Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung: Eine Untersuchung zur Stellung des Deliktsopfers im Strafrechtssystem [1 ed.] 9783428525676, 9783428125678

Die Beteiligung des Deliktsopfers im Strafverfahren ist ein kriminalpolitisches Dauerthema. Den Gesetzgeber hat dies zum

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German Pages 380 Year 2008

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Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung: Eine Untersuchung zur Stellung des Deliktsopfers im Strafrechtssystem [1 ed.]
 9783428525676, 9783428125678

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 196

Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung Eine Untersuchung zur Stellung des Deliktsopfers im Strafrechtssystem

Von

Tino Kleinert

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

TINO KLEINERT

Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 196

Persönliche Betroffenheit und Mitwirkung Eine Untersuchung zur Stellung des Deliktsopfers im Strafrechtssystem

Von

Tino Kleinert

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Halle

Die Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg hat diese Arbeit im Wintersemester 2006 / 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-12567-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2006 / 07 von der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis September 2007 berücksichtigt werden. Herzlich danken möchte ich an erster Stelle meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Joachim Renzikowski, der mir in fachlicher wie menschlicher Hinsicht stets zur Seite stand. An seinem Lehrstuhl war zu jeder Zeit das für ein wissenschaftliches Arbeiten so wichtige freundlich-angenehme Klima gewährleistet, von dem ich zunächst als studentische Hilfskraft und anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter nachhaltig profitieren durfte. Herrn Prof. Dr. Christian Schröder ist für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens zu danken. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge“. Speziellen Dank schulde ich Christina, die mich auf allen Wegen begleitet und mir nicht nur durch aufmunternde Worte Rückhalt gibt. Zu besonderem Dank bin ich schließlich meinen Eltern verpflichtet, auf deren Zuspruch und Unterstützung ich mich in jeder Lebenslage verlassen konnte und kann. Ohne sie wäre nichts so, wie es ist. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. Halle, im September 2007

Tino Kleinert

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

III. Themenbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

A. Empirische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

I. Wirkliches und virtuelles Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1. Die Wiederentdeckung des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Kriminalitätsfurcht und Opferbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. Das wirkliche Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Das Erleben der Straftat als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

2. Opfereigene Strategien der Tatverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

a) Primäres Viktimisierungsstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

aa) Individuelle Verarbeitungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

bb) Gesellschaftliche Verarbeitungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

b) Erleben und Auswirkungen des Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

aa) Das Strafverfahren als Ursache für sekundäre Viktimisierungen . .

33

bb) Strafverfahren und Rachewunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3. Die „wahren“ Interessen der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

a) Die Untersuchung Kilchlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

b) Änderung des Erwartungshorizonts mit steigender Tatschwere . . . . . . . . .

38

c) Mitwirkung im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

aa) Einschätzung der Natur des bestehenden Strafrechtssystems . . . . . .

39

bb) Wunsch nach aktiver Gestaltung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

10

Inhaltsverzeichnis cc) Teilhabevorstellungen bei Opfern mit reinen Sachschäden . . . . . . . .

41

dd) Mitwirkungswünsche von Opfern mit Nicht-Sachschäden . . . . . . . .

42

d) Haltung gegenüber Verfahrenseinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

e) Opferentschädigung, Verfahrensdauer und tertiäre Viktimisierung . . . . .

44

III. Viktimisierungsschicksale als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit und Partizipation . . . . . . . . . .

49

I. Subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen als Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

1. Eigenständige Bedeutung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

2. Gleiche Beiträge im sozialen Austausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II. Verfahrensmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

1. Eigene Teilhabe und Leistung als Bezugspunkte von Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

a) Das Self-Interest-Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

b) Schwächen des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Das Group-Value-Model von Lind und Tyler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

a) Legitimität durch wechselseitige Anerkennung zwischen Gruppe und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

b) Group-Value-Theory als Beschreibung realer Bedingungen? . . . . . . . . . .

57

3. „Legitimation durch Verfahren“ nach Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

4. Suche nach einem gemeinsamen Nenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

5. (Nicht-)Nullsummenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

a) Nullsummenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

b) Nicht-Nullsummenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

c) Zur Eignung des Spiel-Modells bei der Analyse des Strafverfahrens . . .

68

C. Das strafrechtliche Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

I. Rechtsgüterschutz als Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

1. Die naturalistisch-positivistische Rechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Inhaltsverzeichnis

11

2. Etatismus, utilitaristische Ethik und Entindividualisierung des Rechts . . . . .

78

a) Der Etatismus Bindings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

b) Die Aufgabe des Rechts im Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3. Zur Rolle des Verletzten in einem rein objektiven Rechtsverständnis . . . . . . .

81

4. Personale Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

5. Funktionale Strafrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

6. Würdigung des Schulenstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

II. Strafrecht als limitiert-akzessorisches Schutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

1. Individualität und Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

a) Subjektive Rechte und materielle Rechtszuweisungsordnung . . . . . . . . . .

97

b) Subjektive Rechte als Basis einer freiheitlichen Rechtsordnung . . . . . . . .

99

aa) Subjektive Rechte als Legitimität stiftende Notwendigkeit . . . . . . . . 100 bb) Verbürgung subjektiver Rechte als Verkörperung rechtspolitischer Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Phänomenologie und Wirkweise subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Die Verwirklichung subjektiver Freiheitsrechte durch die Privatrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 aa) Normative Verhaltensbefehle kraft Setzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Durchsetzung subjektiver Rechtspositionen als Wahrnehmung von individueller Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (1) Zur Möglichkeit privativer Konfliktbewältigung . . . . . . . . . . . . . . 108 (2) Trennung zwischen rechtszuweisender materieller Verhaltensnorm und formeller Zuständigkeit hinsichtlich ihrer Aufrechterhaltung und Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3. Subjektive Rechte und limitiert-akzessorische Natur des Strafrechts . . . . . . . 114 a) Die Straftat als rein quantitative Steigerung zivilen Unrechts . . . . . . . . . . 114 b) Die Straftat als Unrechtsverwirklichung sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Grundsatz der limitierten Akzessorietät als Zeichen des Schutzes subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4. Die Straftat als Läsion gleicher Freiheitssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Strafrecht als freiheitssichernde Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

12

Inhaltsverzeichnis b) Zur Begrenzungsfunktion subjektiver Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Verbot moralischer Bevormundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Abwesenheit originär strafrechtlicher „Güter“ und „Interessen“ . . 120 5. Die Auslösung strafrechtlicher Zwangsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Rechtsverletzung als Enttäuschung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Eigenverantwortung und Privatinitiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Straftat als Aufhebung des Basisvertrauens in die Aufrechterhaltung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Versuchsstrafbarkeit und Gefährdungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 dd) Spezialfall Bagatelldelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 I. Germanisches Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Frühphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Die Hausgemeinschaft als Verletzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Von der Hausgemeinschaft zur Sippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 c) Kollektiver Ehrenschutz, Volksreligion und Rachebedürfnis . . . . . . . . . . . 135 d) Von der Fehde zum Sühnevertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Rechtsgang vor der Volksversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Klageerhebung und Verhandlungsriten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 cc) Erfolgsaussichten des Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 dd) Ziel des Verfahrens: Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 ee) Handhaftverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Spätphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Von der kollektiven Ehre der Sippe zur kollektiven Sicherheit des Stammes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 aa) Königtum und Heerbann – Vom Sippen- zum Königsheil . . . . . . . . . 144 bb) Bußensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Angriffe auf Gemeinschaftswerte als Keim eines öffentlichen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Inhaltsverzeichnis

13

II. Rechtsentwicklung im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Rügeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Die ritterliche Fehde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Die Gottes- und Landfriedensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Bemühungen um die Eindämmung von Fehdehandlungen . . . . . . . . . . . . . 155 b) Verbreitung der öffentlich-rechtlichen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Peinliches Strafensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Mittelalterliches Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Öffentlich-rechtliche Modifikationen des germanischen Rechtsgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 bb) Tätigkeit der Vemegerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 e) Vom Festnahmerecht zum Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Rezeption und Wandel der Staatlichkeit – die gemeinrechtliche Zeit . . . . . . . . . . . 165 1. Inquisitionsprozess als primäres Mittel der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Zur Rolle des Verletzten in CCB und CCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Kulturgeschichtlich-staatstheoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 IV. Neuzeitliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Blütezeit des Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung als Keim des Täterstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Willkür als Bezugspunkt des Ur-Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Sogwirkung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . 172 c) Rechtsphilosophische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Case law und Parteienprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 V. Konsequenzen für die deutsche Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Absolute Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Retributive Hatred und Victim’s Turn in der Literatur des angloamerikanischen Rechtskreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

14

Inhaltsverzeichnis a) Racheakt als demokratisch gefordertes Mittel der Konfliktbewältigung

190

b) Rachegelüste als Unterstellung und Minderheitenschutz als demokratischer Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Gemäßigtere Ansätze einer Einbeziehung des Opfers in vergeltungstheoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Vergeltung ohne Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Berücksichtigung der Opfer als allgemeine Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Recht des Opfers auf ein Unwerturteil als Ausdruck des „normativen Individualismus“ nach Hörnle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4. Gegner und Kritiker einer opferfreundlichen Vergeltungstheorie . . . . . . . . . . . 200 II. Relative Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Die Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Schutz von Opferbelangen als Zielvorstellung von Resozialisierungsmaßnahmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Trennung von Strafgrund und Strafzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Resozialisierung als verfassungsmäßige Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 208 d) Konkretisierung des Strafzwecks durch den Strafgrund . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Die Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Positive Generalprävention als Grundlage eines Opferrechts auf Bestrafung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Wechselseitige Abhängigkeit von General- und Spezialprävention . . . . . 216 c) Rechtsgrund als Begrenzung generalpräventiver Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 III. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1. Der Normbruch als Strafgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2. Verbot zweckfreien Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Rechtsverletzung als Rahmen general- und spezialpräventiver Ziele . . . 219 b) Kein Strafanspruch des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 c) Strafrechtliche Äquilibristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 aa) Straftat und Bestrafung als Ausschaltung von Freiheit . . . . . . . . . . . . 221 bb) Bestrafung als Schaffung eines Gleichgewichts sui generis . . . . . . . 221 3. Resozialisierung der Opfer als originäre Aufgabe des Sozialrechts . . . . . . . . . 222 a) Freiheitsoptimierende Dimension des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Inhaltsverzeichnis

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b) Wiedergutmachung statt Strafe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Strafrechtssystem und reintegrative Aufgabenwahrnehmung . . . . . . . . . . . 226 F. Zum Zweck des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 I. Idee des inquisitorischen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Ausgestaltung des Amtsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Zum Bestehen eines Verfassungsrechts auf Teilhabe am Strafverfahren . . . . . . . . 232 1. Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 a) Gewährleistungsinhalte des Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Personeller Schutzbereich des Art. 103 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Recht auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Allgemeiner Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. Strafprozess als Instrument der Konfliktbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Der Strafprozess als Instrument zur Herbeiführung sozialen Friedens . . . . . . 242 3. Rechtsfrieden durch Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Wahrheit als Prozessziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 a) Wahrheitssuche als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Wahrheitssuche vs. soziologische Interviewforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 c) Wahrheitssuche vs. strafprozessuales Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . 251 5. Schaffung von Gerechtigkeit als Zweck des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 255 6. Strafverfahren als Mittel zur Verbrechensbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 7. Klärung des Tatverdachts als Verfahrensziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 8. Die Bestimmung des Verfahrenszwecks vom Prozessgegenstand her . . . . . . . 261 a) Das Strafverfahren als Instrument zur Bewährung des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 b) Suche nach dem Rechtsgrund als Mittel der Bewährung der materiellen Rechtssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 IV. Konsequenzen für den Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

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G. Verletzteninstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 I. Der Strafantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Kein einheitliches Begründungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Strafantrag als Ausdruck des Versöhnungsgedankens nach Maiwald . . . . . . . 272 3. Zur herkömmlichen Trias der Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 a) Bagatellcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Schutz der besonderen Beziehungen zwischen Täter und Opfer . . . . . . . . 276 c) Wahrung besonderer Opferinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4. Rechtsnatur und Wirkungsweise des Strafantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5. Rechtsdogmatische Begründung des Instituts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Individualität und Subjektivität als Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Strafantrag als Schutzwall ausgewählter subjektiver Rechtspositionen . . 282 6. Ausweitung des Antragsprivilegs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 7. Fazit: Einheitliche Begründung ohne flächendeckende Dimension . . . . . . . . . 284 II. Das Privatklageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Charakter und Typizität der Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 a) Gefahrenpotential privater Verfolgungsinitiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 b) Privatklage als staatliches Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Zum Zweck der Privatklagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 a) Privater Strafverfolgungseifer vs. öffentliches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . 289 b) Privatklagebefugnis als Kontrollinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 c) Privatklagebefugnis als Instrument zur Bewältigung von Bagatellen . . . 293 d) Privatklagebefugnis als Ausdruck eines bürgerlich-rechtlichen Genugtuungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 e) Privatklagebefugnis als Schutzinstrument subjektiver Rechtspositionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3. Zur Daseinsberechtigung der Privatklage und verwandter Institute . . . . . . . . . 298 a) Privatklage aufgrund zivilrechtlicher Unzulänglichkeiten? . . . . . . . . . . . . . 298 b) Privatklage als Instrument zur Optimierung des gesellschaftlichen Lebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Inhaltsverzeichnis

