aufwertung des Kritikbegriffs profitierte auch die publizistische Medienkritik, weil sich die Theorie des Fernsehens als Kritik des Fernsehens verstand und dabei auch vom Programm und seinen Erscheinungsformen ausging (vgl. Hickethier 1994a: 178). Willy Brandts Wahlkampfund Regierungserklärungs-Slogan »Mehr Demokratie wagen« aus dem Jahr 1972 bedeutete auch, mehr Kritik zu äußern: »An die Stelle des im Adenauerstaat erstrebten Harmonie-Modells, trat nun ein gesellschaftliches Konfliktmodell, bei dem Differenzen in der Diskussion der Argumente, in Kritik und Gegenkritik ausgetragen werden und die besseren Argumente in einer ›herrschaftsfreien‹ Kommunikation (Habermas) sich durchsetzen sollten« (ebd.: 179).

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Vier Institutionen der Medienkritik

(A) Mainzer Tage der Fernseh-Kritik. Ende der 1960er Jahre standen sich die publizistische Debatte und die ersten Schritte der Institutionalisierung von Medienkritik an den Universitäten auf der einen Seite, und die konservative Medienkritik101 auf der anderen gegenüber. Da es kaum einen Austausch zwischen diesen Ansätzen gab, kann hier von einem wechselseitigen blinden Fleck gesprochen werden. Für konkrete Institutionalisierungsschritte sorgte das ZDF. Die Intention von Anna-Luise Heygster, Dieter Stolte und dem damaligen Intendanten Karl Holzamer war es, der Fernsehkritik mehr Gewicht und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die ersten Mainzer Tage der Fernseh-Kritik fanden im Oktober 1968 statt.102 Ziel der Mainzer Tage der FernsehKritik war und ist es, nicht nur den Dialog zwischen den Fernsehkritikern und den Fernsehmachern zu fördern, sondern diesen zu institutionalisieren; angestrebt war/ist, einen Beitrag zur Professionalisierung der Kritik zu leisten und »sich selbst bei den Kritikern ins rechte Licht rücken zu können« (Hall 2005: 155). Hall (ebd.: 156) glaubt, dass diese Ziele realisiert wurden, bedauert aber gleichzeitig, »dass die Medienkritik im Verlauf der folgenden Jahrzehnte kaum an Relevanz gewonnen, im Gegenteil, im Zuge der fortschreitenden marktwirtschaftlichen Dominanz, auch im Bereich des Fernsehens und seiner damit einhergehenden Kommerzialisierung weitgehend marginal geblieben ist.« Dies scheint nur eine Teilerklärung zu sein. Bei der Klage über die geringe Tiefenwirkung der Mainzer Tage der Fernseh-Kritik sollte auch selbstkritisch eingestanden werden, dass die Verantwortlichen seit 1968 so gut wie keinen Vertreter kritischer (sozialwissenschaftlicher) Medienforschung als key-note-Speaker eingeladen haben, also keine substantiellen Interaktionen mit dem kritischen wissenschaftlichen Medien-Diskurs gesucht wurden.103 101 Die konservative Kritik hatte »nie ernsthaft Programmkritik betrieben, sondern sich als Institutionenkritik und Personalpolitik formuliert« (Hickethier 1994a: 181). 102 »Jede Zeit hat ihre Schlüsselworte, durch die sie ihr Selbstverständnis artikuliert und in denen sie sich wieder erkennt [Hervorhebung im Original – MSK]« (Stolte 1969: 7) – so lautet der erste Satz des Dokumentationsbandes der ersten Mainzer Tage. Verstärkt und zum Teil auch ausgelöst wurden durch die Mainzer Tage der Fernseh-Kritik eine Reihe medienkritischer Sendereihen wie Glashaus – TV-intern im WDR, Mikado im SWR und betrifft: fernsehen im ZDF (vgl. mit einem kritischen Rückblick Quast 1995; mit einer Beschreibung der aktuellen Anforderungen aus Sicht eines Machers Bolz 2005). 103 Eine Übersicht über die eingeladenen wissenschaftlichen Medienforscher macht diesen Befund augenscheinlich. Erstmalig aufgelistet wurden die Beteiligten an den Mainzer Tagen von Hall (2005: 160). Ich gebe an dieser Stelle seine Auflistung wieder, in alphabetischer Reihenfolge, um meine Einschätzung der fehlenden Berücksichtung gesellschaftskritischer Medientheoretiker bei der Veranstaltung zu untermauern – in den Klammern wird das Jahr angegeben, in dem die jeweilige Person in Mainz vorgetragen hat: Hellmuth Benesch (81), Jerzy Bossak (84), Horst Bredekamp (02), Götz Dahlmüller

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Der Dialog, der bei den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik zwischen Produzenten, Konsumenten und Rezensenten geführt werden soll, stellte von Anfang an die zentrale Bedeutung von (Medien)Kritik ins Zentrum. Stolte (1969: 8f.) betont daher 1969 im Vorwort des ersten Tagungsbandes: »Und so ist denn ›Kritik‹ das Losungswort der Stunde. [...] Indem die Kritik so in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, nicht mehr kritischer Begleiter von Entwicklungen, sondern selbst Programm ist, ja, mit allen daraus folgenden Konsequenzen als eine ›Grundbefindlichkeit des Menschen‹ [...] angesprochen wird, bedarf es mehr denn je der Vergewisserung darüber, was sie ist und wozu sie da ist.« Holzamer (1969: 14) sah den Kritiker »in seiner wichtigen Wächter- und Mittler-Funktion innerhalb der modernen Ausbreitung von Kultur-, Nachrichten- und Unterhaltungsgütern«. Konkretisiert man diese Perspektive, so stellen die Mainzer Tage der Fernsehkritik einen Raum zur (a) Selbstkritik der Macher dar; (b) zur Konfrontation der Macher mit den Kritikern, die ihre Produktionen öffentlich beurteilen, und dem Publikum, für das sie Programm machen; (c) zugleich sind sie ein Ort der Selbstkritik der Kritiker, die hier ihre Kritiken zur Diskussion stellen und eine Konfrontation mit den Machern, die sie kritisieren und dem Publikum, für das sie kritisieren; sowie (d) ein Ort zur Selbstkritik des Umgangs mit Medien und zur Orientierung der Rezensenten sowie die Möglichkeit, die Mediennutzerpositionen mit denen der Macher und Kritiker zu konfrontieren. Als Voraussetzung von gelingender Medienkritik nennt Münster (1969: 39) die Notwendigkeit, einen entsprechenden gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, in dem Medienkritik kontinuierlich stattfinden und gestalterisch eingreifen kann. Hierzu sind die Grundrechte der Meinungsfreiheit und Abwesenheit von Zensur konstitutive Voraussetzungen, ebenso, dass sich die Rundfunk- und Fernsehanstalten grundsätzlich als öffentliches Gewissen unter demokratischer Kontrolle verstehen müssen. Für Stolte und Holzamer bedeutete Kritik v.a. eines: Distanz einzunehmen. Diese Distanzierung vom Tagesgeschäft der Produktion, Kritik und Konsumption ermöglicht allererst einen Blick auf deren Grundlagen, (73), Helmut Dubiel (90), Wolfgang Ernst (70), Werner Faulstich (01), Jo Groebel (86), Alfred Grosser (96), Friedrich Hacker (86), Michael Haller (02), Wilhelm Hennis (85), Knut Hickethier (01), Jochen Hörisch (01), Karl Otto Hondrich (02), Friedrich Kittler (95), Hans J. Kleinsteuber (95), Friedrich Knilli (70), Joachim H. Knoll (68), Thomas Koebner (96), Erich Küchenhoff (76), Michael Kunczik (86), Klaus Laermann (04), Wolfgang R. Langenbucher (75), Claus Leggewie (93), Konrad Paul Liessmann (02), Jutta Limbach (97), Ernst Gottfried Mahrenholz (76), Fredmund Malik (03), Christan Meier (91), Gitta Mühlen Achs (97), Irene Neverla (97), Elisabeth Noelle-Neumann (69), Harry Pross (76), Karl Prümm (77), Horst-Eberhard Richter (89), Karsten Renckstorf (80), Dieter Ross (73), Georg Ruhrmann (04), Erwin K. Scheuch (70), Siegfried J. Schmidt (04), Irmela Schneider (83), Alfons Otto Schorb (76), Winfried Schulz (77), Alphons Silbermann (87), Kurt Sontheimer (74), Erich Strassner (80), Hertha Sturm (73), Will Teichert (76), Richard Wisser (68), Paul Zanker (00), Axel Zerdick (95).

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Bedingungen, Entstehungskontexte usw., die ansonsten meist unberücksichtigt bleiben. Gerade angesichts dieses Anspruchs ist es erstaunlich, wie wenig Nachhaltigkeit von den Mainzer Tagen ausgeht. Weder die jährliche Veranstaltung selbst, noch deren Publikationsreihe, haben die Entwicklung der Medienkritik in Deutschland wesentlich beeinflusst. Das selbsternannte Dialogforum bemüht sich zwar, jeweils aktuelle medienpolitische Themen aufzugreifen und zu diskutieren – die gesellschaftskritische Reflexion bleibt dabei meist auf der Strecke, ebenso wie der substantielle Versuch, gemeinsam, d.h. durch die Interaktion von Kritikern (Journalisten), Produzenten und wissenschaftlichen Medienforschern/-kritikern, die Wirklichkeit des Fernsehens zu gestalten bzw. verändern. Die Wirklichkeit der jährlichen Veranstaltungen erweisen sich leider als ein Nebeneinander von Positionen, deren Halbwertzeit und medienkritische Nachhaltigkeit genau zwei Tage, nämlich die der Veranstaltung, anzuhalten scheint. Die Einschätzung, dass es sich bei den Mainzer Tagen nur noch »um eine unproduktive Simulation ihrer selbst« handelt, wurde bereits vor über zehn Jahren von Hachmeister (1993: 2123)104 geäußert. Gäbler (2005: 129) legte jüngst nach, als er die »eigenartige Versuchsanordnung« der letztjährigen Veranstaltung bemängelte: »Da lud sich das ›Zweite‹, mit dem man ja angeblich besser sieht, Kritiker ins Haus, um dann stoisch aber auch jede Kritik schlicht zurückzuweisen.« (B) Adolf Grimme Institut. Als zweite Einrichtung hat sich, neben den Mainzer Tagen, das Adolf Grimme Institut als Institution der Fernsehkritik etabliert. Das Institut ist nicht von einem Fernsehanbieter getragen, sondern zahlreichen Förderern verpflichtet, so u.a. dem Volkshochschulverband. Dennoch ist eine gewisse Nähe zu den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, v.a. dem WDR, der nordrhein-westfälischen Landesregierung und der Landesanstalt für Medien NRW nicht zu übersehen. 2004 feierte der Adolf-Grimme Preis105, auf den das Institut seine 104 »Die Konstellation zwischen Kritik und Rundfunk, für die das ›Modell der Mainzer Tage‹ (Leder) paradigmatisch steht, zeichnet sich durch eine Symbiose zwischen öffentlich-rechtlichem System und einem schmalen medienkritischen Establishment […] aus. Aller ungleichen Machtverteilung zum Trotz, nahmen sich beide Seiten hinreichend ernst, kritische Solidarität) mit den öffentlich-rechtlichen Idealen, war das Motto etablierter Medienkritiker. In ihr Leben war das Fernsehen noch als neues Medium eingebrochen, ihre professionelle Referenz war das bürgerliche Zeitungsfeuilleton (ungeliebt, aber mächtig), ihre Sozialisation wurde durch das studentenbewegte und nachher sozialdemokratische Reformklima der 70er Jahre geprägt. Der medienkritische Gesinnungsschub stützte den kritischen Dokumentarfilm und das experimentelle Fernsehspiel. Die Eintrittsbedingungen waren Lagertreue, Ehrlichkeit, Provinzialität und der stete Groll gegen die ›Hierarchien‹ [Hervorhebung im Original – MSK]« (Hachmeister 1993: 23). 105 Die Kriterien für den Preis, der sich als »die jährliche Definition von Qualitätsfernsehen« versteht, befinden sich in dem vom Adolf Grimme Institut (1998) herausgegebenen Statut (vgl. auch Paukens 2000; vgl. mit einer Auseinandersetzung zum Preiswesen Scherfer 2005).

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Bekanntheit stützt, sein vierzigjähriges Jubiläum. Zu diesem Anlass gab es vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau wohlwollende Worte106, aber keine Bestandsgarantie für das Institut oder einen Vorschlag zur notwendigen Neuausrichtung im deutschen Fernsehpreiswesen (vgl. Scherfer 2005). Zwar gilt der Grimme Preis bei den Machern (weiterhin) als die wichtigste Auszeichnung für (deutsche) Fernsehproduktionen, aber ähnlich wie bei den Mainzer Tagen gelang es kaum, (sozial)wissenschaftliche Medienkritik in Marl zu beheimaten. Insbesondere das vom Institut herausgegebene Jahrbuch Fernsehen fällt hinter die, bei der ersten Ausgabe angekündigte Zielsetzung, zurück. Der damalige Geschäftsführer des Instituts, Lutz Hachmeister (1992: 6), benannte vier Ebenen, auf denen das Jahrbuch einen eigenständigen Beitrag leisten will: »Es kann erstens als Geschichtsbuch dienen, zweitens einen Überblick zu den Schreibweisen der Medienkritik liefern, drittens sinnvolle Kommunikation zwischen Produzenten, Redakteuren und Kritikern stiften und viertens Themenstellungen des Internationalen Filmfestes Köln ergänzen.« Wie bei den Dokumentationsbänden zu den Mainzer Tagen bleibt die Beachtung der Jahrbücher des Adolf Grimme Instituts bescheiden; gesammelt werden die wichtigsten Kritiken eines Jahres, es wird mit dem Bert Donnepp-Preis107 ein Kritiker-Preis vergeben, die wichtigsten Tendenzen und Ereignisse des jeweils vergangenen Fernsehjahres oder der entsprechenden Programmentwicklungen werden gewürdigt, und es findet eine Beteiligung an der medienpädagogischen Debatte108 statt.109 Das Grimme-Institut fungiert als Anlaufstelle, weniger als Plattform der Medienkritik.110 Dies dokumentiert auch die konstatierte Aktion im Jahr 2003: Bei den Juroren und Mitgliedern der Nominierungskommissionen des AdolfGrimme-Preises war vom Verschwinden der Fernsehkritik die Rede. Auf Initiative der beiden Mediendienste epd medien und Funkkorrespondenz wurde eine Resolution erarbeitet, um der Krise der Medienkritik entge106 Vgl. www.bundespraesident.de/dokumente/reden/ix_94612.html (abgerufen am 12.06.2004). 107 Dieser Preis (Deutscher Preis für Medienpublizistik) wird seit 1991 vom Verein »Freunde des Adolf Grimme Preises« gestiftet und vergeben. Preisträger waren: Uwe Kammann, Gisela Zabka, Stefan Jakob und Volker Lilienthal (1991); Cornelia Bolesch (1992); Horst Röper (1993); Christian Hellmann (1994); Oliver Herrgesell (1995); Klaus Ott (1996); Klaudia Brunst (1997); Peter Turi (1998); Michael Hanfeld (1999); Sybille Simon-Zürich und Fritz Wolf (2000); Hans-Jürgen Jakobs (2001); Dieter Anschlag und Dietrich Leder (2002); Stefan Niggemeier und Egon Netenjakob (2003); Rainer Braun (2004). 108 In Marl und damit im Umfeld des Adolf Grimme Instituts angesiedelt war das Europäische Zentrum für Medienkompetenz – bis die Einrichtung den finanziellen Zwängen des nordrhein-westfälischen Landeshaushalts zum Opfer fiel. 109 Auf Grund der angespannten Finanzlage des Instituts musste vor einigen Jahren die Tagung Marler Tage der Fernsehkritik eingestellt werden. 110 Dies gilt übrigens nicht mehr nur für das Fernsehen, sondern inzwischen auch für das Internet – das Grimme-Institut vergibt auch einen Online-Award.

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genzuwirken. Im Marler Manifest (2003) wird appelliert: »Wir brauchen eine regelmäßige, sich selbst reflektierende Fernsehkritik, die ein Qualitätsbewusstsein ausbildet, die das Auge schult, Genres sortiert, Ideologien zerlegt, eine Kritik, die Schauspielkunst aus rasender Bildflut rettet, die über den Tag hinausdenkt und das Gestern im Heute bewahrt. Wir brauchen eine Fernsehkritik, die die Macher und die Zuschauer nicht allein lässt. Wir brauchen Platz und Stimme. Sonst schweigen die Lämmer!« Diese drängende Poetik ist zugleich Programmatik (vgl. Gäbler 2005: 117). Doch wie bei den Mainzer Tagen ist das Institut weniger auf den Austausch mit (sozial-)wissenschaftlichen Medienkritikern aus und schon gar nicht als Netzwerk aktiver Medienkritik (vgl. mit diesem Vorschlag Weichert 2005) zu verstehen. Vielmehr stellt das Institut, hauptsächlich über den Grimme-Preis, die Kommunikation zwischen Kritikern und Machern her. Im Unterschied zur Veranstaltung in Mainz, welche in der Regel nett daherkommt und keinem wehtut, muss das Grimme-Institut darauf achten, dass das Gegenüber von Kritikern und Machern »nicht zu einem ritualisierten wechselseitigen Bewerfen mit Wattebäuschen ausartet, indem sich ein kleiner etablierter Kreis des linksliberalen Medienkritik-Establishments und diskussionswillige Programmverantwortliche munter im Kreis wechselseitiger Selbstbespiegelung drehen« (Gäbler 2005: 128). Der ehemalige Geschäftsführer des Instituts, Bernd Gäbler (ebd.: 131), hatte bei der Bewertung der Institutsarbeit dann auch mehr die direkt am Preis Beteiligten und eben nicht eine gesellschaftskritische Medienkritik im Blick: »Durch die Kompetenz seiner Juroren bekommt der Grimme-Preis Gewicht. Die Tradition stärkt seine Bedeutung. Sie zu wahren und dennoch den Preis jeweils gegenwartsbezogen neu zu justieren – darin liegt die tatsächliche Verantwortung gegenüber Zuschauern, Produzenten und Sendern.« (C) Stiftung Medientest. Den Anstoß zu einer Stiftung Medientest gab der Bericht über die Lage des Fernsehens (vgl. Gröbel et al. 1995). Der Bericht informierte den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über den Zustand des deutschen Mediensystems, gut zehn Jahre nach dem Start des Privatfernsehens. Die Kommission verfolgte die »Idee und Praxis einer grundsätzlichen Gemeinwohlorientierung« und zwar mit dem Ziel, die »Qualität der öffentlichen Kommunikation« in politischer Hinsicht, wie auch mit Blick auf die gesellschaftliche Integration, zu erhalten und weiterzuentwickeln (ebd. 15f.). Die medienpolitische Denkschrift bezieht Stellung zu (a) der Zukunft des öffentlichrechtlichen Rundfunks, insbesondere zu dessen interner Kontrolle; (b) der externen Kontrolle der privaten Anbieter durch die Landesmedienanstalten; (c) den Möglichkeiten, die Konzentrationskontrolle zu verbessern; (d) der Notwendigkeit, die Sanktionsmöglichkeiten durch die Landesmedienanstalten zu differenzieren; (e) Fragen der Wettbewerbssituation und der Finanzierung des dualen Systems; (f) den Bedingungen und Potenzialen der Selbstkontrolle; und schließlich (g) zu den Wegen, die

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Medienverantwortung als Aufgabe der Öffentlichkeit zu verankern. Zum letztgenannten Punkt votiert die Kommission zum Einen für einen »Rat zur Begutachtung der elektronischen Medien (Medienrat)«, zum Zweiten für eine Stiftung Medientest und zum Dritten für »Publikumsorganisationen«.111 Über die Konzeption einer Stiftung Medientest wurde in der Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen im Jahr 1997 weiterdiskutiert. Diskussionsgrundlage bildete der Beitrag von Krotz (1996). Die Hauptaufgabe einer Stiftung Medientest sah Krotz beim Testen und Archivieren sowie in der Information der Verbraucher über die Medienentwicklung und -inhalte. Abgeleitet war diese Aufgabenbeschreibung, ähnlich wie bereits im »Bericht zur Lage des Fernsehens«, aus dem umfangreichen Aufgabenkatalog der Stiftung Warentest.112 Der Beitrag von Krotz wurde flankiert von Stellungnahmen verschiedener Akteure, um die Realisierungschancen einer Stiftung Medientest abzuschätzen. Es äußerten sich Hans Joachim von Gottberg für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, Reinhard Grätz als Vertreter der öffentlich-rechtlichen Anbieter, Imme de Haen, die Direktorin der Evangelischen Journalistenschule in Berlin, Wolfgang Ring für die Landesmedienanstalten, Wolfgang Langenbucher und Heribert Schatz, als Kommunikations- bzw. Politikwissenschaftler, Heide Simonis für die Politik, Lutz Tillmanns aus Sicht des Deutschen Presserates und Theo Wolsing für die Verbraucherzentralen.113 In der Mehrzahl wurde zwar die Initiative gelobt, aber es überwog doch Skepsis: Die Umsetzung des Konzepts wurde bezweifelt oder gar abgelehnt. Von Gottberg sah die Arbeit der Freiwilligen Selbstkontrolle

111 Vgl. mit einer Diskussion und Verlängerung des im Bericht zur Lage des Fernsehens enthaltenen Ansatzes die Beiträge in Hamm (1997). Einer umfassenden Analyse wurde der Bericht durch Otfried Jarren und Gerhard Vowe (1995) sowie Jörg-Uwe Nieland und Georg Ruhrmann (1995) unterzogen. Die medienpolitische Wirkung des Berichtes wurde von beiden Autorenteams als begrenzt eingeschätzt, bedauert wurde, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Instrumente und Leitbilder nicht den Regulierungsbedingungen in modernen Gesellschaften entsprachen, d.h. zu diesem Zeitpunkt stand die Debatte um die Deregulierung der Mediensysteme im Vordergrund, Maßnahmen der Kontextsteuerungen wurden zuerst Jahre später, etwa von Donges (2002) ausführlich analysiert. 112 Folgende Kriterien lassen sich hervorheben: (a) Information der Verbraucher/ Öffentlichkeit über die Ergebnisse vergleichender Warentests; (b) Steigerung der Angebotstransparenz vor dem Kauf von Konsumgütern; (c) Verbesserung des beim Kauf realisierten Qualitäts- und Preisniveaus; (d) Steigerung der Zufriedenheit mit dem gekauften Produkt; (e) Entlastung der Verbraucher bei der Beurteilung und Auswahl von Produkten; (f) Förderung der Bedarfsreflexion und Bedarfstransparenz; (g) Förderung des Artikulationsverhaltens vor und nach dem Kauf sowie (h) die Steigerung der Nachfragemobilität (vgl. Krotz 1996: 224). 113 Vgl. mit einer Bewertung der Diskussion in der Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen Krotz (1997).

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Fernsehen (FES)114 nicht ausreichend gewürdigt, denn die Entscheidungspraxis sei transparent und das Problem der Gewalt- und Sexualdarstellungen habe sich, auch dank der Arbeit der FES, entschärft. Da sich kein Kriteriensystem für Fernsehprodukte entwickeln ließe und diese Produkte auch nicht so getestet werden könnten wie Markenartikel, sei keine neue Institution erforderlich. Nach Ansicht von Grätz funktioniert die öffentlich-rechtliche Praxis, hier fällt der ARD-/ZDF-Medienforschung115 eine wichtige Rolle zu. Beim augenblicklichen Stand der Debatte hielt er es für richtig, dass die Stiftung keine Erwähnung in dem Rundfunkänderungsstaatsvertrag erfuhrt, er verweist aber auf die Möglichkeit der Wiedervorlage – ähnlich äußerte sich auch Simonis. De Haen betonte die Notwendigkeit der Informationsvermittlung, hielt die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Stiftung für unumgänglich, wünschte sich eine Auszeichnung des Guten sowie die Möglichkeit, Meinungsbekundungen der Rezipienten zulassen. Ring schätzte die Konstruktion einer Stiftung Medientest für unrealistisch ein (finanziell und organisatorisch). Er kündigte Programminfos für Eltern an. Schatz sah eine Überschätzung der Informationswünsche bei den Befürwortern der Stiftung und verwies auf die Schwierigkeiten, sowohl bei der Akzeptanz der Testkriterien, als auch bei der Selektion des Testmaterials, Fragen würden sich auch bei der Organisationsform ergeben. Tillmanns hielt, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Deutschen Presserat, eine Stiftung Medientest für uneffektiv, weil es sich um eine weitere problemfern arbeitende Medien-Institution handele, die von der notwendigen Sacharbeit durch Selbstkontrollorgane ablenke. Er formulierte rechtliche Bedenken, zum einen hinsichtlich der Finanzierung (eine Anteilszahlung aus den Rundfunkgebühren war ein Vorschlag des Berichtes), zum anderen auf Grund der Zusammensetzung der Stiftung (Gebot des Staatsferne) und schließlich mit Blick auf die Möglichkeit, Aufzeichnungen vorzunehmen. Nachdem das Konzept der Stiftung Medientest in der geschilderten Ausführlichkeit in der Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen debattiert wurde, geriet sie aus dem Fokus der Medienpolitiker und Programmkontrolleure. Anstelle einer Medienkritik als Verbraucherschutz, wurde über die Einsetzung der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), die Einführung des so genannten Zuschaueranteilmodells zur Begrenzung »vorherrschender Meinungsmacht« (diese Debatte ist ausführlich dokumentiert in dem KEK 1999), die Herausforderungen der (technischen) Konvergenz im Medienbereich (vgl. KEK 114 Die FES wurde 1994 gegründet. Sie arbeitet als freiwilliger Zusammenschluss der privaten Fernsehanbieter (vgl. grundsätzlich von Gottberg 2005). 115 Die ARD-ZDF-Medienforschung organisiert die Medienforschung im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter. Es wird eine Buchreihe (Schriftenreihe Media Perspektiven) herausgegeben und monatlich erscheint die Zeitschrift Media Perspektiven.

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2000), die Programmforschung durch die Landesmedienanstalten116 und die Gründung der Kommission für Jugendmedienschutz (im Frühjahr 2003)117 diskutiert. In jüngster Zeit wurde der Gedanke der Stiftung Medientest allerdings wieder belebt. Zuerst erinnerten Hallenberger und Nieland (2005c) an die (ursprüngliche) Konzeption und brachten diese mit aktuellen Bemühungen zur Förderung der Medienkompetenz zusammen. Weichert (2005) geht noch einen Schritt weiter: Er befragte namhafte Kommunikationswissenschaftler zu ihrer (Neu)Bewertung der Konzeption und plädierte für einen Zusammenschluss von Medienjournalisten (und -kritikern), als Vorstufe auf dem Weg einer Stärkung der Verbraucherinteressen. (D)Medienkompetenz(förderung) als neues Aufgabenfeld der Medienkritik. Angesichts des in den letzten drei Unterabschnitten beschriebenen Standes der Institutionalisierungsbemühungen der Medienkritik, ist eine Ausweitung der Medienkritik auf andere Akteure und Institutionen geboten. Darauf wies Jarren (1997: 308) bereits 1997 hin: »Solange der Rundfunk gesellschaftlich kontrolliert war, konnte die stellvertretende Wahrnehmung von Interessen durch wenige Akteure und erweitert um (Medien-)Kritiker ohne Eigennutz (wie beispielsweise die Kirchen mit ihren medienkritischen Publikationen) mehr oder minder gut realisiert werden. Nun aber, mit dem heraufziehenden Marktrundfunk, mit dem Aufkommen von digitalen Abrufmedien sowie von immer mehr Zielgruppenmedien und dem Verlust an herkömmlichen Formen des Veranstalter- und Programmrundfunks, verliert diese Stellvertreterpolitik an Bedeutung.« Inzwischen rankt sich die medienpolitische wie auch die mediensoziologische Debatte um den Begriff Medienkompetenz. An diese Debatten schließt jenes Konzept von Medienkritik an, welches mit Verbraucherinformation für die Stärkung der Position der Nutzer eintritt. Hierzu lassen sich, orientiert an Hallenberger/Nieland (2005c), einige Beispiele aufzählen: Zum einen die von der Landesanstalt für Medien NordrheinWestfalen (LfM) veranstalteten Medienversammlungen. Hier handelt es sich um Zuschauerparlamente, die dazu dienen, dem Gedankenaustausch zwischen Mediennutzerinnen und -nutzern, den Akteuren der Medienbranche, der Medienwissenschaft und der Medienpolitik zu initiieren. So beschäftigte sich beispielsweise die dritte Medienversammlung im September 2004 mit den neuen TV-Formaten (Dschungel-Camp, Big Brother und Schönheits-Ops bei Swan). Zum Zweiten, die vom Land NRW 116 Die Ergebnisse der Programmforschung bzw. der von den Landesmedienanstalten in Auftrag gegebenen Forschungen sowie die Herleitungen der (medienrechtlichen) Aufträge der Landesmedienanstalten sind dokumentiert in den Jahrbüchern der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM) zuletzt ALM (2005). 117 Diese Debatte ist dokumentiert in der Ausgabe 2/2003 der von der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM) herausgegebenen Zeitschrift tendenz.

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organisierten Tage der Medienkompetenz, bei denen die Medienkompetenzprojekte vorgestellt wurden (vgl. Landesanstalt für Medien 2004). Zum Dritten sei der Verein für die Programmberatung für Eltern erwähnt. Der Verein gibt die Zeitschrift Flimmo heraus, eine medienpädagogische Handreichung für Eltern.118 Beurteilt werden Sendungen von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, RTL2, KABEL1 und SuperRTL, die regelmäßig, mindestens einmal im Monat, ausgestrahlt werden. Auf dem Feld der durch Sozialwissenschaftler (mit-)konzipierten und (mit-)getragenen medienkritischen Initiativen, können zwei Beispiele genannt werden. Die Initiative Nachrichtenaufklärung, die einmal im Jahr eine Rangliste der in der Bundesrepublik Deutschland am meisten vernachlässigten Themen und Nachrichten veröffentlicht.119 Auf der Basis von (Themen-)Vorschlägen, die sowohl von Medienschaffenden, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Institutionen, als auch von interessierten Bürgerinnen und Bürgern eingereicht werden können, entscheidet die Jury der Initiative über eine Rangliste der Top-Themen und -Nachrichten, die ihrer Meinung nach stärkerer Aufklärung bedürfen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) stellt sich die Aufgabe, Journalisten und Medien auf Themen hinzuweisen, die zu wenig oder gar nicht öffentlich gemacht werden, obwohl sie relevant sind. Die INA will über Gründe und Folgen dieser Vernachlässigung aufklären. Der Kritik und der Reformierung der publizistischen Selbstkontrolle (vgl. grundlegend Pöttker 2003) hat sich der Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPS)120 angenommen. Der Verein möchte die öffentliche Beobachtung der publizistischen Selbstkontrolle auf Dauer sicherstellen.121

118 Als Grundlage gelten, nach Angaben der Redaktion von Flimmo, aktuelle Forschungsergebnisse und regelmäßige Befragungen. 119 Weitere Informationen – insbesondere die erwähnten Top 10-Listen – sind unter www.nachrichtenaufklaerung.de abrufbar. 120 Vgl. www.publizischtische-Selbstkontrolle.net. Vorsitzender des Vereins ist der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker, weitere Vorstandsmitglieder sind Wolfgang Langenbucher, Achim Baum und Christian Schicha. 121 »Da in Deutschland auch die publizistische Selbstkontrolle nach dem korporatistischen Politikmuster vollzogen wird, mangelt es ihr bisher sowohl an Transparenz, als auch an kritischer gesellschaftlicher Beobachtung. Daraus folgen oft beklagte Wirksamkeitsdefizite, die in übertriebenen oder irreführenden Metaphern wie ›Alibiinstanz‹ oder ›Zahnloser Tiger‹ gipfeln. Eine derartige Diffamierung der publizistischen Selbstkontrolle ist gefährlich, weil sie einer stärkeren gesellschaftlichen oder gar staatlichen Kontrolle des Journalismus Vorschub leisten kann. Darum stellt sich der ›Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle‹ (FPS) die Aufgabe, einer organisierten Kontrolle über den Journalismus zuvorzukommen, indem er die öffentliche Beobachtung der publizistischen Selbstkontrolle auf Dauer stellt sowie auf eine Verbesserung ihrer Transparenz drängt« (www.publizistische-Selbstkontrolle.net).

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Als journalistische Vereinigung, die sich der selbstkritischen Medienarbeit verschrieben hat, kann das Netzwerk Recherche gelten.122 Es handelt sich hierbei um einen Verein, der den Recherchejournalismus stärken möchte. Das Netzwerk veranstaltet jeweils im Frühjahr seine Jahrestagung und veröffentlicht Sammelbände zu Fragen der journalistischen Praxis (vgl. bspw. Netzwerk Recherche 2003). Außerdem sind die Mitglieder des Netzwerk-Vorstandes ausgewiesene investigative Journalisten der Republik: Hans Leyendecker (u.a. CDU-Spendenaffäre), Christoph Maria Fröder (Irak-Kriegsberichterstattung) und Thomas Leif (Lobbyismus). Im Gegensatz zu den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik und dem Adolf Grimme Institut kann bei den hier aufgezählten Initiativen noch nicht von echten Institutionen der Medienkritik gesprochen werden. Somit erscheint es verfrüht, auch hier blinde Flecken zu diagnostizieren. Ein Schwachpunkt dieser Initiativen scheint aber die geringe Publizität darzustellen. Zwischenbefund

Bei der Institutionalisierung der Medienkritik in der Bundesrepublik Deutschland kann bisher nicht von der Verwirklichung der Ansprüche, der der Zivilgesellschaft folgenden Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen gesprochen werden. Zwar ist das Prinzip Kritik der Medien und Medien der Kritik bei der Genese des bundesdeutschen Mediensystems ebenso virulent wie bei der gesellschaftlichen Debatte über die Medien (und insbesondere des Fernsehens). Keineswegs ist es aber so, dass eine gesellschaftskritische Medientheorie in den verschiedenen Institutionen der Medienkritik, wie den Mainzer Tagen der FernsehKritik, dem Adolf Grimme Institut oder den Landesmedienanstalten, der publizistischen Debatte oder den Universitäten einen festen Platz hätte.123 Aufmerksamkeit erlangt die Medienkritik in Deutschland weiterhin nur unter zwei Bedingungen: wenn Katastrophales geschieht, das mit Mediennutzung in Beziehung gesetzt werden kann, etwa der Amoklauf 122 »Der Verein Netzwerk Recherche soll eine Lobby für den in Deutschland vernachlässigten investigativen Journalismus sein. Er vertritt die Interessen jener Kollegen, die oft gegen Widerstände in Verlagen und Sendern intensive Recherche durchsetzen wollen. Der Verein sieht sich in der Pflicht, wenn Funktionsträger den freien Fluss von Informationen behindern, wenn kein Geld für Recherchen zur Verfügung gestellt wird, wenn Kollegen für korrekte, kritische Arbeit angegriffen oder zum Teil sogar juristisch verfolgt werden. Zu den zentralen Zielen des Netzwerks gehört es zudem, die Aus- und Fortbildung im Bereich Recherche zu verbessern. Hierzu erarbeitet der Verein selbst Konzepte, organisiert Seminare mit und kümmert sich um die Vergabe von RechercheStipendien [Hervorhebung im Original – MSK]« (www.netzwerkrecherche.de). 123 In den USA ist dies anders: Horance Newcomb, mit seiner Reihe Television – The critical view, die im Jahr 2000 in der sechsten Auflage erschien, sowie die Arbeiten von Neil Postman, Herbert I. Schiller, Joshaua Meyrowitz und Manuel Castells werden bzw. wurden in den Sozialwissenschaften, wie von den Medienschaffenden, wahrgenommen und diskutiert.

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am Gutenberg Gymnasium in Erfurt im Frühjahr 2002, oder, wenn neue Fernsehformate, die bislang geltenden medialen wie gesellschaftlichen Regeln in Frage stellen, so z.B. die kalkulierten Tabubrüche in Formaten wie Big Brother, Jackass oder dem Dschungelcamp (vgl. Hallenberger/ Nieland 2005a: 9). Die Medienkritik befindet sich, wenn sie weiterhin anhand des Einzelphänomens124 argumentiert und ökonomische wie kulturelle Kontexte ausblendet, in der Gefahr, statt kritischer Einwände, zusätzliche Aufmerksamkeit und damit Produkt-PR zu produzieren sowie den Erfolg des Kritisierten noch zu steigern (ebd.: 10). Gegen die diagnostizierten Defizite der Institutionalisierung der Medienkritik, wurden jüngst, im Rahmen des von der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt (LfM) in Auftrag gegebenen Forschungsprojektes Kritik der Medienkritik (vgl. Weiß 2005) Therapievorschläge in Stellung gebracht (vgl. Jarren/Zielmann 2005). Unter der Leitlinie »Interne Anreize schaffen und externe Beobachter etablieren [Hervorhebung im Original – MSK]«, sollen die (Medien)Unternehmen, die Reaktionen sowie weitere Akteure zur Reflexion der Medienentwicklung gestärkt werden. Auf der Medienunternehmensebene muss es medienpolitisches Ziel bleiben, die strukturelle Diversität im Mediensektor zu erhalten bzw. zu stärken und gleichzeitig die Initiative zur Etablierung von Media-Governance-Ansätzen (Leitbildern, Selbstverpflichtungen, redaktionellen Statuten) durch Regulierungsbehörden und Branchenverbände zu ergreifen. Schließlich sollte es zur Ausweitung von Formen der Co-Regulierung, bezogen auf das Qualitätsmanagement durch Regulierungsbehörden und Branchenverbände, kommen. Auf der redaktionellen Ebene, insbesondere im Bereich des Medienjournalismus, muss eine Auseinandersetzung über publizistische Grundsätze und redaktionsinternes Regelwerk, auch bzgl. des Umgangs mit Informationen über das eigene Haus und eine Erweiterung des Pressekodex einsetzen. Auf der dritten Ebene geht es um die Förderung und Etablierung von Akteuren zur Reflexion. Dies könnte durch die Förderung der bestehenden publizistischen Angebote mit medienanalytischem und medienkritischem Charakter (Intellektuellen-/Elitendiskurs) geschehen, Initiativen zur Etablierung neuer medienkritischer Akteure außerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens (Stiftung Medientest) und zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur Verbesserung von Medienkompetenz, jenseits staatlicher und medienpädagogischer Instanzen. Selbstbeobachtungsfalle und Critiainment als Fallstricke der Medienkritik

Die Schwächen in der Praxis, d.h. die Wirkungslosigkeit bzw. mangelnde Nachhaltigkeit sowie hinsichtlich der Institutionalisierung der (sozial-) 124 Hiermit ist gemeint, dass Medienkritik häufig in die klassische Werkkritik zurückfällt und entsprechend nur das einzelne Medienprodukt sieht.

