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German Pages 394 Year 1993
JOHANNES R. GASCARD ·
MEDEA~MORPHOSEN
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 24
Medea-Morphosen Eine mytho-psychohistorische Untersuchung zur Rolle des Mann-Weiblichen im KulturprozeH
Von Johannes R. Gascard
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Gascard, Johannes R.:
Medea-Morphosen : eine mytho-psychohistorische Untersuchung zur Rolle des Mann-Weiblichen im Kulturprozess I von Johannes R. Gascard.- Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Sozialwissenschaftliche Schriften ; H. 24) Zug!.: Berlin, Freie Univ., HabiL-Sehr., 1993 ISBN 3-428-07631-1 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-07631-1
Vorwort Medea-Faszination heute Im Schlußbild von Euripides' "Medea" von 431 v. Chr. erscheint diese, nachdem sie die zukünftige Braut ihres Mannes Jason und ihre eigenen Kinder umgebracht hat, triumphierend mit den Kinderleichen auf einem Drachenwagen in der Luft, Jason ein schmähliches Ende unter den Trümmern seines einst glorreichen Schiffs und nunmehrigen Wracks Argo voraussagend. Nachdem es um diese rachsüchtig-triumphierende Geliebten- und Kindermörderin lange Zeit eher still gewesen ist, erscheint die Gestalt der Medea in unserem Jahrhundert erneut gleichsam auf ihrem Drachenwagen in der Luft. Eine derartige Epiphanie wird unweigerlich in der Literatur eher verspürt als von der Wissenschaft analysiert. Dementsprechend gibt es bisher zwar bereits eine beachtliche Anzahl von zeitgenössischen literarischen "Medeen"- zunächst nur von männlichen, 1 neuerdings aber auch von weiblichen Autoren 2 - , jedoch noch keine tiefergehende wissenschaftliche Durchdringung des Phänomens. 3 Anliegen dieser Schrift ist es daher zu zeigen, daß und warum das Thema "Medea" heute tatsächlich wieder in der Luft liegt- das zeitgenössische literarische Erspüren insofern also durchaus auf der richtigen Fährte ist - , und nach den iieferen sozio-psychoanalytischen Gründen für diese erneute Relevanz der rachsüchtig-triumphierenden Medea-Gestalt zu fragen, sowie schließlich nach der voraussichtlichen Richtung, die ihr Drachenwagen wohl diesmal nehmen wird. Als übergreifender methodologischer Ansatz bot sich dabei die Mytho-Psychohistorie an, die am roten Faden der Wandlungen des Medea-Mythos entlang, I Siehe etwa die Medea-Dramen von Hans H. Jahnn von 1926, J. Anouilh und R. Jeffers von 1946, den Argonauten-Roman "The Golden Fleece" von R. v. Ranke-Graves von 1944, den Medea-Film von P. P. Pasolini von 1969, das Kinder-Stück "Medeas Kinder" von P. Lysander von 1975, H. Müllers "Medea-Material" von 1983, G. Taboris ,.M" von 1985, sowie F. Döhls Oper ,.Medea" von 1989 I 90. 2 S. etwa L. Kaschnitz' Hörspiel ,,Jasons letzte Nacht" von 1962, U. Haas' ,,Freispruch für Medea" von 1987 (1990 von Rolf Liebermann teilweise als konzertantes Drama vertont), sowie D. Nicks "Medea, ein Monolog" von 1988. 3 Olga Rinnes "Medeas Recht auf Zorn und Eifersucht" von 1988 kann in diesem Zusammenhang allenfalls als ein erster Schritt betrachtet werden.
6
Vorwort
oder wie es hier heißen soll anband der "Medea-Morphosen", eine sozio- und individualpsychologische Aspekte verbindende, tiefenpsychologisch fundierte Analyse des kulturhistorischen Verlaufs der Geschlechterbeziehung in Antike und Abendland entstehen ließ.
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die Empörung der zeitgenössischen Frau . . ... . . . . . .. . . . . . .. . . ... .. . . . . .
13
Erster Teil
Theorienübersicht I. Relevante sozio-psychologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1. Feminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
2. Freud . .............. . ........ . ........... ... ...... ...... .. ....... .......... ...... ..
17
3. Adler.......................... . .. ...................... ............... . ....... . ...
20
4. Horney, Jones . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . ... ... .. . . . .. . . . . . . . . .. ... .. . ... . .. . .. . . . . .. ... .
21
5. Heutige psychoanalytische Theorien .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ....
23
6. Die Ergebnisse der foetalen Hormonforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
- eine sozio-psychodynamische Theorie des Geschlechterverhältnisses . . . .. .. . .. . .. . . . .. . . . . . . . .. .. . .. . .. . . . . . .. .. .. . .. . .. .. .. . . . . . . . . . . .. . .
32
8. Die psychohistorische Entwicklungstheorie Erich Neumanns . . . . . . . . . . . . . .
33
Il. Die ,,Empörung der Medea" als ein Hauptsymptom der Krise unseres Spätpatriarchats .. .. . .. . . . .. . .. .. . . . . .. . .. .. . . .. .. . .. . .. .. . . .. . .. .. . .. .. . .. .. . . . . . . . . . . . . . .
37
1. Der Medea-Mythos als psychohistorischer Leitfaden der Untersuchung
38
7.
Ges~~ht_
Zweiter Teil
Medea-Morphosen in der Antike A. Medea als die weibliche Wandlungsgestalt des antiken Kulturverlaufs
43
B. Die Medea des Euripides und ihr mytho-psychohistorischer Hintergrund . . . .
43
C. Etymologie des Wortstammes med ........................ ........ .. .. .... .. .... ..
47
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen .... .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. ..
48
I. Medea als matemale Stadtgöttin Korinths ........................ :.. .. .. ..
48
1. Die Transzendenz des Maternats durch den Mutter-Sohn .. . .. .. .. ..
52
2. Die Transzendenz des Maternats durch die Mutter-Tochter . . . . . . . . .
56
3. Der Demeter-Kore-Mythos .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
58
8
Inhaltsverzeichnis II. Medea als königliche Vater-Tochter in Korinth
61
1. Die kulturelle Fruchtbarkeit des Barbarischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
III. Medea als lunare Zauberin in der mykenischen Heldenzeit . . . . . . . . . . . . .
64
1. Der Heldenmythos als Brücke zwischen Helden- und Ritterzeit . . . .
67
2. Die Fakten des Argonauten-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
3. Ent-Fremdung Medeas nach Aia .. .. . . . . . . . . . . . . .. ... .. .. .. . .. .. . .. . . . .
70
4. Das Goldene Vließ als Symbol unabhängiger Männlichkeit .. . . . .. ..
71
5. Der Drache als Symbol kämpferischer Weiblichkeit . . ... . .. . . . . . . .. .
74
6. Der Traum der Medea .. .. .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .
79
IV. Medea als un-heimliche Hexe im Frühpatriarchat .... .. .. .. .... .. .. .. ....
84
1. Erfolgloser Empörungsversuch .. . .. . .. .. . .. . .. .. . . . . .. . . .. . .. . . .. . .. .. .
87
V. Der Medea-Komplex im Hochpatriarchat .. ...... .. .. .... .. .. .. .. .. .... .. .
89
1. Die hochpatriarchale Frau als schweigende Kultur-Trägerin .. ... .. .
90
2. Pindars Medea .. . .. . . . . .. .. . .. . . .. .. .. . .. . .. . .. . .. .. .. . . .. .. . . . . . . .. . .. .. .
92
3. Die hochpatriarchale Realität der Medea-Frau ...... .. .. .... ... ...... .
93
4. Definition des Medea-Komplexes .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. . .. . .. .. .. .. .. ..
96
5. Die Symptome des Medea-Komplexes .............................. ..
99
6. Verdeckte Racheübertragung auf die Kinder .... .. . .. .. .. .. .. .. .......
102
VI. Die erfolgreiche Empörung der Medea im Spätpatriarchat . . . . . . . . . . . . . .
107
1. Die Selbst-Demontage des Hochpatriarchats .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. ..
108
a) Das Entgegenkommen in der mittäglichen kulturellen Wendezeit
llO
2. Die Emanzipation der griechischen Frau .. .. ...... .. .. .. .... .. .. .. .. ..
115
3. Die Emanzipation der römischen Frau .... . .. .... .... .. .. .. .... .... .. ..
120
a) Der II. Punische Krieg als Wende zum römischen Spätpatriarchat
124
b) Die Aufhebung der Lex Oppia .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. ..
128
4. Verwirklichung des "Traums der Medea" jetzt? . .. .. .. .. .. .. .. .. .. ...
133
a) Unfruchtbare "Stockung" .. .. .. ... .. .... .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. ...
134
b) Vergebliche Restaurationsversuche der Guten Alten Zeit .. .. .. ..
137
VII. Medea als Bona Dea im Rahmen der ,,Zweiten Kindheit" . .. . .. .. .. .. ..
143
1. Caesarismus als erneute Landeskindschaft ...... ............... .... ...
145
a) Brot und Spiele als Danaer-Geschenk .. ...... .. .............. ... .. .
147
b) Die Philosophie des "ohne mich" .. .... .... .. .... .. .. .. ..... .. .. .. ..
150
c) Finales Amusement . .. .. . .. . . . .. . .. .. . .. . .. . .. ... .. . . . .. .. . . . . . .. .. . .
152
2. Kindliche ,,religio" zur Großen Mutter .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. . .. . ..
154
a) Vom Wissen zum Glauben .... .. .. .. .. .. .......... ...... .. .... ... .. .
157
b) Die Rückkehr der Göttinnen .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .
163
c) Muttergöttin gegen Mutterlosigkeit .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
165
Inhaltsverzeichnis
9
3. Bona Me-Dea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Ovids Medea als barbarisch-wirkmächtige Wandlungsgestalt . . . 170 b) Erneuernde Wandlung in der mitternächtlichen kulturellen Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 c) Steigemde Wandlung der religio zum Christentum ...... . . . . . . . . . 175 d) Begeisterung der Medea-Frauen für das Christentum . . . . . . . . . . . . 178 e) Asketische Übermoral gegen emanzipatorische Unmoral . . . . . . .. 180 f) Vollendung und Aufhebung der Emanzipation . . . .. . . . .. .. . . . . .. .. 183 VIII. Zwischenbilanz . . . . .. . . . . .. . .. . .. . .. . . .. .. . .. .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . .
186
Dritter Teil
Medea-Morphosen im Abendland A. Übereinstimmungen und Unterschiede . . . . .. ... .. . . . . .. . .. . .. .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . .
188
B. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . .
189
I. Die Medea-Frau im Anarchat . . . . . ......... . . . . . . . . . .. . ... .. . .. . . . . . . . .. . .. .
189
li. Die Medea-Frau im "Dark Age" . ... ........ . . . . . . . . . . . .. .. .. . . . . . . .. . . . . . . 192 1. Traum der Medea li . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Die frühmittelalterliche Frau als Nonne, Grundbesitzerin und Herrseherin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. "Weg vom Fenster" ab dem Hochmittelalter . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . 203 111. Die Medea-Frau im Frühpatriarchat.. ... . . . . . . . . . . . . .. .. . . . .. .. .. . . . . . .. . . . 1. Der abendländische Drachenkampf-Mythos . . . . .. . . .. . .. .. .. . . . . . . . . . . a) Der St. Georgs-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Christliche Askese und Abwertung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gotisch-scholastische Spaltung des Frauenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Praktische Verschlechterung der Stellung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . e) Faustische Scheinlösungen der gotischen Repression . . . . . . . . . . . . . 2. Häretische Empörungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hexen-Identifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prä-Naissance der Virago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Medea-Frau auf dem Scheiterhaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die spätmittelalterliche Hexen-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Psychodynamik des Hexenwahns . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . c) Die Unzeitgemäßheil der Medea-Sagas . .. .. . .. .. .. .. . . . . . . .. .. . . . .
205 206 210 212 213 220 222 226 230 232 235 236 239 245
IV. Die Medea-Frau im neuzeitlichen Hochpatriarchat .. ... .. .. . . . . .. . . .. . . . . 1. Absoluter Patriarchatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Modemes Weltbild und Hexenjagd .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . b) Calvinistischer Puritanismus als Motor der neuzeitlichen Weltmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Comeilles Medea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246 248 251 253 257
10
Inhaltsverzeichnis 2. Der Medea-Komplex II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Rousseau als Ideologe der natürlichen Inferiorität der Frau . . . . . 258 b) Die Ideal-Frau als Heimchen am Biedermeier-Herd . . . . . . . . . . . . . . 260 c) Die Symptome des Medea-Komplexes . . . . .. ... .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . 263 d) Die Verhexung der Mutterbeziehung . . . ..................... .". . . . . . 266 e) Die Angst-Lust vor der "femme fatale" . . . . . ..... .. .... .. . . . . . .. .. . 267 V. Empörung der Medea-Frau li und männliches Entgegenkommen im Spätpatriarchat . . .. . .. .. . .. . . . . .. .. . .. . .. .. . .. . . . . .. . .. .. . .. . .. .. . .. . .. .. . . . .. . 270 1. Die Wurzeln . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. .. . . . .. .. .. . .. . .. .. . . .. . .. .. . .. . .. .. . .. .. . 270
a) Geist der Aufklärung und "Entgegenkommen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Oe Sade als sado-masochistischer Vorläufer des Entgegenkommens .......... . . . ................... . . ... ................... . .. .. . 274 c) Das Entgegenkommen bei Goethe und der Romantik .. . .. .. .. .. . 277 d) Grillparzers Medea .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. . .. .. .. ..
279
e) Bachofens "Mutterrecht" .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .. . .. .. . .. .. .. ..
280
f) Das Entgegenkommen des Dandy gegenüber seiner ,,Nora" . . . .
282
g) Der I. Weltkrieg als äußere Wende zum Spätpatriarchat . . . . . . . . . 284 2. Befreiende Selbst-Demontage des Männlichen ................... . . . . . 285 a) Hysterische Wiederkehr des Verdrängten .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. . 286 b) Panische Angst vor einem "weiter so" . .. .. . .. .. .......... ...... .. . 287 c) Verweiblichung an allen Fronten .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . 288 d) Die "vaterlose" Gesellschaft .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. . .. . .. .. .. .. .. ..
291
3. Gegenläufige Befreiung der klitoridalen Frau .. .. ... .. . .. .... .. .. .. .. . 294 a) Auf dem Weg zur mutterlosen Gesellschaft .. .. . .. . .. . .. . . . . . .. .. . 294 b) Feministische Zukunftsentwürfe . .. . . .. .. . .. . .. . .. .. . .. . .. .. . . . .. .. . 297
Vierter Teil Quo vadis? I. Renaissance des Patriarchats oder gar eines Matemats?
304
II. Verwirklichung des "Traums der Medea" heute? .. .... .. ...... .. ... .. .. . 306 1. Androgynie als spätzeitlich-unfruchtbare Devolution . . . . . . . . . . . . . . . . 309 111. Auf dem Weg zur ,,Zweiten Kindheit" ........... .. .. ... .. ...... .. .. . .. .. . 314 1. Neo-Caesarismus .. . .... .. .. .. . .. . . . .. . .... .. .. .. . .. .. . . .. .. . ... .. .. . . . . . .
315
a) "Brot und Spiele" heute .. .. .. . .. .. .. . .. .. ... .. .. .. .... .. ... .. .. .. . ..
315
b) Visuelle Ent-Bildung ......... . ....... .. ......... . .. . .... .. .. .. .......
317
c) Lauter werdender Ruf nach dem "Über-Vater" .. .... ......... .. ..
321
d) Ein neuer Augustus als Betreiber der "Muttermaschine"? . . . . . . . 324
Inhaltsverzeichnis
11
2. Mutter-Göttin gegen Mutter-Maschine . . . . . . .. .. .. . .. . . . .. .. . . . . . . . . . . . 326 a) Renaissance der ,,religio" zum mutter-göttlichen Ursprung . . . . . . 327 b) Wiederum: Vom Wissen zum Glauben .. . . . . ... .. .. . . . . .... ... . . .. 329 c) Das Nicht-mehr-wissen-Wollen des ,,NewAge" .. .. . . . . . . . . .. . . . . 332 d) Der "Gaia"-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 e) Von der mystischen Wissenschaft zur transcwissenschaftlichen Mystik ............ . . .. ................... . . .. . . ............... . ...... . . 335 3. Die Panik des ,,New Age" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 a) b) c) d) e)
Abbitte gegenüber der Großen Göttin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das spirituelle "Wickelkind" der mutterlosen Gesellschaft . . . . . . Das ,,Peter-Pan"-Syndrom . ... . . .. .. . . . . . . . . . . .. . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . Peter-panische Ausfüllungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutter-religio als ultima irratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Aus Spiel wird Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
340 342 345 347 351 355
g) New Age-Spiritualität als Old Age-Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 h) Der spirituelle Todestrieb der ,,Zweiten Kindheit" . . . . . . . . . . . . . . . . 358 4. Bona Me-Dea II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Robert v. Ranke-Graves Medea als "barbarische" Wandlungsgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Von der zerstörefischen Rache zur kulturumwandelnden Sterbehilfe . ... .. .. . .. .. . .. .. . .. . . . ... ... . . . . . . . . . .. . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umrisse einer kulturellen Wiedergeburt in mitternächtlicher Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allah ist groß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
Ausblick: "Traum der Medea" nur ein Traum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Ergebnis: Medea als allzeitige Kultur-Wandlungs-Gestalt .. .. . . . . . . . . . . . . . .. .. .. . ..
372
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375
360
365 366
Einleitung Die Empörung der zeitgenössischen Frau Seit dem 1. Weltkrieg erfährt unsere westliche 4 Kultur unverkennbar einen tiefgreifenden Wandel im Geschlechterverhältnis, der auch auf das Verhältnis zu unseren Kindern nicht ohne Einfluß ist. Die heutige Frau lehnt ihre ihr im Patriarchat über die Jahrhunderte hin zudiktierte und zugewachsene Rolle der Unterordnung, biologischen Reproduktion sowie praktischen und emotionalen Versorgung der männlichen Hälfte der Gesellschaft zunehmend und aggressiver werdend ab. Einige kurze Stichworte genügen um aufzuzeigen was gemeint ist. Weniger und weniger junge Frauen sehen in der traditionellen Ehe eine ihnen adäquate Lebensform. Entweder heiraten sie gar nicht mehr, oder sie lassen sich ohne viel Federlesens bald wieder scheiden. So bleibt etwa in Nordeuropa bereits mehr als die Hälfte der Frauen von vorneherein unverheiratet, 5 und in unseren Großstädten wird inzwischen bereits jede zweite Ehe wieder geschieden und zwarbis zu 70% aufBetreiben der Frauen. 6 Falls sie noch heiraten bzw. verheiratet bleiben, bestehen Frauen zunehmend auf Beibehaltung ihres Mädchennamens als Doppelnamen. Die immer offener propagierten Alternativen zur Ehe sind wechselnde promiske Lebensformen bzw. lesbische Frauenwohngemeinschaften oder eheähnliche Zweierbeziehungen. Entsprechend gewandelt hat sich die Einstellung unserer Frauen zur Frage des Kinderkriegens und -aufziehens. Die angeblich instinktgebundene bedingungslose Mutterliebe wird als patriarchalischer Unterdrückungsmythos qebrandmarkt, 7 und ihm der Schlachtruf entgegengesetzt: "Mein Bauch gehört mir!" Schon 1978 konnte sich nahezu die Hälfte der Frauen ein erfülltes Leben auch ohne Kinder vorstellen. 8 Dementsprechend werden sowohl Empfängnisverhütung als auch 4 Gegenstand dieser Arbeit ist allein das Geschlechterverhältnis in unserer westlichen Kultur, die sich gegenüber den zerfallenden Kulturen der 2. und 3. Welt immer mehr als globale Einheitszivilisation durchsetzt. Zur möglichen Zukunftsträchtigkeit des Islam s. u. s. 366 ff. 5 S. ,,Newsweek" vom 29. 8. 1988, S. 26. 6 Einzelheiten bei Badinter 1986, 178 f., 244, sowie H. J. Schöps in "Der Spiegel" 2 I 91, 100 ff. 7 So zuerst S. de Beauvoir 1949, 494 und ausführlich Badinter 1980, 10 f., 287, 297. 8 S. die Umfragen bei Badinter 1980, 290.
14
Einleitung
Abtreibung offen propagiert und zugegeben. Als unmittelbare Folge dieser Kinderunlust ist die Reproduktionsrate in allen Ländern der westlichen Welt eindeutig unter 2, wie zur Aufrechterhaltung einer demographischen Konstanz erforderlich wäre, gesunken. Mit ca. 1,3 Kindern pro Durchschnittsfrau am niedrigsten ist die Reproduktionsrate seit Jahren in der alten BRD, 9 aber selbst in Italien als dem klassischen Land der Bambini liegt sie neuerdings auf diesem niedrigen Niveau. Die Ein-Kind-Familie wird damit immer mehr zur Regel. 10 Nicht selten erklären sich Frauen zu einer Schwangerschaft überhaupt nur mehr bereit, wenn ihre Männer auf Teilzeitarbeit umsteigen und bereit sind, Hausmann zu spielen. 11 Für die unter diesen Umständen überhaupt noch geborenen Kinder hat sich das Bild entsprechend drastisch verändert. Selbst in sogenannten heilen Familien, in denen also beide Elternteile noch zusammen leben, ist die zumindest halbtags berufstätige Mutter, die ihr Kind von anderen betreuen läßt, immer mehr zur Norm geworden. Nach Angaben des US Bureau of Labor Statistics waren in den USA im Jahre 1983 70 %der Mütter von Kindern im Vorschulalter sogar vollzeitbeschäftigt, und selbst in Frankreich hatten 1982 bereits 52 % der Säuglinge eine berufstätige Mutter. 12 Aber nicht nur die zeitliche und psychische Vernachlässigung durch das immer häufigere Abladen immer jüngerer Kinder in sog. Kinderläden hat signifikant zugenommen. Zugenommen haben auch die eindeutigen Kindesmißhandlungen durch Mütter selbst, lange Zeit eine ausgesprochene Domäne der Väter. 13 Davon abgesehen erscheint, selbst wenn letztlich nach wie vor der Vater zuschlägt, zunehmend die Mutter als der die Mißhandlung betreibende Teil und der Vater lediglich als ohnmächtiger Agent der Mutter. 14 Dieser hier nur kurz skizzierte radikale Einstellungswandel der heutigen Frau gegenüber Männern und Kindern wird von einem tiefsitzenden Ressentiment gegen die bisherige jahrhundertelange Unterdrückung und Entfremdung der Frau im Patriarchat getragen, mit der Bekräftigung, diese Rolle in Zukunft so nicht mehr spielen zu wollen. Bezüglich der Alternativen gehen die Auffassungen allerdings auseinander. Während von einem Teil der Aufbegehrenden lediglich Gleichberechtigung und Gleichbehandlung im Patriarchat gefordert wird, stellt die Mehrheit feministischer Aktivistinnen auf wünschenswerte metapatriarchalische Alternativen ab, sei es auf eine einvernehmliche Brüderlich-Schwesterlichkeit im Rahmen einer "androgynen Revolution" (Badinter 1986), sei es auf eine 9 1990 war sie aufgrund des inzwischen gestiegenen Ausländerinnenanteils allerdings wieder auf 1,5 gestiegen. IO So hatten 1989 in der BRD 52 % der Eltern nur mehr ein Kind. 11 Dazu M. Bolle I B. Strümpel: Teilzeitarbeitende Männer und Hausmänner. Berlin ( 1988), sowie .,Der Spiegel" 40 I 88, 71 ff. 12 Zit. nach Badinter 1986, 299, Anm. 92 bzw. 96. 13 Vgl. "Der Spiegel" 18 I 90, S. 99, sowie 35 I 90, S. 206 ff. 14 Rheingold 1964, 20.
Einleitung
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Rückkehr zum angeblich historischen Matriarchat, in dem die überlegene Frau über den ihr unterlegenen Mann friedlich die Oberherrschaft ausgeübt habe. 15 Was hat es mit diesem Wandel im Geschlechterverhältnis in unserer Zivilisation auf sich? Welches sind seine sozio-psychoanalytischen Hintergründe? Im nächsten Teil sollen die insofern relevanten sozio-psychologischen Theorien kurz dargestellt werden, bevor die "Empörung der Medea" näher ins Auge gefaßt wird.
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So etwa Davis 1971, Göttner-Abendroth 1980 + 1988.
Erster Teil
Theorienübersicht I. Relevante sozio-psychologische Theorien 1. Feminismus Die Hauptthese des klassischen Feminismus in unserer Kulturrunde wurde bereits in den Salons der "Preziösen" des französischen 17. und 18. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit vorgetragen: "Les ames n 'ont point de sexe." 16 Damit war gemeint, daß Männliches und Weibliches, abgesehen von den rein biologischen Unterschieei ihr weites Entgegenkommen." 200 Vgl. dazu etwa Skogemann 1985, 25. 201 Dazu de Beauvoir 1949, 596: ",Wundervoll, ich fmde mich wundervoll'. Als Priesterin und Idol zugleich schwebt die Narzißtin glorienumwölkt auf dem Grund der Ewigkeit, und jenseits der Wolken beten sie Geschöpfe kniefällig an: Sie wird zum Gott, der sich selbst betrachtet." 2o2 Dazu de Beauvoir 1949, 191 : "Die Muse schafft nichts aus sich selbst, sie ist eine gefügig gemachte und zur Dienerio eines Herrn gewordene Sibylle." 203 So schon Aristophanes, Lys. 406 ff.
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
Masochismus ausleben. Das eigene narzißtische Geliebt-sein-Wollen kann die Heimchen-Frau altruistisch an ihre Kinder abtreten, 205 und sich insofern im Kind als narzißtischer Erweiterung ihres eigenen Selbst selber lieben. Schließlich kann sie ihre eigene gesellschaftliche Machtlosigkeit in der nahezu unumschränkten Macht über ihre Kleinkinder zu kompensieren suchen. Allerdings drängt sich bei der Erörterung der Anpassung der hochpatriarchalen Frau an die ihr zugewiesene subalterne Rolle unweigerlich die Frage auf, inwieweit die äußerlich geleistete Anpassung auch wirklich freiwillig ist, also auch der inneren psychischen Gleichung der sich Anpassenden entspricht. Denn sowie aus Konsumlust Konsumwut wird, aus der Bereitung eines gemütlich-sauberen Heims Putzwut, und sich die liebende mater dolorosa in eine herrschsüchtige mater dragonia verwandelt, ist nicht mehr zu übersehen, daß die äußerliche Anpassung innerlich doch nicht bejaht wird, mit der Folge nagender Frustration und - im Hochpatriarchat notwendigerweise - verdeckter Aggression, was sich in eben diesen verdächtigen Symptomen äußert. Aber damit sind wir bereits nicht mehr bei der Kreusa-, sondern bei der MedeaFrau im Hochpatriarchat. Wie findet sich also die Medea-Frau mit der ihr aufgezwungenen klitoridal-kastrierten subalternen Weibchen-Rolle ab? Wie reagiert sie auf diese an ihre existentielle Substanz gehende Demütigung und Kränkung? Ganz einfach - sie wird krank und selber kränkend. Kurz - sie leidet an dem, was hier "Medea-Komplex" genannt werden soll, und fügt dementsprechend anderen Leid zu.
4. Definition des Medea-Komplexes Der Begriff "Medea-Komplex" wurde, soweit ersichtlich, erstmals 1933 von Fritz Wittels, einem frühen Freud-Schüler, im Zusammenhang mit dem Haß der von ihrem Mann vernachlässigten Frau gegenüber ihrer heranwachsenden Tochter gebraucht (1933, 339), und in diesem Sinne einer Racheübertragung vom Mann auf die Kinder allgemein von Friedman (1960, 457 ff.), Rheingold (1964, 37; 1967, 129) und Kuiper (1968, 383 ff.) übernommen. Hingegen will Stern (1948, 321 ff.) unter Medea-Komplex jeden Todeswunsch einer Mutter gegenüber ihren Kindern verstehen, auch wenn er sich nicht aus einer übertragenen Rachebeziehung dem Mann gegenüber herleitet. In die gleiche Richtung gehen Orgel und Shengold (1968, 379 ff.), wenn sie jedes narzißtisch-bindende ambivalente Geschenk einer Mutter als "Medea-Geschenk" bezeichnen. 204 Deutsch 1948, 252 f.; 1954, 66 f. Die gerade unter Frauen bis heute umstrittene. Frage, ob es einen konstitutionellen weibl. Masochismus gibt (ja, so etwa Maria Marcus: Die furchtbare Wahrheit. Frauen und Masochismus. Reinbek (Rowohlt) 1982; nein, so etwa Margarete Mitscherlieh 1985, 46, 144 ff.), kann hier nicht weiter verfolgt werden. 205 Dazu Deutsch 1954, 19.
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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Keine dieser Definitionen des Medea-Komplexes vermag vollauf zu befriedigen. Diejenigen von Stern und Orgel/Shengold erscheinen eindeutig zu weit gefaßt. Will man nicht jeden Bezug zur mythologisch vorgegebenen Gestalt der Medea verlieren, muß an dem Beziehungsdreieck Frau-Mann-Geliebte bzw. Kind festgehalten werdon. Die in der Regel zweifellos ambivalente psycho-biologische Urbeziehung Mutter-Kind, wie sie vor und unabhängig von der jeweiligen Partnerbeziehung der Frau angelegt ist, hat mit der Gestalt der Medea nichts zu tun, u. z. auch dann nicht, wenn sie aufgrund der Beziehung der Mutter zur eigenen Mutter problematisch ist (wie ja meistens der Fall), und es sich daher insofern auch um eine Dreiecksbeziehung handelt. 206 Für den Medea-Komplex konstitutiv ist also das Beziehungsdreieck FrauMann-Geliebte bzw. Kind. Unter diesem Aspekt erscheinen aber andererseits die Definitionen von Wittels, Friedman, Rheingold und Kuiper wiederum zu eng gefaßt. Denn was ist mit der Racheübertragungsbeziehung Medea-Kreusa? 207 Und vor allem - was ist mit Medeas eigenem Leid 208 und der primären Rachebeziehung zu Jason? Diese Aspekte dürfen bei der Bestimmung des Begriffs "Medea-Komplex" keinesfalls außer Acht gelassen werden, da sie ja schließlich Voraussetzung einer Leidübertragung auf dritte Personen sind. Unter Medea-Komplex soll daher hier folgendes verstanden werden: das in seinem Wesen stille Leid und Leiden der Medea-Frau an der Beziehung zum Jason-Mann im Hochpatriarchat, sowie die in der Regel unbewußte, zumindest jedoch verdeckte, passives Erleiden in aktives Leidzufügen pervertierende Übertragung dieses Leids auf dem Mann nahestehende dritte Personen. Damit ergeben sich für den hochpatriarchalen Medea-Komplex in Abgrenzung zur früh- bzw. spätpatriarchalen "Empörung der Medea" gleich zwei wichtige, miteinander zusammenhängende Unterschiede. Aufgrund ihrer äußeren Unterdrückung und Machtlosigkeit ist die hochpatriarchale Medea-Frau nicht in der Lage, ihr Leid als offene Empörung nach außen abzuführen, also sich unverblümt etwa gar am Mann, zumindest aber seinen Kindern bzw. seinerGeliebten zu rächen. Was ihr in ihrerunterdrückt-verdrängten Position allein möglich ist, ist die verinnerlichende Hereinnahme der Aspekte der Geliebten- und Kindermörderin in ihre eigene Psyche, u. z. bis zur Verdrängung selbst dereigentlichen Ursachen ihres Leids aus ihrem Bewußtsein. Dementsprechend tötet die hochpatriarchale Medea-Frau in der Regel nicht mehr die 206 In diesem Sinne auch Kuiper 1968, 384. Zur möglichen Fatalität dieser Ur-Beziehung Mutter-Kind insbesondere Rheingold 1964 + 1967, sowie Molinski 1972. 201 Diesen Aspekt berücksichtigt bisher, soweit ersichtlich, allein Bolen 1984, 161 ff. unter dem Begriff "Medea Syndrome". 2os Diesen Aspekt schneidet Rinne 1988, 125 ebenfalls unter dem Begriff "MedeaSyndrom" an.
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
"äußere" Geliebte ihres treulosen Mannes, sondern lediglich den Kreusa-Aspekt des gefälligen vaginal-Weiblichen in sich. Gleichermaßen bringt sie in der Regel nicht mehr ihre Kinder real um, sondern tötet den gute-Mutter-Aspekt in sich selber, bzw. treibt höchstens heimlich still und leise ab. Damit aber bedeutet der Medea-Komplex einen im Grunde autoplastisch-neurotischen Versuch zur primär innerpsychischen Bewältigung des Leids, und (noch) keinen alloplastisch-kathartischen Weg zur Befreiung davon wie die offene Empörung. Mit dem Charakter des Medea-Komplexes als individuell-neurotischem Bewältigungsversuch hängt zusammen, daß bei ihm im Unterschied zur Psycho- und Soziodynamik der früh- und spätpatriarchalen ,,Empörung der Medea" der Mechanismus der Identifikation mit etwaigen Leidensschwestern keine wesentliche Rolle spielt. Vielmehr leidet jede einzelne vom Medea-Komplex betroffene Frau eher still und von ihren Leidensschwestern ja auch real isoliert vor sich hin, und betrachtet ihr Unglück, wie alle anderen Betroffenen auch, als ihr ganz persönliches Problem. Aus diesem Grunde ergibt sich auch (noch) keine psycho-soziodynamische Infrastruktur, die eine der Empörung der Medea entsprechende MedeaKomplex-Kollektivbewegung auslösen könnte. Im Vordergrund des Leides der hochpatriarchalen Medea-Frau steht die Zumutung, sich als mehr oder weniger in ihre Frauengemächer Eingesperrte klaglos mit der ihrem Mann allein genehmen klitoridal-kastrierten subalternen WeibchenRolle abzufinden - eine Zumutung, die noch dadurch unterstrichen wird, daß sich der Mann im Falle der Weigerung zumindest als gefällige Ergänzung eine patriarchal besser angepaßte Jüngere sucht. Dieses von der Beziehung zu ihrem Mann herrührende Leid wird nun noch dadurch verstärkt, daß die hochpatriarchale Frau auch in der Beziehung zu ihrer Mutter, vom Vater ganz zu schweigen, in der Regel kaum einen Rückhalt hat. Im Gegenteil. Als Tochter gegenüber dem Sohn in puncto Mutterliebe ohnehin grundsätzlich benachteiligt, hat sie von der patriarchal eingebundenen Mutter, die sich ja selber nur durch die Geburt und Aufzucht von Söhnen einigermaßen akzeptiert wissen kann, erst recht wenig zu erwarten. Die Verbindung beider Leiden besorgt dann die häufige "Projektion der schlechten Mutter auf den Partner" (Olivier 1980, 166), 209 wodurch dieser nur umso mehr als liebloser Unterdrücker empfunden wird. Fassen wir zusammen: Weitgehend im Gefängnis des griechischen Frauenhauses (gynaikonitis) eingeschlossen, von ihrer patriarchal eingebundenen Mutter erst recht weniger geliebt, weil sie nur Vagina und Uterus, aber keinen Penis hat, von ihrem Mann andererseit aber nur "geliebt", solange sie keinen Penis 209 Ebenso schon Freud 1931, XIV, 523: "Wir haben z. B. längst bemerkt, daß viele Frauen, die ihren Mann nach dem Vatervorbild gewählt oder ihn an die Vaterstelle gesetzt haben, doch in der Ehe an ihm ihr schlechtes Verhältnis zur Mutter wiederholen. Er sollte die Vaterbeziehung erben, und in Wirklichkeit erbt er die Mutterbeziehung."
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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und auch kein Penis-Äquivalent beansprucht und nur Vagina-Uterus ist, befindet sich die auch-klitoridale Medea-Frau des Hochpatriarchats sowohl äußerlich wie innerlich gleichsam zwischen der Skylla mütterlicher Minderbewertung und der Charybdis partnerschaftlieber Kastration gefangen und ihrer eigenen Wertigkeit und Entfaltungsmöglichkeit beraubt. Um sich innerlich an die Ausweglosigkeit ihrer patriarchalischen Gefangenschaft anzupassen, mag die Medea-Frau zunächst versuchen, ihre Klitoridalität zu verdrängen und nur das liebevoll-gefallige Weibchen zu sein. Dieses Bemühen bringt etwa Grillparzer in seiner "Medea" von 1821 dadurch sinnfallig zum Ausdruck, daß er sie gleich zu Beginn des ersten Aufzugs ihre Zaubermittel begraben, 210 und zu Beginn des zweiten Aufzugs versuchen läßt, von Kreusa als auf der Subjektstufe äußerem Ausdruck ihres eigenen weiblichen Aspekts ein Liedehen zu lernen, um damit Jason zu erfreuen. Allein: "Ich nehm es ernstlich; doch es geht nicht" (V. 587). In der Tat- "es" geht nicht. Gerade die Verleugnung, Unterdrückung und Verdrängung der klitoridalen Animus-Seite führt schließlich nur um so sicherer zu den Symptomen, die den Medea-Komplex ausmachen. 5. Die Symptome des Medea-Komplexes Auf längere Sicht kann es nicht ausbleiben, daß die ihre klitoridale AnimusSeite letztlich doch nicht verleugnen könnende Medea-Frau angesichts ihrer äußerlich wie innerlich ausweglosen Situation intensive Minderwertigkeits-, Kastrations- und Ohnmachtsgefühle entwickelt, die sich bei andauernder Versagung zu entsprechenden Komplexen verdichten, 211 und schließlich in einem gegen ihren Jason-Mann als unmittelbarem Beleidiger gerichteten rachsüchtigen Penisneid niederschlagen. 2 12 Der Penisneid der hochpatriarchalen Medea-Frau speist sich damit bei näherer Betrachtung aus einer dreifachen Quelle: aus der von der eigenen Mutter herrührenden Minderbewertung als penislosem Kind, wobei der dazugehörige Penisneid zunächst dem eigenen Bruder gegolten, 213 und erst später mit der Übertragung der defizitären Mutterbeziehung auf den Mann in diesem sein Objekt gefunden haben wird, aus der vom Mann unmittelbar herrührenden tagtäglichen Kastration ihrer klitoridalen Animus-Seite, sowie aus dem alles durchdringenden Ohnmachtsgefühl, dem Mann als Repräsentanten der hochpatriarchalen Ordnung 210 V. 15 ff.: "Die Zeit der Nacht, der Zauber ist vorbei I Und was geschieht, ob Schlimmes oder Gutes, I Es muß geschehn am offnen Strahl des Lichts." 211 Dazu Adler 1933, 78. 212 Hierzu allg. Neumann 1953a, 34, sowie Kuiper 1968, 384. 213 So richtig Kuiper 1968, 384.
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
machtmäßig in der Tat nicht gewachsen zu sein, und daher an der eigenen demütigenden Lage aus eigener Kraft nichts ändern zu können. Diese Minderwertigkeits-, Kastrations- und Ohnmachtsgefühle, sowie der aus ihnen resultierende Penisneid der hochpatriarchalen Medea-Frau werden in der Regel unbewußt bleiben, insbesondere beim Versuch der Verdrängung der eigenen klitoridalen Animus-Seite. Aber auch wenn nicht, so ist jedenfalls ihr Ausdruck einschließlich des Versuchs ihrer Bewältigungangesichts der unterdrücktmachtlosen Position der Medea-Frau nicht offen, sondern nur verdeckt möglich. (Andernfalls hätten wir es ja auch nicht mit dem Medea-Komplex, sondern mit der offenen Empörung der Medea zu tun.) Was nun die verschiedenen Ausdrucks- und Bewältigungsweisen des MedeaKomplexes anlangt, überschneiden sich diese aufgrundder Vergleichbarkeit des theoretischen Ansatzes teilweise mit den von Alfred Adler (1912, 135) aufgeführten Symptomen des "männlichen Protests" der "sozial verkürzten" und sich "als ob kastriert" empfindenden patriarchal abgewerteten Frau (s. o. S. 20). Die treibende symptombildende Kraft des Medea-Komplexes ist zweifellos das Bedürfnis der Medea-Frau, für das erlittene Leid am Jason-Mann Rache zu nehmen. Dieses Rachebedürfnis kann sich nun auf den rein psychologischen Bereich von Racheträumen, 214 oder auch unbewußten oder halbbewußten Rachephantasien beschränken. Inhaltlich geht es dabei immerum die maso-sadistische Vorstellung der Kastration des Mannes nach der Devise "Auge um Auge" bzw. spezieller Penis um Klitoris: "Die dem erlittenen Unrecht- der Kastration -adäquate Rache ist allein die Kastration" (Abraham 1921, 86). Im einzelnen können diese Phantasien reichen von bloßer Schwächung über anal-vaginales sich Einverleiben und in sich Gefangenhalten des Penis bis zu seiner Verstümmelung durch Abbeißen, Abschneiden, Absägen etc. 215 Sich dem Mann gegenüber äußern mag sich das Kastrationsbedürfnis der Medea-Frau durch eine allgemeine spöttisch-höhnisch bis verächtliche Haltung des Verletzen-, Herabsetzen-, eben "Klein-Machen-Wollens", oder auch- nur scheinbar gegenteilig - durch eine Haltung übertriebener sexueller und/oder beruflicher Anforderungen an den Mann, denen dieser unmöglich gerecht werden kann, so daß das beabsichtigte Ergebnis seiner Entwertung letztlich das gleiche ist. 2 16 Das im Medea-Komplex angelegte Frustrations- und Aggressionspotential kann aber auch (zusätzlich) ganz nach innen genommen werden und so, jedenfalls zunächst, lediglich am eigenen Leib zum Ausdruck kommen. 214
39 ff.
Ein eindrucksvolles Beispiel eines derartigen Rachetraums bringt Neumann 1953 a,
215 Beispiele für derartige Kastrationsphantasien etwa bei Abraham 1921 , 95 ff.; Friday 1973, 117ff. 21 6 Dazu Adler 1912, 169.
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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Die Medea-Frau mag so in Depressionen 217 und/oder dem Alkohol verfallen. Was den Alkohol-Konsum der griechischen Frau im Hochpatriarchat angeht, haben wir sogar ein Stück konkreter Information aus der Zeit: In den Komödien des 5. Jahrhunderts wird immer wieder auf die Trinkfreudigkeit der Hausfrauen angespielt. 218 Vor allem aber wird sich der Medea-Komplex in Form der Hysterie als Krankheit der hystera = Gebärmutter ausgedrückt haben. 219 Die hysterische Krankheit der Gebärmutter als "spezifisches Syndrom des griechischen Patriarchats" (Borneman 1975, 225) muß damals in der Tat geradezu endemisch gewesen sein. Hippokrates bezeichnete sie als die häufigste Frauenkrankheit überhaupt, verursacht von einer "durch die Gebärmutter hervorgerufenen Erstickung". 220 Dahinter stand die wohl schon auf die ägyptische Medizin zurückgehende Vorstellung von der "Wanderung der Gebärmutter", auf griechisch hysteria. 221 An dieser Vorstellung von der rein organischen Genese der Hysterie hielt die Antike offiziell bis zum Ende fest, obwohl gerade Hippokrates' Erklärung der Hysterie deren psychische Botschaft eigentlich schon recht deutlich enthielt: Die Gebärmutter kam der Frau buchstäblich bis zum Hals hoch, stand ihr bis hier. 222 Heute wissen wir, daß die Hysterie der Frau des griechischen Hochpatriarchats genauso wie die des viktorianischen Zeitalters keine organische sondern eine psycho-somatische "Krankheit der Gebärmutter" im übertragenen Sinn war, eben körpersprachlich-stummer Ausdruck des Protests der klitoridal kastrierten Medea-Frau gegen das abgelehnte Ideal der bloß vaginal-uteral funktionieren sollenden Gebärmutter. Bereits 1905 hatte Freud von der Verdrängung der "infantilen Männlichkeit" als "Hauptbedingung für die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie" gesprochen (1905, V, 123), und in seiner Schrift "Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität" von 1908 von der "in immerhin zahlreichen Fällen nachweisbaren bisexuellen Bedeutung hysterischer Symptome" (1908, VII, 198). Ob man, daraus folgernd, allgemein von der "Bisexualität der Hysterie" (v. Braun 1988, 193 u. 353) sprechen kann, mag dahinstehen. Jedenfalls aber erscheint die Hysterie im Rahmen des Medea-Komplexes ganz unmißverständlich als Krankheit des "Gegenwillens" (Freud 1892, I, 10) der mit ihrem Animus So schildert sie etwa Kaschnitz 1943, 28; s. auch Rinne 1988, 13, 18. S. etwa Aristophanes, Lys. 195 ff.; Ekk:l. 131 ff. Dazu Ehrenberg 1962, 207. 219 v. Braun 1988, 252: "Medea ist das mythische Abbild dessen, was die Symptome der Hysterie ausdrücken." 22o Zit. nach v. Braun 1988, 36 sowie Anm. 24 (S. 79). 221 Dazu Sirnon 1978, 242 ff.; v. Braun 1988, 34 ff. 222 Rousselle schreibt in diesem Zusammenhang (1983, 99): ,,Es ist nicht erstaunlich, daß die griechischen Frauen . . . als somatische Konversion einer ohnmächtigen Wut das Bild einer Gebärmutter übernahmen, die ihnen an die Gurgel sprang." 211 218
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
unbewußt identifizierten 223 klitoridal kastrierten Medea-Frau. Allerdings kann die zum Schweigen Verurteilte diesen klitoridalen Gegenwillen jetzt nicht mehr offen und positiv ausdrücken, sondern nur mehr verdeckt und negativ, nämlich als indirekte, ihrerseits kastrative Verweigerung. Dementsprechend drücken alle einschlägigen Symptome der Medea-Komplex-Hysterie diese kastrative Verweigerung des klaglosen Funktionierens als bloßer Gebärmutter aus. Ob es sich im einzelnen um das Erscheinungsbild des Scheintodes 224 oder sonstiger pseudoepileptischer Lähmungen 225 handelt, um Amennorhoe, Unfruchtbarkeit bzw. Scheinschwangerschaften, 226 oder auch "nur" um vaginale Frigidität bis hin zum Vaginismus - in allen diesen schon im griechischen Hochpatriarchat verbreitet gewesenen Fällen verweigert die klitoridal kastrierte, frustrierte und rachsüchtige Medea-Frau ihr bloßes vaginal-uterales Funktionieren als patriarchal augepaßte Gebärmutter, mit dem Hintersinn, dadurch ihren Mann als lediglich ScheinPotenten vorzuführen, sowie den ihre weibliche Seite verkörpernden KreusaAspekt in sich selber umzubringen. Das dem Medea-Komplex innewohnende Frustrations- und Aggressionspotential kann (zusätzlich) auch auf leblose Gegenstände übertragen werden und sich insofern mittelbar als den Mann schädigen wollend ausdrücken, etwa wenn dieser durch exzessive Konsumwut der Frau zum Bettler gemacht, oder auch durch eine ausgeprägte Putzwut, die im Grunde das Haus bis auf den Grund"wegputzen" will, aus seinem Haus getrieben werden soll. Vor allem aber wird sich der Rachedurst des Medea-Komplexes an "seinen" Kindem als wehrlosen Prügelknaben bzw. -mädchen zu stillen suchen.
6. Verdeckte Racheübertragung auf die Kinder Dabei ist allerdings weniger an faktischen Kindermord bzw. Kindes- insbesondere Mädchenaussetzung zu denken, wie sie im griechischen Spätpatriarchat nicht selten sein sollte. Zwar scheint speziell die Mädchenaussetzung auch im griechischen Hochpatriarchat praktiziert worden zu sein. 227 Von einer Beteiligung der Mütter daran ist jedoch nirgendwo die Rede; das Recht zur Kindesaussetzung gilt als alleinige Prärogative des Vaters. In unserem Zusammenhang eher wahrscheinlich ist da schon eine Praxis klamm-heimlicher Abtreibung. 228 Vor allem aber werden wir es beim hochpatriarchalen Medea-Komplex aufgrund seiner weitgehend unbewußten Leidensdynamik mit Formen unbewußter, 223
224 225
226 227 22s
Dazu Skogemann 1985, 25. Dazu Borneman 1975, 225. Hippokrates, zit. bei Sirnon 1978, 242. Sirnon ebenda, 243. S. Sirnon ebenda, 246; de Mause 1974, 46 ff. So die eher hoch-patriarchale Medea-Gestalt bei Haas 1987, 151 ff.
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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zumindest verdeckter Racheübertragungen auf die Kinder zu tun haben, wodurch sich die masochistisch leidende mater dolorosa unweigerlich in eine sadistisch Leid zufügende mater dragonia verwandelt, bis sie schließlich den Aspekt der guten Mutter in sich selber restlos umgebracht hat, 229 und dann in der Tat nur mehr als schreckliche Drachenmutter dasteht. Von ihrem Gewicht her an der Spitze der Racheübertragungen stehen vorwiegendunbewußte Tötungs- oder zumindest Verletzungsimpulse der Medea-Mutter ihren Kindem gegenüber als ein Phänomen, das dem Medea-Komplex überhaupt erst seinen Namen gegeben hat (s. o. S. 96). Ob diese Impulse etwa als zwanghafte Obsession, die Kinder umbringen zu müssen, 230 auftreten, oder im Wege der Reaktionsbildung als übertriebene Furcht, daß den Kindem etwas Schlimmes passieren könnte, 231 - immer geht es um das zugrundeliegende Bedürfnis der Medea-Frau, sich für das vom Jason-Mann erlittene Leid an "seinen" Kindem zu rächen und ihm damit seine Zukunft zu zerstören. Wie verdeckt diese Tötungs- oder Verletzungsimpulse der Medea-Mutter auch sein mögen, vom Kind werden sie aufgrundder nonverbal subtil funktionierenden symbiotischen Beziehung zur Mutter unweigerlich erspürt 232 und entsprechend beantwortet, reichend von der "bloßen" Angst, von der Mutter verletzt oder umgebracht zu werden, was sich klassischerweise in der Urangst äußert, von einer Hexe oder einem Ungeheuer vernichtet zu werden, 233 über schwere depressive Reaktionen bis hin zum vorauseilenden Gehorsam des "plötzlichen" Kindstodes. 234 Aber auch, wenn der Medea-Komplex nicht diese tödlichen Extremformen und -folgen zeitigt, sind seine möglichen Auswirkungen auf die Kinder schwerwiegend genug. Allgemein gilt in diesem Zusammenhang: Je stärker die MedeaFrau sich klitoridal kastriert, gedemütigt und als bloße Gebärmutter funktionalisiert in ihre Frauengemächer eingesperrt fühlt, desto stärker wird ihr Bedürfnis nach Kompensation dieser persönlichen und gesellschaftlichen Ohnmacht durch unumschränkte Hausmacht in Bezug auf ihre Kinder sein. 235 Natürlich stellt diese Kompensation eigentlicher Ohnmacht durch häusliche Macht über die Kinder 229 v. Braun 1988, 309: "Wie Medea, ihr Vorbild, tötet sie (die Hysterikerin) lieber die Mutter in sich, als daß sie die Frau untergehen ließe, die Auslöschung des ,ichs' hinnähme." 230 Beispiele dazu bei Friedman 1960; Rheingold 1964, 37. 231 Beispiele bei Rheingold 1967, 129 f. 232 Dazu Rheingold 1964, 30 ff.; Spitz 1965, 145 ff. 233 Dazu insbesondere Bloch 1978. 234 Dazu aus psychoanalytischer Sicht schon Ferenczi 1929. S. auch Spitz 1965, 223; Rheingold 1967, 14 f., 20 f., 120. 235 "The more the male imprisons the female in the home and takes hirnself elsewhere, the more overwhelmingly powerful isthefemale within the home". So Slater 1968, 8, der insbes. diesem Aspekt der griechischen Familiendynamik in seinem Buch "The Glory of Hera" anband der griechischen Mythologie ausführlich nachgeht.
Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
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keine wirklich befriedigende Lösung dar, so daß die Gefahr der Entwicklung einer regelrechten Herrschsucht der Medea-Frau besteht, mit entsprechenden Schuldgefühlen, die dann wiederum nur durch umso entschiedeneres und immer härteres Vorgehen gegen die widerspenstigen Kinder zu bewältigen versucht werden können. Im einzelnen gestaltet sich die maso-sadistische Racheübertragung der MedeaFrau auf ihre Kinder durchaus unterschiedlich, je nachdem, ob es sich bei dem Opfer um einen Sohn oder eine Tochter handelt. Die Einstellung der Medea-Frau zu ihrem Sohn ist hochgradig ambivalent. Einerseits ist er "ganz der Vater" und damitjetzt schon hassenswerter Repräsentant der die Frau unterdrückenden patriarchalen Ordnung. Insofern ist der Sohn Angriffsobjekt ihres vom Jason-Mann auf ihn übertragenen rachsüchtigen Penisneids. Andererseits ist der Sohn für die Medea-Frau aber auch Garant ihrer Existenzberechtigung im Patriarchat, und darüberhinaus als "ihr Produkt" in ihrer Phantasie wiederum auch "ganz anders als der Vater" , nämlich sein idealisierter Ersatz, der in seiner eigenen Beziehung zu Frauen alles wieder gut machen würde, und mit dem daher eine Verwirklichung des von Jason verratenen "Traums der Medea" möglich sein müßte. Insofern ist der Sohn gleichsam als "SurrogatPhallus" (Simon 1978, 249) Identifikationsobjekt der selber klitoridal kastrierten Medea-Frau. Slater drückt diese Ambivalenz der Medea-Mutter des griechischen Hochpatriarchats ihrem Sohn gegenüber treffend so aus: "The male child was at one and the same time a scapegoat for and an antidote to the penis envy of the mother" (1968, 30 f.). Ausdruck dieser hochambivalenten mütterlichen Einstellung ist eine aus Kastration und Verherrlichung gemischte double-bind-Beziehung, also eine kastrative Verherrlichung bzw. verherrlichende Kastration, die de Beauvoir so beschreibt: "Man denkt zu vernünftig, zu einfach, wenn man meint, sie (die Mutter) wolle ihren Sohn kastrieren. Thr Traum ist widerspruchsvoller: Sie will ihn grenzenlos sehen, und doch soll er in ihrer hohlen Hand Platz haben, er soll die Welt beherrschen und dabei vor ihr auf den Knien liegen. Sie hält ihn dazu an, daß er zimperlich, genießerisch, großmütig, schüchtern, ein Stubenhocker wird, sie untersagt ihm Sport und Kameradschaft, sie nimmt ihm sein Selbstvertrauen, weil sie ihn für sich haben will. Aber sie ist enttäuscht, wenn er nicht gleichzeitig ein Abenteurer, ein Sportsieger, ein Genie ist, mit dem sie Staat machen könnte" (1949, 501). Was sind nun die Folgen dieser Mischung aus Verherrlichung und Kastration, die den Sohn einerseits möglichst lange als sexloses Kind und andererseits gleichzeitig als ritterlich-erwachsenen Partner und Beschützer haben will, für dessen Psyche? Der Aspekt der Verherrlichung mag im Sohn leicht zu volltönender narzißtischer Selbstüberschätzung in Verachtung alles Weiblichen 236 bei dar236
Dazu Slater 1968, 33.
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unterliegender nagender Überforderungsangst führen, der Aspekt der Kastration hingegen konterkarierend zu einer näheren Kontakt zum anderen Geschlecht scheuenden Abwehrhaltung infolge von unbewältigter Kastrationsangst Das Ergebnis ist dann leicht eine dauerpubertäre Einstellung, aufgrund derer Beziehungen zu Frauen schlichtweg "verhext" erscheinen. 237 Damit aber wächst JungJason unweigerlich in Jasons Haltung Medea gegenüber hinein, die ja ihrerseits eine Mischung aus sich selbst überhöhender Frauenverachtung und "vagina dentata"-Angst vor der Rache der zwar unterdrückten, aber schließlich doch nur schlafenden Drachenseite des auch-klitoridalen Weiblichen ist. Hervorgerufen durch Jason, ruft so der Medea-Komplex in seiner Tendenz selber wieder Jung-Jasons hervor, die ihre Überforderungs-und Kastrationsängste der Frau gegenüber letztlich nur durch deren weitere Unterdrückung und Aufspaltung ihrer Funktionen in Hetäre, Hure und Heimchen bewältigen können, bzw. durch die totale Vermeidung der Frau und des weiblichen Genitals in der Praxis männlicher Homosexualität. 238 Die Einstellung der Medea-Frau ihrer Tochter gegenüber erscheint vergleichsweise weniger ambivalent als die dem Sohn gegenüber, wenn auch um nichts positiver. Im Gegenteil. Aufgrund der Geschlechtsidentität ist die Beziehung der Mutter zur Tochter bereits grundsätzlich weniger libidinös angelegt als die zum faszinierend-"anderen" Sohn, und eher eine anale Machtbeziehung, in der die Tochter als im Grunde "Gleiche" betrachtet und ausgenutzt wird (s.o. S. 26 f.). Diese eine eigenständige Identität der Tochter ohnehin schon behindernde Grundgegebenheit verschärft sich nun im Patriarchat noch dadurch, daß nur die Geburt eines Sohnes der Mutter einen gewissen auch subjektiven Eigenwert verleiht, während die Geburt einer Tochter lediglich als Belastung empfunden wird, die der Mutter ihre eigene ohnmächtige Position nur umso deutlicher vor Augen führt. Unter diesen Umständen ist die patriarchale Mutter-Tochter-Beziehung in der Regel also eine eindeutige Ohnmachts-Beziehung, in der die Mutter nur umso mehr das Bedürfnis nach einer "gleichen" Tochter im gleichen Boot hat, die mit ihr Mit-Leid hat, also auch entsprechend mit-leidet. Die Tochter soll dementsprechend lediglich ein willenloses "Double" 239 sein, dem das eigene, mit Minderwertigkeits-, Kastrations- und Penisneidgefühlen 237 Diesen Aspekt der Dauer-Pubertät von Medeas Kindem betont besonders H. H. Jahnn in seinem Medea-Drama von 1926. 238 Slater (1968, 52) drückt diesen unseligen, sich selbst perpetliierenden Prozeß treffend wie folgt aus: "The jealous, neglected mother injures the narcissism of the young boy. He, upon reaching adulthood, selects, because of doubts about his adequacy with mature women, an immature, inadequate wife, whom he treats with contempt and neglect, thus ensuring a malignant disturbance in the mothering of his own sons, and so on." 239 In diesem Sinne schon de Beauvoir 1949, 501: "Das kleine Mädchen ist seiner Mutter vollkommen ausgeliefert, deren Ansprüche sich dadurch nur noch steigern .. . In einer Tochter begrüßt die Mutter nicht ein Glied der auserwählten Kaste, sie sucht
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besetzte Selbstbild der Mutter und das entsprechend negative Männerbild des Jason-Vaters und zukünftigen Mannes maso-sadistisch herrschsüchtig aufgedrückt wird, um so die Tochter zu einer das eigene mütterliche Leid mittragenden "Leidensschwester" zu stempeln. Entspricht das so konzipierte töchterliche alter ego allerdings nicht den Erwartungen der Medea-Mutter, versteht sich die Tochter gar als kleine Kreusa-Frau, die sich in der patriarchal angepaßten Weibchen-Rolle durchaus wiederzufinden bereit ist, muß sie mit einer unnachsichtigen mütterlichen Eifersucht rechnen, in der die ursprüngliche Rachsucht dem Jason-Mann gegenüber unverkennbar durchscheint. Bei dieser Eifersucht handelt es sich nämlich nicht so sehr um deren ur-weibliche Form im Sinne eines Sexualneids der unansehnlicher werdenden Älteren gegenüber der erblühenden Jüngeren. Vielmehr geht es bei dieser Eifersucht der Medea-Mutter, die ja den Aspekt des angepaßten Kreusa-Weiblichen auch für sich selber ablehnt, um das Gefühl eines existentiellen Verrats seitens der Tochter. Die Eifersucht der Medea-Mutter auf ihre potentielle KreusaTochter ist daher in ihrem Wesen von Abwertung und Verachtung geprägt, und richtet sich im Extremfall direkt als Verstümmelungsimpuls gegen deren Genitalien. 240 Die Medea-Tochter mag nun zwar, zusätzlich zu dem aus der libidinösen Benachteiligung seitens der Mutter ohnehin herrührenden Ressentiment gegen diese, sich durch einen von entsprechenden Verstümmelungsängsten genährten Haß von der Mutter abzugrenzen suchen. Aufgrund der zugedachten DoubleRolle sowie des Umstandes, daß die Mutter für die geschlechtsgleiche Tochter schlechthin der Spiegel für das eigene Selbstbild und die erste Brille für das dazugehörige Männerbild ist, 241 ist jedoch die Gefahr sehr groß, daß die Tochter durch frühe Introjektion und spätere Identifikation in der Tat zum weitgehenden Double der Medea-Mutter wird, selbst wenn sie an- sich und aus sich heraus gar kein eigentlicher Medea-Typ ist. Aber selbst wenn es der Tochter gelingen sollte, eine gewisse Eigenständigkeit, möglicherweise als Kreusa-Frau, zu entwickeln, wird in der Regel der Schatten der Medea-Mutter über einer späteren Beziehung der Tochter zum Mann liegen bleiben, und sich insbesondere in verkrüppelnden Strafängsten und Schuldgefühlen der sich vom Mutter-Vorbild emanzipierenden Tochter äußern, 242 sowie möglicherweise in Frigidität, Sterilität, Früh- oder Totgeburten, Stillproblemen etc. 243 -kurz, in Symptomen, die alle den fortdauernd-wirksamen Fluch einer Verhexung durch die Medea-Mutter verraten. ihr Double in ihr. Sie projiziert in sie die ganze Zwiespältigkeit ihres Verhältnisses zu sich selbst." 240 Beispiele dazu bei Rheingold 1967, 130. 241 Dazu Winnicott 1971, 128 ff.; Michael L. Moeller in Franck 1979, 29 ff. 242 Beispiele bei Rheingold 1967, 96 + 221; Garnbaroff 1984, 9 ff., 104. 243 Dazu Deutsch 1954, 116 ff.; de Beauvoir 1949, 480 ff. mit Beispielen.
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Ähnlich wie die Medea-Mutter dazu tendiert, einen Jason-Sohn heranzuziehen, besteht also auch eine starke Tendenz, aus der Tochter eine Jung-Medea zu machen oder doch zumindest eine verhexte Kreusa. Und wenn wir nun noch bedenken, daß aufgrund der weitgehenden psychischen Mutter-Tochter-Gleichschaltung die Tochter unwillkürlich dahin tendiert, ihre eigenen Kinder so zu erziehen, wie sie es von ihrer Mutter erfahren hat, selbst wenn sie es selber bewußt ganz anders machen will, 244 wird deutlich, daß bereits aus der Psychodynamik des Medea-Komplexes selbst ein wesentlicher Grund zur andauernden Fortpflanzung des Patriarchats erwächst. Dies allerdings nur solange, als andere stärkere Gründe nicht eine neue Entwicklung einleiten.
VI. Die erfolgreiche Empörung der Medea im Spätpatriarchat Tatsächlich war dem griechischen Hochpatriarchat nur eine kurze, ca. !50jährige Blüte beschieden gewesen, beginnend mit den Perserkriegen zu Beginn des 5. Jh. v. Ch., und endend mit der Eroberung Griechenlands durch Philipp II. in den Jahren 348-338 v. Ch. Mit Alexander dem Großen beginnt die Zeit des Hellenismus und spätestens damit die Epoche des griechischen Spätpatriarchats. Was waren die Gründe für diesen Fortschritt von der hochpatriarchalen griechischen Kultur zur spätpatriarchalen hellenistischen, der sich von der Entwicklungshöhe der Kultur her gesehen, recht eigentlich schon wieder als Rückschritt darstellt? Im Anschluß an Theodor Mommsens Argumentation in seiner "Römischen Geschichte" (1902, II, 399 f.) wird gerne die Meinung vertreten, der eigentliche Grund für diese (Rück)Entwicklung sei die Revolte und Emanzipation der Frauen, in unserer Sichtweise und Terminologie also die "Empörung der Medea". Mit dieser Empörung beginne der Untergang der antiken Kultur. 245 Tatsächlich sind die Verhältnisse jedoch sehr viel differenzierter zu sehen. Zwar hat der "Untergang" der antiken Kultur, wie noch zu zeigen sein wird, in der Tat viel mit der "Empörung der Medea" zu tun. Die eigentliche Frage ist jedoch, wie es überhaupt erfolgreich zu dieser Empörung kommen konnte. Schon im griechischen Hochpatriarchat waren die Medea-Frauen, wenn auch vielleicht noch halb-unbewußt, empörungs-, revolte- und ausbruchswillig. Die tatsächliche Möglichkeit zu einer erfolgreichen Empörung der patriarchal eingebundenen Frau war aber erst gegeben, nachdem die sie gefangenhaltenden Grundfesten des Patriarchats aus sich heraus erschüttert und brüchig geworden waren. 244 245
S. Moeller bei Franck 1979, 30, sowie insbesondere Friday 1977, 28 f., 411 ff. S. die Zitate bei Janssen-Jurreit 1978, 58 f.
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Die erfolgreiche ,,Empörung der Medea" setzt also zumindest eine entsprechende Lockerung ihrer patriarchalen Fesseln voraus. Und insofern war es, wie sogleich näher zu zeigen sein wird, der griechische Mann selbst, der sozusagen als Gefängniswärter zumindest den Schlüssel im Schloß stecken ließ, wenn er nicht überhaupt aus sich heraus die Festung verließ, und dadurch der griechischen Frau die Gelegenheit zum Ausbruch gab. Daß dann dieser Ausbruch den Zusammenbruch des Patriarchats weiter beschleunigte und ihm letztlich den Todesstoß gab, ist nicht gut zu bestreiten. Insgesamt aber waren die griechischen Frauen doch nicht so sehr Mörder als vielmehr Totengräber einer sich selbst demontierenden und exekutierenden Männer-Kultur.
1. Die Selbst-Demontage des Hochpatriarchats Dieser Prozeß der die Empörung der Medea überhaupt erst ermöglichenden Selbst-Demontage des griechischen Hochpatriarchats beginnt nicht zufällig um die Zeit, als Euripides seine "Medea" schrieb. Im Jahr 431 v. Ch., dem Aufführungsjahr der "Medea", begann der Peloponnesische Krieg zwischen Athen und Sparta, und damit die griechische ,,Zeit der Wirren" (Toynbee), in deren Verlauf sich der von Zeus und Apoll verkörperte griechische Sonnenhimmel in einer inhärenten "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno 1944) allmählich erneut verdunkelte, bis im regressiv-mystischen Zwielicht des Endes der griechischen Kultur das progressiv-mythische Zwielicht ihres Anfangs wieder in den Blick rückte. Was ist hier mit verdunkelnder "Dialektik der Aufklärung" gemeint? Gemeint ist, daß eine Kultur gleichsam in einer mittäglichen Wendezeit ihren patriarchal"solaren" Zenith erreicht und überschreitet, weshalb am sozusagen kulturellen Nachmittag das Licht der Aufklärung notgedrungen abnimmt bzw. die Schatten wieder entsprechend länger werden. Bei näherem Hinsehen vollzieht sich nun dieser dialektische Prozeß der "Aufhebung" der Aufklärung in zwei durchaus abgrenzbaren Phasen. In einer ersten Phase geht es zunächst um die aufklärerische Befreiung des Einzelindividuums aus überkommenen kollektiven Über-Ich-Bindungen. In einer zweiten Phase geht es dann wieder um eine insgesamt freiwillige Aufgabe dieser individuellen Freiheiten zugunsten neuer Einbindungen in überindividuell-kollektive Zusammenhänge. In dem Artikel "Die Lebenswende" von 1931 hat C. G. Jung das Bild vom täglichen Sonnenlauf als Gleichnis verwandt, um den Verlauf des individuellen Lebens des Mannes zu charakterisieren: "Man denke sich eine Sonne, von menschlichem Gefühl und menschlichem Augenblicksbewußtsein beseelt. Am Morgen entsteht sie aus dem nächtlichen Meere der
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Unbewußtheit und erblickt nun die weite, bunte Welt in immer weiterer Erstreckung, je höher sie sich am Firmament erhebt. In dieser Erweiterung ihres Wirkungskreises, die durch das Aufsteigen verursacht ist, wird die Sonne ihre Bedeutung erkennen und ihr höchstes Ziel in größtmöglicher Höhe und damit auch in größtmöglicher Erstreckung ihres Segens erblicken. Mit dieser Überzeugung erreicht die Sonne die unvorhergesehene Mittagshöhe- unvorhergesehen, weil ihre einmalige individuelle Existenz ihren Kulminationspunkt nicht vorher wissen konnte. Um zwölf Uhr mittags beginnt der Untergang. Und der Untergang ist die Umkehrung aller Werte und Ideale des Morgens. Die Sonne wird inkonsequent. Es ist, wie wenn sie ihre Strahlen einzöge. Licht und Wärme nehmen ab bis zum schließliehen Erlöschen" (Ges. Werke Bd. 8, 453). Natürlich hinken auch die besten Vergleiche. Aber unverkennbar hat Jung mit dem Sonnengleichnis etwas Wesentliches ausgedrückt: "Um zwölf Uhr mittags beginnt der Untergang". In der Tat beobachten wir nach der Lebensmitte des Mannes eine absolute Entmännlichung, die insgesamt eine relative Verweiblichung bedeutet; desgleichen bei der Frau eine absolute Entweiblichung als relative Vermännlichung. Dieser Umkehrungsprozeß in der Lebenswende erscheint zutiefst hormonell bedingt: Der altemde Mann erfährt eine absolute Abnahme seiner Androgen-Produktion, wodurch sich bei gleichbleibender Östrogen-Produktion sein hormoneller Weiblichkeits-Pegel relativ erhöht. Umgekehrt erfährt die Frau im Klimakterium eine absolute Abnahme ihrer Östrogen-Produktion, wodurch sich bei gleichbleibender Androgen-Produktion ihr hormoneller Männlichkeitspegel relativ erhöht. 246 Diese hormonelle Ent- bzw. Vermännlichung beeinflußt als allererstes natürlich die sexuelle Motivation des älter werdenden Menschen: Bei Frauen nehmen die als weiblich eingestuften sexuellen Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Intimität mit zunehmendem Alter ab und das als männlich eingestufte Bedürfnis nach körperlicher Befriedigung entsprechend zu. Bei älter werdenden Männem ist es genau umgekehrt: Das Bedürfnis nach körperlicher Befriedigung nimmt ab, während im sexuellen Zusammensein zunehmend Zärtlichkeit und Intimität gesucht werden. 247 Diese charakteristische Entmännlichung des Mannes nach der Lebenswende - nur hierum geht es in unserem Zusammenhang - verändert aber nicht nur seine spezifisch sexuelle, sondern übergreifend seine allgemeine Lebensmotivation. Das männliche Streben nach "Gelderwerb, Weitereroberung und Existenzausdehnung" (Jung ebenda, 456) nimmt ab, wohingegen das Bedürfnis, sich um die bisher vernachlässigten oder gar unterdrückten, mehr selbstbezogen-emotionalen Seiten seiner Persönlichkeit, also um seine "Anima" zu kümmern, zunimmt. Insgesamt erscheint der Prozeß der Entmännlichung bzw. Verweiblichung des Mannes in der Lebenswende als durchaus natürlicher organo-psychischer Prozeß Dazu Haeberle 1978, 22 ff. D. Quadagno I J. Sprague in "Psychology today" Dec. 1989, zit. nach "Psychologie heute" März 1990, 18. 246 247
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des Verbrauchs und der schließliehen Erschöpfung an männlicher Energie, 248 ein Prozeß, der letztlich wohl kaum weiter zu erklären, sondern lediglich besser einsichtig zu machen ist. Im einzelnen je nach Konstitution und Lebensschicksal sicherlich unterschiedlich, ist dieser Prozeß insgesamt schlechthin vorgegeben und zwangsläufig, so daß etwa auch die Frage, ob die Anima in der ersten Lebenshälfte bloß eher unbeachtet geblieben, oder vielmehr unterdrückt und verdrängt worden ist, höchstens auf die Erscheinungsform der Wendezeit von Einfluß ist: Im ersteren Fall wird sie sich eher reibungslos und fließend, im letzteren eher als eruptive "midlife crisis" äußern. Was für das Einzelleben gilt, gilt im Großen und Ganzen entsprechend aber auch für die Generationenfolge eines Familiengeschlechts, 249 sowie für Kulturen insgesamt. Gerade auch für Kulturen gilt, daß irgendwann unweigerlich die Grenzen ihres Wachstums erreicht sind. Das heißt aber nichts anderes, als daß der gleichsam mittägliche Wendepunkt der jeweiligen Kultur erreicht ist, an dem die männliche Triebkraft zu weiterer Expansion und Transzendenz auf allen Gebieten verbraucht und erschöpft ist, und sich deshalb die kulturelle "Weiter"-Entwicklung recht eigentlich in einer sich entmännlichenden bzw. verweiblichenden Rückentwicklung vollzieht.
a) Das Entgegenkommen in der mittäglichen kulturellen Wendezeit Das chinesische "Buch der Wandlungen" I Ging nennt diese gleichsam mittägliche Wendezeit die Zeit des "Entgegenkommens" des bisher dominanten Männlichen, also des lichten Prinzips Y ang gegenüber dem dunklen weiblichen Prinzip Yin: "Das Zeichen deutet auf eine Lage, da das dunkle Prinzip heimlich und unerwartet von innen und unten her sich wieder eindrängt, nachdem es beseitigt war . .. Das Zeichen ist dem 5. Monat (Juni-Juli) zugeordnet, da mit der Sommersonnenwende das dunkle Prinzip allmählich wieder aufzusteigen beginnt" (I Ging, Zeich. 44). Entsprechend der Konzeption von Yin und Y ang als inneren wie äußeren Kräften bedeutet dieses "Entgegenkommen" ein Doppeltes: einmal das individual-psychologische Entgegenkommen des Männlichen seinem eigenen Weiblichen gegenüber, sodann das sozio-psychologische Entgegenkommen des Männli248 Jung 1931, 454: "Man könnte z. B. das Männliche und das Weibliche zusammen mit den seelischen Eigenschaften mit einem bestimmten Vorrat von Substanzen vergleichen, die in der ersten Lebenshälfte gewissermaßen ungleich verbraucht werden. Der Mann verbraucht seinen großen Vorrat an männlicher Substanz und hat nur noch den kleineren Betrag an weiblicher Substanz übrig, der nunmehr zur Verwendung gelangt." 249 Dazu aus der Literatur etwa Thomas Manns "Buddenbrooks", oder aus dem Leben die Krupp-Dynastie: Während die Gründergenerationen der Krupps selber noch ,,hart wie Kruppstahl" waren, war der vorletzte Krupp bereits ein feinsinniger Kunstliebhaber, während der letzte Krupp als effeminierter bisexueller Playboy endete.
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eben dem äußeren Weiblichen gegenüber. Betrachten wir zunächst das innere Entgegenkommen. Mit dem inneren Entgegenkommen des Yang seinem eigenen Yin gegenüber und der daraus resultierenden Entmännlichung bzw. Verweiblichung der Kulturkräfte beginnt das, was oben Selbst-Demontage des Hochpatriarchats bzw. Dialektik der Aufklärung genannt wurde. In einer umfassenden allgemeinen Tendenzwende schlägt der bisher männlichpatriarchalisch bestimmte Kulturverlauf einer überhaupt bereits patriarchalisch orientierten Kultur eine zunehmend in sich selber eingehende, und damit kulturpsychologisch gesehen regressive Richtung ein: "Die Sonne zieht ihre Strahlen ein, um sich selber zu erleuchten, nachdem sie ihr Licht auf eine Welt verschwendet hat" (Jung 1931, Bd. 8, 455). Diese kulturelle Wende läßt sich umfassend unter verschiedenen Aspekten beschreiben, so als Wende von der Evolution zur Involution, von der Expansion zur Kontraktion, oder auch im Goetheschen Sinne von der Diastole zur Systole, im kulturphilosophischen Sinn als Wende von der Transzendenz zur Immanenz, von der Rationalität zur Irrationalität, oder eben auch im kulturpsychologischen Sinne als Wende von der Extra- zur Introversion, von der Pro- zur Regression, vom objektiven Weltbezug zum subjektiven Selbstbezug. Für das Einzelindividuum bedeutet dieser der eigenen inneren Weiblichkeit Raum gebende zunehmende involutive Selbstbezug, zunächst jedenfalls, eine ungeheure seelische Befreiung von bisher Verleugnetem bzw. Verdrängtem. Diese Befreiung vollzieht sich insbesondere in der Abwendung vom triebfeindlichen Leistungs- zugunsten eines triebfreundlichen Lustprinzips, und damit in einem Übergang von über-ich-bestimmter Selbstverleugnung und-transzendenzhin zu weitgehend über-ich-freier, narzißtisch-lustvoller Selbstfindung und -befriedigung. Wenden wir uns nunmehr konkreter der mittäglichen Wendezeit der griechischen Kulturentwicklung zu. Zeitlich gesehen, vollzieht sie sich beispielhaft im spätperikleischen Athen. Das bedeutet, zur Zeit, als Euripides seine "Medea" schrieb, hatte der griechische Mann bereits begonnen, von der weiteren Eroberung äußerer Horizonte Abstand zu nehmen und sich den subjektiven Bedürfnissen seines eigenen Selbst zuzuwenden. Hier kann es nicht darum gehen, dieser Trendwende vom extraversiven Objektbezug zum introversiven Subjektbezug im einzelnen nachzugehen. 250 Beschränken wir uns auf das in unserem Zusammenhang Wesentliche. Das sich selber und damit seiner eigenen Anima Entgegenkommen der griechischen mittäglichen Wendezeit bereitete sich vor im Geist der sog. "Sophistik" um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Ch., 251 in der die Proloaufklärung der ionischen Naturphilosophie in einer nunmehr alles relativierenden Kulturphilosophie 250 251
S. dazu ausführlich Schachenneyr 1969a, 183 ff.; 1969b, 174 ff. Dazu insbes. Nestle 1941, 249 ff.
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mittels der Unterscheidung von allein maßgebender physis (Natur, Naturrecht) gegenüber dem lediglich relativ (un)verbindlichen nomos (Gesetz, Sitte, Brauchtum) auf die Spitze getrieben wurde. Alles was bisher als heilig, absolut und unantastbar gegolten hatte, galt nunmehr als lediglich relativ, fragwürdig-bezweifelbar und zweifelhaft. Dies galt insbesondere für das bisher Heiligste, die überkommenen patriarchalischen Götter. Bereits Xenophanes hatte in diesem Sinne betont: 252 "Wenn Kühe, Pferde, oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben." Und Protagoras' berühmte Schrift "Über die Götter", die er erstmalig in Euripides' Haus vorgelesen haben soll, 253 begann mit den Worten: 254 "Von den Göttern kann ich nicht wissen, weder daß es sie gibt, noch daß es sie nicht gibt, noch wie sie im Aussehen sind; vieles hindert mich, es zu wissen unter anderem die Tatsache, daß sie nie gesehen werden, und die Kürze des menschlichen Lebens." Diese Entthronung und Relativierung des bisher Absoluten bedeutete aber: Während der Mensch bisher in zentrale Über-Ich-Werte wie Religion, Polis, Sippe und Familie etc., die absolute Gültigkeit beanspruchen konnten, kollektiv eingebunden war, rückte nunmehr der Einzelne als relativ freies Individuum ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Angelpunkt dieserneuen Perspektive war der berühmte "homo mensura"-Satz des Protagoras: 255 "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (bzw. wie) sie sind, und der nichtseienden, daß (bzw. wie) sie nicht sind." Insofern Kant vergleichbar, wollte Protagoras mit diesem Satz der aufklärerischen Befreiung und Selbstverantwortung des Menschen aus selbstauferlegter geistiger Unmündigkeit das Wort reden. Keinesfalls jedoch sollte dieser Aufruf zu geistiger Selbstbestimmung ein zügelloses laisser faire des Individuums legitimieren. In der Praxis insbesondere der athenischen Oberschichten wurde die "Gott ist tot"- und "Der Mensch ist das Maß"-ldeologie des sophistischen Relativismus jedoch alsbald nur zu gerne als wohlfeile Rechtfertigung der Befreiung von jeglichen Überich-Bindungen zugunsten eines schrankenlosen Individualismus und Liberalismus, ja einer hemmungslosen Willkür auf den verschiedensten Gebieten verstanden. 252 253 254 255
Fragm. 15, zit. nach Capelle 1953, 121. Murray 1955, 14; Lesky 1963, 378. Zit. nach Diels-Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, 7. Aufl., 80 B 4. Zu dieser Fassung des Satzes Schachermeyr 1971, 155.
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Der perikleischen Vätergeneration diente das sophistische Ideengut vor allem zur Legitimation eines rücksichtslosen laisser faire-Liberalismus des "Rechts des Stärkeren" im wirtschaftlichen Bereich, der die polis nur mehr als bloße ,,Nutzungsinstitution" (Schachermeyr 1969a, 192 f.) betrachtete. Auf diese Weise wurde das perlkleisehe Athen "auch im Wirtschaftlichen ein Elysium der Superlative", in dem wie "nirgendwo (sonst) der Geschickte mit der gleichen Wahrscheinlichkeit auf Reichtum hoffen konnte" (Schachermeyr 1969b, 61). Die perlkleisehe Generation der Söhne zeigte alsbald die charakteristischen Anzeichen einer schmarotzerisch-dekadenten "jeunesse doree". 256 Ihr dienten die Lehren der Sophistik vor allem zum unbekümmerten Abwerfen aller Bindungen auf moralisch-ethischem sowie auf religiösem Gebiet zwecks Rechtfertigung einer frivolen Libertinage. So sollte auf ethischem Gebiet alles erlaubt sein, insofern es nur "physis", also natürlich sei. In diesem, fast schon an de Sades schrankenlos-souveräne Natürlichkeit gemahnenden Sinne erschien manchem dann selbst Inzest als bedenkenlos: "Daran ist nichts Schändliches, nur das Meinen macht es dazu". 257 Im religiös-kultischen Bereich hören wir von einem Kreis von "Teufelsverehrern" mit dem Zweck, "sich über die Götter und die athenischen Sitten lustig zu machen". 258 Insbesondere aber war im Kreis der sophistisch infizierten jeunesse doree die für die mittägliche kulturelle Wendezeit charakteristische Entmännlichung bzw. Verweiblichung nicht mehr zu übersehen. So rasierten sich die ,,Dandies des späten 5. Jahrhunderts" (Ehrenberg 1962, 106) vielfach nicht nur ihren Bart ab, sondern nach Frauenart am ganzen Körper, schmückten sich mit exotischen Blumen, trugen weiche warme Mäntel und Filzpantoffeln etc., 259 und trieben sich, statt in den Palästen zu trainieren, in den Bädern herum. 260 Auf sie gemünzt schrieb der Komödiendichter Kratinos das Stück "Die Weichlinge", und in Aristophanes' Komödie "Die Wolken" warnt der Vertreter der guten alten Ordnung vor einer bedenklichen Gynandrisierung wie folgt (V. 1015 ff.): "Doch wenn du es treibst in der neuen Manier, Bald hast du dann auch Bleichsüchtige Farb', schmalschultrigen Wuchs, Schwindsüchtige Brust ..." Diese Verweichlichung der athenischen Jugend konnte Perikles natürlich nicht gleichgültig bleiben. Offenbar sah er durch sie sein Lebenswerk geflihrdet. Und wohl nicht zuletzt in der Hoffnung, durch die ertüchtigenden Entbehrungen und Begriff bei Ehrenberg 1962, 113, sowie Schachermeyr 1969b, 178. Euripides, Aiolos, Fr. 19; zit. nach Dodds 1951, 100. Ebenso der Sophist Hippias gemäß Xenophon, Mem. 4, 4, 14; dazu Dodds 1973, 123. 258 So Lysias, Fr. 53; zit. nach Dodds 1951, 100. Dazu auch Nestle 1941, 487. 259 S. die Literatur-Zitate bei Ehrenberg 1962, 114. 260 Aristophanes, Wolken V. 992, 1057; dazu Schachermeyr 1969b, 178 f. 256 257
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Opfer eines längerdauernden Krieges zu einer allgemeinen moralischen Regeneration zu gelangen, oder doch insofern zumindest das Rad der Geschichte aufhalten, "den Entwicklungsgang von der Bindung zur Freiheit noch einmal abstoppen" (Schachermeyr 1969b, 211) zu können, brach Perikles 431 mutwillig den Peloponnesischen Krieg gegen Sparta vom Zaun. Perikles' Hoffnungen sollten sich allerdings nicht erfüllen. Im Gegenteil. Sofern sich die wehrfahige Jugend nicht überhaupt vor dem Kriegsdienst drückte, 261 ließ sie angesichts der Belastungen und Ängste des Krieges erst recht ihrer weiblich-emotionalen bis irrationalen Seite den Lauf. So kam es bereits kurz nach Kriegsbeginn zu einem ersten Aufblühen importierter orgiastisch-ekstatischer "matriarchaler" Kulte, wie dem der phrygischen Großen Mutter Kybele und ihres sich selber kastrierenden Sohn-Geliebten Attis, oder auch dem ihres thrakischen Pendents, der Bendis. 262 Desgleichen kam es zur Renaissance einheimisch-prägriechischer ekstatischer Kulte wie dem Orphismus, 263 bzw. durch Hereinnahme der Mysterien des thrako-phrygischen Sabazios, der eine Art von wildem, unhellenisiertem Dionysos geblieben war, zu einem wieder ungezügelteren Dionysos-Kult, 264 sowie zur Bewegung der nicht näher bestimmbaren ekstatischen Korybanten. 265 An all diesen Kulten und ihren Ausschweifungen nahmen nun nicht nur bloß Ausländer oder wenigstens nur griechische Frauen teil, sondern in gleicher Weise auch griechische, u. z. vorwiegend junge Männer.266 Soweit zum "Entgegenkommen" dem eigenen inneren Weiblichen gegenüber, das den griechischen Mann der mittäglichen kulturellen Wendezeit insgesamt entmännlicht-weiblicher empfinden ließ. Das Entgegenkommen dem eigenen inneren Weiblichen gegenüber war jedoch nur die eine Seite. Ihm entsprach auf der anderen Seite auch ein zunehmendes Verständnis und Entgegenkommen dem äußeren Weiblichen gegenüber. Die eigene Verweiblichung des Mannes schlug so gleichsam die Sympathie-Brücke zum Mitleid mit der im Hochpatriarchat eingekerkerten äußeren Anima als seiner von ihm unterdrückten "besseren Hälfte", und zur Anerkennung auch des Rechts der äußeren Anima auf befreiende Selbstfindung und -Verwirklichung. Erst dieses sympathisierende Mitleid der inneren Anima mit der äußeren liefert aber recht eigentlich den tieferen Beweggrund, gleichsam den Schlüssel im Schloß des 261 Ehrenberg 1962, 114: ,,Viele junge Leute wurden auch beschuldigt, sich in Kriegszeiten einträgliche und sichere Posten verschafft zu haben." 262 Ausführliche Schilderung des Bendis-Kults zu Beginn von Platons Politeia. Dazu Dodds 1951, 105. 263 Dazu Platon, Politeia 364 b ff. 264 Dodds 1960, XXIII mit Nachweisen. 265 Dazu Sirnon 1978, 256. 266 Ehrenberg 1962, 270 ff. mit weiteren Nachweisen.
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Gefängnisses des griechischen Frauenhauses zumindest stecken zu lassen (s. o. S. 108), und so der griechischen Medea-Frau ihren erfolgreichen Ausbruch in die Spätpatriarchale "Empörung der Medea" zu ermöglichen. Vom I Ging wird dieses Entgegenkommen des Mannes als Voraussetzung auch der emanzipatorischen äußeren Befreiung der Frau wie folgt beschrieben: "Das Emporkommen des Gemeinen ist unter dem Bild eines frechen Mädchens gezeichnet, das sich leichthin preisgibt und dadurch die Herrschaft an sich reißt. Das wäre nicht möglich, wenn das Starke und Lichte dem nicht auch seinerseits entgegenkäme (Zeichen 44, S. 166).
2. Die Emanzipation der griechischen Frau Die gedanklichen Grundlagen der emanzipatorischen Befreiung der griechischen Frau lagen wie die des Mannes ebenfalls bereits im Gedankengut der Sophistik begründet. Mit dem theologischen Relativismus eines Protagoras war letztlich nicht nur das absolute Patriarchat des Olympiers Zeus und der ihm untergebenen Götterfamilie in Frage gestellt und zum gesellschaftlich-abhängigen und wandelbaren "nomos" erklärt, sondern auch das ganz irdische Patriarchat des seine Frau unterdrückenden griechischen Mannes, das sich seit Hesiod ja eindeutig auf das angeblich vorgegebene himmlische bezogen und von daher legitimiert hatte. Nach sophistischer Auffassung war auch die patriarchalische Ehe nur nomos und damit eine lediglich zeitbedingte konventionelle Einrichtung. 267 Mit der Sophistik beginnt also auch so etwas wie eine theoretische Diskussion der Frauenfrage, abgehalten vermutlich im Salon von Perikles' zweiter Frau Aspasia, einer Milesierin von nicht ganz zweifelsfreier Vergangenheit, 268 deren Anliegen es offensichtlich war, auch gewöhnliche athenische Bürgersfrauen einer über Kirche, Küche und Kinder hinausgehenden Bildung teilhaftig werden zu lassen. 269 Wie diese Diskussion im einzelnen geführt worden ist, wissen wir nicht. Auf uns gekommen ist praktisch allein der Niederschlag, den sie bei den Kömödiendichtern und bei Euripides gefunden hat. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Medea unterstützende Frauenchor signifikant, der u. a. betont, das negative Image der Frauen werde sich bald ändern. 21o 267 Nestle 1941,474: "Daß nach sophistischer Auffassung die Ehe nur eine konventionelle Einrichtung war, kann überhaupt nicht bezweifelt werden. Wer sie, vielleicht unter Hinweis auf Sitten anderer Völker, als solche zu erweisen und damit zugleich auch ihren Anspruch auf unbedingte Gültigkeit zu erschüttern suchte, wissen wir nicht. Man möchte aber am ehesten an den Sophisten Antiphon denken." 268 Nach Ansicht der allerdings anti-perikleisch eingestellten Komödiendichter Eupolis (in seinen "Demoi") und Kratinos (in seinen "Chirones") war Aspasia ursprünglich nichts als eine gewöhnliche Hetäre. 269 Dazu Bruns 1900, 19 f.; Schachermeyr 1969b, 97 f.: Sonnet-Altenburg 1963, 73.
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Damit aus einem psychologischen Entgegenkommen und einer entsprechenden Diskussion der Frauenfrage nun auch tatsächlich eine reale Emanzipation der Frau wird, bedarf es allerdings noch einer auch äußeren Erschütterung und Umschichtung der bisherigen Ordnung. Diesen äußeren Wandel brachte der Peloponnesische Krieg. Nachdem die athenischen Frauen im Krieg bereits über Jahre hinweg notgedrungen "ihren Mann" (!) hatten stehen müssen, waren sie offensichtlich nicht mehr bereit, sich von den als Anti-Helden heimkehrenden Männem wieder in das alte Joch spannen zu lassen, zumal diese ihrerseits dazu kaum mehr ausreichend motiviert waren. Vieles spricht dafür, daß sich diese athenische Frauenbewegung bereits im Krieg selbst zu formieren begonnen hat. 271 So kreist Aristophanes' "Lysistrate" von 411 um eine Gruppe von zum Teil durchaus gebildeten (V. 1118 ff.) Frauen im Gefolge Aspasias, die nicht mehr bereit sind, länger zu schweigen und den Dingen ihren unseligen Lauf zu lassen. 272 Daß sich Anstopbanes gerade dieses Thema ohne jeglichen Bezug zur Realität bloß so aus den Fingern gesogen haben sollte, ist kaum anzunehmen. Darüberhinaus ist in Anstopbanes' Parodie auf die Weiberherrschaft der "Ekklesiazusen" von 392 zumindest die reale Angst mancher Männer vor einer derartigen feministischen Umwälzung mit Händen zu greifen. So befürchtet etwa der Mann der Titelheidin Praxagora unter Zitierung des Verses 37 aus Euripides' "Medea", eine Medea zur Frau zu haben (V. 338). Der erste handfeste Hinweis auf die athenische Frauenemanzipation befindet sich allerdings erst im 8. Buch von Platons "Staat", geschrieben zwischen 375370. Im Rahmen der Schilderung des Verfalls der athenischen Demokratie durch ein Übermaß von zu Willkür entarteter Freiheit heißt es in diesem Zusammenhang abwertend: "Das Höchste aber, mein Freud, was die Fülle der Freiheit in einem solchen Staat gewährt, ist es, wenn die gekauften Sklaven und Sklavinnen ebenso frei sind wie die Käufer. Wie weit aber die Gleichberechtigung der Freiheit zwischen Mann und Frau geht, das hätte ich zu erwähnen fast vergessen" (563 b). Diese Platon-Stelle ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen beweist sie, daß Platon selbst in seinem relativ frauenfreundlichen "Staat", von den späteren "Gesetzen" ganz abgesehen, keineswegs ein Befürworter der damals real stattfindenden Frauenemanzipation war, wie von feministischer Seite übrigens bereits in der Antike 273 - immer wieder angenommen wird. Was dem 21o
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Euripides, Medea 416 ff. Dazu Bruns 1900, 10 f.; Nestle 1941, 261; Schuller 1985,
So bereits Bruns 1900, 12 f. Dazu Bruns 1900, 19 f.; Nestle 1941, 474. 273 Laut Arrian, Epicteti dissertationes, Frgm. 15, ,berichtet Epiktet, in Rom hätten emanzipierte 'Frauen Platons Politeia mit sich herumgetragen, in der irrigen Annahme, darin eine Rechtfertigung für ihren ausschweifenden Lebenswandel zu finden. Dazu Friedländer 1922 I, 301; Pomeroy 1975, 171. 211
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oligarchisch gesinnten Platon in seiner, einem idealisierten Sparta nachempfundenen utopischen "Politeia" allein vorschwebte, war eine rigoros verpflichtende Gleichstellung von Männern und Frauen aus der Oberschicht der Staats-Wächter, also gleiche Erziehung, gleiche Aufgaben einschließlich Kriegsdienst, bei strengster Überwachung und Kontrolle des Liebes- und Ehelebens nach streng eugenischen Gesichtspunkten (V, 450c ff.). Mit Emanzipation der Frau, wie sie die feministische Theorie versteht, und wie sie sich auch real in Athen entwickelte, haben diese Ideen Platons jedoch höchst wenig zu tun. 274 Zum anderen beweist Platons Klage über die zu weit gehende Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, daß die Emanzipation der griechischen Frau nicht erst im Hellenismus eingesezt haben kann, wie bisweilen angenommen, 275 sondern ihr Beginn spätestens im spätdemokratischen Athen des ersten Viertels des 4. Jahrhunderts ein Faktum gewesen sein muß. Nähere Einzelheiten dieser im Prä-Hellenismus beginnenden Frauenemanzipation sind uns allerdings nicht greifbar. Immerhin ist aus der Selbstverständlichkeit, mit der um 300 die hellenistischen Philosophenschulen auch Frauen zu ihren Mitgliedern zählten, rückzuschließen, daß wohl schon um die Mitte des 4. Jahrhunderts eine Art Grundschulausbildung auch für Mädchen möglich gewesen sein muß. Auf breiterer Grundlage realisiert sich die Frauenemanzipation dann in der Tat erst im Hellenismus, mit den makedonischen Fürstinnen und Prinzessinnen an den diversen hellenistischen Höfen als Trendsetterinnen und herausragenden Repräsentantinnen der Bewegung. Mit dem Ende der griechischen Demokratie gab es nun neben dem Herrscher auch wieder Herrscherinnen, die mit den namenlosen Frauen des griechischen Hochpatriarchats nichts mehr gemein hatten und ihren Männern durchaus ebenbürtig waren, ja sie zum Teil in ihrer Bedeutung sogar überragten. Diese Reihe 274 Immerhin war Platons Begründung für die gleichsam spartanische Gleichstellung von Mann und Frau im Wächteramt, wenn man so will, feministisch. In diesem Sinne 454 d + e: "Wenn sie (die Geschlechter) sich aber bloß dadurch unterscheiden, daß die Frau gebiert, der Mann aber zeugt, dann ist dadurch noch keineswegs ein Unterschied zwischen Frau und Mann in der Berufseignung erwiesen . .." Oder auch 455d: ,,Es gibt also keinen öffentlichen Beruf, der nur für eine Frau oder nur für einen Mann geeignet wäre, sondern die Anlagen sind in beiden Geschlechtern gleich verteilt und die Frau hat, nach ihrer Anlage, an allen Berufen Anteil, ebenso der Mann ..." Aber selbst diese in der Tat "moderne" Begründung hat Platon in seinen etwa 20 Jahre nach der Politeia verfaßten "Gesetzen" stillschweigend wieder zurückgenommen. Darin heißt es wiederum in althergebrachter misogyner Manier (781 a + b), daß das weibliche Geschlecht "infolge seiner Schwäche auch sonst von Natur hinterhältiger und verschlagener ist", und daß "die weibliche Natur hinsichtlich der Tugend weniger wert ist als die der Männer", weshalb eine faktische Gleichstellung eben doch nicht in Frage komme. Dementsprechend ist in den "Gesetzen" auch die monogame Ehe wieder zwingend vorgeschrieben. Zum Ganzen näher Pomeroy 1975, 115 ff. 275 So etwa Schneider 1967, 78.