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III. Das Klageerzwingungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Zum Sinn des Klageerzwingungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 a) Nochmals: Zur Existenz eines Genugtuungsanspruchs als Fundament der Klageerzwingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Das Klageerzwingungsverfahren als Institut zur Wahrung des Legalitätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2. Alternativen zur gegenwärtigen Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) Psychologische Ausstrahlungswirkung der Befugnis zur Klageerzwingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b) Ausweitung des Klageerzwingungsverfahrens zur Stärkung seiner Präventivkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 aa) Zur Sinnhaftigkeit einer Popularklagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 bb) Der Verletzte als Sachwalter des allgemeinen Interesses . . . . . . . . . . 309 cc) Überwindung der starrenTrennung von Opportunitäts- und Legalitätsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 dd) Zur richterlichen Kontrolldichte bei staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Die Klageerzwingung als Forderung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Ermittlungsmaßnahmen als Bestandteil der unbedingten staatlichen Aufgabenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 b) Zur Reichweite der Konventionsforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 IV. Die Nebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Genugtuungsidee als Basis von Auslegung und Reichweite der Nebenklagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Genugtuung als wünschenswerter Nebeneffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Nebenklagebefugnis als Instrument zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft . . 320 4. Nebenklage als Instrument zur Bündelung mehrdimensionaler Interessenverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 5. Die Nebenklagebefugnis im Lichte der Prozessrechtsmaximen . . . . . . . . . . . . 323 6. Viktimisierungsvermeidung als Leitprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 a) Nebenklage zur Sicherung von Subjektivität und Individualität . . . . . . . . 325 b) Nebenklage als antizipiert-sozialrechtliches Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

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Inhaltsverzeichnis c) Zur Befürchtung numerischer Verschiebungen im Strafprozess . . . . . . . . 327 d) Zur Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 7. Zum legitimen Anwendungsbereich der Nebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 a) Zulässige Anschlusstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Angehörigennebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 c) Zur Gefahr einer Gemengelage aus straf- und zivilrechtlichen Motiven

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V. Das Adhäsionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 1. Legislatorische Belebungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Zur Sinnhaftigkeit des Instituts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Kategorische Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 b) Adhäsionsprozess als resozialisierungshemmende Einrichtung? . . . . . . . 337 c) Befürchtung einer Übervorteilung des Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 d) Befürchtung einer qualitativen Beeinträchtigung von Rechten des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3. Zum systematisch-dogmatischen Hintergrund des Adhäsionsverfahrens . . . 339 a) Historische Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 b) Wertewandel: Rücksichtnahme auf Viktimisierungen als an den sozialen Rechtsstaat gerichtete Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 c) Adhäsionsverfahren als antizipiert-sozialrechtliches Institut . . . . . . . . . . . 340 d) Zum statthaften Anwendungsbereich des Adhäsionsverfahrens . . . . . . . . 341 e) Wider die Verweigerungshaltung gegenüber zivilrechtlichen Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 f) Bindung des Adhäsionsantrags an die Nebenklagebefugnis . . . . . . . . . . . . 342 g) Keine unangemessene Privilegierung gegenüber sonstigen Sachverhalten mit vermögensrechtlicher Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 VI. Informationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. Kein genereller Informationsanspruch zu Gunsten aller Verletzten . . . . . . . . . 344 2. Information über freiheitsentziehende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 3. Anwaltlicher Beistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4. Dolmetscher und Vertrauensperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Inhaltsverzeichnis

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H. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 I. Der Viktimisierungsgrad als realer Bezugspunkt der rechtspolitischen Diskussion

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II. Verwirklichung subjektiver Rechte als Zielvorgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 III. Mitwirkung im Prozess als Problem der Rechtsgrundebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 IV. Reintegration der Opfer als Materie des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 V. Mitwirkungsrechte im Strafprozess als Ausprägung sozialrechtlicher Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Begrenzter Nutzen des Strafantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Abschaffung der Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 3. Das Klageerzwingungsverfahren als Mittel zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4. Die Nebenklage als echte Mitsprachemöglichkeit im Prozess . . . . . . . . . . . . . . 355 5. Das Adhäsionsverfahren als effektives Instrument zur schnellen Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

Einleitung I. Problemaufriss Die Diskussion um eine stärkere Einbeziehung des Opfers in die Mechanismen des Strafprozesses hält mittlerweile seit mehr als zwei Jahrzehnten an. Die Bipolarität zwischen Staat und Täter wird in ihrer zumindest faktischen Ausschließlichkeit allenthalben kritisiert, weshalb die herkömmlichen Instrumentarien der kriminalrechtlichen Vergangenheitsbewältigung zunehmend in Frage gestellt werden. Dabei werden mitnichten revolutionäre Umbrüche angestrebt. Vielmehr geht es um die Optimierung der in der Strafprozessordnung bereits verankerten Rechtsinstitute, die in der Gerichtspraxis – wenn man von der Nebenklage einmal absieht – ein Schattendasein führen. Es gibt eine bunte Vielfalt von Anregungen und Vorstellungen, deren Ziel darin besteht, die einschlägigen Verletzteninstitute in ihrer Popularität bei den Betroffenen, in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt bei den Strafjuristen zu mehren. Bislang haben weder Vorschläge aus der Wissenschaft, noch legislative Maßnahmen grundlegende Änderungen bzw. wahrnehmbare Verbesserungen herbeiführen können. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die jeweiligen Bemühungen allzu zaghaft ausgefallen sind. In diesem Umstand allein ist freilich noch kein fundamentaler Makel zu erkennen, denn insgesamt hat sich das Strafrechtssystem bewährt. Ein einschneidender Legitimitätsverlust ist nicht zu verzeichnen und nach Lage der Dinge auch nicht zu befürchten. Das entbindet allerdings nicht von der Aufgabe, die Akzeptanz der Strafrechtsordnung auf eine noch breitere Basis zu stellen. Dazu gehört, sich auf eine lebendig geführte Debatte einzulassen, die geäußerten Argumente aufzunehmen und sie am Maßstab des rechtlich Möglichen und politisch Sinnvollen zu würdigen. In Bezug auf die genaue Bestimmung der Opferposition im Strafprozess herrscht hierbei eine gewisse Unsicherheit. Es hat sich herausgestellt, dass Mitsprache- und Mitwirkungsrechte nicht als verfahrensmäßige Binnenprobleme aufzufassen bzw. zu behandeln sind. Mehr und mehr wird deutlich, dass die relevanten Fragestellungen nur vor dem Hintergrund eines gefestigten dogmatischen Konzepts erläutert und beantwortet werden können. Insbesondere die Verknüpfung von formellem und materiellem Recht erscheint enger als dereinst angenommen. Während man in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die eigenständige Bedeutung des Verfahrens zu unterstreichen suchte, wird nunmehr etwa die Forderung erhoben, die prozessualen

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Einleitung

Strukturen auf die legitimen Strafzwecke abzustimmen. In der Tat steht das Rechtssystem in der Pflicht, die Belange des Individuums mit denen der Allgemeinheit zu harmonisieren, denn beide stehen in einem unauflöslichen Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit. Es mutet daher merkwürdig an, im Bereich des materiellen Strafrechts die Notwendigkeit oder sogar die Unentbehrlichkeit general- und spezialpräventiver Erwägungen zu betonen, um die Richtigkeit individueller Teilhaberechte im Strafprozess sodann auf ein angeblich berechtigtes Genugtuungsverlangen zu stützen. – Schließlich wird in diese Richtung zielenden Vorschlägen gewöhnlich eine kategorische Absage erteilt. Nichtsdestotrotz wird die Existenzberechtigung von Privatklage, Klageerzwingungsverfahren, Nebenklage und Adhäsionsverfahren nach wie vor überwiegend mit Hilfe eines schillernden Genugtuungsanspruchs der Betroffenen begründet, ohne dass dies näher unter Beweis gestellt würde. Dieser Umstand nimmt wunder, denn für individuellen Bestrafungseifer oder Rachegelüste soll in einem modernen Rechtssystem nach nahezu unbestrittener Auffassung gerade kein Platz sein. Termini wie Genugtuung, Rache oder Satisfaktion lassen sich nur schwer mit den verbreiteten utilitaristischen Straftheorien in Einklang bringen. Die Debatte um die offensivere Berücksichtigung von Opferbelangen im Strafverfahren offenbart also einen Widerspruch, der im Sinne einer ausgewogenen und konsistenten Konzeption aufzulösen ist.

II. Gang der Untersuchung Es greift freilich zu kurz, wenn man sich darauf beschränkt, die Verletzteninstitute der StPO mit ausschließlicher Rücksichtnahme auf die gängigen Straftheorien zu beleuchten. Eine problembezogene Betrachtung muss ihren Ausgang bei den in der Realität vorhandenen Missständen nehmen. Diese sind durch die kriminologische Forschung dokumentiert und eignen sich trefflich als Bezugspunkt für eine systematische und gleichsam praxisnahe Untersuchung. Die empirischen Fakten lassen sich einer rechtssoziologischen Bewertung unterziehen, die ihrerseits auf sozialpsychologische Erkenntnisse rekurriert. Die maßgeblichen Gesichtspunkte werden im Rahmen dieser Arbeit skizziert und mit Blick auf die Möglichkeit umfassenderer Beteiligungsrechte einer kritischen Würdigung unterzogen. Sodann gilt es, sich der Struktur strafrechtlicher Normen zuzuwenden, um die Rechts- und Verpflichtungsadressaten der Deliktstatbestände offenzulegen. Hierin liegt eine wesentliche Weichenstellung, denn es wird geklärt werden, ob das Individuum selbst oder ihm übergeordnete, staatliche Interessen den Schutzgegenstand der Strafrechtssätze bilden. Zugleich wird die Frage gestellt, was der Rechtsgutsbegriff insoweit zu leisten imstande ist. Erst nachdem hierüber Aufschluss gegeben ist, kann auf gleichsam gefestigter Grundlage darüber befunden werden, wie die Rolle des Opfers in den Strafzweck-

III. Themenbegrenzung

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lehren beschaffen ist. Um ihre Grundpfeiler zusätzlich zu untermauern und um die staatstheoretischen Zusammenhänge zu erhellen, wird vorher die historische Entwicklung bis hin zum heutigen Täterstrafrecht nachgezeichnet. Wenn der strafrechtssystematische Rahmen gezogen ist, kann eine Zweckbestimmung des Strafverfahrens stattfinden, die Unwägbarkeiten im Hinblick auf die materielle Rechtslage vermeidet, denn StGB und StPO müssen einander ergänzen und dürfen sich hinsichtlich der von ihnen angestrebten Ziele nicht ausschließen oder gar beziehungslos gegenüberstehen. Erst am Schluss und gewissermaßen als Ergebnis können Vorschläge für die Fundierung und Ausgestaltung konkreter Institute unterbreitet werden. Dabei sind aus den dogmatischen Grundlagen die konsequenten Rückschlüsse zu ziehen.

III. Themenbegrenzung Die vielen Facetten der Opferdebatte schlagen sich auf nahezu alle Bereiche der strafrechtlichen Konfliktbewältigung nieder. Das macht eine Themenbegrenzung erforderlich, die eine gezielte Bearbeitung ausgewählter Problemkreise zulässt und adäquate Antworten auf gesicherter, ausreichend reflektierter Grundlage gewährleistet. Deshalb bleiben Belange des allgemeinen Zeugenschutzes in der nachfolgenden Untersuchung außer Betracht. Vielmehr konzentriert sich die Arbeit auf die opferspezifischen Teilhabe- und Mitwirkungsrechte, die eine aktive Einflussnahme auf das Strafverfahren ermöglichen. Es sollen Anregungen für eine Belebung der im fünften Buch der Strafprozessordnung eingeräumten Institute und Kompetenzen geliefert werden. Gegebenenfalls ist eine „bereinigende Verschlankung“ der Verletztenrechte anzuempfehlen. Daneben werden Klageerzwingungsverfahren und Strafantrag einer näheren Analyse unterzogen. Der Topos der Wiedergutmachung wird hin und wieder angerissen, ohne dass auf Details eingegangen werden kann. Gleichwohl werden die Ausführungen die Meinung des Verfassers erkennen lassen. Das gilt insbesondere für den TäterOpfer-Ausgleich. Eine intensivere Berücksichtigung würde den abgesteckten Rahmen sprengen und von den zentralen Fragestellungen eher ablenken. Zudem kann insofern auf zahlreiche Monografien und Aufsätze verwiesen werden. Das hier anvisierte Ziel besteht im Übrigen nicht darin, die gegenwärtigen Strukturen des Strafrechtssystems über Bord zu werfen oder einer radikalen Neuordnung argumentativ Vorschub zu leisten. Stattdessen sollen die allgemeinen Prinzipien der modernen Strafrechtslehre aufgegriffen und für die präzise Bestimmung der Opferrolle im Strafprozess fruchtbar gemacht werden. Der Grundsatz der limitierten Akzessorietät des Strafrechts gegenüber der Gesamtrechtsordnung ist bei diesem Unterfangen von besonderer Bedeutung. Er weist