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wissenschaftlichen Medienkritik, haben die Risiken erhöht, dass sich die Medienkritik in der Selbstbeobachtungsfalle (Beuthner/Weichert 2005a sowie die Beiträge in Beuthner/Weichert 2005a) und dem Crititainment (Hallenberger/Nieland 2005d) verstrickt. (A) Selbstbeobachtungsfalle. Im Gegensatz zu den USA ist in den bundesdeutschen Medien eine breit angelegte Reflexion in eigener Sache selten. Beuthner und Weichert sprechen in diesem Zusammenhang von der Selbstbeobachtungsfalle. Folgende Probleme sind dabei konstitutiv: Zum einen das Definitionsproblem, d.h., dass bislang keine Einigkeit darüber besteht, worüber Medienjournalisten berichten sollen. Eine oft beobachtete Folge ist, dass Programmvorschauen und Schauspielerinterviews, berufsbezogene Eigenkritik oder Gesellschaftsanalysen mit Medienbezug ersetzen. Zweitens die Kollegenorientierung, womit gemeint ist, dass Eitelkeiten und Geltungsdrang den Blick auf die Strukturen und Inhalte der Medien verstellen. Drittens das Glashaus-Dilemma, d.h., Medienjournalisten befinden sich nicht nur in einem kollegialen, sondern auch in einem ökonomischen Interessenskonflikt. Viertens das Institutionalisierungsproblem. Darunter verstehen Beuthner und Weichert, dass dem Medienjournalismus strukturelle Grundlagen und Ressourcen fehlen. Fünftens die Betriebsblindheit. Die beiden Autoren haben fünf Beobachtungsebenen identifiziert: Aussageebene, Professionsebene, Mediensystemebene, Rezeptionsebene und die Gesellschaftsebene. Diesen Ebenen ordnen sie Beobachtungsgegenstände und -funktionen zu: Auf der Aussageebene sind es die Medienprodukte, die die Orientierung garantieren sollen. Die Professionsebene lässt sich über die (Medien-)Akteure beobachten und diese sollen die Qualität sicherstellen. Medienpolitik und -ökonomie sind die Beobachtungsgegenstände auf der Mediensystemebene, ihre Funktion ist es, Transparenz zu erzeugen. Das Medienpublikum repräsentiert die Rezeptionsebene, hier ist Medienkompetenz als Beobachtungsfunktion verortet. Schließlich markiert die Aufklärung die Beobachtungsfunktion für die Mediengesellschaft (Beuthner/Weichert 2005b). Die Vorschläge von Beuthner und Weichert, der Selbstbeobachtungsfalle zu entkommen, lauten: (a) Zum Definitionsproblem: Ihrer Ansicht nach sind die Medienjournalisten aufgerufen, nicht nur ihr Denk- und Wirkungsumfeld selbstbewusst zu erweitern und zu konsolidieren, sondern auch den eigenen Gegenstand umfassender zu definieren und so die publizistische Autonomie zu verteidigen. Zusätzlich sollten sie sich vergegenwärtigen, dass zahlreiche gesellschaftliche Bereiche in einem engen Wechselverhältnis zu Medieneinflüssen stehen (sie nennen die Berichterstattung zu den Terroranschlägen am 11. September). (b) Zur Kollegenorientierung: Der Vorschlag von Beuthner und Weichert läuft auf die Installation von Ombudsleuten innerhalb von Redaktionen hinaus. Diese Personen könnten sowohl als Mittler zwischen Redaktion und Publikum fungieren, als auch eine Argumentationsgrundlage für die Unab-

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hängigkeit und Glaubwürdigkeit der Medienjournalisten liefern. (c) Zum Glashaus-Dilemma: Die Medienjournalisten sind aufgerufen, die Ansprüche, die Journalisten an sich und ihre Berichterstattung stellen, auch bei der Behandlung von Medienthemen anzuwenden. (d) Zum Institutionalisierungsproblem: Zur besseren Verankerung des Medienjournalismus und der Medienkritik plädieren sie für Redaktionsstatute mit professionellen Kodizes, da sie glauben, dass diese die Medienressorts intern wie extern vor redaktioneller Einflussnahme schützen können. Außerdem regen sie die Verbesserung der entsprechenden Aus- und Fortbildung (an Universitäten und Journalistenakademien) an. (e) Zur Betriebsblindheit: Beuthner und Weichert schließen sich der Forderung an, dass der Medienjournalismus stärker das gesellschaftliche Machtpotenzial der Medien ins Visier nehmen sollte; dabei kann auch die Wissenschaft mit ihren (distanzierteren) Ansätzen und Analysen eine Hilfestellung geben.125 (B) Crititainment. Für eine aktuelle Tendenz der Fernsehunterhaltung haben Hallenberger und Nieland (2005d) den Begriff des Crititainment vorgeschlagen. Mit diesem Begriff soll der Trend beschrieben werden, dass die wertende Beurteilung beliebiger Objekte als Fernsehunterhaltung geschieht. Crititainment funktioniert zum einen auf Grund der Fokussierung auf nicht weiter begründungsbedürftige und letztlich nicht hinterfragbare subjektive Geschmacksurteile. Zum Zweiten, weil die Beschäftigung mit äußeren Gegenständen die spielerische Beschäftigung mit dem eigenen Selbstbild ermöglicht und dabei drittens an die umfänglich verfügbaren populärkulturellen Referenzen angeschlossen wird (vgl. zur lustvollen, eigensinnigen Rezeption populärkultureller (Medien-)Produkte u.a. Göttlich/Winter 2000). Tatsächlich ist das, was in und mit Medien geschieht, heute mit einem hohen Nachrichtenwert verbunden. Dies gilt sowohl für ökonomische Krisen, z.B. den Zusammenbruch des Kirch-Imperiums im Frühjahr 2002 oder die Übernahme von VIVA durch MTV seit Sommer 2004, als auch für das Privatleben von Medienprominenten. Verfügen die erwähnten Prominenten zusätzlich noch über Unterhaltungswert126, dann geschieht die Selbstthematisierung in Boulevardmagazinen und in Talk Shows. Hinzu kommt, dass die Programmmedien sich inzwischen in erheblichem Maße auf Verweise als Programmbestandteil stützten127 und

125 Das Grundmuster dessen, was Beuthner und Weichert als Selbstbeobachtungsfalle bezeichnen, hat Bourdieu (1998: 9-96) bereits 1996 mit seinem Konzept der manipulierten Manipulateure ausgearbeitet (vgl. hierzu die Bourdieu-Passagen im Kap. 2.4.). 126 Gemeint ist hiermit, dass heute zunehmend Unterhaltungssendungen von der Medienpräsenz von Medienpersönlichenkeiten (vgl. hierzu das Kap. 4.1.) und Prominenten (aus Politik, Sport und Wirtschaft) leben. 127 Was früher etwa im Fernsehen mit der Programmansage begann, hat sich mittlerweile zu einem komplexen System entwickelt, das neben Ausschnitten von Nachfolgesendungen des gleichen Kanals, im Sinne von On-Air-Promo-

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hierbei die Möglichkeiten der Cross-Promotion ausschöpfen. Als CrossPromotion wird die Werbung für bestimmte Medienprodukte in anderen Medienprodukten bezeichnet.128 Schließlich gehört auch die Bewerbung sendungsbezogener Produkte zum Feld der medialen Selbstthematisierung. Merchandising hat sich inzwischen zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, und kaum eine erfolgreiche Produktion verzichtet darauf, beispielsweise das Buch, die CD und/oder die DVD zur Sendung auf den Markt zu bringen – oder wenigstens einen Klingelton. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass sich das unterhaltungsorientierte Fernsehen in hohem Maße anderer Medieninhalte bedient. Hier bietet sich die Gelegenheit, an die populärkulturelle Tradition der Lust an höchst subjektiver Bewertung (vgl. Hornby 1996; Göttlich/Winter 2000) anzuschließen. Die Befriedigung dieser Lust kann wiederum selbst Objekt weiterer Unterhaltungssendungen sein. Pionier war dabei Oliver Kalkofe, dessen Mattscheibe sowohl früher auf Premiere, als auch heute bei ProSieben mit den Mitteln der Verkleidung, der karikierenden Imitation und der satirischen Kommentierung, gesendetes Fernsehen lächerlich macht. In letzter Zeit wird dieser Ansatz mit Listenbildung verknüpft – ebenfalls einer populärkulturellen Tradition (vgl. Hornby 1996) –, die nicht nur kommunikative Funktionen erfüllt, sondern zusätzlich Orientierung in einer zusehends unübersichtlichen (Medien-)Welt gibt. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob man als Zuschauer die vorgenommene Hierarchisierung von Phänomenen teilt: Zustimmung wie Ablehnung rekurrieren auf eigene Wertungsschemata, deren Bedeutsamkeit durch die entsprechenden Sendungen bestätigt wird. Beispiele wären, in positiver Hinsicht und eher ernsthaft, Unsere Besten, eine 7-teilige ZDF-Reihe aus dem Herbst 2003 oder, als negatives Fallbeispiel, Die 90er – Die peinlichsten Popsünden (RTL II), Die Trash Top 100 der schlechtesten Musikvideos (VIVA) sowie die Reihen Die 100 nervigsten … von ProSieben und Die 10 … auf RTL. Bei diesen Sendungen überwiegen die negativen Auswahlen, da sie höheren Unterhaltungswert besitzen und leichter auf tion, auch erst in einigen Wochen anstehende saisonale Höhepunkte oder Angebote anderer Sender der gleichen Sendergruppe bewerben kann. 128 Wenn ein Sender etwa über eine Prominenten-Talk-Show verfügt und eine neue fiktionale Serie startet, muss man in der Regel nicht lange warten, bis einer der Hauptdarsteller der Serie als Gast in dieser Talk Show auftritt. Selbst wenn sie bei einer Tonträgerfirma unter Vertrag ist, die mit dem betreffenden Sender nicht verknüpft ist, kann der Auftritt einer prominenten Sängerin effektive Cross-Promotion darstellen, wenn ihr Auftritt vorher bekannt ist – worum sich in der Regel wieder andere Medien kümmern. In diesem Fall profitiert der Fernsehsender dadurch vom Auftritt der Sängerin, dass er neben seinem Stammpublikum auf diesem Sendeplatz ihre Fans hinzugewinnt; die Sängerin wiederum hat zur Bewerbung ihres aktuellen Musiktitels neben ihren Fans noch das allgemeine Sendungspublikum (vgl. Hallenberger/Nieland 2005d). Als Beispiel könnte Jeanette Biedermann genannt werden, die als ehemalige Daily Soap Darstellerin (Gute Zeiten, Schlechte Zeiten – RTL) eine Musikkarriere startete und in verschiedenen Sendungen (u.a. in der Castingshow Star Search auf SAT.1 als Jurymitglied) auftauchte.

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Zustimmung stoßen. Unabhängig von der Beurteilung der Stärken und Schwächen einzelner Sendungen, die diesen Trends zuzuordnen sind, ist Crititainment problematisch, weil die Ausrichtung auf aktuellen Unterhaltungswert die Gefahr der Dekontextualisierung und Dehistorisierung129 der ver- bzw. behandelten Gegenstände in sich birgt. Was vorkommt, kommt primär auf Grund seines aktuellen Vermarktungswertes vor oder seines nostalgischen Wertes, der aber ebenfalls aktuell vermarktet werden kann. Geschichte, v.a. populärkulturelle, wird zum Mosaikstein von Gegenwart reduziert, sie verpufft in Aktualität (vgl. Kleiner/ Nieland 2005c/d). Diskurs und Praxis. Martin Keßlers Dokumentarfilm Neue Wut

Scheinen die bisherigen Versuche der Institutionalisierung von Medienkritik, wie der vorausgehende Überblick verdeutlicht hat, letztlich keine nachhaltige soziale und mediale Wirksamkeit zu verursachen, soll im Folgenden, an Hand des Dokumentarfilms Neue Wut130 kurz diskutiert werden, ob ausgehend von Medienproduktionen (Medien der Kritik), und nicht von Diskursen (Kritik der Medien), eine Institutionalisierung der Medienkritik initiiert werden könnte, die Nachhaltigkeit bzw. Wirksamkeit, Vernetzung und gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erzielt, also die Gestaltung der Wirklichkeit der Medien und damit der Gesellschaft zu einer gemeinsamen Aufgabe macht. Keßlers Dokumentarfilm legt nahe, dass die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV nicht erfolglos waren, sondern im Gegenteil mit zu den Neuwahlen und dem Aufstieg der Linkspartei beigetragen haben und somit die innenpolitische Situation nachhaltig verändern könnten. Neue Wut veranschaulicht eindringlich, wie unter den Bedingungen von Agenda 2010 der Alltag vieler Menschen grundlegend verändert und von per129 In der Morgendämmerung der Medientheorie hat Benjamin (1977: 13f.) bereits auf den Verlust des historischen Bewusstseins, man könnte auch von historischer Amnesie sprechen, hingewiesen, der durch neue elektronische Reproduktionstechniken und der Fokussierung auf den Ausstellungswert von (Kunst)Werken verursacht wurde: »Die Reproduktionstechnik [...] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Probleme führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage. Ihr machtvoller Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positiven Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.« 130 Ich setze an dieser Stelle die allgemeinen Ausführungen zu diesem Dokumentarfilm aus dem Kap. 2.3. voraus.

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manenter Angst um Jobverlust, sozialen Abstieg usw. begleitet wird. Dies nicht aus der Distanz oder durch permanente Kommentare, wie sie etwa die Filme von Michael Moore auszeichnen, sondern an Hand von individuellen Biographien, wie der der arbeitslosen Frankfurterin Barbara Willmann. Kessler begleitet sie zur Arbeitsagentur, wo ihr Antrag für das neue Arbeitslosengeld nach Hartz IV begutachtet wird. Tatsächlich hat die Sachbearbeiterin etwas zu beanstanden. Die Zinsen vom Sparbuch eines der Kinder von Frau Willmann sind nicht angegeben. Obwohl es sich um Centbeträge handelt, muss sie den Nachweis nachreichen. Besser hätte man nicht darstellen können, was es heißt, unter den Bedingungen von Hartz IV zu leben. Gesellschafts- und Medienkritik werden in diesem Dokumentarfilm gekonnt miteinander verbunden, gerade dadurch, dass medial in Szene gesetzt wird (Medien der Kritik – Neue Wut), was medial kaum gezeigt wird (Kritik der Medien – Medien-Berichterstattung über Agenda 2010, Hartz IV etc.) und dies wiederum nicht in einem sicheren Raum (Fernsehen), sondern an Orten, an denen der Film eine anschließende Diskussion auslösen soll, also die Rezeptionseindrücke unmittelbar und wechselseitig erörtert werden können. Auch wenn sich Keßler um einen Fernsehsendeplatz bemüht, war gleichsam immer das Vorführen an Orten geplant, an denen anschließende Diskussionen zwischen Produzenten, Konsumenten, Betroffenen, Verantwortlichen und Kritikern (Journalisten bzw. Wissenschaftlern) stattfinden sollten. Die Wirkungen, die von Neuer Wut ausgehen oder ausbleiben, können noch nicht abgeschätzt werden. Auf jeden Fall sollte von seiner Thematisierung gegenwärtiger Reformen eine Signalwirkung ausgehen, wie Gesellschafts- und Medienkritik gegenwärtig entworfen werden könnte, d.h. in der Interdependenz zwischen der (diskursiven) Kritik der Medien, den Medien der Kritik Formen (neuer) Institutionalisierungsbemühungen sowie der Einbeziehung der Mediennutzer. Die Institutionalisierung von Medienkritik aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie

Adorno (1997j: 516) beschließt seine Überlegungen im Aufsatz Prolog zum Fernsehen mit einer Prognose über die Zukunft des Fernsehens: »Was aus dem Fernsehen werden mag, lässt sich nicht prophezeien; was es heute ist, hängt nicht an der Erfindung, nicht einmal an den besonderen Formen ihrer kommerziellen Verwertung, sondern am Ganzen, in welches das Mirakel eingespannt ist.«

Bezieht man diesen Gedanken auf das Thema der Institutionalisierung von Medienkritik, so wird damit angezeigt, dass die Auseinandersetzung einen gesamtgesellschaftlichen Bezug haben muss. Um den Bogen hierbei nicht zu weit zu spannen, werde ich abschließend auf die konstitutiven Felder verweisen, die diskutiert werden müssen, um die Anforderun-

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gen an die Institutionalisierung der Medienkritik aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie zu skizzieren. Die vorliegende Analyse der Institutionalisierungsbemühungen hat eine Reihe von Defiziten zu Tage gefördert. Den untersuchten Institutionen ist es (bislang) kaum gelungen, einen nachhaltigen Diskurs zu etablieren. Vielmehr ist in regelmäßigen Abständen vom Verfall oder dem Verschwinden der Medienkritik die Rede. Die Diskursmedien (Fachdienste und Spezialzeitschriften) genießen nur bei den Experten Aufmerksamkeit, die Medienseiten der Tages- und Wochenzeitungen sind eingestellt oder deutlich zurückgefahren, im Fernsehen findet sich aktuell nur ein Medienmagazin. Über die Arbeit der Landesmedienanstalten im Bereich der Medienkompetenzförderung und des Jugendmedienschutzes erfährt die Öffentlichkeit zu wenig. Medienpädagogische Aktivitäten sind deshalb oft unkoordiniert und bestenfalls auf Einzelfälle bezogen. Eine Stärkung der Institutionalisierung der Medienkritik sollte v.a. in zwei Bereichen angestrebt werden: beim (Medien-)Verbraucherschutz und dem Medienjournalismus. Wenn Medienkritik sich auch als Verbraucherschutz versteht, dann ist eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des Konzepts der Stiftung Medientest notwendig. Als unabhängige Dokumentations- und Analyseeinrichtung wäre von der Stiftung eine systematische Beobachtung und Kommentierung der Medienentwicklung zu leisten. Diese Analysen können (bzw. müssen) die Aufstellungen zur Konzentration im Medienbereich (laut Rundfunkstaatsvertrag ist dazu die KEK verpflichtet) sowie die von den Landesmedienanstalten in Auftrag gegebene Programmforschung (vgl. ALM 2005) ergänzen. Bemühungen, den Organisationsgrad der Mediennutzer zu erhöhen, hatten bislang wenig Erfolg. Beschwerdestellen werden beispielsweise kaum genutzt. Auch ist die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) nicht so handlungsfähig, wie vom Gesetzgeber (vgl. den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder vom 01.04.2003) beabsichtigt – die zum Teil erheblich unterschiedlichen Einschätzungen zu aktuellen Formaten (etwa der Dschungel-Show oder Schönheitsoperationen in der Sendung Swan) durch die KJM auf der einen und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FES) sowie den ausstrahlenden Sendern auf der anderen Seite, dokumentieren diesen Entwicklungsstand. Um die Rolle der Medienjournalisten zu verbessern, liegen eine Reihe von Vorschlägen vor. Insbesondere die Gefahren der Selbstbeobachtungsfalle erfordern ein Bündel von Maßnahmen. Derzeit erscheint der Maßnahmenkatalog von Beuthner und Weichert in die richtige Richtung zu gehen. Ausgangspunkt sind Selbstverpflichtungen (und Leitbilder) der Medienkritiker: so z.B. im Marler Manifest. Mit dem Bert DonneppPreis ist der Versuch markiert, die Medienpublizistik stärker in der Öffentlichkeit zu verankern und die Position der Medienkritiker (in ihren Häusern) zu verbessern.

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Mein Rückblick auf die Institutionalisierung von Medienkritik hat gezeigt, dass neue Formen der Co-Regulierung im Medienbereich zur Anwendung kommen müssen (vgl. umfassend Donges 2002). Denn die Medienordnungspolitik hat strukturelle Diversität zu gewährleisten und muss gleichzeitig Kommunikationsaktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure unterstützen, um den Institutionalisierungsgrad im Feld der Medienkritik zu erhöhen. Die von mir vorgestellten Initiativen (Nachrichtenaufklärung, publizistische Selbstkontrolle und Netzwerk Recherche) sind augenblicklich nur wenig vernetzt und deshalb nur von geringer Durchschlagskraft. Die Medienpolitik sollte sich öffnen für Media-Governance-Initiativen, wie sie von Trappel, Meier, Scharpe und Wölk (2002) vorgeschlagen wurden. Angesichts des von mir formulierten Anspruchs einer gesellschaftstheoretischen Medientheorie, ist die Etablierung neuer Akteure notwendig (hier Stiftung Medientest und einen Medienrat). Voraussetzung jeder Form der Institutionalisierung von Medienkritik ist eine kontinuierliche und umfassende Reflexionsarbeit, d.h. die Produktion medienkritischer (journalistischer und wissenschaftlicher) Diskurse, die nicht von einem festen Kanon der Gebote ausgehen, sondern sich, mit Blick auf die jeweiligen Anforderungen bzw. Veränderungen der Zeit, flexibel konstituieren, ohne dabei beliebig zu sein. Zentral für eine gesellschaftskritische Medientheorie ist hierbei, dass medienkritische Diskurse sich nicht auf die Messung (möglicher) Medienwirkungen, davon ausgehenden Rückschlüssen auf das Denken und Handeln der Mediennutzer sowie einer hieraus resultierenden Erarbeitung von Kritikmaßstäben fokussieren. Vielmehr muss in diesen medienkritischen Diskursen einerseits die Produktanalyse im Vordergrund stehen, d.h. die Diskussion der Frage, was mit bestimmten Medienformaten bzw. -produkten ausgesagt wird und nach welchen Maßstäben diese beurteilt werden könnten. Voraussetzung dieser Perspektive ist, dass Medienproduktionen nicht als singuläre gesellschaftliche Phänomene aufgefasst, sondern stets deren gesamtgesellschaftliche Implikationen bedacht werden. Andererseits muss mitbedacht werden, welche alternativen Formate bzw. Handlungen möglich wären. Kritik muss sich selbst als praxiskompetent erweisen. Diese medienkritischen Diskurse dürfen aber nicht einfach nebeneinander existieren131, sondern müssen in einen permanenten Dialog mitein131 Bis heute ist es üblich, dass medienkritische Diskurse, Akteure und Institutionen sich nur untereinander substanziell austauschen, ansonsten nur nebeneinander existieren, und Kritik an anderen Positionen, Personen und Institutionen zumeist aus theoriepolitischer Blindheit und Distinktionsinteressen üben, ohne sich hierbei umfassend auf die Gegenstände ihrer Kritik in ihrer jeweiligen Eigenlogik einzulassen. Somit entsteht eine große Zirkularität, die dem medienkritischen Diskurs und seiner Institutionalisierung schadet. Ein Blick in medienkritische Publikationen der letzten Jahre, auf die Personenauswahl bei einschlägigen Tagungen sowie die Themenauswahl von Medienseiten großer Feuilletons, veranschaulicht diese These eindringlich.

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ander treten. Das Diskursfeld Medienkritik müsste gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache gemacht werden, ohne sich hierbei Diskursimperativen unterzuordnen. Gerade eine Vielfalt von Stimmen und Positionen trägt hierzu entscheidend bei. Um sich vor der Gefahr neuer Unübersichtlichkeiten und Überkomplexität zu schützen, müssten miteinander verbundene Plattformen (Publikationsreihen, Netzseiten, Tagungen, Formate im Fernsehen oder Radio, Aktionen usw.) entstehen, von denen aus unter anderem (a) Diskurse initiiert werden; die (b) Diskurse dokumentieren; auf denen (c) Diskurse miteinander in einen Dialog treten können; die (d) Diskurse nach Themen ordnen; die einen (e) permanenten Austausch zwischen Kritikern, Produzenten und Nutzern anregen; (f) die Diskurse in Praxisformen überführen; (g) die zusammen mit unterschiedlichen Akteuren medienkritische Produkte erarbeiten (hiermit sind im Wesentlichen nicht Bücher oder Aufsätze gemeint, sondern z.B. DVDs, Radiosendungen, Filme etc.); die (g) Räume (z.B. Sendeplätze) in den Medien, die sie kritisieren, schaffen, in denen sie sich äußern können; die (h) darauf drängen, medienkritische Diskurse in medienrechtliche Entscheidungsprozesse einzubinden; und die (i) versuchen, Medienkritik als zentrales Feld der Medienpolitik institutionell abzusichern. Der medienkritische Diskurs müsste zugleich in einem permanenten Austausch mit der Medienpraxis stehen und diese als integralen Bestandteil ihrer Kritik auffassen, damit die Kritik der Medien und die Medien der Kritik ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht bilden und nicht, wie bisher, zunächst und zumeist aneinander vorbei schreiben bzw. senden.

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DIE GRENZEN GESELLSCHAFTSKRITISCHER MEDIENTHEORIEN AUS DER PERSPEKTIVE EINER WOHLDEFINIERTEN MEDIENWISSENSCHAFT

»Medien zu verstehen, bleibt [...] eine Unmöglichkeit, weil gerade umgekehrt die jeweils herrschenden Nachrichtentechniken alles Verstehen fernsteuern und seine Illusionen hervorrufen. Aber machbar scheint es, an den Blaupausen oder Schaltplänen selber [...] historische Figuren des Unbekannten namens Körper abzulesen. Von den Leuten gibt es immer nur das, was Medien speichern und weitergeben können. Mithin zählen nicht die Botschaften oder Inhalte, mit denen Nachrichtentechniken so genannte Seele für die Dauer einer Technikepoche buchstäblich ausstaffieren, sondern (streng nach McLuhan) einzig ihre Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmungen überhaupt« (Kittler 1986: 5).

Das Ziel dieser Studie ist es, einerseits diskursive Grundlagen bzw. Bausteine zum Entwurf einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie zu erarbeiten sowie andererseits Möglichkei-

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ten einer hiervon ausgehenden Gestaltung der Medienpraxis zu präsentieren, ebenso wie zum Ausbau der Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland beizutragen. Dieser Ansatz korrespondiert, allerdings unter anderen Voraussetzungen und mit divergierenden Zielen, mit dem Entwurf einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie (vgl. Ernst 2002a: 156f.; Ernst 2003a: 6), wie sie gegenwärtig am grundlegendsten von Wolfgang Ernst diskursiv und institutionell, d.h. im Seminar für Medienwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin ausgearbeitet wird. Die folgende Diskussion der Kritik am Medienbegriff und an der Medienkritik einer gesellschaftskritischen Medientheorie wird exemplarisch durch die Auseinandersetzung mit einigen Texten von Ernst geführt.132 In diesem Kontext geht es darum, seine grundsätzliche Kritik idealtypisch zu rekonstruieren, um ausgehend hiervon einerseits die (Kompetenz-)Grenzen einer gesellschaftskritischer Medientheorie aus der Perspektive der Medienwissenschaft klar zu benennen, sowie zum anderen über Möglichkeiten der substanziellen Kooperation zwischen einer gesellschaftskritischen Medientheorie und einer wohldefinierten Medienwissenschaft nachzudenken. Dieses Nachdenken nimmt die im Kapitel 3.1. herausgestellten These, dass Medienkritik immer ein Interaktionsprodukt von unterschiedlichen Akteuren sein muss, weil jeder Akteur die Gegenstände nur aus einer jeweils sehr begrenzten Perspektive beurteilen kann, konstruktiv ernst. Im Denken von Ernst ist diese Überlegung als konstitutives Moment ebenfalls gegenwärtig, denn er fordert, ausgehend von den Grenzziehungen der Möglichkeiten seiner eigenen Medienforschung, die arbeitsteilige133 Kooperation der Disziplinen. Das kann aber nur gelingen, wenn alle beteiligten Disziplinen zunächst eine diskursive Grundlagenarbeit leisten. Dies könnte zumindest als Konsequenz aus der Forderung von Ernst nach einer wohldefinierten Medienwissenschaft abgeleitet werden. Medienforschung als Geschichte selbstbewusster (Kompetenz-)Grenzen

Gesellschaftskritische Medienforschung, wie sie in dieser Studie als Theoriefiktion und Heterotopie entworfen wird, muss sich als Geschichte ihrer Grenzen verstehen. Ausgehend von diesem disziplin-internen GrenzWissen kann allererst eine sachadäquate Auseinandersetzung mit den jeweils diskutierten Themen realisiert werden. Gerade auch für arbeitsteili132 Ernst bezieht sich in dieser Kritik zwar nicht auf die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien, sondern auf sozialwissenschaftliche Medienforschung sowie die Kommunikations- und Publizistikwissenschaft, seine Überlegungen können aber, wie im Folgenden gezeigt wird, instruktiv auf diese Tradition bezogen werden. 133 Unter arbeitsteilig versteht Ernst das different aufeinander Verwiesensein der Disziplinen.

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ge, transdisziplinäre Kooperationen im Feld von Medienforschung und Medienkritik stellt die Auseinandersetzung mit den eigenen (Kompetenz)Grenzen, flankiert durch eine solide Definitionsarbeit im jeweiligen Bereich, den Ausgangspunkt dar. Leitend für diesen Gedanken ist eine Überlegung von Foucault (1996a: 9): »Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben [...], mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie isoliert ist, ganz genau so viel über sie aus wie über ihre Werte; [...]. [...] Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen [Hervorhebung im Original – MSK].« Das notwendige (wissenschaftliche) Kultivieren von Grenz-Wissen bzw. des Selbstverständnisses von Wissenschaft als Grenz-Wissenschaft, müsste sich im Feld von Medienforschung und Medienkritik als eine Struktur gemeinsamer Unterschiede darstellen, die different aufeinander verwiesen sind und innerhalb derer diskurs-interne Besonderheiten definiert werden, um die jeweiligen Eigensinnigkeiten transparent zu machen und damit auch Grenzen der Verständigung sowie Kooperation hervorzuheben. Man urteilt hierbei nicht mit dem Pathos der Absolutheit, sondern erkennt auch den anderen Positionen Diskursmacht sowie Möglichkeitsansprüche134 grundsätzlich zu. Eine darauf aufgebaute (wissenschaftliche) Handlungswelt ist im Einzelnen spezifischer und im Ganzen durchlässiger. Gefordert ist in diesem Kontext die Berücksichtigung von spezifischen Formen der diskursiven Grenzziehung, die Derrida135 (1998: 71f.) unterscheidet. Für Derrida sind es prinzipiell drei Formen von Schranken bzw. Grenzen, die jeden universalen Diskurs als fragwürdig erscheinen lassen: die »problematische Geschlossenheit«, die einer Untersuchung, einem Wissen oder einem Erkenntnisinteresse ein bestimmtes Territorium zuweist; die »anthropologische Grenze«, die Derrida als »verräumlichende Umrandung« versteht, die auf »künstliche und konventionelle Weise«, z.B. zwei nationale, linguistische oder kulturelle Räume voneinander trennt; und die »begriffliche Abgrenzung« bzw. die »logische De-finition«, die zwei Begriffe radikal einander entgegensetzt

134 Der Begriff Wahrheitsansprüche ist gemäß der theoriefiktionalen Ausrichtung dieser Studie nicht verwendet worden (vgl. das Methoden-Kapitel). Mit Diskursmacht ist der gleichberechtigte, nicht gleichwertige, Zugang zu Diskurswelten gemeint, Möglichkeitsansprüche bezeichnen das Selbstverständnis als alternative Bedeutungskonstruktion im Feld der jeweiligen wissenschaftlichen Medienforschung. 135 Derrida trifft diese Unterscheidung in seiner Re-Lektüre des § 50 aus Heideggers (1993) Studie Sein und Zeit und dessen dort getroffener Bestimmung des Todes. Das, abgesehen vom konkreten Themenbezug, allgemeine Verständnis von Grenzen bzw. Schranken, vermittelt eine für den Kontext meiner Überlegungen produktive Differenzierung.

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und alle »partizipierend[en] Teilungen« ausschaltet [Hervorhebung im Original – MSK]. Das entscheidende Problem hierbei ist, wie substanzielle Kooperationen in der Differenz genau möglich sind und diese sich transdisziplinär realisieren lassen. Eine Geschichte der Grenzen im Feld von Medienforschung und Medienkritik müsste ihren Ausgang nicht von idealtypischen Modellen und Erklärungen, die auf Konsens und Einheit aus sind, nehmen, sondern würde diese Felder konstitutiv als identitätsstiftende Differenzerfahrungen, Ausschlusssysteme des Eigenen und des Fremden sowie als Schauplätze von Konflikten verstehen. Eine Auseinandersetzung mit Medienforschung und Medienkritik von ihren Grenzen her, ist dementsprechend eine Grenzerfahrung der eigenen Kompetenzen und des eigenen Verstehens. Und Grenzen haben immer einen Doppelsinn: Einund Ausschluss sowie kontrollierte Ein- und Ausreise. Wird dieses Grenz-Wissen zukünftig in der wissenschaftlichen Diskurspraxis umgesetzt, könnten einerseits die jeweiligen medienanalytischen sowie medienkritischen Diskurse eindeutige Profile ausbilden, um ausgehend hiervon andererseits realistische Kooperationen in Angriff zu nehmen. Gleichwohl würde dieses Vorgehen andererseits auch ein Wissen um die Unvereinbarkeit von Positionen und die Grenzen von Interaktionen verdeutlichen. Kritik am Medienbegriff

Ein grundsätzliche Kritik, die Ernst an der sozialwissenschaftlichen Medienforschung übt, ist, dass es dieser Disziplin bis heute nicht gelungen ist, eine präzise, gegenstandsorientierte Medien-Definition zu präsentieren. Zudem betreiben die Sozialwissenschaften, so Ernst, keine Medien-, sondern Massenmedienforschung (vgl. Ernst 2004: 23; Ernst 2003a: 6f., 9f.). Hierbei lenkt die vorschnelle Frage nach der gesellschaftlichen Verwendung der Medien bzw. ihre umgehende Einbettung der Medienanalysen in gesamtgesellschaftliche Diskurse, die die Sozialwissenschaften stellen, sowie ihre Diskussion der Medien in Kategorien, wie z.B. Sinn, Wirkung, Identität oder Manipulation, den Blick ab von der Analyse der Eigensinnigkeiten sowie der Medialität bzw. Technizität von Medien, ihrer Prozesshaftigkeit und tatsächlichen Operativität. Andererseits liegt eine der Grenzen einer wohldefinierten Medienwissenschaft wiederum darin, dass sie keine Einbettung ihrer Medienanalysen in gesellschaftliche Diskurse leisten kann bzw. will, und diese Aufgabe arbeitsteilig den Sozialwissenschaften überlässt. Eine wohldefinierte Medienwissenschaft als Medienarchäologie endet dort, »wo Techniken zu Massenmedien werden, sprich: sich technisch nicht mehr wesentlich ändern, dafür aber so genannte Inhalte zu transportieren beginnen« (Ernst 2002a: 155).

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Ausgehend von dieser nach außen gerichteten Grenzziehung kartographiert Ernst programmatisch das Territorium einer wohldefinierten Medienwissenschaft. Am Anfang steht hierbei die Mediendefinitionsarbeit136: »Ein ›Medium‹ bezeichnet den Ort, an dem Daten in kodierter Form kanalisiert, übertragen, verarbeitet und gespeichert werden. Es ist zunächst indifferent gegenüber dem semantischen oder qualitativen Inhalt seiner Botschaften« (Ernst 2003b: 305). In seiner Antrittsvorlesung differenziert Ernst (2003a: 5f.) diese Definition aus: »Medien meinen sowohl physische wie logische Artefakte, doch damit gerinnt nicht schon jede Form der Wirklichkeitserzeugung zu einer medialen Performanz. Medien sind der Ort, wo sich Technologien, Operativität und kulturelle Semantik treffen. Kultur sei hier definiert als negentropische Operation, die mit hohem Energieaufwand unwahrscheinliche Ordnungen aufrechterhält oder baut. Medientheorie ist der Ort, Definitionen des Mediums und der Medialität, konkret die drei kulturpoetischen Wellen von Symbolerfindung, ihre mechanischen Reproduzierbarkeit und ihrer mathematisch augmentierte universale Berechenbarkeit zu reflektieren; nicht, um in Angleichung an die Objekte selbst technoid zu werden, sondern um die Analyse medialer Übertragungsprozesse [...] um die Dimension einer kulturtechnischen Epistemologie zu erweitern [...].«137

Für eine wohldefinierte Medienwissenschaft als Medienarchäologie, ist das kulturbestimmende (Leit-)Medium, durch das eine bisher nicht da gewesene Medienzäsur bewirkt wurde, der Computer (vgl. u.a. Ernst 2000: 17; Ernst 2003a: 3; Ernst 2004: 27). Aus diesen programmatischen Begriffsbestimmungen leitet Ernst die Darstellung der Aufgabenbereiche einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie her. Zentral ist hierbei, im Unterschied zu den Sozialwissenschaften, der nicht-inhaltistische, nicht-diskursive bzw. 136 Die bisherigen Medienbegriffs-Definitionen sind von Ernst als ein richtungsweisender work in progress angelegt, nicht aber als bereits abgeschlossene Bedeutungssysteme. Im Berliner Kolloquium zum Medienbegriff, das den Titel Medien, die wir meinen trägt, wird seit 2003 in einer regelmäßigen Veranstaltungsreihe versucht, den Medienbegriff einerseits in seinen vielfältigen Verwendungsweisen aufzuzeigen sowie andererseits aus der Vielzahl an heterogenen Definitionsversuchen das eigensinnige Medienbegriffsprofil einer wohldefinierten Medienwissenschaft herauszukristallisieren und sich hiermit zugleich von diesen Medienbegriffen abzugrenzen. 137 In einem Gespräch ergänzt Ernst (2004: 22; vgl. Ernst 2003a: 20): »Ein Medium ist der physikalische Ort, durch den etwas, was vorher codiert werden muss, um übertragbar zu sein, hindurch läuft – nicht ohne Spuren im Übertragenen zu hinterlassen, nicht ohne für Verrauschung verantwortlich zu sein und am Ende etwas übertragen haben wird, was decodierbar ist. ›Medium‹, so wie ich es verstehe, wird vom Kanal her definiert, ganz massiv von der Existenz eines Kanals. Das reicht aber nicht, sondern der Kanal ist an beiden Enden Codierungsprozessen unterworfen; symbolische Operationen und die Materialität, die Physik von Kanälen, sind daran konstruktiv beteiligt. Alle anderen metaphorischen Medienbegriffe sind für diese Realität irrelevant.«

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nicht-narrative Zugriff auf ihre Gegenstände.138 Medien sind daher nicht immer schon diskursive Effekte. Eine wohldefinierte Medienwissenschaft richtet ihr Erkenntnisinteresse auf die Erarbeitung von Wissen technischer, apparativer, historischer, mathematischer, kybernetischer oder ingenieurswissenschaftlicher Art.139 So interessiert eine wohldefinierte Medienwissenschaft am Medium Fernsehen z.B. nicht die Unterhaltungsinhalte, Erzähl- und Darstellungsweisen in Spielfilmen oder eine Kritik an der Informationsvermittlung in Nachrichtensendungen, sondern vielmehr etwa das Zeilenschreiben des Kathodenstrahls. Ein anderes Bespiel, das Ernst (2003c: 3) nennt, ist die DDR-Ostalgie-Welle im deutschen Fernsehen 2003, die v.a. durch den Film Good-bye-Lenin hervorgerufen wurde. Das Zeigen von Archivmaterial aus den Zeiten des DDR-Fernsehens war in diesen Kontexten nur möglich, weil die Sendungen auf Magnetband aufzeichenbar waren und nach der Wende von 1989/90 an das Deutsche Rundfunkarchiv gefallen sind. Eine wohldefinierte Medienwissenschaft interessiert sich bei der Ostalgie-Welle, so Ernst, für die medientechnischen Bedingungen des Ostalgie-Diskurses. Zudem bedenkt eine wohldefinierte Medienwissenschaft, im Unterschied zu den Sozialwissenschaften, ihre eigene Medialität stets mit: »Begreifen wir [...] daher die Berufung auf eine Professur für Medien138 Vgl. Ernst (2000: 20); Ernst (2002a: 156); Ernst (2003a: 3, 6, 13, 20); Ernst (2004: 30, 35, 38). Eine wohldefinierte Medienwissenschaft setzt sich entsprechend mit der Kultur nicht unter dem Aspekt von Sinn auseinander, sondern versteht unter Kultur grundsätzlich ein »System von [Kultur]Techniken« und, aus kultursemiotischer Perspektive, eine »Funktion ihrer Speicher- und Übertragungsmedien« (Ernst 2002a: 143). Für eine gesellschaftskritische Medientheorie ist hingegen das Verständnis von Kultur als Sinnform von konstitutiver Bedeutung. Als Kronzeugen für dieses Kulturverständnis kann Weber (1988f: 180) genannt werden: »›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus einer sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« Kultur ist für eine gesellschaftskritische Medientheorie der unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont, der nicht nur in unseren Lebensäußerungen allgegenwärtig ist, sondern auch der von uns allen berücksichtigte, aufrechterhaltene und immer wieder hergestellte Ordnungszusammenhang, der das Geordnete und Sinnhafte vom bloß zufälligen und Sinnlosen abgrenzt. 139 In seiner Antrittsvorlesung veranschaulicht Ernst (2003a: 14) diese Akzentverschiebung wie folgt: »Die Frage, wie sich mediale Artefakte bilden, entscheiden nicht Diskurse, sondern die technischen Dispositive, in denen die Materialität von Informationsübertragung ihre Existenz hat. An dieser Stelle wird Medienarchäologie offensiv: Wenn das digitale Bild aus guten Gründen kein ›Bild‹ mehr ist, sondern ein Datenformat, lässt sich dies etwa als Argument gegen copyright-Fesseln in Medienarchiven einsetzen. Wissen ist eben nicht schlicht Ergebnis von diskursiven Ökonomien, sondern ebenso eine Funktion oder das Feedback non-diskursiver Konfigurationen technischer, mathematischer, logischer Art. Eine historische Epistemologie der Medien hat ein Objekt, an dem sich alle Diskurse abarbeiten müssen, ein Korrelat in der materiellen Wirklichkeit: Medien. Das Zusammentreffen von Apparaten alphanumerischer Kodierung konstituiert Medialität als epistemisches Objekt [...] [Hervorhebung im Original – MSK].«

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theorien als Appell. Appell der Medien: denn die Medien selbst haben die sie begleitende Wissenschaft auf den Plan gerufen [Hervorhebung im Original – MSK]« (Ernst 2003a: 3). Ein instruktives Argument gegen eine ausschließlich inhalts- und sinnzentrierte Auseinandersetzung mit den Medien nennt Ernst (2004: 27f.; vgl. Ernst 203a: 18) in Bezug auf ein Buchprojekt des Medienwissenschaftlers Claus Pias, das den Titel Kulturfreie Bilder trägt. Es geht Pias hierbei um das Phänomen, dass es immer mehr Computer und nicht Menschen sind, die die Bilder von Satelliten oder Überwachungskameras, die permanent unsere Erde oder unsere Erdoberfläche zeigen, interpretieren: »Die Radikalität, mit der Bilder, elektronische Bilder, durch elektronische Medien selbst interpretiert werden, macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns daran gewöhnen müssen, dass neben unserer immer nach Sinn suchenden und interpretierenden Betrachtungsweise und unseren Beobachtungstechniken längst eine andere Realität von Beobachtung existiert, die frei davon ist, die anderen Gesetzen unterliegt – Gesetzen, die wir mit gemacht haben. Wir haben diese Maschinen gebaut, keine Frage; es sind immer noch Menschen, die diese Maschinen programmieren, zumeist, auch das ändert sich gerade, aber es gibt eine Realität von Beobachtung, die nicht mehr exklusiv in Begriffen der menschlichen Beobachtung oder der menschlichen Beobachtung zweiter Ordnung zu beschreiben ist.« Weiterhin muss auch die Rede von der manipulativen Kraft der Medien, so Ernst (2003c: 14), ausdifferenziert werden, denn Medien sind nicht ausschließlich nur Manipulateure, sondern können wiederum selbst manipuliert werden, etwa durch Programmierung. Das Ziel der Medienbegriffsarbeit sowie der Medientheoriebildung einer wohldefinierten Medienwissenschaft besteht darin, gegen das Unsichtbarwerden der Medien im alltäglichen (Oberflächen-)Gebrauch und dem daraus resultierenden Vergessen der technischen Medialität, die »nackten Medienoperationen hinter kommunikativen oder diskursiven oder dialogischen Oberflächen« (Ernst 2003a: 4; vgl. Ernst 2002a: 144)140 freizulegen. Kritik an der Medienkritik

Als Ausgangspunkt seiner Kritik an der Medienkritik dient Ernst (2002a: 143), aufbauend auf seiner Medienbegriffsdefinition, die These, dass Medienkritik nicht auf Diskurse beschränkt sein sollte, sondern auch »eine Kritik der Medialität von Medien, also ihrer Hard- und Software«141 140 Vgl. als Fallbeispiel die Auseinandersetzung mit dem Hörbarwerden der Medientechnik in der und durch die experimentelle elektronische/digitale Musik Kleiner/Szepanski (2003). 141 »Ein Ort der Kritik ist also die datenprozessierende Einheit der Rechner selbst« (Ernst 2002a: 149). Das bit ist hierbei, so Ernst, die kleinste kritische, d.h. unter- und entscheidende, Instanz.