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herausragender mazedonischer Herrscherinnen begann mit Alexander des Großen dämonischer Mutter Olympias, die sich, dem Zeitgeist entsprechend, als Mänade des Dionysos verstand, dementsprechend mit Schlangen intimen Umgang pflegte und behauptete, Alexander so auf übernatürliche Weise empfangen zu haben, 276 und endete mit Caesars und Antonius' Kleopatra, der letzten Herrseherin Ägyptens und wohl emanzipiertesten Frau der späthellenistischen Welt, die etwa als Mann verkleidet Matrosenkneipen aufsuchte, um so die wahre Stimmung des Volkes zu erkunden. 277 Aber auch im griechischen Bürgerhaus breitete sich im Gefolge der königlichen Vorbilder die Emanzipation der Frau immer weiter aus. Die Möglichkeit der ohnehin freiwilligen Schulbildung wurde inzwischen auch für Mädchen zunehmend wahrgenommen; zum Teil fand sie sogar in Koedukation mit den Jungen statt, so in Teos, Chios und Pergamon. 278 Bereits um 300 finden wir eine Anzahl von Frauen in den verschiedenen Philosophenschulen des Hellenismus, mit Ausnahme der Stoa, die weiterhin dem traditionellen Frauenbild anhing. So wissen wir etwa von Leontion, einer Schülerin und Gefahrtin Epikurs, oder auch von Hipparchia, einer Tochter aus gutem Hause, die, alle Konventionen verachtend, den Kyniker Krates heiratete, und mit ihm als Wanderphilosophin umherzog. Nunmehr gibt es auch wieder Dichterinnen, die die frühpatriarchale Sappho wiederentdeckten und zum Teil nachahmten, wie Erinna, Nossis, Moiro und Anyte. 279 Ebenso hören wir jetzt von berühmten reisenden Musikerinnen und Sängerinnen, vereinzelt auch schon von Schauspielerinnen-eine Vorstellung, die dem klassischen Griechenland des 5. Jahrhunderts noch ein Greuel gewesen wäre. In Athen und Alexandria gab es darüberhinaus bereits im 3. Jahrhundert reine Frauenclubs. 280 Im 2. Jahrhundert erreicht die hellenistische Frau, ausgehend vom ptolemäischen Ägypten, dann weitestgehend ihre auch vermögensrechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung, was sich alsbald in einer Schicht von Unternehmerinnen niederschlägt, die von den jeweiligen Städten für etwaige Donationen entsprechend geehrt werden. 281 Vor allem aber löste sich die für das hochpatriarchale Griechenland so charakteristische strikte Trennung in Hausfrau oder Hetäre, u. z. auch als Lebensentwurf für ein und dieselbe Frau, zunehmend auf. So gewannen einerseits Hetären So Plutarch, Alexander 2, 4 f.; zit. bei Pomeroy 1975, 122. Schneider 1967, 90. Ausführlich zu den mazedonischen Herrscherinnen im Zusammenhang mit der hellenistischen Frauenemanzipation Schneider 1967, 81 ff.; Pomeroy 1975, 121 ff.; Schuller 1985, 87 ff. 278 Dazu Tarn 1952, 111. 279 Dazu Schneider 1967, 95 ff.; Pomeroy 1975, 137 ff. 280 Tarn 1952, 116. 281 S. Schneider 1967, 80; Schuller 1985, lll f. 276 277
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verstärkt gesellschaftlichen Einfluß und Anerkennung und konnten über ihre Kinder selbst in den Bereich der Legitimität vorstoßen. 282 Andererseits erreichte die legitime Ehefrau, wiederum zuerst im ptolemäischen Ägypten, eine zunehmende Besserstellung und Befreiung auch im sexuellen Bereich. So wurde ihr klitoridales Lustempfinden und -begehren nunmehr freimütig anerkannt und gebilligt. 283 Darüberhinaus gab es jetzt Ehekontrakte, in denen sich (auch) der Mann zu ehelicher Treue verpflichten mußte, bzw. dazu, seine Geliebte zumindest nicht ins Haus zu bringen. 284 Im Zusammenhang mit der Emanzipation der griechisch-hellenistischen Frau nahmen ab dem späten 3. Jahrhundert Abtreibung und Kindstötung insbesondere in Form von Mädchen-Aussetzungen signifikant zu. 285 Dabei kann mangels einschlägigen Quellenmaterials lediglich darüber spekuliert werden, ob sich in den zunehmenden Mädchen-Aussetzungen mehreine Racheübertragung der von ihren emanzipierten Frauen frustrierten Männer ausdrückt, oder nicht vielmehr eine unverblümte Ablehnung der Töchter seitens ihrer klitoridal-emanzipierten Mütter. Immerhin findet sich bei den von Sklavenfrauen geborenen Kindem dieses Mißverhältnis zwischen überlebenden Söhnen und Töchtern nicht. 286 Als Ergebnis war jedenfalls um die Mitte des 2. Jahrhunderts laut Polybios 287 in ganz Griechenland die Zahl der pro Familie aufgezogenen Kinder auf eines oder höchstens zwei zurückgegangen. Insgesamt hatte somit die hellenistische Frauenemanzipation in ihrer Ablehnung der traditionellen vaginal-uteralen Weibchen-Rolle einen unmißverständlich klitoridalen, d. h. aber in Bezug auf den Mann konkurriemd-kämpferischen Akzent. So verwundert es auch nicht, daß entsprechende männliche Befürchtungen nicht ausblieben. Deren Niederschläge finden sich in der - männlichen Literatur der Zeit, angefangen mit der bitteren Misogynie eines Menander, 288 über das allgemein verstärkte ambivalente Interesse an der .,Weiberherrschaft" der sagenhaften Amazonen, 289 bis hin zu charakteristischen Ergänzungen der überkommenen Mythen, etwa dahingehend, daß Hera ihrem Stiefsohn Herakles nur höchst unwillig die Brust gab, 290 oder auch, wie der effeminierte Herakles sich als Sklave der ihn dominierenden Omphale, mit der er die Kleider tauschen mußte, lächerlich machte. 29 1 Beispiele bei Schuller 1985, 113. Dazu Pomeroy 1975, 146 f. 284 Abdruck eines derartigen Vertrages bei Pomeroy 1975, 127 f. 285 Dazu Tarn 1952, 117 ff.; Nilsson 1961, 49; de Mause 1974, 46 f. 286 Tarn 1952, 123. 287 XXXVI, 17. S. dazu u. S. 136 f .. 288 .,Wehe wenn der Mann die Herrschaft über die Frau verliert, und sei es auch in der schlichtesten Ehe"; Frgm. K 418, zit. nach Schneider 1967, 117. 289 S. etwa Diodor Ill, 52-55. DjtZU Schneider 1967, 79. 290 Diodor IV, 9: .,Der Knabe sog aber kräftiger an der Brust, als sein Alter erwarten ließ; Hera empfand Schmerzen und warf das Kind weg." Dazu Slater 1968, 345. 282
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Wenn somit die Tendenz der hellenistischen Frauenemanzipation auch klar genug scheint, ist doch ihre Gesamtbewertung schwierig und dementsprechend umstritten. In der Literatur reichen die Stellungnahmen von "auf sämtlichen Gebieten, auf denen Frauen nun etwas darstellten, hatten sie ganz eindeutig nur den zweiten Rang inne" (Schuller 1985, 117), bis "die Frau wurde fast auf allen Gebieten dem Mann ,gleichberechtigt'" (Schneider 1967, 81). In der Tat reichen die bekannten, insgesamt doch spärlichen und lückenhaften Fakten nicht aus, um die hellenistische Frauenemanzipation eindeutig zu bewerten, und sie etwa als alle Bereiche umfassende, unserer eigenen zeitgenössischen Frauenemanzipation entsprechende Entwicklung anzusehen. Immerhin läßt sich soviel sagen: Dem auch das Geistige maßgeblich miteinbeziehenden Gesamtcharakter der griechischen Kultur entsprechend, scheint es bei der Emanzipation der griechischen Frau neben dem Aspekt der Befreiung ihrer klitoridalen Lustseite gerade auch um den Aspekt der Entfaltungsmöglichkeiten ihres klitoridalen Animus gegangen zu sein, wie die nicht wenigen hellenistischen Philosophinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen beweisen.
3. Die Emanzipation der römischen Frau Wenden wir uns nun der römischen Frauenemanzipation zu, bei der die Quellenlage insgesamt günstiger und daher auch eine Bewertung einfacher ist. Pauschal gesehen, sollte die römische Emanzipationsbewegung zunächst die hellenistische Entwicklung integrieren und damit auf eine breitere Grundlage stellen, aus ureigen römischen Gründen jedoch alsbald über die hellenistischen Gegebenheiten hinauswachsen und insofern auch die integrierte hellenistische Emanzipation entsprechend umformen und mit sich ziehen. Im Jahre 146 v. Ch. zerstörten die Römer Karinth und verleibten Griechenland auch formal als Provinz "Achaia" ihrem Weltreich ein, nachdem das Land praktisch bereits nach der Freiheitserklärung von 196 zu einem römischen Protektorat geworden war. Damit ging die Entwicklung Griechenlands endgültig in der umfassenderen Roms auf. Alsbald waren Städte wie Athen, Karinth und Sparta nur mehr für den damaligen Kulturtourismus interessante Orte ohne Zukunft, dafür aber mit einer glorreichen Vergangenheit. Dies war jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite hatte bereits im 3. Jahrhundert v. Ch., insbesondere nach der Einverleibung des bis dahin jahrhundertelang griechisch geprägten Sizilien im Jahre 241, in Rom ein intensiver Hellenisierungsprozeß eingesetzt, der das in seiner kulturellen Entwicklung um ca. zwei Jahrhunderte hinter Griechenland herhinkende Italien im Zuge einer 291 Ovid, Heroides IX, 54 ff.; Fasti II, 305. Dazu v. Ranke-Graves 1955, 488 f.; Ken!nyi 1958, 208.
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satellitenhaften "Schnellreife" (Schachermeyr 1969a, 374) innerhalb kürzester Zeit von einer bis dahin kulturell relativ unbedarften Bauern- und Kriegerkultur in ein hellenistisch geprägtes dekadentes Weltreich verwandeln sollte. Hier kann es nicht darum gehen, diese Entwicklung im einzelnen darzustellen und einsichtig zu machen. Ein Hauptgrund für diese rasante Entwicklung ist jedoch zweifellos darin zu sehen, daß das althergebrachte römische Gesellschaftssystem seiner übermäßigen imperialen Beute in keiner Weise gewachsen war, so daß letztlich nicht der Eroberer seine Beute zuträglich verzehrte, sondern die Beute den Eroberer abträglich aufzehrte. 292 Bis zur ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Ch. befand sich Rom in der Phase seines von fremden Einflüssen noch weitgehend untangierten Hochpatriarchats, dessen Charakter sich doch wesentlich von dem des entsprechenden griechischen Hochpatriarchats des 5. Jahrhunderts v. Ch. unterschied. Rom hatte weder eine "oral poetry" gekannt, geschweige denn einen Homer oder Hesiod. Ebensowenig hatte es eine eigenständige Philosophie entwickelt. Dementsprechend gab es auch nichts, was der griechischen Aufklärung und Sophistik ernsthaft vergleichbar gewesen wäre. Der kulturelle Charakter Roms vor dem Beginn seiner imperialen Expansion war insgesamt noch eindeutig feudal-großbäuerlich und -kriegerisch geprägt, und insofern eher dem klassischen Sparta vergleichbar als Athen. 293 Was das Verhältnis der Geschlechter anlangte, war seine Verfassung eindeutig patriarchal. Rein formalrechtlich hatte der pater familias aufgrund seiner traditionellen patria potestas immer noch die absolute Verfügungsgewalt über die Familienangehörigen, einschließlich des Aussetzungs-, Verkaufs- und Tötungsrechts in Bezug auf seine Kinder. 294 Töchter waren gegenüber Söhnen schon dadurch als zweitrangig erkenntlich, daß sie keinen eigentlichen Vomamen hatten, sondern lediglich den feminisierten Familiennamen mit einem, falls erforderlich, unterscheidenden Zusatz wie "die Ältere" oder "die Jüngere". Mit der Verheiratung der Tochter ging die patria potestas des Vaters, nunmehr manus genannt, auf den Ehemann über. Dementsprechend hatte dieser jetzt die absolute Herrschaftsgewalt über die Frau, einschließlich des Tötungsrechts etwa im Falle eines Ehebruchs. 295 Diese Strenge des formal superpatriarchalen römischen Familienrechts konnte allerdings schon in dem aus dem 5. Jahrhundert stammenden Zwölftafelgesetz durch eine Reihe von legalen Schlupflöchern unterlaufen werden, etwa dadurch, 292 In diesem Sinne schon Livius in der Vorrede, 4 zu seiner Röm. Geschichte: " ... weil der aus so geringen Anfängen erwachsene Staat zu solcher Größe angeschwollen ist, daß er mittlerweile selbst darunter leidet." 293 Dazu Crawford 1978, 57. 294 Dazu Pomeroy 1975, 150 f.; Schuller 1987, 15. 295 Zweifelnd Pomeroy 1975, 153.
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daß ein dreimaliger Scheinverkauf des Kindes zu seiner Befreiung von der patria potestas führte, 296 oder auch dadurch, daß bei der üblichen Eheschließung durch usus (unserem common law vergleichbar) die manus-Gewalt des Ehemanns dadurch zu vermeiden war, daß die Frau jährlich drei Nächte hintereinander außerhalb des gemeinsamen Hauses verbrachte. Damit aber war bereits im 5. Jahrhundert v. Ch. der rechtliche Grundstock für die spätere allgemein e-mancipatio genannte Befreiung der Frau aus ihrer patriarchal-untergeordeten Rolle gelegt. 297 Der entscheidende Punkt und damit auch Unterschied zum griechischen Hochpatriarchat liegt nun darin, daßtrotzder formalrechtlichen Vergleichbarkeit ihrer untergeordeten Stellung die römische Frau zu keiner Zeit in der für die Frau des griechischen Hochpatriarchats so charakteristischen quasi-orientalischen Abgeschlossenheit gehalten wurde. Etwas der griechischen gynaikonitis Vergleichbares war in Rom völlig undenkbar. 298 Die römische matrona konnte auch im Hochpatriarchat selbstverständlich allein auf die Straße und zu Festveranstaltungen gehen, und bei Einladungen saß sie ebenso selbstverständlich an der Seite ihres Mannes, allerdings ohne Wein trinken zu dürfen. 299 Auch das für das hochpatriarchale Griechenland so charakteristische Hetärenwesen war im hochpatriarchalen Rom nicht zu finden. 300 Bündig konzentriert kam das im Großen und Ganzen ausgeglichene Verhältnis der Geschlechter zueinander in dem berühmten traditionellen Ausspruch der frischvermählten Braut zum Ausdruck: "Ubi tu Gaius, ego Gaia". Der Hauptgrund für die praktische (Selbst)Wertschätzung der römischen Frau lag darin, daß in der vor-imperialen, immer noch weitgehend großbäuerlichfeudal geprägten römischen Gesellschaft bis zur ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Ch., beide Geschlechter trotz unterschiedlicher Aufgabenverteilung - der Mann für das Äußere, die Frau für das Innere zuständig - an einem Strang zogen. Mann und Frau hielten sich noch weitestgehend an die puritanischen mores maiorum, also die genügsamen Sitten und Gebräuche der Vorfahren, die der ältere Cato als Apologet der guten alten Zeit in seinem "carmen de moribus" so charakterisierte: 301 "Es war Brauch, sich auf dem Forum ansehnlich zu kleiden, zu Hause nur ausreichend. Für Pferde zahlten sie mehr als für Köche. Dichtkunst stand nicht in Ehren. Wenn sich jemand damit abgab oder sich zu Gastereien und Gelagen begab, hieß er Tagedieb."
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300 301
Schuller 1987, 14. Dazu Balsdon 1962, 200; Schuller 1987, 15. S. das Comelius Nepos-Zitat aufS. 91, Anm. 186. Friedländer 1922 I; 281; Teufer 1913, 22 f.; Schuller 1987, 16. Putnam 1910, 41 f. Zit. nach Christ 1984 b, 96.
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Die allgemeine Schlichtheit der Lebenshaltung brachte es mit sich, daß selbst in den vornehmen Häusern Roms bessere Möbel und Silbergeschirr nur spärlich anzutreffen 302 waren. All dies änderte sich relativ überstürzt mit dem Überschreiten der bis dahin geübten insgesamt behutsamen und auch großzügigen inneritalischen Ausweitungs-und Bündnispolitik 303 durch das Ausgreifen Roms über Italiens Grenzen hinaus. Im Gefolge des I. Punischen Krieges fiel Rom im Jahre 241 als erste Provinz Sizilien als praeda, also als Kriegsbeute zu. Damit setzte die Dynamik eines imperialen ,,Anreicherungsprozesses" (Schachermeyr 1969 a, 355) ein, die, nachdem eine gewisse Schwelle überschritten war, offenbar zu immer neuen Anreicherungsaktionen trieb und den Charakter Roms innerhalb von zwei Jahrhunderten total veränderte. Im Zusammenhang mit der hier interessierenden Emanzipation der römischen Frau ist insbesondere die bereitwillige Rezeption des hellenistischen Lebensgefühls von Bedeutung. Zwar kann von einer vertieften Assimiliation und Wertschätzung griechisch-hellenistischer Kultur wohl erst ab der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Ch. die Rede sein, wie sie insbesondere in dem Kreis um Scipio Aemilianus zum Ausdruck kommt, dem der Historiker Polybiosund der Stoiker Panaitios als "Griechen" angehörten. 304 Erste entscheidende Impulse dazu gehen jedoch bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts zurück. Im Gefolge der territorialen Einverleibung des griechisch-hellenistischen Kulturraums der "Magna Graecia" in Unteritalien, also etwa Tarents nach dem Sieg über Pyrrhos 272, Siziliens nach dem I. Punischen Krieg 241, sowie von Syrakus 212, verleibte sich Rom alsbald auch die Charakteristika der zeitgenössischen griechisch-hellenistischen Kultur ein, die natürlich nicht mehr die klassische attische des 5. Jahrhunderts war, sondern die "postmoderne" der damaligen Zeit, einschließlich ihrer Frauenemanzipation, und formte sie in seinem Sinne um. Im Bereich der bildenden Kunst wurde das Konzept der "praeda" zunächst ganz wörtlich genommen, indem die Kunstwerke von Tarent und Sizilien etc. einfach nach Rom verschleppt wurden. 305 Im Bereich der Literatur begann nunmehr die Zeit der sog. "Übertragungsliteratur", die den Römern den hellenistischen Zeitgeist nahezubringen unternahm. Den Anfang dieser Rezeption des Hellenismus im literarischen Bereich machte Livius Andronicus, ein ehemaliger Kriegsgefangener aus Tarent, der neben einer Übersetzung der Odyssee ab 240 erste Übersetzungen von Euripides und der attischen Komödie auf die Bühne brachte, 306 gefolgt von Ennius, der die erste ,,römische" Medea schrieb, sowie 302 303 304 305 306
Kahrstedt 1951, 176. Dazu Crawford 1978, 46; Christ 1984a, 27. Dazu Schneider 1967, 944 ff. Dazu Schneider 1967, 942 ff.; Christ 1984a, 115 f. Näheres bei Büchner 1957, 37 ff.
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von Plautus und Terenz, die insbesondere Stücke des hellenistischen Komödiendichters Menander latinisierten. Zu dieser Rezeption des zeitgenössischen Griechentums bemerkte der ältere Cato in einem Brief an seinen Sohn Marcus abschätzig: 307 "Ich werde dir über dieses Griechenvolk noch sprechen, Marcus: ... daß es gut ist, in ihre Literatur einen Blick zu werfen, nicht aber sie genau zu studieren. Ich will ihre grundverdorbene und unbelehrbare Art aufzeigen. Und das glaube, was ein Seher gesagt hat: Wenn dieses Volk da uns seine Literatur herbringt, dann wird es alles verderben, und das noch mehr, wenn es erst seine Ärzte schickt." Wie für Griechenland zwei Jahrhunderte zuvor der Peloponnesische Krieg, so bedeutete für Rom der II. Punische Krieg von 218-01 die endgültige Wende zur "späten Republik" (Christ 1984a, 11; 1984b, 2), und damit zu spätpatriarchalen Verhältnissen.
a) Der II. Punische Krieg als Wende zum römischen Spätpatriarchat Wie seinerzeit der verheerende Peloponnesische Krieg für Griechenland, so markiert nunmehr der kräftezehrende Abnutzungskrieg gegen Hannibal die gleichsam mittägliche Wendezeit der beginnenden Selbst-Demontage des römischen Hochpatriarchats. In einer zunehmenden Abdankung männlich-patriarchalisch bestimmter Wertvorstellungen und Einstellungen bei gleichzeitig verstärkter Hinwendung zu weiblich-emotional bis irrational bestimmten Empfindungsweisen, verwirklichte sich damit auch für Rom das für diese mittägliche Wendezeit charakteristische ,,Entgegenkommen" gegenüber der inneren wie äußeren Anima als Voraussetzung und günstiger Nährboden für die reale Emanzipation der Frau. Erste Anzeichen dieser Entmännlichung bzw. Verweiblichung zeigten sich bereits im Krieg selbst. So versuchte etwa nach der römischen Niederlage bei Cannae im Jahre 216 eine Gruppe junger römischer Adeliger zu desertieren, "ihre Augen aufs Meer und Schiffe gerichtet, in der Absicht Italien zu verlassen und zu irgendeinem König ihre Zuflucht zu nehmen" (Livius 22, 53). und nur den drohend erhobenen Schwertern von Publius C. Scipio, dem nachmaligen Sieger von Zarna, und seinen Getreuen gelang es, die Betreffenden bei der Stange zu halten. 308 Allgemein sahen sich im Verlauf des Krieges die Zensoren veranlaßt, gegen die Lässigkeit der Militärpflichtigen mit ernsten Strafen einzuschreiten. 309 Schließlich stellte um 180 ein römischer Bürgerschaftsbeschluß den Nachweis von zehn Dienstjahren als Qualiftkation für die Bekleidung eines jeden Gemeindeamtes fest, um die Söhne der Nobilität dadurch zum Eintritt in das Heer zu nötigen. 307 Cato, Ad Marcum filium, in: Plinius: Naturalis historia 29, 7, 14-15; zit. nach Crawford 1978, 97. 308 Dazu Mommsen 1902 II, 135. 309 Mommsen, ebenda S. 340.
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Die alte Tapferkeit der Römer war jedoch unwiederbringlich dahin. Der an sich unbedeutende Istrische Krieg von 178 offenbarte die "einreißende Feigheit" in einem Maße, daß Cato diesbezüglich seinen Landsleuten eine eigene Strafpredigt zu halten nötig fand. 310 Vergeblich. Die"Grundstimmung des Widerwillens" bis hin zur "allgemeinen Abneigung gegen den Kriegsdienst" ab der Mitte des 2. Jahrhunderts war durch nichts mehr aufzuhalten.3 11 Die charakteristische Entmännlichung bzw. Verweiblichung zeigte sich unmißverständlich gerade auch auf religiös-kultischem Gebiet. Nachdem es offenbar bereits ab 213 zu einer ersten Welle ausländischer orgiastischer Kulte gekommen war, 312 prophezeiten die Sibyllinischen Orakel im Jahre 205, Hannibal könne nur dann endgültig aus Italien vertrieben werden, wenn man die magna mater Kybele aus Pessinus in Phrygien nach Rom bringe. Dementsprechend wurde ein Jahr später mit Hilfe des Königs von Pergarnon der schwarze Kultstein der Göttin durch den "besten Mann in der Bürgerschaft Roms" in Empfang genommen und in einer feierlichen Prozession der "ehrbaren Frauen" zum Palatin geführt (Livius 29, 14). Damit hatte Rom, wie zwei Jahrhunderte zuvor Athen, einem der extremsten orgiastisch-effeminierenden "matriarchalen" Kulte seine Tore geöffnet, auf dessen rituellem Höhepunkt die neu einzuführenden Priester der Göttin in Nachahmung ihres Jünglings-Geliebten Attis sich selbst zu entmannen pflegten. 313 Mochte man auch die Exzesse des Kybele-Kults in Rom dadurch zu beschneiden suchen, daß römischen Bürgern die Selbstentmannung verboten und auch die Zurschaustellung der Verschnittenen eingeschränkt wurde, 314 - der darin zum Ausdruck kommende Trend zu emotionalisiert-ekstatisehen Erlebnisweisen war nicht mehr aufzuhalten. Dies zeigte sich deutlich schon wenige Jahre später angesichts des sog. "Bacchanalienfrevels" von 186. Vermutlich schon während des Hannibal-Krieges war es in Italien zur Renaissance eines orgiastisch-ekstatischen Dionysos-Kults gekommen. Ursprünglich als relativ sittsames und am Tage gefeiertes Frauen-Fest begangen, 315 hatten sich die Bacchanalien zu Beginn des 2. Jahrhunderts zu einer Abertausende zählenden, und keineswegs nur die Unterschichten erfassenden 316 Massenbewegung entwickelt gehabt, mit nächtlichen hetero- und homosexuellen Ausschweifungen gerade auch von Männern, die Livius eine Ex-Teilnehmerin so schildern läßt (39, 13, 10 ff.): 310 Mommsen, ebenda S. 339. 311 Crawford 1978, 116. 312 Livius 25, 1, 6 ff. 313 Dazu Nilsson 1961, 644 ff. 314 Altheim 1956, 59. 315 Livius 39, 13, 8. 316 Livius 39, 13, 14 spricht von einer "gewaltigen Menge, fast schon ein zweites Volk, darunter auch einigeMännerund Frauen aus bekannten Familien"; dazu Crawford 1978, 133 f.
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"Seitdem die Mysterien gemeinschaftlich seien und das Miteinander von Männern und Frauen und die Ungebundenheit der Nacht dazugekommen sei, sei keine Untat und keine Schandtat dort unterblieben. Es gebe mehr Unzucht von Männern untereinander als mit Frauen ... Nichts für unerlaubt zu halten, das sei das höchste Gebot unter ihnen. Männer weissagten, als wenn sie von Sinnen wären, unter ekstatischem Hin- und Herwerfen ihres Körpers." Der Senat war insbesondere angesichts der effeminierten Männer entsetzt, 317 und sorgte sich um die Erhaltung der Wehrkraft (Livius 39, 15, 13): "Meint ihr, Mitbürger, daß junge Männer, die durch diesen (bacchantischen) Eid eingeweiht worden sind, Soldaten werden dürfen? Daß man diesen, wenn sie aus der Kultstätte der Unsittlichkeit herausgeführt worden sind, Waffen anvertrauen darf?"
Die Bacchanalien wurden mit äußerster Härte unterdrückt, und eine nicht geringe Anzahl von für schuldig befundenen Männem hingerichtet. 318 Durch Senatsbeschluß vom 7. Okt. 186 319 wurde das zukünftige Abhalten von unautorisierten und mehr als drei Frauen und zwei Männer umfassenden Bacchanalien bei Todesstrafe verboten. Nun konnten durch dieses harte Vorgehen des Senats zwar die realen Exzesse der Bacchanalien einigermaßen im Zaum gehalten werden, 320 nicht jedoch die zugrundeliegenden Bedürfnisse nach befreiender Effeminisierung einerseits bzw. klitoridaler Befreiung andererseits. Die Rezeption hellenistisch-freiheitlicher Lebenseinstellung ging unvermindert weiter, bis um die Mitte des 2. Jahrhunderts in den Oberschichten ein regelrechter Wettlauf um die schnellere Assimilierung und Zurschaustellung "griechischen" Kulturgutes zu verzeichnen war. 321 Wenn wir nach den tieferen Gründen für diese hellenistische "Schnellreife" der römischen Kultur fragen, vermag der gängige Hinweis, daß ein kulturell unbedarfter Neuling wie Rom eben besonders eifrig und wehrlos einer reiferen Zivilisation verfällt, 322 nicht so recht zu überzeugen. Vielmehr erscheint auch in Rom letztlich eine inhärente Dialektik, zwar nicht eigentlich der Aufklärung, wohl aber der virtus dafür verantwortlich, daß die römische Kultur innerhalb so kurzer Zeit ihren Charakter so grundlegend wandelte. Nachdem der römische Mann und die römische Frau jahrhundertelang höchst einseitig dem männlichen bzw. weiblichen Tugendideal entsprechend gelebt hat317 Livius 39, 15, 9: ,,Zuerst also sind ein großer Teil Frauen, und das ist die Quelle dieses Übels gewesen; dann Männer, die die größte Ähnlichkeit mit Frauen haben, die Unzucht mit sich treiben lassen und selbst Unzucht treiben, Schwärmer und durch das Wachbleiben, den Wein und das nächtliche Getöse und Geschrei in Ekstase Versetzte." 318 Livius 39, 18, 5. 319 Abgedruckt etwa bei Grant 1957, 54 ff. 320 Sie ganz zu unterdrücken, gelang allerdings nicht, obwohl 180 wieder ca. 3000 Anhänger verurteilt worden waren; s. Mommsen 1902 II, 395. 321 Crawford 1978, 101. 322 Vgl. etwa Putnam 1910, 49.
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ten - der Mann dem der Härte und Tapferkeit verpflichtet, die Frau dem der Häuslichkeit und Kinderaufzucht - , kann es kaum verwundern, daß die diesen Idealen zugrundeliegenden Kräfte sich inzwischen erfüllt und erschöpft hatten, so daß angesichts der Belastungen und Ängste eines verheerenden Krieges wie dem Hannibal-Krieg und dem Gefühl des glücklich Davongekommenseins danach das Bedürfnis übermächtig wurde, nunmehr endlich auch das Gegen-Teil des Persönlichkeitsganzen zu verwirklichen, beim Mann also seine so lange negierte weibliche Anima-Seite, bei der Frau ihre klitoridale Animus-Lust-Seite. Und dieser jeweilige Durchbruch des Gegenteils kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als bei den Zügellosigkeitendes sog. Bacchanalien-Frevels von 186. So wichtig die hellenistischen Einflüsse in ihrer Bedeutung für die mittägliche Wendezeit der römischen Kultur und damit für die Emanzipation der römischen Frau auch sind, so sollen sie doch nicht überbetont werden. Nicht minder wichtig dafür erscheint noch ein anderer, prosaischerer, sozusagen ur-römischer Grund, der allerdings, wie die Rezeption des Hellenismus, gleichfalls aus der imperialistischen Expansions- und Beutepolitik Roms herrührte. Bereits im Gefolge des I. Punischen Krieges, erst recht aber nach dem II., hatten sich insbesondere für die römischen Oberschichten der Senatoren und Ritter erstmals ungeahnte Bereicherungsmöglichkeiten ergeben, 323 die deren bisher recht frugalen Lebenszuschnitt drastisch veränderten. Nunmehr entstanden die von Sklaven bewirtschafteten großen Latifundien, die komfortablen Landvillen und die prächtigen Stadthäuser. 324 Infolge dieses neuartigen Reichtums entstand aber auch alsbald das Bedürfnis nach Gütertrennung in der Ehe. Weder die Herkunftsfamilie der Frau noch diese selbst sahen ein, warum der von ihr eingebrachte Besitz in die unbeschränkte Verfügungsgewalt (manus) des Ehemannes übergehen sollte. Es bildete sich daher schon in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts zunehmend das Institut der ex-manus, also der e-manzipierten Ehe heraus, wofür ja bereits das Zwölftafelgesetz den juristischen Aufhänger geliefert hatte (s. o. S. 122). Juristisch zunächst zwar weiterhin unter der formalen "tutela" ihrer Herkunftsfamilie, konnte die ex-manus-Frau praktisch nunmehr weitgehend selbständig über ihr Vermögen verfügen, und sich als Selbständige auch leicht von ihrem Mann scheiden lassen. 325 Aufgrund dieser manus-freien Eheform waren nun die über eigene Vermögen verfügenden Frauen bereits im II. Punischen Krieg ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor, und daher Adressaten der berühmten Anti-Luxus-Beschlüsse der "Lex Oppia" von 215, um deren Aufhebung 20 Jahre später sich die erste große Auseinandersetzung um die Emanzipation der römischen Frau entzünden sollte. 326 323 324 325
Dazu Crawford 1978, 88 f. Kahrstedt 1951, 208 ff.; Christ 1984b, 69 ff. Teufer 1913, 31; Halsdon 1962, 48 + 201; Schuller 1987, 15.
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b) Die Aufhebung der Lex Oppia Nach der verheerenden Niederlage von Cannae gegen Hannibal im Jahre 216 beschloß Rom verstärkte Kriegsanstrengungen und -einschränkungen. 215 wurde daher zur Auffüllung der Staatskasse und zur Unterbindung von demonstrativem Luxus mit der "Lex Oppia" bestimmt, es sollte ,,kein Frauenzimmer mehr als eine halbe Unze Gold besitzen noch ein buntfarbiges Kleid tragen noch innerhalb der Hauptstadt, einer römischen Landstadt oder eines Umkreises von tausend Schritten im Wagen fahren, es sei denn des öffentlichen Gottesdienstes wegen" (Livius 34, 1, 3). Der neue Reichtum nach der Niederwerfung Karthagos im Jahre 201 ließ jedoch alsbald eine veritable Frauenbewegung entstehen, die 195 lautstark die Aufhebung der Lex Oppia verlangte. "Wie die Suffragetten Anfang unseres 20. Jahrhunderts" (Balsdon 1962, 35) ließen sich laut Livius (34, 1, 5 ff.) "die verheirateten Frauen weder durch Zureden noch durch ihr Anstandsgefühl oder durch das Machtgebot der Männer im Hause festhalten. Sie hielten alle Straßen der Stadt und die Zugänge zum Forum besetzt und baten die nach dem Forum gehenden Männer, sie möchten bei dem Wohlstande des Staates, bei dem täglichen Wachstum des allgemeinen Privatbesitzes auch den Frauen ihren ehemaligen Schmuck wieder zukommen lassen. Diese Ansammlung der Frauen wurde von Tag zu Tag stärker." Bei Livius sinngemäß überliefert sind nun sowohl die Rede Catos des Älteren gegen die Aufhebung des Luxus-Gesetzes, als auch die Rede des Vertreters der Sache der Frauen, des Volkstribunen L. Valerius, dafür. Als Repräsentant der guten alten Ordnung geißelte Cato die beantragte Aufhebung der Iex Oppia u. a. wie folgt: .,Wenn es sich ein jeder von uns, ihr Quiriten, hätte angelegen sein lassen, der eigenen Hausfrau gegenüber die rechtliche Hoheit des Mannes aufrechtzuerhalten, würden wir mit der Gesamtheit der Frauen weniger Schwierigkeit haben. So aber wird unsere Selbständigkeit, nachdem sie im Hause unterlegen ist, durch die weibliche Unbändigkeil auch hier auf dem Forum schmählich mit Füßen getreten, und weil wir nicht eine jede für sich im Zaume gehalten haben, müssen wir vor ihrer Gesamtheit erschrecken" (34, 2, 1 f.) ... "Denn was gäbe es, woran sie sich nicht wagen werden, wenn sie erst dies (die Aufhebung des Gesetzes) erkämpft haben? Vergegenwärtigt euch eirunal alle die Frauen betreffenden Rechtsbestimmungen, durch die eure Vorfahren ihre Zügellosigkeit gebunden und sie den Männem unterworfen haben: trotzalldieser Einschränkungen könnt ihr doch kaum ihrer Herr werden. Wenn ihr nun vollends zulaßt, daß sie an diesem oder jenem Rechte herurnnörgeln, es euch aus der Hand winden und schließlich den Männem gleichberechtigt werden, glaubt ihr vielleicht, daß ihr es dann noch mit ihnen werdet aushalten können? Nein, sondern von dem Augenblick an, wo sie anfangen gleichgestellt zu sein, werden sie euch über den Kopf gewachsen sein" (34, 3, 1 ff.). 326 Ausführlich zum Hintergrund des Oppischen Gesetzes und zum Kampf um dessen Aufhebung Pomeroy 1975, 177 ff.
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Zusammenfassend prangerte Cato dann den allgernein um sich greifenden Luxus schlechthin als das die herkömmliche Ordnung bedrohende Grundübel an: "Oftmals habt ihr mich über den Luxus klagen hören bei Frauen sowie Männern, und zwar nicht bloß bei Privatleuten, sondern auch bei Behörden; habt mich darüber klagen hören, daß der Staat an zwei entgegengesetzten Lastern kranke, an Habsucht und an Üppigkeit- Seuchen, die noch alle großen Reiche zerstört haben. Je besser und erfreulicher von Tag zu Tag die Lage des Staates wird und je mehr das Reich wächst- und schon gehen wir nach Griechenland und Asien hinüber, die angefüllt sind mit allerlei Lockmitteln für die Begierden, und bereits strecken wir die Hand aus nach den Königsschätzen - , um so mehr schaudere ich vor dem Gedanken, daß diese Dinge mehr uns in Besitz genommen haben als wir sie. Als Feinde, ihr könnt es mir glauben, sind die Standbilder aus Syrakus in diese Stadt eingezogen. Gar zu viele höre ich schon die Kunstwerke Korinths und Athens preisen und bewundern und über die irdenen Giebelbilder der römischen Götter lachen" (34. 4, I ff.). Demgegenüber vertrat Valerius die Sache der Frauen u. a. wie folgt: "Während alle anderen Stände, während alle Menschen den Umschwung der öffentlichen Verhältnisse zum Besseren empfinden, soll nur unseren Gattinnen der Segen des Friedens und der allgemeinen Ruhe nicht zugute kommen? Wir Männer tragen den Purpur ... Lediglich den Frauen wollen wir den Gebrauch des Purpurs verbieten? Und während es dir als Mann gestattet ist, Purpur für die Reitdecke zu verwenden, willst du es deiner Hausfrau verwehren, ein purpurfarbenes Mäntelchen zu tragen? Dein Pferd soll prächtiger gesattelt als dein Weib gekleidet sein? ... Keine obrigkeitlichen Ämter noch Priesterwürden, keine Triumphe, Auszeichnungen, Ehrengaben und Beuteanteile im Kriege können ihnen zuteil werden; Anmut in Schmuck und Toilette, das ist die Zier der Frauen, deren freuen und rühmen sie sich .. ." (Livius 34, 7, I ff.). Valerius brachte damit das eigentliche Anliegen der emanzipationsbestrebten Frauen auf den Punkt: Wenn ihr Männer euch nicht mehr an die genügsamen mores maiorum halten wollt, wollen wir Frauen es auch nicht mehr! Wenn ihr euch Luxus und Zügellosigkeiten ergebt, wollen wir das gleiche Recht für uns! Bei der römischen Frauenemanzipation geht es also im Unterschied zur griechischen nicht so sehr darum, die bestehende und die Frauen benachteiligende Doppelmoral endlich aufzuheben, als darum, sie nunmehr nicht zu ihren Lasten einzuführen. Die die Aufhebung der Lex Oppia verlangenden Frauen kämpften also im Grunde um die Beibehaltung bzw. Wiederherstellung der fairen "Geschäftsgrundlage" der römischen Geschlechterbeziehung angesichts des nunmehr allseits möglichen Luxus. Aufgrund anhaltender Frauendemonstrationen 327 wurde die Lex Oppia schließlich aufgehoben. 327 Livius 34, 8, I: ,,Nach diesen Reden gegen und für das Gesetz war am folgenden Tage die Menge der Frauen, die auf die Straßen strömte, noch beträchtlich größer. In einem langen Zuge belagerten sie alle die Türen der Bruter, die gegen den Antrag ihrer
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Damit war ein Zeichen gesetzt, und Hand in Hand 328 mit der Abschiednahme des Mannes von der Selbstzucht und Kargheit der über-ich-betonten mores maiorum erreichte die römische Frau nunmehr Zug um Zug ihre klitoridale Emanzipation vom bisherigen vaginal-uteralen WeiblichkeitsideaL Die Gesetzmäßigkeiten und der Verlauf dieser Emanzipation entsprechen im Großen und Ganzen den Gegebenheiten der griechisch-hellenistischen Emanzipation, mit dem wesentlichen Unterschied, daß, während die Emanzipation der griechisch-hellenistischen Frau gerade auch den Aspekt der Befreiung ihres klitoridalen Animus betont hatte, also gerade auch ihre bildungsmäßige und professionelle Emanzipation, das Schwergewicht der Emanzipation der römischen Frau unverkennbar mehr im Bereich der Befreiung ihrer klitoridalen Lust-Seite lag. Dieser Umstand, zusammen mit den ungleich üppigeren materiellen Entfaltungsund Darstellungsmöglichkeiten in der römischen Gesellschaft, ist letztlich dafür verantwortlich, daß die römische Frauenemanzipation im Vergleich zur griechisch-hellenistischen einen so viel kruderen und krasseren, ja bisweilen regelrecht abstoßenden Charakter aufweist. 329 Im 2. Jahrhundert v. Ch. setzte sich die manus-freie Ehe mit praktisch freier Verfügungsmacht der Frau über ihr Vermögen in den oberen und besitzbürgerliehen Schichten mehr und mehr durch, 330 was den betreffenden Frauen insbesondere die Möglichkeit einer risikolosen Scheidung ermöglichte. Von dieser Möglichkeit wurde auch zunehmend Gebrauch gemacht, bis es im 1. Jahrhundert v. Ch. in den Ober- und Mittelschichten zu einer regelrechten "Ehescheidungsepidemie"331 kam, wohingegen die Ehen der Unterschichten noch beständig blieben.
Aber auch wenn die Frau sich nicht scheiden ließ, veränderte sich ihr Lebenszuschnitt radikal. Der neue Reichtum nach dem Ende des II. Punischen Krieges verwandelte die ehemalige Hausfrau und Mutter alsbald in die Herrin eines Sklavenhaushalts und eine Ammenaufseherin mit einem beträchtlichen Maß an Freizeit, die sie in ihre klitoridale Selbstverwirklichung investierte. In diesem Rahmen begann also auch die römische Frau sich für Bildung und Kultur zu interessieren, wenn auch zumeist nur in einem modisch-oberflächlichen Sinne. 332 Amtsgenossen Einspruch erheben wollten, und ließen nicht eher nach, als bis die Tribunen ihren Einspruch aufgaben." 328 So richtig Schuller 1987, 55. 329 S. de Beauvoir schreibt in diesem Zusammenhang daher zweifellos zu Recht (1949, 99): "Tatsache ist, daß sie (die Römerinnen) vor allem durch ihren Hang zu Vergnügungen und durch ihre Laster mit den Männem zu konkurrieren versuchen; ... die Römerin der Verfallzeit ist die typische falsche Emanzipierte . . .". 330 Dazu insbes. Elias 1986, 432 + 441, sowie Hatebur 1987, 86 ff. 331 So J. Carpocino, zit. bei Hatebur 1987, 91; s. auch Teufer 1913, 32; Elias 1986, 435. 332 Dazu Putnam 1910, 50 f.: " . . . the busband paid forthebest art that money could buy, and the wife 1eamed to talk about it and to entertain the artist ... Ladies flocked to hear lectures on all sorts of subjects, originating the odd connection between scholarship and fashion.".
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Jedenfalls hören wir nichts von ihren hellenistischen Schwestern vergleichbaren römischen Philosophinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen. 333 Und auch die professionelle Emanzipation der römischen Frau hielt sich in vergleichsweise bescheidenen Grenzen, nicht zuletzt deshalb, weil es die reiche Römerin schlichtweg nicht nötig hatte zu arbeiten. So waren die meisten Ärztinnen, Hebammen, Gastwirtinnen etc. auch im emanzipierten Rom (freigelassene) Griechinnen und nicht Römerinnen. 334 Umso intensiver widmete sich die römische Frau der "Genußsexualität" (Hatebur 1987, 92) als dem Lust-Aspekt ihrer klitoridalen Befreiung. Dazu gehörte zunächst einmal die Teilnahme an nächtlich-orgiastischen Festen wie denen der bereits besprochenen Bacchanalien, oder auch der "Bona Dea", zu welch letzteren Männer immer noch keinen Zutritt hatten. 335 Vor allem aber begann die römische Frau zunehmend immer offener promiskuös zu leben, was den Konsul des Jahres 133 v. Ch., L. Piso, in seinen Annalen bemerken ließ, in Rom sei die Keuschheit (der Frau) schon um die Jahrhundertmitte vernichtet gewesen.336 Zunehmend wurden nun auch Empfängnisverhütung, Abtreibung und insbesondere Mädchen-Aussetzung 337 praktiziert, mit der Folge, daß, wie im Griechenland des 2. Jahrhunderts, nunmehr auch im Rom des 1. Jahrhunderts die 1,etwasKind-Familie mehr und mehr zur Norm wurde. 338 Innerhalb weniger Generationen hatte somit die römische Frau im Rahmen eines allgemeinen Verfalls des alten patriarchalen Wertesystems 339 um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Ch. ihre klitoridale Emanzipation weitestgehend erreicht. Das Ausmaß dieser Emanzipation ist durchaus dem unserer zeitgenössischen vergleichbar - mit einem wichtigen Unterschied: Die römische Frau hatte nach wie vor keinerlei direkte politische Rechte. Sie konnte weder in ein öffentliches Amt wählen, noch gewählt werden. 340 Allerdings ist nicht sicher, ob die römische 333 S. Friedländer 1922 I, 296 ff.; zu den Gedichten einer Sulpicia Pomeroy 1975,
173 f.
334 Putnam 1910, 60. Etwas anderes galt für gewinnträchtige Unternehmungen wie den Grundstückshandel, sowie für Ziegel- und Bleimanufakturen, die ausweislich der Stempel vielfach in der Hand von Römerinnen waren; s. Putrnan 1910, 62; Schuller 1987, 25.
335 Dazu Balsdon 1962, 269 f.; Ratebur 1987, 95. 336 In Plinius: Naturalis historia 17, 244; zit. nach Friedländer 1922 I, 283. 337 Zum Ganzen Pomeroy 1975, 165 ff. 338 Dazu Balsdon 1962, 213 ff., 218. 339 In diesem Sinne bereits der zur Augustus-Zeit schreibende Livius, insbes. in seiner Vorrede (9 ff.) zu seiner Römischen Geschichte: ,,Aber darauf richte mir ein jeder seine Aufmerksamkeit: wie das Leben, wie die Sitten waren; durch welche Männer und mit welchen Künsten zu Hause und im Krieg die Herrschaft errungen und gemehrt wurde; sodann, bei allmählichem Niedergang der Disziplin, verfolge er in seinem Geist die Lebensführung, wie sie erst absank, dann mehr und mehr zerfiel, dann völlig zusammenzustürzen begann - bis es endlich zu den gegenwärtigen Zeiten kam, da wir weder unsere Gebrechen noch die Heilmittel ertragen können" (9). 9*
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Frau derartige direkt politische Rechte überhaupt angestrebt hat, da es eine Frauenbewegung in unserem politischen Sinne in Rom zu keiner Zeit gegeben hat. 341 Im 1. Jahrhundert n. Ch. setzte sich der Emanzipationstrend der letzten Jahrzehnte der römischen Republik nur noch verstärkt fort. Koedukation in der Schule ist nun eine Selbstverständlichkeit, die eheherrliche manus-Gewalt inzwischen ganz ausgestorben, und auch die praktisch ohnehin bereits lächerlich gewordene Agnatentutel über mündige Frauen wird unter Claudius schließlich auch formal aufgehoben. 342 In den Eheverträgen ist, wie schon zuvor im hellenistischen Osten, nunmehr auch in Rom, vereinzelt von der Treuepflicht gerade auch für den Mann die Rede, bzw. es gilt das Ideal der "offenen" Beziehung 343 mit selbstverständlicher Scheidungsmöglichkeit für beide Teile. 344 Der Schwarm der Frauen sind einerseits "Softies" wie Sänger, Schauspieler und Pantomimentänzer, 345 andereseits alle möglichen Wettkämpfer als die letzten echten Männer, insbesondere Gladiatoren. 346 Der Gipfel der Gleichberechtigung scheint erreicht, wenn berichtet wird, daß auch Frauen nicht nur öffentlich body building betreiben, sondern auch selbst als Gladiatoren auftreten, 347 oder auch in den Provinzen in Männerkleidung an militärischen Aktionen teilnehmen bzw. als Frauen der Statthalter daran gehindert werden müssen, das Kommando ihrer Männer über die Truppen selbst in die Hand zu nehmen. 348 Nicht zuletzt diese Auswüchse der klitoridalen Emanzipation, die manche Frauen geradezu als schreckenerregende Mannweiber erscheinen ließ, führten, .wie in Griechenland, so auch in Rom zu einer im Verlauf immer ätzender werdenden männlichen Misogynie, sowie dazu, daß auch der Mann seinerseits sich immer unverblümter der Aufgabe von Heirat und Kinderaufzucht verweiger340 Erst unter Heliogabal zu Anfang des 3. Jh. gab es einen "mulierum senatus", also einen eigenen Frauensenat, mit gewissen standesrechtlichen Kompetenzen; dazu Teufer 1913, 26 f., 37; Friedländer 1922 I, 282, Anm. 6. 341 Dazu Teufer 1913, 36 f.; Balsdon 1962, 313. 342 Teufer 1913, 33; Kahrstedt 1944, 65. 343 Juvenal VI. Satire, V. 281 ff.: "Längst waren wir einig, versetzte sie, daß du tun kannst, was dir beliebt, daß ich aber gleichfalls gründlich mich ausleben kann." 344 Kahrstedt 1944, 287: " .. . die uns historisch bekannten Frauen sind in der großen Mehrzahl drei bis fünfmal verheiratet gewesen." S. dazu auch die satirische Ubertreibung bei Juvenal VI. Sat., 225 ff. 345 Dazu Friedländer 1922 I, 290 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 346 Dazu Schuller 1987, 23 f. 347 So Juvenal II. Sat., 53; VI. Sat., 246 ff., 421; Petronius S. 54. Dazu Friedländer 1922 II, 53: "Frauen haben nicht selten in der Arena gekämpft, im Jahre 63 unter Nero selbst hochgeborene"; s. auch 1922 I, 294, sowie die in der einbändigen FriedländerAusgabe aufS. 683 abgebildeten weiblichen Gladiatoren-Kämpferinnen. 348 Einzelheiten bei Balsdon 1962, 64 f. Diese Auswüchse führten zu dem allerdings abgelehnten Senatsantrag von 21 n. Ch., wonach Statthaltern die Mitnahme ihrer Frauen in die Provinzen verboten werden sollte.
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te. Begonnen hatten junge Männer bereits im 2. Jahrhundert v. Ch., die Ehe zu scheuen und statt dessen lieber mit einer Geliebten zu leben, die etwaigen Nachwuchs dezent abtrieb. 349 Deshalb hatte bereits im Jahre 131 v. Ch. der damalige Censor Q. Metellus eine berühmte Rede "gegen die Ehescheu und über Maßnahmen zur Hebung der Geburtenzahlen" gehalten, in der es u. a. hieß: 350 "Thr edlen Quiriten, wenn wir ganz unbeweibt leben könnten, würden wohl alle
sich dem Ungemach (der Ehe) gerne entziehen. Weil nun aber die Natur es einmal so eingerichtet hat, daß man weder mit ihnen in aller Bequemlichkeit leben kann, noch ohne sie überhaupt ein Leben zu denken ist, so muß man mehr auf das fortdauernde Wohl als auf das kurze Vergnügen Rücksicht nehmen."
Dieser selbst in Metellus' Rede unverkennbare misogyne Trend setzte sich nun im 1. Jahrhundert vor und nach Ch. verstärkt fort, bis er in der berühmtberüchtigten VI. Satire des Juvenal vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Ch., die an den Frauen seiner Zeit überhaupt keine gutes Haar mehr ließ, seinen absoluten Höhepunkt erreichte. 351 Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit für eine bewertende Einordnung der griechisch-römischen Frauenemanzipation.