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Einleitung

das Strafrecht als sekundäres Schutzrecht aus und repräsentiert gewissermaßen das sensible Spannungsverhältnis von Freiheit und Verantwortung. Anhand seiner Prämissen und Bedingungen lässt sich eine Grenzziehung zwischen Zivil- und Strafrechtsordnung vornehmen, die erklärt, warum den von krimineller Delinquenz betroffenen Personen die Sachwaltung in eigener Angelegenheit aus den Händen genommen wird, obwohl sie ihnen im Bereich des bürgerlichen Rechts vollständig überantwortet bleibt. Insoweit wird die Strafrechtspflege in ihrem Dasein sowie hinsichtlich ihrer Instrumentarien durch die Bindung an die Primärrechtsordnung determiniert. Es heißt, die Strafrechtsordnung sei immer die Visitenkarte einer Gesellschaft. Soll der durch sie hervorgerufene Eindruck ein positiver sein, so besteht das Ziel darin, kosmetische Korrekturen auf dem Fundament des Bewährten vorzunehmen. Die Forderung einer stärkeren Opferbeteiligung darf nicht um den Preis einer Einschränkung rechtsstaatlicher Grundsätze erfolgen. Das Bestehende wird dadurch mitnichten zementiert, jedoch ist Besonnenheit im Umgang mit dem schärfsten Schwert des Staates anzumahnen. Eine gesteigerte Rücksichtnahme auf die Wünsche der Opfer darf die verfassungsmäßig verbürgten Garantien zu Gunsten des Täters nicht vernachlässigen. Die maßgebliche Aufgabe ist mithin darin zu sehen, die Stellung des Verletzten im Strafverfahren zu optimieren, ohne die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Legitimität einer Gesellschaftsordnung ist idealiter von der Zustimmung aller ihrer Mitglieder abhängig. Das schließt Delinquenten und Verbrechensopfer gleichermaßen ein. In diesem engmaschigen Beziehungsgeflecht hat die Auslotung von individuellen Teilhaberechten stattzufinden. Dies anerkennend ist der Frage nachzugehen, ob aus einer persönlichen Betroffenheit das Recht auf Mitwirkung am Strafprozess resultiert.

A. Empirische Bestandsaufnahme I. Wirkliches und virtuelles Opfer 1. Die Wiederentdeckung des Opfers Sowohl Theorie als auch Praxis des Straf- und Strafprozessrechts haben in der Vergangenheit große Schwierigkeiten im Umgang mit dem Verletzten offenbart. Ein einheitliches, konsistentes Konzept zur sachgemäßen Berücksichtigung gerade seiner Interessen konnte bislang nicht entwickelt werden. Die Diskussion findet meist im rechtspolitischen Rahmen statt und ist sehr stark emotional beeinflusst. Die Suche nach einem systematischen Grundverständnis über eine adäquate Opferbeteiligung wird dagegen eher selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung erhoben. Bislang hat man sich nicht einmal auf eine allgemein akzeptierte Definition des Verbrechensopfers verständigen können.1 Mehr noch: Es wird sogar bezweifelt, ob eine schlüssige Begriffsklärung im Hinblick auf die signifikanten Fragestellungen im Kontext der kontrovers geführten Debatte überhaupt zur Lösung beiträgt. Dabei geht es nicht ausschließlich um einen Terminus wie er der Strafprozessordnung zugrunde liegen könnte.2 Vielmehr muss zur Kenntnis genommen werden, dass keine rechte Vorstellung darüber vorhanden ist, was wirklich im Interesse der Opfer liegt bzw. was ihren Bedürfnissen vernünftigerweise entoder widerspricht. Insbesondere die Kriminalpolitik gibt sich zunehmend selbstbewusst als Anwältin der Opferinteressen aus.3 Allerdings bestehen ernsthafte Bedenken, ob sie diesem sich selbst auferlegten, hohen Anspruch genügen kann. So ist die Diskussion um die Einbettung des Verletzten ins (Straf-)Rechtssystem durch eine Gemengelage ganz verschiedener Bezugspunkte gekennzeichnet. Einerseits geht es um die 1 Dazu etwa Patsourakou, Stellung, S. 29 ff.; auch Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 100. Die Rechtsprechung verweist seit jeher darauf, dass die nähere Bestimmung und Definition anhand konkreter Rechtsinstitute erfolgen müsse, RGSt 23, S. 361; 69, S. 107. Dies wird auch im Schrifttum überwiegend befürwortet, vgl. dazu Löwe-Rosenberg-Hilger, Vorbem. 5. Buch, Rn 15 ff. 2 Göppinger, Kriminologie, S. 165, zur Unterscheidung zwischen einem engen juristischen und einem weiten wissenschaftspolitischen Opfergriff. Nach letzterem bildet nicht das Strafrecht den maßgeblichen Bezugspunkt für die Definition des Opferbegriffs, sondern ein sozial- bzw. gesundheitspolitischer Sollzustand. 3 Kritisch Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 100.

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A. Empirische Bestandsaufnahme

Reintegration solcher Personen, die durch eine kriminelle Handlung reale Einbußen erlitten haben. Sie sind die „wirklichen“ Opfer von Straftaten und als Nebenkläger, zum Strafantrag Berechtigte oder Privatkläger Adressaten konkreter Verfahrensrechte. Hiervon ist die Sichtweise der nur möglichen, potentiellen bzw. „virtuellen“ Opfer zu trennen.4 Letztere haben nicht die Erfahrung machen müssen, tatsächlich durch eine Straftat verletzt worden zu sein. Demzufolge richtet sich das durch sie artikulierte Begehren nicht auf die Erweiterung oder Modifikation vorhandener Teilhabe- und Mitwirkungsbefugnisse. Sie fordern vom Kriminaljustizsystem Schutz im Sinne von Prävention und Sicherheit. Verbrechensfurcht und gewisse Opferphantasien sowie eine Reihe von Unterstellungen liefern den Nährboden für eine allenthalben wahrnehmbare Unzufriedenheit mit dem geltenden Strafjustizsystem. Auch einige Tendenzen innerhalb der Rechtsprechung haben zu Unbehagen über die Behandlung insbesondere weiblicher Personen in der Strafrechtspflege sowie über die Rolle der Frau schlechthin beigetragen. Die Empörung über höchstrichterliche Entscheidungen im Bereich des Sexualstrafrechts führte nachgerade zu einer Ablehnung der Gepflogenheiten innerhalb des Kriminalsystems. Beispielhaft sei die dogmatische Sonderkonstruktion der „vis haud ingrata“ herausgegriffen5: Die These vom natürlichen femininen Masochismus6 wurde in Konstellationen massiver Gewaltanwendung durch den Täter bei nur verbaler7 oder unzureichender körperlicher Widerstandsleistung8 durch das Opfer als Einverständnis in die zugefügte Misshandlung gedeutet.9 4 So die ausdrückliche und vehemente Forderung von Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 100; vgl. auch Schünemann, JZ 1989, S. 670 ff. sowie ders., NStZ 1986, S. 194.; vgl. auch Kilchling, NStZ 2002, S. 57 ff., 58. 5 Sog. „nicht unwillkommene Gewalt“, dazu Laubenthal, Sexualstrafrecht, Rn 113; Sick, Selbstbestimmungsrecht, S. 172 ff., Mildenberger, Schutz, S. 86; auch die frühere Rechtsprechung begriff geringe Gegenwehr oder lediglich verbalen Widerstand als bloßes Zieren, vgl. BGH GA 1956, S. 316; BGH NJW 1968, S. 1888. 6 Eigenbrodt in: BKA (Hrsg.), Sittlichkeitsdelikte, S. 121; Dost, Notzucht, S. 202: „Nun ist eine gewisse Gewalt schöpfungsbedingt. [ . . . ] Die Frau [ . . . ] soll und – sie will mit gewisser Gewalt ,genommen‘ werden.“ 7 BGH GA 1956, S. 317: „Wenn eine Frau dem Verlangen eines Mannes nach Geschlechtsverkehr lediglich mit Worten, sei es auch eindeutig, widerspricht, sich aber gegen dieses Ansinnen nicht außerdem körperlich wehrt, so wird der Mann in der Regel annehmen dürfen, daß sie trotz des geäußerten Widerspruchs mit seinem Vorhaben letzten Endes einverstanden ist.“; auch BGH StV 1989, S. 341; BGH MDR 1987, S. 93. 8 BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB a.F.; BGH MDR 1991, S. 658; BGHSt 7, S. 99; BGHSt 22, S. 154. 9 Dies geschah freilich mit Billigung der Literatur. Vgl. statt vieler Schneider, Viktimologie, S. 126: „Sie genießen es, wenn Männer um sie kämpfen. Sie möchten bewusst oder unbewusst zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden, um einen scheinheiligen ,moralischen‘ Anspruch zu wahren. [ . . . ] In der Intimsituation spielen sie mit ihrer Sexualität. Der Mann, der sich auf dieses gefährliche kokette Spiel einläßt, trägt das Risiko, daß die Frau oder das Mädchen die Situation nachträglich als Notzucht definiert.“

I. Wirkliches und virtuelles Opfer

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So diente die Rechtsprechung der Schaffung von Freiräumen für sexuelle Gewalt.10 Die auf diese Art praktizierte „Wiederentdeckung“ des Opfers in der Rechtsprechung11 wies menschenverachtende Anklänge auf, die in der Öffentlichkeit verstört zur Kenntnis genommen wurden und der Kriminalpolitik Handlungsbedarf anzeigten. Die Strafrechtspflege lief Gefahr, an Akzeptanz erheblich einzubüßen. Dieser Situation wurde im Zuge etlicher Reformen Einhalt geboten. Der legislatorische Handlungseifer fand im 6. StrRRG seinen vorläufigen Kulminationspunkt. Die dort vorgenommenen Änderungen des materiellen Strafrechts setzten sich mit der Lage der wirklich Betroffenen im prozessualen Alltag indessen nicht auseinander.12 Dennoch liegt hierin das Indiz eines gesellschaftlichen Wertewandels und der Ausdruck des rechtspolitischen Willens, den Opfern gewisse Zugeständnisse zu gewähren. Dieses Anliegen wurde zuletzt durch das am 24. 6. 2004 verabschiedete Opferrechtsreformgesetz13 verfolgt, in dem einzelne strafprozessuale Institute wie etwa die Nebenklage oder das Adhäsionsverfahren sowie eine Reihe von Informationsrechten punktuell angepasst wurden, um die Position des Verletzten im Strafverfahren zu stärken.

2. Kriminalitätsfurcht und Opferbedürfnisse Die Medien dienen vielfach als Steigbügelhalter übertriebener Ängste und mannigfacher Befürchtungen. Das wiederum erhöht den Druck auf die Politik14, die 10 Sick, Selbstbestimmungsrecht, S. 285; Laubenthal, Sexualstrafrecht, Rn 113. Um Vergewaltigung ging es auch in BGH JR 1982, S. 115 ff. Die viktimologische Forschung wurde für die Täterentlastung fruchtbar gemacht. So sei das Schaffen einer Zwangssituation nicht notwendig Gewalt. Die Einschränkung des Gewaltbegriffs geschah deshalb, weil der Täter schon einige Stunden vor der Vergewaltigung seinem weiblichen Lehrling an die Brüste gefasst und das Mädchen verfolgt hatte. In böser Vorahnung hatte die junge Frau daraufhin ein Verhütungsmittel zu sich genommen. In dieser Vorbereitung des Opfers auf den eigentlich unerwünschten Geschlechtsverkehr erkannte der BGH „ein Stück“ Einverständnis. Dazu auch Hillenkamp, Einfluß, S. 8 ff. 11 Ähnliche Tendenzen waren auch in der Mordrechtsprechung wahrnehmbar, etwa BGH JR 1981, S. 212. Jeweils wirkte sich das neue Feld der Viktimologie zum Nachteil der Opfer aus. Auch beim Hausfriedensbruch sowie beim Betrug wurden einzelne Verhaltensweisen des Betroffenen zum Vehikel für einschränkende Auslegungen des jeweiligen Tatbestands, dazu Amelung, GA 1977, S. 1 ff. 12 Darin bestand freilich auch nicht in erster Linie das Ziel. 13 Die Neuregelungen des Opferrechtsreformgesetzes traten am 1. 9. 2004 in Kraft, vgl. BGBl I 2004, S. 1354; dazu Hilger, GA 2004, S. 478 ff. und Ferber, NJW 2004, S. 2562 ff. 14 Dazu nur U. Baumann, Kriminalitätsdarstellung, S. 7, 10 ff., 14 ff., 20; dazu auch Kury in: Kaiser / Jehle (Hrsg.), Opferforschung Bd. 2, S. 127 ff. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion um die vorzeitige Haftentlassung bzw. die vom Bundespräsidenten erwogene Begnadigung früherer RAF-Terroristen erinnert, dazu nur Der Spiegel, Nr. 5 / 2007, S. 20 ff. Im Rahmen der öffentlichen Debatte wurde durch namhafte Politiker