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leisten müsste: »Erstmals reicht es nicht mehr, das Mitgeteilte zu kritisieren, sondern was Not tut, ist eine Kritik der Hardware und der Software, die solche Texte und Bilder überhaupt erst zustande kommen lassen und ihre Grammatik definieren. Der klassische Kritiker aber ist dafür nicht mehr kompetent; er muss heute auch Ingenieur sein« (ebd.: 156). Neben einem grundlegenden Perspektivenwechsel des Medienkritikers, fordert Ernst den Medienkritiker bzw. den Medienwissenschaftler auf, spezifische, nicht primär diskursive, Medienkompetenzen auszubilden, d.h. derjenige, der z.B. das Medium Computer erforscht, programmieren können muss und mit der Medientechnik des Computers grundlegend vertraut ist.142 Allerdings müsste in diesem Kontext diskutiert werden, ob nicht auch diese, von Ernst geforderte, nicht-inhaltistische Medienanalyse bzw. Medienkritik, letztlich durch das Medium der Sprache und damit durch traditionelle Verstehensleistungen determiniert bleibt, also traditionellen Sinnstrukturen und Sinnkonstruktuionsmedien nicht entkommt. Fraglich ist auch, ob die Verschiebung der Kritik auf die Hardware und die non-diskursive Software der Medien selbst wirklich non-diskursiv ist, denn (Medien-)Technik als (Medien-)Technik ist selbst Ergebnis von Diskursen, die sich dann materialisiert bzw., wie am Beispiel des Buchprojekts von Claus Pias, (bedingt) verselbständigt haben. Die Medienkritik einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie muss eine kulturtechnische Analyse, d.h. eine »technologisch und kulturell präzise Diagnose des Medienwandels« (ebd.: 155) sein. Der entscheidende Aufgabenbereich der Medienkritik einer wohldefinierten Medienwissenschaft ist die Zeitkritik: »An Marshall McLuhans Genealogie von Kulturtechniken möchte ich mit meinem medientheoretischen Programm anknüpfen, um es darüber hinaus zu treiben: von der Suprematie der Sinne zum rechnenden Kalkül, im Sinne der timebased media als theoretischer und praktischer Herausforderung gegenwärtiger Medienkultur. Medientheorien akzentuieren die Loslösung der Information vom Raum. Die inverse Seite dieses Prozesses gerät dabei außer Sichtweite: dass nämlich zeitkritische Prozesse sich damit umso mehr in die Medien selbst verlagern. So hat mit den elektronischen Medien ein radikaler Wandel von Zeitkultur eingesetzt […]. Damit ist Medientheorie der Ort, Zeitbegriffe im medialen Wandel präzise zu reflektieren [Hervorhebung im Original – MSK]« (Ernst 2003a: 19).

Ein Anwendungsfeld der Zeitkritik, das durch die Beschleunigung von Ereignissen, wie z.B. am Berliner Mauerfall oder den Golfkriegen deutlich wurde, ist, dass diese Ereignisse in Echtzeit, d.h. so schnell, wie sie geschehen, analysiert werden und somit Übertragungszeit und Interpretationszeit zusammenfallen müssen. Diese Forderung würde sozialwissen142 Für eine gesellschaftskritische Medientheorie ist ebenfalls die Medienkompetenz des Medienkritikers von zentraler Bedeutung (vgl. Kap. 3.2.).

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schaftliche Analysen von Medienereignissen überfordern, denn »unter dem Druck von Echtzeitanalyse vergeht jeder Medienkritik die Nachdenklichkeit des Räsonnements; sie wird so funktionaler Teil der Medienmaschinerie selbst« (vgl. Ernst 2002a: 147). Als Autoren, die diese medienkritischen Ansprüche einer wohldefinierten Medienwissenschaft, bis auf den Aspekt der Zeitkritik, zumindest ansatzweise erfüllen, nennt Ernst Enzensberger und Brecht. Allerdings kann dieser These nur eingeschränkt zugestimmt werden (vgl. Kap. 2.4.), denn Enzensberger und Brecht thematisieren die Medialität von Medien nur als Mittel zum Zweck, d.h. im Hinblick auf die Ausbildung eines kritisch-emanzipatorischen Mediengebrauchs, also hinsichtlich seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung. Die Beherrschung und das Verstehen der Technik, d.h. der Medialität von Medien, ist die Bedingung der Möglichkeit, um Diskursen Gehör zu verschaffen und somit die Realität der Medien in ihrem status quo zu verändern – dies bedeutet, als utopischer Aspekt, zugleich eine Veränderung des gesamten Gesellschaftssystems. Eine Überlegung, mit der Brecht (1997b: 151) seine Überlegungen zum Rundfunk als Kommunikationsapparat beschließt, veranschaulicht diese Einschätzung: »Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit, haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der Wenigen zu diskreditieren. Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung [Hervorhebung im Original – MSK].«

Diese andere Ordnung kann nur in »eine[r] freie[n] sozialistische[n] Gesellschaft« verwirklicht werden. Autoren aus dem Umfeld der Kritischen Theorie, etwa Adorno und Horkheimer, aber auch Marcuse, würden, so Ernst, in ihrer Medienkritik die Bedeutung der Medialität von Medien fast vollständig ausblenden und Medien prinzipiell negativ beurteilen.143 Die ideologiekritische Verblendungsthese, die diese Autoren hervorheben, ergibt sich, entgegen der Einschätzung von Ernst, aus seiner grundlegenden Gesellschaftskritik und nicht aus einer a priorischen Verurteilung der Medien als Medien. Marcuse (1994: 28) weist in seiner Studie Der eindimensionale Mensch, mit Blick auf das Thema Manipulation und Medien, darauf hin, dass die Präformierung der Bedürfnisse und des Bewusstseins der Menschen nicht erst durch die Medien verursacht wurde, sondern dies als ursprünglicher Ausdruck der kapitalistischen Verfasstheit des Gesellschaftssys143 Vgl. Kap. 2.4. zur ambivalenten Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung und zur Funktion von Medien bei Adorno sowie im KulturindustrieKapitel.

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tems ist: »Die Präformierung beginnt nicht mit der Massenproduktion von Rundfunk und Fernsehen und mit der Zentralisierung ihrer Kontrolle. Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein [...].« Weiterhin betont Ernst (2002a: 158), dass die Suche nach dem Jenseits der Medien »das archimedische Paradigma der Kulturkritik der Frankfurter Schule« darstelle. Dieser Aussage kann, zumindest mit Blick auf Adorno, nur bedingt zugestimmt werden, denn seine Medienkritik zielt auf einen emanzipatorischen Mediengebrauch und nicht auf eine Abkehr von den Medien. Zudem versucht Adorno, wie gezeigt wurde, im Kontext seiner Musikkritik und seinen späten medienpädagogischen Arbeiten, dass ihm bewusst war, seine Medienkritik, neben ihrer diskursiven Ausrichtung, auch in den Medien, mit den Medien und durch die Medien zu äußern. Eine gesellschaftskritische Medientheorie, wie sie in dieser Studie entworfen wird, entwickelt ihre Medienanalysen immer im Spannungsfeld von Nähe und Distanz (vgl. Kap. 3.2.). Perspektiven einer zukünftigen Arbeitsteilung

Die vorausgehenden Überlegungen haben auf Grenzen der Medienbegriffsverwendung und der Medienkritik gesellschaftskritischer Medientheorien aus der Perspektive einer wohldefinierten Medienwissenschaft verwiesen. Dieser Bezugspunkt wurde nicht willkürlich gewählt, sondern gründet in dem Anspruch, die Medienbegriffs-Definitionsschwäche einer gesellschaftskritischen Medientheorie aufzuzeigen und Möglichkeiten der Präzisierung hervorzuheben. Hierzu ist die Begriffsarbeit einer wohldefinierten Medienwissenschaft, wie sie Ernst vollzieht, besonders hilfreich, weil sie sich mit großer Intensität auf die spezifische Medialität von Medien fokussiert und diese in ihrer (nicht-diskursiven) Eigensinnigkeit zu verstehen sucht. Abschließend sollen einige Berührungspunkte zwischen einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie und einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie genannt werden, um ausgehend hiervon, Perspektiven einer zukünftig arbeitsteiligen Kooperation zu eröffnen, die dazu beitragen könnte, die eigenen Kompetenzgrenzen zu überwinden und gemeinsame Forschungsprojekte sowie Praxisformen auszuarbeiten. Es sind, aus einer allgemeintheoretischen Perspektive, v.a. vier Aspekte, in denen sich das Erkenntnisinteresse beider Ansätze berührt: Einerseits geht es, auf diskursiver Ebene, um den Entwurf einer spezifischen Theorie der Medienanalyse sowie Medienkritik. Andererseits wird die Institutionalisierung dieser Theorie angestrebt. Weiterhin, dies ist der zweite Berührungspunkt, geht es beiden Ansätzen um die Gestaltung einer Medienpraxis auf der Grundlage ihrer jeweiligen Medientheorie. Ernst (2003a: 11f.) beschreibt dies programmatisch wie folgt: »[…] Me-

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dientheorie [ist] nicht nur eine Methode und Blickweise, sondern fördert auch konkrete Dinge zutage. […] Darauf lässt sich eine Lehrveranstaltung bauen, wie ich es […] als medienarchäologische Erkundung plane: ›Wir bauen eine Maschine‹ […]; so sollen Medienarchäologie und Medientheorie im tatsächlichen engineering konvergieren. […] Es gilt also die handfest mediale, algorithmische Erprobung des Wissens: Deshalb wollen wir in der Sophienstraße auch basteln und löten lernen. Unser Medientheater wird damit auch zum Medienlabor, in dem technische Medien als epistemische Dinge sowohl in ihrer Materialität als auch in ihrer Phänomenalität erkundet werden können. Der Begriff der Medien als Hardware, also das ›Handgreifliche‹, bietet zuverlässige Erkenntnis; theoria meint daher nicht allein die ›betrachtende Schau‹ von Medien; um damit Einsicht zu erlangen, bedarf es der medialen Intervention – Medienkompetenz [Hervorhebung im Original – MSK].« In diesen Kontext gehört auch die Forderung beider Positionen, dass Medienkritik immer (auch) eine Kritik im Medium, ein Mitschreiben an den Programmen und ein Mitproduzieren an den Medienprodukten sein muss. Eines der Ziele einer wohldefinierten Medienwissenschaft, ebenso wie einer gesellschaftskritischen Medientheorie, ist die Ausbildung von Medienkompetenz (vgl. Ernst 2004: 33; vgl. Kap. 4.1.), d.h. das sich Einlassenkönnen auf und Produzieren von eigensinnigen Medienwirklichkeiten, Diskursen, Medientechniken und Praxisformen. Medienkompetenz müssen Mediennutzer, Medienproduzenten, Medienforscher und Medienkritiker ausbilden. Niemand ist von dieser sich permanent stellenden Aufgabe befreit. Als vierter Berührungspunkt kann die Zurückweisung einsinniger bzw. eindeutiger Wahrheits- und Objektivitätsansprüche genannt werden. Ernst (2004: 36) veranschaulicht dies an der Tätigkeit des Medienwissenschaftlers als Medienarchäologen: »Wenn die Archäologen eine antike Vase finden, finden sie die meist nicht intakt, sondern sie finden ganz viele Lücken. Und diese Lücken werden ausgestellt. Die Archäologen stellen die Lücken ihres Wissens aus, während die erzählerische Kultur die Lücken durch Erzählung ständig überbrückt und zum Verschwinden bringt. Wenn es so etwas wie eine Ethik im Medienzeitalter gibt, dann würde ich sagen, gehört dazu der Mut, die Lücken und die Diskontinuität auszustellen. Womit wir wieder bei Foucault sind, der sagt, wir müssen stärker mit Diskontinuitäten, mit Brüchen, mit Rissen […] rechnen lernen […].«

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ZUSAMMENFASSUNG: MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER MEDIENKRITIK

Die Ausführungen in diesem Kapitel haben verdeutlicht, dass eine eindeutige Definition von Medienkritik, die Festlegung verbindlicher Kritikmaßstäbe sowie die Eingrenzung auf ein spezifisches Akteursfeld nicht möglich sind. Vielmehr zeichnet sich das medienkritische Feld einerseits durch eine bedeutungsgeladene Diffusität sowie andererseits durch einen Perspektiven- und Haltungsmix aus. Zudem wurde die Wirkungslosigkeit, kaum vorhandene Nachhaltigkeit bzw. soziale Wirksamkeit (diskursiver und institutioneller) Medienkritik hervorgehoben. Nur als Instrument der Sales Promotion schien dem medienkritischen Diskurs gesellschaftliche Legitimität und Notwendigkeit anerkannt zu werden – dies allerdings auf Kosten ihrer idealtypischen Funktion als watch dog medialer Wirklichkeiten. Weiterhin wurde betont, dass sich der medienkritische Diskurs fast ausschließlich an eine Expertenöffentlichkeit richte. Die daraus resultierende Selbstreferentialität des medienkritischen Diskurses verstrickt diesen in eine permanente Selbstbeobachtungsfalle, die ihn von der intensiven Arbeit an den Gegenständen der Kritik ablenkt sowie die Herstellung von intersubjektiver Transparenz behindert. Nicht zuletzt trägt die geforderte Selbstkritik des medienkritischen Diskurses hierzu entschieden bei, weil die notwendige sachimmanente Reflexion kaum in Richtung auf Mediennutzer, Medienproduktionen, Medienproduzenten, Medienpolitik und medienkritische Institutionen überschritten wird. Allerdings kann kontinuierliche Selbstkritik auch dazu beitragen, dass der medienkritische Diskurs eine gegenstandsbezogene Offenheit und Flexibilität ausbildet. Zwei grundlegende Probleme (sozial-, kommunikations- und publizistikwissenschaftlicher) Medienkritik, die auch für den medienkritischen Diskurs gesellschaftskritischer Medientheorien Relevanz besitzen, sind einerseits der unpräzise Gebrauch des Medienbegriffs sowie andererseits eine daraus resultierende problematische Einlassung auf die Kritikgegenstände, also die Medien. Ernst hat deutlich gemacht, dass diese Wissenschaften zumeist über Medien reden, ohne sich auf Medien in ihren Eigensinnigkeiten zu beziehen, sondern vielmehr klassische Themen ihrer Disziplin auf die Wirklichkeit der Medien beziehen und hierbei auch kein Eigeninteresse an den Medien bestünde. Um diesen Mangel zu überwinden, müsste es, wie Ernst vorschlägt, arbeitsteilige Kooperationen zwischen diesen wissenschaftlichen Ausrichtungen und einer wohldefinierten Medienwissenschaft als Medienarchäologie geben. Diese Negativdiagnose wird andererseits durch den Hinweis auf die Produktivkraft Medienkritik flankiert. Hierzu wird einerseits gezählt, dass der medienkritische Diskurs entscheidend an gesellschaftlichen

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Selbstverständigungsdiskursen und Selbstbeschreibungen beteiligt sein muss – zumindest, wenn man die These stützt, dass gegenwärtige (westliche) Gesellschaften wesentlich Mediengesellschaften sind. Andererseits wird hervorgehoben, dass Medienkritik de-konstruktiv ist, d.h. aus ihrer Kritik (idealtypisch) immer wieder neue Perspektiven auf die Wirklichkeit der Medien resultieren (sollen), Kritik also nicht destruktiv, sondern Medienproduktionen und -wirklichkeiten mitgestalten kann. Voraussetzung hierfür ist, dass der medienkritische Diskurs die alltägliche (zumeist unreflektierte) Mediennutzung problematisieren kann. Die Medienkritik einer gesellschaftskritischen Medientheorie, wie sie in dieser Studie entworfen wird, versucht, zahlreiche Akzentsetzungen im Feld der Medienkritik vorzunehmen, d.h. diesen Diskurs (teilweise) neu zu entwerfen. Medienkritik wird in diesem Kontext nicht als ein singuläres Feld (journalistischer und wissenschaftlicher) Arbeit dargestellt, sondern zugleich als Kultur- und Gesellschaftskritik aufgefasst. Grundsätzlich wird jede Form der Medienkritik als unproduktiv zurückgewiesen, die generalisierende Positionen einnimmt. Vielmehr kommt es für die Medienkritik einer gesellschaftskritischen Medientheorie darauf an, dass die Bedeutung von Kritik sowie das Ausarbeiten von Kritikmaßstäben konstitutiv auf Fallanalysen angewiesen ist, in denen beide Aspekte immer wieder von Neuem eingegrenzt werden müssen.144 (Medien-)Kritik ist für eine gesellschaftskritische Medientheorie nicht an sich schon legitim bzw. notwendig, sondern muss ihre Legitimität bzw. Notwendigkeit jedes Mal von neuem fallspezifisch unter Beweis stellen. Entscheidend ist hierbei, dass sich die Medienkritik auf die Eigensinnigkeiten der kritisierten Medien, Medienproduktionen sowie Medienumwelten einlässt und diese nicht von einer selbstreferentiellen Außenposition beurteilt. Zudem muss Medienkritik immer ihre eigene Medienbedingtheit mit reflektieren. Hierzu ist die Ausbildung einer spezifischen Medienkompetenz sowie Medienkritikkompetenz des Medienkritikers notwendig. Die Ausbildung einer umfassenden Medienkritikkompetenz überfordert den einzelnen Kritiker massiv, daher müssen vielfältige medienkritische Netzwerke und arbeitsteilige Diskurs- sowie Interaktionsgemeinschaften aufgebaut werden. Kooperationen mit der Medienpraxis, der Medienpolitik und den Mediennutzern, also neue medienkritische Akteurskonstellationen, sind zum Ausbau der gesellschaftlichen Bedeutung von Medienkritik konstitutiv notwendig. Diese medienkritischen Netzwerke müssen zwar substantielle Formen der Interaktion entwickeln, dürfen hierbei allerdings nicht auf ihre jeweilige Autonomie verzichten, ihre spezifische Sachkompetenz aus dem Blick verlieren und eine einheitliche Gestalt annehmen, die in ihren Diskursen und Handlungen leicht kalkulierbar wäre. Medienkritik braucht also konstitutiv adäquate Räume, um nachhaltig agieren zu können, d.h. Räume, in denen Diskurse entwickelt 144 Vgl. hierzu Kap. 2.2.2., Kap. 2.3., Kap. 4.

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und Kritikkompetenz ausgebildet werden können, die bei der Entwicklung und Erprobung alternativer Medienwirklichkeiten stattfinden sowie an Möglichkeiten der (medien-)rechtlichen Sanktionierung von Medienwirklichkeiten mitgearbeitet werden kann, aber auch nationale und transnationale Kooperationen zwischen medienkritischen Akteuren vorangetrieben werden können. Die Medienkritik einer gesellschaftskritischen Medientheorie interessiert sich weiterhin nicht für die Wirkungen und Nutzungen von Medien, sondern primär für das, was an Medien und in Medienproduktionen potentiell wirken könnte. Den Neuentwurf der Medienkritik, den gesellschaftskritische Medientheorien fordern, braucht, neben seiner diskursiven Fundierung, v.a. die Phantasiearbeit der medienkritischen Akteure, die aus der Medienkritik somit nicht nur ein Diskursfeld machen (wollen). Hierdurch kann auch ein Beitrag zur Überwindung der, im Kap. 3.3. kritisierten Kluft zwischen medienkritischem Diskurs und medienkritischer Praxis geleistet werden, weil beide Felder als konstitutiv zusammengehörend sowie aufeinander verweisend gedacht werden. Die vorausgehende Zusammenfassung der Überlegungen zur Medienkritik laufen zunächst auf zwei Aspekte hinaus, die im folgenden Kapitel behandelt werden: Medienkompetenzförderung und der Entwurf von Medien-Heterotopien, d.h. Ansätze zur Gestaltung alternativer Medienwirklichkeiten. Medienkritik muss sich daher grundsätzlich als medienund praxiskompetent erweisen.

4. M E D I E N K O MP E T E N Z U N D M E D I E N -H E T E R O T O P I E N Eine Konzeption von Foucault (1999: 148f.) weist den Weg zur Auseinandersetzung mit den Themen Medienkompetenz und Medienpraxis: »Wir leben in einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind. […] [W]as mich interessiert, das sind unter allen diesen Platzierungen diejenigen, die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle anderen Platzierungen zu beziehen, aber so, dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren. Diese Räume, die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Platzierungen widersprechen, gehören zwei große Typen an. Es gibt zum einen die Utopien. Die Utopien sind die Platzierungen ohne wirklichen Ort: […] jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume. Es gibt gleichfalls […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Platzierungen und Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien [Hervorhebung im Original – MSK].«1

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Eine differenzierte Diskussion der foucaultschen Unterscheidung zwischen Utopie und Heterotopie ist für den Kontext dieses Kapitels irrelevant, ebenso wie eine allgemeine Bestimmung des Begriffs der Utopie. An dieser Stelle muss ein Hinweis von Moylan (1990: 175) zum konstitutiven Zusammenhang von Utopie und Heterotopie genügen: »Die Heterotopie ist für die postkapitalistische, postmoderne, postindustrielle und nachaufklärerische Gesellschaft das, was die Utopie für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft war: Sie bewahrt den utopischen Impuls, befreit ihn aus den traditionellen Gattungsgrenzen und markiert das Terrain für eine radikale neue Entwicklung in jenem spezifischen Diskurs, in dem unsere Träume und Fiktionen sich überschneiden.« Nicht Träume und Fiktionen, sondern das Interesse an alternativen Möglichkeitswelten und Theoriefiktionen, ist für die vorliegende Studie hingegen das entscheidende Terrain.

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Medienkompetenz und Medienpraxis waren stets integrale Diskurs-Bestandteile gesellschaftskritischer Medientheorien. Mitunter, etwa durch Marx und Schäffle (vgl. Kap. 2.2.1) hinsichtlich ihrer journalistischen bzw. politischen Tätigkeit, wurde ansatzweise versucht, theoriegeleitete Praxisräume zu gestalten. Bis heute sind aus solchen Einzelinitiativen aber keine nachhaltigen Formen der Medienkompetenzförderung und Räume zur Gestaltung sowie Erprobung alternativer Medienwirklichkeiten, die einen konkreten Einfluss auf die Wirklichkeit der Medien nehmen, entstanden. Durch beide Aspekte soll grundsätzlich eine zweifache Veränderung erzielt werden, eine individuelle und eine (medien-)gesellschaftliche: Der individuelle Mediengebrauch soll zu einer nachhaltig emanzipatorischen Mediennutzung2 werden. Dies nicht durch einen, verbindliche Gültigkeit behauptenden, Pflichten- sowie Anforderungskatalog oder ein (diskursives) Erziehungsprogramm, den bzw. das die Mediennutzer erfüllen müssen. Zentral für die anvisierten Handlungsdimensionen und Heterotopien3, die diesem Kapitel vorgestellt werden und die das Mögliche im Wirklichen erkunden, ist hingegen die These, dass die Kreativität des Handelns nicht allererst erschrieben werden muss, sich also im Diskurs konstituiert und eine Form der Selbstermächtigung der Menschen bzw. Leser beabsichtigt – das Gleiche gilt für die Ausbildung eines emanzipatorisch-kritischen Mediengebrauchs. Vielmehr müssen Möglichkeitswelten (diskursiv) eröffnet werden, in denen sich Kreativität, Emanzipation, Kritik, Veränderung, Gestaltung usw. in alternativen Formen konkret abspielen bzw. allererst ereignen können.4 Hierzu müssen herkömmliche Denk-, Handlungs-, Produktions- und Interaktionsgewohnheiten problematisiert werden bzw. als problematisch erscheinen. Grundlegend zur Entwicklung der hier angesprochenen Formen der Medienkompetenz und Medienpraxis, sind die These vom konstruktiven Charakter aller Selbst- und Weltschöpfungen (vgl. Kap. 1. und 2.) sowie spezifische Kritikkompetenzen (vgl. Kap. 3.). Damit diese Forderungen auch sozial wirksam werden, müssen Diskurs-, Kreations- und PraxisHeterotopien, also letztlich, im Sinne Foucaults (1999: 156f.), »Imaginationsarsenal[e]«, entworfen werden, die »sich von jenen Ufern lös[en],

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Vgl. die hierzu notwendigen Kritikkompetenzen, die im Kap. 3. herausgestellt wurden. Defert (2005: 74) weist darauf hin, dass das Wort Heterotopie »keine Neubildung [ist], denn es besitzt bereits eine medizinische Bedeutung. In der pathologischen Anatomie bezeichnet es eine anomale Lage von Zellen.« Zum Zusammenhang von Sprache und Heterotopien vgl. Foucault (1997a: 17ff.). Eine gesellschaftskritische Medientheorie ist daher keine in sich geschlossene, autoritäre Diskurs-Welt, die konstitutiv vom Ideenreichtum sowie der Person ihres Schöpfers lebt und muss auch nicht zwangsläufig auf ihn zurückverweisen. Vielmehr leben gesellschaftskritische Medientheorien von den Anwendungen ihrer Leser sowie gleichsam von der (diskursiven und praktischen) Aktivität ihrer Verfasser.

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die [sie] […] einst bewohnte[n]« (Foucault 1997a: 269) – genau dies versucht die vorliegende Studie.5 Ausgehend von Foucaults Konzept der Heterotopien6 wird in diesem Kapitel über die Gestaltung von Möglichkeitswelten nachgedacht, die sich als Alternativen zu den aktuellen Wirklichkeiten der Medien7, zumindest der deutschen, verstehen. Hierbei sollen Gestaltungsspielräume geöffnet werden, in denen praxisbezogene Veränderungen vorbereitet und (potentiell) auch umgesetzt werden können. Die Rede vom Gestalten alternativ-medialer Wirklichkeitsräume hat zudem eine (aktuelle) politische Implikation, denn sie weist einen Weg, der gegenwärtig immer notwendiger zu sein scheint, nämlich das Aufzeigen von Alternativen in vermeintlich alternativlosen Zeiten (vgl. u.a. Nolte 2004), von Wegen, Zukunft zu denken (vgl. etwa Merkur 2001; Maresch/Rötzer 2004), neuen Gemeinschaftsformen, die sich unabhängig von herkömmlichen Zuschreibungssystemen wie Nationalität, Religion, Geschlecht usw. bilden (vgl. z.B. Agamben 2003) oder anderer Demokratieformen (vgl. Derrida 1992; 2003).8 Spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Verschwinden von großen, revolutionären Sozialutopien, scheint die 5

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Versteht Foucault (2005: 11) unter Heterotopologie die Wissenschaft von den anderen Räumen, so stellt die vorliegende Studie eine Heterotopologie als Wissenschaft von den Möglichkeiten der Umsetzungen von Theoriefiktionen und Medien-Heterotopien dar. Die hier vorgeschlagene Verwendung des Begriffs der Heterotopie weicht mitunter deutlich vom foucaultschen Gebrauch (vgl. u.a. 1997a; 1999; 2005) ab und wird, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion, auf das von Foucault in diesem Kontext nicht bearbeitete Thema der Medien bezogen. Ein entscheidender Unterschied zu Foucault besteht etwa darin, dass die vorliegende Studie Heterotopien, für Foucault sind dies u.a. Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Militärakademien, Altersheime, Museen, Feriendörfer oder Gefängnisse (vgl. Foucault 1999: 150ff.; Foucault 2005: 11), nicht beschreibt bzw. untersucht (vgl. u.a. Foucault 1999: 150), sondern diese im Kontext der Auseinandersetzung mit Medienkompetenz und Medienpraxis allererst entwirft. Insofern geht es in diesem Kapitel weniger um eine Geschichte der Räume als eine Geschichte der Macht-/Wissen-Beziehungen (vgl. das Methoden-Kapitel), sondern um Fragen der Gestaltbarkeit von (individuellen und sozialen) Medienwirklichkeiten, die ohne revolutionäre bzw. umfassende Sozialutopien auskommen. Die vorausgehenden (theoriefiktionalen) Überlegungen zum Medienkonstruktivismus und zur Medienkritik brauchen zu ihrer Erprobung einerseits entsprechend heterotrope Diskursräume, wie etwa diese Studie, und andererseits Plattformen zum kritischen Dialog mit anderen Ansätzen der Medienforschung sowie mit Institutionen und Netzwerken (z.B. medienpolitischen Institutionen, Interessenverbänden, Medienunternehmen), um die Gestaltung medialer und damit sozialer Wirklichkeit gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache zu machen, aber auch als (mehr oder weniger) autonome Gegen-Wirklichkeiten bzw. theoriefiktionale Gegen-Räume, die offizielle(n) Ordnung(en) der Wirklichkeit herauszufordern, ohne sich von diesen radikal lösen zu können. Dieser Aspekt kann hier nicht ausführlicher diskutiert werden. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Widerstandsanalysen im Feld der Sozial-, Kulturund Medienwissenschaften findet sich in Kleiner/Fluck/Winter/Nieland (2007).

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Zeit, um Wirklichkeit anders zu denken sowie aktuell zu gestalten, aber auch wegweisende Zukunftsbilder als konkrete Handlungsoptionen vorzustellen, beendet zu sein.9 Mit der Rede von Medien-Heterotopien wird in dieser Studie einerseits die Überzeugung geäußert, dass die Zeiten für große und umfassende Erzählungen (vgl. Lyotard 1994), Zukunftsentwürfe sowie Sozialutopien vorbei sind.10 Somit wird der Blick andererseits auf zahlreiche kleine, lokale Veränderungen und Utopien sowie auf Mikroerzählungen gerichtet, die sich u.a. als Herausforderungen, Verunsicherungen, Irritationen, Kritik oder Dekontextualisierungen gesellschaftlicher und medialer Wirklichkeiten in ihrem status quo verstehen. Insofern berühren sich das foucaultsche Grundverständnis von Heterotopien und das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie: »Entweder haben sie [die Heterotopien – MSK] einen Illusionsraum zu schaffen, der den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. […] Oder man schafft einen anderen Raum, einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, missraten und wirr ist« (Foucault 1999: 155). Genau diese Absicht verfolgen die Überlegungen in diesem Kapitel: Zunächst wird ein Thema behandelt, das als eines der grundlegenden Ziel aller Medien-Diskurse betrachtet werden kann: die Ausbildung von Medienkompetenz. Ziel dieses Kapitels ist nicht die Diskussion der, mittlerweile kaum noch zu überblickenden, (wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen) Literatur zur Medienkompetenz. Ebenso wenig wird versucht, die Ausbildung von Medienkompetenz, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie, zu beweisen oder legitimieren. Vielmehr sollen in diesem Kapitel, ausgehend von einem Fallbeispiel, d.h. der Krisenkommunikation von Musikern und Schauspielern zum 9

Maresch (2004: 11ff.) deutet diese Entwicklung, mit Blick auf Europa, wie folgt: »Als die Mauer fiel, ein utopischer Megatraum zerbarst und seine Trümmer vor Ort studiert werden konnten, meinten Kommentatoren und Meinungsmacher, darin sogar das ›Ende des utopischen Zeitalters‹ […] schlechthin zu erblicken. Die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, das utopische Denken habe ausgeträumt, die Geschichte sei am Ende, sie habe ihr Ziel – die globale Ausbreitung des Marktes – erreicht, von sozialphilosophischen Entwürfen habe man sich deshalb schleunigst zu trennen. So oder so ähnlich tönte es allerorten, vornehmlich von konservativer und liberaler Seite, während der Großteil der politischen Linken in eine bislang nie gekannte Sprach- und Hoffnungslosigkeit verfiel. […] Die Gründe, warum Europa apathisch, leer und ausgebrannt wirkte, ohne Frische, Zuversicht und Unbeschwertheit; warum es im Zustand der Lähmung und großer Müdigkeit verharrt, liegen auf der Hand. Zwei blutige Weltkriege, Völkermord, Vertreibung und Gulags, die Erfahrung von Totalitarismus, Rassismus und der Wirkung von Massenvernichtungswaffen, haben Zweifel an der menschlichen Gestaltungskraft gesät und jede ›utopische Schwärmerei‹ abkühlen lassen.« 10 Ohne diesen Aspekte hier zu vertiefen, könnte, entgegen dieser Rede vom Ende sozialer Großutopien, auch gefragt werden, ob nicht etwa das Projekt eines gemeinsamen Europas hierzu ein grundsätzliches Gegenbeispiel wäre.

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zweiten Irak-Krieg und der hierbei virulent werdenden Frage nach der Medienkompetenz von Medienpersönlichkeiten, Grundlagen erarbeitet werden, was Medienkompetenz im Rahmen einer gesellschaftskritischen Medientheorie für eine Bedeutung hat und wie, alternative, d.h. heterotope, Medienwirklichkeiten medienkompetent gestaltet sowie angeeignet werden könnten. Zudem handelt es sich bei den Überlegungen um den ersten Versuch im sozial- und medienwissenschaftlichen Feld, nicht nur über die Medienkompetenz von Mediennutzern zu sprechen, sondern die Medienkompetenz von Medienakteuren und Medienschaffenden ins Zentrum des Erkenntnisinteresses zu stellen. In den meisten Auseinandersetzungen mit der Medienkompetenz wird nämlich die Medienkompetenz von diesen beiden Gruppen unhinterfragt vorausgesetzt. Der am Ende des Kapitels präsentierte Forderungskatalog kann entsprechend nur in anderen, heterotopen Räumen verwirklicht werden. Im Kap. 4.2. wird am Beispiel der Kommunikationsguerilla diskutiert, wie ein kritischer Mediendiskurs in eine entsprechende MedienPraxis überführt werden kann. Im Unterschied zu den Überlegungen im Kap. 4.1. hat die Kommunikationsguerilla sich bereits heterotope Räume geschaffen, von denen aus sie ihre Kritik an den Wirklichkeiten von Gesellschaft, Kultur und Medien übt. In diesen Räumen soll die Vermittlung von kritischen Inhalten anders gestaltet werden, als in herkömmlichen gesellschafts- und medienkritischen Diskursen, die, aus der Perspektive der Kommunikationsguerilla, nur rein diskursiv operieren und sich in selbstreferentiellen Diskussionszusammenhängen bewegen, ohne das Gros der Mediennutzer und Bürger zu erreichen. Deren Einbindung in die medienkritische Aktivität ist aber die conditio sine qua non, um Medien- und Gesellschaftskritik machhaltig wirken zu lassen.

4.1

KRISENKOMMUNIKATION MEDIENKOMPETENZ ALS MANGELERSCHEINUNG

IM

FERNSEHEN.