4. Verwirklichung des "Traums der Medea" jetzt? Die in unserem Zusammenhang entscheidende Frage lautet: Haben die beiden gegenläufigen Tendenzen der Antike- die Selbst~Demontage des Patriarchats in der mittäglichen Wendezeit des "Entgegenkommens" gleichsam von oben nach unten, also die Entwicklung des Selbstverständnisses weg von einseitig männlich-rationaler Transzendenz bzw. virtus hin zur Berücksichtigung inhärentweiblicher Aspekte und damit zu insgesamt effeminierteren Verständnis- und Verhaltensweisen auf Seiten des Mannes, sowie die Emanzipation der Frau gleichsam von unten nach oben, also ihre klitoridale Empörung und Befreiung aus der ihr im Hochpatriarchat zugemuteten rein vaginal-uteralen WeibchenRolle - endlich zu der erhofften harmonischen und fruchtbaren erwachsenen Gleichwertigkeilsbeziehung der Geschlechter geführt? Also im Sinne des "Traums der Medea" zu einem brüderlich-schwesterlichen schöpferischen Verhältnis von Animus und Anima in Verwirklichung eines androgyn-gynandrischen "Mond-Bewußtseins"? Die Antwort hat die Geschichte gegeben, und sie lautet, wie sie nur lauten konnte - nein. Der antike Mann und die antike Frau haben vielmehr im Verlauf Dazu Balsdon 1962, 212 f. Zit. nach Balsdon 1962, 85 f. 351 Allgemein dazu insbes. Hatebur 1987; speziell zu Juvenal Friedländer 1922 I, 285; Bullough 1973, 93 f. 349
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
der Jahrhunderte zunehmend unfruchtbar neben- und aneinander vorbei gelebt, bis sich in einer gleichsam mitternächtlichen erneuten Wendezeit um die historische Zeitenwende fruchtbar Neues ankündigte, das allerdings innerhalb des alten Rahmens des römischen Imperiums nicht mehr regenerierend wirksam werden konnte. Der psychologisch wesentliche Grund für dieses zunehmend unfruchtbare Neben- und Aneinandervorbei der Geschlechter ist unschwer einzusehen. Zwar bedeutete die· nachmittägliche Entmännlichung des Mannes zusammen mit der entsprechenden Entweiblichung der Frau von der Konstellation her an sich ein einander Näherkommen und damit in Analogie zur Tag-und-NachtGleiche eine Art "Geschlechter-Gleiche". Diese Annäherung zur Gleichheit war jedoch kein liebevoll-schöpferisches Aufeinanderbezogensein wie in der gleichsam frühlingshaften Geschlechter-Gleiche des kulturellen Vormittags, als die sich ihrem Liebespartner brüderlich-schwesterlich seelenverwandt fühlende Anima diesem noch zu seinem Heldentum verhalf. Nunmehr, gleichsam am kulturellen Nachmittag, bestand die Annäherung zur Gleichheit der Geschlechter vielmehr lediglich darin, daß sich beide Geschlechter im Zuge der nachmittäglichen kulturellen Involution jeweils verstärkt auf sich selber, auf ihre eigene subjektive Selbsttindung und -Verwirklichung konzentrierten. Dieser beiderseitige zunehmende narzißtische Selbstbezug war nun im Zusammenhang mit der damit verbundenen verstärkten Hinwendung zum triebbefreienden Lustprinzip, so jedenfalls zunächst, zwar subjektiv durchaus genußvoll und befriedigend, infolge der damit einhergehenden verstärkten Abwendung vom über-ich-bestimmten Leistungsprinzip aber objektiv zunehmend unfruchtbar und unproduktiv. Spengler (1923, 459) spricht in diesem Zusammenhang allgemein vom "Klimakterium der Kultur ... als der Zeitwende, wo die seelische Fruchtbarkeit ... für immer erschöpft ist und die Konstruktion an Stelle der Zeugung tritt." Und das chinesische Buch der Wandlungen beschreibt diese Entwicklungsphase des involutiven und damit lediglich scheinbar schöpferischen Aufeinanderzu von Yang und Yin unter dem Zeichen "Pi" = "Stockung" wie folgt: "Der Himmel oben zieht sich immer weiter zurück, die Erde unten sinkt immer weiter in die Tiefe ... Himmel und Erde stehen außer Verkehr, und alle Dinge erstarren ... Die schöpferischen Kräfte stehen außer Beziehung. Es ist die Zeit der Stockung und des Niedergangs. Das Zeichen ist dem siebenten Monat (AugustSeptember) beigeordnet, wenn das Jahr seinen Höhepunkt überschritten hat und das herbstliche Welken sich vorbereitet" (Zeichen 12, S. 66).
a) Unfruchtbare "Stockung" Eklatantester Ausdruck des unfruchtbaren Neben- und Aneinandervorbei der Geschlechter in der gleichsam herbstlichen Geschlechter-Gleiche der antiken Zivilisation war ihre zunehmende biologische Unfruchtbarkeit. Im weiteren Ver-
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lauf erfuhren die kulturtragenden Schichten der griechisch-römischen Antike eine ständig spürbarer werdende Bevölkerungsabnahrne, bis am Ausgang der Antike mit einer veränderten Bevölkerungsstruktur auch eine andere Kultur in Entstehung begriffen war. Die Entwicklung dieser Depopulation stellt sich kurz wie folgt dar: In Athen und Attika nahm die freie Bevölkerung bereits während und nach dem Peloponnesischen Krieg unzweifelhaft ab, hauptsächlich wohl wegen der Pestepidemie von 430-427, 352 in Sparta sogar schon ab 479, also dem Ende der Perserkriege. 353 Gleichwohl verfügte Griechenland bis um 300 noch über genügend Bevölkerungsreserven, um die hellenistische Kolonisation Asiens in der Generation nach Alexander zu bewerkstelligen. Allerdings scheinen um diese Zeit bereits die ersten Krisenzeichen auf. Um 300 mußte die gymnasiale Ephebie in Athen von drei Jahren auf eines verkürzt werden, da die Zahl der Epheben ständig gesunken war. 354 Korinth vermochte im 3. Jahrhundert nur mehr ein Viertel der Hoplitenzahl des 5. Jahrhunderts zu mustern. 355 Ab 230 findet sich die Familie mit einem Kind, d. h. in der Regel mit einem Sohn, am häufigsten. 356 Ab dem 2. Jahrhundert wird die Bevölkerungsabnahme allgemein spürbar und entsprechend beklagt, allen voran von Polybios (dazu u. S. 137). Um 100 versucht man, durch Adoptionen, Sklavenfreilassungen und Fremdeneinbürgerungen die Bevölkerungszahlen noch einmal zu stabilisieren, 357 insgesamt jedoch vergeblich. Denn in der Kaiserzeit mehren sich die Berichte etwa von Strabon, Plutarch, Dion und Pausanias358 über einstmals blühende, aber nunmehr verödete griechische Orte und Städte. Für Rom und Italien ergibt sich, phasenverschoben, ein ganz entsprechendes Bild. Den ersten spürbaren Bevölkerungseinbruch zeitigte bereits der II. Punische Krieg. Ab ca. 180 fiel dann unter der freien Bevölkerung Italiens die Geburtemate unter die Sterberate. 359 Bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts wird ein allgemeiner Rekrutenmangel spürbar, der es erforderlich macht, die Flotten statt mit "assidui" (Besitzbauern) mit "proletarii" (Besitzlosen) zu bemannen. 360 Spätestens im 1. Jahrhundert v. Ch. ist dann auch in Italien die l,Komma-etwas KindFamilie die Norm- die Reproduktionsrate sinkt unter 1,5 % 361 -,und zur Zeit Plinius' des Jüngeren (gest. 113 n. Ch.) scheint selbst die I-Sohn-Familie schon 352 S. Beloch 1886, 495. 353 Dazu Pomeroy 1975, 38. 354 Nilsson zit. bei Schneider 1967, 137. 355 Beloch zit. bei Tarn 1952, 120 f. 356 Tarn 1952, 119. 357 Dazu Tarn 1952, 120; Nilsson 1961, 50. 358 Nachweise bei Nilsson 1961, 310 sowie 1962, 181 f. 359 Beloch 1886, 505; Hatebur 1987, 92. 360 Crawford 1978, 116. 361 Nach einer bei Rousselle (1983, 275, Anm. 3) zit. Arbeit von N. Mallard hatten damals 109 gezählte Paare insgesamt nur 161 Kinder. Mehr als die Hälfte der Paare hatten nur ein Kind, mehr als ein Viertel hatten zwei Kinder.
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etwas aus dem Rahmen Fallendes gewesen zu sein. 362 Unter Augustus steigt zwar die Gesamtbevölkerungszahl des Reiches bis ins 2. Jahrhundert n. Ch. wieder an, allerdings nur aufgrund territorialer Expansion und einer großzügigen Einbürgerungspolitik. 363 Das kaiserliche Rom etwa besteht bereits im 1. J ahrhundert n. Ch. zu mindestes 80 000 aus nichtrömischen Bevölkerungsschichten. 364 Spätestens mit dem Ende der imperialen Expansion und dem Ausbruch der Pest unter Mare Aurel gehen dann auch die Gesamtbevölkerungszahlen des Reiches unaufhörlich zurück. 365 Als Ursachen für die Depopulation der griechisch-römischen Bevölkerungsschichten werden die verschiedensten Umstände herangezogen, so die großen Kriege wie der Peloponnesische und der II. Punische Krieg, Seuchen wie die Pest in Attika während des Peloponnesischen Krieges oder auch im ganzen Reich ab 165 bzw. 250 n. Ch., 366 speziell für Griechenland auch die umfangreichen Versklavungen durch Rom nach dem Verlust der Unabhängigkeit, 367 insgesamt vor allem aber die übermächtige Konkurrenz der Sklavenwirtschaft 368 Für die langfristige Depopulation der kulturtragenden Schichten der Antike erscheinen alle diese Begründungen letztlich jedoch nicht als überzeugend. Kriege und Seuchen rufen höchstens mittelfristige Bevölkerungseinbrüche hervor, die jedoch bei ansonsten ungebrochenem generativem Verhalten schon nach wenigen Jahrzehnten wieder ausgeglichen werden. Auch der angebliche Konkurrenzdruck der Sklavenwirtschaft kann nicht der eigentliche Grund gewesen sein. Denn dann müßte doch mit dem kontinuierlichen Rückgang der Sklavenwirtschaft infolge von massiven Sklavenfreilassungen, die in Griechenland bereits im frühen 2. Jahrhundert einsetzten, 369 und in Rom ca. ein Jahrhundert später, 370 bzw. infolge des Versiegens des Sklavennachschubs mit dem Ende der imperialen Expansion im 1. Jahrhundert n. Ch., sich die freie Bevölkerung aufatmend alsbald wiederum vermehrt haben. Dem war jedoch nicht so. Den eigentlichen Grund für den Rückgang der freien Bevölkerung auch in Zeiten allgemeinen Friedens, der Abwesenheit von Seuchen sowie des Abnehmens der Sklavenwirtschaft sieht denn auch etwa Polybios in seinem um 150 v. Ch. geschriebenen Geschichtswerk ganz woanders: "In der Zeit, in der wir leben, ist in ganz Griechenland die Zahl der Kinder, überhaupt der Bevölkerung in einem Maße zurückgegangen, daß die Städte verödet sind und
Zitate bei Friedländer 1922 I, 252. T. Frank in Christ 1970, 139; Nilsson 1962, 338. 364 Kahrstedt 1951, 398; T. Frank in Christ 1970, 139. Dazu auch die entsprechenden Klagen etwa von Lucan (bei Friedländer 1922 I, 235) und Juvenal III. Sat., 61 ff. 365 Boak 1955, 15, 19 ff. 366 S. etwa Beloch 1886, 495; Boak 1955, 19, 26. 367 Dazu Tarn 1952, 37, 44. 368 So Beloch 1886, 504 f.; Heinsohn I Steiger 1985, 225 f. 369 Tarn 1952, 122. 370 Raith 1982, 53; T. Frank bei Christ 1970, 152. 362 363
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das Land brachliegt, obwohl wir weder unter Kriegen von längerer Dauer noch unter Seuchen zu leiden hatten. Wenn uns nun jemand den Rat gäbe, deswegen zu den Orakeln zu schicken und die Götter zu befragen, was wir sagen und tun müssen, um an Zahl zuzunehmen und die Bevölkerung unserer Städte zu vermehren, würden wir den nicht einen Narren heißen, da doch der Grund klar zutage liegt und da es in unserer Macht steht, das Übel abzustellen? Denn nur deshalb, weil die Menschen der Großmannssucht, der Habgier und dem Leichtsinn verfallen sind, weder mehr heiraten noch, wenn sie es tun, die Kinder, die ihnen geboren werden, aufziehen wollen, sondern meist nur eins oder zwei, damit sie im Luxus aufwachsen und ungeteilt den Reichtum ihrer Eltern erben, nur deshalb hat das Übel schnell und unvermerkt um sich gegriffen" (36, 17). Mit dieser Analyse trifft Polybios zweifellos das Wesentliche. Äußerlich aufgrunddes zunehmenden Luxus und innerlich aufgrundder männlichen Verweiblichung und Selbst-Demontage im Spätpatriarchat und der damit verbundenen klitoridalen Emanzipationsmöglichkeiten, wenden sich die Frauen - zunächst nur der oberen, alsbald aber auch der diesen nacheifernden mittleren und zuletzt selbst der unteren Schichten von der herkömmlichen Fortpflanzungssexualität ab und einer GenuGsexualität zu, die als regelrechter "Geburten-Streik" (Raith 1982, 72) allmählich zur Norm der l,etwas-Kind-Familie führt. Dies gilt gleichermaßen für Griechenland wie für Rom. 371 Aline Rousselle (1983, 65 f.). faßt diesen Trend der emanzipierten Frau der Antike zur Mutter- und damit Kinderlosigkeit unter Berufung auf den antiken Gynäkologen Soranos so zusammen: "Die Frauen wollten abtreiben (Sor., I, 65), sie verlangten vom Arzt oder von der Hebamme Rezepte, welche die Griechinnen untereinander weitergegeben hatten ... Und vor dem Geschlechtsverkehr führten sie in den Muttermund Pessare und Pflaster ein, die die Rolle eines Diaphragmas spielten (Sor., I, 61)."
b) Vergebliche Restaurationsversuche der Guten Alten Zeit Die gesellschaftlichen Implikationen dieser biologischen Mutter- und Kinderlosigkeit wurden von den damaligen Staatslenkern natürlich durchaus erkannt. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde in Athen, Sparta und insbesondere in Rom versucht, das Rad der Geschichte noch einmal von der spätpatriarchalen GenuGsexualität zur hochpatriarchalen Fortpflanzungssexualität zurückzudrehen. So versuchte in Athen gegen Ende des 4. Jahrhunderts Demetrios v. Phaleron, die athenische Frau durch eine Reihe von Gesetzen sowie durch die Einrichtung 371 Balsdon 1962, 218. S. auch Boak 1955, 17 f.; Nilsson 1962, 325; Heinsohn/ Steiger 1985, 96 f. Satirisch dazu Juvenal: ,,Nun, die Gefahr der Geburt riskieren noch solche, und alle Mühen des Nährens nehmen sie hin, wenn die Armut sie nötigt: Doch im vergoldeten Bett kann man kaum eine Wöchnerin finden. So viel vermögen die Kunst und so viel die Tränke der Hexe, welche die Fruchtbarkeit raubt und für Geld des keimenden Lebens Tötung verspricht . .." (VI, 592 ff.).
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von Frauenaufsehern (gynaikonomoi) wieder an ihren angestammten Platz zu verweisen - vergeblich. Die Gesetze wurden nach seinem Sturz im Jahre 307 widerrufen, und die einzige praktische Funktion, die den Gynai.konomoi verblieb, war die Aufsicht über die Mädchenschulen. 372 Einen entsprechenden Restaurationsversuch unternahm um die Mitte des 3. Jahrhunderts König Agis IV. in Sparta, als er versuchte, die gute alte Lykurg'sche Ordnung wiederherzustellen - gleichfalls vergeblich. Zweifellos am bedeutendsten war insofern der Versuch eines roll back durch Augustus. Auf allen Gebieten bis hin zu Kunst und Kultus 373 bemühte sich Augustus um eine Restauration der guten alten hochpatriarchalischen Zeit. In unserem Zusammenhang interessiert insbesondere seine diesbezügliche Familienpolitik. Kurz vor der Zeitenwende versuchte Caesar Augustus, dem inzwischen unübersehbar gewordenen Trend zur Ehe- und Kinderlosigkeit gerade der römischen Oberschichten auf administrativem Wege entgegenzuwirken. Indem er selbst ganze Passagen aus Metellus' besorgter Rede vom Jahre 131 (s.o. S. 133) im Senat verlas, 374 brachte er diesen dazu, die "Iex Julia de maritandis ordinibus" und die "Iex Julia de pudicitia et de coercendis adulteriis" anzunehmen. Das erste Gesetz sah schlechthin Eheverbote mit Dirnen und Ehebrecherinnen vor, sowie darüberhinaus für Senatoren auch noch mit Freigelassenen und Schauspielerinnen; andererseits ein allgemeines Ehegebot für Männer zwischen 25 und 60 sowie für Frauen zwischen 20 und 50 Jahren, wovon lediglich Männer und Frauen mit drei Kindern ausgenommen waren. Frauen mit drei Kindern wurden zudem endgültig von der Agnatentutel bzw. der Manus-Gewalt befreit, Männer mit drei Kindern sollten schnellere Beförderungen in öffentlichen Ämtern genießen. Andererseits wurden Unverheiratete von den Zirkus-Spielen ausgeschlossen, sowie - was als härteste Zumutung empfunden wurde - der Antritt einer Erbschaft von der Existenz eines legitimen Kindes abhängig gemacht. 375 Das zweite Gesetz machte den Ehebruch der Frau zu einem öffentlichen Straftatbestand, der durch Vermögenseinziehung und Verbannung zu ahnden war. Der betrogene Ehemann war zu diesem Zweck innerhalb von 60 Tagen zur Anklageerhebung gegen seine Frau verpflichtet. 376 Hingegen hatte die betrogene Ehefrau gegen ihren Mann kein Anklagerecht 377 Obwohl mit aller zur Verfügung stehenden Propaganda versehen - selbst Horaz mußte die Ehegesetze in seinem "carmen saeculare" von 17 v. Ch. besingen Tarn 1952, 115; Schuller 1987, 170 f. Hierzu etwa Altheim 1956, 75 ff. 374 Sueton, Augustus, Kap. 89, 3; dazu Balsdon 1962, 85 f.; Pomeroy 1975, 166. 375 Einzelheiten bei Balsdon 1962, 83; Nilsson 1962, 330; Rousselle 1983, 112 ff. 376 Einzelheiten bei Balsdon 1962, 84, 241 f.; Rousselle 1983, 120 ff. m Zu dieser Doppelmoral Pomeroy 1975, 159. 372
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-traf Augustus' Gesetzgebung auf taube Ohren. Auch die Bekräftigung, Konsolidierung und teilweise Revision der Gesetze insbesondere für unverschuldet Kinderlose durch die "Iex Papia Poppaea" von 9 n. Ch. 378 erbrachte keinen Erfolg. Augustus' Reformversuche erwiesen sich, wie schon die entsprechenden Vorhaben des Demetrios in Athen und des Agis in Sparta, insgesamt als Schlag ins Wasser. Auch damals ließ sich generatives Verhalten nicht durch äußere Anreize bzw. Bestrafungen beeinflussen. Warum, wird unten S. 143 noch klarer werden. So wurden die Gesetze etwa durch Scheinehen oder auch Scheinadoptionen umgangen, 379 oder auch dadurch, daß sich selbst Frauen aus den höchsten Kreisen als nicht zu belangende Prostituierte registrieren ließen. 380 Und schließlich wurden die Gesetze durch die Kaiser selbst dadurch desavouiert, daß, beginnend mit Nero, die Drei-Kinder-Privilegien unabhängig von der Kinderzahl als persönliche Gunstbezeigung des Caesar verliehen wurden. 381 Auf diese Weise nahm die Kinderlosigkeit immer weiter zu. Kinderlose Erblasser wurden nun immer häufiger zum Objekt gewissenloser Erbschleicher. 382 In den führenden Familien suchte man sich, wie ein Jahrhundert zuvor in Griechenland, durch die Adoption Geeigneter vor dem Aussterben zu bewahren vielfach vergeblich. Bereits in den Tagen Neros waren laut Tacitus (Annalen XIII, Kap. 27)383 nicht wenige der Senatoren und Ritter Roms Nachkommen von Provinzialen oder gar Freigelassenen, und ab dem Spanier Trajan waren selbst die Kaiser nicht mehr Italiener geschweige denn Römer, sondern zunächst Spanier und Gallier, dann Afrikaner und Syrer, und schließlich ab der Zeit der Soldatenkaiser vorwiegend Illyrer. Als im 1. Jahrhundert n. Ch. die Gebärunlust auch die unteren Schichten der italischen Bevölkerung erreicht hatte, führte im Jahre 97 Kaiser Nerva das Institut der kostenlosen "alimenta" für die Söhne und Töchter armer Familien ein, 384 das bis ins 3. Jahrhundert in Kraft blieb. Und um die infolge der Mädchenaussetzungen noch zusätzlich reduzierte Zahl gebärfähiger Frauen zu erhöhen, wurde von Antoninus Pius sogar eine reine Mädchen-Stiftung ins Leben gerufen. 385 Den allgemeinen Trend zur Entvölkerung konnten jedoch alle diese Maßnahmen nicht mehr wenden. Als mit dem Ende der imperialen Expansion auch noch der Sklavennachschub versiegte und 165 zusätzlich die Pest ausbrach, machte Einzelheiten bei Balsdon 1962, 98. Nachweise bei Friedländer 1922 I, 252 + 280. 380 Tacitus, Annalen II, 85, 1-3; dazu Schuller 1987, 64; Pomeroy 1975, 160. 381 Friedländer 1922 I, 283; Nilsson 1962, 331. 382 Dazu Petronius, Kap. 116: " .. . ihr müßt wissen, daß alle Menschen, die ihr in dieser Stadt seht, in zwei Gruppen geteilt sind: entweder erbschleichen sie, oder sie werden beschlichen. In dieser Stadt zieht keiner Kinder auf ..." S. auch Friedländer 1922 I, 248 ff., 251 f. mit zahlreichen Nachweisen, Nilsson 1962, 327 f. 383 Dazu T. Frank in Christ 1970, 138 f.; Nilsson 1962, 341. 384 Ausführlich dazu Nilsson 1962, 333 ff. 385 Pomeroy 1975, 204. 378 379
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sich in allen latinisierten Provinzen des Reiches ein zunehmender Menschenmangel bemerkbar, 386 eine "penuria hominum", wie es ab Septimius Severus in offiziellen Dokumenten heißt. Dieser Menschenmangel wirkte sich besonders im Heerwesen sowie in der Landwirtschaft katastrophal aus. Die Antwort der Kaiser war die massenhafte Ansiedlung von zumeist germanischen "Barbaren" als offizieller Immigrationspolitik. Diese Politik begann bereits unter Augustus, als Agrippa die Ubier auf linksrheinischem Gebiet ansiedelte, und wurde unter Claudius und Nero in großem Stil fortgesetzt. Den bedrohlichen Menschenmangel konnte aber selbst diese "barbarische" Immigrationspolitik aufs Ganze nicht wettmachen. Marcus Aurelius war daher gezwungen, die Truppen nicht nur durch Barbaren, sondern auch noch durch Sklaven und Gladiatoren aufzufüllen, 387 und Pertinax konnte nicht umhin, in einem Edikt von 193 einem jeden zu gestatten, in Italien und den Provinzen verödetes Land in Besitz zu nehmen und durch Bestellung zu Eigentum zu erwerben. 388 Schließlich erstreckte Caracalla im Jahre 212 das römische Bürgerrecht auf alle Untertanen des Reiches- mittlerweile ein durchaus zweischneidiges Privileg, das vor allem steuerpflichtig machte. Im Verlauf des chaotischen 3. Jahrhunderts nahm dann die Ansiedlung von Barbaren geradezu endemische Ausmaße an, indem die vorüberlegte Ansiedlungspolitik immer mehr durch unkontrollierbare Barbareneinfalle abgelöst wurde, die notgedrungen nachträglich sanktioniert wurden. 389 Immerhin konnte so das äußerliche Getriebe des Reiches mehr schlecht als recht noch einige Zeit in Gang gehalten werden. Allerdings war dieses Reich, als es im 5. Jahrhundert im Westen auch äußerlich endgültig zusammenbrach, innerlich schon längst kein Reich griechisch-römischer Kultur mehr. Denn, wie Nilsson (1962, 360) lapidar formuliert: "Culture is tradition". Das heißt, die Aufrechterhaltung einer Kultur steht und fallt mit der ganz konkret zu verstehenden Tra-dition, also Weitergabe ihrer Werte von Vater und Mutter an Tochter und Sohn. Wenn aber diese Weitergabe infolge von Kinderlosigkeit der kulturtragenden Schichten immer spärlicher und seltener wird, ist damit auch das Schicksal der alten Kultur besiegelt. Denn an die Kinder der neuen "barbarischen" Volksgruppen läßt sich die herkömmliche Kultur so nicht weitergeben, bekommen diese ja von ihren Eltern ihre selbstverständlich von der alten Kultur beeinflußte, aber eben doch insgesamt barbarischere eigene Kultur tradiert. In diesem Sinne ging die innere Barbarisierung des römischen Reiches der endgültigen Eroberung durch äußere Barbaren zweifellos um Generationen vor386 387 388 389
Boak 1955, 15, 19 ff. mit zahlreichen Nachweisen. Dazu Raith 1982, 110 + 152. Heinsohn I Steiger 1985, 101 f . Dazu Boak 1955, 28 + 92; Ferrero 1922, 51 f .
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aus. 390 So mußte etwa bereits unter Kaiser Gallienus (253- 268) die schriftliche Befehlsausgabe im Heer abgeschafft werden, weil die mittlerweile überwiegend barbarischen Kommandanten nicht mehr lesen konnten, 391 und ab Diokletian und Konstantin bestanden die kaiserlichen Heere, die allein noch den eindringenden Barbaren von jenseits der Reichsgrenzen einigermaßen gewachsen waren, ihrerseits fast ausnahmslos aus assimilierten Barbaren, 392 die mit der gleichen Kriegstechnik und den gleichen germanischen Schlachtrufen in den Kampf zogen wie ihre Stammesbrüder auf der anderen Seite. 393 Wenn somit Odoaker als Offizier der kaiserlichen Leibwache im Jahre 476 das letzte Kaiserehen des weströmischen Reiches, Romulus Augustulus, absetzte und sich selbst zum germanischen König in Italien ausrufen ließ, drückte er damit lediglich einer langen inneren Entwicklung den überfälligen äußerlich sichtbaren Stempel auf. Die physische Mutterlosigkeit und damit die biologische Ausdünnung, Überalterung und Vergreisung der die alte griechisch-römische Kultur tragenden Schichten der Antike hatte das Reich längst zu einer innerlich hohlen und einsturzgefährdeten Fassade werden lassen, die zum auch äußeren Zusammenbruch nur mehr eines im Grunde beliebigen Anstoßes bedurfte. Sind also doch die emanzipierten Medea-Frauen am Untergang des römischen Reiches schuld, wie schon Mommsen gemeint hatte? Ja und nein. Ja, weil die die biologische Barbarisierung geradezu provozierende physische Mutterlosigkeit der griechisch-römischen Frau zweifellos ein Ergebnis ihrer klitoridalen Emanzipation war. Nein, weil diese biologische Unfruchtbarkeit lediglich ein, wenn auch wohl der eklatanteste, äußerer Ausdruck einer allgemeinen inneren Entwicklung der damaligen Kultur von der Leistung zur Lust, von der Verantwortung zum Vergnügen war, einer Entwicklung, die, von dem männlichen ,,Entgegenkommen" in der mittäglichen Wendezeit ausgehend, nunmehr unter dem Zeichen der nachmittäglichen "Stockung" Männer wie Frauen gleichermaßen erlaßt hatte. Indem sich die emanzipierte Frau von der hochpatriarchalen Fortpflanzungssexualität ab- und der spätpatriarchalen Genußsexualität zuwandte, weil sie nicht 390 Dazu Ferrero 1922, 60: "Das Reich verfiel wiederum dem Barbarentum, im Innern noch mehr als von außen her, mehr noch dadurch, daß so viele Abkömmlinge der unzivilisiertesten Rassen, die das Reich bewohnten, zu Reichtum und Macht gelangten, als durch die Einfälle der Barbaren von den jenseitigen Ufern von Rhein und Donau. Uberall senkt sich jetzt der Stand der Geisteskultur, ... aus dem einfachen Grunde, weil die neuen Machthaber ihre geistigen Güter nicht schätzten oder einfach mit ihnen keinerlei Fühlun~ besaßen." 391 S. Kahrstedt 1951, 521. 392 Dazu Boak 1955, 116. 393 Dazu der spätantike Historiker Zosimos, zit. bei Toynbee 1957, 128: "Bei den röm. Streitkräften war die Disziplin nun am Ende, und aller Unterschied zwischen Römern und Barbaren war zusammengebrochen. Die Truppen beider Kategorien waren in den Rängen vollständig miteinander vermischt ..."
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mehr nur vaginal-uterales GeHiß und Dienerinder Art sein, sondern ihre bisher zu kurz gekommene klitoridale Seite verwirklichen wollte, reihte sie sich lediglich ein in eine Gesamtentwicklung der Abwendung vom Leistungs- und Hinwendung zum Lustprinzip, und damit in den allgemeinen Trend der antiken Kultur weg von über-ich-betonter objektiv fruchtbarer Selbstverleugnung hin zu einem hedonistisch-lustbetonten und objektiv unfruchtbaren narzißtischen Selbstbezug. Im Geiste dieses allgemeinen narzißtischen Selbstbezugs schien aber insbesondere das aufopferungsvolle Vater- und Muttersein gleichsam überholt. Der gynandrisch-selbstbezogene Mann und die androgyn-selbstbezogene Frau der Antike hatten kaum mehr Kinder, weil sie nicht mehr erwachsen-verantwortlich für andere Vater und Mutter sein, sondern sich statt dessen zunehmend nur mehr um sich selber und ihre eigenen narzißtischen Bedürfnisse kümmern wollten. Statt ihren Kindem Freude zu bereiten, wollten sie sich selbst vergnügen. In diesem narzißtischen Selbstbezug wurden Mann und Frau so zunehmend selber psychisch zu Kindern, die ihre realen Kinder nicht mehr als Bereicherung, sondern als Konkurrenz betrachteten. Sofern sie also nicht zuletzt aus Erblassergesichtspunkten überhaupt noch Kinder hatten, hatten sie diese uninteressiert bis widerwillig. Dies galt insbesondere für die Frau. So war es in der späten Republik und beginnenden Kaiserzeit für die Mütter der bessergestellten Kreise selbstverständlich, das Kind einer in der Regel ausländischen Amme zu übergeben, 394 wohingegen man selbst bestrebt war, durch alle möglichen Rezepte die Muttermilch möglichst rasch zum Versiegen zu bringen. 395 Für die unter diesen Umständen überhaupt noch geborenen und aufgezogenen Kinder bedeutete aber die elterliche narzißtische Kinderunwilligkeit eine schmerzliche psychische Vater- und Mutterlosigkeit, die die zum psychischen Erwachsenwerden unabdingbare ödipale Konstellation von gewährender Mutter und forderndem Vater weitestgehend ausfallen, und die Kinder narzißtisch-ödipal bedürftig und damit kindlich fixiert bleiben und sich zeitlebens nach einem Vaterund Mutterersatz sehnen ließ. Neben den narzißtischen Selbstbezug der ElternGenerationen trat so zunehmend die narzißtische Bedürftigkeit der (prae)ödipal verwaisten Kinder-Generationen. Beides zusammen, narzißtischer Selbstbezug und narzißtische Bedürftigkeit, die ihrerseits wieder nur den eigenen narzißtischen Selbstbezug verstärken konnte, bildete nun die psychodynamische Grundlage für eine zunehmende involutive Verkindischung der antiken Gesellschaft, und damit für eine umfassende kulturelle Regression, die über die bloße gynandrisch I androgyne "herbstliche" Ge394 Tacitus, Dial. de orat., Kap. 28 f., zit. nach Christ 1984a, 110: Dazu auch Friedländer 1922 I, 268. 395 Dazu Rousselle 1983, 75.
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schlechterangleichung weit hinausging. Bachofen ( 1861, 419) hat das Endstadium dieser narzißtischen Altersinfantilisierung der antiken Kultur treffend so charakterisiert: "Das Ende der Entwicklung stellt sich dem Beginn als Zwillingsbruder zur Seite. Eine zweite Kindheit tritt ein, der ersten nicht an Hoffnung, sondern nur an Hilflosigkeit vergleichbar. Vorbote kräftiger Jugend beim Aufgang, ist sie beim Niedergang Zeichen eintretender Verwesung." Die regressive Psychodynamik dieser narzißtischen Altersverkindischung erhellt nun auch, warum die verzweifelten Versuche von Demetrios, Agis und Augustus in Athen, Sparta und Rom, ihre narzißtisch-hedonistisch gesinnten Zeitgenossen zu bewegen, wiederum vermehrt zu heiraten und Kinder aufzuziehen, notwendigerweise scheitern mußten. So wie man Kinder nicht antreiben kann, vor der gegebenen Zeit erwachsen zu sein, kann man auch Altersinfantile nicht erfolgreich dazu bringen, ihren Alters-Narzißmus abzulegen und wiederum als verantwortliche Erwachsene zu fühlen und zu handeln.
VII. Medea als Bona Dea im Rahmen der "Zweiten Kindheit" Im Zuge der narzißtischen Altersverkindischung der antiken Kultur sollte sich auch das Bild der Gestalt der Medea noch ein letztes entscheidendes Mal wandeln, indem es diese als Gütige Göttin ("Bona Dea") gleichsam wieder zu ihren mythischen Ursprüngen zurückführte und dabei gerade auch den Geist der Emanzipation wiederum in sich begrub.
Zum besseren Verständnis dieser letzten Medea-Morphose bedarf es einer kurzen Erörterung des sozio-psychologischen Umfeldes dieser Wandlung. Insgesamt vollzog sich die narzißtische Altersverkindischung der antiken Kultur im sozio-politischen Rahmen des hellenistischen Despotismus bzw. römischen Caesarismus, sowie im damit korrespondierenden religions-psychologischen Rahmen der "zweiten Religiosität" (Spengler 1923, 941 f.): Zugunsten von infantilisierender Versorgung und Vergnügen ("Brot und Spiele") wurden demokratische Freiheit und Erwachsenen-Verantwortung sukzessive an einen Caesar als "Über-Vater" abgegeben, der dadurch im Verlauf notgedrungen zusätzlich immer mehr die Züge einer benevolenten "Über-Mutter" annahm. Und als diese äußerliche Lösung auf die Dauer auch nicht befriedigen konnte, wollten die narzißtisch Bedürftigen schließlich von nichts mehr was wissen und suchten ihre allerletzte Zuflucht in der spirituellen ,,religio" zur Ganz Großen Mutter. In der Aufgabe der politischen Freiheit zugunsten der Versorgung mit Brot und Spielen, sowie der Aufgabe der Wissensfreiheit zugunsten spirituellen Heils vollzogen sich so die letzten Etappen der "Dialektik der Aufklärung", die die antike Kultur insgesamt wieder von einer erwachsen-offenen in eine kindlich-geschlossene Welt zurückführten.
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Theoretisch vorweggenommen wurde diese dialektische Überwindung von Freiheit und Aufklärung bereits in Person und Werk Platons. In seiner dialogischen Darstellungsweise formal sophistisch, und in seinen Anfängen auch inhaltlich dem Sophismus zumindest wohlwollend-verständnisvoll gegenüberstehend - so etwa in seinem "Protagoras" - , entwickelte sich Platon im Verlauf seines Lebens und Schaffens immer mehr zu einem antiaufklärerischen, irrationale Bindungen betonenden Gegner von Aufklärung und Freiheit, bis er in seinen "Gesetzen" einer strikten Untertanen-Gesellschaft das Wort redete und in ausdrücklichem Gegensatz zu Protagoras betonte, daß nicht so sehr der Mensch, sondern Gott das Maß aller Dinge sei (716 c) und der Mensch lediglich Gottes Spielzeug (803 b). Sich auf das spätperikleische Athen beziehend, postulierte Platon bereits in seinem "Staat", daß das "Übermaß von Freiheit" notgedrungen in das "Übermaß von Knechtschaft" der Tyrannis der Dreißig umschlagen mußte (564a). Persönlich abgestoßen von den Auswüchsen der Freiheit in der spätperikleischen Demokratie (dazu o. S. 112 f.), und um einem Wiedererstehen gesetzloser Tyrannis vorzubeugen, propagierte der pro-spartanisch und oligarchisch gesinnte Platon seinerseits eine unfrei-geschlossene Gesellschaft, in der die Bürger unter Leitung eines "Philosophenkönigs" (473d ff.) von einer Elite von "Wächtern" bzw. so der Vorschlag der "Gesetze" - von einem ,,nächtlichen Rat" verdienter alter Männer (961 a ff.) gelenkt werden und zur strikten Befolgung der staatlich zu verordnenden traditionellen Götterkulte angehalten werden sollten. 396 Wie bekannt, sind Platons Versuche, seine Ideen zumindest in Sizilien in die politische Praxis umzusetzen, allesamt gescheitert. Dies lag nicht zuletzt daran, daß Platon das Rad der Geschichte im Grunde wieder in die Zeit der Prä-Moderne, also zu den Verhältnissen vor der perikleischen mittäglichen Wendezeit der griechischen Kultur zurückdrehen wollte: statt demokratischer Freiheiten wieder Herrschaft der Besten (Väter), statt Atheismus wieder traditioneller Götterglaube, erzwungen durch ein dem reaktionären "Asebie"-Gesetz von 432 397 nachempfundenes "Gesetz gegen die Gottlosigkeit". 398 Was nach der mittäglichen Wendezeit zur Verwirklichung anstand, war jedoch nicht die Prä- sondern die Post-Moderne, also nicht Aufgabe der politischen Freiheit zugunsten einer Renaissance der strengen Herrschaft der Besten, sondern Aufgabe der Freiheit einer entmännlichten Zivilisation zugunsten der benevolenten Herrschaft eines caesarischen ÜberVaters, desgleichen nicht Rückkehr zur patriarchalischen Religion der Väter, sondern "Fortschritt" zu den Große Mütter-Religionen effeminierter S(jhne. Gesetze 716 D ff., 821 B ff.; dazu insbes. Dodds 1951, 113 ff. Text des Gesetzes bei Nestle 1941, 480. Gemünzt war das Gesetz auf den mit Perikles befreundeten Philosophen und Astronomen Anaxagoras, der behauptet hatte, die Sonne sei keineswegs göttlich, sondern lediglich eine glühende Steinmasse. Weitere Opfer des Gesetzes waren Protagoras, Aspasia, Diagoras und schließlich Sokrates. Zum Ganzen Schachermeyr 1969 b, 203 ff. 398 Gesetze 907 D ff.; dazu Dodds 1951, 121. 396
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Insofern allerdings als Platon überhaupt die Aufgabe der Freiheit zugunsten erneuter Einbindungen, und die Aufgabe der Gottlosigkeit zugunsten einer erneuten Religiosität propagierte, war er durchaus ein Wegbereiter der künftigen Entwicklung. Eric R. Dodds summiert daher in diesem Zusammenhang zweifellos zu Recht (1973, 125): "Innerhalb eines Jahrhunderts seit dem Anfang der sophistischen Bewegung hatte Platon die Endphase seines Denkens erreicht: er erklärte, daß der wahre König über den Gesetzen stehen müsse, daß Ketzerei mit dem Tod bestraft werden sollte und daß nicht der Mensch, sondern Gott das Maß aller Dinge sei. Mit der ersten Behauptung kündete er die hellenistischen Monarchien an; mit der zweiten und dritten das Mittelalter."
1. Caesarismus als erneute Landeskindschaft Hellenistischer Despotismus bzw. römischer Caesarismus erscheinen maßgeblich durch den Stempel "Brot und Spiele" ("panem et circenses")399 geprägt. Urspünglich begonnen, um die jeweiligen Unterschichten zu befriedigen, ergriff der Ungeist der Brot und Spiele alsbald auch die narzißtisch-hedonistisch gesinnten Mittel- und Oberschichten der Antike, um sie in die allgemeine regressive Verkindischung einzubeziehen. Ihre Wurzeln hatte die Brot-und-Spiele-Politik bereits in der wohlfahrtsstaatliehen "Versorgungsdemokratie" des perikleischen Athen bzw. des Roms der Gracchischen Reformen. Der erste, der die wirtschaftspolitischen Freiheiten unter Perikles nicht als Beglückung, sondern als Bedrohung empfand und seine Freiheit nur zu gerne gegen Versorgung und erneute Sicherheit eintauschte, war der im Schatten des athenischen Wirtschaftsliberalismus stehende einfache "Mann auf der Straße". Zu seinen Gunsten mußte Perikles bereits Mitte des 5. Jahrhunderts das patriarchalisch-harte "jedem nach seiner Leistung" zugunsten des matemal-weicheren "jedem nach seinen Bedürfnissen" aufgeben. So alimentierte Perikles die wachsende Zahl von Besitz- und Beschäftigungslosen dadurch, daß er "demokratische" Massenbehörden schuf wie den "Rat der Fünfhundert" sowie die bis zu 6000 Mitglieder umfassende "Volksgerichtsbarkeit", und die Teilnahme daran mit zunächst einem Obolos, später zwei, entlohnte. Schließlich wurde sogar die Teilnahme an den bloßen Volksversammlungen vergütet, sowie die ansonsten Besitzlosen mit Landanteilen in den überseeischen Kleruchien und Kolonien bedacht. 400 Zu Aristoteles' Zeit sollen auf diese Weise mehr als 20 000 Athener staatliche Unterstützungen bezogen haben. 401 399 400
401
Juvenal X. Satire, V. 81. Zum Ganzen Schachermeyr 1969b, 27 ff., 65, 79 f. Aristoteles, Ath. pol. 24, 3.
10 Gascant
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In Rom begann die Politik des "jedem nach seinen Bedürfnissen" mit der "Iex frumentaria" des G. Gracchus von 123 v. Ch., wodurchjedem römischen Bürger der monatliche Bezug einer bestimmten Menge Getreide zu einem staatlich subventionierten Vorzugspreis garantiert wurde. 402 Mit diesem "Beginn des Fütterns der Wähler durch den Staat" (Kahrstedt 1951, 263) wurde der Trend von der Produktion zur Konsumption sowohl bestätigt wie weiter verstärkt. Denn von nun an beginnen die unproduktiven und lediglich konsumierenden Massen erst recht nach Rom zu strömen und einen unübergehbaren Angelpunkt römischer Stadtpolitik zu bilden. Nur folgerichtig führte schließlich in den letzten Tagen der Republik der Volkstribun Clodius die kostenlose Getreideversorgung in Rom ein, die alsbald von über 300000 Empfangern in Anspruch genommen wurde 403 Zum kostenlosen Brot gehören die kostenlosen Spiele - panem et circenses, oder wie Mommsen (1902, II, 337) formuliert: "Brot umsonst und ewiges Volksfest". Auch dieser Aspekt des Despotismus bzw. Caesarismus hatte seine Wurzeln bereits in der wohlfahrtsstaatliehen Versorgungsdemokratie. Bereits Perlkies hatte den ärmeren Bürgern Athens ein ,,Festgeld" zum Besuch der staatlichen Theateraufführungen auszahlen lassen. 404 Und im 4. Jahrhundert hatten die von den einzelnen Städten ausgerichteten Schauwettkämpfe professioneller Athleten den Amateursport der olympischen und sonstiger traditioneller Spiele bereits längst in den Schatten gestellt. 405 In Rom vollzog sich die entsprechende Entwicklung - nur noch krasser und dynamischer. Dies galt insbesondere für die Wagenrennen im Zirkus und die Gladiatorenkämpfe in der Arena. Beide Spielarten hatten die Römer von den Etruskern übernommen, und beide hatten ursprünglich und noch bis ins 3. Jahrhundert hinab einen religiösen Hintergrund. 406 Dieser kultische Bezug war jedoch schon in der späten Republik des 2. und 1. Jahrhunderts zunehmend zugunsten des Gesichtspunkts der Massenunterhaltung verloren gegangen, weshalb die Spiele alsbald von den Politikern bewußt und extensiv als Vehikel zur manipulativen Stimmungsmache eingesetzt wurden. Der erste, der Spiele in diesem Sinne politisierte, war nur folgerichtig G. Gracchus im Jahre 122, ein Jahr nach der "Iex frumentaria" von 123. Dieser manipulative Trend setzte sich in den folgenden Jahrzehnten verstärkt fort, so daß der Senat im Jahre 63 ein Gesetz verabschiedete, das es allen Bewerbern um ein politisches Amt untersagte, in einem Zeitraum von zwei Jahren vor ihrer Bewerbung derartige Spiele auszurichten. 407
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Einzelheiten bei Weber 1983, 255 ff. Dazu Weber 1983, 260 f . Schacherrneyr 1969b, 48. Weber 1983, 113 f. Einzelheiten bei Weber 1983, 23 + 68. Weber 1983, 27.
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Verständlicherweise wurde diese Art von Versorgungs- und Vergnügungsdemokratie von den Apologeten der guten alten Zeit, angefangen von Platon 408 bis zu Livius 409 als verhängnisvolles Verderbnis gegeißelt und zur Rückkehr zu den Werten der Altvorderen aufgefordert. Praktisch gab es jedoch in der nachmittäglichen Wendezeit zunehmender allgemeiner Entmännlichung von der verwöhnenden Brot-und-Spiele-Politik der späten Demokratie kein Zurück mehr zu einer von Leistung und Verzicht bestimmten erwachsen-demokratischen Haltung, sondern nur mehr ein Vorwärts zu einer erst recht und weiter verwöhnenden und dadurch nur zunehmend infantilisierenden postdemokratisch-caesaristischen Sozial- und Unterhaltungspolitik.
a) Brot und Spiele als Danaer-Geschenk Allen voran waren die leistungsentwöhnten, dafür aber unterhalts- und unterhaltungsverwöhnten städtischen Massen nur allzu gerne bereit, ihre ErwachsenenAutonomie und Freiheit vollständig aufzugeben, und sich als folgsame Untertanen eines alsbald vergöttlichten Ptolemaios, Caesar oder Augustus erneut ein- und unterzuordnen. Dies bedeutete soziopsychologisch aber nichts anderes, als daß sich die Betreffenden selbst freiwillig zu wieder abhängigen Kindem eines ÜberVaters als "parens patriae" (so der Titel Caesars) bzw. "pater patriae" (so der Titel von Augustus) machten, in der Hoffnung, von dessen gütiger Benevolenz allezeit und im doppelten Sinne "unterhalten" zu werden. 410 Auf die Dauer erwies sich die caesaristische Brot-und-Spiele-Politik aber unweigerlich als Danaer-Geschenk insofern, als sie ihre Nutznießer wie ein Magnet anzog und auf eine immer abschüssigere Bahn zu einem Pinoccio-artigen "pleasure island" ohne Wiederkehr geraten ließ. In einer regressiven und ihrerseits zunehmend süchtig machenden Spirale machte die orale Verwöhnung und Belustigung die Beschenkten nur noch abhängiger, schwächer und infantiler, und damit im Ergebnis nur erst recht versorgungs- und unterhaltungsbedürftig. Diese regressive Dynamik erklärt, warum die Brot-und-Spiele-Politik im Verlauf immer weiter intensiviert werden mußte. Zwar gelang es Augustus, die Zahl der Versorgungsempfänger auf rund 200000 zu beschränken. 411 Zu der Getreidespende kamen jedoch alsbald Geldspenden hinzu, 412 sowie zu Beginn des 3. 408 Im "Gorgias" (515 E) heißt es dazu, Perikles habe die Athener "verdorben", und "zu einem faulen, feigen, geschwätzigen, geldgierigen Volk (gemacht), indem er sie zuerst zu Soldempfängern erniedrigte." 409 In Buch VII, 2, 13 spricht L. in Bezug auf die Gladiatorenspiele von einem ,,kaum noch erträglichen Wahnsinn." 410 Treffend in diesem Zusammenhang Dodds 1951, 128: "Wer ein anderes menschliches Wesen als göttlich behandelt, weist sich selbst dadurch die abhängige Stellung eines Kindes oder eines Tieres zu." 411 Weber 1983, 261. 412 Dazu Weber 1983, 267 ff.