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A. Empirische Bestandsaufnahme

sich zu reagieren genötigt fühlt, um das vermeintlich irritierte Rechtsempfinden der Bevölkerung zu beruhigen. Die von Kriminalitätsfurcht geplagte Wählerschaft stützt die stetig wiederkehrende und sich aktualisierende politische Forderung nach höheren und härteren Strafen, einem konsequenten Durchgreifen gegenüber den Tätern sowie diverser Zero-Tolerance-Strategien. Das virtuelle Opfer wird auf diese Weise zum Motor für Verschärfungen und den Hang zum Regelungsmaximalismus im Bereich der inneren Sicherheit. All das führt zu der Entwicklung einer immer größer werdenden, teilweise irrationalen Angst vor Kriminalität bei gleichzeitig rückläufiger Anzahl der Straftaten insgesamt.15 Die verzerrte Wahrnehmung von Kriminalität in der Öffentlichkeit sowie die sensationslüsterne Darstellung einzelner Straftaten in den Medien haben wesentlich zu einem Umdenken beigetragen. Das in den 60er und 70er Jahren noch sehr starke Bewusstsein, dass jeder Mensch auch potentieller Angeklagter sein könnte, ist der Auffassung gewichen, dass jeder vor allem mögliches Opfer von Verbrechen sei; zumindest ist das Interesse, die schutzwürdigen Belange des Beschuldigten zu schützen, gegenüber anderen Prioritäten deutlich ins Hintertreffen geraten.16 Opferschutz und (mutmaßliche) Opferbedürfnisse sind Gegenstand des Zeitgeists geworden. Das Anliegen der Allgemeinheit ist nicht länger auf den Täter gerichtet. Die Befürchtung symbolträchtiger aber substanzloser staatlicher Vergeltungsmaßnahmen besteht nicht mehr. Im Gegenteil: In den Augen breiter Bevölkerungsschichten gilt der Täter als „verhätschelt“ bzw. als „mit Samthandschuhen behandelt“. Er scheint nicht mehr als (Rechts-)Person wahrgenommen zu werden, die vor einem überkriminalisierenden, rachefixierten Strafrecht geschützt werden muss. Vielmehr wird der Staat in die Pflicht genommen, als Schutzmacht gegen das Verbrechen zu agieren.17 Das Vorurteil, man gehe mit den Tätern zu „lasch“ und mit den Opfern zu hart um, ist von ungebrochener Popularität. Bewegungen immer wieder angemahnt, dass eine vertretbare Entscheidung nur mit Rücksichtnahme auf die Belange der Opfer und Angehörigen getroffen werden könne. Ihren Interessen sei nur durch ein aufrichtiges Bedauern und durch ehrliche Reue gedient, weshalb von den Tätern ein klares Bekenntnis zum Rechtsstaat zu fordern sei. Ohne ein solches dürfe eine vorzeitige Freilassung nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. 15 Nur Kräupl / Ludwig, Wahrnehmung, S. 133; Allgemeines zum sog. Kriminalitätsfurcht-Paradox in unterschiedlichen Ausprägungen und Situationen bei Kreuter, Kriminalitätsfurcht, S. 25 ff.; ferner Boers, Kriminalitätsfurcht, S. 57 ff.; auch Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien (2000) sowie Schneider, Kriminologie, S. 567 ff. 16 Ausführlich zum Ganzen Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 108 ff. 17 Kaiser, Kriminologie, S. 533 ff., der herausstellt, dass die Hinwendung zum Opfer ein „law-and-order“-Denken mit sich bringe. Vgl. auch Schneider, Kriminologie, S. 751 ff., der den Massenmedien vorwirft, die Bevölkerung in ihren kriminalpolitischen Vorurteilen zu bestärken, was zur flächendeckenden Befürwortung harter Strafen und zur offensiven Forderung umfassender polizeilicher Befugnisse führe. Vorbeugungs- und Behandlungsprogramme seien indessen nicht vermittelbar.

II. Das wirkliche Opfer

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wie die für die Abschaffung des Strafrechts18 sind gänzlich aus der Mode gekommen. Mit der Frage, ob strafprozessual eine Rückgabe des Konflikts an die Beteiligten erwägenswert oder sinnvoll ist, hat das alles nichts zu tun. Die wirklichen Opfer von Straftaten bleiben in der Debatte außer Betracht. Die Kriminalpolitik nutzt angebliche Opferinteressen vor allem als Rechtfertigung für Strafrahmenerhöhungen und die Schaffung neuer und restriktiverer Tatbestände. Es gilt, die aufgebrachte Bevölkerung zu eigenen Gunsten zurückzugewinnen. Mit den tatsächlich zu lösenden Problemen hat das nichts gemein. Es entsteht allenfalls die Vorstellung, beim wahren Opfer handele es sich um ein punitives, rachsüchtiges, auf Sicherheit fixiertes Wesen. Der Diskurs um das Opfer ist undurchsichtig und von mancherlei Unzulänglichkeiten geprägt. Die in der Öffentlichkeit geführte Auseinandersetzung lenkt von den wirklich Betroffenen ab. Wer problembezogene Lösungsansätze präsentieren will, wird nicht umhin kommen, die empirische Ausgangssituation zu überprüfen. Es muss der Frage nachgegangen werden, welche Erwartungen die Verletzten hegen und inwieweit sie an einer Teilhabe – etwa im Prozess – überhaupt interessiert sind. Es soll deshalb zunächst nicht darum gehen, eine Wertung vorzunehmen oder sogleich Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Zuerst sollen die Erkenntnisse der kriminologischen Forschung aufgegriffen werden, um eine Basis für die relevanten strafrechtssystematischen Fragestellungen zu schaffen. Erst nachdem hierüber Aufschluss gegeben ist, erscheint es sinnvoll, über Konsequenzen und eventuelle Alternativen nachzudenken.

II. Das wirkliche Opfer Die Einbettung des wirklichen Opfers in ein strafprozessuales Beziehungsgeflecht kann nicht allein auf der Grundlage rechtstheoretischer bzw. rechtsphilosophischer Prinzipien erfolgen.19 Die praktische Erfahrung zeigt, dass die angemessene Berücksichtigung von Opferinteressen und -erwartungen ein Problem der Rechtswirklichkeit darstellt.20 Rechtlich-systematische Folgerungen müssen auf 18 Plack, Plädoyer (1974); Klose, ZStW 86 (1974), S. 33, 61 ff., 64, erklärte die Strafe mangels Ermächtigung im Grundgesetz sogar für verfassungswidrig. Freilich verkennt er, dass die Strafe in den Art. 74 Abs. 1 Nr. 1, 101, 102, 103, 104 GG vorausgesetzt wird. Göppinger, Kriminologie, S. 178, sieht den Hintergrund abolitionistischer Strömungen in romantisierenden und utopischen Auffassungen über Gesellschaften ohne Staat. 19 Vgl. nur Schneider, JZ 2002, S. 234. 20 Zu den in der Rechtspraxis sich offenbarenden Schwierigkeiten liegen inzwischen umfassende kriminologische Untersuchungen vor, etwa Kilchling, Opferinteressen (1995);

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A. Empirische Bestandsaufnahme

dem Boden viktimologischer und psychologischer Erkenntnisse fußen. Hier sind besonders die Resultate zahlreicher Opferbefragungen in den Blick zu nehmen, die ein durchaus einheitliches Bild abgeben. Nur eine offensive Berücksichtigung des empirischen Wissens über positive wie negative Gesichtspunkte des gegenwärtigen Strafrechtssystems lässt eine Antwort auf die Frage erwarten, wie die Rolle des Opfers in Zukunft vernünftigerweise beschaffen sein sollte.

1. Das Erleben der Straftat als Zäsur Eine Straftat bewirkt im Leben eines Menschen einen tiefen Einschnitt. Die Tat stellt ein Ereignis außerhalb des gewöhnlichen Erfahrungshorizontes dar und bringt nicht selten eine ernsthafte Erschütterung des subjektiven Weltbildes mit sich. Insbesondere die Tatsache, von einer anderen Person als wertloses „Es“ behandelt worden zu sein, beeinträchtigt das Selbstwertgefühl des betroffenen Deliktsopfers nachhaltig und vermittelt ihm das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Handeln sowie die Entscheidungsmacht über sich selbst verloren zu haben. In der Straftat manifestiert sich ein extremes Machtgefälle: nahezu absolute Macht auf der einen und nahezu absolute Ohnmacht auf der anderen Seite. Dem Opfer wird die Subjektivität genommen. Dabei ist es nicht so, dass dies exklusiv für die Verletzung sog. höchstpersönlicher Rechtsgüter gilt. Auch Beeinträchtigungen, die nach Wertung des Gesetzes als eher geringfügig einzustufen sind, beschwören nicht selten erhebliche Belastungsstörungen herauf; zu nennen sind hier beispielsweise der einfache Hausfriedensbruch sowie der Wohnungseinbruchsdiebstahl.21 Die Straftat bewirkt ferner, dass die Beziehung des Opfers zu seiner Außenwelt gestört wird. Die Betroffenen neigen zu übermäßiger Wachsamkeit, die frühe Abwehrmechanismen aktiviert. Das kann sogar zur feindseligen Wahrnehmung des eigentlich vertrauten Umfeldes führen. Bisherige Invulnerabilitätsüberzeugungen werden gegen die Auffassung eingetauscht, man sei ein Leben lang durch die Erfahrung der Straftat stigmatisiert. Dem entsprechend sind es weniger die körperlichen oder materiellen Schäden, die die Konstitution des Opfers schwächen. Schwerwiegender sind die Folgen seelischer Art. Medizin und Psychologie haben dieses Phänomen mittlerweile zu einem eigenen Forschungsgegenstand gemacht.22 M. Kaiser, Stellung (1992); H. Richter, Opfer (1997); Orth, Strafgerechtigkeit (2001); Hagemann, Gewalttaten (1992). 21 Kintzi in: Weisser Ring (Hrsg.), Täterrechte, S. 65, 67, berichtet von Untersuchungen, die ergeben hätten, dass ca. 70 % der Opfer eines Wohnungseinbruchs traumatische, seelische Schäden erleiden. Ängste, Schlaflosigkeit und Depressionen sowie der gefühlte Zwang, die Wohnung wechseln zu müssen, sind unmittelbar nachfolgende Erscheinungen. Das Eindringen in die eigenen vier Wände wird sogar als extreme Verletzung der Intimsphäre empfunden. Dazu auch Hagemann, Gewalttaten, S. 250 ff.

II. Das wirkliche Opfer

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2. Opfereigene Strategien der Tatverarbeitung Die Verarbeitung krimineller Viktimisierung erfolgt in Abhängigkeit von kognitiven, emotionalen und sozialen Prozessen. Es kommt dabei zu Diskrepanzen zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Verarbeitungsebene.23 a) Primäres Viktimisierungsstadium aa) Individuelle Verarbeitungsebene Wie aufgezeigt, wird das gewöhnliche Alltagsleben des Opfers durch die Straftat in erheblichem Maße gestört. Die Verletzten werden dadurch zu Anpassungsleistungen gezwungen, die sie in die Lage versetzen, so gut es geht lebens- und arbeitsfähig zu bleiben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Situation nicht bei allen Opfern identisch ist. Die Bewältigungsstrategien können sich teilweise stark voneinander unterscheiden. Gleichwohl darf davon ausgegangen werden, dass die Funktion sämtlicher Bewältigungsstrategien darin liegt, eine Verbesserung der eigenen Befindlichkeit herbeizuführen. Opfer sind bestrebt, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. Ihnen ist nicht an der dauerhaften Beeinträchtigung der Teilnahme am sozialen Austausch gelegen. Die Wahrnehmung eines Bedrohungspotentials sowie das Gefühl von Unsicherheit werden damit freilich nicht einfach aus dem Wege geräumt. Die psychologischen Stresstheorien24 liefern insoweit den Bezugsrahmen zur Einordnung und Beschreibung eingeleiteter Verarbeitungsmechanismen: Ein erster Schritt im Prozess der Auseinandersetzung und Bewältigung eines Ereignisses liegt zumeist in der Akzeptanz der erlebten Straftat als „wahr“, d. h. in der Anerkennung einer Situation, die sich tatsächlich zugetragen hat. Ein Ereignis ist dabei nicht nach objektiven Kriterien als Stress bestimmbar, sondern bekommt diese Eigenschaft erst durch die subjektive Bewertung des Betroffenen.25 Es ist deshalb von untergeordneter Bedeutung, ob die kriminelle Viktimisierung das Resultat schwerster Delikte oder lebensbedrohlicher Situationen ist. Als entscheidend stellt sich heraus, dass der Einzelne das Ereignis jedenfalls als extrem erlebt hat. Mit der subjektiven Einschätzung und Anerkennung der Straftat beginnt Kintzi in: Weisser Ring (Hrsg.), Täterrechte, S. 65, 67. H. Richter in: Weisser Ring (Hrsg.), Täterrechte, S. 57. 24 H. Richter, Gewalttaten, S. 16 ff.; Stress stellt sich in Bezug auf erlebte Straftaten als Ergebnis einer identitätskritischen Lebenslage heraus. Er manifestiert sich in physiologischen (Schweißausbrüche, Zittern, kalte Schauer, Schlaflosigkeit, Schmerz) und psychischen Auswirkungen (Angst, Trauer, Depression, Phobien), gestörten Affekten und Gefühlen. Stress drückt sich auch in einem Neben-Sich-Stehen, im Verlust des Zeitgefühls oder der Unfähigkeit zu handeln aus, Hagemann, Gewalttaten, S. 258. 25 H. Richter in: Weisser Ring (Hrsg.), Täterrechte, S. 57. 22 23