Kriege sind in der Gegenwart immer auch Bilder- und Medienkriege. Der Irak-Krieg war eines der Großereignisse in der Medienberichterstattung des Jahres 2003. Der Krieg als Medienspektakel konnte mit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit rechnen. Alle wurden zu Bildschirmen, Informationscontainern und Kommentatoren! Dies führte zu einer Ausdehnung des Kriegsschauplatzes: die empirische Seite des Krieges als lokales Ereignis im Irak, die mediale Seite in Form elektronischer Bilder, als globale Repräsentationen, etwa auf Fernsehschirmen, Internetdisplays oder Bildern in den Printmedien. Der Krieg als visuelles Spektakel appellierte an die Emotionen der Weltöffentlichkeit, seine intensive mediale Inszenierung ließ die Welt, wenn auch nur kurzfristig, als global village

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erscheinen, in dem Kulturen und Nationen, Meinungen und Aktionen in einen Dialog traten. Live-Übertragungen sollten das Gefühl des direkten Dabeiseins fördern, Handlungsräume und Zuschauerräume miteinander verbinden. Die Schlacht an der »vierten Front« der Information, wie Virilio (1997a: 61) das mediale Schlachtfeld, neben »der Boden-, der See- und der Luftfront«, nennt, hat das Erleben und Verstehen sowie die Kommunikation über den Irak-Krieg entscheidend bestimmt. Dieses Szenario ereignet sich alle Jahre wieder. Ob Kriege, humanitäre Katastrophen oder ökologische Krisen – je brisanter, je globaler, je angsteinflößender, desto besser, zumindest für die Medienkulturindustrie, für die diese Ereignisse hervorragende Marketing-Tools sind. In die medialen Bilderschlachten um Aufmerksamkeit, Quote und Meinung, müssen sich auch Medienpersönlichkeiten11 einmischen. In den Medien zeitigt die »Diktatur der Einschaltquote« (Bourdieu 1998: 22) eine ganz besondere Wirkung: Sie setzt sich in Zeitdruck um. Die Zeit drängt, die Ressource Krieg ist nur kurze Zeit nutzbar. Medienpersönlichkeiten müssen ihre Statements schnell und an prominenter Stelle äußern, Repräsentationspflichten in der Öffentlichkeit erfüllen. Die wichtigste rhetorische Regel hierbei lautet: Kommuniziere so, dass andere, v.a. die projektierten Zielgruppen, sich unmittelbar anschließen können. Zeitdruck, Repräsentationspflichten und Anschlussfähigkeit der Kommunikation, sind zentrale Faktoren, die die Kommunikation von Medienpersönlichkeiten bestimmen und im Hinblick auf den Irak-Krieg v.a. Parolen, Phrasen, Gemeinplätze, undifferenzierte Klischees erzeugten – quotenstark zu vermarkten und imagefördernd zur Schau zu stellen.12 Beispiele für diese Ästhetik des Widerstands aus der Popmusik sind etwa das Anti-Kriegslied Bagdad Blues der Hamburger Band Fink oder das Stück Der Sheriff des Düsseldorfer Elektronik-Duos DAF, mit der plakativen Zeile: »Wenn der Sheriff reiten geht, reiten alle mit.« Andere Beispiele waren die Anti-Kriegs-Statements, die MTV und VIVA von Musikern eingeholt haben oder das seit Kriegsbeginn permanent einge11 Medienpersönlichkeiten sind Personen des öffentlichen Lebens (Schauspieler, Musiker, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Moderatoren, Literaten usw.), die in regelmäßigen Abständen in den Medien auftauchen und deren Handeln sowie Meinungen ein allgemeines Interesse zugeschrieben wird. Im Folgenden beziehe ich mich, aus heuristischen Gründen, fast ausschließlich auf Popmusiker und Schauspieler als einflussreiche Vertreter dieser Gruppe und deren Äußerungen im Medium Fernsehen. 12 Die Auseinandersetzung mit dem bzw. die Kritik am öffentlichen Verhalten von Medienpersönlichkeiten fokussiert sich ausschließlich auf deren virtuelle Existenz, d.h. ihre Rollen (Stichwort Starsystem – vgl. Ludes 1998: 173-188; Faulstich/Korte 1997; Jacke 2004) in der Medienkulturindustrie und nicht auf sie als Privatpersonen. Medienpersönlichkeiten müssen stets zwischen sich als öffentlicher und privater Person unterscheiden, die damit vorgegebenen Interaktionsund Kommunikationsrahmen sowie ihre Verantwortung als öffentliche Person stets berücksichtigen.

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blendete Peace-Zeichen auf VIVA PLUS. Dass dieses Peace-Zeichen genau so schnell wieder verschwunden ist, wie es auftauchte, deutet auf das Verfallsdatum von symbolträchtigen Haltungen hin. Haltung als leere Geste, als bodenloses Statement, das zur Entwertung und Sinnentleerung der jeweiligen konkreten Themen, wie in diesem Fall des Krieges, führt. Haltung wird so zu einer seriell reproduzierbaren Ware, die konkrete Inhalte nur als Aufmacher braucht und in deren Zentrum die Ökonomie der Aufmerksamkeit als eigentliche Message steht.13 Auch bei den einschlägigen Preisverleihungen wurde Haltung demonstriert. So konnte man etwa den Slogan »War is not the answer« in großen Lettern auf dem T-Shirt von Sherly Crow, bei der Verleihung der American Music Awards 2003 lesen. Eine tragende Rolle übernahm bei der Verleihung des deutschen Schallplattenpreises ECHO 2003, die sich zur TV-Friedensshow entwickelte, die Handtasche der Moderatorin und Schauspielerin Esther Schweins, die die Haltung ihrer Trägerin durch den Aufdruck »No War« eindeutig zur Schau stellte. Dieser Anti-KriegsSlogan schmückte auch die T-Shirts der Girl Group No Angels. Daniel K., ein Kandidat der ersten Staffel der RTL-Casting-Show Deutschland sucht den Superstar, wiederholte bei seinem Auftritt permanent AntiKriegs-Statements, wie etwa das alte Hippie-Klischee »Make love, not war«, Popstar Robbie Williams’ trug an diesem Abend eine Version des Klassikers Give Peace a Chance vor. Sind dies Beispiele für eine popkulturelle Widerstands- und Protestkultur oder Vorboten einer mainstreamfähigen popkulturellen Friedensbewegung? Handelt es sich hierbei um Statements mit Haltung oder vielmehr um zielgruppengerechten und kalkulierten Friedenskitsch, der lediglich die Aufmerksamkeit auf die jeweilige Medienpersönlichkeit, die sie äußerte, lenkte? Business as usual: Die mediale Inszenierung von Krisen

Krisen (etwa Krieg oder Katastrophen) gehören zum festen Repertoire der Medienproduktionen und zur »Mediennahrung unseres Alltagslebens« (Baudrillard 1994b: 108). Bolz (1999a: 77) betont daher zu Recht: »Mit dem Wort ›Krise‹ simplifiziert und politisiert man hohe Komplexität. Das heißt im Klartext: Die Krise ist nicht Ausnahmezustand, sondern

13 Miessgang (2003: 12f.) beschreibt ein vergleichbares Szenario, das sich während des Irak-Kriegs an der »vierten Front« der Informationsverbreitung ereignete: »Im Irakkrieg 2003 mischten sich Bilder vom Schauplatz, die nichts oder fast nichts zeigten, mit Pressekonferenzen des Generalstabs, bei denen nichts oder fast nichts gesagt wurde. Die entscheidende Komponente dabei ist, dass die Sicherung des ununterbrochenen (Des)Informationstransfers die Deutungshegemonie über den Verlauf des Krieges garantiert. [...] Es geht also nicht in erster Linie darum, was übertragen wird, sondern, dass übertragen wird.«

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Normalform unserer modernen Existenz.«14 Krise ist also immer. Das widerspricht zwar der Definition des Begriffs, aber nicht der Logik der Medien. Krisen werden in den Medien v.a. durch drei Strategien in Szene gesetzt: durch (1) Sensationalisierung und (2) Skandalisierung der Wirklichkeit, die zumeist mit einer drastischen (3) »Angstrhetorik« (Bolz 1997: 105) thematisiert werden. Es sind gerade die Medien, die bestimmte Ängste schüren und versuchen, Kollektiv-Ängste zu generieren und zu synchronisieren, wie etwa die Angst vor Terrorismus oder vor Krankheiten. Die »große Kulturleistung des Fernsehens« besteht für Bolz darin, »Angstbereitschaft, Kontingenzbewusstsein und Irritabilität der Gesellschaft zu trainieren«. Medien versorgen uns nicht nur mit Informationen, die irritieren, erregen und v.a. ängstigen, sondern auch mit speziellen Ordnungs- und Sicherheitsschemata, die stabilisieren, orientieren und beruhigen: »Der strukturelle Negativismus der Massenmedien wird durch Moralisierung kompensiert. Und Moralisierung heißt konkret: Das Fernsehen nennt Namen und zeigt Bilder als Antwort auf die Frage, warum schief läuft, was schief läuft« (ebd.: 172) – ebenso muss es Personen ins Bild setzen, die dies kritisieren oder sich gegen diese Missstände engagieren. Warum ist gerade Moral das konstitutive Äquivalent zur medial produzierten Angstbereitschaft? »Der wichtigste rhetorische Effekt des Moralisierens besteht darin«, so Bolz (1999a: 54f.), »dass man mit Werten – wie etwa ›Solidarität‹ – unlösbare Probleme unsichtbar machen kann. [...] Massenmedien [...] versorgen die Gesellschaft [...] mit einem Moralschema. Werte sind Stoppregeln der Reflexion [...], die uns die Verunsicherungen des Nachdenkens und Lernens ersparen. Der ›Wertkonsens‹ muss aber unformuliert bleiben. [...] Gemeinsame Werte lassen sich nur noch in einem Negativbereich anschreiben. So reproduziert sich die Wertegemeinschaft der Massenmedien alltäglich im Medium der Bad News.« Diese Tendenz zur Moralisierung beschreibt Bourdieu (1998: 64f.) hingegen als negative Entwicklung, da sie auf das Einüben eines medial vermittelten gesellschaftskonformen Verhaltens und Denkens hinausläuft: »Unsere Nachrichtensprecher, Moderatoren, Sportreporter haben sich zu Moralaposteln entwickelt; mühelos schwingen sie sich zu Verkündern einer typisch kleinbürgerlichen Moral auf, die bestimmen, ›was zu halten ist‹ von dem, was sie ›die Probleme der Gesellschaft‹ nennen [...].« Dass Moral wieder einmal Konjunktur hat, veranschaulicht ein aktuelles Beispiel aus der Medienlandschaft: das SZ-Magazin No. 26 vom 27.6.2003. Bereits auf dem Cover wird für moralische Erneuerung plaka14 Diese Diagnose hatte bereits Benjamin (1992: 145) in seinen Reflexionen über den Begriff der Geschichte getroffen: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist.«

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tiv geworben: Der Leser blickt einer, nur mit einem Bikini bekleideten und einem goldenen Peace-Zeichen um den Hals ausgestatteten, (gemalten) Blondine in die Augen, die vor einem lasziven roten Hintergrund präsentiert wird. Neben ihr kann man den Slogan »Schön sein reicht nicht. Wir brauchen eine neue Moral« lesen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Moral und Haltung in den Medien nur durch ein ansprechendes Design und eine einleuchtende Inszenierung ankommen können. Sascha Lehnartz (2003), Mitarbeiter des SZ-Magazins, spürt in seinem Artikel »Der Kahn in uns« eben dieser neuen Moral nach. Er konstatiert eine Ratlosigkeit in Fragen von Stil, Etikette, Benehmen und Geschmack, die auch durch alle »Knigge Updates« (ebd.: 6) in Form von Lifestyle-Guides nicht kompensiert werden könnten. Dieser Ratlosigkeit liege aber eine grundlegendere zu Grunde: eine Ratlosigkeit in Fragen von Haltung, Moral und Verantwortung. Haltung und Verantwortung könnten aber nur durch Moral und vernunftbestimmte Prinzipien erreicht werden, letztere wären dann Stabilisatoren und Ordnungsstifter in einer aus den Fugen geratenen Welt – auf das, was Moral auszeichnen müsste, geht Lehnartz allerdings nicht ein. Das Fehlen von Moral und Haltung würde durch Moden kompensiert: »Wer keine Haltung hat, braucht Moden umso dringender, um diese zu simulieren. Es ist kein Zufall, dass uns Design immer wichtiger wird, je mehr wir an Haltung verlieren.« Wie kann man diesem Dilemma entkommen? »Wir brauchen eine Haltung. Kant hatte es gut, denn zwei Dinge erfüllten sein Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: das moralische Gesetz in ihm und der bestirnte Himmel über ihm. Unser Gemüt erfüllt schon länger nichts mehr mit Bewunderung und Ehrfurcht. In uns? Na ja, vielleicht war es ein Fehler, Religion abzuwählen. Über uns? Verglimmen ein paar Kaltlichtspiegel-Halogen-Spots« (ebd.: 11). Als weitere Handlungsanweisungen gibt es noch ein Zitat zum kategorischen Imperativ und allgemeine Kritiken an Zeitgeisterscheinungen, wie etwa an den Verfehlungen von Oliver Kahn oder Stefan Effenberg, die zu großen Medienereignissen wurden. Letztlich bleiben die Überlegungen von Lehnartz auch nur Phrasen, da sie, außer einem inhaltlich völlig unbestimmten Rekurs auf die Moralphilosophie von Kant und ein vages Reich von Werten, die unsere Gesellschaft braucht, nichts außer leerer Kritik am Zeitgeist, in Form von Polemik und Ironie, zu bieten haben. Durch ihr plakatives Design können sie zwar Aufmerksamkeit erzielen, stellen aber keine gehaltvolle Diskussion der Frage nach der gegenwärtigen sozialen Funktion von Moral und Haltung dar. Die eigentliche Botschaft der medialen Krisenrhetorik sowie die Auseinandersetzung mit Moral und Haltung in den Medien bzw. durch Medienpersönlichkeiten lautet: Die Rhetorik bzw. der Protestgestus bleiben konstant, die Ereignisse können (und müssen) wechseln. Müsste aus diesen Überlegungen folgen, dass etwa das Statement »No War« die ma-

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ximale Kritikmöglichkeit am Krieg in den Medien darstellt – zumindest für Medienpersönlichkeiten? »Ich bin dagegen« – ein Statement mit Haltung? Wogegen man im Einzelnen zu sein hat, wird sozial bzw. medial vorgegeben, hängt von den Dispositionen einer bestimmten Gesellschaftsformation zu einer bestimmten Zeit ab, ist also letztlich fremdbestimmt. Bereits 1956 beschreibt Anders (2002: 166ff.) in seinem Essay Die Welt als Phantom und Matrize, wie das Sensationelle in den Medien zum Inbegriff von Wirklichkeit wird. Mit Sensationsbildern (etwa von Morden, Kriegen, Katastrophen, Skandalen, Stars) kann die Wirklichkeit von den Medien täglich effektiv ab- und überblendet werden (vgl. Bourdieu 1998: 72ff.). Diese Sensationsbilder können als Visualisierungen der zuvor beschriebenen Angstrhetorik bezeichnet werden. Das Sensationelle in den Medien verdichtet (soziale) Wirklichkeit zu einer (medialen) Wirklichkeit, die nirgends auffindbar ist, obwohl sie die Alltäglichste zu sein scheint – die Wirklichkeit des Irak-Krieges war, wie jeder weiß, mehr als die medial suggerierten Bilderwelten, dennoch waren diese, ergänzt durch andere Formen der Medienberichterstattung (etwa im Radio oder der Presse), unsere Wirklichkeit des Irak-Kriegs. Diese Standardisierung von Wirklichkeit, die wir alltäglich medial serviert bekommen, erfolgt am Effektivsten durch das Pathos des alltäglich Neuen als Stereotyp, d.h. der Sensationalisierung und Skandalisierung der Wirklichkeit wird ein »Antisensationalismus« (Anders 2002: 153), als Ordnungs- oder Stabilisierungsfaktor, zur Seite gestellt, der das Außergewöhnliche täglich gewöhnlich Außergewöhnlich erscheinen lässt. Das Zusammenspiel15 von »Sensationalismus« und »Antisensationalismus« (ebd.) soll, wie das von Angstrhetorik und Moralisierung, als bewusste Strategie der Medien dazu beitragen, dass die Medienprodukte nicht als eine Wirklichkeit an sich erscheinen, die mit der sozialen Wirklichkeit konkurriert, sondern das Erstere als eigentlich wirklich aufgefasst wird (vgl. ebd.: 153f.). Der Rezipient ist, so Anders (ebd.: 167ff.), bereits von diesen Wirklichkeitsschablonen geprägt, wie in seiner täglichen Nachfrage nach diesen deutlich zum Ausdruck kommt. Sein Erwartungshorizont ist auf diese fokussiert, sie werden zu Bedingungen der Weltwahrnehmung und des Handelns überhaupt, zu Matrizen, d.h. Prägungsformen, die dem Handeln, Verhalten, Denken, Fühlen und Wahrnehmen voraus liegen und sie konditionieren (vgl. ebd.: 167f.). Diese medialen Operationen tragen für Anders dazu bei, dass es kaum noch zu einer aktiven Weltaneignung kommt, sondern zunächst und zumeist zum Konsum von Welt als medial produzierte Fertigware. Aus dem »Be-schreiben« bzw. dem Berichten über die Wirklichkeit, wird in den Medien ein »Vor-schreiben«: »[D]as 15 Das von Bolz skizzierte Korrespondenzverhältnis zwischen Angstrhetorik bzw. Negativismus der Medien und Moralisierung wurde also schon von Anders (2002) prinzipiell entwickelt.

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Fernsehen, das die Wirklichkeit wiederzugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung von Wirklichkeit [...]« (Bourdieu 1998: 28). Zwei aktuelle Verarbeitungen16 der Angstrhetorik finden sich bei Michael Moore und Christoph Schlingensief. Michael Moore greift in seinem Dokumentarfilm Bowling for Columbine u.a. die permanente soziale und mediale Angstrhetorik in Amerika auf: Der Grund für die vielen Morde durch Schusswaffengebrauch in den USA, basiere auf einer von Politikern und Medien ständig erzeugten Angst. Moore verortet diese Angst überall: Innerhalb des Landes fürchteten die Weißen die Farbigen und Hispanics, die in den Medien hauptsächlich als Kriminelle vorkämen. Von außerhalb befürchteten sie – nach dem Verschwinden des »Reichs des Bösen« (Ronald Reagan) in Osteuropa – v.a. die Attacken islamistischer Terroristen. Die Politik propagiere die Priorität des Militärhaushaltes vor der Unterstützung sozial Schwacher. Die Amerikaner reagierten deshalb, so Moores These, völlig überreizt und griffen, sobald sie sich bedroht sähen, zur Waffe. Profanere Beispiele liefert Moore hinsichtlich einer von den Medien beschworenen Invasion afrikanischer Killerbienen oder dem angeblichen Super-GAU des Jahreswechsels 1999/ 2000. Die individuelle, soziale, kulturelle und politische Funktion des Massenphänomens Angst thematisiert auch Christoph Schlingensief. Er gründete am 20.03.2003 die Church of Fear (http://www.church-of-fear.net), propagiert das Bekenntnis zur Angst mit Parolen wie »Habt Angst«, »Du bist Besitzer deiner Angst« oder »Es ist Zeit, sich offensiv zu ängstigen« und zelebrierte mit sieben Freiwilligen, von der Gesellschaft marginalisierten Personen, ein öffentliches Angstbekenntnis auf der Kunstbiennale in Venedig, indem es um die Rückeroberung der Angst des Individuums geht, das von (politisch und sozial erzeugten sowie medial kommunizierten) Kollektiv-Ängsten zunehmend zurückgedrängt wird (vgl. Corinth 2003). Eine andere Kollektiv-Angst stellt, spätestens seit den Tagen des kalten Krieges, die atomare Bedrohung und daraus resultierend, die Vorstellung eines apokalyptischen Weltuntergangs dar. Ein solches Ereignis überfordert das Vorstellungsvermögen und die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen – dies führt zu einer konstanten Beunruhigung bzw. Verängstigung. Derrida (2000) thematisiert vor dem Hintergrund des Diskurses um eine mögliche atomare Apokalypse, dass wir uns gerade nicht in einem apokalyptischen Zeitalter befinden, sondern vielmehr in einem post-apokalyptischen, in dem die Apokalypsen in Texten, Bildern, Filmen usw., in ihrer sinnlich anschaulichen Präsenz, also ihrer medialen Inszenierung, schon stattgefunden bzw. sich ereignet haben, aber gerade 16 Ein prägnantes Beispiel für Angstrhetorik- und -produktion in der deutschsprachigen Popmusik stellt das Oeuvre von und die Medienpersönlichkeit Xavier Naidoo dar (vgl. Kleiner 2001).

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nicht in Wirklichkeit.17 Aber auch Chemieunfälle oder Bürgerkriege werden überlebt, sind durch die Telekommunikation alltäglich und erfahrbar geworden und verlieren somit zumeist ihre erschreckende Wirkung. Auch an diesem Beispiel offenbart sich die für die Medien zentrale Dialektik von Verunsicherung und Beruhigung. Zur Dauerbeunruhigung bzw. -verängstigung, also dem freischwebenden Angstpotential, kommt als Gegengewicht ein Habitus der Gleichgültigkeit bzw. eine Art aufgeklärter Coolness hinzu. An die Stelle der Erfahrung tritt die Sensation, das Besondere verliert sich im Allgemeinen, alles scheint medial erlebund inszenierbar, fast nichts mehr wirklich erfahrbar. Allerdings scheint Derrida das apokalyptische Begehren der Menschen, auf das Baudrillard (1989: 250) zu Recht hinweist, zu übersehen: »Am Tag des Weltendes wird es niemanden mehr geben, wie es am Anfang niemanden gab. Das ist ein Skandal. Ein solcher Skandal für die Menschengattung, dass sie kollektiv oder aus Trotz dieses Ende mit allen Mitteln herbeizuführen sucht, einfach, um bei dem Spektakel dabei zu sein.«18 Diese Überlegung verweist auf den Aspekt, dass die medialen Inszenierungen von Katastrophen, Krisen und Kriegen, mit der voyeuristischen Lust der Menschen am Schauder der Wirklichkeit, also dem Skandalösen, Schrecklichen, Sensationellen rechnen kann.19 Neben der zuvor beschriebenen Inszenierung und Funktionalisierung der Apokalypse, weist Baudrillard (1994b: 107-114) auf die institutionalisierte Verwaltung von Katastrophen hin – ein Thema, das natürlich auch im Hinblick auf den Irak-Krieg eine große Rolle spielte. Der »karitative Katastrophen-Kannibalismus« ist ein signifikantes Merkmal der westlichen Welt und gegenwärtig die effektivste Möglichkeit, Moralität und Emotionalität zu simulieren. Ferner darf die ökonomische Bedeutung 17 Das amerikanische Kino der späten 1990er Jahre hatte den Weltuntergang und die bedrohte Menschheit als Thema entdeckt: etwa Twelve Monkeys (1995), Das fünfte Element (1997), Armageddon (1998) oder Deep Impact (1998). Im Kino trifft die Angst vor dem Ende auf die Lust, sich dieses Ende anzuschauen. Der Weltuntergang wird so zum Erlebnis, der in der kollektiven Imagination schon stattgefunden hat. Was diese Filme neben der Produktion von Angstbereitschaft als Stabilisierungs- bzw. Entlastungsangebote offerieren, ist, abgesehen von einem teils unerträglichen Patriotismus, nicht viel: Krisenmanagement und Verhinderung von Schlimmerem, ohne weltverbessernde Utopien als Handlungsanleitung, Erhaltung eines bedrohten status quo als Maximalziel. 18 Eine ausführlichere Diskussion dieser Thesen von Derrida und Baudrillard, mit Blick auf die mediale Angstrhetorik und -produktion vor der Jahrtausendwende, findet sich in Kleiner (1999). 19 Zu diesem lustvollen Konsum der »Sensationen des Unheils« gesellt sich noch der »Genuss des Distanzgewinns gegenüber dem Schrecklichen. Man genießt nicht das Leiden der anderen, sondern die eigene Distanz dazu. [...] Und gerade diese lustvolle Unbetroffenheit durch das Leid dort draußen, fordert komplementär die ›Betroffenheit‹ als Attitüde. [...] Die Fernethik der Weltkommunikation dient dazu, weit entferntes Unglück in unsere Nahwelt hineinzukopieren. Die ganze Welt wird so zum Gegenstand des Verantwortungsgefühls. Und dem entspricht dann natürlich kein konkretes Handeln mehr« (Bolz 1999a: 55).

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von Katastrophen – Krieg, Erdbeben, Hungersnöten, Überschwemmungen – oder dem Elend der Dritten Welt, die Baudrillard als »symbolische Nahrung« (ebd.: 110f.) des Westens bezeichnet, nicht übersehen werden – Katastrophen bzw. menschliches Elend machen sich eben bezahlt: »Man wird zum Spektakel des Elends gezwungen und zugleich zur Spendenfreudigkeit: ein weltweiter Mehrwert an Gutwilligkeit und schlechtem Gewissen. [...] Der neuste Rohstoff ist die Katastrophe. [...] Wir sind Konsumenten des immer wieder angenehmen Schauspiels vom Elend und von der Katastrophe, und auch des bewegenden Schauspiels unserer eigenen Bemühungen, das Elend zu reduzieren (wodurch eigentlich nur die Voraussetzungen für die Reproduktion des Katastrophenmarktes gesichert werden). [...] Unsere ganze Kultur lebt von diesem Katastrophen-Kannibalismus, der in zynischer Weise durch die Informationstechniken und in moralischer Weise durch unsere humanitäre Hilfe über die Welt verbreitet wird« (ebd. 107ff.; vgl. Bolz 1997: 173). Letztlich folgt aus diesem »Katastrophen-Kannibalismus« kein konkretes Handeln, sondern vielmehr ein Konsum von Katastrophen, Krisen und Angst, bei gleichzeitiger Narkotisierung dieser Bedrohungen durch vorgegebene Moral-, Orientierungs- und Denkschemata, die immer wieder kurzfristig Aufmerksamkeit erzeugen, aber schnell aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwinden. Sprache, Kritik, Fernsehen: Wie über Krisen in den Medien sprechen?

Gibt es keine authentische und politisch ambitionierte sowie sachlich fundierte Kommunikationsmöglichkeit, hinsichtlich sozialer, kultureller oder politischer Themen in den Medien? Unter welchen Bedingungen wäre ein den jeweiligen Ereignissen adäquates (mediales) Sprechen möglich? Gibt es auch positive Beispiele für angemessene Kommunikation über den Irak-Krieg in den Medien von Medienpersönlichkeiten? Was war etwa mit Dustin Hoffmanns dramatischer Rede auf der Gala Cinema for Peace, im Rahmen der Berlinale 2003, bei der er die »Kriegsstimmung« seiner Administration sowie deren »Paranoia der Macht« scharf kritisierte und um eine »vollständige Aufklärung seiner Landsleute« im Hinblick auf den Irak-Konflikt bat. Diese Galaveranstaltung brachte zudem EUR 250.000 Erlös ein, der dem UNICEF-Hilfswerk zur Versorgung von Kindern in Kriegsgebieten zugute kommt. Was ist mit der Aktion der Schauspieler Jessica Lange, Ethan Hawke und Steve Buscemi, die Mitte März vor dem UNO-Sitz in New York eine Antikriegs-Petition, die, außer von vielen Stars, auch von einer Million Menschen unterzeichnet wurde? Was mit Künstlern, abgesehen vom Irak-Krieg, wie etwa Manu Chao, der in Krisengebieten spielt, Konzerte gibt, die Kundgebungen ähneln und freundschaftliche Beziehungen zu den Rebellen von Chiapas

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unterhält? Was mit den Aktionen und Inszenierungen von Christoph Schlingensief, der Kunst immer als Teil oder gerade als politischen Ausdruck sieht – etwa Chance 2000, Freaks 3000 oder das Theaterstück Atta, Atta, die Kunst ist ausgebrochen? Was mit Dokumentarfilmen wie Michael Moores Bowling for Columbine oder Roger an Me sowie der Bush-Kritik20, die er in seiner Dankesrede anlässlich des Oscar-Gewinns für Bowling for Columbine als besten Dokumentarfilm, am 23.03.2003 äußerte? Was mit dem »Diskursrock: Popmusik von links« (Büsser 2000: 84f.), d.h. deutschsprachiger (Pop-)Musik, die »nicht einfach nur als netter Pop auftritt, sondern [...] sich geistreich mit politischen und gesellschaftlichen Themen auseinander setzt« (ebd.)? Zum Diskursrock bzw. -pop werden u.a. Vertreter der so genannten Hamburger Schule (z.B. Die Goldenen Zitronen, Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne) gezählt, aber auch HipHop Bands wie Wahre Schule, Absolute Beginners (jetzt nur noch Beginner) und Mastino (ebd.). Diese Musiker vereint, wie es auf Blumfelds LP Testament der Angst heißt, der »Kampf« gegen die »Diktatur der Angepassten«: »Ihr habt die Welt längst aufgegeben, für Medien, Märkte, Merchandise!« Sind dies nicht alles Beispiele für Statements mit Haltung? Die entscheidende Frage in diesem Kontext ist: Können Kritik, Protest oder Widerstand überhaupt medial kommuniziert werden – im Kontext meiner Überlegungen heißt das, im Fernsehen? Es darf nicht nur darum gehen, Gesicht zu zeigen bzw. sich für oder gegen Ereignisse zu engagieren, sondern Haltung, Kritik oder Protest müssen v.a. in einer dem Gegenstand adäquaten Weise formuliert werden sowie sachlich fundiert sein – dies setzt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema voraus, erfordert also Zeit und den Erwerb nicht unmittelbar transparenter Fakten. Nicht jeder Popstar oder Schauspieler ist ein geeigneter opinion leader, nicht jeder Rahmen, in dem Statements eingeholt werden, ist der richtige, um Meinungen zu äußern oder Haltungen zu demonstrieren. Die gewaltigen Emotionalisierungen, zu denen Spendengalas oder Benefizkonzerte beitragen sowie der Erlös, den diese Veranstaltungen für die guten Zwecke einbringen, sind zunächst und zumeist nicht mehr als symbolische und psychologische Entlastungen, »Brennstoff für das moralische und gefühlsmäßige Gleichgewicht« (Baudrillard 1994b: 109) des Einzelnen sowie des (zeitbedingten) Kollektivs. Zudem darf man nicht übersehen, dass die Organisatoren von und Teilnehmer an diesen Veran20 »We live in a time where we have fictitious election results that elect a fictitious president. We live in a time where we have a man sending us to war for fictitious reasons. Whether it's the fiction of duct tape, or the fiction of orange alerts. We are against this war, Mr. Bush. Shame on you, Mr. Bush, shame on you. And any time you got the Pope and the Dixie Chicks against you, your time is up« (http://www.michaelmoore.com) (abgerufen am 27.06.2003).

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staltungen andererseits auch in einer machtvollen Position sind bzw. Macht ausüben. Die Not der Einen, ist zugleich die Macht der Anderen, die in der Lage sind, diese Not zu bekämpfen. An dieser Situation wird sich so schnell auch nichts ändern, da »der Katastrophenmarkt entsprechend der unvermeidlichen Marktlogik« (ebd.: 110) stets Konjunktur hat, der Irak-Krieg war daher v.a. als »disaster-show« (ebd.: 111) in der gesamten Medienlandschaft erfolgreich vermarktbar. Adorno (1997j: 512) wies bereits 1953 in seinem Essay Prolog zum Fernsehen darauf hin, dass die Menschen der »Sprache [...] durchs Fernsehen noch mehr entwöhnt [werden], als sie es auf der ganzen Erde heute schon sind. Wohl reden die Schatten auf dem Fernsehschirm, aber ihre Rede ist womöglich noch mehr Rückübersetzung als die im Film, bloßes Anhängsel an die Bilder, nicht Ausdruck einer Intention, eines Geistigen, sondern Verdeutlichung der Gesten, Kommentar der Weisungen, die vom Bild ausgehen.« Auf die zuvor thematisierten Statements und Haltungen von Popstars und Schauspielern hinsichtlich des Irak-Kriegs übertragen, heißt das: Die eigentliche Botschaft dieser Statements sind allererst die Medienpersönlichkeiten selbst, die sie äußern und damit die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das Gewordensein und die Hintergründe dieses Krieges, also seine Geschichte und die kontroversen Positionen, die es hierzu gibt, werden so von der Biographie und der sozialen Funktion der jeweiligen Medienpersönlichkeit im kulturindustriellen Feld überlagert. Gerade sie aber sollten es doch sein, die zur Krise in der Öffentlichkeit Stellung beziehen, letztlich aber nur an ihrem celebrity design feilen. Die von der Medienpersönlichkeit als verpflichtend erwarteten öffentlichen Repräsentationsgesten sind prestigefördernd und verfestigen sein Standing im Kampf um Aufmerksamkeit. Fazit: »The Medium« (die Medienpersönlichkeit) »is the message« (die Medienpersönlichkeit), die eigentlichen Themen sind nur austauschbare Plattformen zur Selbstdarstellung. Nicht Haltung, sondern Aufmerksamkeit ist hierbei das Ziel. Bereits in der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno (1997: 187) den Zusammenhang von Sprache und Kulturindustrie entsprechend drastisch geschildert: »Je vollkommener [...] die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich. [...] Damit aber wird das Wort, das nur noch bezeichnen und nichts mehr bedeuten darf, so auf die Sache fixiert, dass es zur Formel erstarrt. Das betrifft gleichermaßen Sprache und Gegenstand. Anstatt den Gegenstand zur Erfahrung zu bringen, exponiert ihn das gereinigte Wort als Fall eines abstrakten Moments, und alles andere, durch den Zwang zu unbarmher-

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ziger Deutlichkeit vom Ausdruck abgeschnitten, den es nicht mehr gibt, verkümmert damit auch in der Realität.« 21

Das Statement »No War« bezeichnet, wenn man die Ausführungen von Adorno und Horkheimer auf das Thema dieses Aufsatzes bezieht, ein überkomplexes Thema, das das eigentliche Thema, den Krieg, durch seine Allgemeinheit und Abstraktheit in seiner ereignishaften Konkretion bedeutungslos werden lässt, aber gleichzeitig standardisiertes Verhalten vorschreibt, das heißt, die generelle Ablehnung von Kriegshandlungen. Dieses Statement ist unmittelbar anschlussfähig, erspart eigenständige Reflexion bzw. substantielle Auseinandersetzung und vermittelt scheinbar eine konkrete Haltung. Medienpersönlichkeit und Rezipient (Zuschauer oder Fan) verbindet dabei ein Aspekt: sie sind Bauchrednerpuppen, die vom jeweiligen kulturellen, sozialen oder politischen status quo sowie von den Systemimperativen der Medienkonzerne, in ihrem Denken und Handeln massiv beeinflusst werden. Anders (2002: 97-212) betont entsprechend, dass das Fernsehen (aber auch das Radio) nicht nur unser Denken, Wahrnehmen und Verhalten beeinflusse, sondern v.a. unsere Sprache: »Da uns die Geräte das Sprechen abnehmen, nehmen sie uns auch die Sprache fort; berauben sie uns unserer Ausdrucksfähigkeit, unserer Sprachgelegenheit, ja unserer Sprachlust« (ebd.: 107). Unsere Sprache und damit die Ausdrucksweisen unserer Welt- und Selbstkonstruktionen bzw. unsere Versuche, Welt und Selbst diskursiv aufzuschlüsseln, sie zu verstehen und kreativ zu gestalten, entwerfen und verändern, verkümmern, so könnte man Anders’ These zuspitzen, durch Mediensprachen.

21 Büsser (2000: 85) weist darauf hin, dass »sich der kritische Pop [der angeblich Statements mit Haltung produziert – MSK] immer mehr in den Elfenbeinturm zurückzieht, zum Insider-Wissen einer kleinen Gruppe wird [...]. Diskursrock mag vielleicht [...] die letzte legitime Form sein, in deutscher Sprache zu singen, hat allerdings zugleich dermaßen intellektualisierte und mit Szene-Codes durchsetzte Sprache, dass nur ein kleiner Kreis aus Intellektuellen und Pop-Hipstern zu dieser Musik Zugang findet. [...] [W]as bringt es der kritischen Popmusik, sich mit Begriffen wie ›Diskurs‹ als besonders schwierig, bedeutungsvoll und elitär aufzuspielen?« Damit bestätigt Büsser einerseits implizit die Thesen von Horkheimer, Adorno und Anders, widerspricht aber gleichzeitig der Vorstellung, dass komplexe Themen auch differenziert in der Popkultur, zumindest aber in der Popmusik, ausgedrückt werden könnten. Übertragen auf den Kontext dieses Aufsatzes bedeutet das, Songs von Popmusikern sowie Statements von ihnen zum Irak-Krieg, können nur Signalwert haben, müssen anschlussfähig und damit fragmentiert kommuniziert werden, für Reflexion und grundlegende Kritik gibt es keinen Raum. Warum dann überhaupt von kritischer Popmusik sprechen? Warum den Versuch, eine nicht zwangsläufig mainstreamgerechte Reflexion in der Popmusik zu artikulieren, als Produkte des Elfenbeinturms verurteilen? Müssten denn nicht v.a. diese Versuche, in einem der erfolgreichsten Felder der Kulturindustrie, der Popmusik, sich Phrasen und Oberflächlichkeit zu verweigern, gefördert werden – vorausgesetzt natürlich, man gesteht diesen Formen der Popmusik dieses Potential zu?

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Mediensprachen werden für Anders zu Vorschriften, die den Dialog und die Reflexion durch Unterhaltung sowie Programmatik ersetzen, Menschen sprachlos und dadurch unmündig werden. Der Mensch wird durch die Mediensprachen letztlich ein Höriger, also völlig passiv und undifferenziert im Hinblick auf das Wahrnehmen, Erleben und Verstehen von Welt – dies illustriert der frühere Slogan des NRW-Radiosenders EINS-LIVE anschaulich: »Eins Live macht hörig« – und kein Sprechender, das heißt, im Sinne Anders, ein kritisch-reflektierter und emanzipierter Akteur. So verkümmern durch die Medien Sprache und Erleben des Menschen, also letztlich er selbst (vgl. ebd.: 109f.). So auch brisante gesellschaftliche Themen, wie der Krieg, zu inhaltsloser Rhetorik, zu leidenschaftslosem Pathos, zu Phantomen bzw. Schablonen, die zwar die mediale Wirklichkeit widerspiegeln, aber sozial erfahrungsdicht sind, d.h. wirkliches Erleben und kritische Auseinandersetzung unterdrücken. Horkheimer und Adorno (1997: 12) haben diesen Zustand eindringlich beschrieben: »Tritt er [d.i. der Gedanke – MSK] willentlich aus seinem kritischen Element heraus, als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden, so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich erwählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln. [...] Kein Ausdruck bietet sich mehr an, der nicht zum Einverständnis mit herrschenden Denkrichtungen hinstrebte, und was die abgegriffene Sprache nicht selbständig leistet, wird von den gesellschaftlichen Maschinerien präzis nachgeholt.«

Bolz (1999a: 58) würde diesen Überlegungen entgegenhalten, dass »Massenmedien [...] nicht Meinungen durch[setzen], sondern Themen. Und mit diesen Themen, zu denen man jede beliebige Meinung vertreten kann – aber eben: zu diesen Themen! – orientiert man sich dann in der Welt.« Diese Auffassung sowie seine Zurückweisung der These von der manipulativen Kraft der Medien22, wird bei brisanten gesellschaftlichen Themen, wie eben dem Krieg und dem Sprechen darüber, problematisch. Die zuvor skizzierten Auswirkungen des Redens über den Krieg, zumindest bei Popstars und Schauspielern, zeigen, dass agenda setting allein zur Banalisierung und (fremdbestimmten) Standardisierung von Wirklichkeit und gerade nicht zu aktiver Weltaneignung führt und zu politisch aufgeklärtem Handeln motiviert. Eine rein funktionalistische Medienbetrachtung, wie sie Bolz vertritt, führt in diesen Fällen (Krieg, Krisen, Ka22 »Es wäre sinnlos, den Massenmedien Manipulation vorzuwerfen. Sie interessieren sich nämlich nicht für die Wirklichkeit ›an sich‹, sondern dafür, wie die Wirklichkeit von anderen gesehen wird. Massenmedien berichten nicht, was geschieht, sondern was andere für wichtig halten. Sie beziehen sich in erster Linie nicht auf die Welt, sondern auf sich selbst. [...] Die Massenmedien treffen für uns eine Vorauswahl dessen, was der Fall ist [...] und produzieren damit Fakten, Fakten, Fakten. [...] Die Massenmedien manipulieren nicht, [...] sondern sie strukturieren unsere Wahrnehmung der Welt [...]« (Bolz 1999a: 52ff.).