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Jahrhunderts unter Septimius Severus die zusätzliche Versorgung mit kostenlosem ÖL Ab Aurelian (270 - 275) gab es dann statt bloßem Getreide gebackenes Brot, dazu Fleisch- und Weinsubventionen, was allerdings insgesamt keine größere Belastung für den Staat mehr darstellte als zu Beginn der Wohlfahrtspolitik, weil die anspruchsberechtigte Bevölkerung inzwischen bereits um etwa die Hälfte geschrumpft war. 413 Noch deutlicher zeigte sich der suchtartige Charakter dieser Dynamik im Bereich der Spiele. Der einmal an die Spiele Gewöhnte brauchte offensichtlich immer mehr davon, und in immer stärkerer Dosierung. So kam es im Verlauf der Kaiserzeit zu einer ständigen Zunahme der Festtage und Vermehrung der Spiele, 414 bei denen immer mehr und auf immer grausamere Weise Blut fließen mußte. 415 Die Infantilisierung durch die Spiele bedeutete damit zugleich eine erschreckende kulturelle Verrohung und Barbarisierung der römischen SpieleSüchtigen, die der biologischen Barbarisierung durch das Einströmen fremdländischer Bevölkerungsgruppen sicherlich in nichts nachstand, so daß es am Ende eine durchaus offene Frage war, wer der schlimmere Barbar war, der Fremdländische oder der Alteingesessene. Die Brot-und-Spiele-Politik des Despotismus bzw. Caesarismus war zunächst zweifellos auf die Bedürfnisse der Unterschicht-Massen zugeschnitten. Der zugrundeliegende Zeitgeist altersinfantiler Selbstaufgabe sollte jedoch zunehmend gerade auch die an sich die demokratische Kultur und Politik tragenden Mittelund Oberschichten der Antike ergreifen. In diesen Kreisen ging es naturgemäß weniger um die wohlfahrtsstaatliche Versorgung mit Brot, 416 oder- so jedenfalls zunächst- um die Massenunterhaltung der Spiele, als vielmehr um einen charakteristischen Wandel in der Kultur als "geistiger Nahrung". In den Ober- und Mittelschichten machte sich die zunehmende Erschöpfung und selbstbezogene Altersmüdigkeit insbesondere in einem fortschreitenden Übergang von relativ anspruchsvoller kultureller Produktion, Rezeption und Bildung zu einem immer seichter und gleichförmiger werdenden bloß unterhaltendem "Kulturkonsum" bemerkbar. Bereits im Zuge der hellenistischen Kulturexpansion kam es zu einer zunehmend regressiv-nivellierenden schablonenhaften "Massenkultur", die- bereits ein Widerspruch in sich - notgedrungen selbst immer mehr bloße Massenunterhaltung von Halbgebildeten war. Mit der quantitativen Ausbreitung des Bildungsangebots in den hellenistischen Zivilisationen ab dem 3. Jahrhundert ging alsbald eine unvermeidliche Verflachung zur Halbbildung 417 einher, mit der Tendenz, Boak 1955, 66 f. Dazu Friedländer 1922 II, 13; Weber 1983, 24 f., 70 f. 415 Einzelheiten bei Friedländer 1922 II, 97 ff.; Kahrstedt 1944, 297 ff. 4 16 Obwohl theoretisch jedenfalls jeder röm. Bürger zum Bezug der Getreidespende berechtigt war; dazu Weber 1983, 255, 258. 413
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nicht mehr wirklich etwas Profundes lernen und wissen zu wollen, sondern mit seiner Halbbildung oberflächlich zu glänzen. Dem äußeren Glanz statt der inneren Substanz, dem schönen Schein statt dem realen Sein diente insbesondere die Rhetorik, der momentane gute Klang, ursprünglich eine Erfindung der Sophistik, die nunmehr zu einem regelrechten "Fluch des Hellenismus" wurde. So W. Tarn (1952, 334), indem er fortfährt: "Die Menschen kamen zu der Meinung, daß der Stil alles und der Inhalt nichts sei. Was man sagte, war ohne Belang, wenn man nur die Regeln beachtete und den Hiatus vermied. Nicht zufällig berauschte die Rhetorik die Griechen, sie nahm den Platz ein, den heute Boulevardblätter und Kino ausfüllen, die Menge strömte zu rhetorischen Vorstellungen wie ins Theater." Wohl am klarsten zeigte sich die Entwicklung von der schöpferischen Gestaltungskraft und Bildungswilligkeit einer Minderheit hin zur vergnüglichen Massenunterhaltung halbgebildeter Mehrheiten im Bereich der Literatur und darstellenden Kunst. Die Stichworte insofern sind: das unaufhaltsame Absterben der klassischen Tragödie, die zunehmende Verflachung der hellenistischen sog. "Neuen Komödie", die steigende Beliebtheit des immer schlüpfriger werdenden "Mimus" und der Parodie, sowie schließlich die bestsellerartige Verbreitung des anspruchslosen Abenteuer- und Hintertreppenromans. 418 Im Rom vollzog sich, phasenverschoben und nur noch um etliches krasser, die gleiche Entwicklung. An theoretischer Bildung um ihrer selbst willen von vorneherein weniger interessiert und mehr auf das praktisch Verwertbare und Nützliche ausgerichtet, verfiel das den Hellenismus rezipierende Rom nur allzu leicht den Lockungen insbesondere der Rhetorik als sicherem Weg zu glänzendem Erfolg 419 bzw. als "gehobenem Theater" (Kahrstedt 1944, 333), das unter den Gebildeteren zunächst sogar dem Zirkus und der Arena Konkurrenz zu machen vermochte. 420 Auch ansonsten gleichen sich die Bilder. Das Interesse am klassischen Drama stirbt in der frühen Kaiserzeit endgültig ab - schon Senecas Dramen, darunter auch seine Euripides nachempfundene "Medea" , sind soweit ersichtlich nicht mehr aufgeführt worden 421 - , und auch das Interesse an der "Neuen Komödie" erlahmt zusehends, 422 während sich die zunehmend anspruchsDazu Nilsson 1961, 29; Schachermeyr 1969a, 319. Zu dieser Entwicklung ausführlich Tarn 1952, 324 ff. ; Schneider 1967, 546 f. 419 Dazu Grant 1960, 125 ff., 133 ff. 420 Dazu auch Schneider 1967, 967; Nilsson 1961, 322 f. 421 Friedländer 1922 II, 118, 121. 422 An die Stelle des sprachlich anspruchsvollen Dramas tritt seit der frühen AugustusZeit für die "Gebildeten" die wortlose tänzerische "Pantomime", die, das "Beste" aus den alten Dramen potpourriartig aufmischend und mit gefälligen Musikeinlagen versehend (dazu vor allem Weber 1983, 157 ff.; Friedländer 1922 II, 124 ff.; Kahrstedt 1944, 308 ff.), in ihrer Wortlosigkeit überall im Reich ohne weiteres verständlich ist. Einfachere Gemüter erfreut an Stelle der Komödie die ebenfalls musikalisch unterlegte parodisieren417
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loser werdende Tanz- und Unterhaltungsmusik auf Kosten des gesprochenen Wortes, die entsprechende Entwicklung in Alexandria nachvollziehend, 423 ständig steigender Beliebtheit erfreut. 424 Insgesamt machte sich, zusammenhängend mit dem Übergang von der bemühten Kulturschöpfung zum genüBlichen Kulturkonsum, in den Ober- und Mittelschichten der Antike unweigerlich ein zunehmendes "Aussteigen aus der Geschichte" (Raith 1982), eine Haltung des "ohne mich" bemerkbar.
b) Die Philosophie des "ohne mich" Mehr oder minder eindringlich propagiert wurde diese Haltung eines quietistischen "ohne mich" von den zwei einflußreichsten "Lebensphilosophien" des Hellenismus, dem Epikureismus und der Stoa. 425 Ausdrücklich in die Kerbe engagementlosen narzißtischen Selbstbezugs hieb die Philosophie Epikurs (gest. 270), die als Epikureismus für eine feine Minderheit über Jahrhunderte hinweg zu der Lebensphilosophie schlechthin wurde. Im Anschluß an den Hedoniker Aristipp (gest. 355) postulierte Epikur in einer von ihm angenommenen Welt blinden Zufalls die Lust (hedone) des Individuums als das höchste anzustrebende Gut: "Die Lust ist Anfang und Ende seligen Lebens". 426 Sich in Politik zu mischen, sei nur von Übel, desgleichen die Gründung einer Familie. Der hedone höchste Form sei allerdings nicht die Sinnenlust, sondern die leidenschaftslose Gemütsruhe, die ataraxia. 427 Demgemäß lautete Epikurs oberster Grundsatz: "Lebe zurückgezogen". 428 Die von Zenon (gest. 264) begründete Stoa als die andere der beiden wichtigen hellenistischen Lebensphilosophien ging zwar nicht so weit, eine privatistische Abkehr als höchstes Lebensziel zu propagieren. Im Gegenteil sollte der Einzelne sich durchaus in Familie und Politik engagieren, aber eben nur soweit wie unbedingt nötig. Die Stoa war eine zyklisch denkende und damit letztlich zutiefst de Posse des "Mimus", die in der Regel voll grober, unzweideutiger Schlüpfrigkeit ist (dazu Weber 1983, 154ff.; Friedländer 1922 II, 113 ff.). 423 Dazu Schneider 1967, 543. 424 Friedländer 1922 II, 171 ff.; Kahrstedt 1944, 310 f. 425 Der hippieske Kynismus eines Diogenes mit seinem kulturfeindlichen ,,Zurück zur Natur" hieb letztlich in die gleiche Kerbe, war jedoch mehr auf die ohnehin besitzund kulturlosen Unterschichten gemünzt; dazu Schachermeyr 1969 a, 260 f.; Dodds 1973, 21; Vorländer 1949, 73. 426 Brief an Menoikeos, zit. nach Hirschherger 1954, 252. 427 Hirschherger 1954, 253. 428 Schachermeyr (1969a, 332) charakterisiert diese "ohne mich"-Philosophie Epikurs treffend so: ,,Es braucht wohl nicht besonders betont werden, daß diese Weltanschauung Epikurs etwas Untertanenhaftes, ja Fellachenhaftes an sich hatte. Vor Machtlosigkeit und Desillusion flüchtete man hier aus der Geschichte in ein geschichtslos statisches Dasein, ja- um es ganz platt auszudrücken - in eine Art von Stadtrand- und "Schrebergarten"-Mentalität."
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fatalistische Weltanschauung. Ihr galt die Welt und in ihr der Mensch als eine von einem unpersönlich-göttlichen Iogos spermatikos immanent-monistisch und pantheistisch durchdrungene, und von Alpha bis Omega determinierte geordnete Einheit, mit dem vorherbestimmten Schicksal (heimarmene,fatum), nach Ablauf eines bestimmten Äons in einem allgemeinen Weltbrand unterzugehen und zyklisch wiederzuerstehen. 429 In harmonischer Übereinstimmung mit diesem unausweichlichen Fatum sollte daher auch das naturnotwendige Engagement des Einzelnen von der allein vernunftgemäßen , eben "stoischen" Haltung der apathia, also der Ausschaltung aller Affekte, auch der von Liebe, Mitleid und Trauer 430 bestimmt sein. In diesem Sinne galt als der stoische Wahlspruch: "Laß Dich durch nichts erschüttern!" 431 Mit dieser Idealisierung einer existentialistischfatalistischen, fast schon buddhistisch anmutenden Haltung des jedenfalls innerlichen "ohne mich" propagierte aber auch die Stoa "in einer Art von gehobenem Egoismus" (Schachermeyr 1969 a, 342) letztlich wie der Epikureismus lediglich den selbstbezogenen Seelenfrieden des Einzelnen. Als Propagandisten eines sei es äußerlich-realen oder doch zumindest innerlichen "ohne mich" entsprachen Epikureismus und Stoa zutiefst dem Welt- und Lebensgefühl des Hellenismus und der beginnenden Kaiserzeit, die sich selbst als "gleichsam alt und kraftlos geworden" (quasi consenuit atque decoxit), 432 dem schließliehen Fatum des Untergangs geweiht empfand. Wer sich nicht mehr engagieren, vielmehr hauptsächlich selbstbezogen genußvoll (Kultur) konsumieren und sich vergnüglich unterhalten will, sehnt sich nach Frieden. Ein derartiger Friede war jedoch gerade in der "späten Demokratie" Griechenlands und Roms immer weniger zu haben. Im Gegenteil führten die zunehmenden sozialen Spannungen vermehrt zu Sklavenkriegen wie etwa dem des Spartakus, sowie die Rivalitäten innerhalb der politischen Führungsschichten zu rücksichtslos ausgetragenen, die jeweiligen Anhänger und Gegner korrumpierenden und gegeneinander hetzenden Bürgerkriegen, von den auswärtigen Kriegen des 4. bzw. 1. Jahrhunderts v. Ch. ganz zu schweigen. Als alleiniger Garant des Friedens erschien daher immer dringlicher ein über allen Parteiungen und Konflikten stehender monarchisch-caesarischer "Über-Vater". Zunehmend friedenssehnsüchtig und wehrunwillig, 433 der Parteien-Politik überdrüssig, dazu allgemein risikoscheu und engagementmüde, 434 waren somit auch die Mittel- und Oberschichten der sich alt und kraftlos geworden fühlenden Dazu insbes. Pohlenz 1950, XIII, 58, 63 ff. Pohlenz 1950, 157 f.; 161. 431 Mare Aurel: Selbstbetrachtungen VIII, 5; zit. nach Hirschherger 1954, 238. 432 So der zur Hadrian-Zeit schreibende L. A. Florus in seinen Livius-Epitomae, I, lntroduct. 8 über die Zeit ab Augustus. 433 Für Griechenlands. Schachermeyr 1969a, 215; für Rom Nilsson 1961, 324. 434 Für Griechenland Schachermeyr 1969a, 289 f.; für Rom Ri~njourt 1958, 334 ff. 429 430
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Antike nur allzu bereit, ihre Erwachsenen-Autonomie zugunsten einer landes,,kindlichen" Unterordnung unter die Gestalt eines Über-Vaters aufzugeben. So überließ man den hellenistischen Monarchen in der Nachfolge Alexanders freiwillig das Heft, 435 bzw. drängte Augustus seine Rolle als "pater patriae" geradezu auf, 436 in der Hoffnung und Erwartung, im friedlichen "Nachsommer" (Toynbee 1958, 2) etwa einer "pax Augusta" sicher und geborgen zu sein, in Ruhe gelassen zu werden und sich ungestört seinen selbstbezogenen, zunehmend oral-konsumptiven (Kultur)Bedürfnissen und Genüssen widmen zu können.
c) Finales Amusement Auf die Dauer blieb es allerdings nicht beim mehr oder weniger gehobenen (Kultur) Konsum in der narzißtischen Haltung des "ohne mich". Der infantilisierende und barbarisierende Un-Geist der Spiele ergriff im Verlauf der Kaiserzeit immer mehr auch die Mittel- und Oberschichten der antiken Kulturwelt Psychodynamisch gesehen lag dies nicht zuletzt an der zunehmenden psychischen Elternlosigkeit der vom narzißtischen Selbstbezug der Eltern-Generationen betroffenen Kinder-Generationen, insbesondere also an dem wachsenden Desinteresse der Mütter an der ausreichenden psychischen Versorgung und Verwöhnung ihrer Kinder. Wer aber insofern narzißtisch frustriert und bedürftig ist, bleibt mehr oder weniger suchtartig gezwungen, sich den Ersatz für die fehlende mit einem spielende Mutter durch "Erwachsenen"-Spiele und-Verwöhnung hereinzuholen. Die suchtgleiche Leidenschaft für die Arena- und Zirkus-Spiele erfaßte so unaufhaltsam auch die sog. höheren Kreise immer mehr, die sich dadurch vulgarisierten und proletarisierten. 437 Die Leidenschaft für die Spiele machte vor nichts Halt, auch nicht vor den Bastionen der Bildung. Im Gegenteil. Die Rückentwicklung von Bildung und Kultur verlief geradezu umgekehrt proportional zu der der Spiele. Kahrstedt (1944, 292) bemerkt in diesem Zusammenhang: ,,Nahezu alle Autoren der Zeit sind sich einig, daß diese Schauspiele die geistigen Interessen einfach aufzehren, daß die bevorstehenden und die kürzlich abgewickelten Rennen und Hetzen das Gespräch sind, über das Hoch und Niedrig in der Unterhaltung schwer hinauskommen." Schließlich war es soweit, wie Tacitus 438 berichtet, daß die Lehrer in der Schule mit Ereignissen aus Arena und Zirkus arbeiten mußten, um überhaupt noch das Interesse ihrer Schüler zu gewinnen. 439 Zur hellenistischen Königssehnsucht Schneider 1967, 8 ff. Dazu Riencourt 1958, 338; Raith 1982, 68. 437 Dazu insbes. Toynbee 1947, 454 ff. 438 Dialog de orat., Kap. 29, 4 ff.; dazu Friedländer 1922 li, 38; Kahrstedt 1944, 292. 439 Ein Vergleich mit dem "TV-Montag" an unseren Schulen, an dem erst einmal der Fernseh- und Video-Konsum vom Wochenende aufgearbeitet werden muß (dazu u. S. 272), drängt sich da geradezu auf. 435
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Der Höhepunkt dieser Entwicklung schien erreicht, als Ende des 2. Jahrhunderts Kaiser Commodus als Gladiator und Anfang des 3. Jahrhunderts Kaiser Caracalla als Wagenlenker auftraten- die Spiele waren zum Inbegriff der Kultur schlechthin geworden. 440 Letztendlich hatte das korrumpierende Gift der römischen Spiele sogar die Wiege der antiken Kultur selbst erreicht. Anders als der lateinische Westen hatte sich der griechische Osten zwar zunächst einigermaßen erfolgreich gegen die Übernahme dieser römischen "Barbarei" wehren können. Im 2. Jahrhundert n. Ch. war es dann aber doch soweit: Nicht nur im römischen Korinth, sondern sogar im Theater des Aischylos in Athen traten Gladiatoren und Löwen zur allgemeinen Volksbelustigung auf! 441 Mit dieser Profanierung und der darin zum Ausdruck kommenden Proletarisierung der ehemals kulturschöpferischen Elite war aber unweigerlich der Endpunkt der Rück~lltwicklung der antiken Kultur von der aufgeklärt-erwachsenen Geistes-Bildung zum barbarisch-infantilen "body building" zumindest in Sichtweite. Einen vielleicht noch sinnfalligeren Ausdruck der allgemeinen Rückentwicklung von der schöpferischen Geistes- zur narzißtischen Körperkultur und damit zur hedonistischen Alters-Infantilität der "zweiten Kindheit" stellte schließlich die expansive Entwicklung der römischen Kaiserthermen dar. So wie Kinder nicht nur oral versorgt und unterhalten werden, sondern auch ausgiebig im Wasser planschen wollen, ging es offensichtlich auch den alterskindisch gewordenen Bürgern des Reiches. Seitdem Augustus' Feldherr und Schwiegersohn Agrippa als erster öffentliche, jedermann zugängliche Thermen in Rom gebaut hatte, war es das Anliegen aller Caesaren, ihre Untertanen durch immer üppigere Badefreuden bei Laune zu halten. Agrippas Thermen wurden so alsbald durch die wesentlich prächtigeren Nero-Thermen überflügelt. Diese wiederum wurden ihrerseits von den Thermen des Titus, Trajans, Caracallas und Diokletians in den Schatten gestellt. 442 Insgesamt unterstreicht wohl nichts die allgemeine kulturelle Rückentwicklung der Antike von der Leistung zur Lust besser als der Umstand, daß die DiokletiansThermen überhaupt der letzte große "Kultur"-Bau der heidnischen Antike in Rom waren. 443
440 Immerhin wurden die Gladiatoren-Auftritte des Commodus doch als eines Kaisers unwürdig empfunden, und daher nach seinem Tod beschlossen, alle Statuen, die Comrnodus als Gladiator zeigten, zerstören zu lassen; dazu Weber 1983, 41 f. 441 Dazu L. Robert: Les gladiateurs dans l'orient grec (1940, 263): ,,La sociiSte grecque a ete gangrenee par cette maladie venue de Rome"; zit. nach Schneider 1967, 953. S. auch Friedländer 1922 II, 105 f.; Kahrstedt 1944, 300 + 1951, 456. 442 Einzelheiten bei Weber 1983, 212 ff. 443 Raith 1992, 152 f.
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2. Kindliche "religio" zur Großen Mutter Narzißtischer Selbstbezug führt auf die Dauer keinesfalls zu befriedigender Selbsttindung und -erfüllung, sondern im Gegenteil zu einer regressiv-suchtartigen Dynamik zunehmend verzweifelter, sich selbst bespiegelnder Selbstverzehrung und damit zu einem letztlich womöglich tödlichen Selbstverlust Diese gefährliche selbstverzehrende Psychodynamik des Narzißmus kommt nirgends besser zum Ausdruck als in dem nicht von ungefähr, sondern nur folgerichtig erst späthellenistischen Mythos von Narkissos, einem gynandrischen (!)Jüngling, 444 der, jeglichen libidinösen Objektbezug sei es zu einem Mädchen, sei es zu einem anderen Jüngling hochmütig ablehnend, sich zur Strafe in sein eigenes Spiegelbild verliebt und, sich nach sich selbst verzehrend, schließlich an dieser seiner Eigenliebe zugrunde geht. 445 Entsprechend dieser Psychodynamik des Narziß-Mythos mochte nun der narzißtische Selbstbezug gemäß dem Lustprinzip, wie er in dem gynandrisch-androgynen Nebeneinander der gleichsam herbstlichen Geschlechterangleichung unter dem Zeichen der "Stockung" ab dem 1. Jahrhundert v. Ch. herrschend geworden war, zwar vorübergehend durchaus als Selbsttindung und -befriedigung empfunden werden, nicht jedoch auf längere Sicht. Auf die Dauer läßt sich eine wahrhaft befriedigende und erfüllende Selbstverwirklichung nicht durch narzißtischen Selbstbezug erreichen, sondern im Gegenteil nur durch Absehen von sich selbst, eben durch im wahrsten Sinne des Wortes "selbst-lose" Hingabe an eine das eigene Selbst transzendierende Idee, Aufgabe oder Tat. Hingegen führt narzißtischer Selbstbezug in der vermeintlichen Jagd nach Selbsttindung auf die Dauer lediglich zu einem zunehmenden libidinösen Objektverlust und damit zu einer zunehmenden inneren Leere, was wiederum nur die Jagd nach narzißtischer Selbstfmdung umso verzweifelter und aussichtsloser werden läßt. In diesem Sinne jagten also schon die sich dem Programm hedonistischer Selbstverwirklichung hingebenden narzißtisch Selbstbezogenen der Antike zunehmend einem ferner und ferner rückenden Phantombild hinterher. Die Vergeblichkeit narzißtischer Selbstbefriedigung galt aber erst recht für die von vorneherein narzißtisch Bedürftigen, also vorwiegend psychisch Mutterlosen, die von vorneherein einen "leeren Fleck im Herzen" (Kahrstedt 1944, 412) hatten, und damit ein inneres Vakuum, das sie, verzweifelt erfüllungsbedürftig, durch alle möglichen suchtartigen Ersatzbefriedigungen wie Genußsexualität, (Kultur)Konsum, die "Spiele" etc. auszufüllen suchten. Eine derartige narzißtische Leere gleich "Depression" ist durch keine Ersatz-Droge auszufüllen. Viel444 Dieser Aspekt des Gynandrischen kommt bei Pausanias 9, 31, 7 gut zum Ausdruck, wonach N. eine ihm in jeder Hinsicht ähnelnde Zwillingsschwester hatte, in die er sich unsterblich verliebte, und deren Abbild er nach ihrem Tod in seiner eigenen Selbstspiegelung imaginierte. 445 Konon Frgm, 24 in Fr. Gr. Hist. I, 197 f.; Ovid, Met. III, 341 ff.
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mehr läßt die vergebliche suchtartige Ersatz-Befriedigung die zugrundeliegende und anhaltende Leere gleichsam als psychisches ,,Faß ohne Boden" 446 nur umso schmerzlicher gewahr werden. Für die antiken Brüder und Schwestern der Gestalt des Narkissos kam erschwerend hinzu, daß ihre narzißtische Leere und Kälte nicht auf eine innere Befindlichkeit beschränkt blieb, sondern nur zu bald auch zu einer äußeren Gesamtgegebenheit wurde insofern, als der Mitmensch im Zweifel genauso empfand und agierte, also nur mehr brauchte und haben wollte, aber nichts mehr zu geben hatte. Im weiteren Verlauf der Antike kam es daher zu einem immer gravierenderen Verlust herkömmlicher Bindungen in und an Familie, Sippe, Polis etc. und damit zu einer Entwurzelung, Vereinzelung und Anonymität der sich in den hellenistischen bzw. kaiserzeitlichen Großstädten sammelnden Heimatlosen und Entfremdeten, kurz zu einer auch äußeren Isolation und Einsamkeit als Pendant der inneren. Kahrstedt (1944, 411 f.) beschreibt diese Gesamtgegebenheit treffend so: ,,Es gibt nichts als das Imperium, an dessen Regiment man keinen Teil hat, das nichts ist als eine große feste Halle, in der man lebt- wenn auch besser, als die Menschheit es seit Jahrhunderten gewöhnt war - und daneben die eigene kleine Person, die frierende Menschenseele, die sich nach einer engeren, weniger weltweiten Gerneinschaft sehnt." In dieser zutiefst unbefriedigenden inneren und äußeren Situation gab es für diejenigen, die die Vergeblichkeit des narzißtischen Lösungsweges durch das Verzweiflungsvolle des "noch mehr" und ,jetzt erst recht" an suchtartiger oralhedonistischer Selbstbefriedigung zunehmend schmerzlicher zu spüren begannen, letztlich nur einen Ausweg: die Religion, verstanden als "religio" im Sinne von letztlich mystischer Rückbindung und Rückkehr zum göttlichen Ursprung. 447 Dodds (1951, 129) bemerkt dementsprechend: "Die berühmte Bemerkung von Whitehead 448 , daß ,,Religion das ist, was der einzelne mit seiner Einsamkeit anfängt" - man mag über sie als allgerneine Definition denken, wie man will -, beschreibt recht genau die religiöse Situation seit der Zeit Alexanders des Großen." In einer insgesamt heilsamen "Dialektik des Narzißmus" kam es so zu einer Vollendung, Aufbebung und Überwindung des heillosen, letztlich tödlichen Narzißmus durch eine gleichsam regressive Flucht nach vorn: Der zutiefst unbefriedigende Weg der oral-narzißtischen Versorgung und-Verwöhnung durch die Gestalt eines Caesars als Über-Vater und -Mutter wurde zunehmend ersetzt durch den sprituellen Heilsweg des letztlich uteralen Eingehens zu einer göttlichen "Ganz Gascard 1984, 96; näheres dazu u. S. 348. ,,Religio" abgeleitet von ,,religare"; dazu Jung 1952, 543; Gebser 1966, 110 f. Zu den verschiedenen, teils älteren etymologischen Herleitungen von religio Heiler 1961, 2. 448 A. N. Whitehead: Religion in the Making, 1926, 6. 446 447
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Großen Mutter". Dieser spirituelle Weg war tiefenpsychologisch eindeutig die bessere Lösung. Indem sich die Gläubigen zum spirituell sterbenden und wiedergeborenen Kind einer göttlichen Großen Mutter machten, erhofften und erreichten sie imaginär die Überwindung ihrer realen psychischen Mutterlosigkeit. Indem sie ihr narzißtisch bedürftiges heilloses Selbst durch mystische Verschmelzung mit einer allumfassenden matemalen Gottesgestalt aufgaben, gewannen sie die Überzeugung von dessen Seelenheil und Erlösung. "Religio" in diesem Sinne einer mystisch-verschmelzenden Rückbindung und Rückkehr zu einem matemal empfundenen göttlichen Ursprung ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß eine Kultur gleichsam am Abend ihrer Entwicklung angelangt, endgültig alterskindisch und ihrer selbst überdrüssig geworden ist. Indem die individuelle narzißtische Freiheit zugunsten einer erneuten überindividuellen Wiedereinbindung mit dem letztendlichen Ziel der heilsamen Erlösung des und vom narzißtisch gescheiterten Selbst aufgegeben wird, vollzieht sich der letzte Akt der "Dialektik der Aufklärung" von der verblassenden Rationalität zu zunehmender Arationalität, von der einstigen Transzendenz zu erneuter Immanenz, in der an die Stelle von Gedankenfreiheit, Wissen und Wissenwollen wiederum "blinder" Glaube und Glaubensgewißheit treten, einschließlich des von sich selber nichts mehr wissen Wollens. Womit hat nun diese Rückkehr zum Glauben als unausweichlich empfundener "ultima irratio" in der antiken Kultur eingesetzt? Wie bereits aufgezeigt (dazu o. S. 114 u. 125), kam es bereits während des Peloponnesischen bzw. des II. Punischen Krieges zu einem Auftauchen orgiastisch-ekstatischer maternaler Kulte wie etwa dem der Großen Mutter Kybele. Bedeutete dieses Phänomen bereits den Beginn der religio in dem hier verstandenen Sinn? Das relativ frühe Auftauchen dieser das Bild von der klassischen griechischrömischen Kultur beunruhigend störenden Kulte wird gerne damit wegzuretouchieren versucht, daß man sie als Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und Angst des insbesondere aus dem Osten zugewanderten "besitzlosen städtischen Pöbels" als der "Hefe des Volkes" (Altheim 1956, 60 f.) 449 erklärt, der natürlich seine eigenen exotischen Kulte mitgebracht habe. So einfach liegen die Dinge indes nicht. Zwar waren die meisten der neuen Kulte jedenfalls in Rom 450 in der Tat exotisch-orientalischen Ursprungs. Das Auftauchen dieser Kulte während der beiden Kriege war jedoch keineswegs nur ein zu bagatellisierendes Ausländer-Unterschichtphänomen. Dies wird für Griechenland schon dadurch dokumentiert, daß etwa Platon zu Beginn seiner "PoliIn diese Richtung auch Tarn 1952, 401 ff., sowie Nilsson 1955, 836 ff. Für Griechenland liegen die Verhältnisse angesichts der Renaissance etwa der "einheimischen" Kulte des Dionysos, des Orpheus, oder auch der Demeter etwas anders. 449
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teia" Solerates und seine illustren Freunde, darunter auch die Brüder Platons, das um das Jahr 430 anzusetzende Fest der Bendis mitfeiern läßt. 4s1 Gleichermaßen muß die Einholung des Kultsteins der Magna Mater Kybele nach Rom im Jahr 204 laut Livius geradezu ein gesellschaftliches Großereignis der römischen Oberschichten gewesen sein, 4S2 und auch in den sog. "Bacchanalienfrevel" von 186 waren durchaus auch "Männer und Frauen aus bekannten Familien" (Livius 39, 13, 14) verwickelt. Gleichwohl erscheint das Auftauchen dieser orgiastisch-ekstatischen Kulte bereits während der beiden Kriege noch nicht als wiedereinbindende religio in dem hier gemeinten Sinn einer letztlich mystischen Rückkehr zum göttlichen Ursprung. Dazu ist das unausweichliche Gefühl einer endzeitliehen Not-Wendigkeit und anderweitigen Ausweglosigkeit erforderlich, das damals einfach noch nicht gegeben war. Das damalige Mitfeiern der orgiastisch-ekstatischen Kulte auch seitens der griechischen und römischen Mittel- und Oberschichten erscheint vielmehr noch als bloße "modische Vorliebe" (Dodds 1951, 105) effeminierter Männer bzw. klitoridal emanzipationsbestrebteT Frauen in der jeweiligen mittäglichen kulturellen Wendezeit, denen es im Zusammenhang mit der allgemeinen Kriegshysterie in den kultischen Ekstasen zunächst noch lediglich um das "Entgegenkommen" gegenüber ihrer bisher zu kurz gekommenen eigenen weiblichen Seite bzw. um die Befreiung ihrer bisher unterdrückten klitoridal-männlichen Seite ging. Nichts desto trotz erscheint das zunächst noch spielerisch-hysterische Auftauchen maternaler Kulte in den jeweiligen mittäglichen Wendezeiten der griechischen und römischen Kultur aber bereits als ominöses Anzeichen der religiösen Dinge, die alsbald unabwendbar-ernsthaft kommen sollten.
a) Vom Wissen zum Glauben Der Prozeß der Rückkehr zu infantil-gläubiger religio setzt ein, wenn die eine Kultur tragenden Mittel- und Oberschichten, die an sich wissen können, nichts objektiv-Weltbezogenes mehr wissen wollen, sondern statt dessen nur mehr subjektiv von sich selber etwas wissen, "sich selbst erfahren" wollen. 453 Die Grenze zwischen Wissen und Glauben fluktuiert im Verlauf ständig. Dabei hat Glaube grundsätzlich seinen Ort da, wo Wissen noch nicht bzw. nicht mehr möglich ist. Dies gilt sowohl für das Einzelindividuum - Kinder müssen notgePoliteia I, 327 a. Livius 29, 14: "Die vornehmsten Frauen der Bürgerschaft ... nahmen sie (die Göttin) in Empfang." 4S3 In diesem Sinn auch Schachermeyr 1969 a, 430: Bei dem Phänomen, " in welch leichthingleitender Weise der Hellenismus aus dem Kreise wissenschaftlicher Interessen in den der nur-religiösen Besinnung zurückfand, ... muß die Frage nach einem Nichtwollen doch auch gestellt werden." 4St
4S2
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drungen alles mögliche glauben, solange sie noch nicht wissen können; Altersinfantile glauben dementsprechend, wenn sie nicht mehr wissen können oder auch nichts mehr wissen wollen- als auch für eine Kultur insgesamt: Im morgendlichen Zwielicht der magisch-mythischen Jugendzeit der Kultur wird noch geglaubt, was dann später im Zenith der mittäglichen Aufklärung gewußt wird, um gegen das abendliche Zwielicht hin wieder einem verstärkten Ver-meinen und Glauben an das im Wesen Gleiche Platz zu machen. Diese Sichtweise des prä- bzw. post-aufgeklärten Glaubens hat allerdings nur für die dynamische Spitze des kulturellen Eisberges ihre Richtigkeit, da nur bezüglich der zwischenzeitlich aufgeklärten Mittel- und Oberschichten einer Kultur recht eigentlich von einer "Rückkehr" zur Welt des Glaubens die Rede sein kann. Die kulturell gesehen undynamischeren Unterschichten verbleiben immer eher auf die Ebene des Glaubens und Vermeinens fixiert, oder- wie man es aus der Perspektive des aufgeklärt Wissenden sehen will- auf die Ebene des Aberglaubens. Die zwischenzeitliche Aufklärung sozusagen an der Spitze des kulturellen Eisberges vermag den "zähen" (Aber)Glauben an seiner Basis nur höchst ungenügend zu beeinflussen. Die Einschränkung des Blickfeldes auf die Spitze des kulturellen Eisberges rechtfertigt sich jedoch dadurch, daß die Ent- und Rückentwicklung einer Kultur recht eigentlich von der sozio-kulturellen Dynamik der oberen Bevölkerungsschichten bestimmt wird, während die kulturellen Unterschichten dazu die in etwa gleichbleibende kontrapunktische Ausgangs- und Endbasis bilden. Zum in diesem Sinne kulturdynamisch und -morphologisch bedeutsamen Phänomen wird die religio damit aber erst dann, wenn sie auch die kulturtragenden Schichten ergreift und diese vom aufgeklärten Wissen zum Glauben zurückführt, d. h. also, wenn auch die potentiell Wissenden letztlich nichts mehr wissen, sondern nur mehr glauben wollen. Diese Wissens-Glaubens-Grenze begann sich in der Antike wieder zu Gunsten des Glaubens zu verschieben, als ab dem 3. Jahrhundert v. Ch. das geistige Interesse an objektivem Wissen zugunsten selbstbezogener "Lebensphilosophien" verblaßte, die sich ihrerseits im Verlauf immer mehr als - modern gesprochen - ,,klientenzentrierte" Psychotherapien verstanden. Von der ionischen Naturphilosophie, die ja zugleich auch theoretische Naturerkenntnis war, angefangen bis hin zu Aristoteles war die Philosophie auf Fragen ausgerichtet gewesen wie: Was ist die Welt? Oder auch: Was ist der Mensch? Das philosophische Interesse galt also der objektiven Welt bzw. dem objektiven Menschen in der Welt. Hiervon machte auch die philosophische Psychologie eines Aristoteles noch keine Ausnahme. Diese Art von um objektives Wissen bemühter Erkenntnis-Philosophie interessierte jedoch im Hellenismus immer weniger. Bezeichnend hierfür ist, daß selbst Aristoteles ab dem 3. Jahrhundert kaum mehr gelesen wurde. 454 Statt dessen machten sich ab der Zeit die recht 454
Schneider 1967, 24 mit Nachweisen.
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eigentlich psychotherapeutisch orientierten Lebensphilosophien des Kynismus, Epikureismus und der Stoa breit. Alle diese Philosophien betonten, daß objektive wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse um ihrer selbst willen sinnlos seien, und nur brauchbar als Mittel zur Erringung von persönlicher Glückseligkeit bzw. Seelenruhe als oberstem LebenszieL 455 Alleinige Aufgabe der Philosophen sei es daher, ihren Anhängern zu dieser persönlichen Glückseligkeit und Seelenruhe zu verhelfen. 456 Der tiefere Grund für diese Abkehr von objektivem Wissen zugunsten subjektiver Nützlichkeit liegt in der allgemeinen narzißtischen Involution der damaligen antiken Kultur. Im überhandnehmenden Klima zunehmenden narzißtischen Selbstbezugs und narzißtischer Bedürftigkeit konnte abstrakte, die Bedürfnisse des Einzelnen bewußt außer Acht lassende Erkenntnis-Philosophie einfach kein ausdauerndes Interesse mehr beanspruchen. Der narzißtisch auf sich selbst Bezogene und mehr noch der psychisch vater- und mutterlose narzißtisch Bedürftige will nichts Objektives wissen, was mit ihm selber unmittelbar nichts zu tun hat. Ihn interessiert vielmehr: Was bringt das alles mir persönlich? Beziehungsweise: Wie kann mir persönlich geholfen werden? Eine derartige selbstbezogene Einstellung zieht aber unweigerlich die Libido von abstrakten Fragestellungen ab und wendet sie Problemen des konkreten persönlichen Heils zu. Dieser narzißtischen Ausrichtung bzw. Bedürftigkeit ihrer Klienten entsprechend, verstanden sich daher die Lebens-Philosophen im Verlauf des Hellenismus immer weniger der objektiven Wahrheitssuche verpflichtet, dafür aber um so mehr dem subjektiven Seelenwohl des Einzelnen. So wurde der Philosoph zunehmend zum klientenzentrierten Seelentröster und -heiler, der "seinen Vorlesungssaal als Ambulanz für kranke Seelen ansah" (Dodds 1951, 134). 457 In diesem Sinne schrieb etwa bereits im 3. Jahrhundert der Stoiker Chrysipp ein für weitere Kreise bestimmtes Psycho-Buch mit dem Titel "therapeutikos". 458 Letztlich war aber auch die Lebensphilosophie als Psychotherapie nur ein Intermezzo auf dem Rückweg vom Wissen zum Glauben. "Bei solchen Seelenkuren handelte es sich um einen gehobenen und veredelten Egoismus, der unfrucht455 In diesem Sinn etwa Chrysipp: ,,Zu keinem andren Zwecke ist es nötig Naturwissenschaft zu treiben als zur Scheidung des Guten und Üblen" ; zit. nach Pohlenz 1950, 105. S. auch Schachermeyr 1969a, 331 f., 339. 456 Kaum etwas ist bezeichnender für diese wissens- und wissenschaftsfeindliche Einstellung als die Zustimmung Senecas zu der Ansicht des Kynikers Demetrios, daß man sich nicht abmühen sollte, um Dingen nachzuspüren, von denen man nichts wissen könne und deren Kenntnis für einen unnütz wäre(!), wie etwa die Ursache des Gezeitenwechsels oder die Prinzipien der Perspektive (Seneca, De Beneficiis 7, 1, 5 f.). Dazu Dodds 1951, 134 treffend: "In solchen Aussagen können wir schon die geistige Atmosphäre des Mittelalters verspüren." 457 Dazu auch Schachermeyr 1969a, 379 f.; Friedländer 1923, 279; Schneider 1967, 965; Kahrstedt 1944, 355 ff. 458 Dazu Pohlenz 1950, 150 ff.
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bar bleiben mußte" (Schachermeyr 1969a, 379). Weder der Epikureismus, der ein hedonistisch-verfeinertes Aussteigerturn als Heilsweg anpries, noch der Kynismus mit seinem Aufruf zu radikalem Kulturverzicht und Selbstbescheidung, noch auch die Stoa, die als Königsweg zum Seelenfrieden gar die innere Akzeptanz eines eventuellen Selbstmordes propagierte, 459 vermochten den narzißtisch einsamen und frierenden Seelen den erhofften Trost zu spenden und ihnen die ,,Angst vor dem leeren Raum, den sie in ihrer extremen Ichsucht geschaffen hatten" (Schachermeyr 1969a, 379), zu nehmen. So wollte der psychisch Hilfsbedürftige alsbald auch von der Philosophie als Psychotherapie nichts mehr wissen und suchte zunehmend Heilung und Heil im Glauben. Dabei stand sozusagen als Brücke vom Wissen zum Glauben die Glaubens-Gewißheit in Bezug auf pseudo-wissenschaftliche und pseudo-religiöse Mächte wie Magie und Astrologie als einerseits mystifizierten Wissenschaften, andererseits vorwegnehmendem Religionsersatz jedenfalls zunächst durchaus im Vordergrund. In diesem Sinne ging man nunmehr statt zum hippokratisch orientierten Arzt oder eben zum psychotherapeutisch orientierten Philosophen lieber zwecks Traumschlaf- oder sonstiger "Wunderheilungen" in die Tempel des Asklepios. 460 Zusätzlich fand nunmehr auch aktiv-beschwörende Magie als die "Wissenschaft" von den Möglichkeiten, göttlich-dämonische Mächte zu einem bestimmten, einem selber vorteilhaften Handeln zu zwingen, auch in den hellenistischen Mittel- und Oberschichten zunehmend Anklang. 461 Vor allem aber waren nunmehr immer weitere Kreise auch dieser Schichten bereit, an die Macht der als göttlich gedachten Gestirne und ihren Einfluß auf das Leben des Einzelnen zu glauben, und wandten sich Astrologen als Lebenshelfern zu. Die zunehmende Bedeutung der Astrologie ab dem späten 3. Jahrhundert ist ganz allgemein ein eher düsteres Kapitel auf dem Rückweg der antiken Kultur vom Wissen zum Glauben, insbesondere aber eines der Geschichte der Philosophie, weil gerade die Stoa als die bedeutendste der hellenistischen Lebensphilosophien entscheidend dazu beigetragen hat, daß auch die Gebildeteren sich der wissenschaftlichen Astronomie verschlossen und gläubig der pseudowissenschaftlichen wie -religiösen Astrologie zuwandten. Schon der späte Platon 462 und gleichfalls Aristoteles hatten als überzeugte Vertreter des damals gängigen geozentrischen Weltbildes mit astrologi~chen 459 Mare Aurel: Selbstbetrachtungen m, 1: " ... zu prüfen, wann es Zeit ist, aus diesem Leben zu scheiden." Der ev. Selbstmord gilt der Stoa letztlich geradezu als allein naturgemäß; dazu Pohlenz 1950, 146 f. So sind bereits die Begründer der Stoa, Zenon und Kleanthes, gleichsam vorbildhaft durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. 460 Dazu Dodds 1951, 66 ff., 71 ; Nilsson 1961, 222 ff.; Friedländer 1923, 171 ff. Erstmalig spielte der Glaube an magische Heilungen durch Asklepios bereits im Zusammenhang mit der Pestepidemie während des Peloponnesischen Krieges in Athen eine Rolle; dazu Dodds 1951, 104 f. 46 1 Dazu Tarn 1952, 418 ff.
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Bezügen geliebäugelt. Gleichwohl war es im 3. Jahrhundert v. Ch. Aristarch v. Samos gelungen, im Wesentlichen zu der richtigen Erkenntnis des heliozentrischen Weltbildes vorzudringen, in dem für Astrologie an sich kein Platz war. Mit diesem aus abendländischer Sicht geradezu revolutionär anmutenden Ergebnis hellenistischer Wissenschaftlichkeit kam Aristarch jedoch bereits "zu spät" - d. h. er paßte nicht mehr in eine Zeit post-aufklärerischer Verdunkelung und narzißtischer Bezugsbedürftigkeit, die unbedingt wieder an einen konkreten "sympathetischen" Bezug der und zu den Gestirnen glauben wollte. Den Hauptkampf gegen Aristarchs heliozentrisches Weltbild führte dabei die Stoa, für die die Erde unverrückbar im Mittelpunkt des Kosmos stand, und der aufgrund ihrer Annahme eines pantheistisch-immanenten "Iogos spermatikos" ohnehin alles mit allem organismisch verbunden erschien. In diesem Sinne nur folgerichtig wollte der Stoiker Kleanthes seinen Zeitgenossen Aristarch am besten wegen "Asebie" (Gottlosigkeit) verurteilt sehen. 463 Endgültig auch in den kulturtragenden Oberschichten salonfähig wurde die Astrologie dann im 2. und l. Jahrhundert v. Ch. durch den Stoiker Poseidonios. 464 Für Poseidonios war die Welt nicht nur nach physikalischen Gesetzen geordnet, sondern darüberhinaus auch durch "Ähnlichkeit" und "Sympathie" verbunden. Dementsprechend sandte die Erde durch ihre Ausdünstung dem Himmel und den Sternen deren Nahrung empor. Umgekehrt bestimmten die Gestirne sympathetisch die Geschicke der Menschen. 465 Alles, was auf diesem Gebiet nach Poseidonios noch kam, war lediglich Verfestigung und Popularisierung des einmal eingeschlagenen Weges, bis schließlich durch Claudius Ptolemaeus im 2. Jahrhundert n. Ch. das astrologiefreundliche geozentrische, eben ptolemaeische Weltbild für nahezu eineinhalb Jahrtausende festgeschrieben werden konnte. Ein wirklich befriedigendes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermochte den narzißtisch Bedürftigen der Antike natürlich gerade auch der Glaube an die Gestirne nicht zu vermitteln. Dazu war deren angenommene Macht einfach zu "fatal" - sie konnte zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen, ohne daß man selber darauf irgend einen bestimmenden Einfluß hatte. Auf die Dauer war es daher mit all den philosophisch-therapeutischen, magischen sowie sympathetisch-astrologischen Heilungs- und Heilansätzen nicht getan. Zur tieferen Befriedigung und Beruhigung des hellenistischen und kaiserzeitlichen Narziß gerade auch der Mittel- und Oberschichten mußte der Philosoph und Wissenschaftler sozusagen nicht nur zum Therapeuten, Wunderheiler, Magier und Astrologen werden, sondern - so jedenfalls in der Sache - auch noch zum Priester. Erst in der religio selbst sollte der in der selbstbezogenen MassenziInsbes. im "Timaios" und in den "Gesetzen"; dazu Dodds 1951, 119. So Plutarch, De facie 6, 923 A; zit. nach Dodds 1951, 261, Anm. 58; s. auch Pohlenz 1950, 14 + 71. 464 Dazu Tarn 1952, 415 f.; Christ 1984b, 411. 465 Sekundärtexte bei Pohlenz 1950, 287, 293, 299. 462 463
II Gascard
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vilisation psychisch und physisch heimatlos gewordene und verängstigte narzißtisch Hilfsbedürftige sein eigentliches Seelenheil finden. Neben dem Glauben an Magie und Astrologie, die gleichwohl die ganze Antike über bis zum Sieg des Christentums und darüber hinaus wichtig blieben, 466 kam es daher ab dem 1. Jahrhundert n. Ch., als sich der Zusammenbruch der damaligen Kulturwelt bereits unmißverständlich abzuzeichnen begann, zunehmend zur Flucht in die Philosophen-Religion der "Gnosis", und damit einer ,,Erkenntnis" (gnosis), die zwar in ihrer Form noch in die Sprache der antiken Philosophie und Wissenschaftlichkeit eingekleidet blieb, in der Sache aber bereits nichts anderes als mystisch-religiöse Heilslehre und -praxis war. In dieser Gnosis gab das altersinfantil gewordene antike Denken endgültig seinen rationalen Geist auf und kehrte zur Welt arationalen Glaubens zurück. Die Heils-und Erlösungslehre der Gnosis läßt sich anhand eines großen "U" sinnfällig wie folgt beschreiben: 467 Im Anfang ist die Geist-Seele des Menschen bei Gott und damit selbst göttlichen Ursprungs. Durch "Vergessen" oder auch diabolische Verführung fällt sie von Gott ab und erscheint "gefallen", hineingeworfen in die schlechte, katastrophal verdorbene materielle Welt, die nicht von Gott stammt, sondern das Werk eines nachgeordneten Demiurgen oder gar einer dämonischen Macht ist. In dieser katastrophalen Welt sowie in seinem ihr verhafteten Körper gleichsam als Gefängnis leidend eingeschlossen, empfindet die Geist-Seele des Menschen dumpf Heimweh nach ihrem göttlichen Ursprung. Aufgabe der "Gnosis" als esoterischem Heilswissen ist es nun, den entsprechend Eingeweihten zu geistigem "Erwachen" und ,,Erinnern" zu bringen und seine Geist-Seele durch die Praxis heilsam selbst-befreiender und selbst-erlösender mystischer Ekstase wieder zum göttlichen Ursprung zurückzuführen. Diese Glaubensgewißheit der Gnosis war und blieb die philosophisch-spirituelle Zuflucht einer (ein)gebildeten Elite, die das Bedürfnis hatte, sich nach wie vor als erkennend und wissend über blinden (Aber)Glauben erhaben zu fühlen. Insgesamt setzte sich jedoch auch unter den kulturtragenden Schichten der Antike immer mehr die Auffassung durch, daß letztlich doch nur die persönliche Hingabe an eine personal gedachte und dem Einzelnen ganz konkret zugewandte Gottheit einen aus seiner Einsamkeit und Bedürftigkeit erlösen und in dieser personalen Glaubensgewißheit Sicherheit und Geborgenheit vermitteln könne. Nach Lage der Dinge konnte dieser personale Gottesbezug gleichsam am Abend der nachmittäglichen kulturellen Wendezeit der Antike mit seiner charakteristischen Entmännlichung, dem beiderseits beziehungsarmen narzißtischen Nebeneinander der Geschlechter, sowie der altersinfantilen erneuten Bindungs-, 466 Bez. der Astrologie Friedländer 1922 I, 212 ff.; Kahrstedt 1944, 385 ff. Bez. der Magie Nilsson 1961, 520 ff. Zur magischen Theurgie, deren beliebteste Göttin in der Spätantike Hekate war, insbes. Dodds 1951, 150 ff. 467 Dazu Eliade 1978, 316 ff.
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Geborgenheits- und Heilsbedürftigkeit aber nur der zu weiblich-mütterlichen Gottheiten sein.
b) Die Rückkehr der Göttinnen Was in Griechenland während des Peloponnesischen Krieges bzw. in Rom während des II. Punischen Krieges als unmittelbar durch die Kriegserschütterungen provoziert, noch modisch-spielerisch begonnen hatte, nämlich die "Rückkehr der Göttinnen" (dazu o. S. 114 u. 125), weitete sich nunmehr im Verlauf zunehmenden narzißtischen Selbstüberdrusses zu einer existentiell-ernsthaften Bewegung zutiefst empfundener Unausweichlichkeit aus. In diesem Zusammenhang kam es zu einer bemerkenswerten Renaissance der alten, während des Hochpatriarchats in den sozialen und psychischen Untergrund verdrängt gewesenen, ihrem Wesen nach matemalen Kulte wie denen der Demeter und des Dionysos, die nunmehr als esoterische Mysterienkulte gefeiert und vielfach in synkretistischer Weise miteinander verbunden wurden. 468 In ihrer Verbreitung und ihrem Einfluß noch wichtiger wurden nunmehr allerdings die aus dem Osten importierten hellenisierten Große Mutter-Göttinnen mit ihren abhängigen Jünglings- bzw. Bruder-Geliebten wie die ursprünglich phrygische Magna Mater Kybele mit ihrem Attis, oder die ursprünglich ägyptische Isis mit ihrem Osiris. Der Form nach ging es dabei um eine Wiederbelebung alter prae-patriarchaler Fruchtbarkeitskulte, in denen das Männliche noch als ein dem Großen Weiblichen immanent ein- und untergeordnetes, zyklisch vergehendes und wiedererstehendes bloßes Fruchtbarkeitswerkzeug erscheint, vorwiegend symbolisiert im zu zerstückelnden Stier (dazu o. S. 51). In diesem Sinne wird auch jetzt wieder etwa Dionysos als zu Zerstückelnder und Wiedererstehender gefeiert, 469 und als "stiergestaltig" mit dem gleichfalls in Stiergestalt inkarnierten zerstückelten Osiris identifiziert. 470 Desgleichen erfahren die Anhänger der Magna Mater Kybele, falls sie sich nicht entsprechend ihrem Jünglingsgeliebten Attis gleich selbst kastrieren, ihre Weihe in einem sog. "Taurobolium", einer Art Taufe, bei der das "Taufwasser" aus dem Blut eines über dem zu Weihenden rituell geschlachteten Stiers besteht. 471 Im Rahmen dieser Wiederkehr matemaler Kultformen wird selbst der im Hochpatriarchat unsterbliche Göttervater Zeus nunmehr als auf Kreta jugendlich Sterbender und jährlich Wiedergeborener gefeiert, und Besuchern sein Grab gezeigt. 472
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II*
Dazu insbes. Nilsson 1961, 358 f. U. z. im neo-orphischen Dionysos-Kult; dazu Nilsson 1961, 244 f. Diodor IV, I; Plutarch: Uber lsis und Osiris, Komm. Kap. 35, Bd. II, 18 f. Einzelheiten bei Nilsson 1961, 652 ff. Nilsson 1944, 321 ff.