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A. Empirische Bestandsaufnahme

sodann der gleichsam zentrale wie adaptive Prozess der eigentlichen Bewältigung.26 Häufige Verarbeitungsstrategien sind beispielsweise die Verharmlosung oder Relativierung der Tatschwere („Ich hatte noch Glück!“), das Vergessen bzw. das Verdrängen des Erlebten, die Korrektur der Erinnerung, die Umdeutung des Geschehenen oder sogar die Fokussierung von Gewinnen („Ohne die Tat hätte ich meine jetzigen Freunde nicht finden können.“). Die psychologische Forschung hat zudem beobachtet, dass Opfer nach einer Rechtfertigung des Täterverhaltens suchen oder sich selbst die Schuld für die Begehung der Straftat geben. Es kommt hinzu, dass die Einsicht in die eigene Hilfsbedürftigkeit erst entwickelt und bejaht werden muss. Überzogene Schamgefühle halten überdies davon ab, sich von Dritten im Rehabilitationsprozess unterstützen zu lassen.27 bb) Gesellschaftliche Verarbeitungsebene Von entscheidender Relevanz im Prozess der Verarbeitung und Bewältigung von Straftaten erweist sich der soziale Nahbereich der Opfer. Angehörige sind vielfach am ehesten in der Lage, Wertschätzung und Trost zu spenden.28 Sie gewähren im Idealfall die Möglichkeit zur Selbstoffenbarung und erkennen die Bedürfnisse des Betroffenen. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass es zu einer Beeinträchtigung oder sogar Ausschaltung der Unterstützungsfähigkeit kommen kann, wenn die Angehörigen selbst durch die Straftat viktimisiert sind.29 Eine solche mittelbare Viktimisierung unterscheidet sich von der unmittelbaren in Wirkung und Symptomen kaum, sodass der Schluss gezogen werden darf, dass Angehörige das Leid des Opfers als eigenes auf sich projizieren und demzufolge ganz ähnlich empfinden. Die durch die Straftat verursachten Belastungen konzentrieren sich also nicht zwingend auf die durch die Straftat direkt betroffenen Personen.30 Als schädliche, Ablehnung hervorrufende Reaktion stellt sich auch die überfürsorgliche Entlastung des Opfers dar. Das Aufdrängen von Hilfe sowie Distanzlosigkeit können kontraproduktiv für die Verarbeitung des Erlebten sein. Werden etwa neue Abhängigkeitsverhältnisse begründet, perpetuiert dies gegebeH. Richter, Gewalttaten, S. 26. H. Richter, Gewalttaten, S. 26 f. 28 Abgesehen freilich von Konstellationen, in denen die Straftat seitens Angehöriger begangen wurde. 29 Dies erschwert die Trennung der Vergleichsgruppen „Opfer“ und „Nicht-Opfer“, dazu Hagemann, Gewalttaten, S. 145. 30 Indirekte Opfer (sog. Co-Victims) sind z. B. Angehörige, die unter der Opferwerdung leiden, obwohl sie nicht unmittelbar mit der Straftat konfrontiert worden sind. Man spricht auch vom Phänomen der sog. stellvertretenden Viktimisierung, Hagemann, Gewalttaten, S. 145. 26 27

II. Das wirkliche Opfer

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nenfalls die Ohnmacht des Viktimisierten. Die Wiedergewinnung der Subjektivität erfolgt nicht dadurch, dass andere in Stellvertretung für den Betroffenen handeln. Als nachgerade gefährlich wirken sich explizit negative Reaktionen aus. Unsensible Bemerkungen, unangemessene Witze, Selbstverschuldensvorwürfe, Zurückweisung und Kontaktabbruch sowie die Bagatellisierung des Geschehenen durch Personen des näheren sozialen Umfelds können eine erfolgreiche Bewältigung illusorisch werden lassen. Vor diesem Hintergrund nimmt es wenig wunder, das besonders schwerwiegende Viktimisierungen zu verzeichnen sind, wenn der Täter selbst aus dem gesellschaftlichen Nahbereich des Opfers stammt. Das Erleben von Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen wird in vielen Fällen durch die fortlaufende, sich über einen langen Zeitraum erstreckende Begehung einer Reihe von Straftaten (gleicher Art) zu einem wesentlichen Bestandteil der Biografie des Opfers. Den Gegensatz hierzu bilden Konstellationen, in denen die Tat zur plötzlichen Zerstörung entgegengebrachten Vertrauens führt. Beide Szenarien eignen sich freilich zur erheblichen Verengung des Kreises denkbarer Bezugspersonen.

b) Erleben und Auswirkungen des Strafprozesses aa) Das Strafverfahren als Ursache für sekundäre Viktimisierungen Das Strafverfahrensrecht hatte in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit Menschen, deren Bild von einer sicheren und einigermaßen planbaren Welt erschüttert oder sogar zerstört worden ist. Trotzdem blieb dieses Phänomen lange Zeit von eher geringer wissenschaftlicher Attraktivität. Erst situative Begebenheiten und die Empörung über extreme Ereignisse ließen in Öffentlichkeit und Forschung ein Interesse für die Belange der Opfer von Straftaten wachsen.31 31 Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 42 ff., sehen den kulturhistorischen Hintergrund für die veränderte Haltung zum Gewaltopfer in der Reaktion auf die Zivilisationskatastrophe des Holocaust. Langandauernde Verfolgungsgeschichten hätten zu autokatalytischen Prozessen geführt, d. h. sie verstärkten sich selbst und setzten Synergien frei. Tatsächlich konnten die Überlebenden des Völkermordes kraft der eigenen Kompetenz als Schreibende oder Erzählende Zeugnis über das Geschehene ablegen. Hassemer und Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 40, heben hervor, dass es in der Motivation der Ausrottung liege, auch eine große Anzahl Intellektueller, Künstler und Wissenschaftler zu töten. Die Situation, „dass alle Bevölkerungsschichten gleichsam Opfer von Massenverbrechen wurden, stellte die Identifikationsfähigkeit mit den Betroffenen auf eine breite Basis. Sich vorzustellen, was anderen widerfahren ist, ist eben partielle Identifikation auf Zeit, und das heißt in solchen Fällen Identifikation mit Schmerz und Angst und Leid.“ H. Richter in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 57, 58, weist ergänzend darauf hin, dass erste Beschreibungen von Viktimisierungen aus medizinisch-psychiatrischer Sicht bei Soldaten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges vorgenommen worden seien. Der Begriff des Traumas sei im Zuge der Darstellung der Reaktion auf dramatische Lebensereignisse in die klinische und sonstige wissenschaftliche For-

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A. Empirische Bestandsaufnahme

Der Zweck des Strafrechts wird gewöhnlich darin gesehen, Rechtsgüter zu schützen. Auf die Person des Rechtsgutsinhabers wird dabei allerdings keine Rücksicht genommen.32 Der Umstand des dem Opfer zugefügten Leids ist für die Bewältigung von Kriminalität seitens der staatlichen Institutionen von untergeordneter Bedeutung. Dem Verletzten werden keine besonderen Vergünstigungen zuteil; ihn trifft ein Zwang zur Aussage, er dient als Beweismittel. Er ist selten als Berechtigter anzutreffen, dafür umso öfter als Adressat von Verpflichtungen. Das Strafprozessrecht räumt sogar die Möglichkeit ein, ihn durch die Auferlegung von Kosten, Ordnungsgeldern oder Ordnungshaft zum Zeugnis zu zwingen. Die Gefahr ernsthafter Persönlichkeitsschädigungen ist im Rechtssystem angelegt, so scheint es. Die tatsächliche Position des Verletzten sowie sein Einfluss auf Durchführung und Ergebnis des Strafverfahrens sind durch den Gesetzgeber – bei Lichte betrachtet – immer nur leicht modifiziert worden.33 Nach wie vor steht die Auseinandersetzung des Staates mit dem Delinquenten im Vordergrund, was Interessenkonflikte mit dem Verletzten unvermeidlich macht.34 Der Strafprozess erweist sich insofern als wenig hilfreich und fordert den Betroffenen neue Anpassungsleistungen ab. Ein weiteres Mal wird die Konfrontation mit Tat und Täter verlangt.35 Dabei gehört die Beteiligung an der Strafverfolgungstätigkeit fraglos der gesellschaftlichen Verarbeitungsebene an, wobei die Besonderheit darin liegt, dass sie sich als soziales Umfeld erst durch die Straftat konstituiert. Gewöhnlich wird der Verletzte in einen „Strudel“ gezogen, der ihm bislang unbekannt war, mit dem er vor der Tat gewöhnlich nichts zu tun hatte. Deshalb kann bereits im Ermittlungsverfahren viel Schaden angerichtet werden. Unsensibles Verhalten, formalistische Routine oder Gleichgültigkeit sind geeignet, einer sekundären Viktimisierung Vorschub zu leisten.36 Die Schwierigkeiten potenzieren sich, wenn der Betroffene sich anders verhält als es den Erwartungen der zuständigen Strafverfolgungsorgane entspricht. Diese werden – wenn überhaupt – aus der Sicht des virtuellen Opfers agieren und die Forderung von Prävention oder Genugtuung vermuten. Kraft des ihnen eingeräumschung eingeführt worden. Zur „Renaissance“ des Opfers im kriminalpolitischen Bewusstsein auch Jung, ZRP 2000, S. 159 ff. 32 So auch der Befund von Kilchling, Opferinteressen, S. 1. 33 Kilchling, Opferinteressen, S. 4. 34 Weigend, Deliktsopfer, S. 27; H. Richter, Gewalttaten, S. 132; auch Heger, JA 2007, S. 244 ff. 35 H. Richter, Gewalttaten, S. 141 ff., zeigt auf, dass die im Zuge des Strafverfahrens zu verzeichnenden Belastungen je nach Deliktsart und Geschlecht differieren können. Eine überwiegende Mehrheit der von Richter befragten Opfer schätzte ihre eigene Einlassung bei den Strafverfolgungsorganen als emotional „eher belastend“ bzw. „sehr belastend“ ein. Weibliche Opfer empfinden die strafprozessualen Mechanismen als weitaus belastender als es bei Männern der Fall ist. 36 Schneider, JZ 2002, S. 234.

II. Das wirkliche Opfer

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ten Amtes werden sie sich indessen vor allem in Zurückhaltung üben müssen. Das wiederum verursacht bei den Verletzten Passivität oder sogar Ablehnung; es kommt vor, dass sie ein geradezu bizarres Verhalten an den Tag legen. Konzentrationsschwächen und übermäßige Wachsamkeit leisten schließlich ihr übriges. Negative Reaktionen können darüber hinaus auch durch Erinnerung an vergangene unangenehme Erfahrungen im Umgang mit Behörden, Gerichten und sonstigen Autoritäten hervorgerufen werden.37 Das täterorientierte Kriminaljustizsystem bringt es des Weiteren mit sich, dass gewisse Instrumentalisierungen im Verfahren beinahe unausweichlich sind. Dadurch kann der Eindruck erweckt werden, auch der Staat behandle das Opfer als Objekt; man denke nur an körperliche Untersuchungen zum Zwecke der Beweisaufnahme und -sicherung. Es tritt hinzu, dass manche opfertypische Verarbeitungsmechanismen kontraproduktiv für Verlauf und Erfolg der Strafverfolgung sind. Bewältigt das Opfer die Tat in erster Linie durch Verdrängung, Vergessen, Umdeutung oder Korrektur des Erlebten, so führt dies zu erheblichen Problemen im Rahmen des verfahrensmäßigen Aufklärungsprozesses, zumal der Verletzte vielfach der einzige Zeuge der Tat ist. Es besteht demnach von vornherein eine Inkompatibilität zwischen individuellen Bewältigungsstrategien und dem Ziel der Strafverfolgung. Schließlich stellt sich auch die Unschuldsvermutung aus der Perspektive der kriminell Viktimisierten schnell so dar, dass ihnen die Anerkennung des Opferstatus durch die Gesellschaft versagt bleibt. Der Verletzte entwickelt das Gefühl, das ihm zugefügte Leid werde als unwesentlich diskreditiert. Ferner wird zur Kenntnis genommen, dass den eigenen (den Verdächtigen belastenden) Ausführungen mit Skepsis und Misstrauen begegnet wird. Dass dem Verletzten im Verfahren nicht unbesehen geglaubt wird, stellt eine eventuell bereits erfolgte Verarbeitung plötzlich in Frage. Alte Wunden reißen auf. All diese Umstände ziehen das Vertrauen in die Redlichkeit und Zuverlässigkeit der Strafrechtspflege in Mitleidenschaft. Das Strafverfahren fordert den Betroffenen einiges ab und birgt das Potential einer (re-)traumatisierenden Konfrontation mit Tat und Täter. Die Erfahrung subjektiver Strafungerechtigkeit beschwört das Risiko sekundärer Viktimisierungen herauf. Dieser Befund spiegelt sich auch in empirischen Erhebungen über Prozessverlauf und -ergebnis wider. Nach einer Untersuchung H. Richters bewerten mehr als zwei Drittel der Opfer das Strafverfahren als unbefriedigend.38 An dieser Einschätzung ändert sich auch dann nichts, wenn es wirklich zur Bestrafung der Täter kommt.39 Nach dem Dafürhalten der Verletzten fiel die konkrete Strafe der DelinKilchling, Opferinteressen, S. 31. H. Richter, Gewalttaten, S. 148 ff., ermittelte eine Quote von 70 %, wobei sein Augenmerk freilich auf tendenziell schwererer Delinquenz lag. 39 Orth, Strafgerechtigkeit, S. 119. 37 38