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tastrophen) zu einer (wissenschaftlichen bzw. intellektuellen) Legitimation dieses Medienhandelns sowie zur Bankrotterklärung emanzipatorischer Weltermächtigung. Das distanzierte Aufklären über das Funktionieren des Mediensystems kann nur der erste Schritt zu einem sozial, kulturell und politisch verantwortungsbewussten Mediengebrauch sein. Um einen emanzipatorischen Mediengebrauch auf Seiten der Medienpersönlichkeiten und der Mediennutzer zu erzielen, müssen beide Gruppen Medienkompetenz ausbilden. Die Funktion der Medien und die Bedeutung von Medienkompetenz

»Medien haben«, wie Faulstich (2000: 7) betont, »in unserer Gesellschaft als dominante Steuerungs- und Orientierungsinstanzen in allen Teilsystemen eine Schlüsselrolle.« Es ist gerade deshalb »[u]m so kurioser [sei], wie wenig wir über Medien tatsächlich wissen. [...] Dieses Missverhältnis zwischen einer medienbestimmten Gesellschaft bzw. einem mediengesteuerten Alltagsleben eines jeden Einzelnen und der Medienignoranz der überwiegenden Mehrzahl ihrer Mitglieder, muss als Herausforderung begriffen werden. Ein fundiertes, breites Wissen über Medien und die Fähigkeit, sich ihrer souverän und funktional zu bedienen [muss von jedem Einzelnen erworben werden – MSK]. [...] Medienkompetenz wird zur zentralen Aufgabe für die geistige und soziale Ökologie unserer Gesellschaft« (ebd.: 7f.). Medienkompetenz, als eine der Schlüsselqualifikationen in der Mediengesellschaft, beinhaltet wesentlich drei Aspekte: (1) eine technischmethodische Kompetenz, (2) eine sozial-kommunikative Kompetenz und (3) eine fachlich-inhaltliche Kompetenz. Medienkompetenz23 umfasst also, wie Stötzel (2003: 225) betont, »die Fähigkeit, mit Medien im technologischen wie auch sozialen Bezug und im Hinblick auf persönliche Entwicklungsziele erfolgreich umgehen zu können. Dabei wird die M. auch als Ableitung aus der übergeordneten bzw. umfassenderen Kommunikationskompetenz verstanden und unterschieden nach den Kategorien der informationstechnologischen Kompetenz (Umgang mit Computer und Internet) und der M. im engeren Sinne (Umgang mit den Massenmedien wie Zeitung, Hörfunk, Fernsehen). Unterteilt wird die kommunikative Kompetenz weiterhin in drei Komponenten, und zwar erstens in eine analytische Fähigkeit des Individuums zur Überwindung von Bewusstseinsblockaden beim Umgang mit Medien, mit dem Ziel, deren Wesen zu begreifen sowie durch Reflexion Möglichkeiten zur Überwindung der Blockade zu finden, zum Zweiten in eine kreative Fähigkeit, den herrschenden Kommunikationsstrukturen andere entgegenzusetzen und dabei eigene und kollektive Interessen zu verfolgen, und drittens in 23 Auf das Thema Medienethik, als die praktisch-moralische Seite der Medienkompetenz, kann hier nicht eingegangen werden.

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der Fähigkeit einer adäquat reflektierten Erfahrungsbewältigung. [...] Als Lernziel der Medienpädagogik24 verweist M. in erster Linie auf die Fähigkeit des Individuums, medienkundig zu sein, d.h. die zur Verfügung stehenden Informations- und Unterhaltungsmedien zu kennen, sich ihrer bedürfnisgeleitet zu bedienen und sie adäquat zu nutzen, ihre Botschaften und Wirkungen kritisch zu reflektieren sowie diese selber als Produzent aktiv zu gestalten, im Dienste eigener Anliegen und Zielsetzungen.« Die Ergänzungen und Konkurrenzverhältnisse unterschiedlicher Medien erfordern immer wieder neue Kombinationen von Medienkompetenzen. Bei der Diskussion um Medienkompetenz fällt auf, dass niemand nach der Medienkompetenz von Medienpersönlichkeiten fragt. Dies ist umso erstaunlicher, da etwa für viele Jugendliche ihre Lieblingsmusiker, ihre persönlichen Serienstars oder Schauspielikonen, fast selbstverständlich zu Meinungsgebern werden. In para-sozialen Interaktionen (vgl. u.a. Schramm/Hartmann/Klimmt 2002), also imaginären Beziehungen, die die Fans mit den Medienpersönlichkeiten eingehen, wird eine Atmosphäre (fiktiver) Vertrautheit, ein Wir-Gefühl, geschaffen, das die Übernahme von Positionen, die von Medienpersönlichkeiten geäußert werden, erleichtert.25 In bestimmten Fällen kann dies wiederum negative Auswirkungen haben, wenn etwa durch die Äußerung einer Medienpersönlichkeit zum Irak-Krieg ein latenter oder offener Anti-Amerikanismus transportiert wird, der sich zumeist in Phrasen erschöpft. Zudem verdienen Medienpersönlichkeiten die Autorität, die ihnen zugeschrieben wird, gar nicht, da sie in vielen Fällen nur Statements ohne Haltung äußern, Gesinnungen ohne Reflexion inszenieren: »Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird, so muss der Versuch, solcher Depravation auf die Spur zu kommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen« (Adorno/Horkheimer 1997: 11f.). Was heißt Medienkompetenz von Medienpersönlichkeiten konkret? Warum müssen gerade Personen des öffentlichen Lebens, die die Verfügungsgewalt über die Mittel, sich permanent öffentlich (in unserem Fall im Fernsehen) zu äußern sowie öffentlich zu existieren und potentiell der ganzen Gesellschaft die Grundlagen ihrer Weltsicht mitteilen können, Medienkompetenz ausbilden? Medienpersönlichkeiten müssen Verantwortungsbewusstsein haben. Verantwortungsvolle Einmischung verlangt aber gerade nicht, nur Statements in Form von Phrasen oder Slogans zu äußern, also austauschbar zu kommunizieren und damit bodenlose Haltungen zu inszenieren, die die Aufmerksamkeit letztlich auf die Medienpersönlichkeit und nicht auf das Thema lenkt. 24 Zum Thema Medienpädagogik vgl. Doelker (1994); Baacke (1994); Moser (1999). 25 »Parasozialität«, betont Wenzel (2001: 20), »heißt dann nichts anderes, als dass ego eine Beziehung zu alter fingiert, um sie dadurch erst herzustellen.«

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Medienpersönlichkeiten sollten sich vor ihren Statements zu sozial, politisch oder kulturell brisanten Themen, eine Reihe von Fragen stellen: Bin ich so gut über das jeweilige Thema informiert, dass ich wirklich eine gehaltvolle Meinung äußern kann? Kann ich die Rolle eines opinion leaders übernehmen? Ist der mir offerierte Rahmen (etwa eine Fernsehsendung oder ein Konzert) geeignet, um über ein bestimmtes Thema zu reden? Wie wirkt sich das Sprechen in einem bestimmten Rahmen auf das Sprechen selbst aus? Kann ich in einem ungeeigneten Rahmen (etwa einem MTV-Interview), durch deplatzierte Kommunikation, das heißt, indem ich dort das sage, was am wenigsten erwartet wird, was am unwahrscheinlichsten, was an dem Ort, wo es ausgesprochen, am dekontextualisiertesten ist, auf das eigentliche Thema aufmerksam machen? In diesem deplatzierten Kontext könnte der Hinweis geäußert werden, dass und warum dieser Kontext nicht geeignet sei, zu einem bestimmten Thema (wie z.B. zum Krieg) Stellung zu beziehen. Zudem könnte man auf andere Informationsquellen (Bücher, Internetseiten, Organisationen etc.) verweisen. Dies wäre, auch wenn keine konkreten Aussagen zum Thema an diesem Ort gemacht werden, ein Statement mit Haltung. Eine andere Möglichkeit deplatzierter Kommunikation, die allerdings Courage erfordert, wäre die Aussage, dass man selbst nicht gut genug informiert sei, um sich zu dem jeweiligen Thema sinnvoll zu äußern. Dies könnte eine konstruktive Wirkung zeitigen – und zwar die Einsicht: Dieses Thema (z.B. der Krieg) erfordert, wie vergleichbare Themen auch, eine intensive Auseinandersetzung und kann nicht wirklich durch unmittelbar anschlussfähige Phrasen (etwa »No War«) kommuniziert werden. Wie könnte Medienkompetenz, ausgehend von diesen Überlegungen, produktiv inszeniert, also in die Praxis überführt werden? Es könnte, etwa bei Konzerten, Galaveranstaltungen oder in verschiedenen Sendungen der Musiksender, zu einer Einbindung von Experten (z.B. Schriftstellern, Künstlern, Politikern oder Wissenschaftlern) zum jeweiligen Thema kommen, die vor, zwischen und nach den Auftritten der Musiker bzw. dem Rahmenprogramm (Spendenaufrufe, Showteile, Interviews) kurze und prägnante Statements vortragen und versuchen, den Zuschauern/-hörern komprimierte Informationen zu vermitteln und auf externe Informationsquellen zu verweisen – u.a. könnte dies eine eigens eingerichtete interaktive Homepage (zum Thema, Event oder zur Show) sein, die die Statements, Hintergrundinformationen, Literaturtips usw. ausführlicher dokumentiert und die Möglichkeit bietet, Fragen zu stellen, seine eigenen Positionen zu formulieren und mit anderen, so auch mit den Medienpersönlichkeiten selbst, in einen Dialog zu treten. Die Struktur von Spendengalas oder Charity-Konzerten könnte so produktiv subvertiert werden, weil etwa das Sende- oder Inszenierungskonzept von der Sache selbst, um die es geht, und den dazu erforderlichen Mitteln bestimmt wird.

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Andererseits könnten sich Medienpersönlichkeiten organisieren, das heißt, sich auf bestimmte Themen konzentrieren, mit denen sie sich intensiv (einzeln sowie kollektiv) und kontinuierlich beschäftigen. Zudem könnten entsprechende opinion leader gewählt werden, die die Ergebnisse der Beschäftigung mit dem jeweiligen Thema (medial) kommunizieren. Der Austauschbarkeit und Sinnentleerung von Haltungen könnte so produktiv entgegengewirkt werden, indem man sich nicht jederzeit für oder gegen alles (vermeintlich) einsetzt, sondern sich als qualifizierter Meinungsgeber von bestimmten Themen sieht und dafür engagiert, ebenso wie man klarstellt, dass man zu anderen Themen nichts zu sagen habe. Was hier zur Diskussion steht, ist die Frage nach einer globalen und genreüberschreitenden Diskussion und Interaktion sowie einem entsprechenden Zusammenschluss bzw. einer Selbstorganisation von Medienpersönlichkeiten, Intellektuellen (Wissenschaftlern, Politikern, Literaten usw.), Zuschauern, Fans, Konsumenten bzw. Rezipienten. In diesen Organisationen sollte einerseits so erschöpfend wie möglich informiert und kommuniziert sowie andererseits nicht immer versucht werden, alle Themen und Probleme durch die Herstellung von Konsens gleichzuschalten, sondern auch Differenzen offen zur Schau zu stellen, (soziale, politische und kulturelle) Aporien als Aporien zu belassen – so kann es etwa keine substantielle bzw. verbindliche und für alle Seiten akzeptable Lösung des Konflikts zwischen westlichem Kapitalismus (inklusive seines Werte-, Norm- und Rechtssystems) und dem islamischen Fundamentalismus geben, wohl aber einen permanenten Austausch über die Historie und Hintergründe dieses Konflikts sowie über die aktuellen Ereignisse – dies kann auch zu kollektiven Aktionen motivieren. Es könnte so zur Konstitution einer »Universal Otherhood as Neighbourhood«26 hinauslaufen, d.h. auf die Erzeugung von Gemeinschaftsform, die sich durch globales Bewusstsein für Krisen (Krieg, Krankheiten, Umweltkatastrophen etc.) auszeichnen, lokal und global agieren, den Willen zur umfassenden Information und Kommunikation besitzen, den Zusammenschluss und Dialog von Menschen unterschiedlichster sozialer Felder und Kulturen fördern sowie die Banalisierung und Sinnentleerung von sozial brisanten Themen aktiv verhindern. Medienkompetenz von Medienpersönlichkeiten umfasst also sechs Kernkompetenzen: • eine intellektuelle Kompetenz, das heißt, die Kenntnis von Hintergründen und Fakten, die eine substantielle Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema verlangt;

26 Diese Formulierung bezieht sich auf die Unterscheidung von »Tribal Brotherhood«, »Universal Otherhood« und »Organizational Neighbourhood« [Hervorhebung im Original – MSK], wie sie Bolz (1999b: 44) im Zusammenhang mit Frage nach Formen sozialer Hierarchien diskutiert.

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• eine sozial-kommunikative Kompetenz, also das Wissen, welche Sprache dem jeweiligen Thema und dem (medialen) Kontext angemessen ist und der Mut zu schweigen, wenn man nichts Substantielles zu sagen hat bzw. der Kontext sinnvolles Sprechen unmöglich macht; • eine analytische Kompetenz, das heißt, ein Verständnis der Strukturen, Institutionen, Senderahmen und Formate, in denen man zum Sprechen aufgefordert wird; • eine selbstreflexive Kompetenz, das heißt, sich über seine Funktion als Medienpersönlichkeit (Stichwort Starsystem) und die damit verbundenen Gefahren (Stichwort Scheinöffentlichkeit27) im medialen Feld im Klaren zu sein; • eine politische Kompetenz, das ist das Wissen um die möglichen Wirkungen und den Einfluss seiner Statements und Handlungen auf das Klima einer Gesellschaft oder die Weltwahrnehmung von Einzelnen sowie seiner Verantwortung als öffentliche Person; • eine persönliche Kompetenz, das ist der Mut, sich den Systemzwängen, denen man als Medienpersönlichkeit ausgeliefert ist, zu widersetzen, wenn es um Themen geht, die wichtiger sind als das persönliche celebrity design bzw. die Interessen derjenigen Institutionen und Personen, die sich hinter der jeweiligen Medienpersönlichkeit verbergen. Die Autorität der Sache sollte in diesen Fällen den Ton angeben und nicht der Mehrwert, den diese Sache für das self-fashioning einbringen könnte.

4.2

KOMMUNIKATIONSGUERILLA. SEMIOTISCHER WIDERSTAND UND KOMMUNIKATIVE MILITANZ

»Die Schlacht ums Überleben des Menschen als verantwortlichem Wesen im Zeitalter der Massenkommunikation, gewinnt man nicht am Ausgangspunkt dieser Kommunikation, sondern an ihrem Ziel« (Eco 2002a: 154).

27 In Schein- bzw. Ersatzöffentlichkeiten werden, wie Ludes (1998: 186f.) betont, »Ereignisse, Probleme und Lösungen nur inszeniert, aber nicht ernsthaft verhandelt [...]. Ersatzöffentlichkeiten wie Schlagerfestivals und Urlaubsparadiese förderten aber neue Ersatz-Repräsentanten, neue soziale Typen, die inszenierte, mediatisierte, schönem Schein dienende Repräsentativität verkörperten. Damit entwickelten sich neue Formen repräsentativer ›Demokratisierung‹, die weniger auf Entscheidungen als auf inszenierte Teilnahme und positive Gefühle zielten [Hervorhebung im Original – MSK].« Ausgehend von diesen Überlegungen könnte man behaupten, dass sich die Äußerungen von Medienpersönlichkeiten zu sozial brisanten Themen bisher nur in Scheinöffentlichkeiten abspielten und damit von Anfang an zur Fiktionalisierung verdammt waren. Es bedarf also einer anderen (medialen) Plattform von Öffentlichkeit, um Statements mit Haltung kommunizieren zu können.

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KAPITEL 4

Mit einem Manifest und einigen Aktionen hat die deutsche Popband Die Fantastischen Vier 1999 ihre neu erscheinende Single Bueons Dias Messias28 vom Album 4:99 promoted: »Wir sind gegen die Manipulation der Massen. Der Umgang mit Information ist Verantwortung. Kein Applaus für Scheiße. Wenn der Umgang mit Information in den Medien so weitergeht, werden wir noch alle verblöden. Die Medien vermitteln ein zu einfaches und falsches Leitbild und eine falsche Werte- und Moralvorstellung. Wir sind alle für die geistig-kulturelle Verarmung der folgenden Generation mitverantwortlich. Für die Freiheit der Interpretation von Information« (http://www.smudo.de/medien.htm).

Die von ihnen ins Leben gerufene Autonome Medienguerilla sollte auf die Verantwortung im Umgang mit einer zentralen gesellschaftlichen Ressource, der Information, sowie deren Missbrauch durch die Medien, aufmerksam machen. Hierbei steht weniger die Formierung einer Gegenöffentlichkeit im Vordergrund, sondern die Ausbildung von Medienkompetenz im Umgang mit massenmedial verbreiteten Informationen, also dem, was über die Welt, die Gesellschaft oder die Kultur medial ausgesagt wird bzw. wie diese medial ins Bild gesetzt werden. Dies soll eine veränderte Wahrnehmung der Mechanismen der medialen Konstruktion von Wirklichkeit bewirken sowie zur Ausbildung von Verantwortungsbewusstsein der Mediennutzer beitragen. Das Anliegen steht in gewisser Nähe zu Ansätzen der Kommunikationsguerilla29: »Angesichts der offensichtlichen Übermacht der ›Bewusstseinsindustrie‹ muss die kommunikative Auseinandersetzung unserer Meinung nach, mit den Mitteln der Subversion geführt werden. Es geht weniger um Gegeninformation als darum, das Rezeptionsverhalten und den Umgang der ZuhörerInnen mit den massenmedialen ›Informationen‹ zu verändern« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mitt lerer neckar 1994c: 146).

Um diese Botschaft massenwirksam zu lancieren, überfielen die Fantastischen Vier diverse Fernsehsendungen (z.B. Vera am Mittag, Sat 1 oder 28 Im Lied geht es wesentlich um eine Kritik an Medienpersönlichkeiten, d.h. Personen des öffentlichen Lebens (Schauspieler, Musiker, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Moderatoren, Literaten usw.), die in regelmäßigen Abständen in den Medien auftauchen und deren Handeln sowie Meinungen ein allgemeines Interesse zugeschrieben wird, die aber zumeist unreflektierte und massenwirksame Positionen vertreten, obwohl sie keine kompetenten opinion leader sind. 29 Dieses Konzept entstand in den 1990er Jahren v.a. als Reaktion auf die Erschöpfung des traditionellen linken Aktivismus, nach dem Fall der Mauer und der sich daraus ergebenden Frage nach neuen Praxisformen. Eine vergleichende Auseinandersetzung mit den Konzepten von traditionellem und neuem politischen Aktivismus kann hier nicht erfolgen. Das Gründungsmanifest der Kommunikationsguerilla aus dem Jahre 1997 ist nachgelesen unter: http://www.con trast.org/KG/kgaufru1.htm (vgl. auch autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1998).

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MTV Select, MTV) sowie andere Orte und Veranstaltungen (u.a. eine Vorlesung an der Technischen Universität Berlin oder den Deutschen Filmpreis) und verlasen dort ihr Manifest. Dabei waren sie mit vor den Mund gebundenen Tüchern getarnt, auf denen allerdings ihre Bandnamen standen und bewaffnet mit Kameras, die auf die Zuschauer, Moderatoren, Studenten usw. gerichtet waren, um zu zeigen, dass eine Kamera und die Information, die damit eingefangen und kommuniziert wird, wie eine Waffe eingesetzt werden kann. Als Hauptquartier diente ihnen die Daimlersuite im Berliner Hyatt Hotel – dort fand auch die abschließende Pressekonferenz zur Aktion statt. Die Ergebnisse ihrer Aktionen wurden im Videoclip zur Single dokumentiert. Diese Aktion veranschaulicht einige Ideen, die für das, was in diesem Artikel als Kommunikationsguerilla bezeichnet wird, repräsentativ sind: Erstens, Kritik als theoretischer Diskurs wird zumeist als Manifest bzw. Essay und nicht als wissenschaftliche Abhandlung verfasst. Zweitens, Aktionen gegen gesellschaftliche Institutionen und Phänomene stehen im Vordergrund der Kritik als Praxisform – im Fall der Fantastischen Vier war dies das Mediensystem. Die Aktionen haben allerdings immer eine mehr oder weniger diskursive Basis, die aber durch die Praxis modifiziert werden kann. Die spannungsreiche Interdependenz zwischen Theorie und Praxis wird in der Einleitung zum Band Medienrandale deutlich zum Ausdruck gebracht: »Wir sehen theoretische Reflexion als Voraussetzung für eine subversive politische Praxis an, und auf der anderen Seite haben unsere Erfahrungen aus verschiedenen konkreten Aktionen wiederum die Theoriebildung beflügelt. Denn Subversion erfolgt nicht aus einer zahlenmäßigen Überlegenheit oder einer starren Theorie, sie lebt zugleich aus der Unberechenbarkeit, Wandelbarkeit und Vielfältigkeit von Aktionsformen und -feldern« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994b: 12; vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 3, 27; autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994c: 148). Diese konstitutive Interdependenz von Theorie und Praxis zeigt sich auch in der Doppelrolle der Kommunikationsguerilleros: als Medien- und/oder Kommunikationskritiker sind sie zugleich medien- und/oder kommunikationsdistanziert sowie medien- und kommunikationsbeteiligt. Drittens, die Ansätze der Kommunikationsguerilla haben eine gesellschaftspolitische Dimension und formulieren normative Maßstäbe für ihre Kritik, auch wenn immer wieder betont wird, dass lediglich alternative Perspektiven formuliert würden, die keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit, Wahrheit oder Verbindlichkeit besäßen (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 5). Zudem zielen diese Ansätze primär auf konkrete und nicht nur theoretisch mögliche Veränderungen des sozialen, kulturellen und medialen status quo sowie auf dazu notwendige Wahrnehmungsveränderung der Menschen hinsichtlich der Konstruktion von Welt, Gesellschaft, Kultur und Selbst. Viertens, Medienkritik wird multimedial (Plakate, Flyer, Photos, Radio, Internet usw.)

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realisiert und ist nicht nur schriftfixiert. Fünftens, das Konzept der kollektiven Identität und der multiplen Namen. Ein kollektiver bzw. multipler Name ist ein Name, der von potentiell jedem verwendet werden kann. Diese Fokussierung auf eine kollektive Identität soll einerseits die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Sache, für die sich das Kollektiv engagiert, lenken und nicht auf die charismatische bzw. narzisstische Individualität einzelner Personen. Hierdurch wird nicht nur diskursiv Kritik an allen Konzepten von Subjektivität, Identität und Individualismus geübt, sondern zudem versucht, diese Kritik als konkrete Handlungsmöglichkeit in der sozialen Praxis umsetzbar zu machen.30 Andererseits kann diese kollektive Identität gemeinschaftsbildend wirken, das Bewusstsein einer globalen Gemeinschaft derer ausbilden, die sich gemeinsam für eine bestimmte Sache einsetzen und somit die Trennung von Individuum und Gesellschaft, zumindest zeitweise, aufheben (vgl. ebd. 38, 42). Dieses Konzept der kollektiven Identität wird von den Fantastischen Vier jedoch ironisch gebrochen, da sie sich durch die Namen auf den Tüchern, die ihre Gesichter tarnten, als Die Fantastischen Vier zu erkennen gaben.31 Sechstens, dass bei der Kommunikationsguerilla die Grenzen zwischen der Instrumentalisierung von Kritik (Spaßguerilla, radical chic usw.) und ernsthafter Gesellschafts-, Kultur- und Medienkritik häufig fließend sind. Allerdings ist es gerade diese Aufrechterhaltung der Trennung von Ernsthaftigkeit und Unterhaltung, die die Kommunikationsguerilla in ihrer Kritik an der traditionellen linken Politik und Gesellschaftskritik ablehnen. Ihnen geht es vielmehr darum, im Zwischenbereich beider Positionen, die gegenwärtigen Möglichkeiten linker Politik sowie Gesellschafts-, Kultur- und Medienkritik neu auszuloten: »Was in diesem Buch versucht wird, ist paradox. Hier wird auf höchst ernsthafte Art die graue Theorie einer Praxis vorgestellt, die nicht nur subversiv sein, sondern auch noch Lust und Vergnügen bereiten soll. Die Autorinnen haben die Nase voll von der Ausschließlichkeit furztrockenen Flugblattschreibens und dem (letztlich auch autonomen) Dogma, dass Linke bestenfalls über politisches Kabarett lachen dürfen, ansonsten aber zeigen müssen, dass sie das Leid und die Ungerechtigkeit der Welt auf ihren schmächtigen Schultern tragen. Wir wollen weg von einer politischen Praxis, die ihre Relevanz am Abstraktionsgrad oder 30 Vgl. hierzu den quellenbasierten Überblick zur Diskussion um Autorschaft und Auflösung von Autorschaft in Jannidis/Lauer/Martinez/Winko (2000). Als Autorennamen der Texte der Kommunikationsguerilla werden entsprechend multiple Namen genannt: autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/mittlerer neckar, autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels. 31 Hieran zeigt sich, wie schwierig in diesem Fall zu entscheiden war, ob die Promotion für die neue Single oder die Kritik an den Medien der eigentliche Stimulus dieser Aktionen war. Gerade die fehlende Nachhaltigkeit dieser Aktion, für die die Fantastischen Vier sich aktiv hätten einsetzen müssen, zeigt, dass sie sich mit dieser Aktion selbst weder als verantwortungsbewusst noch medienkompetent erwiesen, sondern nur ein imageförderndes Spektakel veranstaltet haben.

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dem Gestus der Ernsthaftigkeit von Resolutionen misst« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 3; vgl. 9f.).

Bisher gibt es im medienkritischen (wissenschaftlichen) Diskurs keine systematische Auseinandersetzung mit den Ansätzen der Kommunikationsguerilla, dies gilt auch für die Bereiche Medientheorie und Mediengeschichte. Generell lassen sich (im deutschsprachigen Raum) nur wenige Texte (Bücher oder Aufsätze) finden, die ihre theoretischen Ansätze, Praktiken und Aktionen dokumentieren sowie kommentieren. Den bis heute umfassendsten Überblick bietet das Handbuch der Kommunikationsguerilla32, das von der autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe, Luther Blissett und Sonja Brünzels (2001), einem Kollektiv von linken Kunst- und PolitAktivisten und selbst Kommunikationsguerilleros, verfasst wurde.33 Weiterhin existieren diverse Websides, auf denen Aktionen und Texte dokumentiert sind – einen Überblick hierüber gibt u.a. der Serviceteil des Handbuchs der Kommunikationsguerilla sowie die Homepage der autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe (http://www.contrast.org/KG) und die BlogChronik der Kommunikationsguerilla (http://kommunikationsguerilla.twoday.net). Diese Websites vermitteln auch einen guten Überblick über die internationale Diskussion der Kommunikationsguerilla und ihre Aktionen.34 Insgesamt handelt es sich bei den Texten der Kommunikations32 Bisher gibt es eine spanische (Grupo autónomo a.f.r.i.k.a./Luther Blissett/Sonja Brünzels: Guerilla de la Comunicación. Consultor Prático Para el Tratado des Dolores Locales Y Generales. Cómo acabar correl mal. Barcelona 2000) und eine italienische (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels: Comunicatzione-guerriglia. Tattiche die agitatzione gioiosa e resistenza ludica all’opressione. Roma 2001) Übersetzung des Handbuchs der Kommunikationsguerilla. 33 Als Textgrundlage meiner Auseinandersetzung mit der Kommunikationsguerilla fungieren ausschließlich Texte, die sich selbst als Kommunikationsguerilla bezeichnen. Die Arbeiten der Agentur Bilwet (1991, 1993, 1994, 1996, 1997), von Lovink (1992a/b/c, 1997, 2003), Schulz (2004), Lovink/Schulz (1997a/b) sowie Texte, die auf der Homepage der Agentur Bilwet (http://www.thing.desk.nl/ bilwet) und in einem Internet-Archiv mit Texten von Geert Lovink (http://www. laudanum.net/geert) dokumentiert sind, bezeichnen ihre Positionen und Aktivitäten nicht als Kommunikationsguerilla, daher werden sie in diesem Beitrag nicht diskutiert. Ihre Auseinandersetzung mit den Medien ist primär medientheoretisch ausgerichtet, Medienkritik entwickelt sich in ihren Texten aus der Medientheorie – explizite Medienkritik findet sich v.a. im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit dem Internet. Die Ausrichtung ihrer Arbeiten kann allerdings als Medienguerilla bezeichnet werden. 34 Dabei werde ich nicht auf die Ansätze zur Spaßguerilla (vgl. Spaßguerilla 2001) und zum Guerilla-Marketing (vgl. u.a. Levinson/Rubin 1999; Levinson 2000; Levinson/Godin 2000) eingehen. Fälschungen und Spaßaktionen, wie sie in diesem Band dokumentiert werden, sollen die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändern und den Blick bewusst auf die Absurditäten und den Zynismus der Wirklichkeit lenken. Die Verfasser des Handbuchs der Kommunikationsguerilla »ließen sich von der ›Spaßguerilla‹ inspirieren«, ohne dabei die Vorstellung zu teilen, dass »›Spaß haben‹ […] per se subversiv« sei (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/ Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 9f.; vgl. zur Spaßguerilla auch die Ausführungen im Kap. 2.3.1.). Guerilla-Marketing ist eine unternehmerische Strategie

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guerilla um einen Theoriemix. Theorie wird hierbei als Mittel zum Zweck verwendet, d.h. nicht die Ausarbeitung einer eigenständigen Theorie steht im Vordergrund dieser Ansätze, sondern vielmehr die Ausarbeitung konkreter Handlungsoptionen und -taktiken als Formen praktischer Kritik (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 216). Was ist Medien- und Kommunikationsguerilla?

Die Ansätze der Kommunikationsguerilla können allgemein als Versuch der aktionsbasierten Störung alltäglicher Medienkommunikationen und Medieninszenierungen bzw. gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse sowie als elektronischer Widerstand, u.a. im Hinblick auf das Internet als Aktionsmedium, gegen gesellschaftliche und mediale Hegemonie verstanden werden. Kritik kann aus dieser Perspektive nicht allein bzw. nur sehr eingeschränkt diskursiv erfolgreich sein, sondern muss primär in eine Praxis überführt werden, die die Aporien, Widersprüche und Repressionsmechanismen der Medienkommunikationen und Medieninszenierungen sowie der Gesellschaft bzw. gesellschaftlicher Kommunikation durch spezielle Methoden und Praxen anschaulich macht (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 46-91, 94-171). Hierdurch soll eine Gesellschafts- und Medienkritik kritisiert werden, die rein diskursiv operiert und sich in selbstreferentiellen Diskussionszusammenhängen erschöpft, ohne das Gros der Mediennutzer und Bürger zu erreichen. Die von der Kommunikationsguerilla kritisierten Ansätze stellen somit letztlich nur Aufklärung für Aufgeklärte bzw. für über die Aufklärung der Aufklärung Aufgeklärte dar. Diese Form der Gesellschafts- und Medienkritik ist nicht nachhaltig und kann den Medienprozess und die Medienrezeption sowie gesellschaftliche Kommunikationsprozesse, wenn überhaupt, nur sehr fragmentarisch beeinflussen. Abgesehen von der Frage, ob die Kommunikationsguerilleros diesen Anspruch erfüllen können oder wollen, ist hiermit ein Hauptproblem der Gesellschafts- und Medienkritik benannt: »Dies ist im Grunde die Frage nach der Vermittlung kritischer Inhalte, die sich auch bei klassischer Agitation oder Aufklärung durch Texte und Reden stellt. Weder bei einer Aktion der Kommunikationsguerilla noch bei einer Aufklärungskampagne ist und meint das Repertoire an Marketinginstrumenten, durch das sich ein Unternehmen auf dem Markt positionieren, im Kampf um Aufmerksamkeit erfolgreich und profitabel sowie existenzsichernde Alleinstellungsmerkmale erzielen kann. Es geht hierbei konkret um die Grundlagen der Gestaltung von Zeitungsanzeigen, Werbebriefen und Funksports, Methoden der Verkaufsförderung und der Direktwerbung, des Telefonverkaufs, Tipps zur Gestaltung von Unternehmensimages durch Namen, Logos und Mund-zu-Mund-Werbung. Mit Guerilla ist hier v.a. die Aufgabe benannt, wie auch kleinere und mittlere Betriebe gegen Großunternehmen bestehen bzw. Unternehmen auch mit einem kleineren Etat ein effektives Marketing leisten können.

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davon auszugehen, dass das Publikum sich in irgendeiner Weise überzeugen oder auch nur informieren lassen will. Jede Aktion braucht Anknüpfungspunkte bei den Adressatinnen […]« (ebd.: 26f.). Neben der Vermittlung von Medienkritik ist die Nachhaltigkeit das zweite große Problem. Was versteht man konkret unter Kommunikationsguerilla? Diese Frage soll durch eine kurze Diskussion der Begriffe Medien, Kommunikation und Guerilla beantwortet werden. Die Konzepte Medien- und Kommunikationsguerilla werden nicht als synonym betrachtet, sondern müssen grundlegend unterschieden werden: »Die Autorinnen haben sich für den Begriff Kommunikationsguerilla entschieden, weil alle hier zusammengefassten Konzepte und Aktionsformen auf gesellschaftliche Kommunikationsprozesse Bezug nehmen: auf die Kommunikation zwischen Medien und Medienkonsumentinnen, die Kommunikation im öffentlichen oder sozialen Raum sowie die Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Individuen. Kommunikation umfasst mehr, als eine verbreitete technizistische Sichtweise es nahe legt: Sie beschränkt sich nicht auf die Massenmedien oder auf technische Kommunikationsmittel wie Fax, Handy, Computer und Modem […]« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 8f.; vgl. 194f.).

Diese Definition enthält vier Implikationen: Erstens, dass gesamtgesellschaftliche (kulturelle, politische, individuelle etc.) Kommunikation Ausgangspunkt und zentraler Fokus der Kommunikationsguerilla ist und dadurch der Kommunikationsbegriff nicht automatisch mit Medien bzw. mit speziell der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie gleichgesetzt werden sollte.35 Insofern sind zweitens, Kommunikationsanalysen immer Gesellschaftsanalysen, Kommunikationskritik zugleich Gesellschaftskritik. Kommunikation ist drittens nicht ausschließlich medial, etwa durch Medientechnik, Medienprodukte oder Medieninhalte bedingt, sondern umfasst auch (vermeintlich) nicht-medienbasierte, d.h. face-to-face Kommunikation oder Interaktion (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/mittlerer neckar 1994b: 148, 155ff.; autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997b, 1997a: 183). Die unterstellte eingeschränkte Reichweite des Begriffs Medienguerilla soll durch die Fokussierung auf gesamtgesellschaftliche Kommunikation und damit Wirklichkeit überwunden werden – dies soll bereits durch den Begriff Kommunikationsguerilla symbolisiert werden. Dem Begriff Kommunikation wird hier ein originäres Kritik- sowie Kontrollpotenzial im Hinblick auf den eindimensionalen Medienbegriff unterstellt. In der Einleitung zum Band Medienrandale (auto35 Eine differenziertere Bestimmung der Begriffe Kommunikation und Medien, gerade um den postulierten Unterschied zwischen beiden zu verdeutlichen, fehlt allerdings. Neben der im obigen Zitat angeführten allgemeinen Unterscheidung, wird der Kommunikationsbegriff nur noch in seiner spezifischen Verwendung, die als subversive kommunikative Praxis bezeichnet wird, näher bestimmt.

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nome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994b: 8) wird entsprechend auf die häufige, durch die zunehmende Bedeutung der Medien bedingte Tatsache hingewiesen, »dass offensichtlich außermediale Realitätsebenen existieren. […] Dadurch bleibt die Gretchenfrage, wie dieselben, die Medienrezeption bestimmen, also die Art und Weise, in der die KonsumentInnen mediale Informationen aufnehmen und mit diesen umgehen, von vornherein ausgeklammert.« Soziale Wirklichkeit und soziale Kommunikation, gemäß der hier formulierten These, bestimmen primär, wie Medienwirklichkeiten rezipiert bzw. in den Alltag der Rezipienten integriert werden. Viertens wird nicht nur die soziale Wirklichkeit der Kommunikation betrachtet, sondern auch die Produktion und Reproduktion von Kommunikation. Die Differenzierung zwischen Medien- und Kommunikationsguerilla, die aus dem zuvor beschriebenen Verständnis von Medien und Kommunikation resultiert, stellt allerdings eine künstliche Trennung dieser beiden Begriffe dar. Medien und Kommunikation müssen, wie im Kapitel 2.1. betont wurde, als spannungsreiches Interdependenzgeflecht verstanden werden, die jeweils erst durch ihre konstitutive Wechselseitigkeit eine originäre Form erhalten. Daher müsste konsequent von Medien- und Kommunikationsguerilla gesprochen werden. Andererseits könnte die Unterscheidung zwischen beiden im Sinne einer arbeitsteiligen Taktik genutzt werden: Kommunikationsguerilla könnte sich v.a. auf direkte Kommunikation im sozialen Raum sowie Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Individuen konzentrieren – natürlich muss sie sich hierzu auch bestimmter Medien bedienen. Medienguerilla hingegen fokussiert sich auf die Kritik an den Medien, indem sie mit Medien gegen Medien kämpft, um eine andere Medienwirklichkeit zu verwirklichen – zumindest im Sinne einer symbolischen Alternative zum bestehenden Mediensystem. Zusammen könnte sie so das gemeinsame Ziel, die »Utopie einer anderen Wirklichkeit« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 6) als konkret realisierbare und nicht nur als diskursive Option, wirkungsmächtiger versuchen umzusetzen. Übergreifendes Ziel der Kommunikationsguerilla ist eine Gesellschaftskritik, die sich als aktive Störung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung versteht, als Infragestellung der quasi natürlichen Legitimität der von ihr ausgehenden Macht sowie jener gesellschaftlichen Diskurse, in denen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse normalisiert werden. Dem zu Grunde liegt »neben der anhaltenden Unversöhnlichkeit mit der kapitalistischen Produktionsweise, mit menschenverachtenden Machtstrukturen und Vergesellschaftungsformen auch die Unzufriedenheit mit einer linksradikalen politischen Praxis, die zwischen unbedingter Militanz, pragmatischer Realpolitik und reiner Ideologiekritik herumeiert[e]« (ebd.: 5). Durch die Ausarbeitung einer Theorie und Praxis der Subversion, also einer auf Umsturz der bestehenden Ordnung zielende

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Tätigkeit, sollen konkrete Möglichkeiten zur Veränderung dieser Missstände geschaffen werden. Die Guerilla-Metapher bezieht sich dabei auf das Agieren aus dem Verborgenen, auf lokale und punktuelle Angriffe auf das herrschende System: »Guerilla agiert nicht aus der sichtbaren Position eines offiziellen Heeres heraus, sondern aus den zerklüfteten Abwegen abseits befahrener Routen. Guerilla besteht nicht aus vielen, auch wenn sie auf das Einverständnis der Bevölkerung angewiesen ist oder zumindest von ihr geduldet wird. Ihre Taktik beruht auf Kenntnis des Terrains, sie agiert lokal und punktuell. Guerilleros handeln aus dem Verborgenen, und bevor sie erwischt werden, wechseln sie den Standort. Sie stellen sich nicht dem offenen Kampf, denn sie hätten gegen die Übermacht der ›ordentlichen‹ Verbände wenig Chancen. Übertragen auf den Kommunikationsprozess heißt das: Sie entwischen dem vorgegebenen Rahmen von Argumentationsstrukturen und haben ihre eigenen Vorstellungen darüber, was sich gehört und was nicht« (ebd.: 9). Die klassische Guerilla-Taktik, die sich um möglichst effektive punktuelle Operationen bemüht, und das traditionelle Guerilla-Selbstverständnis als Kleinkrieg gesellschaftlich marginalisierter bzw. unterdrückter Gruppen gegen die gesellschaftlichen Machtzentren, wird auf die Bereiche Information, Kommunikation und Medien übertragen.36 Dieses Verständnis von Guerilla bezieht sich v.a. auf drei Referenzpunkte: Erstens auf Ecos (2002a) Überlegungen zu einer semiologischen Guerilla.37 Für Eco sind Kommunikation, Information und Medien die wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen und Machtmittel: »Heute gehört ein Land dem, der die Kommunikation beherrscht« (Eco 2002a: 146). Das »Grundgesetz der Massenkommunikation« sei, so Eco (ebd.: 152), »die Interpretationsvariabilität«, d.h. die Frage, wie eine Botschaft, etwa eine Fernsehsendung oder eine Werbung, beim Zuschauer ankom36 Kommunikationsguerilla könnte auch als künstlerische Strategien zur Subversion von Kommunikationsstrukturen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen aufgefasst werden. Kunsthistorische Bezüge und Diskussionen künstlerischer Bewegungen, v.a. verschiedener Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, wie Surrealismus, Dadaismus, Situationisten, Neoismus oder Mail-Art, finden sich wiederholt. Die Nähe zur Kunst zeigt sich auch darin, dass künstlerische Kritik Entwicklungen unkonventioneller Aktions- und Ausdrucksformen leichter möglich macht und ausdrucksstärker sein kann, als dies im Rahmen wissenschaftlicher Kritik möglich ist. Andererseits kommt dem künstlerischen Aspekt der Kommunikationsguerilla keine autonome Bedeutung zu, weil die Brauchbarkeit künstlerischer Ausdruckmittel und künstlerischer Bewegungen durch die Zwecke politischer Subversion beurteilt wird (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 207-213). 37 Der Zugang der Kommunikationsguerilla zur Gesellschafts- und Medienkritik bzw. zur Kritik gesellschaftlicher Kommunikation, kann durch diesen Bezug zu Eco u.a. als sprachtheoretisch bezeichnet werden, Gesellschaft erscheint hierbei als Text bzw. als ein Netzwerk narrativer Texte, die von menschlichen Akteuren geschrieben wurden und umgekehrt das menschliche Handeln bestimmen. Gesellschaft als Netzwerk narrativer Texte muss gelesen werden.