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Bedeuten diese Kulte und Riten zyklischer Wiedereinordnung des Männlichen in ein umfassend Großes Weibliches aber auch in der Sache eine Renaissance der alten matemalen Fruchtbarkeitskulte und damit den spirituellen Ausdruck eines gesellschaftlichen Neo-Matemats? Keineswegs. Denn nunmehr ging es nicht mehr um die sympathetisch-magische Zelebration allgemeiner zyklischer Fruchtbarkeit wie seinerzeit in den Matematen, sondern geradezu um das Gegenteil, nämlich um das psychische Seelenheil und die Erlösung des einzelnen Gläubigen aus den materiellen Bedrängnissen dieser Welt durch im Extremfall selbst herbeigeführte individuelle Unfruchtbarkeit. 473 Allgemein ging es in den "östlichen" Heils- und Erlösungsmysterien der Demeter, Kybele, Isis etc. nunmehr darum, sich in einem "Stirb und Werde"-Todes und Wiedergeburtsritual durch mystische Union mit der jeweils sterbenden und erlöst wiedererstehenden männlichen Erlöser-Gestalt eines Dionysos, Attis oder Osiris etc. zum spirituell gleichfalls "in Ewigkeit wiedergeborenen Kind" der jeweiligen Große Mutter-Göttin zu machen 474 Am deutlichsten kommt dieses Ziel des Heils durch Verkindischung im KybeleAttis-Kult zum Ausdruck: Den sichersten Weg zum Heil beschreitet derjenige, der sich wie die "Galli", die Priester der Göttin, gleich selber die Hoden abschneidet oder zumindest abbindet und dadurch zum post-genitalen Eunuchen gleich prae-genitalen Kind macht, 475 weshalb er nach vollbrachter Tat nur folgerichtig wie ein neugeborenes Kind mit Milch und Honig ernährt wurde. 476 In der Selbstkastration des Kybele-Attis-Kults kommt darüberhinaus ein weiterer, allen matemalen Erlösungsreligionen der Spätantike inhärenter Wesensaspekt exemplarisch roh und unverdeckt zum Ausdruck: der Aspekt des Todes. Vor der spirituellen Wiedergeburt steht unweigerlich der spirituelle Tod. Im Rahmen des ersehnten spirituellen Erneuerungsprozesses mußte also zunächst spirituell gestorben werden. Ja mehr noch. Insofern als es um die Sehnsucht nach Erlösung des seiner selbst überdrüssigen narzißtisch gescheiterten Selbst durch mystisches Eingehen und Auflösung im Nirwana eines uteralen Großen Mutterschoßes ging, kann durchaus von einem nach dem unbewußt-dunklen Ursprung zurückdrängenden spirituellen Todestrieb des vielfach von vomeherein kindisch bleiben wollenden bzw. altersinfantil gewordenen Einzelnen als auch der zunehmend altersstarr, -unfruchtbar und -kindisch gewordenen antiken Kultur insgesamt gesprochen werden. 477 473 Hierzu treffend Schubart 1944, 81: "Die Naturreligion ist die Religion des gebärenden Muttertums. Die Erlösungsreligion ist die Religion der vom Mutterschoß getrennten Geschöpfe. In der ersteren spricht sich der erschaffende absolute Weltgrund heilig; mit der zweiten tastet sich das erschaffene Einzelwesen in seinen absoluten Ursprung zurück." 474 Einzelheiten bei Eliade 1978, 239 ff. 475 Näheres dazu bei Rousselle 1983, 167 ff. 476 Die Milch-Honig-Nahrung stand allerdings auch den bloß in einem Taurobolium wiedergeborenen einfachen Anhängern zu; dazu Nilsson 1961, 688. 477 Näheres zur religio als Todestrieb u. S. 358.
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c) Muttergöttin gegen Mutterlosigkeit Die Renaissance der Großen-Mutter-Kulte und damit die regressiv-progressive Zuflucht zum spirituellen Uterus ersehnter Selbstauflösung und Wiedergeburt hängt zeitlich unmittelbar mit der zunehmenden klitoridalen Emanzipation der Frau in der Antike zusammen. 478 Bereits die bisherigen Darlegungen zur zunehmenden narzißtischen Involution und Verkindischung der antiken Kultur lassen diesen zeitlichen Zusammenhang als einen keineswegs zufälligen, sondern durchaus inhaltlich-folgerichtigen erscheinen. Es bleibt die Aufgabe, diesen Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der "Dialektik der Emanzipation" zusammenfassend deutlich zu machen. Aufgrund der postmittäglichen stärkeren Berücksichtigung seiner eigenen Anima und der daraus resultierenden inneren Sympathie mit der bislang unterdrückten auch-klitoridalen Frau hatte der antike Mann die Frauenemanzipation im Grunde gutgeheißen und war dieser insofern auch innerlich entgegengekommen. Allerdings hatte sich aus diesem Aufeinanderzu der Geschlechter auf die Dauer keine fruchtbare brüderlich-schwesterliche Einvernehmlichkeitsbeziehung ergeben, sondern lediglich ein vom Leistungs- zum Lustprinzip regredierendes, biologisch und kulturell unfruchtbares Nebeneinander beiderseitigen narzißtischen Selbstbezugs. Gerade im Prozeß dieses narßistischen Selbstbezugs und seiner Übersteigerung lag aber auch schon wieder das emotionale Auseinander der Geschlechter angelegt, als desses letztendliche Lösung zur Kompensation der zunehmenden realen Mutterlosigkeit allein die Erlösung der infantil-regressiven Zuflucht zur imaginären Ganz-Großen-Mutter erschien. Für die Frau hatte ihre Emanzipation eine Befreiung ihres klitoridalen Animus in Richtung auf eine ausgeprägte zumindest psychische Androgynie bedeutet, verbunden mit einer Ablehnung oder zumindest Abwertung ihrer vaginal-weiblichen Seite. Weiblich-mütterliches Verhalten trat dadurch praktisch immer mehr in den Hintergrund. Die Ehe wurde zunehmend abgelehnt bzw. seitens der Frau leicht wieder gelöst. Kinderkriegen und -aufzucht wurde im Grunde nur mehr als Belastung und Belästigung empfunden, und die wenigen Kinder, die überhaupt noch zur Welt gebracht wurden, wie selbstverständlich an Ammen und Sklaven abgeschoben. Für den Mann andererseits hatte die emanzipationsfördernde stärkere Berücksichtigung seiner eigenen Anima die Zulassung seiner genuin weiblichen Seite bedeutet, und nicht etwa eines mannweibliehen Aspekts. Er empfand dadurch zunehmend gynandrischer und fühlte sich verstärkt zum vaginal-uteralen Weibli478 So bemerkt Pomeroy 1975, 225 f. bezüglich des Kultes der Isis als des am meisten verbreiteten Große-Mutter-Kultes richtig, "that the establishment of the cult of Isis in Italy in the late Republic coincided with the growing emancipation of women .. . the growth of the cult was apparently greatest where some women, at least, attained a measure of emanzipation."
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
eben und Mütterlichen hingezogen. In dem "Animus"-Geist, den sein Entgegenkommen in der emanzipierten Frau hervorgerufen hatte, fand er also gerade nicht das, was er eigentlich gesucht hatte, sondern vielmehr einen bloßen Geist der Konkurrenz zu seiner eigenen ihm gerade überdrüssig gewordenen einseitigen Männlichkeit. Realität und Aspruch mußten sich damit aber zunehmend verfehlen. Im Verlauf der Frauenemanzipation von seiner androgyn empfindenden Mutter kaum mehr geliebt, in der Regel als von Ammen aufgezogenes Einzelkind vereinsamt herangewachsen, und schließlich seiner gleichfalls androgyn empfindenden potentiellen Partnerin innerlich von vomeherein entfremdet, reagierte der antike (junge) Mann zunehmend mit kindlich bleiben wollender ängstlicher Ablehnung und Vermeidung. Diese Haltung drückte sich auf im einzelnen unterschiedliche, innerlich jedoch verwandte Weisen aus, so etwa in einer verstärkten Misogynie, wie sie insbesondere in der kaiserzeitlichen Literatur drastisch zum Ausdruck kommt, 479 in zunehmender, psychisch bedingter Impotenz, 480 und schließlich gerade eben auch in der zunehmenden kindlichen Verehrung vaginal-uteraler Großer-Mutter-Göttinnen. In der sei es realen rituellen Selbst-Kastration, sei es bloß psychischen infantilen Nicht- bzw. reinfantilisierenden Ent-Genitalisierung des sich vor dem hervorgerufenen Animus der emanzipierten Frau fürchtenden Mannes kommt damit aber sowohl die Flucht vor der klitoridal-vermännlichten realen Mutter und Frau als auch die kompensatorisch-wunscherfüllende Zuflucht zur Imago der vaginal-weiblichen mütterlichen Ideal-Frau geradezu exemplarisch zum Ausdruck. Je mehr die klitoridale Emanzipation der Frau voranschritt und je physisch wie psychisch mutter- und liebloser damit die antike Welt wurde, je weniger Sympathie also von der realen Frau und Mutter zu erwarten war und er ihr gegenüber empfand, desto sympathischer wurden dem antiken (jungen) Mann die Großen-Mutter-Göttinnen, desto sehnsüchtiger machte er sich zum erlösten Kind von imaginären Gestalten wie Demeter, Kybele und Isis, die er nur folgerichtig mit immer weiblicheren und mütterlicheren Zügen ausstattete. In einer konsequenten "Dialektik der Emanzipation" wurde so insbesondere Isis als die im Verlauf bei weitem beliebteste der Großen Göttinnen immer mehr ihres ursprünglich durchaus ambivalenten klitoridal-aggressiven hetärischen Charakters entkleidet, und immer mehr zur allgütigen, ihr Kind Horns bzw. Harpokrates liebevoll stillenden Mutter hochstilisiert. 481 Das Wesentliche auf den Punkt bringt in dieser Hinsicht der berühmte EselsRoman "Metamorphoses" des Apuleius aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Ch., in dem ein junger Mann aus Korinth (!) von emanzipierten lüsternen, 479 480 481
Dazu ausführlich Bullough 1973, 81 ff., sowie Hatebur 1987. Martial VI, 23 +XI, 60; dazu Borneman 1975, 421 ; Hatebur 1987, 30. Tarn 1952, 426; Nilsson 1961, 306 + 631; Pomeroy 1975, 217 ff.
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macht- und rachsüchtigen Weibern "zum Esel gemacht" und gedemütigt wird, bis er schließlich von der allgütigen und barmherzigen Isis als der .,Göttin mit dem fraulichen Schein" und "der milden Zärtlichkeit einer Mutter" (Apuleius, XI, 301 u. 320) als Jünger angenommen und wieder zu menschlicher Gestalt zurückverwandelt wird. Die infantile Sehnsucht nach schützender Geborgenheit und Erlösung durch Große-Mutter-Gestalten erfüllte aber nicht nur die damaligen Männer, wenngleich diese in den Große-Mutter-Kulten offenbar in der Mehrzahl waren. 482 Die GroßenMutter-Göttinnen hatten auch für die Frauen der damaligen Zeit durchaus ihre Faszination. Zunächst einmal konnte sich die emanzipierte Frau unschwer gerade mit dem herkömmlichen hetärisch-orgiastischen Aspekt und der kastrativ-überlegenen Macht etwa der Kybele oder auch der Isis 483 identifizieren. Insgesamt dürfte aber auch für die Anhängerinnen dieser Göttinnen als Töchter emanzipierter Mütter der liebevoll-umsorgende Aspekt der Großen-Mutter-Gestalten im Vordergrund gestanden haben. Von ihren klitoridal-emanzipierten Müttern, die ihre eigene Weiblichkeit ja nicht nur in sich selber, sondern gerade auch in ihren Töchtern ablehnten, im Vergleich zu ihren Brüdern erst recht nicht geliebt, dazu auch noch von den emanzipationsgeängstigten Männern weitgehend abgelehnt und gemieden, blieb letztlich auch den (jungen) Frauen der damaligen Zeit nicht viel anderes übrig, als sich als spirituelle Töchter in die imaginäre Liebe der GroßenMutter-Göttinnen zu flüchten, um sich in der Identifikation mit dem Aspekt der Mütterlichkeit der Großen Göttinnen zumindest die kompensatorische Illusion der so schmerzlich entbehrten realen Bemutterung zu erringen. In diesem Zusammenhang ist nun folgendes von Bedeutung: In der imaginären Zuflucht auch derur-beziehungslosen (jungen) Frauen der Antike zu den GroßenMutter-Göttinnen wurde, wenn auch noch nicht so sehr die Praxis, so doch zumindest der Geist und damit der "Animus" der klitoridalen Emanzipation der Frau im Grunde bereits wieder zu Grabe getragen: Angesichts der eigenen Verehrung Großer Mütter war jedenfalls der inneren Rechtfertigung eigener Unweiblichkeit und Unmütterlichkeit seitens der Verehrerinnen recht eigentlich der Boden entzogen. Allgemein bedeutete die Verehrung der Großen-Mutter-Gestalten eine letztendliche dialektische Aufhebung des Narzißrnus ihrer bindungs- und erlösungsbedürftigen Anhänger: Einerseits ging es um den narzißtischen Anspruch, in der je individuellen Beziehung zu der jeweiligen Gottheit sein ganz persönliches 482 So waren gemäß M. Malaise: Les conditions de pem!tration et de Ia diffusion des cultes egyptiens en ltalie, Leiden 1972, 94 + 99, zit. nach Pomeroy 1975, 223, über 2/3 der in römischen Inschriften in Italien verzeichneten lsis-Anhänger Männer. Insofern unrichtig daher Kahrstedt 1944, 427. 483 S. Juvenal VI. Satire, 314 ff.; dazu Friedländer 1922 I; 303 f.
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Heil zu erfahren. Andererseits sollte die narzißtische Selbst-Bezogenheil gerade dadurch zur Aufhebung kommen, daß es nach der Vorstellung und Hoffnung der Gläubigen in den verschiedenen Todes- und Wiedergeburtsritualen zu einer spirituellen Auflösung des alten narzißtisch bedürftigen Selbst und zu seiner Wiedererstehung als neuem, nunmehr geliebtem Subjekt kam. Vor allem aber vollzog sich die Praxis der Verehrung der jeweiligen Mutter-Gottheiten und ihrer Jünglingsgeliebten, anders als die Verehrung der alten olympischen bzw. römischen Götter, in der Regel täglich und in kleinen überschaubaren und damit familienähnlichen Glaubensgemeinschaften. 484 Dadurch aber bedeutete die spirituelle communio mit der Gottheit auch eine ganz reale Kommunität der Gläubigen untereinander, und damit eine die narzißtische Vereinzelung tatsächlich wohltuend überwindende brüderlich-schwesterliche erneute Bezogenheil unter- und aufeinander. Schachermeyr (1969 a, 346) schreibt in diesem Zusammenhang treffend: "Und wenn der Einzelne als Einzelner Erlösung suchte, so fühlten sich die Glaubensgenossen doch auch als Einheit. Es begann sich innerhalb der einzelnen Sekten ein neues Gemeinschaftsgefühl zu bilden. So kam die von den Sophisten inaugurierte Egozentrik, welche selbst von der Stoa immer noch aufrechterhalten wurde, bei den Gläubigen des neues Stils ins Wanken, zum Verschwinden."
3. Bona Me-Dea Im Zusammenhang mit der wunscherfüllend-kompensatorischen Zuflucht zu Großen-Mutter-Gestalten hat auch die Gestalt der Medea in der kaiserzeitlichen Mythologie noch einmal eine letzte Wandlung erfahren, die sie aus den Niederungen einer weitgehend entmythologisierten bürgerlichen Figur in etwa wieder zu ihren etymologisch-mythischen Ursprüngen als wohlwollend um guten Rat wissende göttliche "Me-Dea" zurückführte. In dieser letzten "Medea-Morphose" verlor die Gestalt der Medea zunehmend ihren spätpatriarchalen Charakter einer grimmig-rachsüchtigen allzumenschlichen Furie und wandelte sich immer mehr wieder zurück zu einer benevolenten Guten Göttin. Ansatzweise hatte dieser remythisierende AufheBungs- und Erhöhungsprozeß bereits bei Apollonios v. Rhodos begonnen, bei dem nicht Medea ihren Bruder Apsyrtos umbrachte, sondern Jason (IV, 464 ff.)- eine Variante, die allerdings im 3. Jahrhundert vor Christus noch nicht so recht in die Zeit paßte, und daher auch zunächst nicht angenommen wurde, sondern erst im 2. Jahrhundert nach Christus. 485 Desgleichen läßt Apollonios Medea als Unsterbliche mit Achilles in den Elysischen Gefilden verheiratete sein (IV, 811 ff.). 486 484 485
Dazu Kahrstedt 1944, 414 f. Etwa durch Hygin, Fab. 23.
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Im 1. Jahrhundert v. Ch. erfreute sich Medea dann sogar höchster (kunst)politischer Wertschätzung. So hatte nach einem Bericht von Plinius d. Älteren 487 kein Geringerer als Caesar das damals berühmte Medea-Bild des Timomachos gekauft und dem Tempel der Venus Genetrix gestiftet. Bei Diodorus Siculus, einem zur späten Caesar- und frühen Augustus-Zeit schreibenden Mythographen aus Sizilien, wandelt sich Medea dann endgültig von der Furie zur guten Fee zurück, indem sie Herakles vom Wahnsinn heilt, in dem er seine Frau und seine Kinder umgebracht hatte. 488 In diesem Detail liegt eine entscheidende Weiterentwicklung der Gestalt der Medea im Vergleich zu Euripides. Zwar hatte bereits Euripides Herakles in seinem gleichnamigen Drama als an seiner einseitig-übertriebenen und letztlich größenwahnsinnig(selbst)destruktiven Männlichkeit leidenden, im Grunde traurigen Helden hingestellt. Die recht eigentlich therapeutische Hilfe am Schluß hatte Euripides aber noch Herakles' Freund Theseus übertragen. Erst Diodor 489 bringt Medea als Heilerio des traurig gescheiterten patriarchalen Helden ins Spiel. Zur Vorstellung von Medea als wohlwollender Heilerio paßte es denn auch, daß Kaiser Domitian in Antiochia ein öffentliches Bad errichten und darin ein Standbild der Medea aufstellen ließ, nach welchem auch das Bad benannt wurde. 490 Im 2. Jahrhundert n. Ch. finden wir dann, andeutungsweise bei Tacitus (Annalen VI, 34), sowie ausführlich bei Justinus (XLII, 2 f.) Medea mit Jason friedlich ausgesöhnt gemeinsam zurück in Kolchis. Bei dem Mythographen Hygin aus dem späten 2. Jahrhundert (Fabulae 26) erscheint Medea dann endgültig ihres für Euripides noch so wichtigen klitoridalkämpferischen Drachenaspekts beraubt. Nunmehr ist sie wiederum ganz die klitoridal-positive Heilsgestalt, die die Bewohner der Insel Apsoris in Istrien ausgerechnet von einer Schlangenplage befreit, indem sie die Schlangen einsammelt und unschädlich macht. Bei dem um 400 schreibenden Vergil-Kommentator Servius (Komm. Aen. VII, 750) finden wir Medea sodann als mit der Fuciner Schlangengöttin Angitia identische, Heilmittel gegen Schlangenbisse lehrende Göttin verehrt. Und für 486 Nach den Scholien dazu (Wendel 1958, S. 293) handelt es sich dabei um einen Rückgriff auf einen schon bei lbykos und Simonides aufgegriffenen alten Sagenstoff. 487 In seiner Naturalis historia XXXV, 26 + 136; dazu Lesky 1931, Sp. 62, sowie ausführlich Hafner 1979, 328 ff. 488 Diodor IV, 55, 4. Lesky (1931, Sp. 48) mißversteht diese Heilung als "vollends willkürlich". Richtig dagegen Seetiger (1894, Sp. 2485), der diese Heilung als dem ursprünglichen Charakter Medeas als guter Fee durchaus entsprechend sieht. 489 Fußend auf dem Alexandriner Dionysios Skythobrachion aus dem 2. Jh. v. Ch.; dazu Lesky 1931, Sp. 34 f. 490 Usener 1948, 160; Lesky 1931, Sp. 49.
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Zweiter Teil: Medea-Morphosen in der Antike
Servius' Zeitgenossen Macrobius ist Medea schließlich schlechthin mit der altitalischen Göttin .,Bona Dea" identisch. 491 Was für die Renaissance der Große-Mutter-Göttinnen-Kulte und Mythologien insgesamt gilt, gilt auch für die bisher aufgezeigte kaiserzeitliche Mythologie von Medea als .,Bona Me-Dea". Entsprechend dem Wesen der Renaissance mythischen Empfindens in kulturellen Spätzeiten (dazu o. S. 39), waren diese Imaginationen nicht mehr auch die äußere Realität in ihrer prärational-symbolischen Ausdrucksweise durchaus treffend wiedergebende erhellende Wahrbilder, sondern lediglich aus einem kompensatorischen Hilfs- und Heilsbedürfnis narzißtisch Betroffener geborene postrational-flehentliche, recht eigentlich psychotherapeutische Wunschbilder. Mit der äußeren Realität hatten sie nur insofern etwas zu tun, als sie die psychische Reaktion auf die als kaum mehr erträglich empfundenen realen Gegebenheiten darstellten. Es gab jedoch einen, dessen Behandlung des Mythos und gerade auch des Medea-Mythos durchaus einen nicht lediglich therapeutischen Bezug zur damaligen Realität hatte, und der dadurch heute noch überzeugende Mytho-Realität geschaffen hat. Dieser eine war Ovid.
a) Ovids Medea als barbarisch-wirkmächtige Wandlungsgestalt Ovid war Verfasser eines von Quintilian und Tacitus gerühmten Medea-Dramas, das leider nicht auf uns gekommen ist. Aber auch aus seinen kurz vor seiner Verbannung im Jahre 8 n. Ch. vollendeten .,Metamorphosen", in denen Medea als eine der zentralen mythischen (Ver-)Wandlungsgestalten erscheint, wird uns Ovids Konzeption von Medea hinreichend deutlich. Auch bei Ovid findet sich die Gestalt der Medea entsprechend der Auffassung seiner Zeit bereits wieder ins Positive gewandelt. Auch bei Ovid ist also Medea kaum mehr die emanzipiert-rachsüchtige bürgerliche Furie. Was für Euripides noch im Zentrum seiner Medea-Gestalt stand - die Rache der verstoßenen Ehefrau an Geliebter und Kindem - , ist Ovid von insgesamt über 400 Zeilen (VII, 1-424) ganze vier Zeilen (394 - 397) wert. Anderseits ist für Ovid Medea aber auch nicht einfach eine gütige Bona Me-Dea. In gewaltigen Bildern zeichnet Ovid Medea vielmehr als eine aufgrund ihres besonderen Bezugs zur dreigestaltigen Hekate sowie ihres ihr aus dem Äther gesandten Drachenwagens sowohl mit dem Ur-Weiblichen wie mit dem UrMännlichen seelenverwandte und daher über zauberisch-lunare Wirk- und Wandlungsmacht verfügende (dazu o. S. 78) Anima-Gestalt.
491
Satumalia I, 12; dazu Briffau1t 1927 III, 162.
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Aus dieser lunar-androgynen Verfaßtheit und Wirkmächtigkeit heraus ist Ovids Medea willens und in der Lage, entsprechend ihrer Fähigkeit, einen alten entkräfteten Widder in einjunges Lämmchen zu verwandeln (310 ff.), auch Jasons alten Vater Äson im Wandlungskessel wieder zu verjüngen (251 ff.). Medeas Drachenwagen ist dementsprechend bei Ovid nicht Vehikel der Rache wie bei Euripides, sondern ausschließlich Vehikel der angestrebten Verjüngung (218 ff.). Mit dieser Schilderung Medeas als einer im Endergebnis durchaus positiv zu sehenden barbarischen Zerstücklerin des Alten und Verbrauchten, und dessen Umwandlerin und Verjüngerin greift Ovid treffsicher auf ältestes mythologisches Medea-Material (s. o. S. 82) zurück, hinter dem sogar noch die vorgriechischmatemale Medea als magische Todes- und Wiedergeburtsgöttin hindurchschimmert (s.o. S. 48), bzw. noch allgemeiner der uralte Mythos von der matemalen Zerstückelung des "Vorgängers" zugunsten des "Nachfolgers". 492 In der Sache drückt sich in Ovids barbarisch-wirkmächtiger Medea die Hoffnung und Sehnsucht einer überreifen und alt gewordenen Spätzeit aus, durch eine insgesamt als Jungbrunnen begrüßte Barbarisierung zu einer die Kultur umwandelnden Verjüngung und Erneuerung zu gelangen. Insofern erscheint uns Ovid als einer der ersten "Barbarophilen" der römischen Kaiserzeit, und damit als Vertreter einer für Spätzeiten überhaupt charakteristischen Geisteshaltung, die in Griechenland bereits im 4. Jahrhundert begonnen hatte, 493 und spätestens mit Tacitus' "Germania" dann auch in Rom Allgemeingut werden sollte. Ovids "barbarisches" Medea-Bild war damit allerdings mehr als nur ein mythotherapeutisches Wunsch-Bild. Das Sinnbild von der den alten Widder bzw. den alten Vater barbarisch zerstückelnden, umwandelnden und verjüngenden Medea stellt nämlich die psycho-historische Realität der damaligen Zeit schlechthin dar, indem es "in der Tat" den wesentlichen sozio-psychologischen Beitrag der Medea-Frau zur Zerstückelung, Umwandlung und Verjüngung der alt gewordenen antiken Kultur, wie er sich unter Ovids Augen bereits abzuzeichnen begann, sinnfallig zum Ausdruck bringt. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Gestalt des Widders als Symbol solarunabhängigerpatriarchaler Männlichkeit (s.o. S. 71). In diesem Sinne bedeutete die klitoridale Emanzipation der Medea-Frau im Spätpatriarchat mit ihrer Ablehnung der patriarchalen Ehe und der ihr darin zugewiesenen reinen Weibchen-Rolle im Ergebnis zweifellos eine Zerstückelung der altersschwach gewordenen patriarchalen Widder-Kultur. Die Geburtenverweigerung und damit die physische Mutterlosigkeit führte zu einer fortschreitenden Zerstückelung bis hin zum Versiegen der biologischen "Tradition". Die Verweigerung der Kindererziehung und damit die psychische Mutterlosigkeit führte über die narzißtische Leere 492 493
Allg. dazu Silberer 1914. S. Schacherrneyr 1969a, 349.
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und Bedürftigkeit der davon Betroffenen durch ein schließlich von nichts mehr wissen wollendes spirituelles Unterkriechen unter die Rockschöße einer imaginären Großen Mutter zur Zerstückelung bis hin zum Versiegen der bisherigen kulturellen Tradition. Diese Zerstückelung der altersinfantil gewordenen Widder-Kultur stellt sich nun vordergründig in der Tat als bloß zerstörensehe und lediglich das Ende im Auge habende Rache der klitoridal unterdrückten Medea-Frau dar. Insofern als der Jason-Mann ihren Traum eines brüderlich-schwesterlichen Einvernehmens verraten hat und ihrem Kulturbeitrag nicht gerecht geworden ist, erscheinen der Medea-Frau die ersten Anzeichen von Unsicherheit und Schwäche der erschöpften patriarchalen Kultur als willkommener Anlaß, um diese Kultur durch ihre klitoridale Empörung zu entwurzeln und ganz buchstäblich ihren empört-emporgerichteten Rücken hinunterrutschen zu lassen. Dies ist der Aspekt der retrospektiven Rache, wie er für Euripides wesentlich war, und dementsprechend in seinem Einsatz von Medeas Drachenwagen als Vehikel der Rache zum Ausdruck kam. Die Zerstückelung der altersschwach gewordenen Widder-Kultur hat jedoch noch einen andersgearteten, über den Gesichtspunkt der Rache hinausweisenden prospektiven Hinter- oder besser Untergrund, nämlich den einer durchaus benevolenten "Sterbehilfe" zwecks anschließender Kultur-Umwandlung und Erneuerung. Und es ist dieser in die Zukunft weisende, und in der Tat im weiteren Entwicklungsverlauf der Antike den Aspekt der Rache zunehmend ablösende Sterbehilfe-Aspekt der Medea-Gestalt, der für Ovid allein wesentlich war, weshalb bei ihm Medeas Drachenwagen auch allein als Vehikel der angestrebten Verjüngung erscheint. Erinnern wir uns, daß die Gestalt der Medea als mond-androgyne AnimaSeelenfreundin des potentiellen Sonnen-Helden diesen im Morgengrauen des untergehenden Maternats bzw. heraufziehenden Patriarchats recht eigentlich erst zum Helden einer männlich bestimmten Kultur gemacht hat, indem sie ihm die Drachenseite ihres bis dahin unbändigen klitoridalen Animus opferte, und sich bereit fand, "ihrem" Helden als seine Ehefrau und Mutter seiner Kinder in seine Welt zu folgen (s. o. S. 80 ff.). Zu diesem klitoridalen Opfer ist und bleibt die mit dem Männlichen seelenverwandte Medea-Frau trotzunweigerlicher Mißgunst- und Rachegefühle im Grunde auch bereit, solange dieses ihr Opfer sinnvoll ist, d. h. solange die auch ihrer Seele entsprechende männliche Kultur potent ist und daher auch für die sich Opfernde ein lohnendes Identifikationsobjekt darstellt, mit anderen Worten, solange "ihr" Held ein Held ist und bleibt. Sobald jedoch die von ihr mitgeschaffene männliche Kultur anfängt sich selbst aufzugeben und danach strebt, wieder zu ihren Ursprüngen "einzugehen", wird dieses klitoridale Opfer der Medea-Frau zusehends sinnlos, ja schließlich geradezu kontraproduktiv.
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Als nach wie vor dem Männlichen empathisch verbundene Anima-Gestalt erspürt die Medea-Frau gleichsam instinktiv diese sich selbst aufgeben wollende Zukunftslosigkeit der patriarchalen Kultur, und verhilft dieser Kultur, nachdem sie zunächst ihrer Empörung unter dem Gesichtspunkt der Rache gehörigen Ausdruck gegeben hat, ebenso wie sie ihr seinerzeit zur Geburt verholfen hat, nunmehr zum Sterben, indem sie - weitestgehend unbewußt - ihr eigenes klitoridales Kulturopfer durch eine Aufopferung der Kultur selbst ersetzt. Dem Selbstaufgabeverlangen ihres erschöpften Partners, das mit ihrem Zutun letztlich die Form eines selbstzerstückelnden spirituellen Todestriebes in der Hoffnung auf verjüngende Wiedergeburt und Erneuerung annimmt, "entgegenkommend", entspricht sie mit einer tatsächlichen kulturellen Zerstückelung, indem sie durch ihre klitoridale Emanzipation der impotent gewordenen Kultur ihre biologische und psychologische Reproduktionsbasis entzieht, um sie so einzurühren in den dunkel-schöpferischen Wandlungskessel einer biologischen und kulturellen Erneuerung. Die "barbarisch" zerstückelnde Gestalt der Medea erweist sich damit aber letztlich als im Grunde benevolente Sterbehelferin, die das zu Ende bringt, was ohnehin zu Ende kommen will, um ihm gleichsam als Opferpriesterin eines insgesamt als Jungbrunnen wirkenden biologischen und kulturellen Wandlungsprozesses zu einer teilweisen Verjüngung und Erneuerung zu verhelfen. Dieser schöpferische Wandlungs- und Erneuerungsprozeß vollzieht sich in einer gleichsam dunkel-mitternächtlichen, bzw. aufs ganze Jahr bezogen winterlichen, oder auch im Sinne der christlichen Symbolik weihnachtlichen Wendezeit
b) Erneuernde Wandlung in der mitternächtlichen kulturellen Wendezeit Das chinesische "Buch der Wandlungen" stellt diese dunkle Wendezeit unter das Zeichen ,,FU" = "Die Wiederkehr": "Die Zeit des Dunkels ist vorüber. Die (Winter)Sonnenwende bringt den Sieg des Lichts. Das Zeichen ist dem elften Monat ... (Dezember I Januar) zugeordnet ... Nach einer Zeit des Zerfalls kommt die Wendezeit. Das starke Licht, das zuvor vertrieben war, tritt wieder ein" (I Ging, 24. Zeichen). Diese mitternächtlich-winterliche Wendezeit bildet den zeitlichen und qualitativen Gegenpol zur mittäglich-sommerlichen Wendezeit der Erfüllung und beginnenden Abnahme des Männlichen (s.o. S. 110 f.) insofern, als es in ihr nach einer Zeit zunehmender Entmännlichung bzw. Verweiblichung, Verkindischung und Selbstaufgabe im Großen Weiblichen erneut zu einer Wiedergeburt und einem Erstarken der Kräfte des Yang-Männlichen kommt. Ging es im kulturellen Zenith der mittäglich-hellen Wendezeit um eine Erfüllung und Wandlung in der Bewußtheit, die sich im Yang-Männlichen abspielte, geht es nunmehr in der mitternächtlich-dunklen Wendezeit des Endes und Neube-
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ginns um eine Erneuerung dieser Yang-Kräfte aus den schöpferischen Kräften des weitgehend unbewußten Yin im uteralen Großen Weiblichen, mit dem klitoridalen Animus der Medea-Frau als ebenfalls weitgehend unbewußt treibender Kraft dieses kreativen Wandlungsprozesses. Die beiden wesentlichen Elemente dieser die Kultur insgesamt erneuernden Wandlung im Jungbrunnen der mitternächtlichen Wendezeit sind die biologische Umwandlung einer Bevölkerung durch deren Barbarisierung und die spirituelle Umwandlung durch eine Wandlung zur und in der jeweiligen Religion, sowie schließlich die fruchtbare Verbindung dieser beiden Elemente zu einer neuen Kultur. Betrachten wir nunmehr die Kultur der Antike unter diesem Wandlungsaspekt einschließlich dem der Medea-Sterbehilfe hierzu, so ergibt sich folgendes: Ab dem Zeitpunkt, als die griechische Kultur, beginnend mit dem Peloponnesischen Krieg, bzw. die römische, beginnend mit dem II. Punischen Krieg, anfing, ihre selbstgesteckte Sonnen-Widder-Bahn zu verlassen, um sich in einer inhärenten "Dialektik der Aufklärung" zunehmend einem unschöpferisch-hedonistischen gynandrischen Selbstbezug zu widmen, mußte die aufgrund ihrer klitoridalen Animus-Seite dem griechisch-römischen Männlichen an sich seelenverwandte und grundsätzlich in Sympathie zugetane Medea-Frau der Antike instinktiv spüren, daß die von ihr mitgeschaffene und getragene männlich-transzendente Kultur ihren Zenith überschritten hatte und bereits den Todeskeim in sich trug, weshalb, über den Gesichtspunkt der nunmehr möglichen klitoridalen Rache hinausgehend, ihr weiteres klitoridales Opfer sinnlos und kontraproduktiv war und damit die Zeit gekommen, so wie sie einst anima-schwesterlich kulturelle Geburtshilfe geleistet hatte, nunmehr aus gleichem Anima-Geiste zwecks Umwandlung und Erneuerung entsprechende Sterbehilfe zu leisten. Das Instrument dieser anima-beseelten Sterbehilfe war aber gerade die scheinbar bloß rachsüchtige klitoridale Emanzipation. Indem ·die mit der Gestalt der Medea identifizierte auch-klitoridale Frau der altersschwach gewordenen antiken Kultur durch ihre physische Mutterlosigkeit die biologische Basis entzog, bewirkte sie eine insgesamt als Jungbrunnen wirkende Barbarisierung und Erneuerung der Bevölkerung, worauf in unserem Zusammenhang allerdings nicht näher einzugehen ist. Durch ihre Mütterlichkeits- und Liebesverweigerung, also durch den Aspekt der psychischen Mutter- sowie Partnerlosigkeit, bewirkte die Medea-Frau im Rahmen einer allgemeinen kulturellen Regression einen verstärkten Drang nach sprituellem Eingehen, Auflösung und erhoffter Wi~dergeburt aus Großen-MutterGestalten. Schließlich trug die Medea-Frau durch diese ihre klitoridale Verweigerung darüberhinaus maßgeblich dazu bei, daß es letztlich nicht bei der religio zu den Großen Müttern blieb und damit bei einer bloßen Wiedergeburt des Gleichen,
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sondern zu einer "steigernden" Wiedergeburt im Rahmen einer Wandlung in der Religion von gewährenden Großen Müttern zu einem strikte Moralität fordernden patriarchalen Gott kam. Hierauf ist sogleich näher einzugehen. Dieser kulturerneuernde religiöse Wandel sollte nicht zuletzt auf einem dialektischen Einstellungswandel der klitoridalen Frau selbst beruhen, in dem diese schließlich fortschritt von der Emanzipation durch selbstsüchtige Unmoral zur Erfüllung und Aufhebung der Emanzipation durch asketische Übermoral und weiter zur erneuten Moral einer fruchtbaren Wiederhinwendung zu einem dann allerdings bereits "barbarischen" Helden. Dabei kommt insbesondere in der bußfertigen Askese als antithetischem Mittelteil dieser dialektischen Entwicklung der Charakter der benevolenten Medea-Sterbehilfe zwecks steigernder Umwandlung und Verjüngung geradezu exemplarisch zum Ausdruck: Im läuternden Feuer der einvernehmlichen spätantiken Askese-Begeisterung wurde einerseits das verbrauchte Alte brüderlich-schwesterlich zu Ende gebracht, andererseits die Essenz des Neuen vorbildhaft herausgeschmolzen. b) Steigernde Wandlung der religio zum Christentum Das Wesentliche des religiösen Erneuerungsprozesses im dunklen Wandlungskessel der mitternächtlichen Wendezeit der Antike lag darin, daß es in ihm letztlich nicht nur zu einer bloß wieder-holenden Wiedergeburt des in seinem Wesen dem antiken gleichen Widder-Männlichen kam, sondern zu einer qualitativ "steigernden" (Neumann 1956, 275) Wiedergeburt eines "verbesserten" (Silberer 1914, 523) verjüngten Männlichen, symbolisiert in der Gestalt des moralisch fordernden monotheistischen ,,Lammes Gottes". Gerade als die Zuflucht zu den in ihre schützende Immanenz aufnehmenden Große-Mutter-Göttinnen auf ihren Höhepunkt zu gelangen schien, in deren Rahmen sich das Männliche schließlich wieder als spirituell zu zerstückelnder Stier verstehen wollte, kam sozusagen bereits ein neuer geistiger Wind auf. Große-Mutter-Gestalten sind, auch in ihrer Wiederkehr gegen das Ende einer Kulturrunde hin, grundsätzlich a-moralisch in dem Sinn, daß jeder, der sich ihnen gegenüber zum unmündigen Kind macht, liebevoll an- und in Schutz genommen wird. Die dementsprechend an keine moralischen Bedingungen geknüpfte Zuflucht der A-Moralischen zu den Großen Müttern kann aber auf die Dauer unmöglich befriedigen, d. h. inneren Frieden schaffen, wenn die selbstgeschaffenen psychischen und gesellschaftlichen Realitäten draußen der imaginierten eigenen inneren Glückseligkeit so gar nicht entsprechen wollen. Gerade dies war jedoch im Verlauf der Weiterentwicklung der kaiserzeitlichen Kultur in den ersten drei Jahrhunderten n. Ch. zunehmend der Fall. Um die bei den angeblich alliebenden Großen Müttern ihre imaginierte Glückseligkeit Suchenden herum wurde die reale Welt, und zwar sowohl im intim-familiären als auch im größeren
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gesellschaftlich-politischen Bereich zunehmend liebloser, härter und brutaler, bis diese Realität ein Erwachen aus dem schönen Traum geradezu erzwang . Wie oben bereits eingehender dargelegt, hatte die zunehmende individualistische Verantwortungslosigkeit der emanzipierten Einzelnen in ihrem hedonistischnarzißtischen Selbstbezug zu einer immer stärkeren Abkehr von den Werten der über-ich-bestimmten "mores maiorum" geführt, mit der Folge einer Zerrüttung und Auflösung der Familienbande und örtlichen Bezüge in Richtung auf eine immer stärkere Vereinzelung und allgemeine Heimatlosigkeit, bei gleichzeitig sich steigernden Versorgungs- und immer vulgärer werdenden Unterhaltungsbedürfnissen der in der nunmehr bezugslosen Massenzivilisation aneinanderVorbeilebenden (s.o. S. 141 ff.). Auf die Dauer allerdings vermochte die imperialistische Eroberungs- und Beutepolitik sowie die caesaristische "Brot und Spiele"-Politik des Reiches mit den nur immer weiter steigenden Bedürfnissen und Erwartungen seiner Bürger unmöglich Schritt zu halten. Das Ende der territorialen Expansion Anfang des 2. Jahrhunderts n. Ch. brachte auch ein Versiegen des billigen Sklavennachschubs mit sich, und damit die Notwendigkeit der Umstellung auf eine mehr oder weniger unproduktive widerwillige Kolonen-Wirtschaft, 494 sowie die zunehmend bedrükkender werdende Besteuerung der bisherigen Ober- und Mittelschichten, 495 was diese, zusätzlich zur biologischen Ausdünnung und Vergreisung sowie zur kulturellen Verkindischung, nun auch noch wirtschaftlich zusehends ruinierte. Als dann zur bevölkerungspolitisch unvermeidlich gewordenen Barbarisierung im Inneren auch noch die Bedrohung durch die äußeren Barbaren ständig wuchs, was eine weitere verrohende Militarisierung des gesamten Staatswesens unvermeidlich machte, breitete sich in immer weiteren Kreisen des Reiches zusätzlich zu einer allgemeinen Angst, daß es so nicht mehr lange weitergehen könne, die spezifische Ahnung aus, für diesen drohenden Zusammenbruch infolge des eigenen narzißtisch-hedonistischen Selbstbezugs letztlich selber verantwortlich zu sein, und damit zusammenhängend das Gefühl eigenen moralischen Versagthabens bis hin zum Gefühl persönlicher Sündhaftigkeit und Schuld mitsamt der Notwendigkeit von Buße und Sühne. 496 In diesem Sinne rief etwa bereits der 25-jährige Mare Aurel in einem Brief an seinen Erzieher Fronto selbstquälerisch aus: "Ich tue Buße, ich bin uneins mit mir selber, traurig und unzufrieden, ich fühle mich elend". 497 Bei diesem sich zunehmend verbreitenden ängstlich-quälenden Schuldgefühl konnte es aber nicht ausbleiben, daß Rufe wie "Kehret um und tut Buße!" (Matt. Dazu Kahrstedt 1944, 94 f., 258 f.; Raith 1982, 51. Dazu Ferrero 1922, 58; Kahrstedt 1951, 462, 502. 496 Dazu insbes. Dodds 1965, 38 ff. S. auch Kahrstedt 1944, 412 f.; Toynbee 1947, 449 ff.; Nilsson 1961, 304, 728. 497 In: Fronto, Epistulae I, 216; zit. nach Dodds 1965, 38. 494 495
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3) in den Herzen der Verunsicherten und Zerknirschten immer stärkere Resonanz fanden. Dem sich so verändernden Grundgefühl entsprechend, unternahmen es nunmehr sogar die Mutter-Religionen, Keuschheitsgebote, Bußübungen und Kasteiungen in ihre jeweiligen Heilsprogramme einzubauen. So hören wir gerade auch im Isis-Kult von allerlei bußfertigen Kasteiungen, denen sich insbesondere die Anhängerinnen unterzogen, wie auf Knien Herumrutschen, eiskaltem winterlichen Baden, Speiseverzichten und selbst sexueller Enthaltsamkeit. 498 Zu dem Verständnis von Isis etc. als Unterschieds- und bedingungslos alliebenden Mutter-Göttinnen wollte das Konzept von Schuld und Sühne jedoch nicht so recht passen; es mußte in diesem Rahmen als Fremdkörper empfunden werden. Das religiöse Sündengefühl mit seinem Bedürfnis nach Strafe und Entsühnung suchte sich daher zunehmend andere Heilswege. Es suchte nach einer Gottheit, der die moralische Unterscheidung von Gut und Böse, Hell und Dunkel, Himmel und Hölle wesenseigen und selbstverständlich war, und die daher an ihre Gläubigen entsprechend rigide Ansprüche stellte und sie am Ende der Tage auch entsprechend beurteilte und richtete. Eine derartige Gottheit konnte aber unmöglich eine im Prinzip a-moralische, allumfassende Immanzenz verkörpernde weibliche sein, sondern nur eine moralisch fordernde, über-ich-betonte dualistischtranszendente männliche. So kam es, daß sich im spirituellen Wandlungskessel der Antike ein bemerkenswerter Wandel in der religio selbst vollzog - die Abkehr von den a-moralischnarzißtische Zuflucht gewährenden Mutter-Göttinnen und die Hinwendung zu moralisch Absolutes fordernden monotheistisch-patriarchalen Göttern, die damit keineswegs nur eine Wiederauflage der alten sorglosen polytheistisch-patriarchalen Götter der Antike waren. Insgesamt wurde dadurch in diesem religiösen Wandel, in der bildliehen Symbolsprache der Mythologie gesprochen, aber nicht nur die Phase des Männlichen als zu zerstückelndem Stier erneut überwunden, oder dieses Männliche wiederum, wie schon in der Antike, erneut bloß als Stiertöter erfahren, sondern darüberhinaus erstmalig als verjüngtes und "verbessertes" Lamm des einen und einzigen patriarchalen Gottes erlebt, und damit schlechthin als "Licht der Welt". Im Rahmen dieser Hinwendung zu moralisch Absolutes fordernden monotheistisch-patriarchalen Göttern hatte das bisher auf Palästina beschränkt gebliebene J odenturn im 1. Jahrhundert n. Ch. im gesamten römischen Reich eine bemerkenswert breite Resonanz. 499
498
Juvenal VI. Sat., 522 ff.; Apuleius, Met. XI, S. 304 + 314; dazu Friedländer 1922
I, 302 f.
499 Kahrstedt 1944,447: "In der frühen Kaiserzeit ist es neben der lsis die erfolgreichste Missionsreligion." S. auch Friedländer 1922 I, 304 f.
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Des weiteren kam es in weiten Teilen des Reiches, insbesondere entlang dem Limes 500 zu einem eindrucksvollen Eroberungszug des wie das Judentum gleichfalls streng monotheistisch-patriarchalen, ursprünglich persischen Mithras-Kults. Mithras war die Inkarnation des das Chtonisch-Animalische in uns überwindenden Stiertöters und im Kampf gegen das fmstere Böse siegreichen Lichthelden. 501 Seit Kaiser Commodus wurde er gleichsam staatsoffiziell als "sol invictus" (unbesiegte Sonne) verehrt. 502 Dogmatik und Liturgie seines Kults entsprachen in wesentlichen Punkten wie Taufe und Abendmahl, Ankündigung der Geburt durch einen Stern und Hirtenanbetung, Himmelfahrt, Auferstehung und Jüngstes Gericht so sehr denen des Christentums, daß Mithras bis ins 4. Jahrhundert als durchaus ernstzunehmender Konkurrent zu Jesus Christus empfunden wurde. 503 Mit der Erhebung zur Reichsreligion unter Kaiser Konstantin im Jahre 313 hatte das Christentum jedoch nicht nur über seine konträren Konkurrenten wie die Isis-Religion, sondern auch über seine vergleichbaren Konkurrenten wie die jüdische und die Mithras-Religion den Sieg davongetragen. Für diesen Sieg gab es einen ganz wesentlichen Grund, der in unseren Zusammenhang gehört, und ohne den er so nicht möglich gewesen wäre. Dieser Grund war die Begeisterung gerade auch der Medea-Frauen für den neuen Glauben.
d) Begeisterung der Medea-Frauen für das Christentum Das Christentum übte gerade auf Frauen aller Gesellschaftsschichten des Reiches, und nicht nur der unteren, eine eminente Anziehungskraft aus. Nicht von ungefähr sind es nach den Berichten der Bibel (Markus 15, 40 f.; Matt. 27, 55 f.) allein Frauen, die Jesus in der Stunde der Not am Kreuz die Stange gehalten haben. 504 Desgleichen waren es in der Regel die Frauen, die als erste zum Christentum konvertierten, und daraufhin ihre Männer, Brüder und Väter vom neuen Glauben zu überzeugen suchten. 505 So betonte etwa Adolf v. Hamack, "daß die christliche Predigt vor allem von den Frauen ergriffen worden ist, und daß der Prozentsatz der christlichen Frauen, besonders in den vornehmen Ständen, viel größer war als der der christlichen Männer." 506 Dementsprechend sind die Frauen in den frühchristlichen Gemeinden eindeutig in der Überzahl, weshalb es immer wieder schwierig ist, für eine Christin, nament500 50t 502
Kahrstedt 1944, 445; Toynbee 1957, 31. Dazu Jung 1952, 336 ff.
Grant 1960, 314.