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A. Empirische Bestandsaufnahme

quenten jeweils zu mild aus.40 Darüber hinaus gelang es H. Richter aufzuzeigen, dass der Strafprozess für einen nur geringen Anteil der Befragten eine „eher positive“ oder „positive“ Auswirkung auf das persönliche Befinden gehabt habe.41 Für die weit überwiegende Mehrheit der Opfer blieb zu konstatieren, dass sich das Strafverfahren negativ auf ihr Befinden niedergeschlagen habe.42 Ein Strafrechtssystem, das sich selbst den Anspruch auferlegt, zu gleichen Teilen gerecht und handlungsfähig zu sein, kann sich mit dieser Situation nicht einfach abfinden. Sekundäre Viktimisierungen stellen sich im Rahmen der Strafrechtspflege mitnichten als nur vereinzelt auftretende negative Ausreißer dar. Vielmehr weist – vordergründig betrachtet – die Häufigkeit der durch den Strafprozess geförderten Viktimisierungsschicksale auf eine dauerhafte und strukturelle Unzulänglichkeit hin, die es zu beheben gilt. bb) Strafverfahren und Rachewunsch Risiken für die Verarbeitung des Erlebten werden nicht zuletzt im Gerichtssaal geschaffen. Es kommt vor, dass die vom Verletzten artikulierten Gefühle oder Vorstellungen vom Gericht als unmoralisch oder nicht duldbar etikettiert werden. So verhält es sich namentlich im Zusammenhang mit einer vorhandenen Rachesehnsucht oder dem Wunsch nach Vergeltung. Dabei sind Rachegefühle weniger verbreitet als es den Annahmen der virtuellen Opfer entsprechen mag.43 Der Drang nach heißblütig oder kühl vollzogenen Vergeltungsakten ist in erster Linie ein Stoff für Literatur und Film44, jedoch nicht in einem generellen Sinne bei allen Betroffenen wahrnehmbar. Die Kriminologie gibt darüber Auskunft, dass nur etwa jeder Fünfte der von Gewalt- und Eigentumsdelikten Betroffenen Rachegefühle hegt.45 Sind sie vorhanden, so werden sie durch das Motiv genährt, im Zuge einer Gegenschädigung die Balance wiederherzustellen.

40 Orth, Strafgerechtigkeit, S. 119; H. Richter, Gewalttaten, S. 152, arbeitete zusätzlich heraus, dass ca. 60% der von ihm Befragten nach dem Prozess eine negative Einstellung zur praktischen Handhabung von Gerechtigkeit entwickelt hätten. Dem stehen lediglich ca. 15% gegenüber, deren Bild der Gerechtigkeit sich im Zuge des Verfahrens sogar verbessert habe. 41 H. Richter, Gewalttaten, S. 155, ermittelte bei etwas mehr als einem Drittel der Befragten dieses Empfinden. 42 Zwei Drittel der Opfer von Sexualdelikten beschreiben nach H. Richter, Gewalttaten, S. 156, die Auswirkungen des Strafprozesses als negativ. Im Bereich von Gewalt- und Eigentumsdelikten sind dies immerhin noch fast 60%. 43 Kilchling, Opferinteressen, S. 290, registrierte Racheempfindungen „nur“ bei etwas mehr als der Hälfte aller Opfer und liegt mit diesem Ergebnis gleichsam unangefochten an der Spitze aller sich mit dem Thema befassenden empirischen Untersuchungen. 44 So der Schluss von Orth, Strafgerechtigkeit, S. 24. 45 Orth, Strafgerechtigkeit, S. 25.

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Bemerkenswert ist, dass zwischen dem Rachegefühl und dem Wunsch, den Racheakt tatsächlich auszuüben, eine Unterscheidung vorgenommen werden muss. Reemtsma hat den Rachewunsch – gleichsam aus der Perspektive des Betroffenen – als ein Mittel der therapeutischen Selbstbefreiung umschrieben. Der Racheakt solle indessen nicht in die Realität umgesetzt werden, weil Opfer nicht in eigener Person als „böse“ oder „niederträchtig“ eingestuft werden wollten. Rachephantasien seien gleichwohl nicht zu beanstanden. Es sei sogar schädlich, sie von gerichtlicher Seite pauschal für primitiv zu erklären. Scham- und Schuldgefühle würden auf diese Weise nur zusätzlich verstärkt. Eine neutrale Wahrnehmung und die Akzeptanz von Rachegelüsten hätten dagegen eine selbstwertverstärkende Wirkung und trügen dazu bei, weitere Viktimisierungen zu verhindern.

3. Die „wahren“ Interessen der Opfer Die Darstellung der wahren Interessen des Opfers gestaltet sich schwierig, da es „das Opfer“ eben nicht gibt. Persönliche Befindlichkeiten und Erlebnisse sind nur bedingt einer Verallgemeinerung zugänglich. Besonders groß ist die Diskrepanz zwischen den Opfern reiner Sachschäden und denen mit rein immateriellen Schäden. Diese Differenzierung soll deshalb zunächst ins Zentrum gestellt werden. Es gilt zu ermitteln, ob sich die Bedürfnisse der unterschiedlichen Opfergruppen in einzelnen Gesichtspunkten decken. Auf diese Weise soll der Versuch unternommen werden, trotz aller Unwägbarkeiten zu einigermaßen verlässlichen Aussagen zu gelangen. Dabei lohnt der Rückgriff auf kriminologische Untersuchungsergebnisse.

a) Die Untersuchung Kilchlings Vor allem die Arbeit Kilchlings liefert interessante Anknüpfungspunkte für die Beschreibung der „wahren“ Opfersituation. Der emotionale Bezug zum Viktimisierungsgeschehen ist nach Kilchlings Erkenntnissen bei Personen, die reine Sachschäden erlitten haben, nur wenig ausgeprägt. Dies spiegelt sich schon in den Motiven für die Erstattung der Strafanzeige wider: Die Höhe des Schadens sowie die Ausgestaltung der Versicherungsbedingungen liefern hier meist den eigentlichen Grund für die Anzeige.46 Demgegenüber tritt die Erwartungshaltung hinsichtlich Unterstützung oder Hilfe seitens der Strafverfolgungsbehörden deutlich in den Hintergrund.47 Dies ist umso mehr der Fall, je leichter die Tatfolgen von 46 Kilchling, Opferinteressen, S. 221, ermittelte bei nahezu zwei Dritteln der von ihm interviewten Opfer reiner Sachschäden das Versicherungsargument als das für die Anzeige maßgebliche. Für knapp die Hälfte der Befragten war die überdies Schadenshöhe ein entscheidender Beweggrund.

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A. Empirische Bestandsaufnahme

den Opfern eingeschätzt werden. Es ist daher kaum überraschend, dass die Hoffnung auf baldigen Ersatz der festgestellten Einbußen das wesentliche Motiv der Betroffenen ist.48 Es darf daher geschlossen werden, dass Personen mit schadensbezogenen Beweggründen im Zuge der Anzeigenerstattung eine Art „ServiceErwartung“ gegenüber den Strafverfolgungsorganen hegen. Es nimmt deshalb auch nicht wunder, dass die sorgfältige Schadenserfassung als wesentlich bedeutender aufgefasst wird als eine akribische Ermittlungstätigkeit.49 Der Stellenwert einer möglichen Festnahme des Täters tendiert bei eher leichten Tatfolgen gen Null.50 Ein ganz anderes Bild vermitteln die Opfer von Nicht-Sachschäden, also all jene, die durch die Straftat körperliche und psychische Beeinträchtigungen davongetragen und zu verkraften haben. Schadenshöhe und Versicherungsbedingungen spielen im Rahmen eines Motivbündels zwar eine wichtige Rolle, jedoch können sie nicht als das Leitmotiv für die Einschaltung der Strafverfolgungsorgane eingestuft werden. Die Bedeutung der Schwere der Tat sowie das Bedürfnis nach Hilfe und Aspekte der Prävention sind von ungleich höherem Stellenwert.51 Die Hauptgründe für die Erstattung der Strafanzeige bilden die Ermittlung des Täters und dessen Bestrafung.52

b) Änderung des Erwartungshorizonts mit steigender Tatschwere Das Bedürfnis nach Hilfe steigt mit der zunehmenden Schwere der Tatfolgen und dem empfundenen Grad der jeweiligen Beeinträchtigung. 53 Die an die Strafverfolgungsbehörden gerichtete Hilfserwartung ist besonders ausgeprägt, wenn das Opfer den Täter persönlich kennt.54 Im Gegensatz dazu tritt das Schadensersatzbegehren deutlich in den Hintergrund, was sich damit erklären lässt, dass etwa die Hälfte aller Opfer angesichts der Schwere des erfahrenen Leids ihre Schäden für nicht ersetzbar halten.55 Die subjektive Bedeutsamkeit des Strafverfahrens ist deshalb immens hoch.

47 Die strafrechtliche Tatschwere spielt nach Kilchling, Opferinteressen, S. 221, für gerade 6,3 % der Geschädigten eine Rolle. Hilfe seitens der Strafverfolgungsbehörden erhofften sich 14,1 % der Interviewten. 48 Kilchling, Opferinteressen, S. 223. 49 Kilchling, Opferinteressen, S. 234, 235. 50 Kilchling, Opferinteressen, S. 238, 239, beobachtete ein entsprechendes Interesse bei nicht mehr als 4,5 % aller Befragten. 51 Kilchling, Opferinteressen, S. 221. 52 Nach Kilchling, Opferinteressen, S. 221, gaben fast zwei Drittel der Opfer von NichtSachschäden die Hoffnung auf die Bestrafung des Täters als Hauptmotivation an. 53 Kilchling, Opferinteressen, S. 222. 54 Kilchling, Opferinteressen, S. 222.

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Dies verträgt sich kaum mit dem Befund, dass eine Mehrheit der Betroffenen mit tendenziell schwereren Viktimisierungsmerkmalen sich von den staatlichen Institutionen nicht in ausreichendem Maße ernstgenommen fühlt.56 Eine respektvolle Behandlung und die aus ihr resultierende Anerkennung als vollwertiges Rechtssubjekt soll die Wiederherstellung der Beziehung zum gesellschaftlichen Umfeld gerade ermöglichen. Zusätzliche Abwertungen oder sogar Vorwürfe stehen der intendierten Reintegration im Wege. Allerdings lässt sich schon jetzt sagen, dass das Recht an seine Grenzen stößt, wo ein Mehr an menschlicher Sensibilität verlangt wird. c) Mitwirkung im Strafprozess Die Unterscheidung nach Opfergruppen wirkt sich auch auf den Wunsch nach eventueller Teilhabe am Gang des Strafverfahrens aus. Die konträren Interessen der von reinen Sachschäden Betroffenen und derjenigen mit vorwiegend immateriellen Schäden entfalten auch insofern ihre Wirkung. aa) Einschätzung der Natur des bestehenden Strafrechtssystems Die Marginalisierung des Opfereinflusses im Strafverfahren wird in der Literatur plakativ als Enteignung des Konflikts bezeichnet.57 Dies entspricht indessen nicht den Erkenntnissen in Bezug auf die konkrete Interessenlage der Verletzten im Strafprozess.58 So fasst eine recht eindeutige Mehrheit der Opfer die Straftat als eine Angelegenheit auf, die keineswegs in erster Linie private Belange berührt. Nach Meinung der Betroffenen tangiert die Tat wesentliche öffentliche Interessen.59 Opfer mit reinen Sachschäden neigen eher dazu, die Straftat als Privatsache zu begreifen. Das lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass es sich bei einigen der hier einschlägigen Delikte um typische Versicherungsfälle handelt, bei denen der als privat empfundene „Abrechnungscharakter“ deutlich im Vordergrund steht.60 H. Richter, Gewaltdelikte, S. 163. Von 10 Opfern fühlt sich nur eines uneingeschränkt ernst genommen, Kilchling, Opferinteressen, S. 285. 57 Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 23; Kilchling, Opferinteressen, S. 23, 260. 58 Kilchling, Opferinteressen, S. 260 ff. 59 Insgesamt bejahen weit mehr als die Hälfte der wirklichen Opfer von Straftaten deren Öffentlichkeitsbezug. Dem stehen ca. 40 % der von Kilchling, Opferinteressen, S. 261, befragten Opfer gegenüber, die den Sachverhalt ausschließlich als ihre Privatangelegenheit begreifen. 60 Kilchling, Opferinteressen, S. 261, mit Bezugnahme auf Diebstahl im Allgemeinen und Fahrraddiebstahl im Besonderen. 55 56