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men, ist grundsätzlich nicht verbindlich kalkulierbar, da dies u.a. von der gesellschaftlich-kulturellen Situierung des Rezipienten, seiner Bildung, seinen Erfahrungen oder Stimmungen abhänge. Jede Fernsehsendung hat z.B. nicht nur eine (definitive) Bedeutung, sondern diese hängt allererst von den jeweiligen Bedeutungszuschreibungen der Rezipienten ab – hierdurch wird die Botschaft ihrem Produzenten entfremdet (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 181). Zur Kritik an der bzw. Subversion der kommunikativen Konstruktion und Reproduktion sozialer, kultureller oder medialer Wirklichkeit, reicht es nach Eco aber nicht aus, die Kommunikationsquellen (etwa Fernsehanstalten oder Radiosender) oder die vermeintlich eindeutige Botschaft der Massenkommunikation (z.B. die Vermittlung von Verhaltensregeln in Talkshows) zu beherrschen. Vielmehr ist der hierzu entscheidende Faktor das Rezeptionsverhalten bzw. die Medien- und Kommunikationskompetenz jedes Einzelnen. Die »Guerillataktik« besteht für Eco (2002a: 154) darin, »Systeme einer ergänzenden Kommunikation« zu entwerfen, die nicht auf die offiziellen Kommunikationskanäle und ihre Wirklichkeitskonstruktionen zurückgreifen müssen. Jeder Mediennutzer muss sich, im Sinne Ecos, immer darüber im Klaren sein, dass es keine eindeutigen, verbindlichen Botschaften der Massenmedienkommunikation gibt, sondern immer nur eine irrreduzible Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten. Die von Eco projektierte Kommunikationsguerilla soll die offizielle Massenmedienkommunikation nicht ersetzen oder eine Alternative zu ihr darstellen, sondern diese grundlegend ergänzen, dynamisch und nicht statisch sein sowie sich durch ständige Selbstkritik auszeichnen. Vorbild dieser Kommunikationsguerilla könnten für Eco (ebd.: 155f.) die »nichtindustriellen Kommunikationsformen (von den Love-ins bis zu den Sit-in-Meetings der Studenten auf dem Campus Rasen) [Hervorhebung im Original – MSK]« sein, weil es bei ihnen wesentlich um einen gemeinsamen Dialog bzw. eine kritische Auseinandersetzung über Gesellschaft, Kultur, Medien und Selbst geht und so die Eindimensionalität der Massenmedienkommunikation überwunden werden könnte. Die Aufgabe der »Kommunikationsguerilleros« bestünde darin, »eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten« einzubringen, um bei jedem Einzelnen eine neue »Verantwortlichkeit« im Umgang mit Kommunikation, Information und Medien hervorzurufen (ebd.: 156) – wie auch im Theorieentwurf der Cultural Studies, werden die Rezipienten bei Eco und den Vertretern der Kommunikationsguerilla als grundlegend mündig und eigensinnig aufgefasst.38 Dies sind Grundbausteine zur Ausarbeitung 38 Fiske (2000b: 23) beschreibt im Hinblick auf die politische Bedeutung der Popularkultur ein verwandtes Szenario: »Die grundlegende Macht der Herrschenden im Kapitalismus mag ökonomisch sein, aber diese ökonomische Macht wird von der semiotischen Macht, das heißt der Macht, Bedeutungen zu produzieren, zugleich untermauert wie auch überschritten. Daher ist semiotischer Widerstand, der nicht nur die dominanten Bedeutungen zurückweist, sondern oppositionelle

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einer Medienkritik, bei der einerseits die Vermittlung transparent gelingen und die Nachhaltigkeit realisiert werden könnte. Zweitens bezieht sich die Kommunikationsguerilla auf Debords (1980, 1996) Kritik an der Gesellschaft des Spektakels und der Konstruktion von gesellschaftskritischen Situationen. Die Theorie der Gesellschaft des Spektakels ist eine kritische Theorie der Warentausch- bzw. Konsumgesellschaft, eine radikale Kritik des Kapitalismus. Debord (1996: 13) diagnostiziert, dass in der Gesellschaft »alles, was unmittelbar erlebt wurde, [...] in eine Vorstellung entwichen« ist und dass das Spektakel, welches »die hauptsächliche Produktion der heutigen Gesellschaft [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 18), »die Behauptung des Scheins und die Behauptung jedes menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Lebens als eines bloßen Scheins [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 16) ist, denn da, »wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens« (ebd.: 19). Das Individuum kennt die Welt nur noch durch die Vermittlung von Bildern, die andere Personen ausgewählt haben. Das Spektakel ist nichts anderes als die »Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft, und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen« (ebd.: 194). Dies bewirkt, dass die sozialen Verhältnisse und Beziehungen der Menschen als Verhältnisse und Beziehungen von Dingen erscheinen und folglich die Gesellschaft der Entfremdung, der totalitären Kontrolle und des passiven Konsums herrscht. Das Spektakel ist zugleich entscheidender Motor dieser Transformation von Gesellschaft sowie zentrale Kontrollinstanz, durch die die spektakuläre Wirklichkeit permanent reproduziert werden soll (vgl. ebd. 21f.). Nur durch die Konstruktion von (gesellschaftskritischen) Situationen, in denen eine andere Wirklichkeit handelnd (von potentiell jedem Einzelnen) realisiert werden kann, ist eine nachhaltige Kritik und möglicherweise auch eine Überwindung der Gesellschaft des Spektakels möglich.39 Die Konzepte von Eco und Debord konstruiert, die den Interessen der Unterdrückten dienen, eine […] entscheidende Grundlage für die Umverteilung der Macht […]. Semiotischer Widerstand rührt vom Wunsch der Unterdrückten her, die Kontrolle über die Bedeutungen in ihrem Leben auszuüben, eine Kontrolle, die ihnen typischerweise in ihren materiellen sozialen Bedeutungen verweigert wird. Das ist wiederum politisch entscheidend, da es ohne ein gewisses Maß an Kontrolle über die eigene Existenz, keine Ermächtigung und keine Selbstachtung geben kann« (vgl. zur Kritik an dieser Position Grossberg 1992: 95f.; Kellner 1995: 38f.). 39 »Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss. Wir wollen die am weitesten emanzipierende Veränderung von der Gesellschaft und dem Leben, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, dass es möglich ist, diese Veränderung durch geeignete Aktionen durchzusetzen. Es ist gerade unsere Angelegenheit, bestimmte Aktionsmittel anzuwenden und neue zu erfinden, die auf dem Gebiet der Kultur und der Lebensweise leichter zu erkennen sind, aber mit der Perspektive einer gegenseitigen Beeinflussung aller revolutionären Verän-

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prägen v.a. das Selbstverständnis und die Methoden der Kommunikationsguerilla – wenn auch Ecos Ansatz im politischen Kontext nicht als zielführend verstanden wird. Weiterhin bezieht sich die Kommunikationsguerilla auf Gramscis (1991ff.; vgl. zur Auswahl daraus Gramsci 1986, 1987) Kritik an der kulturellen Hegemonie, mit der der bürgerliche, kapitalistische Staat sich aufrechterhält. Der Kapitalismus bzw. die Interessen herrschender Klassen oder Gruppen, so Gramsci, erhalte die Macht nicht nur durch Gewalt, politische sowie ökonomische Zwänge oder durch direkte Kontrolle durch die Apparate des Staates (Polizei, Militär) im öffentlichen Raum, sondern auch bzw. v.a. ideologisch, durch eine hegemoniale Kultur bzw. einen hegemonialen Regulierungsmechanismus, in welchem die Werte der Bourgeoisie verbindliche Ideologie Aller würden. Kulturelle Hegemonie reicht nach Gramsci bis in Formen der Alltagskultur und wird durch Regularien, Gewohnheiten und Normalitäten, die den Interessen bestimmter sozialer Gruppen dienen, in den Alltagsverstand der Menschen implementiert. Kulturelle Hegemonie wird v.a. durch Einverständnis und nicht durch Zwang realisiert. Folglich stellt sich für Gramsci, als politische Hauptaufgabe, der Gewinn der kulturellen Hegemonie bzw. der Kampf um kulturelle Hegemonie dar. Ihr Gewinn schafft, nach Gramsci, erst die Möglichkeit von politischer Herrschaft, ihr Verlust untergräbt die herrschende Macht (vgl. hierzu Bourdieus (1984) Konzept der symbolischen Gewalt). Die von Gramsci thematisierte Produktion und Reproduktion kultureller Hegemonie wird v.a. durch kommunikative Prozesse realisiert, die konstitutiv medial gesteuert werden.40 Mit dem Bezug Gramsci (und Chomsky) sind die Inhalte und Zielperspektiven der gesellschaftskritischen Interventionen der Kommunikationsguerilla benannt. Trotz aller Referenzen und Absichtserklärungen wollen die Vertreter der Kommunikationsguerilla nicht als statische Bewegung mit einem definitiven Programm (miss-)verstanden werden – daher wird auch die Ausarbeitung einer eigenen Theorie als kontraproduktiv betrachtet: »Kommunikationsguerilla ist eine defensive Form politischer Praxis und wird heutzutage von kleinen, momenthaften Gruppierungen gewählt, die keine ›Masderungen angewandt werden. […] Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d.h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität des Lebens. […] Die Konstruktion von Situationen beginnt mit dem modernen Zusammenbruch des Begriffs des Spektakels. Es ist leicht zu sehen, wie sehr gerade das Prinzip des Spektakels – die Nicht-Einmischung – mit der Entfremdung der alten Welt verknüpft ist« (Debord: 1980: 5, 41, 50). 40 Eine Weiterentwicklung des Ansatzes von Gramsci, mit einer speziellen Medienfokussierung, stellt die Kritik an der vermeintlich demokratischen Konstitution und Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung dar, wie sie Chomsky (2000, 2002, 2003) und Hermann/Chomsky (1988) als Herstellung von Konsens und Konsens ohne Zustimmung beschrieben haben.

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senbasis‹ mobilisieren können und so darauf angewiesen sind, mit Minimalaufwand sichtbare öffentliche Wirkungen zu entfalten. […] Alles in allem erscheint es uns immer noch fast unmöglich, den Begriff ›Kommunikationsguerilla‹ exakt zu definieren« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 220).41

Was will Kommunikationsguerilla?

In der Einleitung zum Band Medienrandale sehen die Herausgeber die Medienvergessenheit und Medienenthaltsamkeit linker politischer Praxis als eines ihrer wesentlichen Probleme an, denn in einer zunehmend von Medien bestimmten bzw. mitbestimmten sozialen Wirklichkeit, muss sich (linke) Gesellschaftskritik mit den Medien auseinander setzen. Darauf wies Enzensberger (1999) bereits 1970 in seinem BaukastenAufsatz hin, in dem er die Manipulationsthese, die im Zentrum der Auseinandersetzung mit den Medien der »Neue[n] Linke[n] der sechziger Jahre« steht, kritisiert (ebd.: 268). Diese These ist defensiv und drückt das »Erlebnis der Ohnmacht« (ebd.) den Medien gegenüber aus. Andererseits betont Enzensberger, dass die »Produktionsmittel« (ebd.), also die Medien, in den Händen der herrschenden Klasse liegen und somit zunächst und zumeist die Interessen dieser fördern. Darauf reagiert die Linke mit »moralischer Empörung« (ebd.). Die »unausgesprochene Grundvoraussetzung der Manipulationsthese« ist die idealistische Erwartung von Fairness und »unmanipulierte[r] Wahrheit« (ebd.) in politischen und sozialen Fragen (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994b: 8). Diese These sowie die Medienfeindlichkeit der Neuen Linken fördert Resignation und das Empfinden von Ohnmacht gegenüber den Medien und soll über »die Mängel der eigenen Agitation« (Enzensberger 1999: 269) hinwegtäuschen. Die Linke versteht es nicht, sich produktiv auf den Grundwiderspruch zwischen Wirklichkeit und revolutionärem Potential der Medien einzulassen. Es fehlt daher ein »strategisch richtige[r] Zugriff auf die fortgeschrittensten Medien«, um ihre Ziele zu artikulieren, die Medien für ihre Zwecke zu nutzen, also der herrschenden Klasse zu entfremden. Enzensberger möchte demgegenüber zur »Entfesselung der emanzipatorischen Möglichkeiten, die in den neuen Produktivkräften stecken« (ebd.: 265), beitragen.

41 Weiterhin besteht, zumindest im Handbuch der Kommunikationsguerilla (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 175ff.), im Kontext der Kritik an linearen Kommunikations- sowie Rezeptionsmodellen, eine Nähe zu den handlungstheoretisch ausgerichteten Thesen der Cultural Studies zur kreativen und eigensinnigen Medienaneinung bzw. dem Konzept des aktiven Zuschauers (vgl. u.a. Brunsdon/Morley 1978; Ang 1991; Winter 1995; Hasebrink/Krotz 1996; Hall 1999; Fiske 2000a). Als Referenzpunkte für diese Perspektive werden de Certeau (1988) und Eco (2002a/b) genannt, als einziger Vertreter der Cultural Studies wird John Fiske (1987) erwähnt sowie ein Aufsatz von Krotz (1992) zur Medienaneignung aus der Perspektive der Cultural Studies.

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KAPITEL 4

Diese Mediennutzungsutopie Enzensbergers lehnen die Vertreter der Kommunikationsguerilla (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 175) ab, weil sich in ihr ein problematisches Verständnis von Kommunikation, Rezeption, Gegeninformation und Gegenöffentlichkeit artikuliert: »In der Konsequenz hieß das, in Anlehnung an die ›Enteignet Springer‹-Kampagne eine eigene ›linke‹ Bild-Zeitung schaffen zu wollen. Das Hauptproblem einer solchen Vorstellung ist das verkürzte Modell von Kommunikation, das sich hinter der Annahme verbirgt, wer die Sender besitze, der könne das Denken der Menschen kontrollieren. […] Aber selbst wer Form und Inhalt einer Botschaft vollständig kontrolliert, kann deshalb das Bewusstsein ihres Empfängers nicht zwangsläufig in einer bestimmten Richtung beeinflussen.« Diese potentielle Rezeptionsfreiheit wird nicht von den Medien ermöglicht, sondern v.a. durch außermediale Wirklichkeitsebenen (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/mittlerer neckar 1994b: 8). Mit dieser These werden auch postmoderne Medientheorien kritisiert, die das Verschwinden von Geschichte und nicht-medialer Wirklichkeit behaupten. Diese historische Zeiterfahrung wird mit dem Begriff Posthistoire bezeichnet. Ende der Geschichte, Nachgeschichte, Simulation, Simulakrum, Hyperrealität, Recycling, Reproduktion, Zirkulation, Wiederholung, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Stagnation, sind die Schlagworte, die diesen Begriff charakterisieren. Als Kronzeugen dieser Position könnte u.a. Baudrillard (1990; 1994a/c) genannt werden – auf seine diesbezüglichen Ansätze beziehen sich die Vertreter der Kommunikationsguerilla aber nicht explizit. Die Simulation tritt, so Baudrillard, an die Stelle der Wirklichkeit, sie ist aber kein Abbild, keine Repräsentation der Wirklichkeit, da sie im Wirklichen keinen Referenzpunkt hat und interagiert nur mit anderen Simulationen. Etwas zu simulieren bedeutet für Baudrillard, etwas Nicht-Vorhandenes so vorzutäuschen, dass es real erscheint. Durch die Simulation, ihre permanente Reproduktion und Vervielfältigung, wird die Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem, Ursache und Wirkung, Anfang und Ende relativiert bzw. aufgelöst. Dies hat Wirklichkeitsverlust und Entsinnlichung der Wirklichkeit, Vernichtung von Referenz und Finalität zur Folge. Die Erscheinungen der Wirklichkeit treten in endlose Reproduktionsschleifen ein, da ihnen ihre zu Grunde liegende Idee, ihre Bestimmung, ihr Wert und ihr Ursprung genommen werden. In der Welt der Simulation bzw. in der Simulationsgesellschaft, die von den neuen Medientechnologien dominiert wird, ist es sinnlos geworden, zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden. Dadurch wird die Wirklichkeit zur Hyperrealität, in der die Reproduktion, als Strukturprinzip, der Wirklichkeit schon vorausgeht (vgl. Baudrillard 1994c: 156f.; Kleiner 1999). Medienvergessenheit, Medienenthaltsamkeit, Medienutopismus und Hyperrealismus sind, zumindest für die gegenwärtige linke politische

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Praxis, unproduktive Konzepte der Auseinandersetzung mit Medien und Kommunikation. Die mediale Konstruktion von Wirklichkeit muss zum Gegenstand der Diskussion werden, da z.B. Sinn, Bedeutung, Wissen, Identität oder Wert- und Normsysteme zunächst und zumeist medial konstruiert sowie vermittelt werden. Insofern stellen Medienprodukte ein ideologisches Feld dar, das die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse reproduziert bzw. affirmiert. Medien sind, als Strategien zur Legitimation des Bestehenden, wesentlich an der Produktion und Vermittlung kultureller Hegemonie beteiligt, indem sie den gesellschaftlichen Konsens über die jeweils herrschende gesellschaftliche Wirklichkeit immer wieder von Neuem reproduzieren – daher müssen sie, gerade in ihrer ideologischen Funktion, in den Fokus von Gesellschaftskritik treten: »Wo, wenn nicht auf dem ideologischen Feld, können eigentlich derzeit gesellschaftliche Auseinandersetzungen konkret geführt werden? Wie könnte eine Praxis aussehen, die sich nicht auf dieses Feld bezieht, also nicht mit der Frage nach der symbolischen Vermittlung von sozialen und politischen ›Inhalten‹ konfrontiert ist« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994b: 9)?

Kulturelle Hegemonie wird durch das, was die (Medien- und) Kommunikationsguerilleros als »kulturelle Grammatik« bezeichnen, realisiert. Kulturelle Grammatik ist die Gesamtheit aller Regeln (Wert- und Normsysteme, kulturelle, politische, religiöse, ökonomische Wissensformen, Verhaltensregeln, Interaktionsrituale, ästhetische Codes usw.), durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, auf der Makro- und Mikroebene, als System von Macht- und Herrschaftsverhältnissen produziert und reproduziert wird – bewusst und unbewusst. Soziale Wirklichkeit ist, gemäß dieser Position, eine Wirklichkeit von Zeichen, die etwas bedeuten und Wirklichkeit in einem Prozess der Bedeutungsproduktion konstituieren – dieser Prozess wird zumeist von der Dominanzkultur bestimmt. Sie ist die Instanz, die die jeweils aktuelle soziale Wirklichkeit als normal und die beste aller möglichen Gesellschaftsformen erscheinen lässt sowie bei den Gesellschaftsmitgliedern Konsens darüber herstellt, sie als unhinterfragte Ordnung der Dinge manifestiert.42 Gesellschaftliche Vermittlungsagenturen der kulturellen Grammatik sind etwa Schule oder Universitäten, Vereinssitzungen oder Wahlveranstaltungen. Die Reaktualisierung und Inszenierung kultureller Grammatik dient der Darstellung und Selbstvergewisserung von sowie der Partizipation an Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Kulturelle Grammatik ist zugleich unsere soziale 42 »Die Metapher Kulturelle Grammatik bezieht sich auf die Sprachwissenschaft. Grammatik ist das der Sprache zugrunde liegende Regelsystem, das wir erlernen, ohne uns dessen bewusst zu sein; sie ist die Struktur, die die Verwendung und den Zusammenhang der einzelnen Elemente sprachlicher Aussagen bestimmt. […] Grammatikalische Regeln einzuhalten ist weitgehend normal und wird selten hinterfragt« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 17).

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Haut und das zentrale soziale Band, durch das Gesellschaft als Gesellschaft sowie die Sozialität des Menschen möglich werden – Ordnungssystem gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 14-43). Hegemoniale Legitimationsdiskurse, die in und durch die Medien geführt werden, müssen durch die »Anstiftung zu einer subversiven kommunikativen Praxis« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994c: 143; vgl. 1994b: 10f.) unterlaufen, gestört bzw. in Frage gestellt werden. Diese Praxis stellt keine materielle, militärische Gegenmacht zu bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen dar, wie es die militante politische Praxis der (autonomen) Linken sein wollte, sondern eine kommunikative bzw. semiologische, der es um Formen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen subversiver politischer Praxis geht und so zur Erweiterung linker Politikformen beitragen will. Kommunikationsguerilla soll zur Kritik und Subversion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit beitragen. Subversion bedeutet hierbei einerseits Problematisierung der Legitimität kultureller Hegemonie und ihrer gesellschaftlichen Normalisierung sowie andererseits Raum für Utopien einer anderen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu öffnen. Gegeninformation und Gegenöffentlichkeit, also die Schaffung alternativer Medien, denen die Annahme zu Grunde liegt, »dass Wahrheit und Fakten eine Waffe gegen die Herrschenden und die bestehenden Verhältnisse« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994c: 147) sind, stellen allerdings nur sehr eingeschränkt geeignete Mittel der geforderten Subversion kultureller Hegemonie dar, denn einerseits geht es in diesem Konzept grundlegend um Aufklärung und Vermittlung von Wahrheit. Damit wird aber gleichzeitig die vorausgehende Unmündigkeit bzw. Uninformiertheit derer, die aufgeklärt werden sollen, angenommen sowie behauptet, dass richtige (wahre) Informationen allein schon ausreichen, um gesellschaftsveränderndes Handeln zu bewirken. Gegen diese Annahmen richten sich das aktive Rezipientenmodell der Kommunikationsguerilla und die Beobachtung, dass Gegeninformation ohne entsprechende soziale Praxis, wie schon Negt und Kluge (1972; vgl. Kap. 2.2.1.) betont haben, wirkungslos bleibt. Andererseits ist auch jede Gegeninformation nur eine bestimmte Perspektive bzw. Selektion von Wirklichkeit und keine objektiv verbindliche Wahrheit. Das Konzept Gegeninformation kann leicht als eine bessere Ideologie (miss)verstanden werden. Weiterhin stellt das Aufklärungspathos des Konzepts Gegeninformation keinen Wert dar, den jeder als unbedingt erstrebenswert anerkennt. Schließlich hängt die Wirkmächtigkeit von Gegenöffentlichkeit und Gegeninformation von der Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder ab, ob sie überhaupt Interesse an Gegeninformationen haben (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 187-197).

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Kommunikationsguerilla verfolgt einen konstitutiv anderen Ansatz, denn die Übermacht der Medienkulturindustrie bzw. die Produktion und Reproduktion von Massenkommunikation können bestenfalls den gesellschaftlichen Konsens sowie die kulturelle Hegemonie stören und damit brüchiger machen: »Kommunikationsguerilla ist grundsätzlich kein Allheilmittel, sondern eine negative und destruktive Taktik. Diese Destruktivität ist aber kein Selbstzweck, sondern Ausdruck einer inhaltlichen Position. Sie ist eine bestimmte Form des Angriffs auf den hegemonialen Diskurs unter denkbar ungünstigen politischen und ideologischen Bedingungen. Dabei ersetzt sie kein eigenes politisches Projekt, vermag aber unter Umständen den Raum für ein solches Unterfangen ›aufzumachen‹« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994c: 149). Kritik am hegemonialen Diskurs umfasst zwei Ebenen strategischer (subversiver) Kommunikation bzw. »kommunikative[r] Militanz« (ebd.: 151): Erstens, die Taktik des Trojanischen Pferdes, d.h. sich in den hegemonialen Diskurs und seine Medien einzuschleichen, um dessen Strukturen, Strategien, Aporien und Widersprüche durch Verfremdung und Übertreibung, also durch seine dissidente Verwendung, sichtbar zu machen43 – dies soll zur Problematisierung seiner Legitimität führen (vgl. ebd.). Zunächst steht also immanente Kritik an der hegemonialen Wirklichkeit im Vor43 Dass die von den Vertretern der Kommunikationsguerilla geforderte konstitutive Unterscheidung zwischen Medien- und Kommunikationsguerilla problematisch ist, zeigt sich, neben dem zuvor skizzierten verkürzten Verständnis der Begriffe Kommunikation und Medien, auch an der tendenziellen Medienabhängigkeit ihrer Aktionen. Wenn sich diese Aktionen auch nicht primär auf die elektronischen Massenmedien beziehen, spielen Massenmedien mitunter eine umso bedeutendere Rolle, wenn es um die Dokumentation und massenöffentliche Kommunikation über diese Aktionen geht. So wird u.a. über »maximale Medienerfolge«, Garantie auf »maximale mediale Verbreitung« oder die zentrale Rolle von »Medienreaktionen« gesprochen (ebd.: 150, 151, 154; vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2003, 2004). Dies bedeutet zugleich, dass der Erfolg bzw. die Effektivität ihrer Aktionen nicht völlig unabhängig von den (offiziellen) Medien ist und, bezogen auf ihre Gesellschaftskritik, immer (auch) von den Strukturen des zu Überwindenden geprägt sein wird (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 46-171). Eine positive Wendung dieses Zusammenhangs findet sich im Kontext der Beschreibung der Voraussetzungen für Kommunikationsguerilla (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997a): »Kommunikationsguerilla [setzt] eine subversive Haltung und Energie [voraus], und andererseits Gespür für die Bedeutung der Formen von Kommunikationsakten, also die darin eingeschlossene Inszenierung der symbolischen Ordnung […] (In diesem Zusammenhang wird wiederum die jeweilig besondere Form verschiedener Medien interessant). Kommunikationsguerilla ist eine Methode der politischen Aktion, die im Rahmen sowohl direkter (face-to-face) als auch indirekter Kommunikation (Massenmedien) durchgeführt werden kann und soll.« Weitere Kompetenzen, die gerade vor dem Hintergrund globaler Aktionen, Vernetzungen und Kooperationen relevant werden, sind: »Fähigkeit zur Teamarbeit an zeitlich beschränkten Projekten, zusammen mit bisher unbekannten KollegInnen. Flexibilität, kulturelle Kompetenz, Fremdsprachenkenntnis. Flache Hierarchien, optimale Ausnutzung beschränkter Ressourcen, Improvisationsfähigkeit« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2003: 104).

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dergrund. Die Wirksamkeit dieses Konzepts soll dadurch erreicht werden, dass die gesellschaftliche und mediale Kommunikation wiederholt von diesen Trojanern gestört wird und sie sich dadurch zugleich in der hegemonialen Wirklichkeit verankern, diese mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen, indem z.B. bekannte Rezeptionsmuster bedient oder ästhetische Gewohnheiten aufgegriffen werden: »Kommunikationsguerilla darf keine Berührungsängste haben: Sie muss es wagen, sich ganz auf die Logik des verabscheuten dominanten Diskurses einzulassen, um ihn von innen heraus umzudrehen« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2003: 103).44 Im Unterschied zum Konzept Gegeninformation geht es hierbei nicht nur um eine Kritik an Inhalten oder die Vermittlung aufklärender Informationen, sondern v.a. an der Produktion und Reproduktion von Inhalten sowie an dem, was sich hinter diesen Inhalten an Ideologien, Wertsystemen, Machtdispositiven usw. verbirgt. Das entscheidende Problem strategischer (subversiver) Kommunikation ist zunächst, wie subversive Praxis in die kommunikativen Kanäle, unter Ausnutzung immanenter Medienfunktionen eingeschleust werden kann. Dadurch möchte sich die Kommunikationsguerilla in einem »Zwischenbereich zwischen aufklärerischer Politik und symbolisch-kultureller Intervention« bzw. »›reine[r] Ideologiekritik‹« und »›pragmatischer Realpolitik‹« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 6) situieren. Zweitens, wird die postulierte Eindimensionalität der Massenmedienkommunikation kritisiert. Ecos Begriff der Interpretationsvariabilität, durch den diese Eindimensionalität grundlegend widerlegt wird und zugleich eine subversive sowie (potentiell) unkontrollierbare Dimension in der Rezeption darstellt, soll durch die, den Rezipienten zugemuteten kritisch-subversiven Kommunikationsstörungen, aktiviert und verallgemeinert, also zu einer Haltung eines jeden Einzelnen werden – subversive Kritik verlangt daher konstitutiv eine spezifische Haltung bzw. ein spezifisches Ethos (vgl. ebd. 219). Es geht nicht mehr darum, zu sabotieren, sondern sich (herrschende) Strukturen und Codes anzueignen, zu nützen, stören, verschieben und recodieren – subversive Kritik muss eine realisierbare und unkontrollierbare Aktionsform sein. Diese angestrebte Dekonstruktion herrschender und Verbreitung eigener Codes brauchen nicht nur eine originäre Praxisform, sondern zugleich eine spezifische Sprache, in der und durch die die gesellschaftliche 44 Die Dialektik von Mediendistanz und Medienbeteiligung spiegelt sich auch auf der lebensweltlichen Ebene wider: Kommunikationsguerilleros sind zugleich Gesellschaftskritiker und Gesellschaftsmitglieder, müssen an dem partizipieren, was sie kritisieren bzw. wovon sie sich distanzieren. Der Vorteil dieser Situation besteht darin, dass sich die Aktivisten nicht über die Gesellschaft erheben, also einen Metastandpunkt der Kritik oder ein völlig unabhängig von der alltäglichen Wirklichkeit und ihren Mitmenschen geführtes Leben einnehmen bzw. entwerfen können. Dies gewährleistet, dass sie mit ihrer Kritik und ihren Aktionen nicht die Fühlung zum Gegenstand ihrer Kritik, dem hegemonialen gesellschaftlichen System und seinen Mitgliedern verlieren (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2003).

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Hegemonie kritisiert werden kann: »[A]lternative, emanzipative Codes dürfen nicht mehr geschlossen und eindeutig sein und zu einem anerkannten Sinn beitragen. In der Konfrontation mit den geschlossenen Codes der gesellschaftlichen Normalität können solche offenen Codes Störungen bewirken, die dazu führen, dass für einen kurzen Moment inhaltliche Leere produziert wird. Dieser Augenblick der Leere stellt eine Möglichkeit dar, bislang Unhinterfragtes in einem neuen Zusammenhang zu interpretieren« (ebd.: 185; vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994: 152). Die angestrebte subversive Praxis der Kommunikationsguerilla, also ihre Gesellschafts- und Medienkritik, muss ein offener Prozess sein, der sich beständig verändert, seiner eigenen begrenzten Möglichkeiten und spezifischen Entstehungsbedingungen bewusst ist und permanent Selbstkritik übt. Guerilla-Praxis

»Die Philosophen haben den Gesellschaften nur verschieden geschmeichelt, es kommt darauf an, sie zu provozieren« (Sloterdijk 2002: 62f.). Die elfte Feuerbach-These45 von Marx umspielend, formuliert Sloterdijk eine Forderung, durch die ein wesentliches Merkmal der subversiven kommunikativen Praxis der Kommunikationsguerilla benannt werden kann: Provokation. Die Provokationen der Kommunikationsguerilla liegen in den Taktiken, mit denen sie die soziale, mediale und kulturelle Wirklichkeit herausfordern sowie in den Anlässen und Orten (Räumen), an denen sie agieren, stören, Widerstand zeigen. Kommunikationsguerilla, als Patchwork aus Prinzipien, Taktiken und Praxen, über die subversiv in gesellschaftliche Kommunikationsprozesse eingegriffen und konkrete symbolische Intervention geübt werden kann, verwendet zwei grundsätzliche Prinzipien, die wesentlich durch sechs Methoden und Techniken umgesetzt werden (ebd.: 46-91)46: Ver45 »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern [Hervorhebung im Original – MSK]« (Marx 1969: 7). 46 Diese Prinzipien und Techniken sind Taktiken und keine Strategien. Als Taktik haben sie keine feste Basis, von der aus sie agieren, keine eindeutige Position und keinen eigenen Ort, die sie verteidigen, und keine spezifische Strategie, die sie verfolgen müssen (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 30f.; vgl. 53). Allerdings bleibt diesbezüglich zu fragen: »Wie könnte eine Politik aussehen, die ohne Gewissheit (und ›Sicherheit‹) strategischer Positionen auskommt? […] Sie lässt sich nicht kodifizieren, festschreiben, in wortreiche Konzepte fassen. Sie ist gezwungen, ihre Utopien eher in kurzen Augenblicken der Überschreitung des Bestehenden zu artikulieren, als sie in großspurigen Erklärungen zu verkünden. Sie ist temporär und immer revisionsbedürftig. Kann eine solche Politik überhaupt ohne klar artikulierte, strategische Konzepte, Momente der Störung oder gar der Subversion der bestehenden Ordnungen auskommen« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997d)? Strategiefrei ist die Kommunikationsguerilla auch nicht, wie sie selbst einräumt (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 31), denn nur durch einen strategischen Einsatz ihrer Taktiken kann die projektierte subversive kommuni-

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fremdung und Überidentifizierung sind die beiden Prinzipien, nach denen die Guerillapraxis ausgerichtet ist, Erfindung (falscher Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse), Camouflage, Fake und Fälschungen, subversive Affirmation, Collage und Montage sowie Entwendung und Umdeutung der Vorgehensweisen dieser Praxis. Insofern sind diese Prinzipien und Methoden »Wegweiser für gesellschaftsverändernde Utopien und Handlungsweisen« (ebd.: 48)47, durch die das Funktionieren gesellschaftlicher Hegemonie in Frage gestellt werden soll, indem sie (kurzfristig) die Regeln der Normalität der alltäglichen Wirklichkeitswahrnehmung aufbrechen und das reibungslose Funktionieren sowie die selbstverständliche Geltung der kulturellen Grammatik durcheinander bringen. Durch Irritationen und Unklarheiten, die die Guerillaaktionen im Alltag bewirken, soll das gesellschaftlich bzw. kulturell Unbewusste symbolisch abgebildet, die Mechanismen, die die hegemoniale Produktion von Wirklichkeit bestimmen, offen gelegt und dadurch neue Lesarten für gewohnte Wirklichkeitssegmente ermöglicht werden.48 kative Praxis gelingen. Allerdings müssen sie dadurch auch in Kauf nehmen, dass sie, v.a. durch ihr großes Manifest, das Handbuch der Kommunikationsguerilla, sowie andere Texte, einen strategischen, relativ eindeutig klassifizierbaren Ort besetzt. Dadurch ist auch ihr Guerillakampf ein Kampf um (symbolische) Macht bzw. gesellschaftliche Hegemonie, indem symbolische Gewalt ausgeübt wird – auch wenn dieser Kampf sich auf die Überwindung regressiver Machtstrukturen und auf die Selbstermächtigung jedes Einzelnen, also gegen symbolische Gewalt und gesellschaftliche Hegemonie fokussiert. 47 Die Betonung der Effektivität dieser Prinzipien und Methoden, durch die die projektierte subversive kommunikative Praxis bestimmt wird, muss sich allerdings dem gleichen Vorwurf aussetzen, mit dem die Logik traditioneller linker Politik bzw. politischer Intervention, also u.a. die Konzepte Gegenöffentlichkeit, Gegeninformation, Aufklärung, Überzeugung oder Wahrheit, von ihnen selbst kritisiert wurde. Verfremdung und Überidentifizierung, d.h. die subversive kommunikative Praxis allein, reicht noch nicht aus, um ihre diskursive Kritik wirksam, transparent und nachhaltig umzusetzen sowie (neue) linke Gesellschafts- und Medienkritik zu aktualisieren. Weiterhin kommt es auch nicht nur auf die Anerkennung einer irreduziblen Vielzahl von Möglichkeiten der Artikulation von Kritik sowie entsprechender Praxisformen an, sondern, nur durch eine, wenn auch flexible, Vernetzung dieser unterschiedlichen Diskurse und Aktionsformen, deren gemeinsames Ziel die konkrete Veränderung der sozialen, kulturellen und medialen Wirklichkeit in ihrem status quo ist, kann eine alternative bzw. eigene (linke) Gesellschafts-, Kultur- und Medienkritik angestoßen werden. Zur Frage nach der Vernetzung wird in einem aktuellen Text betont: »Die imaginären Brigaden der Kommunikationsguerilla sind untereinander nicht unbedingt vernetzt. Was sie verbindet, ist ein spezifischer Stil politischen Handelns, der sich aus einem wachen Blick auf die Paradoxien und Absurditäten der Macht speist und diese im Spiel mit Repräsentationen und Identitäten, mit Verfremdung und Überidentifikation zum Ausgangspunkt politischer Interventionen macht« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2003: 95). Gerade unter den Bedingungen und Anforderungen der Globalisierung und im Kontext neuer globaler Bewegungen sowie Aktionsfelder, die sich jenseits der politischen und nationalen Grenzen entwickelt haben, ist die Vernetzung von Kapazitäten einer der entscheidenden Aspekte für die Arbeit der Kommunikationsguerilla (vgl. ebd.; vgl. 104f.). 48 Das gesellschaftlich bzw. kulturell Unbewusste meint die zumeist unbewussten Regeln und Möglichkeiten des Zustandekommens sozialer Ordnungen, die

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Verfremdung meint Veränderungen der Darstellung des alltäglich Gewohnten. Verfremdungen sollen Distanz zum Gegenstand der Kritik erzeugen, normale Rezeptionserwartungen verunsichern, Widersprüche und Paradoxien des kritisierten Gegenstandes zum Vorschein bringen, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand anzuregen, der sich dem alltäglichen (normaliserten) Umgang entzieht (vgl. ebd. 46). Objekte für Verfremdungen sind z.B. politische Plakate, Werbevorlagen, Denkmäler, Schilder, Gebäude, öffentliche Anlässe und Orte. Öffentliche Orte und gesellschaftliche Räume49 werden verfremdend attackiert, um ihre symbolischen Funktionen im Rahmen der kulturellen Grammatik sichtbar zu machen, also die durch sie dargestellte Selbstdarstellung gesellschaftlicher Macht zu unterminieren. Repräsentationsbauten, etwa Rathäuser, Kirchen oder Firmengebäude bzw. -symbole, Werbetafeln, Denkmäler oder Parkanlagen, sind dementsprechend eine symbolische Besetzung des öffentlichen Raums, Sinnbilder für gesellschaftliche und kulturelle Werte sowie von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Sie bestimmen und definieren das Erscheinungsbild bzw. die Verwendungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums sowie die Bewegungsmöglichkeiten in ihm (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/ Sonja Brünzels 2001: 32-37). Der Kommunikationsguerilla geht es entsprechend um eine symbolische Aneignung dieser hegemonialen Besetzung des öffentlichen Raums. Ihre Aktionen entfalten ihre Bedeutung und Wirksamkeit nie unmittelbar, sondern nur in und durch die Rahmenbedingungen sowie Situationen, in denen sie ausgeführt werden – so kann ihre symbolische Intervention einerseits zwar nie völlig souverän sein, verliert aber andererseits nie den Bezug zum Gegenstand ihrer Kritik. Als Beispiele für subversive Verfremdungen werden etwa die Modifikationen einer amerikanischen Calvin Klein-Parfümwerbung und eines Weise, wie sie konstituiert werden, welche heterogenen Praktiken sie bündeln und von welchen Personen bzw. Gruppen sie getragen werden. Weiterhin die autoritären Repressions- und Ausschlusssysteme der herrschenden Gesellschaftsordnung sowie ihre Reglementierungspraktiken. Hiermit sind konkret etwa aktuelle Maßstäbe wirtschaftlichen Handelns, Kartellbildungen auf dem Medienmarkt, bestimmte Wert- und Normsysteme, Aspekte sozialer Ungleichheit, religiöse Ideen, politische Programme, Schönheitsideale, Ideologien, das Verständnis von und der Umgang mit Rassismus, der kulturelle Kanon oder Konzepte von Identität gemeint, also alle erdenklichen Bausteine sozialer Wirklichkeit. 49 Es werden prinzipiell drei Orte und Räume für Aktionen der Kommunikationsguerilla unterschieden: Erstens der konkrete öffentliche Raum, d.h. der Stadtund Straßenraum; zweitens der mediale Raum und drittens der virtuelle Raum – dieser wird vom medialen Raum (Zeitungen, Radio, Fernsehen etc.) unterschieden, weil das Internet, im Unterschied zu den anderen Medien, Möglichkeiten zur reziproken bzw. interaktiven Kommunikation und Interaktion bietet und dadurch neue Formen der Vernetzung und des Austausches schafft (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997a).