Näheres bei Kahrstedt 1944, 441 ff.; Raith 1982, 139. Dazu etwa Heine 1986, 87 ff. 505 Beispiele bei Friedländer 1922 I, 305; Riencourt 1974, 148 ff.; Heine 1986, 96 ff.; Schuller 1987, 86 ff. 506 v. Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. Leipzig 1924, 4. Aufl., S. 598. 503
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lieh der mittleren und höheren Schichten, einen ebenfalls christlichen Gatten zu finden. 507 Aus dem Senatorenstand kennen wir bis zur Zeit Konstantins 17 Personen, die unzweifelhaft Christen gewesen sind; von diesen sind nur 4 Männer, aber 13 Frauen. 508 Zu diesem Bild paßt, daß es auf den Einfluß seiner bereits christlichen Mutter zurückzuführen gewesen sein soll, wenn auch Kaiser Konstantin selber sich noch auf seinem Totenbett hatte taufen lassen. Fragen wir nach dem Grund für diese Faszination des Christentums gerade auf die damaligen Frauen, so ist er vor allem darin zu suchen, daß das Christentum eine gemäßigt patriarchale Religion war, die nicht nur die mehr vaginal-weiblichen, sondern gerade auch die mehr klitoridal-männlichen Frauen in ihren Bann schlug. Die Konkurrenz-Religionen sowohl des Judentums wie des Mithraizismus waren extrem patriarchalisch. Im Judentum hatte die Frau traditionellerweise nichts zu sagen, und zum Mithras-Kult wurden Frauen gar nicht erst zugelassen. Hingegen war das frühe Christentum zwar ebenfalls eine dem gewandelten Zeitgeist entsprechende dualistisch-transzendentale, Moral, Schuld und Sühne betonende patriarchalische Glaubenslehre. Diese patriarchalische Ausrichtung war jedoch, trotzder noch stark traditionell-jüdischen Geist atmenden (pseudo)paulinischen Misogynie, wie sie insbesondere im I. Brief an die Korinther zum Ausdruck kommt, 509 nicht ins Extrem gesteigert, sondern durch manche weibliche Elemente abgemildert. In diesem Sinne stellte sich das in Christus inkarnierte Heilsprinzip nicht als ein streng an Recht und Gerechtigkeit orientiertes, rein männlich-absolutes dar wie im Judentum oder im Mithras-Kult, sondern vielmehr als ein liebevoll-bezogenes konkretes Angebot der im Grunde durchaus unverdienten Erlösung aller durch die unbedingte Liebe des sich für alle gleichermaßen opfernden Erlösers. Aus diesem Geiste unbedingter Liebe heraus verfügte das Christentum auch als einzige Religion der Zeit über das Heilmittel schlechthin für die an ihrer narzißtischen Eigenliebe zugrunde gehende damalige Welt: Der Devise "Liebe nur Dich selbst" setzte der neue Glaube das ,,Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" gegenüber, wobei er diese Nächstenliebe nicht nur als abstraktes Prinzip predigte, sondern eindringlich als ganz konkrete Tätigkeit einforderte. Als Nächster verstanden wurde dabei gerade auch der in der Tat Nächste. D. h., beginnen sollte die christliche Nächstenliebe in den eigenen vier Wänden. So machte die neue Lehre mit der selbst noch von Augustus' Ehegesetzen tolerierten ehelichen Doppelmoral (s. o. S. 138) Schluß. Aus christlicher Sicht war sO? S. Kahrstedt 1944, 466. Schuller 1987, 85. 509 I Kor. 11, 3 ff. + 14, 34 f. Diese Verse gelten heute als spätere Einschübe. Zum Ganzen Bullough 1973, 101 ff.; Heine 1986, 148 ff.; Schuller 1987, 82 f. 5os
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Ehebruch schlechthin verdammenswert, also nicht mehr nur der der Frau, sondern gleichermaßen der des Mannes. So bekräftigte etwa schon der "Hirte des Hermas" aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, daß die christliche Ehemoral für beide Geschlechter gleichermaßen gelte. 510 Desgleichen sprach sich die junge Kirche unmißverständlich gegen Abtreibung und Kindstötung aus. 511 Über diesen engeren Kreis der Nächsten hinaus sollte die christliche Nächstenliebe an allen Bedürftigen, Alten, Kranken etc. unabhängig von deren eigenem Glauben oder Volkszugehörigkeit geübt werden, womit zusätzlich eine sog. "Feindesliebe" gefordert wurde - etwas für die damalige Zeit unerhört Neues. Dieser umfassende Aufruf des Christentums zur Aufgabe des eigenen Narzißmus und zu altruistischer Nächstenliebe fand nun gerade auch in den Seelen der bisher ihrem eigenen narzißtischen Selbstbezug frönenden und sich entsprechend schuldig fühlenden emanzipierten Frauen bzw. der von diesem Narzißmus Betroffenen starke Resonanz. Was die ,,fernere" Nächstenliebe der Sorge um Bedürftige etc. anlangt, machte sich diese Resonanz auch alsbald in konkreter altruistischer Tätigkeit bemerkbar, was selbst von heidnischen Widersachern des Christentums neidvoll anerkannt wurde. 512 Was hingegen die Praxis der "näheren" Nächstenliebe in den eigenen vier Wänden anlangt, sahen die Dinge zunächst allerdings anders aus. Insgesamt gelang es der ehe- und kinderfreundliehen Einstellung des frühen Christentums im Rahmen der Antike nicht mehr, zu einem Umschwung der Verhältnisse in Richtung auf eine Gesundung der familiären Beziehungen zu führen. Der tiefere Grund hierfür lag darin, daß ein dem Ehe- und Familienaspekt entgegengesetzter Gesichtspunkt zunächst noch gewichtiger war, nämlich das frühchristliche Askese-Ideal radikaler Jungfräulichkeit und Keuschheit 513
e) Asketische Übermoral gegen emanzipatorische Unmoral Bevor die neue Moral des "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" gerade auch in den Herzen der emanzipierten Frauen der Antike Fuß fassen konnte, sw Abgedruckt bei Rousselle 1983, 140 ff. S. das Zitat bei F. Zeller: Die apostolischen Väter, Kempten-München 1918, S. 7: " ... du sollst nicht das Kind durch Abtreibung umbringen und das Neugeborene nicht töten"; zit. nach Heinsohn I Steiger 1985, 226. 512 So schrieb etwa Kaiser Julian, der das Rad der Religionsgeschichte noch einmal zum Heidentum zurückzudrehen versuchte, um das Jahr 363: "Sehen wir denn nicht, was am meisten zum Erfolg der Ungläubigen (der Christen) beigetragen hat- nämlich ihre Mildtätigkeit gegen Fremde, die Pflege der Gräber, die angeblich ernsthafte Lebensführung? ... es ist eine Schande, daß kein einziger Jude bettelt und daß die gottlosen Galiläer unsere Armen zusätzlich zu ihren eigenen erhalten und daß man bemerkt, wie sehr es unseren Bedürftigen an unserer Hilfe fehlt"; zit. nach Browning 1977, 264 f. m Zurückgehend auf das Wort Christi in Matt. 19, 12, und die Ausführungen des Apostels Paulus dazu in I Korinther 7, 1 ff. 511
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erheischten zunächst Schuldgefühl und Sühnebedürfnis ihr Recht, d. h. mußte zunächst die Praxis selbstsüchtiger Unmoral durch das innerlich dazugehörige Gegen-Teil der Praxis asketischer Übermoral getilgt werden. Als psychodynamisch "not-wendig" entwickelte sich so die Emanzipation durch klitoridale Unmoral zunächst einmal zur Emanzipation durch klitoridal-animusbegeisterte Übermoral weiter, um dann erst der neuen Moral fruchtbarer Nächstenliebe Platz machen zu können. In diesem Sinne galt: Ehe und Kinderkriegen sind gut und schön, aber Jungfräulichkeit und Keuschheit sind noch besser und Gott wohlgefälliger. 514 Mit diesem asketischen Ideal von Jungfräulichkeit und Keuschheit stellte das frühe Christentum in der ausgehenden Antike nun freilich keineswegs einen Fremdkörper dar; vielmehr drückte es insofern lediglich den damals generell überband nehmenden gewandelten Zeitgeist aus. Oben (S. 166) war bereits auf verstärkte Misogynie und psychisch bedingte Impotenz als Mechanismen hingewiesen worden, mit denen emanzipationsgeängstigte Männer versuchten, ihren klitoridal-betonten Partnerinnen zu begegnen bzw. sie zu unterlaufen. Im 1. Jahrhundert n. Ch. kam nun zu diesen Mechanismen noch der Versuch hinzu, durch sexuelle Abstinenz den Widerwärtigkeiten der Emanzipation gänzlich zu entkommen. So betrachteten es immer mehr Männer nunmehr als ihr Ideal, gänzlich abstinent zu leben. Aline Rousselle (1983, 34) schreibt in diesem Zusammenhang: "Die Männer, die keusch leben wollten, waren so zahlreich, daß man Forschungen über sie anstellte, daß man Bücher für sie schrieb und daß man diejenigen beruhigen mußte, denen es nicht gelang, sexuelle Aktivitäten völlig zu vermeiden." Unter den Büchern, die diese Abstinenz-Bewegung maßgeblich unterstützten, war etwa das Gynäkologie-Buch des Soranos v. Ephesos aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, in dem es hieß: "Jeder Samenausstoß ist schädlich für die Gesundheit" .. . , "der Geschlechtsverkehr ist an sich schädlich", 515 und dementsprechend behauptet wurde, daß abstinent lebende Männer größer und stärker seien als sexuell aktiv lebende. Das Ideal der Abstinenz wurde somit ab dem 1. Jahrhundert n. Ch. auch von in keiner Weise religiös daran Gebundenen vertreten und befolgt. Seine eigentliche Dynamik erlangte das Askese-Ideal jedoch erst als religiöses Gebot. Im Zuge der Hinwendung zu dualistisch-transzendentalen, moralisch fordernden patriarchalen Göttern wuchs aufgrund des überhandnehmenden Gefühls moralischen Versagthabens, von Sündhaftigkeit und Schuld, sowie des selbstquälerischen Bedürfnisses nach Buße und Sühne (s. o. S. 176) allgemein auch die entsprechend dualistisch-transzendentale Vorstellung von der Verderbtheit des Körpers 514 515
So I Kor. 7, 29 + 38. Zit. nach Rousselle 1983, 24.
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und der Notwendigkeit der Reinigung und Läuterung der davon angesteckten Seele zwecks erlösender (Wieder)Vereinigung mit dem transzendental Göttlichen vermittels aller möglichen Formen von Askese und Selbstkasteiung. 51 6 Die wichtigste Rolle in diesem spirituellen Kampf gegen die Verhaftungen des Körpers spielte dabei die sexuelle Askese in der Form absoluter Jungfräulichkeit bzw. Jungmännlichkeit oder zumindest Keuschheit in oder nach einer partnerschaftliehen oder ehelichen Beziehung. In diesem Sinne asketisch orientiert waren der Neo-Pythagoreismus, verschiedene Strömungen im damaligen Judentum wie die des Philo v. Alexandria, die der Essener am Toten Meer sowie die der "Therapeuten" am Mareotis-See, die meisten Richtungen der Gnosis, sowie der Neo-Platonismus insbesondere Plotins, der sich sogar geschämt haben soll, überhaupt einen Körper zu besitzen, 517 und schließlich eben auch das spätantike Christentum. Der einzige wesentliche Unterschied der christlichen zur nichtchristliehen Askese bestand darin, daß die christliche nur noch extremer propagiert und praktiziert wurde. So heißt es etwa in den "Sprüchen des Sextus", die Ehe sollte, sofern man dieses Wagnis überhaupt eingehen wolle, "ein Wettstreit in Enthaltsamkeit" sein, und selbst die ultima ratio der Selbstkastration sei der Unreinheit noch vorzuziehen. 518 Diese letzte Konsequenz läßt sich in der Tat für die Christen schon des 2. Jahrhunderts quellenmäßig belegen. 519 In dieser Hinsicht am berühmtesten wurde zweifellos Origines, der sich bereits als Jüngling selbst kastriert haben soll. Auch Versuche, eine spirituelle Ehe in völliger Enthaltsameil zu führen, sind belegt. 520 Vor allem aber kam es, beginnend mit dem Hl. Antonius, etwa ab dem Jahre 310 zu einer immer weitere Kreise erfassenden Einsiedlerbewegung in der Ägyptischen Wüste, in der die Eremiten nach selbstauferlegten Grundsätzen strengster sexueller Askese zu leben versuchten. 521 Das Konzept der Askese ist in seiner spalterisch-unterdrückenden Lust- und Leibfeindlichkeit ein zutiefst männliches Konzept. Dementsprechend ist der asketische Kampf gegen das Lustprinzip in der Regel ein Anliegen sich schuldig fühlender Männer. Der männliche Aufruf zur Askese richtet sich allerdings keineswegs nur an Männer, ja so will es scheinen nicht einmal primär. Jedenfalls war die erste christliche Literatur, die sich mit der Frage des Asketismus befaßte, an Frauen gerichtet. 522 Dazu Nilsson 1961, 529 f.; Schubart 1944, 180 f. ; Savramis 1972, 61 f. Zu all diesen nicht-christlichen asketischen Bewegungen insbes. Bullough 1973, 107 ff., sowie Dodds 1965, 39 ff. 518 Zit. nach Dodds 1965, 41. 519 Justin, Apol. I, 29; dazu Schubart 1944, 200 mit weiteren Nachweisen. 520 Beispiele bei Rousselle 1983, 181, 245; Bullough 1973, 105. s21 Dazu insbesondere Rousselle 1983, 187 ff., 196 ff. 522 So etwa Johannes Chrysostomos: Vom jungfräulichen Stande, sowie Ambrosios: Über die Jungfrauen. Zitate etwa bei Ketsch 1984, 54+ 59. 516
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Psychodynamisch ist dies auch nur allzu verständlich. Denn letztlich erreicht werden kann die - jedenfalls heterosexuelle - Lustfreiheit des Mannes nur durch Ausschaltung der Versuchung in Gestalt des verführerisch-Weiblichen. Um daher Askese nicht nur in der Einsamkeit der Wüste, sondern auch im "normalen" Leben tatsächlich verwirklichen zu können, hat die dem Asketen gegenüberstehende Frau möglichst a-sexuell, d. h. möglichst unweiblich und mann-ähnlich zu erscheinen. 523 Um dieses Ziel zu erreichen, behauptete das apokryphe Thomas-Evangelium etwa, eine Frau könne nur dann ins Himmelreich gelangen, wenn sie sich "männlich mache". 524 In die gleiche Richtung geht die Argumentation des PlotinSchülers Porphyrlos in einem Brief an eine Jüngerin: 525 ,,Erblicke in Dir nicht eine Frau, wenn doch auch ich Dir nicht als solcher Aufmerksamkeit zugewendet habe. Fliehe alles, was Dich seelisch verweiblicht, wie wenn Du einen männlichen Leib an Dir hättest. Denn das, was aus einer jungfräulichen Seele und einem reinen Intellekt geboren wird, ist das Beseligendste." Im gleichen Sinne schreibt Hieronymus an einen Anhänger über den Lohn der Jungfräulichkeit: 526 "Mit Dir zusammen lebt eine Gefährtin, die es früher nur dem Fleische nach war, heute aber es dem Geiste nach ist. Sie ist nicht mehr Deine Gattin, sondern Deine Schwester. Aus dem schwachen Weibe wurde ein Mann, aus der Untergebenen eine Gleichberechtigte. Ins gleiche Joch gespannt eilt sie zusammen mit Dir dem Himmelreiche entgegen." In seiner Betonung der geschlechtslosen, möglichst "schwesterlichen" spirituellen Jungfräulichkeit bzw. Keuschheit war also das Askese-Konzept, wie es an die damaligen Frauen herangetragen wurde, ausgesprochen anti-weiblich. Gleichwohl, oder wie sich gleich zeigen wird, gerade deswegen fand der damalige Aufruf zur Jungfräulichkeit und Keuschheit bei nicht wenigen klitoridalemanzipierten Frauen der ausgehenden Antike eine geradezu begeisterte Aufnahme. f) Vollendung und Aufhebung der Emanzipation
Alsbald bildeten sich in der Ägyptischen Wüste, dem männlichen Beispiel folgend, Gruppen von Eremitinnen, die sich teilweise sogar als Männer verkleide523 Dementsprechend wird im "Hirte des Hermas" aus dem 2. Jh. die personifizierte Enthaltsamkeit als die "mit dem mannhaften Aussehen" geschildert. Text bei Ketsch 1984, 58. 524 Thomas-Evangelium V, 22, Logion 114: ,)esus sagte: Siehe, ich werde sie anziehen, um aus ihr einen Mann zu machen, damit sie wird, sie auch, ein lebender Geist, ähnlich euch Männem. Denn jede Frau, wenn sie sich männlich macht, wird in das Himmelreich eintreten." 525 Brief an Marcella, 33; zit. nach Rousselle 1983, 248. 526 Brief an Lucinus c. 3; zit. nach Ketsch 1984, 61.
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ten, jedenfalls aber ihre langen Haare abschnitten und damit sich "männlich machend" dort ein asketisches Einsiedlerleben führten. 527 Amma Sarra, eine der bekanntesten dieser ersten Eremitinnen, brachte den antiweiblich-androgynen Aspekt dieser "weiblichen" Askese-Bewegung auf den Punkt, wenn sie ausrief: "Der Natur nach bin ich eine Frau, aber nicht im Denken". 528 Aber auch für die im bürgerlichen Leben verbleibenden Frauen wurde es nun zunehmend zur Mode, sich zu "geweihten Jungfrauen" zu erklären, bzw. in der Ehe oder als Witwen keusch zu leben. Dabei animierten nicht selten die Mütter gleich auch noch ihre Töchter zu entsprechender Keuschheit. 529 Der Trend zur Askese breitete sich insbesondere in und von den obersten Schichten der römischen Gesellschaft ausgehend aus. "Es waren die Ehefrauen der römischen Aristokratie, die sich auf diesem Gebiet am lebhaftesten nach Wegen zum asketischen Leben erkundigten" (Rousselle 1983, 252 f.). Die reicheren dieser Asketinnen machten es sich zur Aufgabe, Frauen- und Männerklöster im Hl. Land zu gründen, so etwa die Seelenfreundin des Hl. Hieronymus, Paula zusammen mit ihrer Tochter Eustochium. 530 Im Einzelfall wird es bei dieser Askese-Begeisterung christlicher Frauen wohl darum gegangen sein, aus der Not eine Tugend zu machen, wenn infolge ihres zahlenmäßigen Übergewichts ein standesgemäßer ebenfalls christlicher Ehepartner ohnehin nicht in Aussicht stand (s. o. S. 178 f.). Insgesamt jedoch erscheint die Askese-Begeisterung der Oberschicht-Frauen in der ausgehenden Antike als allerletzte Phase der "Dialektik der Emanzipation" klitoridal-betonter Medea-Frauen. Indem diejenigen Frauen, die sich im Hochpatriarchat im Rahmen des MedeaKomplexes insbesondere durch den klitoridalen Gegenwillen hysterischer Verweigerung gegen Ehe und Kinderkriegen zu wehren versucht hatten, und die sich sodann im Spätpatriarchat in klitoridaler Empörung durch die Hingabe an lustbestimmte Unmoral den Verpflichtungen der Ehe und des Kinderkriegens entzogen hatten, sich nunmehr in klitoridaler Animus-Begeisterung gewissermaßen als "Alternative zur Hysterie" (Rousselle 1983, 181) und zur Empörung, und als dialektischem Gegenteil und psychodynamisch notwendiger Folge der Unmoral, der asketischen Übermoral absoluter Jungfräulichkeit und Keuschheit verschrieben, verwirklichten sie in der Sache nach wie vor das emanzipatorische Dazu insbes. Rousselle 1983, 244 ff. Zit. nach Rousselle 1983, 245. 529 Zahlreiche Beispiele bei Schuller 1987, 87 ff. In diesem Zusammenhang heißt es bei Rousselle (1983, 249): "Bereits um die Mitte des 4. Jahrhunderts war es eine häufige und bekannte Tatsache, daß Mütter und Töchter insgeheim bei sich zu Hause ein asketisches Leben führten, das genau so streng war wie das der Einsiedler in der Wüste." 530 Einzelheiten dazu sowie weitere Beispiele bei SchuBer 1987, 89; Rousselle 1983, 250. 527
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Anliegen der Vermeidung von Ehe und Familie, wenn auch jetzt aus einem ganz anderen Geist. Nunmehr ging es nicht mehr um die Ehe- und Kinderlosigkeit zwecks eigener klitoridaler Lust, sondern zur höheren Ehre Gottes. Dementsprechend brachte diese allerletzte Erfüllung und Vollendung der Emanzipation den "Anirnus"begeisterten Frauen auch nicht mehr Ablehnung und Ächtung ein, wie noch zu Augustus' Zeiten, sondern vielmehr Zustimmung und Bewunderung. Wofür sie damals als Huren beschimpft wurden, eben ihre Ehe- und Kinderlosigkeit, wurden sie nunmehr als Heilige verehrt. An diesem Bewertungswandel der allerletzten Phase der Emanzipation der antiken Frau wird noch einmal exemplarisch deutlich, daß die Emanzipation durch christliche Übermoral keinen Aspekt der Rache gegenüber dem Mann mehr beinhaltet wie noch die Emanzipation durch selbstsüchtige Unmoral. Indem sich beide Geschlechter brüderlich-schwesterlich für das Ideal der Askese begeisterten, und der Mann nichts mehr von der Frau als Sexual-Partner wissen wollte und umgekehrt, verwirklichte vielmehr der Asket seinen spirituellen Todestrieb und leistete ihm die Asketin dazu und der antiken Gesellschaft insgesamt ihre gleichsam anima-schwesterliche benevolente Sterbehilfe. Darüberhinaus kommt in der spätantiken Askese-Bewegung die mitternächtlich-wendezeitliche Janus-Köpfigkeit des frühen Christentums in charakteristischer Weise zum Ausdruck. Einerseits hat die verbreitete Begeisterung für die asketische Übermoral der Ehe- und Kinderlosigkeit das Alte zunächst einmal umso sicherer zu Ende gebracht. Denn daran kann kein Zweifel bestehen, daß gerade die christliche AskeseBewegung der Spätantike einen ganz entscheidenden Beitrag zum letztendlichen demographischen und kulturellen Zusammenbruch des Römischen Reiches geleistet hat. 531 In diesem Sinne war etwa für Augustinus ganz ausdrücklich Sinn und Zweck der Keuschheit die beschleunigte Herbeiführung des Endes des "Erdenstaates": 532 "Oh, daß doch alle dies täten (sich geschlechtlich enthalten), um so schneller würde der Gottesstaat erfüllt und das Ende der Zeiten beschleunigt." Andererseits hat die christliche Askese-Begeisterung als psychodynamisch not-wendiger Umschlag ins Gegenteil die Praxis der bisherigen selbstsüchtigen Unmoral aufgehoben, und damit die Brücke geschlagen zur Verwirklichung einer gemäßigt patriarchalen christlichen Ehe- und Familienmoral als ethischer Grundlage eines neuen Kulturaufschwungs. 531 So schonE. Gibbon im 15. + 16. Kap. seiner "History of the Decline and Fall of the Roman Empire" von 1776; dazu Christ 1970, 11 f.; Vogt 1965, 12. Ebenso A. H. M. Jones in Christ 1970, 327 ff.; Ferrero 1922, 74 ff.; Grant 1976, 240; Rousselle 1983, 254 ff. 532 Zit. nach Schubart 1944, 181.
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Damit das potentiell Neue aber auch tatsächlich fruchtbar werden konnte, bedurfte es zusätzlich zum Wandel in der religio noch eines Wandels der Religionsträger. Will heißen, erst nachdem sich das Reich auch bevölkerungsmäßig weitestgehend barbarisiert hatte und die Barbaren zum Christentum übergetreten waren, konnte der neue Glaube seine kulturaufbauende Kraft entfalten. Erst mit der Verbindung von Christen- und Barbarenturn ist die mitternächtlichwendezeitliche "barbarische" Kulturzerstückelung, -umwandlung und -Verjüngung vollbracht, bei der wir mit Ovid die Gestalt der Medea am Werke sehen. Erst im Wandlungskessel sprich "Schmelztiegel" der Völkerwanderungszeit wird das verjüngte "Lamm Gottes" realiter geboren und taucht wieder die zukunftsweisende Geschlechter-Konstellation auf, in der Medea-Gestaltige wieder zu gleichwertigen Partnerinnen neuer Helden-Gestalten zu werden vermögen. Doch damit befinden wir uns bereits auf der nächsten, eben unserer abendländischen Seite der Medea-Morphosen.
VIII. Zwischenbilanz Fassen wir an dieser Stelle die Medea-Morphosen im Rahmen der antiken Kulturrunde kurz zusammen. In der griechischen Heldenzeit hat die - mythopsychologisch ausgedrückt - mond-androgyne klitoridale Anima-Gestalt der Medea als schwesterlich-seelenverwandte Gefährtin des Mannes diesen überhaupt erst zum Sonnenwiddergleichen, erfolgreich Transzendenz verwirklichenden Helden gemacht. Durch die dunklen Jahrhunderte bis hin zum griechischen Frühpatriarchat haben die Medea-Gestaltigen sodann die ihnen Ebenbürtigkeit versprechende sich entwickelnde männlich-bestimmte Kultur als ihre eigene unterstützt. Im Hochpatriarchat vom Mann verraten, unterdrückt und verdrängt, und in ihren Rachephantasien ohnmächtig gefesselt, haben sich die Medeas alsdann bei den ersten Anzeichen männlicher Schwäche im nachmittäglichen Spätpatriarchat klitoridal empört und von der ihnen zugewiesenen rein vaginal-uteralen Weibchen-Rolle emanzipiert. Im Rahmen dieser klitoridalen Emanzipation haben die Medeas schließlich, zunächst noch mehr unter dem Aspekt der Rache, im weiteren Verlauf jedoch zunehmend im Sinne einer letztlich benevolenten Sterbehilfe, die von ihnen mitaufgebaute, nunmehr altersschwach gewordene Widder-Kultur wieder zerstückelt und zwecks ersehnter Verjüngung in den biologischen und religiösen mitternächtlich-wendezeitlichen Wandlungskessel der Spätantike geworfen. Damit aber hat sich die Gestalt der Medea in ihrer auch-klitoridalen potentiellen Gleichwertigkeit und Konkurrenz zum seelenverwandten Männlichen als die weibliche Wandlungsgestalt der antiken Kultur schlechthin erwiesen - zur je
D. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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gegebenen Zeit Betreiberin des kulturellen Fort-Schritts weg von den Großen Müttern bzw. des entsprechenden Rück-Schritts wieder hin zu diesen, wobei dieser Rückschritt selbst wiederum nur die eine Seite eines Durchschritts zu einer erneuten gesteigerten Widder-Kultur sein sollte.
Dritter Teil
Medea-Morphosen im Abendland A. Übereinstimmungen und Unterschiede Ausgangs- und Zielpunkt dieser Erörterungen ist die Untersuchung des Woher und Wohin, Warum und Wozu der Empörung der zeitgenössischen Frau gegen die ihr im Patriarchat zudiktierte untergeordnete Geschlechtsrolle. Wir haben diese Empörung als ,,Empörung der Medea" im Spätpatriarchat bezeichnet (s. o. S. 37), und um für diese These einen Bezugsrahmen und den entsprechenden sozio- und psychodynamischen Hintergrund zu gewinnen, zunächst die mytho-psychohistorischen Metamorphosen der Gestalt der Medea als auch-klitoridaler Förderin bzw. Zerstörerio der antiken Kultur betrachtet, da diese als mit der unsrigen Kultur vergleichbar abgeschlossen vor uns liegt. Nunmehr geht es darum zu verstehen, warum auch heute wiederum die Gestalt der sich empörenden Medea faszinierend wirkmächtig ist, indem sich Frauen zunehmend erneut mit dieser Gestalt identifizieren. Die tieferen Gründe dafür sind auch in unserer Kulturrunde nicht ein angeblich anatomisch fundierter und damit letztlich gesellschaftsunabhängiger und daher ubiquitärer Penisneid und Männlichkeitskomplex der Frau, wie Freud lange glauben wollte (s. o. S. 17 ff.). Vielmehr handelt es sich, wie zu zeigen sein wird, auch in unserer Kultur bei der Empörung der heutigen Frau um eine Empörung ihrer klitoridalen Animus-Seite, die, im Verlauf der Herausbildung und Verfestigung auch unseres Patriarchats zunehmend unterdrückt und verdrängt, sich nunmehrangesichtsder Selbst-Demontage auch unseres Hochpatriarchats erneutzunächst wiederum eher destruktiv befreit. Wenden wir uns zur Erhärtung dieser These der Sozio- und Psychodynamik des Geschlechterverhältnisses im bisherigen Verlauf unserer abendländischen Kulturrunde zu. Auch unsere Kultur ist wie die griechisch-römische eine patriarchale, und auch in unserem Patriarchat drücken sich die Wandlungen des Geschlechterverhältnisses in Metamorphosen der Gestalt einer Medea-Figur aus. Ja, an entscheidenden Stellen im Kulturverlauf wird die Gestalt der antiken Medea sogar ausdrücklich rezipiert.
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Gleichwohl handelt es sich bei unserem abendländischen Patriarchat keineswegs um eine bloße Wiederholung des antiken. Vielmehr ist unsere Kultur im Verhältnis zur griechisch-römischen lediglich eine "Sohnes"-Kultur mit durchaus wesentlichen Unterschieden und daher einem durchaus eigenen Charakter. Um diesen Unterschied zu betonen, hat man die antike Kultur als "apollinisch", unsere hingegen als "faustisch" bezeichnet. 1 Mag diese Kennzeichnung auch zu klischeehaft und plakativ sein, so kommt in ihr doch Wesentliches zum Ausdruck. Während sich der Mann des antiken Patriarchats letztlich damit begnügte zu leben und leben zu lassen, und auf der Erde sinnlich-besinnlich zu lustwandeln, erscheint der Mann unseres abendländischen Patriarchats von einer unheimlichen rastlos-aggressiven Dynamik getrieben, nicht nur seine Partnerin sondern auch sich selber zu knechten und zu quälen, sowie sich die Erde untertan zu machen, sie zu unterjochen, zu beherrschen und auszubeuten, und so der Natur ihre letzten Geheimnisse zu entreißen, bis hin zur heute erstmals gegebenen realen Möglichkeit unseres und der Erde Untergang. Auf dem uns hier beschäftigenden Gebiet der Geschlechterbeziehung kommt dieser fundamentale Unterschied zwischen antikem und abendländischem Patriarchat drastisch in folgendem zum Ausdruck: Während sich der antike Mann damit begnügt hatte, die ihm lästige Medea als Hexe zu verbannen, machte es sich der abendländische Mann zur fanatischen Aufgabe, die ihm bedrohlich erscheinende Medea als Hexe zu verbrennen! Ein düster-makabrer Unterschied, für den im folgenden jedenfalls ein wesentlicher Grund aufgezeigt werden soll (dazu u. s. 235 ff.). Insgesamt erweisen sich somit im Vergleich zum antiken Patriarchat sowohl die Möglichkeiten als auch die Schattenseiten unseres Patriarchats als weit ausgeprägter, so daß die letztendliche Frage, ob es auch mit unserer abendländischen Kultur einen gleichen Verlauf nehmen wird wie mit der antiken, nicht einfach zu stellen, geschweige denn zu beantworten sein wird.
B. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen I. Die Medea-Frau im Anarchat Wie die mykenische Völkerwanderungszeit für die griechische Kultur, so stellt die Völkerwanderungszeit des 4. bis 6. Jahrhunderts n. Ch. die chaotische Befruchtungsphase unserer Kultur dar, in der Neues auf Altes trifft, dieses zertrümmert, und sich mit den Trümmern als Keimen schöpferisch neu verbindet. So zerstörte das neue heldisch-barbarische Element der germanischen Eindringlinge zwar die innerlich hohl und brüchig gewordenen Hülsen der spätantiken alten
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So insbes. Spengler 1923; ebenso Stern 1968, 163 ff.
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Ordnung, verleibte sich aber gleichzeitig die ihr zuträglichen Bruchstücke des Alten als zunehmend Eigenes ein, darunter insbesondere das Christentum. Ausgelöst vom Einfall der Hunnen um 375, überrannten neben- und nacheinander Westgoten, Burgunder, Wandalen und Ostgoten das Reich, wobei insbesondere der Westgoten-Führer Alarich im Jahre 410 und der Wandalen-Führer Geiserich im Jahre 455 in gut-mykenischer Städteplünderer-Manier als Plünderer Roms Angst und Schrecken verbreiteten. Plünderung und Zerstörung, formal besiegelt durch die Absetzung des letzten weströmischen Kaiserleins Romulus Augustulus durch den Skirenfürsten Odoaker im Jahre 476, waren jedoch nur die eine Seite des gewaltigen Umbruchs. Auf der anderen Seite waren die das Reich militärisch bezwingenden Germanen von den kulturellen Errungenschaften und verbliebenen Zeugnissen der spätantiken Zivilisation zutiefst beeindruckt und fasziniert. So soll laut Orosius, einem Historiker im Gefolge Augustins, 2 der Nachfolger des Westgoten-Führers Alarich, Athaulf, seine ursprüngliche Absicht aufgegeben haben, den Namen Roms auszutilgen und sein Reich statt dessen "Gothia" zu nennen, weil er seinen Ruhm darin sehen wollte, vor der Nachwelt als "Urheber der Wiedergeburt Roms" dazustehen. Im gleichen Sinne verstand sich auch noch ein Jahrhundert später der griechisch und lateinisch sprechende Ostgoten-König Theoderich durchaus als Wahrer des antiken Erbes. Unter seiner Regierung kam es so geradezu zu einer allerletzten Nachblüte der spätrömischen Kultur. Im Rom wurden etwa das Theater des Pompeius und das Colosseum restauriert, neue Bauten entstanden in Pavia, Verona und vor allem in Ravenna. Auch das geistig-literarische Leben regte sich ein letztes Mal, wofür insbesondere die Namen Ennodius, Boethius und Cassiodor stehen. Nur folgerichtig ließ Theoderich auch seiner Tochter Amalaswintha wie seinem Neffen Theodahad eine klassische Erziehung in der lateinischen und griechischen Sprache und Literatur zukommen. Was die Beziehung der Geschlechter zueinander anlangt, erscheint sie auch in unserer Völkerwanderungszeit entsprechend der in der mykenischen Heldenzeit als von einer weitgehenden Gleichstellung der Frau charakterisiert. Und zwar gilt dies sowohl für die seit langem emanzipierte römische Frau als auch für die Germanin jedenfalls der oberen Schichten, wie es sich etwa an der einflußreichen Stellung von Theoderichs Tochter Amalaswintha ablesen läßt. Der entscheidende Grund hierfür liegt in dem eigenartigen Macht-Vakuum begründet, wie er für Völkerwanderungszeiten als Übergangs- und Zwischenzeiten charakteristisch ist: Das alte Patriarchat hat seinen Biß längst verloren, und ein neues hat sich noch nicht etabliert. So stellt sich die Völkerwanderungszwischenzeit im Gegensatz zu etablierten patriarchalen oder auch matemalen Zeiten als eine Art Anarchat dar, als eine Zeit des Fehlens geordneter öffentlicher Macht, 2
In seiner Historia adversus paganos, Kap. 9; zu der Stelle Vogt 1965, 423.
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der Unsicherheit und des Durcheinander, in dem auch die Frauen wie die Männer heldisch "ihren Mann" stehen müssen, d. h. aber eben auch, ihre männlichklitoridale Seite ohne nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand zu verwirklichen vermögen. Arnold Toynbee beschreibt diesen den Frauen im Anarchat zur Verfügung stehenden Freiraum so: "Die soziologische Erklärung läßt sich in der Tatsache finden, daß das Heldenzeitalter ein soziales Interregnum ist, in dem es mit den traditionellen Gewohnheiten primitiven Lebens zu Ende ist, während sich noch kein neues ,Eis der Sitte' durch eine entstehende Kultur oder eine entstehende höhere Religion gebildet hat. In dieser vorübergehenden Lage wird ein sozialer Leerraum durch einen so absoluten Individualismus ausgefüllt, daß er die inneren Unterschiede zwischen den Geschlechtem überfährt. Es ist bemerkenswert, diesen ungezügelten Individualismus Früchte tragen zu sehen, die kaum sich unterscheiden von jenen eines doktrinären Feminismus, der völlig jenseits der emotionalen Reichweite und des intellektuellen Horizontes des Frauen und Männer solcher Perioden gelegen ist" (1957, 141). Zu einer verstärkten Begegnung zwischen Barbaren und Alteingesessenen, und damit auch zwischen der Heldengestalt eines nunmehr germanischen Jason und einer- wie es nunmehr heißt- ,,romanischen" Medea als seiner potentiellen Anima-Partnerin ist es damals allerdings noch nicht gekommen. Zwar schien es den germanischen Führern für sich selber wichtig, in höchste römische Kreise einzuheiraten. So war etwa Stilicho mit einer Nichte und Stieftochter des Kaisers verheiratet, desgleichen Athaulf sowie Geiserichs Sohn Hunerich sogar mit Kaisertöchtern selbst. Für ihre zahlenmäßig relativ kleinen, jeweils kaum 100.000 Seelen umfassenden Völker vertraten die Führer der Goten, Wandalen und Burgunder aus Furcht vor einer Überfremdung durch die eingesessene Bevölkerung jedoch eine Politik des weitestgehenden "Nebeneinander von Römern und Germanen" (Vogt 1965, 453). So gab es lange Zeit keine sanktionierten Eheverbindungen zwischen Germanen und Römern, und auch die je unterschiedlichen Rechtsordnungen blieben für beide Völker formal nebeneinander bestehen. Hinzu kam der religiöse Gegensatz: Während die Römer immer mehr zum christlich-katholischen Glauben übertraten, hingen die Germanen dem sog. Arianismus an, aus römisch-katholischer Sicht eine Ketzerei, die Jesus Christus nicht als Gott gleich ansah, sondern lediglich als sein vornehmstes menschliches Geschöpf. Wenn somit auch ein weitgehendes Nebeneinander von Römern und Germanen auf römischem Boden intendiert war, konnte es auf längere Sicht gleichwohl nicht ausbleiben, daß sich das römische Kulturvorbild als Ideal der germanischen Führungsschichten auch auf gemein-germanischer Seite in der Praxis allmählich durchsetzte. Für die Position der germanischen Frau insgesamt war damit aber eine nicht unerhebliche Besserstellung verbunden. So wurden etwa das burgundische und insbesondere das westgotische Stammesrecht den spätrömischen Vorstellungen von der Gleichberechtigung der Frau entsprechend liberalisiert. 3 3 S. Gies 1978, 18. Im westgotischen Stammesrecht hieß es dementsprechend in§ IV, 2, 1, 1: "Wenn Vater oder Mutter ohne ein Testament gestorben sind, so erben die
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Die Reiche der West- und Ostgoten, der Burgunder und der Wandalen auf römischem Boden konnten, ähnlich wie die Herrschaft der Mykener in Griechenland, letztlich nur ein Intermezzo bleiben. Von ihren Herkunftsländern abgeschnitten und nicht wirklich in das Sozialgefüge des spätrömischen Reiches integriert, wurden die zahlenmäßig kleinen ost-germanischen Völker alsbald militärisch aufgerieben, während ihre Überbleibsel weitgehend spurlos in der Millionenbevölkerung des ehemaligen Römischen Reiches versickerten. Allerdings sollte sich gerade dieser tragische Untergang der ersten Germanenreiche auf römischem Boden als ein kultureller Same par excellence für die spätere abendländische Kultur erweisen. War es doch gerade das heroische Sterben dieser Völker, welches das Material für die späteren Heldengesänge und -epen abgab, und nicht das vergleichsweise unheroische Überleben der politisch gesehen erfolgreichen Germanenvölker der zweiten Eroberer-Generation wie der Langobarden und vor allem der Franken.
II. Die Medea-Frau im "Dark Age" Mit dem Aufstieg der Franken, die den Römern als das wildeste, unbändigste und treuloseste aller Germanenvölker galten, begannen die post-heroischen sog. ,.dunklen Jahrhunderte" unserer abendländischen Kulturentwicklung, so wie mit dem Einfall der Dorer in die mykenische Welt die dunklen Jahrhunderte der griechischen Kulturentwicklung begonnen hatten. Ab dem 6. Jahrhundert kam es nunmehr zu einer stetigen Rückbildung der zivilisatorischen Verhältnisse weg von der vergleichsweise immer noch eindrucksvollen städtisch geprägten Kultur der römischen Spätantike und der ersten Germanenreiche auf römischem Boden hin zu dem ländlich-agrarischen Zuschnitt des frühen Mittelalters. Diese Entwicklung war geprägt von einem fortschreitenden Übergang von der Geld- zur Naturalwirtschaft, von einem allmählichen Absterben des ausgefeilten öffentlichrechtlichen römischen Steuersystems und der ersatzweisen Herausbildung des privatrechtliehen Lehenssystems, von einem allgemeinen Rückgang des Bildungs- und Wissensniveaus bis hin zu einem nahezu allgemeinen Analphabetismus, von einer Verwilderung und Verrohung der Sitten insgesamt, die zwischen "Romanen" und Germanen alsbald kaum mehr einen Unterschied erkennen ließ. In dieser allgemeinen Primitivisierung gingen also tatsächlich wie im übertragenen Sinn weitestgehend die Lichter aus. Daher auch der Ausdruck ,.dark age" - dunkle Jahrhunderte. Schwestern neben den Brüdern gleiche Teile des elterlichen Gesamtnachlasses ohne jeden Einwand"; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 169.
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Dies war jedoch auch wiederum nur die eine Seite. Denn gerade in der dunklen Verhaltenheit und entsprechenden Unbewußtheit und Anonymität dieser Zeit bereitete sich gleichsam wie in einer jahrhundertelangen Inkubation und Schwangerschaft die Geburt der ansatzweise mit Karl dem Großen beginnenden abendländischen Kultur vor. Eine wesentliche Rolle als Brücke zwischen den Kulturen und als Katalysator des schließliehen neuen Kulturaufschwungs spielten hierbei - neben der arabischen Wissenschaft, die Buropa insbesondere über Cordoba und Sizilien befruchtete - die sog. "Benediktiner" im weiteren Sinne, 4 d. h. all jene, die, beginnend mit Boethius und Cassiodor, es als ihre Aufgabe ansahen, das Bildungsgut der Antike so gut es ging über die Zeiten der Verfinsterung und Dunkelheit in eine neue geistige Morgendämmerung hinüberzuretten. Diese Konservierungsaufgabe wurde alsbald tatsächlich eben vom Benediktinerorden übernommen, weshalb der Begriff "clericus" zusätzlich zur Bedeutung "Geistlicher" nur folgerichtig die Bedeutung "Gebildeter" hinzugewann. 5 Im Vergleich zur ersten Welle der ost-germanischen Königtümer auf römischem Boden lagen die Verhältnisse im Frankenreich entscheidend anders. Kein zahlenmäßig kleines Volk, das sein angestammtes Siedlungsgebiet verlassen hätte, um ein fremdes fernes Reich zu erobern wie seine ost-germanischen Brüder, waren die Franken vielmehr ein zahlenmäßig beträchtliches Volk, das, die Verbindung zu seinem rechtsrheinischen Stammesgebiet stets aufrechterhaltend, in einem sich über Generationen hinziehenden Wanderungsprozeß in die links-rheinisch-gallischen Gebiete des Römischen Reiches mehr einsickerte als diese auf einen Schlag eroberte. Die Franken hatten daher im Unterschied zu ihren ostgermanischen Brüdern auch keine Berührungs- und Verschmelzungsängste in Bezug auf die eingesessene romanische Bevölkerung. Dementsprechend gab es auch kein Eheverbot zwischen Romanen und Franken. Vielmehr strebten die fränkischen Herrscher von Anfang an eine Verbindung und Vermischung beider Völker an. Damit aber kam es nunmehr auf breitester Grundlage auch zu der kulturell so fruchtbaren Verbindung von jugendlich-tatkräftigem Held a la Jason und klitoridal-emanzipierter Tochter der alten Ordnung a la Medea. Im 7. Jahrhundert war dieser kulturelle Verbindungs- und Vermischungsprozeß bereits so weit fortgeschritten, daß sich die Franken, von romanischer Seite unwidersprochen, wie diese als von den mykenischen Trojanern abstammend zu verstehen vermochten. 6 Maßgeblich zu diesem schnellen Assimilierungsprozeß beigetragen hatte der Umstand, daß der Frankenkönig Chlodwig, bestimmt von seiner bereits katholischen Gattin Chlothilde, Ende des 5. Jahrhunderts nicht, wie seine ost-germani-
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Begriff in diesem erweiterten Sinne bei Schachermeyr 1969 a, 455 ff. Vogt 1965, 528. Moeller 1965, 150.
13 Gascard
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sehen Brüder, Arianer geworden, sondern mit seiner gesamten Gefolgschaft gleich zum Katholizismus übergetreten war. 1. Traum der Medea II Die Stellung der Frau in den dunklen Jahrhunderten war durchaus noch der in der anarchischen Heldenzeit vergleichbar, und damit insgesamt von weitgehender Gleichbewertung und Partnerschaftlichkeit geprägt. Wie aus den Kapiteln 18 ff. von Tacitus' "Germania" aus dem Jahre 98 sowie den überkommenen Stammesrechten des 5.-7. Jahrhunderts ersichtlich, war das Gesellschaftsgefüge der germanischen Völker als extensiven Pflugackerbauern an sich durchaus patriarchalisch. Die Frau stand unter der Vormundschaft ("munt") des Vaters bzw. ihres Ehemannes. Eine einseitige Scheidung ihrerseits war ausgeschlossen. 7 Der Ehemann konnte ihren Ehebruch nach Gutdünken bestrafen, 8 während sein Ehebruch kein Tatbestand war. Im Erbrecht waren Frauen Männern grundsätzlich hintangestellt, 9 und vom Erbschaftserwerb von Grund und Boden waren sie nach der ursprünglichen Fassung der Lex Salica aus dem frühen 6. Jahrhundert sogar total ausgeschlossen. 10 Rechtlich gesehen Herr im germanischen Haus war also eindeutig der Mann. Gleichwohl erfuhr die germanische Frau offenbar eine sie dem Mann weitgehend ebenbürtig machende partnerschaftliehe Wertschätzung, was schon Tacitus so tief beeindruckt hat. Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, daß das beim Totschlag einer Frau an die Hinterbliebenen zu zahlende Wergeld mindestens so hoch war wie im Falle der Tötung eines Mannes, 11 sowie darin, daß Männerund Frauengräber sich in der Reichhaltigkeit der Ausstattung nicht voneinander unterschieden. Für die praktische Bedeutung und Wertschätzung der Frau in den dunklen Jahrhunderten zweifellos mitursächlich war der Umstand, daß die weiterhin häufi7 So hieß es in § 34, 1 des burgundischen Gesetzbuchs Gundobads von 480: "Trennt sich ein Weib von seinem rechtmäßigen Mann, so soll man es im Sumpf ertränken"; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 154. 8 Tacitus, Germania, Kap. 19. Selbst im an sich relativ frauenfreundlichen westgotischen Stammesrecht heißt es hierzu in § III, 4, 3: " . . . Steht der Ehebruch der Frau offenkundig fest, so sollen (dem Gatten) der Ehebrecher und die Ehebrecherio übergeben werden, damit er mit ihnen nach Gutdünken verfahren kann. Tötet der Mann den Ehebrecher mit der Ehebrecherin, so soll er nicht für den Totschlag haften"; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 158. 9 Tacitus, Germania, Kap. 20; Ketsch 1984, 149 mit weiteren Nachweisen. 10 § 93, 6: "Vom salfränkischen Lande aber gehe kein Erbanteil an ein Weib über, sondern das ganze Land (falle) an das männliche Geschlecht zu seinem Eigen zu besitzen"; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 165. 11 Nach der Lex Salica war es für Mütter sogar dreimal so hoch, und nach dem alemannischen Volksrecht für Frauen generell doppelt so hoch wie für Männer; s. die Quellennachweise bei Ketsch 1984, Nr. 172 + 173.
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ge kriegsbedingte Abwesenheit der Männer von Haus und Hof es erforderlich machte, daß währenddessen die Frau "ihren Mann" stand, sich also nicht nur auf innerhäusliche Belange zurückzog, sondern auch die Außeninteressen der Familie wahrnahm, einschließlich dernicht selten nötigen Verteidigung des Besitzes. 12 Im Ergebnis gleichgelagert war die Stellung der Frau in den zahlreichen Klerikerfamilien, 13 die daraus resultierten, daß bis zur Einführung des strikten Zölibats durch Papst Gregor VII. (dazu u. S. 213) zwar nicht Priester heiraten, wohl aber bereits Verheiratete Priester werden konnten. Die Priester- und Klerikerfrauen waren also schon notgedrungen in einem durchaus männlichen Sinne weitgehend selbst Haushaltungsvorstand. Über diese praktischen Umstände hinaus, und von den Klerikerfrauen ganz abgesehen, war es die allgemein frauenfreundliche Haltung und Politik der katholischen Kirche, die für die relativ gute Stellung der frühmittelalterlichen Frau von Bedeutung war. Aufgrund ihrer Erfahrungen in der Spätantike bis hin zur Bekehrung Chlodwigs wußte die Kirche, daß der Weg zum Herzen des Mannes über das der Frau führte. Sollte also eine Missionierung der germanischen Heiden gelingen, dann nur, wenn die Belange der Frauen kirchlicherseits entsprechend berücksichtigt würden, u. z. sowohl, was ihre vaginal-weibliche als auch was ihre klitoridal-männliche Seite anlangte. In bezug auf ersteres ließ es die Kirche schrittweise zu, daß die Gestalt der Mariaals gnadenreich-machtvolle Mutter Gottes zunehmend liturgische Bedeutung und praktische Verehrung erfuhr. In der Ära des spätantiken Asketenturns hatte Maria im Gesamtgefüge des Glaubens noch eine durchaus untergeordnete Rolle gespielt. Wenn überhaupt, war an ihr nicht ihre Mutterschaft, sondern ihre keusche Jungfräulichkeit von Interesse gewesen. Noch im 4. Jahrhundert galt so die Mutter Jesu als bloßer Mensch, als ein sterbliches, mit Fehlern belastetes Wesen. Einer der glühendsten Verfechter christlicher Askese, Johannes Chrysostomos, nannte sie "eitel wie alle Frauen". 14 Jedoch bereits im 5. Jahrhundert wandte sich das Blatt. Augustinus nahm in seiner Schrift "De natura et gratia" Mariaals einziges sterbliches Wesen von der Erbsünde aus. Auf der Synode zu Alexandrien 430 und auf dem Konzil zu Ephesos 431 wurde sodann ihre göttliche Verehrung gebilligt. Die spätantiken Muttergöttinnen Isis sowie die Artemis von Ephesos verwandelten sich so zwanglos in die große, erhabene und ruhmreiche Gottesmutter Maria. Auf dem Konzil zu Chalcedon 451 wurde Maria schließlich der Titel "theotokos" gleich "Gottesgebärerin" zugebilligt. Und ab dem 6. Jahrhundert wurde das Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August gefeiert, dem Tag, der zuvor Isis und Artemis heilig gewesen war. 12 Dazu insbes. D. Herlihy: Land, Family and Women in Contineotal Europe, 701 - 1200; in Stuard 1976, 30 ff. 13 Ebenda, S. 25 ff. 14 Zit. nach Schubart 1944, 42.
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Bis ins 12. Jahrhundert hinein wird nunmehr Maria als Theotokos verehrt, "und damit das Prinzip des Gebärens und des weiblichen Wesens schlechthin" (Schubart 1944, 43). Dieser zunehmenden liturgischen Hochschätzung um~ Verehrung des weiblichen Prinzips in der frühmittelalterlichen Kirche entsprach durchaus auch eine zunehmend verbesserte Stellung der Frau in der alltäglichen Kirchenpolitik. So verurteilten die fränkischen Bischöfe ab dem 6. Jahrhundert mit Nachdruck die damals noch weit verbreitete Praxis des Sippen-Inzests und der Polygamie, was ab dem 7. Jahrhundert auch erste positive Konsequenzen hatte. 15 Des weiteren bestand die Kirche entgegen den überkommenen germanischen Volksrechten auf der Berücksichtigung auch des Willens der Frau bei der Eheschließung, indem sie eine ohne deren Einwilligung zustandegekommene Ehe für ungültig erklärte. Auch mit dieser Auffassung konnte sich die Kirche ab dem 8. Jahrhundert verstärkt durchsetzen. 16 Ebenso wurde die den Mann bevorzugende Doppelmoral verdammt, insbesondere das herkömmliche einseitige Scheidungsrecht des Mannes. Zu diesem Zweck wurde die Ehe im 8. Jahrhundert zum Sakrament erhoben und für schlechthin unauflöslich erklärt, u. z. selbst im Falle eines Ehebruchs durch die Frau. Endgültig durchgesetzt hatte sich die Kirche, als diese ihre bemerkenswert frauenfreundliche Eheauffassung im Jahre 802 von Karl dem Großen für das ganze Reich für verbindlich erklärt wurdeY Ein wie weiter Weg der Besserstellung der Frau mit dieser Eheunauflöslichkeitsregelung von 802 zurückgelegt war, läßt sich daran ermessen, daß selbst nach dem vergleichsweise liberalen visigothischen Stammesrecht eine beim Ehebruch auf frischer Tat ertappte Frau von ihrem Mann straflos getötet werden konnte. 18 Eine weitere einschneidende Verbesserung setzte die Kirche im Erb- und Vormundschaftrecht der Frau durch. So bestimmte die von Chilperich II. um 575 revidierte, christlich beeinflußte Fassung der Lex Salica im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung des Gesetzes, wonach Töchter Grundbesitz überhaupt nicht erben konnten, daß diese nunmehr jedenfalls im Falle des Fehlens von Söhnen Grunderben sein sollten. 19 Im 8. Jahrhundert entfiel dann praktisch die Muntgewalt über erwachsene fränkische Frauen, und selbst die verhältnismäßig strenge langobardische Muntgewalt wurde nicht unerheblich eingeschränkt. 20 Die frühmittelalterliche Kirche verbesserte jedoch die Position der Frau nicht nur in Bezug auf ihre vaginal-weibliche Seite. Auch der klitoridalen Animus1s Einzelheiten bei Jo-Ann McNamara/ Suzanne F. Wemple: Marriage and Divorce in the Frankish Kingdom; in Stuard 1976, 99 ff. 16 Ketsch 1984, 148 mit Nachweisen. 17 Dazu Gies 1978, 18 f.; McNamara/Wemp1e in Stuard 1976, 104. 18 s. Anm. 8. 19 " 108: " . .. Und wenn die Söhne früh verstorben sind, empfange die Tochter in gleicher Weise diese Ländereien, wie sie auch die Söhne, wenn sie gelebt hätten, hätten haben sollen"; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 167. 20 S. die Gesetzes-Quellen bei Ketsch 1984, 151.