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Auch die Einschätzung einer Tat als Bagatelle ist insofern von Wichtigkeit. Denn es gibt auch eine Reihe typischer Konstellationen, die zwar eine versicherungsvertragliche Dimension aufweisen, trotzdem aber nur von einer Minderheit als Privatangelegenheit aufgefasst werden.61 So sind etwa Autodiebstahl und Wohnungseinbruch geeignet, eine Straftat als so gravierend erscheinen zu lassen, dass sie in den Augen der Geschädigten eine über-individuelle Tragweite erreicht. Der Öffentlichkeitscharakter tritt in der Wahrnehmung der Betroffenen also umso mehr in den Vordergrund, je schwerer der jeweilige Viktimisierungscharakter subjektiv beurteilt wird.62 Mit der wachsenden Bedeutung, die einem Rechtsgut im konkreten Zusammenhang beigemessen wird, steigt die Einigkeit darüber, dass die Aufklärung der Straftat im allgemeinen Interesse liegt. Hierin kann möglicherweise sogar der Ausdruck eines Schutzbegehrens gegenüber dem Gemeinwesen erblickt werden. Eine Ausnahme stellt allein die Sexualdelinquenz dar. Hier stimmt nur etwa ein Drittel aller Opfer der Annahme zu, das an ihnen verübte Delikt sei im öffentlichen Interesse verfolgungswürdig. Schamgefühle und Angst dürften hier die ausschlaggebenden Faktoren für die Einstufung der Tat als Privatsache sein.63 Ferner darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass die Viktimisierung umso weniger als öffentliche Angelegenheit anerkannt wird, je mehr der Täter dem sozialen Nahebereich zuzuordnen ist. – Sexualstraftäter aber stammen mehrheitlich aus dem persönlichen Umfeld des jeweiligen Opfers. bb) Wunsch nach aktiver Gestaltung des Verfahrens Eine aktive Mitwirkung am Verfahren kann in Form von Prozess- oder Entscheidungskontrolle verwirklicht werden. Während jene auf die Beeinflussung verfahrensinterner Schritte abzielt, hat diese die Mitbestimmung des konkreten Verfahrensergebnisses zum Ziel. Wer für die Erreichung subjektiver Verfahrensgerechtigkeit die Kontrollmöglichkeit für besonders hervorhebenswert hält, wird ein Verfahrensmodell favorisieren, das dem Verletzten weitreichende Befugnisse im Rahmen der Informationssammlung, Gesprächsmoderation sowie der Festlegung der Verhandlungsthemen gewährt.64 Charakteristisch für den deutschen Strafprozess ist dagegen das autokratische Verfahren: Eine dritte, neutrale Instanz erhebt die notwendigen Informationen und entscheidet allein. Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Verletzten sind deshalb von Anfang an auf ein gewisses Maß begrenzt, was sich nicht zwingend nachteilig auswirken muss. So kann die Einschaltung einer souveränen und neutralen Institution 61 62 63 64

Kilchling, Opferinteressen, S. 261. Kilchling, Opferinteressen, S. 262. So auch die Einschätzung von Kilchling, Opferinteressen, S. 262. Orth, Strafgerechtigkeit, S. 42.

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sowie die Formalisierung und Objektivierung des Konflikts sehr entlastend für kriminell Viktimisierte sein.65 – Insbesondere Opfer von Nicht-Sachschäden betonen die Hilfsfunktion der Strafjustiz und sind nicht selten dankbar dafür, dass ihnen der Konflikt abgenommen wird.66 Eine prozessuale Konzeption, die das Ziel verfolgt, möglichst allseitig akzeptiert zu werden, kann sich nicht in der Rücksichtnahme auf eine ganz bestimmte Opfergruppe erschöpfen. Daraus folgt ein gewisser Zwang zum Kompromiss, um allseits den Erwartungen gerecht zu werden und so die Akzeptanz bzw. die Legitimität der Strafrechtspflege zu steigern.67 Mithin ist zu untersuchen, inwiefern der Wunsch nach Teilhabe und Einflussnahme in einem generellen Sinne überhaupt besteht. cc) Teilhabevorstellungen bei Opfern mit reinen Sachschäden Bemerkenswert ist, dass eine nicht geringe Anzahl der von reinen Sachschäden betroffenen Opfer68 eher negative Assoziationen mit der Durchführung eines Gerichtsverfahrens verbindet. Der Grund hierfür liegt freilich nicht in der Furcht vor einer unangenehmen Konfrontation mit Tat und Täter. Geringfügig Verletzte sind in erster Linie an Schadensersatz interessiert. Ein eigener Mitwirkungsbeitrag im Strafgerichtsverfahren wird daher als zu aufwändig und lästig empfunden.69 Für die meisten ist die Tat mit der Zahlung der Versicherungssumme oder einer sonstigen Ersatzleistung „erledigt“. Wer sich ausreichend entschädigt fühlt, hat gewöhnlich kein darüber hinausgehendes Anliegen mehr, an der Verhängung einer Strafe oder auch nur an einer intensiveren Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Das fehlende Interesse, selbst Einfluss zu nehmen, ist dabei lediglich Reflex des mangelnden Sanktionsbedürfnisses.70 Einem Großteil der Betroffenen ist die Durchführung des Strafprozesses schlicht gleichgültig. Das Verfahren hat ihrem subjektiven Interessenhorizont nach keine Funktion.71 Das Bedürfnis, in das prozessuale Geschehen aktiv einzugreifen, fällt daher bescheiden aus. Es ist selbst bei denjenigen nicht sonderlich Orth, Strafgerechtigkeit, S. 43; Voß, MSchrKrim 72 (1989), S. 34 ff. Kilchling, Opferinteressen, S. 269. 67 Dazu G. Kaiser, Kriminologie, § 96 Rn 1, der betont, dass Theorie und Praxis des Strafrechts das Opfer und seine Bedürfnisse zunächst hinter andere schutzwürdige Belange zurücktreten ließen. Schuldausgleich und Resozialisierung des Täters seien jedoch ohne Rücksichtnahme auf das Opfer nicht zu erreichen. Anderenfalls büße das Strafrecht an Normakzeptanz, Humanisierungswirkung und Befriedungsfunktion ein. 68 Kilchling, Opferinteressen, S. 272, ermittelte, dass ca. 25 % der Sachschadensopfer die Vorstellung eines Strafprozesses (eher) unangenehm finden. 72% der Betroffenen ist es schlicht gleichgültig, ob der Strafprozess stattfindet oder nicht. 69 Kilchling, Opferinteressen, S. 280. 70 Kilchling, Opferinteressen, S. 302. 71 Kilchling, Opferinteressen, S. 284. 65 66

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ausgeprägt, die die angemessene Bestrafung des Täters für wünschenswert halten und gerade deshalb ihre Anzeige erstattet haben. Unangenehme Empfindungen resultieren in diesem Falle aus einer gewissen Angst vor der Begegnung mit dem Täter im Gerichtssaal.72 Diese hat indessen weniger etwas mit Viktimisierungsmerkmalen zu tun. dd) Mitwirkungswünsche von Opfern mit Nicht-Sachschäden Opfer, die schwere Viktimisierungen zu verarbeiten haben, fühlen sich vielfach als Randfiguren, denen nicht ausreichend Beachtung geschenkt wird. Obwohl die öffentliche Strafverfolgung als hilfreich und in einem gewissen Sinne sogar als Dienstleistung aufgefasst wird, besteht eine starke Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verfahrensstrukturen. Fast allen Betroffenen missfällt die Vorstellung, als Zeuge vor Gericht auftreten zu müssen.73 Es herrscht der Eindruck vor, dass über die Köpfe der unmittelbar Beteiligten hinweg entschieden werde. Je höher der Grad der Viktimisierung ist, desto eher besteht der Wunsch des Betroffenen, selbst Einfluss zu nehmen. Je mehr also die aus der Straftat resultierende Ohnmacht und die durch sie empfundene Aberkennung der Subjektivität ausgeprägt ist, desto eher besteht das Verlangen, als Rechtssubjekt in den Gang des Verfahrens einbezogen zu werden. Der Mitwirkungswunsch ist allerdings nicht so intensiv, dass etwa eine formelle Parteirolle gefordert würde. Die dahinterstehende Erwägung dürfte darin zu sehen sein, dass die eigenen Einflussmöglichkeiten nicht durch unkontrollierbare Faktoren wie etwa fehlende juristische Vorkenntnisse geschwächt werden sollen.74 Die Verletzten sehen einen effektiven Mitwirkungsbeitrag vielmehr in der Möglichkeit, ihren Standpunkt jederzeit darlegen zu können.75 Sie wollen über den Stand des Verfahrens informiert werden. Sie fordern umfassende Frage- und Akteneinsichtsrechte. Eigene Entscheidungsbefugnisse oder gar eine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung lehnen die meisten Betroffenen dagegen ab. Unabhängig vom jeweiligen Rollenverständnis wird vielfach der Wunsch artikuliert, eine eigene Rechtsmittelbefugnis zu Gunsten des Verletzten zu schaffen. Inakzeptable Urteile sollen selbstständig anfechtbar sein. Daneben soll den Ver72 Kilchling, Opferinteressen, S. 281. Opfer, denen die Vorstellung des Strafprozesses angenehm ist, sind insgesamt eine Ausnahmeerscheinung. Das Genugtuungspotential des Strafverfahrens dürfte sich in der Realität schon deshalb in Grenzen halten. 73 Kilchling, Opferinteressen, S. 312. 74 Kilchling, Opferinteressen, S. 294. 75 Auch H. Richter, Gewalttaten, S. 132, sieht das allgemeine Vertrauen in jegliche rechtliche Verfahren bereits durch angemessene Information über den jeweiligen Stand der Dinge gestärkt. Auch respektvoller Umgang, wahrgenommene Fairness sowie angezeigte Kooperationsbereitschaft sollen zur allgemeinen Akzeptanz beitragen.

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letzten das Recht zugestanden werden, das Strafverfahren kraft autonomer Willensbekundung verhindern zu können. Auffällig ist ferner, dass ein Mitwirkungsbegehren umso ausgeprägter ist, je mehr der (mutmaßliche) Täter dem sozialen Nahebereich des Verletzten angehört. Je enger also die persönliche Verbundenheit zwischen Täter und Opfer ist, desto eher besteht ein Interesse, den sich in der Straftat manifestierenden Konflikt in Eigeninitiative zu bewältigen.76 Das Bild der Strafverfolgungsorgane als Dienstleister nimmt in dem Maße ab, in dem das Gefühl wächst, auf die Verhältnisse des Täters besser Einfluss nehmen zu können als Dritte. Die Täter-Opfer-Beziehung kann freilich in mancherlei Hinsicht ambivalent sein. Trotz schweren Missbrauchs wird in Gerichtsverhandlungen oftmals eine enge Loyalität des Verletzten gegenüber dem Delinquenten beobachtet. Emotionale Gemengelagen treten deshalb auf, weil die Opfer abseits der an ihnen verübten Straftaten auch positive Erlebnisse mit dem Täter hatten. Die Befürchtung, bei einer Bestrafung des Täters plötzlich die ganze Familie gegen sich zu haben, tritt nicht selten hinzu. Es wird dann nicht die Bestrafung angestrebt, sondern eine Zukunft, in der sich die Übergriffe nicht wiederholen.77 Es greift daher zu kurz, bei allen Verletzten in erster Linie den Rache- oder Genugtuungswunsch zu vermuten. Vieles hängt insoweit von den jeweiligen sozialen und emotionalen Begleitumständen ab. Vor Pauschalität ist jedenfalls zu warnen. In Rechnung zu stellen ist vor allem eines: Die Verletzten fühlen sich insbesondere in der gerichtlichen Hauptverhandlung unwohl und sind erleichtert, wenn sie beendet ist.78 Der mit der Genugtuungsfunktion verbundene Vergeltungsgedanke dürfte oft schon deshalb eine sehr untergeordnete Rolle spielen.79

d) Haltung gegenüber Verfahrenseinstellungen Die Mehrzahl der den Strafverfolgungsorganen zur Kenntnis gebrachten Fälle endet freilich mit der Einstellung des Verfahrens.80 Ein Strafverfahren kann aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Gründen eingestellt werden. Vielfach aber erfolgt die Einstellung aus rein tatsächlichen Gründen: Es kann sich schnell die Nichtschuld des Beschuldigten herausstellen; es kann aber auch sein, dass dem Kilchling, Opferinteressen, S. 290. Jäger-Helleport, Tatverarbeitung, S. 80. Eine fortbestehende Loyalität werde vor allem bei kindlichen Zeugen beobachtet, soweit der Angeklagte eine (ehemalige) nahe Bezugsperson des Kindes gewesen sei. 78 M. Kaiser, Stellung, S. 284. Die Belastung bestehe auch bei Delikten geringerer Schwere. Mit zunehmender Schwere steige sie weiter an. Eine zu Beginn vorhandene negative Grundhaltung könne durch das rücksichtsvolle Verhalten aller Beteiligten aber stark relativiert werden. 79 Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 145. 80 Statt aller Roxin, Strafverfahren, § 38 B I Rn 2. 76 77