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KAPITEL 4

CDU-Wahlplakats zu den Landtagswahlen 1996 in Baden-Württemberg genannt (vgl. ebd. 51ff.). Aus der Calvin Klein-Werbung mit dem Slogan Obsession for men und einem, dem gängigen Schönheitsideal entsprechenden Modell, das dieses Produkt anpries, wurde eine Anzeige für das gleiche Produkt gemacht, allerdings der Slogan in Recession for men geändert und anstatt des Modells ein Obdachloser in gleicher Pose abgebildet. Die Verfremdung von Text und Bild sollte, vor dem Hintergrund normalisierter Seh- und Lesegewohnheiten, die in der Werbung idealisierte Scheinwelt kritisieren, die Lifestyle und Schönheitsideale als eigentliches (ideologisches) Produkt verkaufen und nur wenig mit dem beworbenen Gegenstand selbst zu tun haben. Das Wahlplakat der CDU bestand aus einer weißen Oberfläche, auf der ein Smiley, eigentlich Symbol der ACID-House-Party Szene der 1990er Jahre, dessen Gesicht aus den Buchstaben C, D und U bestand, abgebildet war. Signalwirkung dieses Plakats sollte vermutlich sein, dass die CDU sich hip, trendy und jugendnah darstellen wollte. Diese symbolische Besetzung des Smileys durch die CDU könnte z.B., wie die Verfasser des Handbuchs der Kommunikationsguerilla betonen, durch Werbung für Drogen (»Xtasy frees your mind« oder »›Keine Macht – nur Drogen!‹«) ergänzt werden, um durch symbolische Re-Kontextualisierung des Smileys, auf die Implikationen dieser Wahlwerbung und seiner Widersprüche hinzuweisen. Weitere Beispiele finden sich auf der Startseite der Homepage der Kommunikationsguerilla (http://www.contrast.org/KG): Es wird ein Flyer ähnliches Bild aus zwei Teilen abgebildet, auf dem eine Familie von zwei bewaffneten Personen, die Polizisten sein könnten, verfolgt wird. Auf beiden Bildern steht »Caution«, der Titel dieses Bildes lautet: »It never rains in southern california.« Klickt man diesen Titel an, gelangt man auf eine Seite, die als Ursprung für dieses Titelbild angegeben wird. Dort ist ein, wie behauptet wird, existierendes Verkehrsschild, das an einer Straße steht und auf dem eine sich in Bewegung befindende Familie zu sehen ist, abgebildet. Unter dem Bild steht folgende Erklärung: »Verkehrsschild an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, das vor den Highway überquerenden illegalen Einwanderern warnt« (http://www.con trast.org/KG/ios). Das zweite Beispiel ist eine Verfremdung des bekannten Anti-Vietnamkrieg-Plakats, auf dem ein sterbender Soldat abgebildet ist und als Text »Why?« steht – dieses Plakat ist im Stil einer Todesanzeige gehalten. Das verfremdete Plakat wählt das gleiche Szenario, nur steht auf dem Bild als Text »Why Not?« und »Bundeswehr. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu«. Als Initiatoren dieses Plakats werden die SPD und Bündnis 90/Die Grünen angegeben. Zwei häufig verwendete Techniken der Verfremdung im öffentlichen Raum sind Sniping (ebd.: 94-103) und Subvertising (ebd.: 104-107). Sniping zielt auf Veränderung, Kommentierung oder Verdeutlichung der zumeist unausgesprochenen Aussagen von Plakaten, Denkmälern, Fassaden, Schildern, Werbetafeln, Zügen oder Wegweisern durch Graffiti, also

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dem Anbringen von Zeichen und Symbolen, oder durch bildliche und/oder textuelle Schnipsel, d.h. dem Hinzufügen oder Weglassen von Buchstaben, Wörtern und/oder Bildern: »Sniper sind semiotische Heckenschützen. Ihre Anschläge verüben sie nicht mit Gewehr und Zielfernrohr, sondern mit Spraydosen […]« (ebd. 94). Ein Beispiel für Sniping ist die Veränderung eines Plakats zur Wiedervereinigung, auf dem Max Schmeling und Henry Maske abgebildet waren und zu lesen stand: »Kaum war die Mauer geöffnet, haben wir Freundschaft geschlossen.« Dieses Plakat stammte von Miteinander – Füreinander Aktion Gemeinsinn E.V. und hatte den Untertitel: »Das Land sind Wir. Alle.« Geändert wurde der Text dieses Plakats wie folgt: »Kaum war die Mauer geöffnet, haben wir geschossen« – der Untertitel und der Hinweis auf den Initiator des Plakats blieben dabei unverändert. Ein anderes, v.a. in den USA, Kanada, Australien und England, beliebtes Verfahren des Sniping ist das Verändern von Werbetafeln (Billboard Banditry), also die Kritik an der Konsumwerbung und -gesellschaft. Prominente Vertreter dieser Richtung des Sniping sind etwa die seit 1977 bestehende kalifornische Billboard Liberation Front (http://www.billboardliberation.com), die davon ausgeht, dass potentiell alle Menschen Zugriff auf Werbeflächen haben müssten und dies nicht nur ein Privileg von finanzkräftigen Konzernen oder Institutionen sein dürfte (vgl. Billboard Liberation Front & Friends 1990). Solange diese Forderung nicht erfüllt werde, würden sie Botschaften auf Werbetafeln verändern. So könnte beispielsweise zu Zeiten von Volkszählungen dem Malboro-Mann in den Mund gelegt werden: »Ich lasse mich auch nicht zählen.« Oder eine Werbung für den Ölkonzern mit dem Titel »Go to shell« in »Go to hell« geändert werden (http://www.contrast.org/KG/hell.jpg). Auf der Webside des amerikanischen Journal of the Mental Environment, Adbusters (http://www.ad busters.org), das sich der zeitgenössischen Konsum- und Medienkritik verschrieben hat und versucht, Subversion mit den kapitalistischen Mitteln des Marketings zu verbreiten, findet sich eine gelungene AmerikaKritik: Die amerikanische Flagge besteht nicht mehr aus Stars-andStripes, sondern nur noch aus Brands-and-Bands, also allen (Produkt-) Größen des amerikanischen Wirtschaftswunders (CocaCola, McDonalds, IBM, Mickey Mouse, Playboy, Marlboro etc.) – diese sind, gemäß dieser Anti-Werbung, die eigentlichen Werte der amerikanischen Gesellschaft (https://secure.adbusters.org/orders). Subvertising meint die Verbreitung von Anti-Werbung und Werbeparodien, also die Verfremdung vom Advertising. Es geht hierbei um die Dekonstruktion von Anzeigen- und Werbekampagnen sowie das Lächerlichmachen eines Produkts, also insgesamt um die Verwirklichung symbolischen Herrschaftsverlusts und Konsumkritik. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Texte und Bilder der Werbeindustrie sowie bekannte Markenprodukte oder Hersteller benutzt und in ihrem Erscheinungsbild verfremdet, um ihren ideologischen Gehalt ins Bild zu setzen: »Subverti-

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sing ist der Versuch, aus der Rolle der passiven Rezipientin von Botschaften oder des Käufers von Waren herauszutreten und die öffentliche Auseinandersetzung über deren politische oder gesellschaftliche Bedeutung wieder aufzunehmen« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/ Sonja Brünzels 2001: 106). Beispiele für Subvertising sind etwa die Veränderung des Slogans »The United Colours of Benetton« in »The United Colours of Advertising« oder »United Bullshit of Advertising« – beides als Text zu einem abgebildeten Haufen Scheiße. Ein anderes Beispiel wäre der Slogan einer Anti-Werbung für den Kräuterschnaps Jägermeister, die 1981 in der ersten Ausgabe der Satirezeitschrift Pardon abgedruckt wurde, um auf den Drogencharakter von Alkohol und die Doppelmoral der bundesdeutschen Drogenpolitik hinzuweisen: »Ich trinke Jägermeister, weil mein Dealer zur Zeit im Knast sitzt.« Mit Überidentifizierung, als zweitem grundlegendem Prinzip der Kommunikationsguerilla, wird die Positionierung innerhalb der Logik der herrschenden Ordnung bezeichnet. Das hegemoniale gesellschaftliche System wird hierbei ernster genommen, als es sich selbst nimmt bzw. nehmen kann. Somit werden allgemein bekannte, aber auch tabuisierte Aspekte des Gewohnten offen ausgesprochen. Die Anwendung dieses Prinzips soll Selbstdistanzierungen, die in den herrschenden Diskurs eingebaut sind, auflösen und die Kehrseite der herrschenden Ideologie deutlich hervorheben. Überidentifizierung wird u.a von dem Künstlerkollektiv NSK (Neue Slowenische Kunst) und der Rockgruppe Laibach praktiziert (http://www.laibach.nsk.si): »Sie greifen die Rituale nationalstaatlicher Selbstinszenierung auf und stellen sie in den Dienst einer artifiziellen, dysfunktionalen Ideologie. Obwohl die Bezüge zwischen den einzelnen ästhetischen Elementen stimmig erscheinen, bleibt in dieser kohärent erscheinenden Ideologie die Stelle des bedeutungsgeladenen Kerns (die eigene Nation) unbesetzt. Diese Leerstelle ist aber kaum sichtbar: Der einzige Unterschied zur ideologischen Inszenierung einer ›realen Nation‹ besteht darin, dass NSK einen solchen Bezugspunkt für ihr Projekt gar nicht beansprucht. Gerade die Tatsache, dass die Inszenierung trotzdem funktioniert, legt die Mechanismen der Konstruktion von Nation deutlicher offen, als dies jede argumentative Kritik vermag« (ebd.: 57; vgl. 47ff.). Durch die »Erfindung falscher Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse« (ebd.: 58-61)50 und Fakes (ebd.: 65-79) soll die Legitimation der Macht beschädigt werden, indem in ihrem Namen falsche, modifizierte oder sinnlose Informationen verbreitet werden. Da die Bevölke50 Ein gutes Beispiel für diese Technik ist eine Aktion gegen den Vietnamkrieg aus dem Jahre 1967, die sich in New York ereignete. In »einer spontanen Straßenaktion mit 2.000 Teenagern [wurde] verbreitet, dass der Vietnamkrieg […] aus sei« (ebd.: 59), wodurch es gelang, die Bewohner zu einer kollektiven Friedensfeier hinzureißen. Das anschließende Dementi der US-Regierung stand so in einem deutlichen Gegensatz zu den Interessen der Bevölkerung.

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rung in der Regel annimmt, dass offizielle Aussagen auf der Autorität der Legitimierten beruhen, tritt häufig tatsächlich die erwünschte Wirkung ein: »Dadurch soll die Selbstverständlichkeit der diskursiven Prozesse aufgebrochen werden, in denen sich die Macht konstituiert und reproduziert. […] Es [der Fake – MSK] zeigt, dass alles auch ganz anders sein könnte, dass die Strukturen des Sprechens und der Macht so, wie sie den Menschen gegenübertreten, weder zwingend noch selbstverständlich sind« (ebd.: 66). Mit den nachfolgenden Dementi der gefakten Personen oder Institutionen, durch die die gestörte Ordnung wiederhergestellt werden soll, wird fest gerechnet, diese geben der gefakten Situation erst ihre eigentliche Bedeutung: »[D]urch das Dementi erhält das Fake ein quasi amtliches Gütesigel. Da dies in der Regel über die Massenmedien verbreitet wird, verleiht es ihm außerdem eine Publizität, die oft über seine eigentliche Reichweite weit hinausgeht« (ebd.: 70f.). Andererseits wird nicht nur auf Dementis gewartet, sondern auch diese können gefakt werden. So könnte ein gefaktes Dementi in den Medien, das sich in einem beliebigen Atomkraftwerk kein Störfall ereignet habe, mehr Zweifel an seiner Sicherheit erzeugt werden, als wenn über dieses Atomkraftwerk nicht berichtet würde. Diese Dementis könnten gerade in Zeiten, in denen keine (massenmediale bzw. -öffentliche) Diskussion über die Risiken von Atomkraft geführt wird, besonders erfolgreich sein. Als Beispiel einer gefakten Aktion können die Vorladungen zum Staatsbürgerschaftstest, zu der deutsche Bürger im Jahre 2000 in Bayern (vermeintlich) von den Stadtverwaltungen eingeladen wurden, angesehen werden. Es sollten hierbei die persönlichen Kenntnisse über die deutsche Sprache, Kultur und Gesellschaft geprüft werden. Ein Nichtbestehen hätte drastische Konsequenzen und zwar den Entzug der Staatsbürgerschaft durch die bayerische Staatsregierung. Nur durch eine Nachschulung könnte diese wieder erlangt werden. Die Anschreiben waren mit der Überschrift »An alle Haushalte« versehen, hatten das Wappen der Städte und gaben als Absender das Einwohnermeldeamt an – der Test musste am Tag nach Erhalt des Anschreibens im Einwohnermeldeamt absolviert werden (vgl. http://www.contrast.org/KG/staattst.htm). Durch diese Aktion sollten Diskussionen über Staatsbürgerschaft, Ausländerpolitik, nationale Identität etc. ausgelöst werden. Ziel der Camouflage (ebd.: 63f.) ist es, durch symbolische Verkleidung kommunikative Hindernisse zu überwinden, sich der herrschenden Formen ästhetischer Ausdruckmittel oder Sprechweisen zu bedienen, um sich gegen sie, gerade mit ihnen zu wenden. Durch die bewusste Verwendung der Spannung zwischen Form und Inhalt kann es so gelingen, dem hegemonialen Diskurs gegenüber dissidente Inhalte zu artikulieren. Ein Beispiel hierfür ist die englische Band Chumbawamba (http://www. chumba.com), wenn sie »Mainstream-Pop und eingängige Melodien mit anarchistischem Klartext verknüpft: ›Give the anarchist the cigarette. Every fire needs a little bit of help…‹« (ebd. 63).

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Subversive Affirmation (ebd.: 80-84) nennt man eine übertriebene Zustimmung, durch die sich die vordergründige Affirmation in ihr Gegenteil verwandeln soll, indem die falschen Leute das Richtige tun. Bevorzugte Anlässe, in denen subversive Affirmation effektiv eingesetzt werden kann, sind Wahlveranstaltungen oder andere politische Anlässe: »Bei einer ›Pro-NATO-Aktion‹ im Juli 1991 in Hamburg, lauteten die Parolen der ›Initiative für deutsch-amerikanische Freundschaft‹ und zu Gunsten des us-amerikanischen Außenministers Alexander Haig: ›Mittelstreckenraketen? Ja, ja, ja! – Atomkrieg? Warum nicht?‹ oder ›Sollen russische Kinder ewig leben?‹« (ebd.: 81). Bei der Entwendung und Umdeutung (von Bildern, Begriffen oder Texten) sowie Collage und Montage werden bekannte Gegenstände oder Bilder aus ihren alltäglichen Kontexten sowie der hegemonialen Ästhetik herausgenommen und in neue Zusammenhänge gestellt, wodurch sie eine konstitutiv andere bzw. eigentliche Bedeutung erlangen (vgl. ebd. 8591). Ein Beispiel für Entwendung und Umdeutung sowie Collage und Montage wäre die Verfremdung einer Werbung für das Herrenmagazin Playboy, die 1985 in Ludwigsburg erstellt wurde. Der ursprüngliche Werbeslogan, in dessen Mitte ein Bunny die aktuelle Ausgabe des Playboys präsentierte, lautete: »Wenn Du ein Mann bist…hol’ Dir den Playboy!« Die entwendete Version hatte hingegen den Slogan: »Wenn Du ein Mann bist…hol’ Dir einen runter!«51 Temporäre autonome Zonen und Guerillacamps. Aktivistische Internetnutzung

Das Internet52 als Medium für Kommunikationsguerilla-Aktionen spielt im Handbuch der Kommunikationsguerilla kaum eine Rolle. Im Kontext der Diskussion neuer Möglichkeiten und Chancen von Gegenöffentlichkeit, wird das Internet in einem Unterkapitel mit dem Titel »Don’t believe the Hype? Gegenöffentlichkeit im Internet« zum Gegenstand ei51 Ein anderes Beispiel, das vorgeschlagen wird, ist eine fiktive Werbekampagne der bundesdeutschen Regierung, »in der sie die Vorzüge ihrer Politik für mehr Staatssicherheit (Stasi) und den ›Großen Lauschangriff‹ erläutert. Dabei würde den Herrschenden der BRD ihr Kampfbegriff gegen die ehemalige DDR entwendet und gegen sie selbst gerichtet« (ebd. 89). Diese Aktion könnte auch gegenwärtig, in Anbetracht der Terrorismusvorsorge, eine Diskussion zum Thema Sicherheitspolitik auslösen. 52 Ein weiteres Medium, das für die Anliegen der Kommunikationsguerilla genutzt werden könnte, ist das Radio, speziell das Freie Radio oder Piratensender. Allerdings gehen die Kommunikationsguerilleros hierauf nicht ein. An dieser Stelle kann nur auf einige Texte verwiesen werden, die Bausteine zur Nutzung des Radios für die Anliegen einer Medien- und Kommunikationsguerilla enthalten: u.a. Kollektiv A/Traverso (1977); Lovink (1992a/b/c), Radio Patapoe (1996); Stuhlmann (2001); Plesch (2003); Schulz (2004) und Ludewig (2004). Ebenso wenig kann hier auf die Bedeutung der Offenen Kanäle (vgl. u.a. Kamp/Studthoff 2003) als Aktionsmedium der Medien- und Kommunikationsguerilla eingegangen werden.

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ner kurzen Auseinandersetzung (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001: 193-196). Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, »wo solche Medien [d.h. Neue Medien, wie das Internet – MSK] im sozialen Raum positioniert sind und welche neuen Handlungsperspektiven sie eröffnen« (ebd.: 193; vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997a) – dies bleibt auch in anderen, in diesem Kapitel diskutierten Texten der Kommunikationsguerilla zum Internet die Grundfrage.53 In der Auseinandersetzung mit dem Internet als potentiellem Ort neuer linker Medienpraxis findet, wie bei den Konzepten Gegenöffentlichkeit und Gegeninformation, so die Kritik, eine perspektivische Verkürzung auf die Möglichkeiten der Vermittlung richtiger, wahrer oder objektiver Informationen sowie der neuen Informationswege statt. Das Netz bietet dementsprechend vermeintlich die Möglichkeit eines kaum reglementierbaren Informationsflusses. Demgegenüber werden die Bedingungen der Rezeption und der konkreten Verwendungsmöglichkeiten des Internets in der aktuellen gesellschaftlichen Situation kaum berücksichtigt. Setzt man sich aus dieser Perspektive mit dem Internet auseinander, ergeben sich, gerade im Hinblick auf die Möglichkeiten der reziproken und interaktiven Kommunikationschancen, für die Kommunikationsguerilla interessante Diskussionspunkte: »Besteht die Aussicht, sich in diesem Rahmen selbstbestimmte Orte zu schaffen, ›temporäre autonome Zonen‹ (Hakim Bey)54, in denen die gesellschaftlichen Regeln zumindest zeitweise außer Kraft gesetzt (bzw. noch gar nicht verbindlich formuliert) sind? Und wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf die soziale Existenz außerhalb der Netze?« (ebd.: 195). Diese Möglichkeiten laufen allerdings stets Gefahr, von den gesellschaftlichen Machtzentren besetzt, also an die hegemoniale gesellschaftliche Wirklichkeit (kommerziell und administrativ) rückgebunden sowie gemäß der hegemonialen gesellschaftlichen Machtlogik angeeignet und für ihre Zwecke genutzt zu werden. Weiterhin wird von der Kommunikationsguerilla gefordert, zur Beurteilung der Potentiale des Cyberspace immer den Unterschied zwischen medienbasierter und natürlicher Kommunikation zu vergegenwärtigen. Nur von einem Ort außerhalb des Netzes kann man adäquat über seine Möglichkeiten diskutieren – ansonsten wäre die Auseinandersetzung mit dem Internet zu technologiezentriert oder technologieeuphorisch. Diese 53 Ich werde mich im Folgenden nur auf die Beantwortung dieser Frage konzentrieren und die Netzkritik der Kommunikationsguerilla, d.h. ihre Kritik an den Diskursen über das Internet und die dadurch erzeugte Ideologie (z.B. Informationsgesellschaft, Datenautobahn oder virtuelle Gesellschaft) sowie die hegemonialen (gesellschaftlichen) Verwendungsweisen, nicht diskutierten. 54 Hakim Bey ist ein englischsprachiger Schriftsteller und selbst proklamierter anarchistischer Ontologist – das Pseudonym ist der türkische Name für Herr Richter. An dieser Stelle wird im Handbuch der Kommunikationsguerilla auf sein Buch TAZ: The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism (New York 1991) angespielt (vgl. Hakim Bey 1997).

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Abgrenzung ist allerdings problematisch, weil nur durch ein Wechselspiel von Nähe und Distanz bzw. Mediendistanziertheit (z.B. Beurteilung des Internets vor dem Hintergrund eigener Maßstäbe zur Medienkritik) und Medienbeteiligung (Kenntnisse der spezifischen Medialität des Internets, aktive Nutzung dieses Mediums etc.), eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Medium Internet geführt werden kann. Eine Fortführung der Auseinandersetzung mit dem Internet, gerade vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit der spezifischen Medialität des Internets sowie der Ausarbeitung eigener Kommunikations- und Aktionsformen der Kommunikationsguerilla im Internet, findet sich in zwei weiteren Texten (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997a, 2004).55 Hierbei sind v.a. folgende Aspekte hervorzuheben: Erstens, dass die Rezeption von Netzinhalten, ebenso wie die lebensweltlicher und anderer medialer Kommunikationen, vom Prinzip der Interpretationsvariabilität bestimmt wird: »Der Sinn einer übermittelten Information (die Botschaft) ist in herkömmlichen Medien ebenso wie im Netz durch die Art und Weise (mit)bestimmt, in der Informationen interpretiert werden. [...] Das Internet bringt nicht eine oder die Nutzungsform hervor, sondern ist polymorph in seiner Anwendung. Und viele Nutzungsweisen können parallel stattfinden« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1997a). Allerdings präformiert, wie auch bei der Konstruktion sozialer Wirklichkeit, der hegemoniale Diskurs zunächst und zumeist das Verständnis und die Nutzungsweisen des Internets. Es kommt also darauf an, temporäre autonome Zonen und Möglichkeiten nicht-hegemonialer Kommunikation im und durch das Internet zu verwirklichen. Andererseits gewinnt das Internet seine Bedeutung als potentielles Medium für Kommunikationsguerilla, erst durch die konkrete Nutzung seiner spezifischen Verwendungsmöglichkeiten. Zweitens sind für die Nutzungsformen des Internets die Möglichkeiten der Rückbindung an die alltägliche Lebenswelt von konstitutiver Bedeutung – nur durch diese Rückwirkungen sind die spezifischen Widerstandsformen des Internets relevant (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2005).56 Un55 Beim Aufsatz »Bewegungsle(e/h)re? Anmerkungen und zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit« handelt es sich lediglich um eine Kurzfassung des Kapitels »Gegenöffentlichkeit, Medientheorie & Informationsfetisch« aus dem Handbuch der Kommunikationsguerilla – daher wird er im Folgenden nicht diskutiert. 56 Vgl. mit anthropologischem Akzent Hakim Bey (1997: 65, 69f.): »Technologie ist weder neutral noch gottgegeben, sie entspringt weder dem brennenden Busch noch der Antimaterie. Sie wird von Menschen gemacht. Deshalb ist die gesamte menschliche Gesellschaft immer schon eingeschrieben in jede Maschine, bevor dann wiederum jede Maschine zu einer Kraft wird, Neues in die Gesellschaft einzuschreiben […] Autonomie findet sich nicht nur im Internet, es braucht auch physikalischen Raum und Nähe. Autonomie existiert nicht nur auf der Ebene der Vorstellung, Phantasie und in der Welt der Bilder. Autonomie muss alles sein: sie betrifft das ganze Sein, und das wurzelt immer noch in der Erde und bedarf der Physis, Materialität eines Körpers, der Sterblichkeit und all dessen, was der unechten Unsterblichkeit im Cyberspace entgegensteht.«

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ter dieser Voraussetzung ist es möglich, die Chancen des Internets zur Schaffung neuer Formen politischer und kollektiver Handlungsfähigkeit umzusetzen. So besteht etwa durch die neuen Netzwerke im Internet die Möglichkeit der gleichzeitigen Kommunikation mit unterschiedlichen und weltweit verstreuten Akteuren sowie die dezentrale Koordination von Aktionen, also eine enorme Ausweitung des Radius politischen Handelns bzw. politischer Militanz (vgl. hierzu auch Critical Art Ensemble 1997).57 Diese neuen Netzwerke sollten sich »als soziale Zusammenhänge auch im Real Life materialisieren lassen« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 1997a). Das Hacken von Websites kann drittens als technische Erweiterung des Angriffs auf symbolische (hegemoniale) Ordnungen verwendet werden, um die subversiven kommunikativen Praxen des Fakes oder Sniping58 auch im Internet, unter Verwendung der dem Cyberspace spezifischen Ausdrucksformen, umzusetzen – dabei muss allererst eine der Kommunikationsguerilla affine Technik des Hackens entwickelt werden. Das Potential des Hackens kann aus der Perspektive der Kommunikationsguerilla nur dann zielführend genutzt werden, wenn es eine klare Perspektive für Guerillaaktionen im Cyberspace gibt und »auf welche Gegebenheiten, Diskurse und gesellschaftliche Setzungen sie sich beziehen kann oder soll, um ihr eigenes Spiel zu spielen« (ebd.). Der subversive Gehalt des Hackens besteht v.a. darin, »dass sich kein System sicher fühlen kann« und »in der temporären Überlistung der [...] Institutionen zugeschriebenen Macht« (ebd.).59 Auch mit diesem Bezug zur 57 Beispiele hierfür bietet ein aktueller Text der autonomen a.f.r.i.k.a.-gruppe (2005: 195): »Im Januar 1994 verbreiteten die ZapatistInnen Kommuniques über ihren Aufstand in Chiapas weltweit über E-Mail. […] Als im Jahr 2000 in Österreich die rechtsextreme FPÖ an die Regierung kam, ›simmste‹ sich der Straßenprotest nicht nur zum gemeinsamen Demonstrationsort, sondern organisierte sich auch über Webseiten und schnell eingerichtete Mailinglisten. Nach den Madrider Anschlägen im März 2004, am Tag vor der Parlamentswahl, strömten Zehntausende flashmobartig auf die Straßen und belagerten die Parteizentrale der damals noch regierenden Partido Popular. Über Email, Websites, Handy und SMS konnte sich die Zivilgesellschaft binnen weniger Stunden organisieren, um den Lügen der konservativen Regierung ein nachdrückliches ›Ya basta!‹ entgegenzusetzen. In schöner Regelmäßigkeit wird außerdem zu ›Online-Demos‹ und politischen Aktionen ›im Internet‹ aufgerufen: im Jahr 2001 fand unter großem Medienecho eine ›Online-Demo‹ gegen die Abschiebefluglinie Lufthansa statt; im April 2004 folgten beinahe 4000 Webseiten einem Aufruf der Foundation for a Free Information Infrastructure zu einer zeitlich begrenzten Selbstschließung, quasi als Warnstreik gegen Softwarepatente [Hervorhebung im Original – MSK].« 58 Als virtuelles Graffiti kann das unberechtigte Verändern einer Webseite, etwa von großen Wirtschaftsunternehmen oder einer Partei, bezeichnet werden, wobei derjenige, der diese Verunstaltung durchgeführt hat, ein Logo oder eine Textmarke hinterlässt. Man spricht diesbezüglich von Defacement. Eine Dokumentation von verunstalteten Seiten findet sich u.a. im Zone-H.org Defacement Archiv: http://www.zone-h.org/en/defacements. 59 Eco (2002c: 164, 168f.) weist allerdings auf die Dialektik dieser Perspektive hin: »Die großen Systeme sind äußerst verwundbar, es genügt ein Sandkorn, um sie ›in Paranoia‹ zu versetzen. […] Aber es zeigt [sich], dass die Fähigkeit gro-

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Hacker-Szene kommen zwei Grundanliegen der Kommunikationsguerilla zum Ausdruck, nämlich einerseits die aktiv gesuchte Vernetzung mit anderen Personen und Gruppen sowie andererseits die Versuche der permanenten Neugestaltung der Guerillapraxis, um dem statisch und berechenbarem Werden ihrer Position vorzubeugen: »Für uns liegt hier ein Potential von, durch die technischen Möglichkeiten begünstigten Allianzen für Netzwerke, zwischen politisch oftmals indifferenten Hackern, technisch unfähigen Politniks und allen, die irgendwo dazwischen zu Hause sind« (ebd.). Durch vielfache Vernetzung und Verlinkung sollen eigene Kommunikationsräume geschaffen und weiterentwickelt werden – diese Taktik wird als »Kanäle graben« bezeichnet (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2004). Viertens dient das Internet der Kommunikationsguerilla als Ort der Selbstdarstellung, als Archiv zur Dokumentation von Texten und Aktionen, zur Vernetzung mit anderen Gruppen und als Diskussionsforum. Im einem aktuellen Aufsatz »Stolpersteine auf der Datenautobahn? Politischer Aktivismus im Internet« (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 2005) werden die Potentiale des Internets für die Kommunikationsguerilla und Schlachtpläne für konkrete Aktionen diskutiert. Das Internet ist kein Parallelraum zum physikalischen Raum und keine Gegenwelt zur sozialen Realität – auch aus diesem Grund werden die Überlegungen von Baudrillard zur Hyperrealität abgelehnt. Vielmehr verbinden »sich traditionelle mit digitalen Kommunikationsformen [...] und [verschmelzen] zu einem qualitativ neuen, gleichzeitig virtuellen und physikalischen Kommunikationsraum« (ebd.: 199). Der virtuelle Raum des Internets bietet aus der Perspektive der Kommunikationsguerilla zumindest drei Vorzüge: Kommunikation wird nicht durch räumliche Trennung beschränkt; das Internet kann nicht eindeutig kartographiert und reglementiert werden, sondern bietet Raum für eine irreduzible Vielzahl von Kommunikationskanälen und -plattformen – administrative und kommerzielle Aneignung ist dadurch nur bedingt möglich; die Gestaltung des Cyberspace hat Prozesscharakter und folgt keinem Netzkonstruktionsplan. Andererseits ergeben sich aus der offenen Struktur des Internets zwei zentrale Probleme für die Nutzer und Netzaktivisten, nämlich einerseits die Orientierung und andererseits die Sichtbarkeit und Auffindbarkeit. Als Techniken für den elektronischen Widerstand der Kommunikationsguerilla, die zugleich Sichtbarkeit für aktivistische Internetnutzung erzeugen sollen, werden neben dem Defacement, u.a. der Virtual Civil Disobedience, d.h. der Versuch, gegen einflussreiche Webseiten zu intervenieren, genannt (vgl. ebd.: 201ff.). Beim virtuellen zivilen Ungehorsam handelt es sich ßer Systeme, ihre Wunden rasch verheilen zu lassen, beträchtlich ist. Und dass große Systeme und subversive Gruppen oft Zwillingsbrüder sind, ja sich gegenseitig hervorbringen.« Mit anderer Intention, aber dennoch Eco implizit bestätigend, weist die autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe (2004) darauf hin, dass »[w]o Macht ist, ist auch Widerstand«.

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um Formen des Internet-Sit-ins bzw. Online-Demos: »So inszenierten die britischen Electrohippies 1999, während der Proteste in Seattle, ein Virtual Sit-in auf der Webseite der Welthandelsorganisation. 400.000 nahmen an der Aktion teil. Grundidee dabei ist, die Webseiten einer Institution oder eines Konzerns mittels einer Denial of Service-Aktion zu blockieren, indem möglichst viele Menschen zu einer vereinbarten Zeit auf diese Seiten zugreifen. Im Idealfall wird so die Seite unerreichbar [Hervorhebung im Original – MSK]« (ebd.: 201).60 Die Medialität des Mediums Internet steht schließlich im Kontext der Diskussion der Möglichkeiten des Open Publishing und der Entwicklung freier Software (vgl. u.a. http://www.oekonux.org/introduction/blotter/index.html). Als Beispiel hierfür wird das Nachrichtennetzwerk der Independent Media Centers (IMC), bekannter unter der Abkürzung Indymedia (http://www. indymedia.de), genannt. Kommunikationsguerilla als Praxisform einer gesellschaftskritischen Medientheorie? »Es ist die neue Form, [...] wie sich die Utopie der Revolution in ein Projekt permanenter lokaler Störaktionen verwandelt« (Eco 2002c: 169).

Diese Bemerkung von Eco, aus dem Jahre 1978, scheint für die Kommunikationsguerilla 25 Jahre später nichts an Bedeutung für eine subversive kommunikative Praxis verloren zu haben: »Wenn es stimmt, dass wir uns im Übergang zur Kontrollgesellschaft befinden, dann könnte es in Zukunft noch wichtiger werden, unser subversives Potential auf der molekularen Ebene schärfer, zielgerichteter zu machen« (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 2003: 104). Diese Fokussierung auf Mikropraxen der Kritik ist v.a. symbolisch und nicht primär diskursiv ausgerichtet, ohne dabei theoretische Kritik durch praktische Subversion ersetzen zu wollen: »Es geht um eine politische Positionierung, die sich nicht auf theoretische Analyse in den Begrifflichkeiten der Soziologie und Kulturtheorie beschränkt, sondern auch in Bildern denkt und Zeichensysteme zu nutzen weiß« (ebd. 104f.). Kommunikationsguerilla hat, wenn auch nur temporär, die Dekonstruktion der sozialen und kulturellen Hegemonie zum Ziel, ohne sich dabei auf ein einziges Angriffsziel und einen einzigen Feind konzentrieren zu können (vgl. ebd.). Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit der Kommunikationsguerilla aber konkret für den medienkritischen Diskurs? Das Konzept Kommunikationsguerilla ist ein Mix aus Ideologiekritik und einer handlungstheoretisch orientierten Theorie der Medienaneignung, deren Referenzpunkte die Arbeiten von Eco und de Certeau sowie implizit die Thesen der Cultural Studies zur kreativen und eigensinnigen Medienre60 Vgl. http://www.fraw.org.uk/ehippies.