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Seite der Frau bot die Kirche einen weitgesteckten und fruchtbaren Entfaltungsspielraum, so daß wir insgesamt von einer durchaus günstigen Konstellation zur möglichen Verwirklichung des alten "Traums der Medea" von ihrer Gleichwertigkeit und Ebenbürtigkeit mit dem Mann sprechen können.
2. Die frühmittelalterliche Frau als Nonne, Grundbesitzerin und Herrseherin Der beträchtliche Entfaltungsspielraum für ihre klitoridale Animus-Seite kommt eindrucksvoll in der Stellung der frühmittelalterlichen Frau im damaligen Klosterleben zum Ausdruck. Die ersten fränkischen Nonnenklöster entstanden zu Beginn des 6. Jahrhunderts in Südfrankreich, für die Caesarius von Arles 512 unter maßgeblicher Beratung durch seine Schwester die erste überlieferte Nonnenregel verfaßte. 21 Auch die Christianisierung der rechtsrheinischen Germanen und die Errichtung von Mönchs- und Nonnenklöstern unter Bonifatius im 8. Jahrhundert ist ohne die Mitwirkung insbesondere angelsächsischer Nonnen wie Leoba nicht vorstellbar. Im Unterschied zu späteren Jahrhunderten waren die Nonnenklöster des Frühmittelalters praktisch nahezu ausschließlich Angehörigen des Adels vorbehalten. Aus profaner Sicht nahmen diese Klöster so alsbald den Charakter von Versorgungsanstalten für Witwen und unverheiratet gebliebene "höhere Töchter" an, die gegen eine Übertragung von Landbesitz an die Klöster in diese aufgenommen wurden. Da dazu Nonnen erbunfahig waren, konnte auf diese Weise der Familienbesitz leichter zusammengehalten werden. Für manche Nonne mag daher das Kloster insgesamt eher einen Gefangnis als einem freigewählten Aufenthaltsort spiritueller Berufung geglichen haben. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß das damalige Nonnenkloster für die auch-klitoridale Frau durchaus eine attraktive Alternative zur Ehe darstellen konnte, selbst wenn kein allzu starkes Gefühl spiritueller Berufung gegeben war. Denn anders als in späterer Zeit, war die Nonne des Frühmittelalters keineswegs eine karitative oder sonstige Arbeitsbiene. Feldarbeiten, oder auch hauswirtschaftliehe Tätigkeiten wie Kochen, Waschen, Putzen usw.,ja selbstkaritative Tätigkeiten betrachtete die damalige adelige Nonne als mit ihrer Würde unvereinbar. Dafür gab es Knechte oder Mägde bzw. Laienbrüder oder -Schwestern. In den im Vergleich zu den Klöstern noch freieren Kanonissenstiften waren Mägde sogar zur persönlichen Bedienung der Nonnen selbstverständlich. 22 Schwerpunkt des Lebens im frühmittelalterlichen Nonnenkloster war neben dem geistlichen Bereich eindeutig der Bereich der Bildung. Bereits in der ersten Text bei Ketsch 1984, 277 ff. S. das Statut für die Kanonissenstifte der Reichssynode zu Aachen von 816 bei Ketsch 1984, 281 f. 21 22
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abendländischen Nonnenklosterregel heißt es hierzu: "Alle sollen Lesen lernen. Jederzeit sollen zwei Stunden, vom fliihen Morgen bis zur zweiten Hora, für das Lesen frei bleiben". 23 Zahlreiche Belege machen deutlich, daß die Kenntnisse der Nonnen im Fiiihmittelalter vielfach über bloßes Lesenkönnen noch beträchtlich hinausgingen. Sie umfaßten in der Regel auch das Abschreiben von Büchern sowie deren Illumination, nicht selten auch Fertigkeiten in den damaligen 7 freien Künsten wie Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Vereinzelt kam es in diesem allgemein schon beachtlichen bildungsmäßigen Niveau dann zu ausgesprochenen Spitzenleistungen, wie den Dramen der Hroswitha v. Gandersheim (gest. 1002), den naturkundlichen Schriften der Hildegard v. Bingen (gest. 1179), oder auch dem enzyklopädischen "Hortus deliciarum" der Herrad v. Landsberg (gest. 1195). Da und dort gingen Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Klosterfrauen sogar soweit, daß sie selbst priesterliche Funktionen für sich beanspruchten. Damit war allerdings die Grenze des ihnen von der Kirche eingeräumten Entfaltungsspielraums erreicht und überschritten. Die Kirche untersagte umgehend diese "ungeheuerliche Sünde" und "ungeziemende Anmaßung". 24 Für ihr spirituelles Leben bedurften Frauenklöster daher weiterhin männlich-priesterlichen Beistandes. So kam es alsbald zur Bildung von sog. "Doppelklöstern", die aus einem Mönchs- und einem Nonnenkonvent bestanden, deren Gesamtleitung jedoch einer Äbtissin, und nicht einem Abt oblag. 25 Die Äbtissin eines derartigen Doppelklosters hatte also auch über dessen Mönche volle weltliche, und in den reichsunmittelbaren Klöstern zum Teil sogar zusätzlich noch die geistliche Jurisdiktionsgewalt 26 Die Äbtissinnen der reichsunmittelbaren Klöster wie etwa Gandersheim waren daiiiberhinaus auch noch weltliche Lehnsherrinnen und verfügten insofern über volle lehnsrechtliche Herrschaftsbefugnisse. Sie gehörten dem Reichsfürstenstand mit Sitz und Stimme im Reichstag an und standen gleichberechtigt neben Bischöfen, Markgrafen und Grafen. 27 Insgesamt war die Alternative Kloster für die fliihmittelalterliche auch-klitoridale Frau jedenfalls so attraktiv, daß es überall mehr Nonnen- als Mönchsklöster gab, in Sachsen um 900 herum sogar etwa vier Mal so viele. Wie das Beispiel der reichsunmittelbaren Äbtissin als auch weltlicher Herrseherin zeigt, füllte die flÜhmittelalterliche Frau den ihrer klitoridalen Entfaltung relativ günstigen Rahmen nicht nur im geistlichen, sondern auch im weltlichen Bereich eindrucksvoll aus. 23 24 25
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Regula des hl. Caesarius v; Arles von 512, XVII; zit. nach Ketsch 1984, Quelle 319. S. die bei Ketsch 1984, 277 wiedergegebenen Quellen-Texte. Dazu Putnam 1910, 85 ff.; Ketsch 1984, 267. Beispiele bei Ketsch 1984, 276. Bullough 1973, 158; Ketsch 1984, 275 f.
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In diesem Sinne finden wir allgemein Frauen bis ins 12. Jahrhundert hinein, mit dem Höhepunkt im 10. und frühen 11. Jahrhundert, als Landeigentümerinnen und Verwalterinnen ihrer eigenen Güter, mit einem eindeutigen Schwerpunkt in den ehemals westgotischen, die Frau weitestgehend gleichstellenden Ländern Süd-Frankreich und Spanien. 28 Dementsprechend ausgeprägt ist auch die sog. Matronymie, also die Benennung der Familie nach dem Namen der Mutter statt dem des Vaters.29 In diesem Zusammenhang am eindrucksvollsten aber ist die Beteiligung der frühmittelalterlichen Frau an der politischen Herrschaft proper. Seitdem im fränkischen Reich Frauen aufgrund der Revision der Lex Salica um 575 Grundbesitz erben konnten, übten sie in diesem zweifelsohne auch politische Herrschaft aus. 30 Die Ausübung politischer Herrschaftsrechte blieb jedoch nicht lange auf diesen sog. Eigenbesitz beschränkt. In der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts gewannen die Frauen der fränkischen Herrscher ein allgemeines politisches Interventionsrecht, und seit dem 8. Jahrhundert leiteten Königinnen und sonstige adelige Frauen wie selbstverständlich die Verwaltung der Pfalzen bzw. der gesamten Güter und Finanzen ihrer Männer. 31 Darüberhinaus läßt sich seit der Regentschaft Brunichildes für ihren Sohn Childebert Il. im Jahre 575 allgemein die Regentschaft von Herrschergattinnen für ihre unmündigen Söhne nachweisen. Da aber eine Unmündigen-Regentschaft volle interimistische Herrschaftsgewalt bedeutete, vermochten derartige Regentinnen die Politik ihrer Länder oft mehrere Jahrzehnte lang maßgeblich zu bestimmen. Gleichwohl wurde während des frühen Mittelalt~rs eine derartige zwischenzeitliche Alleinherrschaft einer Frau niemals grundsätzlich in Frage gestellt. Die politische Mitwirkung der frühmittelalterlichen Frau kulminierte schließlich in ihrer formalen Anerkennung als Mitregentin unter Kaiser Otto I. (936973), dessen zweite Frau Adelheid offiziell als "consors imperii" bezeichnet wurde. Dementsprechend hieß es in der kirchlich abgesegneten Krönungsformel für die deutsche Königin im 10. I 11. Jahrhundert: 32 "Allmächtiger, ewiger Gott, Quelle und Ursprung alles Guten, der Du Dich keineswegs abwendest von dem schwachen weiblichen Geschlecht, indem Du es für untauglich erklärst, sondern der Du es vielmehr für würdig hältst und liebst, . . . demütig flehen wir Deine unaussprechliche Gnade an, daß Du . . . gnädigst gestattest, daß diese, Deine Magd N., durch den Segen unserer Niedrigkeit zum Heile des christlichen Volkes die würdige und erhabene Gattin unseres Königs und zur Teilhaberio der Herrschaft im Reich werde . .."
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Herlihy in Stuard 1976, 26 ff.
29 Ebenda, 16 ff. 30 Shahar 1981, 24; Ketsch 1984, 362. 31 Herlihy in Stuard 1976, 24; Ketsch 1984, 362 mit Nachweisen. 32 Zit. nach Ketsch 1984, Quelle 430.
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Aufgrund ihrer Funktion als Mitregentin war die ottonische und salische Herrschergattin im Falle der Abwesenheit des Herrschers Statthalterio mit uneingeschränkten Hoheitsrechten. 33 Sinnfällig kommt diese maßgebliche Mitherrschaft der damaligen Herrschergattinnen in ihrer Mitunterzeichnung der von den Königen und Kaisern ausgestellten Urkunden zum Ausdruck, eine Praxis, die in der l. Hälfte des ll. Jahrhunderts bei der Gattin Konrads des II., Gisela, mit über 60% ihren Höhepunkt erreichte.J4 Die politische Bedeutung der damaligen Herrschergattinnen drückte sich nicht zuletzt auch bildlich aus: Entsprechend dem Konsors-Gedanken zeigen Abbildungen der ottonischen und salischen Herrscher das Herrscherpaar, wobei die Herrschergattin nicht mehr wie bisher, wenn überhaupt, kleiner als der Mann zur Linken des Throns erscheint, sondern gleich groß und damit gleichberechtigt zur Rechten. 35 Fassen wir den Überblick über die Stellung der frühmittelalterlichen Frau zusammen, so zeigt sich, daß die damalige Frau keineswegs nur auf eine vaginalweibliche Rolle als Hausfrau und Mutter beschränkt war. Insbesondere als Klosterfrau, als Grundbesitzerin sowie als (Mit)Herrscherin war sie durchaus in der Lage, auch ihre klitoridal-manngleiche Seite zur Geltung zu bringen. Am weitesten gingen die klitoridalen Verwirklichungsmöglichkeiten der damaligen Medea-Frau natürlich im geschützten Bereich des Klosters. Während von der weltlichen Grundbesitzerin, Regentin oder Statthalterio erwartet wurde, daß sie auch ihren weiblichen und Mutterpflichten genügte, entfiel für die Klosterfrau dieser Aspekt von vorneherein. Durch das Abschneiden ihrer Haare und die Verhüllung ihres Körpers dokumentierte die Nonne unmißverständlich ihre unweiblich-manngleichen Bestrebungen eines rein Animus-bestimmten Lebens. Was man der frühmittelalterlichen Nonne auf diesem Wege alles zutraute, beweist die hochmittelalterliche Geschichte von der "Päpstin J ohanna", 36 einer als Mönch verkleideten Nonne, der es 855 gelungen sein soll, über zwei Jahre unerkannt als Papst Johannes VIII. den Stuhl Petri zu bekleiden. Während sich so die frühmittelalterliche Frau auf den verschiedensten Gebieten als dem Mann seelenverwandte ebenbürtige Anima erwies, lief sie auf dem Gebiet der Bildung ihrem männlichen Partner sogar den Rang ab. Schon rein quantitativ gesehen, konnten im Frühmittelalter mehr Frauen als Männer lesen und schreiben. Dies lag zum einen daran, daß es mehr Nonnen, als Mönchsklöster gab, in denen Lesen und (Ab)Schreiben gleichermaßen gepflegt wurde. Zum anderen lag es daran, daß auf den Burgen und Höfen Bildung, die ja noch keine Ketsch 1984, 364 mit Nachweisen. S. die Tabelle bei Ketsch 1984, 382. 35 S. etwa die Abbildung bei Ketsch 1984, 361. 36 Dazu Emmanuil Roidis: Päpstin Johanna, Athen 1866; dt. Neuausgabe Mindelheim (Sachon) 1985. 33
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abstrakt-wissenschaftliche in unserem neuzeitlichen Sinne war, im Grunde eher als für Frauen schicklich galt, während für Männer Handfesteres wie das Waffenhandwerk im Vordergrund stand. Herbert Grundmann schreibt in diesem Zusammenhang:37 "Die Frauen der mittelalterlichen Gesellschaft, auch wenn sie nicht im Kloster leben, verstehen sich großenteils aufs Lesen wie sonst im allgemeinen nur der Klerus, während die Männer des Laienstandes nur ausnahmsweise lesen konnten." So erklärt es sich auch, daß das erste christliche Erziehungshandbuch, nämlich Dhuodas "Manual für meinen Sohn", Mitte des 9 . Jahrhunderts von einer Frau geschrieben wurde, sowie, daß selbst noch die höfische Literatur des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts sich vorzugsweise an Frauen richtete. Noch einmal Grundmann: 38 "Denn anders als die Ritter und Fürsten und selbst die Dichter dieser Zeit können die Frauen der höfischen Gesellschaft anscheinend alle lesen; von ihnen erwartet man jedenfalls und setzt voraus, daß sie lesen können; es gehört sich für eine Dame." Dem frühmittelalterlichen Mann muß diese weitgehende klitoridale Ebenbürtigkeit oder gar Überlegenheit der damaligen Frau als selbstverständlich oder doch zumindest als akzeptabel erschienen sein. Denn noch nirgends finden sich misogyne Äußerungen, wie sie ab dem 11. Jahrhundert gang und gäbe sein würden. Was die Motivation der frühmittelalterlichen Frau zur Verwirklichung ihrer klitoridalen Animus-Seite anlangt, dürfte, von der partnerschaftliehen Akzeptanz des Mannes abgesehen, deren allertiefster Grund in der gleichen psycho-biologischen Grundkonstellation liegen, die schon den Fortschritt der Tochter des Maternats aus der sie primär anal besetzenden Immanenz des Großen Mütterlichen hin zur klitoridalen Selbstverwirklichung an der Seite eines sich gleichfalls aus dieser Immanenz befreienden heldischen Mannes entscheidend mitbestimmt hat (s. o. S. 56 ff.). Gemeint ist der Umstand, daß die Mutter grundsätzlich ihren Sohn ihrer Tochter vorzieht, weil der Sohn der faszinierend Andere mit dem Penis ist, während die Tochter eher als uninteressant-gleiches penisloses Double erfahren wird (s.o. S. 26 f.), weshalb diese bestrebt ist, mit und neben dem (geliebten) Mann ihre klitoridale, manngleiche Seite zu verwirklichen, um nur ja nicht bloß Weib zu sein und so vielleicht doch noch gleichfalls die Liebe der Mutter zu erringen. Eindeutige Beweise für die libidinöse Benachteiligung der frühmittelalterlichen Tochter seitens ihrer Mutter lassen sich natürlich nicht finden, zumal das Phänomen Mutterliebe damals und auch später noch keineswegs so im Zentrum der 37 Die Frauen und die Literatur im Mittelalter, 1936; zit. nach Ketsch 1984, 254. 38 Ebenda. Zit. nach Ketsch 1984, 256. S. auch Schirmer 1984, 14.
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Dritter Teil: Medea-Morphosen im Abendland
Aufmerksamkeit gestanden hat wie heute. Immerhin sprechen gewichtige Umstände dafür, daß auch die frühmittelalterliche Mutter ihrer Tochter gegenüber nicht anders empfunden hat als Mütter zu anderen Zeiten. Mehr noch als Verhütung und Abtreibung war im Frühmittelalter die Praxis der Kindstötung bzw. -aussetzung als Mittel der Familienplanung verbreitet. 39 Wie sich aus dem zahlenmäßigen Ungleichgewicht der Überlebenden zu Lasten der Mädchen im Verhältnis von ca. 3:2 ergibt, sind in diesem Zusammenhang ständig mehr Mädchen als Jungen getötet bzw. ausgesetzt worden. 40 Üblicherweise wird diese fatale Bevorzugung von Jungen über Mädchen mit wirtschaftlichen Argumenten begründet, so etwa damit, daß in der agrarischen Gesellschaft Söhne ein Plus darstellten, wegheiratende bzw. zu Hause sitzen bleibende Töchter hingegen eher ein Minus. 41 Ohne derartige wirtschaftliche Überlegungen bagatellisieren zu wollen, ist hier aber doch darauf hinzuweisen, daß das für die Töchter so fatale Ergebnis auch etwas mit der emotionalen Einstellung der damaligen Mütter zum Geschlecht ihrer Kinder zu tun gehabt haben muß. Das Überleben von Kindem jedenfalls in bäuerlichen Kreisen hing damals nahezu vollständig von der positiven bzw. negativen Einstellung der Mutter zu ihren Neugeborenen ab. Lehnte sie ihr Kind ab, so stillte sie es einfach nicht ausreichend oder erdrückte es "aus Versehen" im Schlaf, bzw. setzte es, vor allem wenn es unehelich war, einfach aus. 42 Es spricht also vieles dafür, daß die geringere Überlebenschance der Töchter auch den tieferen Intentionen der insofern praktisch das Heft in der Hand haltenden Mütter entsprochen hat. Aber selbst wenn wir annehmen wollten, daß die betreffende Mutter zu all ihren tochterfeindlichen Handlungen gezwungen worden ist, müßten wir dann nicht erwarten, daß sie die am Leben gelassene "gerettete" Tochter umso liebevoller umsorgt haben würde? Gerade dies ist aber offensichtlich nicht der Fall gewesen. Wie aus den Steuerlisten der Klostergüter von St. Viktor bei Marseille aus dem frühen 9. Jahrhundert hervorgeht, stillten vielmehr auch damals, genauso wie heute (s.o. S. 24), die Mütter ihre männlichen Babies doppelt so lange wie ihre Töchter, u. z. die Söhne zwei Jahre, die Töchter aber nur ein Jahr. 43 An der libidinösen Benachteiligung der Tochter auch durch die frühmittelalterliche Mutter als tiefenpsychologischer Basis des töchterlichen Bestrebens nach klitoridaler Selbstverwirklichung ist daher insgesamt wohl kaum zu zweifeln.
39 Allg. dazu insbes. Emily Coleman: Infanticide in the Early Middle Ages; in Stuard 1976, 47 ff. 40 De Mause 1974, 51; Ketsch 1984, 210 f.; Coleman in Stuard 1976, 49 f . 41 So auch Coleman, ebenda 55. 42 S. die Nachweise bei Ketsch 1984, 211. 43 Quellennachweis bei Coleman in Stuard 1976, 60.
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3. "Weg vom Fenster" ab dem Hochmittelalter Das späte 11. und das 12. Jahrhundert bilden sozusagen endgültig die Wasserscheide für die bis dahin auf wesentlichen Gebieten zu konstatierende weitgehende Gleichgewichtigkeit und Wertschätzung der frühmittelalterlichen auch-klitoridalen Frau. Denn ab dieser Zeit, dem Beginn des sog. Hochmittelalters, ging es mit ihrer Stellung in allen Bereichen bergab, bis die Frau im Spätmittelalter mit dem in den italienischen Stadtstaaten zuerst beginnenden 44 Verschwinden der der Straße zugewandten offenen Loggia in den Bürgerhäusern in der Tat "weg vom Fenster" war. Die Grundeigentümerstellung von Frauen kulminierte im 10. und 11. Jahrhundert, um danach kontiniuierlich abzufallen. Gleiches galt für die Matronymie, also die Benennung der Familie nach dem Namen der Frau. 45 Besonders auffallend ist der Verfall der Machtstellung der hochmittelalterlichen Frau im Bereich ihrer politischen Mitwirkung. Diese hatte im 10. und frühen 11. Jahrhundert ihren absoluten Höhepunkt erreicht (s.o. S. 199). In der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts ging es damit aber bereits wieder bergab. So war Kaiserin Agnes, die 1056 die Regentschaft für ihren Sohn Heinrich IV. übernommen hatte, die letzte Regentin ihrer Art. Seither übte in Deutschland keine Frau mehr die Reichsregentschaft aus. Die das politische Gewicht der Mitherrseherin dokumentierende, bislang gebräuchliche Mitunterzeichnung kaiserlicher und königlicher Urkunden endet nahezu total mit der Thronbesteigung Friedrich Barbarossas im Jahre 1152. 46 Da die Herrschergattin nichts mehr zu sagen hatte, hatte sie auch nicht mehr zu unterschreiben. Peter Ketsch (1984, 364 f.) schreibt in diesem Zusammenhang: " ... so wurde während der Stauferzeit die politische Stellung der Königin immer bedeutungsloser. Die Konsors-Formel trat nur noch verkürzt auf und verschwand schließlich ganz. Die staufiseben Herrschergattinnen vermochten mit Ausnahme von Beatrix v. Burgund . . . auf die Politik im Reich keinen maßgeblichen Einfluß mehr auszuüben. Die Interventionen durch die Königinnen wurden immer seltener. Regentscharten oder Statthalterschaften im Reich wurden von ihnen nicht mehr übernommen. Die Herrschergattinnen blieben seither von der Beteiligung an der Reichsgewalt ausgeschlossen, sofern sie sich nicht in Einzelfällen aufgrund ihrer Persönlichkeit oder besonderer Umstände zu profilieren vermochten. Ihre offizielle Funktion wurde zunehmend auf die Teilnahme an Feierlichkeiten, Festlichkeiten und Versammlungen beschränkt. Timen kamen keine politischen, sondern allenfalls repräsentative Aufgaben zu. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung überliefert meist nur noch die äußeren Vorzüge einer Königin und ihre Rolle als Mutter ..."
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Dazu Stuard 1976, 5. Dazu Herlihy in Stuard 1976, 17 ff. S. die bei Ketsch 1984, 382 abgedruckte Aufstellung.
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Dritter Teil: Medea-Morphosen im Abendland
Im Jahre 1340 wird die Regentschaft von Frauen bereits grundsätzlich als "ungehörig" empfunden. 47 Und in der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356 heißt es schließlich unmißverständlich: 48 " ... die Kaiserin oder römische Königin soll mit ihrem fürstlichen Schmuck bekleidet hinter dem römischen König oder Kaiser und auch hinter dem König von Böhmen, der dem Kaiser unmittelbar folgt, in angemessenem Abstand . .. sich zum Ort der Sitzung begeben . . . Ferner soll der Tisch des Kaisers oder Königs so hergerichtet werden, daß er sechs Fuß höher stehe als die andern Tafeln oder Tische des Saales; an diesem Tisch soll außer dem römischen Kaiser oder König auf einem feierlichen Reichstag sonst niemand sitzen. Der Sitz aber und der Tisch der Kaiserin oder Königin soll ihm zur Seite im Saal gerüstet werden, dergestalt daß dieser Tisch drei Fuß tiefer stehe als der des Kaisers oder Königs ..." Im wesentlichen gleichgelagert erscheint der Verfall der Stellung der hochmittelalterlichen Frau im Klosterleben. Bis ins 11 . Jahrhundert hinein hatte die Äbtissin eines (reichsunmittelbaren) Klosters bzw. Doppelklosters über beträchtliche Macht und Ansehen verfügt (s.o. S. 198). Ab dem 12. Jahrhundert jedoch wurde die Leitung eines Doppelklosters durch eine Frau zunehmend als untragbar empfunden. Selbst der eher frauenfreundliche Abaelard schrieb in diesem Zusammenhang im 8. Brief seines Briefwechsels mit Heloise: 49 "Und ich glaube, daß in den Nonnenklöstern die Ordensregel strenger gehalten wird, wenn dieselben der Leitung und Sorgfalt geistlicher Männer unterstellt sind und für Schafe und Widder ein und derselbe Hirte eingesetzt wird, so daß derjenige, der über die Männer gebietet, auch über die Frauen die Aufsicht führe und so die apostolische Verordnung bestehen bleibe: ,Der Mann ist des Weibes Haupt, wie Christus des Mannes Haupt ist ... ' " Dementsprechend wurden im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts die Doppelklöster in ihrer bisherigen Form aufgelöst und männlicher Führung unterstellt. 50 Aber auch die Neugründung von reinen Frauenklöstern ging spürbar zurück. So wurde im Zusammenhang mit der cluniazensischen Reform (näheres dazu u. S. 212) eine Fülle von Männerklöstern neu gegründet, jedoch nur ein Frauenkloster, und auch dieses nur, um die Frauen aufzunehmen, deren Männer cluniazensische Mönche geworden waren. 51 Auch durften diese sitzengelassenen Frauen sich nicht selbst verwalten, sondern wurden unter Aufsicht eines vom Abt von Cluny ernannten Priors gestellt. Auch die im 12. und 13. Jahrhundert neu entstandenen Orden der Prämonstratenser, Zisterzienser, Franziskaner und Dominikaner, denen zunächst große Scha47 48
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S. die bei Ketsch 1984 unter Nr. 447 abgedruckte Quelle. Abgedruckt bei Ketsch 1984 unter Nr. 448. Zit. nach Ketsch 1984, 286. Einzelheiten bei Shahar 1981, 43 f.; Ketsch 1984, 296. Bullough 1973, 160.
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renvon Frauen zugeströmt waren, verhielten sich im Verlauf zunehmend restriktiv. Soweit wie möglich, lehnten sie die weitere Aufnahme von Frauen in ihre Klöster bzw. einen weiteren Anschluß von Frauenklöstern an ihre jeweiligen Organisationen überhaupt ab. 52 Die bereits angeschlossenen Konvente wurden schnellstmöglich der unmittelbaren Aufsicht und Bevormundung durch die jeweiligen Ordensoberen unterstellt, indem die einstmals unabhängigen Äbtissinnen auf die Rolle von untergebenen Priorinnen oder gar nur Magisterinnen zurechtgestutzt wurden. 53 Dem Machtverlust des Frauenklosters insgesamt entsprach auch eine Wandlung des Erscheinungs- und Berufsbildes der Nonne. Ab dem 13. Jahrhundert war die typische Klosterfrau weniger und weniger eine selbstbewußte Adelige, die sich auch im Kloster bedienen ließ und sich hauptsächlich ihrer Bildung widmete, sondern zunehmend eine geduckte Bürgerliche, die gar keine Zeit mehr hatte, sich ihrer Bildung zu widmen, weil sie immer mehr als Arbeitsbiene,insbesondere in der Kranken- und Armenpflege eingesetzt wurde. 54
111. Die Medea-Frau im Frühpatriarchat Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum ab dem Hochmittelalter die Frau immer weniger als im wesentlichen gleichwertige Partnerin, die auch ihre klitoridale Seite zur Entfaltung bringen konnte, akzeptiert wurde. Aus soziologischer Sicht läßt sich hierzu darauf verweisen, daß mit der territorialen Verfestigung der Lehnsbeziehungen und der Erblichkeit des Lehnsbesitzes ab dem späten 11. Jahrhundert die ein Lehen erbende Witwe oder Tochter zunehmend als Bestandteil des Lehens verstanden wurde, über den der Lehnsherr nach seinen Interessen verfügen konnte. Praktisch bedeutete das, daß die Lehnsträgerio einen dem Lehnsherrn genehmen Mann zu heiraten hatte, 55 bzw. dem Lehnsherrn ihre eigene Entscheidungsfreiheit, den hochherrschaftlichen Kandidaten abzulehnen, einen Partner ihrer Wahl zu heiraten oder überhaupt unverheiratet zu bleiben, regelrecht abkaufen mußte. 56 Ihrem Wesen nach bedeutete diese Praxis aber nichts anderes, als daß die Frau vom selbstbestimmenden LiebesSubjekt, das sie ja gerade auch nach Auffassung der frühmittelalterlichen Kirche sein sollte, wiederum zum fremdbestimmten Sexual- und Herrschaftsobjekt wurde, das seinen festen Preis hatte. 52 Dazu Brenda M. Bolton: Mulieres Sanctae; in Stuard 1976, 143 ff., sowie Schirmer 1984, 58 ff. 53 S. dazu die Bulle von Papst lnnozenz IV. für die dem Dominikaner-Orden unterstellten deutschen Frauenklöster, bei Ketsch 1984, Quelle 330. 54 Dazu Putnam 1910, 102 f.; Shahar 1981, 55 f. 55 In diesem Zusammenhang Putnam 1910, 117: "In fact, it could be said ofthe Iady as truly as of the serf that she "went with the land". 56 Einzelheiten bei Gies 1978, 27 f.; Shahar 1981, 125 f.
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Weiterhin läßt sich für die hochmittelalterliche Abwertung der Frau anführen, daß das sich ab dem 13. Jahrhundert herausbildende, und die feudale Ämterstruktur allmählich ablösende Berufsbeamtenturn insbesondere in den sich nunmehr stürmisch entwickelnden Städten eine weitere gleichberechtigte Mithilfe der Frau entbehrlich machte 57 So zutreffend diese Begründungen im einzelnen auch sein mögen, so treffen sie letztlich doch nicht das Wesentliche. Feudalismus muß nicht unbedingt zu einer Entrechtung der Frau führen. 58 Auch ist an sich nicht einzusehen, warum die neuen post-feudalen Beamtenfunktionen nicht auch gleichermaßen kompetenten Frauen übertragen werden konnten. Damit territorial verfestigtes Lehnssystem bzw. Städtekultur diese der Frau abträglichen Wirkungen haben können, muß zu den sich wandelnden soziologischen Gegebenheiten noch ein gewandeltes Frauenbild, eine diesbezüglich gewandelte Imagination und Ideologie als rechtfertigender Untergrund hinzukommen.
1. Der abendländische Drachenkampf-Mythos In der Tat läßt sich ab dem 11. Jahrhundert die Herausbildung einer neuen Empfindungs-, Sicht- und Denkweise in Bezug auf das Geschlechterverhältnis konstatieren, in der sich das Männliche über das bis dahin mehr oder weniger als gleichwertig betrachtete Weibliche überhebt, dieses kastriert, es daraufhin nur mehr als zweitklassig anerkennt und in seinem Sinne umfunktioniert - eine neue Einstellung, die unmißverständlich die Phase unseres abendländischen Frühpatriarchats einleutet. Diese neue Einstellung ist wiederum, wie schon in der antiken Kulturrunde, so auch in unserer, in ihrer ganzen Komplexität von Innerlich-Psychischem und Äußerlich-Sozialem, von noch halb magisch-Unbewußtem und schon halb rational-Bewußtem, von noch bloß Potentiellem und schon ansatzweise Realisiertem, sinn-bild-haft in der Symbolik des Drachenkampf-Mythos enthalten. Dabei kommt in der unterschiedlichen Gestaltung des abendländischen Mythos im Vergleich zum antiken gerade auch das wesentlich Andere und Neue in der abendländischen frühpatriarchalen Geschlechterbeziehung im Vergleich zur antiken zum Ausdruck. Der abendländische Mythos vom drachenbezwingenden Helden ist notwendigerweise germanisch-christlich, da eine Rezeption der antiken Mythologie erst Einzelheiten bei Shahar 1981, 24, 155 f. S. etwa das Gegenbeispiel der gleichfalls feudalistisch struktufiert gewesenen Nayar im indischen Kerala, bei denen die Frau eine mächtige matemale Stellung innehatte; dazu K. Gough in Schneider I Gough 1961, 345 ff. 57 58
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ab der frühneuzeitlichen Renaissance einsetzt, und damit für die frühpatriarchalen Gestaltungs- und Ausdrucksbedürfnisse sozusagen "zu spät" kommt. So wie es sich bei den griechischen Heldenmythen genetisch um Material aus der mykenischen Heldenzeit handelt, das im griechischen Frühpatriarchat seine endgültige Form gefunden hat (s. o. S. 67), handelt es sich auch bei den germanischen Heldenmythen im Kern um den Niederschlag von Rückerinnerungen an die glanzvollen Heldentaten der am spätrömischen Reich heroisch zerbrochenen und untergegangenen Völker, insbesondere der Goten und Burgunder. Ursprünglich in der Form des Heldenliedes zur Verherrlichung zeitgenössischer bzw. erst kürzlich verstorbener Helden wohl bereits in der Völkerwanderungszeit selbst entstanden, 59 wurde das Heldenmaterial in Form der vorwiegend bäuerlichen "oral poetry" durch die dunklen Jahrhunderte des Frühmittelalters hindurch bewahrt, wobei es sich dabei durch Idealisierung, Verklärung und Wunscherfüllung immer mehr mythisierte und von seinem historischen Kern entfernte. 60 Seine endgültige Form fand das Material dann in der hochmittelalterlichen Ritterzeit des 12. und 13. Jahrhunderts als schriftliches Heldenepos, 61 in welcher Form es uns heute ausschließlich zugänglich ist. Wie die griechischen Heldenmythen, so stellen also auch die germanischen eine die dunklen, mit der neuen Kultur bereits schwangeren Jahrhunderte des "dark age" überbrückende, fruchtbare Verbindung dar zwischen der noch dem Alten halb Satellitenhaft angeschlossenen befruchtenden Heldenzeit und der die Geburt des Neuen repräsentierenden eigenen zeitgenössischen Ritterzeit. Wie der griechische Heldenmythos bewahrt damit auch der germanische vielfach noch Details der konkreten Lebensumstände der Völkerwanderungszeit. Andereseits atmet er unmißverständlich den Geist der eigenen neuen, d. h. aber eben auch christlichen Zeit. Mit anderen Worten, alle Heldenmythen, wie sie uns in der schriftlichen Form des Epos vorliegen, sind bereits christlich durchtränkt. Dies gilt selbst schon für das älteste Epos, den um 1000 zu Papier gebrachten angelsächsischen Beowulf. 62 Aufgrund dieser christlichen Durchdringung der germanischen Heldenmythen ergeben sich nun aber gerade auch für den uns besonders interessierenden Drachenkampf-Mythos im Vergleich zur antiken Vorlage die entscheidenden Weiterungen und Unterschiede. So umfaßt nunmehr das Sinnbild des Drachen, zusätzlich zu seinen sonstigen soziopsychologischen frühpatriarchalen Bedeutungen der anarchisch-gefährlichen Natur und des phallisch- bzw. klitoridal-bedrohlichen mächtigen Weiblichen 59
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Martini 1984, 4; Schneider 1962, 11. Dazu Chadwick 1912, 6. Dazu Wolters/Petersen 1922, 17 f. Wild 1962, 43.
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Dritter Teil: Medea-Morphosen im Abendland
(s.o. S. 75), auch die Bedeutung der Versuchung und möglichen Verführung zur Sünde, 63 wobei diese christliche Bedeutung des Drachens naturgemäß bei den christlichen Drachenkämfem umso stärker in den Vordergrund tritt. Über diese Symbolausweitung hinaus ergeben sich im Vergleich zum antiken Drachenkampf-Mythos zusätzlich gewichtige Unterschiede. Alle Drachen der abendländischen Drachenkampf-Mythen werden ausnahmslos umgebracht, und nicht nur wie der Medea-Drache eingeschläfert! So beispielsweise die Drachen im Beowulf-Epos, die Drachen, die Jung-Siegfried erschlägt, oder auch der Drache, den der Hl. Georg als der christliche Drachentäter par excellence bezwingt. Schon dieser elementare Unterschied weist auf eine im Vergleich zum antiken "Setting" deutlich gesteigerte Aggressivität des abendländischen Helden hin. Des weiteren vollbringt der abendländische Drachentäter seine Heldentat in allen Fällen ganz alleine aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit ohne die Mithilfe einer eventuell zu befreienden Prinzessin. Das bedeutet aber: Nunmehr ist nicht einmal im Ansatz die Idee einer brüderlich-schwesterlichen Held-AnimaBeziehung zur gemeinsamen Überwindung des Drachen zu erkennen. Jetzt herrschen gleich klare Verhältnisse. Der Mann allein erschlägt den Drachen, und die eventuell zu befreiende Prinzessin, falls es denn überhaupt um sie geht, worauf gleich näher einzugehen ist, ist lediglich passiv abwartendes bis ängstliches Objekt der Befreiung. Damit aber erscheint im Vergleich zur antiken Konstellation das Beziehungsund Kräfteverhältnis zwischen Drache und Held signifikant verschoben, sei es, daß der Held nunmehr dem Drachen eher gewachsen ist, sei es, daß er nun stärker gefordert ist. Der erste Aspekt trifft insbesondere auf die noch eher vorchristlich-germanischen Drachentäter wie Beowulf und Siegfried zu. Sie bedürfen keiner Mithilfe einer Anima, weil sie ihre Heldentat von vorneherein allein schaffen können. Darin mag die sozio-psychologische Grundgegebenheit nachklingen, daß die gemäßigt-patriarchale germanische Agrar-Gesellschaft ja nicht aus matemalen Verhältnissen erwachsen ist, wie die mykenisch-griechische, sondern aus einer von vorneherein mehr oder weniger egalitären Jäger-Sammler-Kultur, weshalb also der weibliche Drache von vorneherein niemals so mächtig, bzw. der Held ihm gegenüber immer schon stärker war. Der zweite Aspekt gilt speziell für den bereits christlichen Drachentöter. Er darf sich keiner weiblichen Mithilfe bedienen, weil er den Drachen ganz alleine bezwingen muß. Insofern als der christliche Drache ja zuvörderst der Drache der Versuchung und Verführung ist, diese aber gerade vom Weib- personifiziert
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Gemäß Kap. XII, 9 der Apokalypse des Johannes.
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in Eva und der Schlange - ausgeht, muß der christliche Drachentöter seine Tat ohne, ja geradezu gegen das Weib vollbringen. Ein weiterer signifikanter Unterschied zum antiken Drachenkampf-Mythos liegt darin, daß beim abendländischen Drachenkampf die Gewinnung einer Prinzessin keineswegs im Vordergrund des Interesses des Helden steht. Vielmehr geht es nunmehr in der Regel lediglich darum, dem Drachen einen von diesem gehorteten und durchaus materialistisch zu verstehenden wertvollen Schatz abzujagen. In diesem Sinne sind die Drachen, die der alte Beowulf (Beowulf V. 2210 ff.), Siegfrieds Vater Sigemund (Beowulf V. 884 ff.) sowie Jung-Siegfried selber umbringen, 64 allesamt ausschließlich Schatz-Drachen. In dieser Beraubung eines schatzhütenden Drachen mögen Reminiszenzen an die die Reichtümer der Spätantike plündernden Helden der Völkerwanderungszeit nachklingen. In unserem Zusammenhang wichtiger ist jedoch eine tiefenpsychologische Dimension. Wie psychoanalytische Traumdeutung aufzeigen konnte, ist im Traum-Schatz in der Regel ein anal-aggressives und -possessives Element des Unterwerfen-, Bemächtigen- und Besitzenwollens mitsymbolisiert. Insofern aber als der Mythos metaindividueller Kollektivtraum einer erwachenden Kultur ist, 65 läßt sich die psychoanalytische Deutung des Schatzes bei aller gebotenen Vorsicht 66 auch für die Interpretation des mythischen Schatzes fruchtbar machen. Von der Symbolbedeutung des Drachens als noch ungezähmter Natur ausgehend, kommt somit bei dem Kampf mit dem Schatzdrachen die abendländische Motivation zur Unterwerfung und "Ausraubung des fruchtbaren Schoßes der Mutter Erde" (Kurnitzky 1978, 87), der Antrieb zum biblischen "Macht Euch die Erde untertan!" (Gen. I, 28) mythopsychologisch sinnbildhaftzum Ausdruck. Um die Befreiung einer Prinzessin als späterer Liebespartnerin des Helden geht es unter den abendländischen Drachentötern soweit ersichtlich allein bei Siegfried, und selbst bei dieser Gestalt noch nicht bei dem "klassischen" Siegfried der nordischen Edda oder des Nibelungenliedes, sondern erst beim "späten" Siegfried des erst nach 1500 zu Papier gebrachten volkstümlich-märchenhaften "Liedes vom Hürnen Seyfrid". 67 Auf diesen Seyfrid ist aber das an sich Siegfriedfremde Motiv der Erlösung der Jungfrau seinerseits wiederum offensichtlich erst aus dem St. Georgs-Mythos übertragen worden. 68 Werfen wir daher einen Blick auf den Hl. Georg als den abendländischen drachenbezwingenden JungfrauenBefreier schlechthin. So jedenfalls nach der älteren nordischen Edda; dazu etwa Peterich 1938, 91 ff. Dazu Jung 1952, 45 unter Bezugnahme auf Otto Ranks "Der Mythos von der Geburt des Helden", 1909, 7. 66 Dazu H. Zinser: Das Problem der psychoanalytischen Mytheninterpretation; in Schlesier 1985, 116 ff. 67 Hrsg. von W. Golther 1911, Teil II, Strophe 16 ff. 68 Dazu Golther 1911, XXXVIII. 64
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Dritter Teil: Medea-Morphosen im Abendland
a) Der St. Georgs-Mythos Der Georgs-Mythos geht zurück auf einen römischen Offizier aus Kappadozien, der unter Diokletian um das Jahr 305 den Märtyrertod erlitten haben soll. Ursprünglich hatte Georg mit einem Drachen nichts zu tun. Selbst während der Zeit des 1. Kreuzzuges wurde Georg immer noch lediglich als christlicher Ritter verehrt. Als Drachenkämpfer und Befreier einer Prinzessin erscheint Georg im Abendland 69 erstmalig im 12. Jahrhundert in einem Prolog zu seiner Passionsgeschichte. 70 Die klassisch gewordene Darstellung des Georgs-Mythos gelang dann überhaupt erst dem Dominikaner Jacobus de Voragine in seiner "Legenda aurea" von 1263-73 (S. 325 ff.). Danach bedrohte ein die Luft mit seinem Gifthauch verpestender Seedrache die Stadt Silena in Libyen. Täglich mußten ihm zunächst Schafe, sodann Menschen geopfert werden. Schließlich war die Reihe an der Tochter des Königs. Als diese sich schon zum Opfer bereitete, begegnete ihr der Hl. Georg, ein ,,keuscher Jüngling", gerade noch rechtzeitig, um sie zu retten. Mit seiner Lanze traf Georg den Drachen so schwer, daß dieser zu Boden stürzte. Daraufhin sprach Georg zu der Jungfrau: ",Nimm deinen Gürtel und wirf ihn dem Wurm um den Hals, und fürchte nichts'. Sie tat es, und der Drache folgte ihr nach wie ein zahm Hündlein" (327).
Bis zu dieser Stelle erscheint der Georgs-Mythos im Wesentlichen durchaus noch dem Jason-Medea-Mythos gleichgelagert. Davon abgesehen, daß im antiken Mythos Medea die aktive ist, die den Drachen einschläfert, während im abendländischen Georg die Lanze schwingt, erscheint in beiden Mythen der eingeschläferte bzw. gezähmte Drache als Teilaspekt der nunmehr (trieb)domestizierten Jungfrau. So wie Medea ihre klitoridal-bedrohliche Seite einschläfert, um sich dadurch Jason als befriedet-friedliche Gefährtin zuzuwenden (s. o. S. 62), drückt der dem Drachen um den Hals geworfene Gürtel der Jungfrau die Befriedung ihrer unbändigen Klitoridalität aus. 71 An dieser Stelle ist es allerdings mit den Gemeinsamkeiten der beiden Mythen auch schon zu Ende. Bei der Zähmung des Georgs-Drachen sollte es nämlich nicht bleiben. Denn als die Jungfrau mit dem gezälunten Drachen am Halsband in der Stadt erschien, erschrak das Volk und flüchtete daraus.
69 Die allererste bekannte Drachendarstellung von St. Georg findet sich auf einem Relief der armenischen Kirche von Achtamar aus dem 10. Jh.; Egli 1982, 224. 10 Dazu Wild 1962, 52. 71 Bei Kurnitzky, der eil~~ einfühlsame psychoanalytische Interpretation des GeorgsMythos aus der Sicht des Odipus-Koplexes bringt, heißt es in diesem Zusammenhang (1978, 115): "Wenn der Gürtel also symbolisch die gesellschaftliche Domestizierung des Triebs ausdrückt, ist es kein Wunder, daß der Drache, nachdem ihm die Königstochter ihren Gürtel um den Hals gelegt hat, ihr zahm wie ein Hündchen folgte."
B. Die einzelnen Phasen der Medea-Morphosen
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"Da winkte ihnen St. Georg und rief ,Fürchtet euch nicht, denn Gott der Herr hat mich zu euch gesandt, daß ich euch erlöse von diesem Drachen. Darum glaubet an Christum und empfanget die Taufe allesamt, so will ich diesen Drachen erschlagen'. Da ließ der König sich taufen und alles Volk mit ihm, und St. Georg zog sein Schwert und erschlug den Drachen ... St. Georgen bot der König unermeßliche Schätze an, aber der wollte sie nicht nehmen, sondern ließ sie unter die Armen teilen. Darnach gab er dem König gute Lehre .. . und ritt hinweg" (327 f.). Dieser 2. Teil des Georgs-Mythos umschreibt sinnbildlich das für die abendländische Kulturentwicklung entscheidend Neue. Der Drache wird nicht eingeschläfert, oder zur Not vom Helden auch erschlagen, um die Jungfrau für sich zu gewinnen, sondern als Belohnung für die Bekehrung zum Christentum und zur höheren Ehre Gottes. Der Siegespreis für den christlichen Drachentöter ist nicht die Liebe der Prinzessin, sondern beider Seelenheil. Zwischen Drachenkämpfer und Jungfrau gibt es keine partnerschaftliehe (Liebes)Beziehung. Der nach wie vor keusche christliche Held "reitet hinweg", und zurück bleibt das klitoridalkastrierte Weibliche, gespalten in den toten Drachen und die zwar überlebende, nunmehr aber rein vaginale, gleichfalls nach wie vor keusche und farblose Prinzessin. Dieser abendländische Ausgang des Drachen-Dramas stellt nun insgesamt zweifellos eine überwiegend aggressive und wenig libidinöse einseitige GewaltLösung dar. Andererseits erscheint in ihm die kulturfördernde Konstellation des patriarchalischen Ödipus-Komplexes besonders drastisch angelegt. Indem der christliche Jüngling zur höheren Ehre des Vater-Gottes sowohl den Drachen umbringt als auch auf die Prinzessin verzichtet, also sowohl mit dem Mutter-Drachen das Objekt inzestuöser Faszination aus dem Wege räumt, als auch auf reife genitale Sexualität verzichtet, schaltet er sich selbst als Lustwesen aus, und macht sich so zum sublimierungsfähigen und -willigen Träger einer einseitig männlich-orientierten patriarchalen Leistungskultur. Verbinden wir nun noch das Bild des keuschen St. Georg mit dem des schatzräuberischen Drachentöters, so haben wir auf mittlere Sicht alle mytho-psychologischen Aspekte einer erfolgreichen aggressiv-leistungsstarken patriarchalischen Kulturentwicklung vor uns. Allerdings läßt diese Entwicklung auf längere Sicht wiederum wenig Gutes erahnen. Denn letztlich kann sich die Intention, den Drachen umzubringen und zu berauben nur als halbstarke mytho-psychologische Wunschvorstellung erweisen, mit der Rache der in ihrer Substanz verwundeten Natur nur als umso grausamer, wie uns spätestens das heutige, regelrecht zornig wirkende Aufbäumen der geschundenen Drachenmutter Erde nur allzu deutlich erfahren läßt. In diesem Sinne sagen denn auch alle beraubten Schatz-Drachen den sie bezwingenden Helden Unheil und ein böses Ende voraus- und tatsächlich sterben auch, im Unterschied zu den antiken, alle abendländischen Drachenbezwinger eines tragischen Todes. 14*
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Dritter Teil: Medea-Morphosen im Abendland
Was war nun der psychisch-geistige Hintergrund dieses neuen männlichen Selbstverständnisses und des für die Frau so abträglichen Wandels im Geschlechterverhältnis, wie er im abendländischen Drachenkampf-Mythos und seiner Spaltung in toten Drachen und blässlich-keusche Jungfrau zum Ausdruck kommt? Schlagwortartig könnte man sagen: Die Wiederentdeckung des Christentums als dualistisch-asketischer Weltanschauung, nunmehr allerdings nicht, wie zum Ausgang der Antike, zur Weltvemeinung und -abkehr, sondern zur Weltgewinnung und -gestaltung: "Das Kloster schickte sich an, das Abendland zu regieren, die Mönchskutte wurde zum Krönungsmantel, und die strenge Härte und Entsagung wurden die Losung" (Freund 1960, 95).
b) Christliche Askese und Abwertung der Frau Die dunklen Jahrhunderte des Frühmittelalters waren auch in dem Sinne dunkle gewesen, daß trotz aller Bemühungen der Kirche und der "Benediktiner" Moral und Sitten noch weitgehend barbarisch und ungezügelt geblieben waren. Das Ideal der monogamen christlichen Ehe vermochte sich in der Praxis nur gegen erhebliche Widerstände allmählich durchzusetzen (s. o. S. 196). Polygamie und Konkubinat waren und blieben an der Tagesordnung. Triebeinschränkung aller Art, insbesondere aber sexuelle Enthaltsamkeit, galt kaum als Wert an sich. Dies galt selbst für die Kleriker - Priester waren vielfach verheiratet oder auch nur schlichtweg liiert, Kirchenführer hatten ihre Mätressen - , sowie das Leben in den Klöstern. Gerade auch in den zahlreichen, von Äbtissinnen geleiteten Doppelklöstern kam es immer wieder zu Aff