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zeption sind. Ausgangspunkt sind hierbei aber zumeist nicht die Medien, sondern eine vorausgehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Kommunikation und Wirklichkeit – hierbei spielen dann andererseits die Medien wieder eine Rolle. Funktionale Analyse der Wirklichkeit der Medien, die jeder Medienkritik und Medienpraxis vorausgehen muss, spielt immer nur im Kontext der Kritik an der konkreten bürgerlichen bzw. kapitalistischen Verwendung der Medien eine Rolle – z.B. hinsichtlich der Kritik am rassistischen Mediendiskurs über Flüchtlinge und Asylbewerber, der Frage nach den Positionen antirassistischer Bewegungen in den Medien sowie der diskursiven Struktur des bundesdeutschen Rassismus und seiner medialen Inszenierung (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/mittlerer neckar 1994; Sonja Brünzels 1999). Auf symbolischer Ebene hingegen, also durch die Verwendung der verschiedenen Techniken der Verfremdung und Überidentifizierungen, hätte die Kommunikationsguerilla das Potential, die zuvor genannten Aspekte einer gesellschaftskritischen Medientheorie umzusetzen – und zwar auf eine, die Theorie produktiv ergänzende und unterstützende Weise. Bleibt (diskursive) Medienkritik zunächst und zumeist nur auf relativ kleine Kreise beschränkt, so kann durch die, wenn auch nur momenthafte, aktivistische Aneignung öffentlicher Räume, viel größere Aufmerksamkeit erzielt werden. Zudem verlangt das Decodieren dieser Kritikform eine große Aktivität des Rezipienten, vorausgesetzt, er bemerkt die symbolische Intervention der Kommunikationsguerilla oder interessiert sich für sie. Eine produktive Vernetzung beider Positionen, um höhere Transparenz und Nachhaltigkeit zu erzielen, müsste ein Verständigungsprozess über die Gegenstände, Maßstäbe, Methoden und Ziele der (Medien- und Gesellschafts-)Kritik vorausgehen. Weiterhin sollte nicht nur über die Kritik der Medien, sondern auch die Medien der Kritik gesprochen werden, also darüber, in welchen Medien sich eine gemeinsame Medienkritik am effektivsten umsetzen ließe (vgl. Kap. 3.2.). Worin bestehen die Schwächen der Kommunikationsguerilla – im Hinblick auf ihre Zuordnung zum Konzept einer gesellschaftskritischen Medientheorie? Zum einen verhindert ihr Theoriemix auf diskursiver Ebene die Ausbildung eines spezifischen Vokabulars bzw. eines originären Analyseinstrumentariums – daher bleiben auch ihre zentralen Begriffe, z.B. Medien, Kommunikation, Guerilla oder Politik letztlich schwammig. Dadurch verlieren ihr Konzept und ihre Aktionen an Profil. Dies beeinträchtigt wiederum deren Transparenz, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit. Zum anderen können diese Aspekte nur verwirklichkeit werden, wenn Kommunikationsguerilla mehr ist als punktuelle symbolische Intervention. Marchart kritisiert dementsprechend (1997: 77) das Konzept Kommunikationsguerilla wie folgt: »Das Ziel einer politischen Intervention kann nur in der dauerhaften Fixierung eines gegenhegemonialen Blocks liegen, und nicht bloß darin, wie Guerilleros auf das Recht zu pochen, einmal im Leben für fünfzehn Minuten an der Macht zu

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sein.« Abgesehen davon, ob die Erlangung hegemonialer Diskursmacht wirklich eines der Anliegen der Kommunikationsguerilla ist, gibt es eindeutige Fixierungen des Konzepts Kommunikationsguerilla, so etwa ihre Texte, ihre Webseite und ihre Aktionen. Dieses Material macht durchaus eine Positionsbestimmung möglich. Allerdings wäre eine, wie im Folgenden beschrieben wird, weitreichendere Fixierung, im Sinne von Vernetzung, notwendig, um dem Konzept Kommunikationsguerilla mehr Durchschlagkraft zu verschaffen. Welche Lektionen kann der medienkritische Diskurs von der Kommunikationsguerilla lernen? (Gesellschafts- und) Medienkritik brauchen einerseits eine Basis. Diese kann nur auf der Mikroebene geschaffen werden, denn Mikropolitik bezieht sich auf jeden Einzelnen ebenso wie auf Kollektive. Allerdings bedarf es zum Wirksamwerden von Mikropolitik und Mikropraxen der bewussten Entscheidung jedes Einzelnen, umfassende Nachhaltigkeit kann (Gesellschafts- und) Medienkritik gleichwohl nur durch die kollektive Arbeit von sozialen, (medien-)politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen usw. Netzwerken erzielen. Makropolitik, insofern diese überhaupt auf der Ebene der (Gesellschafts- und) Medienkritik, wie sie die Kommunikationsguerilla ausübt, das Ziel ist, kann nur von der Basis, die auf der Mikroebene erarbeitet wird, ausgehen. Zweitens, Kritik als theoretischer Diskurs, braucht immer eine entsprechende Praxisform, um sich der Gefahr zu entziehen, in Selbstreferentialität zu verpuffen oder als geduldeter und dadurch normalisierter Aspekt sozialer Wirklichkeit entschärft zu werden – die Indifferenz, mit der letztlich auf (wissenschaftliche) Medienkritik reagiert wird und den marginalen Einfluss, den diese Medienkritik auf die Wirklichkeit der Medien tatsächlich ausübt, ist ein deutlicher Beleg für diese These. Kommunikationsguerilla könnte im positivsten Fall zu einer Wahrnehmungsveränderung sowie zur Entstehung persönlicher Verantwortung und Ausbildung eines spezifischen Ethos bzw. einer Haltung bei jedem Einzelnen beitragen. Durch die Verwirklichung dieser idealtypischen Voraussetzungen, die, wie die Diskussion der Aktionen der Kommunikationsguerilla gezeigt hat, nicht utopisch sind, könnte das Grundproblem aller (Gesellschafts- und) Medienkritik, die Vermittlung und Nachhaltigkeit, zumindest auf der Mirkoebene basal gelöst werden.

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4.3

KAPITEL 4

ZUSAMMENFASSUNG: MEDIEN-HETEROTOPIEN ALS NETZW ERKE ZUR GESTALTUNG ALTERNATIVER MEDIENW IRKLICHKEITEN

»Das Wirkliche kann nicht vom Potenziellen geschieden und auf bloß Tatsächliches reduziert werden« (Whitehead 1987: 415).

Ausgangspunkt in diesem Kapitel war, mit Fokus auf die Themen Medienkompetenzförderung und Medienkritikpraxis, andere Räume der Gestaltung und Nutzung von Medienwirklichkeiten zu konzipieren – und zwar ausschließlich vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion. Bei diesen anderen Räumen bzw. Medien-Heterotopien handelt es sich um Räume der Gesellschafts- und Medienkritik. Insofern haben die Überlegungen zur Medienkompetenz und Kommunikationsguerilla eine medienkritische Ausprägung und sind Weiterführungen der Überlegungen aus dem vorausgehenden Kapitel zur Medienkritik. Wie in den vorausgehenden Kapiteln, verstehen sich die Überlegungen in diesem als eine Werkzeugkiste, die erst durch ihren Gebrauch einen konkreten Sinn bzw. eine spezifische Bedeutung erhält. Die Methoden, Taktiken und Strategien der Kommunikationsguerilla sind Beispiele für konkrete Wege, die von Diskursen zur Praxis führen (können). Zudem können die Prinzipien der Verfremdung und Überidentifizierung als alternative Möglichkeiten sowie Ausdrucksmittel zur Problematisierung gesellschaftlicher und medialer Wirklichkeit in ihrem status quo genutzt werden – und zwar als semiotische und visuelle zugleich. Ziel dieses Kapitels war es, einige konkrete Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Diskurse, der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie, in Richtung (Medien-)Praxis bzw. empirische (Medien-)Wirklichkeit sowie alltägliche Lebenswelt (Mediennutzungswirklichkeit) überführt werden könnten. Zentral hierbei war die Betonung der konstitutiven Interdependenz von Medien und Gesellschaft, denn die Gestaltung von und Kritik an Medienwirklichkeiten erwies sich zugleich als ein Gestalten und Kritisieren von sozialen Wirklichkeiten. Die Vermittlung von Kritik sowie die Gestaltungsideen sind, wie idealtypisch gezeigt wurde, nur durch umfassende Netzwerke unterschiedlichster Akteure sowie Institutionen und Organisationen zu verwirklichen. Im Kap. 4.1. wurde eine genuine Möglichkeit aufgezeigt, wie, ausgehend von der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie, heterotope Räume entworfen werden könnten. Im Kap. 4.2. wurden am Beispiel der Kommunikationsguerilla hingegen bereits existierende heterotope (gesellschafts- und medienkritische) Räume diskutiert sowie kritisiert. In beiden Kontexten wurde die Taktik des Trojanischen Pferdes als Ausgangspunkt gewählt, um die Wirklichkeit der Me-

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dien und der Gesellschaft von innen heraus, mit ihren eigenen Mitteln, aber von einer anderen Basis aus, zu subvertieren bzw. umzugestalten. Die Ansätze der Kommunikationsguerilla legten hierbei den Akzent auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit61, die prägend für die Konstitution der medialen ist. Diese Akzentsetzung muss kritisiert werden, weil man hierzu zwischen Medienwirklichkeit und sozialer Wirklichkeit klar trennen können müsste. Dies ist, zumindest für die hier entworfene gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion nicht möglich, denn der Zusammenhang zwischen Medien und Gesellschaft muss grundsätzlich als Interdependenz beschrieben werden (vgl. Kap. 1., Kap. 2.). In der Auseinandersetzung mit dem Thema Medienkompetenz lag der Akzent zunächst auf der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, indem die mediale Darstellung sozialer Wirklichkeit, am Beispiel der Berichterstattung über den Irak-Krieg und der Reaktionen von Medienpersönlichkeiten darauf, als entscheidende Vermittlungsagenturen sozialer Wirklichkeit, hier der Geschehnisse im Irak sowie von Hintergrundberichten und aktuellen Informationen, aber auch von hierzu einnehmbaren Haltungen beschrieben wurde. Medien und Medienpersönlichkeiten, so die These, prägen entscheidend die transnationale, öffentliche Wirklichkeit des Irak-Kriegs (mit). Die Kritik an dieser Darstellung, als Fallbeispiel für den medialen Umgang mit vergleichbar brisanten gesellschaftlichen Themen, wie Naturkatastrophen oder Terroranschlägen, bestand u.a. darin, dass, auf Seiten der Medienproduzenten, das Aufgreifen sozialer Themen einer Vermarktungslogik entsprach, die diese als reine, aufmerksamkeitsökonomisch erfolgsversprechende Marketingtools nutzten. Den Medienpersönlichkeiten diente ihre Demonstration von Haltung, also ihre Kritik an Bush und dem Irak-Krieg, zu PR-Zwecken, d.h. dem eigenen Celebritiy-Design. Beide Gruppen kamen ihrer Verantwortung gegenüber den Mediennutzern und v.a. der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nicht nach. Diese Aspekte wurden als mangelnde Medienkompetenz von 61 Die permanente Frage, die die Kommunikationsguerilla im Kontext ihrer Ausein-

andersetzung mit dem Internet nach der Bedeutung der Nutzung dieses Mediums für die Existenz der Nutzer außerhalb der Netze stellt, kann zudem als Zurückweisung der Vorstellung, dass es eigensinnige, selbstreferentielle Netzoder Medienidentitäten bzw. -wirklichkeiten gibt, verstanden werden. Andererseits weisen die Überlegungen der Kommunikationsguerilla den Weg, wie gesellschaftskritische Medientheorien das Internet als Medium der Medienkritik, Medienkompetenzförderung sowie zur Gestaltung von Medien-Heterotopien nutzen könnten. Bisher gab es im gesamten Feld gesellschaftskritischer Medientheorien noch keinen einzigen Vorschlag dieser Art. Darüber hinaus hebt die Kommunikationsguerilla hiermit hervor, dass Medienkritik und der Entwurf von Medien-Heterotopien eine multimediale Ausrichtung erfordert, ein sich Einlassen und ein Anwenden aller möglichen zur Verfügung stehenden Medien und Medientechniken. Insofern sind Medienkritik und Medien-Heterotopien nicht nur Gegenstände rationaler oder theoriefiktionaler Diskurse, sondern stets auch Bereiche ästhetischen Schaffens.

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Medienakteuren und Medienproduzenten bezeichnet. Aus dieser Perspektive erschien das vermeintlich verantwortungsvolle sowie informationsbasierte Produzieren und Inszenieren als Taktik, um andere Zwecke zu realisieren und nicht als Selbstzweck, d.h. als verantwortungsvoller Umgang mit der Wirklichkeit des Krieges im Irak sowie der Meinungsbildung der Mediennutzer.62 Es geht in diesem Kontext nicht um die Beantwortung der Frage, welche Produktions- und Diskurslogik legitimer als andere sind. Vielmehr muss immer wieder fallspezifisch entschieden werden, welche Formen der Kommunikation und Darstellung den behandelten Themen angemessener sind. Dass dies bei Themen wie dem Krieg, nicht Sensationalisierung und Skandalisierung sowie das Äußern von Verantwortung als leere Geste sein kann, haben die Ausführungen im Kap. 4.1. verdeutlicht. Im Kontext der Produktion von Medienwirklichkeiten und Mediendiskursen bedeutet Verantwortung das Eingedenken der Bedeutung der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, d.h. der exklusiven Position des permanenten Zugangs zur Produktion von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung (vgl. Kap. 2.2.). Wie bei der Darlegung zu dem, was Medienkompetenzförderung bedeuten kann, wurde im Kontext der Kommunikationsguerilla versucht, die Leser bzw. Mediennutzer konstitutiv in die (gesellschafts- und medienkritischen) Aktionen mit einzubinden und sie nicht als Gegenstände der Unterrichtung im legitimen Mediengebrauch bzw. der Aufklärung und Erziehung zu betrachten. Hiermit wird ein konstitutiver Perspektivenwechsel auf den Rezipienten bzw. Nutzer (von Medien und MedienDiskursen) vollzogen, der große Relevanz für den medienkritischen Diskurs besitzt – aber auch einen wesentlichen Aspekt im Feld der MedienHeterotopien darstellt. Der Leser bzw. Nutzer von Medien und Mediendiskursen ist konstitutiv an der medienkritischen und mediengestalterischen Tätigkeit beteiligt, als Teil umfassender Netzwerke, in die jeder, so er sich überhaupt beteiligen will63, seine Kompetenzen einbringen kann. Andererseits erinnert diese geforderte Einbindung des Lesers bzw. Nutzers an die Verantwortung von Medienwissenschaftlern, Medienkritikern und Medienproduzenten, nicht einer Selbstbeobachtungsfalle (vgl. Kap. 2.3.3.) zu erliegen, d.h. sich allein auf sich selbst zu beziehen und dabei einen ihrer wesentlichen Referenzpunkte, nämlich die Leser bzw. Nutzer, aus den Augen zu verlieren. Medienwirklichkeiten müssen entsprechend 62 Diese Kritik veranschaulicht wiederum die konstitutive Interdependenz von Medien und Gesellschaft bzw. der medialen und sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. 63 Die in dieser Studie entworfene gesellschaftskritische Medientheorie erwartet nicht, dass alle Mediennutzer grundsätzlich an der Reflexion, Kritik und der Gestaltung teilnehmen bzw. diese Aspekte als notwendig erachten müssten. Insofern stellen die Forderungen der einzelnen Kapitel immer nur Angebote, im besten Fall Anregungen und Herausforderungen dar, nicht aber Gebote und Unterweisungen.

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mehr als Medienwirklichkeiten sein, Mediendiskurse mehr als Expertenpost. Um größere soziale Wirksamkeit zu erzielen, müsste die Kommunikationsguerilla das Entstehen zahlreicher KommunikationsguerillaGruppen anregen bzw. die Bildung dieser müsste von ihren Texten ausgehen. Das Gleiche gilt für die hier entworfene gesellschaftskritische Medientheorie: Nur durch einen Zuwachs an Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen, dem Ausbau zahlreicher Netzwerke sowie dem Dialog mit vielen unterschiedlichen Institutionen und Organisationen, können sich die Diskurse dieses Ansatzes nachhaltig gesellschaftlich verankern. Ziel hierbei wäre es, einen möglichst großen öffentlichen Druck auf jene Institutionen, die gesellschaftliche Wirklichkeit maßgeblich produzieren (Politik, Medien, Unterhaltungsindustrie, Wissenschaft, Wirtschaft usw.) zu erzeugen, durch den die jeweiligen Themen öffentlich diskutiert werden müssten und nicht einfach ausgeblendet, marginalisiert oder verharmlost werden könnten. Der gesellschaftlichen Konstruktion von Öffentlichkeit sowie der öffentlichen Konstruktion von Wirklichkeit käme somit allererst wieder die, im Kap. 2.2. herausgestellte, gesellschaftliche Bedeutung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung zu. Dieser Aspekt kann als Herausforderung gesellschaftlicher Wirklichkeit in ihrem status quo durch gesellschaftskritische Medientheorien und deren Medien- sowie Gesellschafts-Heterotopien bezeichnet werden, durch die der Rechtfertigungsdruck gesellschaftlicher Institutionen entscheidend erhöht und demokratisiert werden könnte. Insofern werden in den MedienHeterotopien, die in diesem Kapitel entworfen wurden, keine sozialrevolutionären Phantasien gehegt, aber auch keine Veränderungsresignation, kein Medieneuphorismus, keine funktionale Nüchternheit oder die Kreativität des Handelns als voraussetzungslos gegeben angesehen. Vielmehr wird ein zugleich pragmatisches und utopisches Ziel verfolgt: pragmatisch hinsichtlich der postulierten Notwendigkeit, Diskurs und Praxis miteinander zu vereinen bzw. das (Mit)Gestalten von (gesellschaftlicher und medialer) Wirklichkeit als integraler Bestandteil der diskursiven Arbeit anzusehen; utopisch, weil die Diskurse dieser Studie, bis zu ihrer Institutionalisierung und Praxis-Werdung, Theoriefiktionen und Möglichkeitswelten bleiben. Ein grundlegendes Problem, das sich den vorgestellten Heterotopien im Feld der Medienkompetenzförderung und Kommunikationsguerilla stellte, war die Schwierigkeit, Nachhaltigkeit und soziale Wirksamkeit zu erzeugen: Wie können einzelne, fallspezifische, Aktionen und Aktivitäten mehr sein, als punktuelle symbolische Interventionen? Wie kann es, in der Diktion der Kommunikationsguerilla, zur dauerhaften Fixierung gegenhegemonialer Netzwerke kommen? Die Beantwortung dieser Frage kann allerdings nicht in einer Studie, sondern nur in der (sozialen und medialen) Praxis erfolgen. Mehr als Projektskizzen konnten in diesem Kapitel, das gilt für die gesamte Studie, nicht erstellt werden.

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KAPITEL 4

Was bleibt zu tun, um die in diesem Kapitel vorgestellten Ideen, Wirklichkeit werden zu lassen – zumindest eine Wirklichkeit, deren Basis das Erkenntnisinteresse einer gesellschaftskritischen Medientheorie darstellt? Diese Frage wird im anschließenden Ausblick diskutiert.

5. A U S B L I C K : Z U R M Ö G L I C H K E I T U N D W IRKLICHKEIT EINER GESELLSCHAFTSKRITISCHEN MEDIENTHEORIE ALS THEORIEFIKTION UND HETEROTOPIE Bücher erzählen nicht nur Geschichten, sondern sie haben Geschichten, die ihnen vorausgehen. Im Fall dieser Studie waren das zumindest zwei Geschichten: die der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien und die postmoderner bzw. poststrukturalistischer Diskurse. Erstere bestimmte das Erkenntnisinteresse, die Untersuchungsgegenstände und -hinsichten, letztere wesentlich die Methode sowie das Wissenschaftsund Theorieverständnis. Beide Geschichten wurden miteinander in einen Dialog gebracht, um die mediale Konstruktion sozialer Wirklichkeit aus einer, im Vergleich zu bisherigen sozial- und medienwissenschaftlichen Ansätzen, alternativen Perspektive zu diskutieren. Die Überlegungen wurden hierbei v.a. von einem medienkritischen und medienpraktischen Interesse geleitet. Zentral war die Überlegung, dass Kritik und Praxis sich nur durch die Konfrontation mit spezifischen Ereignissen, Erfahrungen und Gegenständen konstituieren können, also keine reinen Diskurswirklichkeiten darstellen sollten, die allgemeingültige Aussagen und typische Praxisformen produzieren. In diesem Kontext wurde zudem auf die Notwendigkeit verwiesen, Diskurs und Praxis miteinander zu vereinen bzw. das Mitgestalten gesellschaftlicher und medialer Wirklichkeit als integralen Bestandteil der diskursiven Arbeit zu fordern. Ziel hierbei war es, im Sinne Foucaults (1997a: 269), Imaginationsarsenale zur Gestaltung von anderen Räumen bzw. Medien-Heterotopien zu präsentieren, die sich einerseits als Herausforderungen an alltägliche Medienwirklichkeiten und Mediennutzungswirklichkeiten verstehen. Andererseits Werkzeuge für diejenigen darstellen, die Medienwirklichkeiten diskursiv sowie handelnd verändern wollen, sei es als semiotischer Widerstand bzw. kommunikative Militanz, wie im Fall der Kommunikationsguerilla, oder hinsichtlich der Umsetzung der Vorschläge zur Medienkompetenzförderung am Beispiel der Krisenkommunikation im Fernsehen. Der Versuch, Diskurs und Praxis miteinander zu verbinden, stellt, zumindest

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prinzipiell, eines der gemeinsamen Grundinteressen der Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien dar – wenngleich es nur vereinzelte Versuche gab, diesen Anspruch auch umfassend zu verwirklichen. Ein Anliegen der vorliegenden Studie bestand daher im Versuch, die Notwendigkeit dieser Verbindung an zahlreichen Beispielen zu diskutieren und den Weg zu ihrer Praxis-Werdung, zumindest idealtypisch, vorzubereiten.1 Den Maßstäben der Kritik und den Gestaltungsideen für mögliche Medienpraxen (Medien-Heterotopien) wurde in dieser Studie ausschließlich eine zeitbedingte und kontextrelative Gültigkeit zugeschrieben. Die Konstitution von Medienkritikwirklichkeiten, die konkrete Veränderung von aktuellen und der Entwurf von möglichen (zukünftigen) Medienwirklichkeiten erfordern zeitgemäße und sachadäquate Werkzeuge, die keinen Anspruch auf unmittelbare, sondern höchstens auf studienspezifische Legitimität und Verbindlichkeit erheben (können) – etwa hinsichtlich der Stringenz und Plausibilität der Argumentation. Insofern versteht sich diese Studie auch nicht als eine Universaltheorie zum umfassenden Erklären und Verstehen von Medienwirklichkeiten. Die Ausarbeitung einer studienspezifischen Methode, die als Theoriefiktion bezeichnet wurde, eines zumindest heuristischen Medien- und Gesellschaftsbegriffs sowie die Analysen zum Medienkonstruktivismus, stellten die diskursive Basis dar, ohne die die medienkritischen und medienpraktischen Entwürfe dieser Studie nicht durchzuführen waren. Der theoriefiktionalen Ausrichtung entsprechend, kann ihr wissenschaftlicher Anspruch mit Foucaults (1978e: 216) Metapher von der Theorie als Werkzeugkiste beschrieben werden: »Theorie als Werkzeugkiste – das soll heißen: – dass es darum geht, nicht ein System, sondern ein Instrument zu konstruieren: eine den Machtverhältnissen und den um sie herum ausbrechenden Kämpfen angemessene Logik; – dass […] [die] Untersuchung nur nach und nach, ausgehend von einer […] Reflexion auf gegebene Situationen vonstatten gehen kann [Hervorhebung im Original – MSK].« Die Ansätze dieser Studie stellten entsprechend Instrumente und Bausteine dar, um die diskursiven Grundlagen der hier entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorien als Theoriefiktion vorzustellen, deren Untersuchungsfelder zu kartographieren und ihre Handlungsmöglichkeiten zu skizzieren. Die Geschichtsschreibung der vorliegenden Studie identifizierte die Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien, als eine Tradition ohne Traditionsbewusstsein, erstmals in einem systematischen Zusammenhang, und zwar, indem sie, beginnend bei Marx und Schäffle (vgl. Kap. 2.2.1.), circa hundertsechzig Jahre Diskursgeschichte in den Blick nahm.2 1 2

Beispiele und Vorschläge für diese Veränderungen finden sich im Kap. 2.2, Kap. 2.3, Kap. 3.3, Kap. 4. Der Bezug zur Tradition gesellschaftskritischer Medientheorien war in dieser Studie aber nur der Ausgangspunkt, um eigensinnige Akzentsetzungen vorzu-

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Insofern verstanden sich die Analysen v.a. als Diskursanalysen von Medientheorien sowie Medienkritiken. Leitend war hierbei die Überzeugung, dass die Wirklichkeit der Medien zunächst und zumeist die Wirklichkeit der Diskurse über Medien ist und diese als konstitutive Referenzsysteme der sozialen und individuellen Konstruktion medialer Wirklichkeiten fungieren. Weiterhin, dass das Verhältnis von Medien und Gesellschaft sowie sozialer und medialer Konstruktion von Wirklichkeit, nur als Interdependenz beschrieben und somit kein Hierarchieverhältnis zwischen diesen beiden Wirklichkeiten festgestellt werden kann. Was allerdings unterschieden werden konnte, waren einerseits verschiedene Akzentsetzungen, entweder auf die soziale oder die mediale Konstruktion von Wirklichkeit. Andererseits Grenzen medialer Inszenierungslogiken, etwa hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Themen wie Krieg oder Arbeitslosigkeit (vgl. Kap. 2.3, Kap. 4.1). Die konstitutive Bedeutung, die den Medien als zentralen Agenturen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und von Selbstverständigungsdiskursen zugeschrieben wurde, resultierte in der normativen Erwartungshaltung an die mediale Konstruktion von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, von der, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie, autonome Meinungs- und Willensbildungsprozesse ausgehen müssen, und ohne die Demokratien nicht funktionieren können, weil sie auf eine Gemeinschaft emanzipierter Bürger angewiesen sind (vgl. Kap. 2.2.1, Kap. 3.1, Kap. 3.3). Gefordert wurde in diesem Kontext einerseits, eine verantwortungsvolle Konstruktion von Wirklichkeit auf Seiten der Medienproduzenten und Medienakteure, dies aber andererseits auch auf Seiten der Mediennutzer, weil, wie die Ausführungen zu Berger und Luckmann (vgl. Kap. 1.3) gezeigt haben, jedes Gesellschaftsmitglied an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt ist. Schmidt (2005: 30, 39) weist in seinen Standortbestimmungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der Medienkritik entsprechend auf eine Renaissance der Verantwortung hin, die nicht moralisch motiviert, sondern medienpraktisch und erkenntnistheoretisch begründet ist: »Wenn wir Menschen durch unser Operieren das entstehen lassen, was wir als wirklich bzw. als Wirklichkeiten behandeln, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Verantwortung für unsere Wirklichkeiten zu übernehmen, weil deren Geltung nicht mehr durch ›die Wirklichkeit‹ gedeckt ist. [...] Und diese Verantwortung ist eine höchst riskante Vorleistung – man weiß nie genau, was noch alles im Anschluss an unser Handeln passieren wird. [...] Wenn uns die Wirklichkeit die Verantwortung nicht abnimmt, weil wir erkannt haben, dass wir selbst als Maß unserer Wirklichkeiten dienen, dann gibt es für keinen am Medienpro-

nehmen, also eine spezifische gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie zu entwerfen. In den jeweiligen Kapiteln wurden diese Akzentsetzungen und -verschiebungen entsprechend hervorgehoben.

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zess Beteiligten einen Rückzug aus der Verantwortung für diese Wirklichkeiten [Hervorhebung im Original – MSK]« (vgl. Kammann 2005: 384).

Verantwortung fasst Schmidt als ein Entscheiden über Entscheiden auf. Als Kritikmaßstab für die Auseinandersetzung mit den Medien kommt der Verantwortung, so Schmidt, eine große Bedeutung zu, weil Medien eine umfassende soziale Definitionsmacht besitzen, indem sie ununterbrochen Orientierungswissen und Identitätsmuster zur Verfügung stellen. Dieser Befund setzt die Medienmacher einem kontinuierlichen Handlungs- und Entscheidungsdruck aus. Die Verantwortung der Verantwortlichen wird somit zu einem zentralen Thema sowohl der Medienkritik, als auch der Medienpraxis. Schmidt hebt hervor, dass die Programmverantwortlichen, durch diese Fokussierung auf ihre Verantwortung, nicht mehr alle Produktion allein durch ökonomische Kriterien rechtfertigen oder als Reaktionen auf Nutzerbedürfnisse beschreiben können. Nicht nur für die Medienproduzenten ist Verantwortung die zentrale Kategorie ihres Handelns, sondern dies gilt auch für die Medienkritiker und die Mediennutzer. Erstere müssen sich immer wieder von neuem auf die Gegenstände ihrer Kritik einlassen und diese nicht mit einem statischen Inventar von Kritikmaßstäben beurteilen. Zudem muss der Medienkritiker verantwortlich handeln, weil er jemand ist, der sich öffentlich äußert und am agenda setting teilnimmt. Die Mediennutzer sind für ihre Mediennutzungen verantwortlich und tragen somit auch zur Konstruktion von Medienwirklichkeiten bei. Wenn diese Voraussetzungen zur verantwortungsbewussten Konstruktion und Nutzung sozialer und medialer Wirklichkeiten geschaffen wären, könnten die Medien, im Sinne Schwans (2006: 21ff.), als generalisierte Vertrauensunternehmer fungieren: »Für mich sind Medien – und vor allem das Fernsehen – […] generalisierte Vertrauensunternehmer, […], die uns über den Bildschirm den Handlungs- und Erfahrungsraum des fremden Anderen zugänglich machen. […] [D]iese Vertrauensunternehmer sind dazu angehalten, dem Zuschauer ein so wahrheitsgetreues Bild der Wirklichkeit wie irgend möglich zu liefern. Doch eine Chance, zu überprüfen, ob die Medien diesem Anspruch nachkommen, hat der Zuschauer in den seltensten Fällen. Er ist darauf angewiesen, die ihm gezeigten Bilder als wahr oder aufrichtig hinzunehmen. Dazu muss er den Medien vertrauen. Und dieses Vertrauen beruht nicht auf persönlicher Kenntnis des anderen, sondern muss abstrakt und quasi als Vorschuss erteilt werden, wobei gerade in der Medienkommunikation stets klar ist, dass dieses Vertrauen missbraucht und zur Manipulation benutzt werden kann. Das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der Medienkommunikation ist zum Steuerungsmedium für die gesellschaftliche Koordinierung sozialen Handelns geworden: Nur, weil der Zuschauer glaubt, was ihm die Medien berichten, handelt er so, wie er handelt. Niklas Luhmann bezeichnet deswegen Vertrauen als ›allgemeinen Mechanismus zur Reduktion sozia-

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ler Komplexität‹: Da ich darauf vertrauen kann, was die Medien mir über die Welt berichten, muss ich mir die Welt nicht noch einmal selbst erschließen.«3 Dieses Vertrauen in die Medienproduzenten und Medienproduktionen, als notwendige Folge der überwiegenden Fremdvermittlung4 von Welt-, Gesellschafts- und Medienwissen (vgl. Kap. 1.), darf, aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie, nicht die Notwendigkeit der permanenten (individuellen und professionellen) Problematisierung medialer Wirklichkeitskonstruktionen, also deren kontinuierliche Kritik und Kontrolle, aus dem Blick geraten lassen, auch wenn dies zu einer Potenzierung von Komplexität beiträgt.5 Nicht jeder Mediennutzer kann und will diese Aufgabe erfüllen bzw. betrachtet sie als notwendig oder überhaupt sinnvoll. Daher müssen, aus der Perspektive der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie, Kritik- und Kontrollinstitutionen sowie -akteure, wie z.B. die wissenschaftliche(n) und journalistische(n) Medienkritik(er), Landesmedienanstalten (LMA), Kirchenverbände, die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die Initiative Nachrichtenaufklärung, der Presserat, die Mainzer Tage der Fernseh-Kritik oder die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), die sich aus einem professionellem Interesse dieser Aufgabe widmen. Der Öffentlichkeit müssten von diesen Akteuren und Institutionen, an aufmerksamkeitsökonomisch prominenten Stellen, kontinuierlich Medienkritiken bzw. Kontrollberichte zur Verfügung gestellt werden, die die kritisierten oder sanktionierten Fälle ausführlich diskutieren, die Maßstäbe der Kritik offen legen und zeigen, warum die Kritik bzw. Sanktionierung von Medienwirklichkeiten von gesellschaftlichem Interesse ist. Dies wären Voraussetzungen, um die 3

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An dieser Stelle muss die Verwendung des Begriffs der Wahrhaftigkeit und das von Schwan skizzierte Medienwirkungsmodell nicht nochmals problematisiert werden (vgl. hierzu das Methoden-Kapitel, Kap. 1., Kap. 3.). Andererseits ermöglicht es der Medienpluralismus, dass jeder, zumindest in westlichen Demokratien, die Möglichkeit besitzt, durch Nutzung der zur Verfügung stehenden unterschiedlichsten (nationaler und internationaler) Medienangebote, Informationen aus vielfältigen Quellen zu beziehen und dadurch heterogene Perspektiven betrachten und zwischen ihnen, mit den Mitteln seiner Urteilskraft und auf der Basis seines kulturellen bzw. symbolischen Kapitals, unterscheiden zu können, also eine eigenständige Urteilsbildung, also einen autonomen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu erzielen. Allerdings schränkt das Mediensystem diese von ihm, wenn auch fast ausschließlich nur aus einem wirtschaftlichen Interesse erzeugte Vielfalt, selbst erheblich ein, indem Medienproduktionen durch eine konstitutive Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet sind, d.h. Medien sich zumeist auf andere Medienberichte und -formate beziehen, also prinzipiell in einer Selbstbeobachtungsfalle stecken (vgl. Kap. 2.3, Kap. 3.3). Dies gilt auch für medienkritische Akteure und Institutionen der Medienkritik, weil sie sich mit ihren Produktionen zumeist ausschließlich an eine Expertenöffentlichkeit richten bzw. nur diese durch ihre Produktions- und Vermittlungsformen ansprechen. Die Gründe für die studienspezifische Betonung der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Medienkritik wurden im Kap. 3. ausführlich dokumentiert.

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Transparenz der Arbeit medienkritischer Institutionen sowie die Aufmerksamkeit für und Anschlussfähigkeit an diese (potentiell) zu erhöhen. Auch wenn bei Mediennutzern das Interesse an Medienkritik nicht prinzipiell vorausgesetzt werden kann, so müssen die medienkritischen Institutionen und Akteure gerade deshalb versuchen, die Stimme der Nutzer konstitutiv mit in ihre Diskurse und Handlungen einzubinden, ebenso wie sie den Dialog mit Medienproduzenten und der Medienpolitik ausbauen müssen. Weiterhin sollten sich medienkritische Institutionen und Akteure um eine umfassende Vernetzung bemühen, damit ihre Themen, durch arbeitsteilige Kooperationen, umfassender und öffentlichkeitswirksamer behandelt werden können. Dies könnte wiederum die kritisierten Medienproduzenten und Medienunternehmen (idealtypisch) unter einen größeren öffentlichen Rechtfertigungsdruck setzen, weil u.a. Imageschäden Nutzungsgewohnheiten beeinflussen (können) und dadurch Aufmerksamkeitsverluste bewirkt werden. Netzwerkbildung sollte aber nicht nur auf nationaler Ebene stattfinden, sondern gleichzeitig müssen internationale Diskurs- und Interaktionsgemeinschaften initiiert werden, um einerseits die weltgesellschaftliche Bedeutung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit vergleichend zu diskutieren und dadurch eigene Positionen und Strategien zu überdenken. Andererseits, um die Kritik und Kontrolle der Konstruktion von medialen Wirklichkeiten, gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache, mit nationalen und globalen Akzentsetzungen sowie unterschiedlichen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereichen, zu machen. Zum Ausbau der in dieser Studie entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie, müssten weitere zentrale Gegenstandsbereiche, wie Kultur, Politik, sozialer Wandel, soziale Konflikte, soziale Ungleichheit oder Globalisierung, ausgehend von der hier ausgearbeiteten theoretischen Basis, eigensinnig erforscht werden. Andererseits müssten konkrete Praxisformen konzipiert und umgesetzt, also nicht nur Diskursproduktionen und Netzwerkbildungen vorangetrieben, sondern auch über eigensinnige Medienproduktionen und die Gründung von Medienunternehmen nachgedacht werden. Weiterhin müssten die analytischen Potentiale der hier entworfenen gesellschaftskritischen Medientheorie an zahlreichen Fallanalysen demonstriert werden. Zudem spielt die Institutionalisierung dieses Ansatzes im Feld universitärer Studiengänge, die sozial- und medienwissenschaftliche Medienforschung betreiben, in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt hängt der Ausbau dieses Ansatzes einerseits von der Vernetzung mit anderen medienkritischen Akteuren und Institutionen sowie andererseits mit Medienproduzenten ab. In Zeiten, die für nachhaltige Medienkritik allerdings schlecht sind, macht die in dieser Studie entworfene gesellschaftskritische Medientheorie als Theoriefiktion und Heterotopie auf eine Überlegung von Deleuze

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(1993: 256) aufmerksam, die den Weg für das Wirklich-Werden dieses Ansatzes metaphorisch skizziert: »Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.« Eine vergleichbare Intention, allerdings mit Fokus auf die Mediennutzung, scheint McLuhan (2001: 241) zu verfolgen: »Statt sich in eine Ecke zu verkriechen und darüber zu jammern, was die Medien mit uns anstellen, sollte man zur Attacke blasen und ihnen direkt in die Elektroden treten. Sie brauchen das und werden so schnell zu Dienern statt zu Herren.« Dieser Attacke muss eine, wie McLuhan (ebd.) betont, grundlegende Kenntnis der Medienwirklichkeiten und Medientechniken vorausgehen. McLuhan legt hierbei allerdings den Akzent auf die Medientechniken, also die mediale Konstruktion von Wirklichkeit. Die von ihm anvisierte Medien-Attacke ist zugleich eine gegen die Mediennutzer und Medienkritiker, die sich auf die Eigensinnigkeit medialer Umwelten einlassen müssen und diese nicht aus den Rückspiegeln der Diskurs-Geschichte (allein) begreifen dürfen. Auf dieser Grundlage könnte es, aus der Perspektive von McLuhan, allererst zu eigensinnigen Mediennutzungen kommen. Hiermit weist McLuhan, zumindest implizit, auf die Interdependenz von Medien und Gesellschaft bzw. medialer und sozialer Konstruktion von Wirklichkeit hin. Dies ist einerseits ein bisher kaum wahrgenommenes, frühes Dialog-Angebot von Seiten der Medienwissenschaft(en), z.B. an sozialwissenschaftliche und pädagogische Medienforschung. Andererseits ein von den Medienwissenschaft(en) in ihrer Auseinandersetzung mit der Medientheorie von McLuhan häufig übersehener Aspekt. Mit diesem Fundstück sollte vorausblickend noch einmal auf den notwendigen Dialog zwischen sozial- und medienwissenschaftlicher Medienforschung hingewiesen werden. Die Produktivität dieses Dialogs veranschaulicht der bereits (ansatzweise) begonnene zwischen einer gesellschaftskritischen Medientheorie als Theoriefiktion sowie Heterotopie und einer wohldefinierten Medienwissenschaft (vgl. Kap. 3.4). Damit, im Sinne von Deleuze, immer wieder neue Waffen (der Kritik und zur Veränderung des gesellschaftlichen sowie medialen status quo) gefunden und effektiv eingesetzt werden können, müssen vielfältige Schlachtpläne und Strategien entworfen sowie gemeinsame Heere gefunden werden. Der Diskurs über die Schlacht und die Techniken der Kriegsführung allein, ist, wie in dieser Studie gezeigt wurde, zwar eine Kunstfertigkeit, die sich ohne Kampferfahrung bzw. Kampfpraxis aber nicht vollenden kann. Kritik der Medien und Medien der Kritik, Diskurs und Handlung, müssen eine Liaison eingehen, ohne die sie keine Zukunft haben.

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Marian Adolf Die unverstandene Kultur Perspektiven einer Kritischen Theorie der Mediengesellschaft Juli 2006, 290 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-525-1

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Karin Lenzhofer Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien Januar 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-433-6

Ruth Mayer Diaspora Eine kritische Begriffsbestimmung 2005, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-311-9

September 2006, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-394-1

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Cultural Studies Johanna Mutzl »Die Macht von dreien ...« Medienhexen und moderne Fangemeinschaften. Bedeutungskonstruktionen im Internet 2005, 192 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-374-7

Kien Nghi Ha Hype um Hybridität Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus 2005, 132 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 3-89942-309-7

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2005, 162 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-337-2

Gerhard Schweppenhäuser »Naddel« gegen ihre Liebhaber verteidigt Ästhetik und Kommunikation in der Massenkultur 2004, 192 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-250-3

Christoph Jacke Medien(sub)kultur Geschichten – Diskurse – Entwürfe 2004, 354 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-275-9

Birgit Richard Sheroes Genderspiele im virtuellen Raum 2004, 124 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN: 3-89942-231-7

Brigitte Hipfl, Elisabeth Klaus, Uta Scheer (Hg.) Identitätsräume Nation, Körper und Geschlecht in den Medien. Eine Topografie 2004, 372 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-194-9

Kerstin Goldbeck Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung Die Fernsehkritik und das Populäre 2004, 362 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-233-3

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Cultural Studies Ruth Mayer, Brigitte Weingart (Hg.) VIRUS! Mutationen einer Metapher 2004, 318 Seiten, kart., 26,00 €, ISBN: 3-89942-193-0

Rainer Winter, Lothar Mikos (Hg.) Die Fabrikation des Populären Der John Fiske-Reader 2002, 374 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-65-3

Ulrich Beck, Natan Sznaider, Rainer Winter (Hg.) Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung 2003, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-172-8

Jannis Androutsopoulos (Hg.) HipHop Globale Kultur – lokale Praktiken 2003, 338 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-114-0

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