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mutmaßlichen Delinquenten schlicht nichts nachgewiesen werden kann. Ferner gibt es die sehr gebräuchliche Möglichkeit der Einstellung aus Opportunitätsgründen, sofern der Tatvorwurf geringfügig ist und kein weiteres Interesse besteht, die Strafverfolgung auf andere Weise fortzusetzen. Schließlich können auch übergeordnete staatliche Belange der Fortführung des Verfahrens entgegenstehen.81 Vielfach wird angenommen, dass bereits die bloße Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft eine angemessene „Denkzettelfunktion“ habe. Gerade die letztere These findet nur bei einer Minderheit der im Rahmen von Opferbefragungen Interviewten Zustimmung.82 Der Verzicht auf eine formelle Sanktionierung wird allerdings eher akzeptiert, sofern die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Auflagen einstellt.83 Enttäuschung wird hingegen hervorgerufen, wenn die Einstellung gegen Auflagen bei Gericht erfolgt.84 Die Eröffnung der Gerichtsverhandlung lässt die Verletzten hoffen, es werde auch zu einer förmlichen Verurteilung kommen.85 Daran ist insbesondere den von immateriellen Schäden Betroffenen gelegen.86 Demgegenüber sympathisiert eine sehr deutliche Mehrheit derjenigen, die rein materielle Schäden erlitten haben, mit der Möglichkeit der Verfahrenseinstellung.87 Im „Trend“ liegt ferner die kriminologische Beobachtung, dass Einstellungen umso eher befürwortet werden, je mehr der in der Straftat sich repräsentierende Konflikt als Privatangelegenheit begriffen wird.88 Wenig überraschend ist auch der Befund, dass Einstellungen umso eher akzeptiert werden, je leichter die Tatfolgen von den Betroffenen eingeschätzt werden. Umgekehrt sind tendenziell schwer Viktimisierte auch an einer Bestrafung des Delinquenten interessiert.

e) Opferentschädigung, Verfahrensdauer und tertiäre Viktimisierung Nach Verurteilung des Täters und der damit erfolgenden Anerkennung des Status als „Opfer einer Straftat“ darf sich der Betroffene Hoffnung auf eine etwaige Entschädigung machen.89 Opfer von Gewalttaten sollen nach dem Zweck des 81 82 83 84 85

Zum Ganzen Roxin, Strafverfahren, § 14 B II Rn 6 ff. Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (ca. 9%). Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (das ist bei ca. 43 % der Fall). Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (ca. 9%). Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (das ist bei immerhin einem Drittel der Befragten

so). Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (51,4%). Kilchling, Opferinteressen, S. 361 (65, 3 %). 88 Kilchling, Opferinteressen, S. 362 (ca. 70 % derjenigen, die die Straftat als Privatsache begreifen, stehen einer Einstellung (eher) positiv gegenüber; dagegen sind 51% der Opfer mit immateriellen Schäden an einer förmlichen Verurteilung des Täters interessiert). 86 87

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Opferentschädigungsgesetzes gegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen von Straftaten abgesichert werden.90 Als sozialer Rechtsstaat ist die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, schädigende Ereignisse von ihren Bürgern fernzuhalten. Der Staat ist nach dem OEG gehalten, für die möglichst umfassende Rehabilitation des Opfers zu sorgen.91 Allerdings sind die Voraussetzungen eines entsprechenden Anspruchs streng. Seine Geltendmachung birgt das Risiko einer tertiären Viktimisierung. Für die Opferentschädigung ist das Versorgungsamt zuständig, d. h. das Landesamt für soziale Dienste. Es ermittelt selbstständig. Den Antragsteller treffen eine Reihe von Mitwirkungspflichten. Er hat Zeugen zu benennen, die den Tathergang schildern können. Er muss Ärzte und Sozialarbeiter gegebenenfalls von ihrer Schweigepflicht entbinden. Er hat alle notwendigen Tatsachen anzugeben und – wenn nötig – den Tathergang in seinen Einzelheiten erneut zu schildern. Auf Verlangen hat sich der Antragsteller neuerlichen medizinischen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen zu unterziehen. Alle anspruchsbegründenden Umstände sind vom Opfer zu beweisen, insbesondere also, dass es sich bei der Straftat um einen gewaltsamen tätlichen Angriff handelte, dass der Täter vorsätzlich agierte und schließlich, dass zwischen der Gewaltanwendung und dem erlittenen gesundheitlichen Schaden ein hinreichender Ursachenzusammenhang besteht.92 Zweifel gehen stets zu Lasten des Antragstellers.93 Wiederum wird der Betroffene also mit dem Umstand konfrontiert, dass ihm trotz eines rechtskräftigen Strafurteils Skepsis hinsichtlich seiner Ausführungen entgegengebracht wird. Erneut wird der Tathergang einer detaillierten Aufklärung unterzogen, die im Entschädigungsverfahren vollständig von der Initiative des Opfers abhängig ist. Die sich hieraus ergebenden Belastungen wirken sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf den Rehabilitationsverlauf aus94 und sind geeignet, nach der primären und sekundären eine tertiäre Viktimisierung zu bewirken. Idealtypisch gründet das Versorgungsamt seine Entscheidungen auf vorherige Erkenntnisse von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht.95 Jedoch werden zusätzliche Ermittlungen erforderlich, wenn sich der entschädigungserhebliche Sachverhalt und die zur Bejahung des Entschädigungsanspruchs notwendigen FeststellunTatsache ist, dass die Hoffnung oft enttäuscht wird. Haupt / Weber, Handbuch, S. 175, mit dem Hinweis, dass der Staat das Monopol für die Verbrechensbekämpfung innehabe und daher für den Schutz seiner Bürger verantwortlich sei. Er sei zur Hilfeleistung gegenüber den betroffenen Bürgern verpflichtet, wenn die staatlichen Schutzvorkehrungen versagten. 91 Eppenstein in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 102 ff. 92 Zum Ganzen Haupt / Weber, Handbuch, S. 175 ff., 179. 93 Haupt / Weber, Handbuch, S. 179. 94 Eppenstein in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 102 ff., 105. 95 Haupt / Weber, Handbuch, S. 179. 89 90

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A. Empirische Bestandsaufnahme

gen nicht bzw. nicht vollständig aus dem Strafurteil oder den Akten von Staatsanwaltschaft und Behörden ergeben. Insbesondere die lediglich sporadische Abfassung der Urteilsgründe in einem sog. abgekürzten Strafurteil wirkt sich im Nachhinein vielfach als hinderlich aus.96 Ein wiederholter oder zusätzlicher Ermittlungsaufwand ist dann kaum zu vermeiden. Das Strafverfahren zeitigt auf diese Weise noch negative Folgen in der Zukunft.97 Als problematisch hat sich schließlich die Bearbeitungsdauer der Entschädigungsanträge erwiesen. Der Anspruch wird meist erst nach erheblichem Verwaltungsaufwand zugesprochen. Als maßgebliche Gründe haben sich dafür die langwierige Tatbegutachtung und die verklausulierten Regelungen des OEG herausgestellt. Neue Unklarheiten und erweiterter Klärungsbedarf sind die Regel, sodass vor Gericht ausgetragene Streitigkeiten über den Entschädigungsanspruch nicht selten sind. Bei vollständiger Erschöpfung des Instanzenzugs bis zum Bundessozialgericht kann sich das Verfahren leicht bis zu acht Jahren hinziehen. Dadurch werden potentielle Antragsteller von Anfang an abgeschreckt, den Entschädigungsanspruch bei den zuständigen Behörden geltend zu machen.98 Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass die Geschädigten regelmäßig in mehrere Verfahren involviert sind: Neben dem Verfahren nach dem OEG setzen sich die Betroffenen etwa mit dem zuständigen Unfall- oder Rentenversicherungsträger auseinander. Die Belastung im Zuge eines Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruchs, der vor den Zivilgerichten durchzusetzen ist, tritt hinzu.99 Aus all dem resultiert die Frage, ob sich Strafverfahren und Urteil so sehr optimieren lassen, dass die herkömmlichen Wege der Rechtsdurchsetzung verkürzt oder wenigstens schneller passierbar gemacht werden. – Was also kann der Strafprozess leisten, um sekundäre und tertiäre Viktimisierungen zu vermeiden bzw. zumindest einzudämmen?

III. Viktimisierungsschicksale als Aufgabe Die kursorische Betrachtung der kriminologischen Opferforschung mahnt einen vorsichtigen und bedachten Umgang mit den bestehenden Strukturen des Strafverfahrensrechts an. Radikale Umbrüche werden von den Betroffenen nicht gefordert. Vielmehr wird auch von ihnen die öffentlich-rechtliche Dimension der strafrecht96 Gebhardt, in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 124, 126 f., der bekräftigt, dass die Feststellungen des Strafurteils entscheidende Bedeutung für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruch nach dem OEG haben. 97 Eppenstein in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 102 ff., 103. 98 Eppenstein in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme, S. 102. 99 Dazu Estelmann, in: Weisser Ring (Hrsg.), Probleme S. 109.

III. Viktimisierungsschicksale als Aufgabe

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lichen Aufarbeitung betont. Dies geschieht umso eher, je schwerer die Tatfolgen durch die Verletzten eingeschätzt werden. Die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden wird in einem gewissen Sinne als Dienstleistung empfunden, die den Betroffenen das Gefühl vermittelt, das Gemeinwesen nehme ihnen die Belastungen der Rechtswahrung und -durchsetzung zumindest in einem Teilbereich ab. Die Rolle einer förmlichen Partei im Strafprozess wird nicht angestrebt. Im Vordergrund steht eher der Wunsch, im Verfahren angehört zu werden bzw. zum Tathergang selbst Stellung nehmen zu können, ohne dass sich dies im Zusammenhang mit der Wahrnehmung eigener Aktiv- und Initiativbefugnisse zu vollziehen hätte. Insbesondere die Auseinandersetzung im Rahmen der gerichtlichen Hauptverhandlung wird als mitunter extreme Belastung empfunden, die mit einiger Wahrscheinlichkeit weiter intensiviert würde, wenn man die obligatorische Mitwirkung des Verletzten zum prozessualen Grundsatz machte. Ein solches Szenario ist auch deshalb nicht anzuraten, weil die Bedeutsamkeit des Strafrechts in den Augen der Betroffenen abnimmt, je geringfügiger sich Viktimisierungsgrad und erlittene Einbußen darstellen. Bei rein materiellen Schädigungen steht nicht ein eventuelles Sanktionsbedürfnis oder eine an den Staat gerichtete Erwartungshaltung im Mittelpunkt, sondern schlicht das Begehren nach Kompensation und Reparation; der Abrechnungscharakter tritt in den Vordergrund. In der Konsequenz dieser Ausgangssituation liegt eine Deckungsgleichheit mit der Interessenlage derjenigen, die schwerwiegendere Viktimisierungen zu verkraften haben: Eine offensive oder gar verpflichtende Beteiligung am Strafverfahren wird ganz überwiegend nicht intendiert. Zwar sind die Ursachen hierfür ganz unterschiedlicher Natur, jedoch wirkt sich dieser Umstand nicht dahingehend aus, dass über völlig verschiedene Verfahrenstypen für zweierlei Deliktsgruppen nachgedacht werden müsste. Das eigentliche Problem liegt denn auch auf rechtstatsächlicher Ebene und ist vorrangig im Bereich der schwereren Kriminalität mit Individualbezug anzutreffen.100 Die Bewältigung von Viktimisierungen ist ein persönlichkeitsbezogener Vorgang und erfolgt in erster Linie durch opfereigene Verarbeitungsstrategien, die durch die Einflussnahme und Aufgabenwahrnehmung der Strafverfolgungsorgane vereitelt oder gestört werden. Eine emotionale Dimension tritt jeweils hinzu. Die psychlogisch-physiologische Ausnahmesituation der Betroffenen kollidiert nicht selten mit einer routinemäßigen Erledigungsmentalität seitens der Strafverfolgungsorgane. Für Sensibilität fehlt mitunter das Fingerspitzengefühl. – Ob dieses gesetzlich verordnet werden kann, ist freilich zweifelhaft. Viktimisierungen sind Ausdruck eines Ungleichgewichts, das durch die Straftat erzeugt wird. Es entsteht ein Machtgefälle zwischen Täter und Opfer: absolute Macht auf der einen und vollständige Ohnmacht auf der anderen Seite. Die Strafverfolgung scheint sich ausschließlich mit der Beseitigung der Übermacht des 100

Der einfache Hausfriedensbruch bildet insofern eine Ausnahme.

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A. Empirische Bestandsaufnahme

Täters zu befassen, hebt die Ohnmacht der Verletzten jedoch nicht auf. Es mag sein, dass die Strafe dem Täter etwas nimmt, allerdings ist dem Opfer damit noch nichts gegeben. Das Verfahren trägt insofern zu einer Tatverarbeitung nicht bei, die Viktimisierung ist durch den Prozess nicht aus der Welt geschafft. Das (empfundene) Ungleichgewicht bleibt bestehen. Das Opfer fühlt sich in seiner Subjektivität weiterhin beeinträchtigt. Ihm ist daran gelegen, als vollwertiger Rechtsgenosse in die Gesellschaft reintegriert zu werden. – Es wird zu zeigen sein, welche Schlüsse aus dieser Situation zu ziehen sind. Die notwendige Rehabilitation ist nicht mittels generalisierender Maßstäbe zu erreichen, da die Präferenzen von Person zu Person differieren. Dies legt gewisse optionale Mitwirkungsmöglichkeiten nahe. Eventuelle Alternativen bedürfen freilich der strafrechtssystematischen Überprüfung: Es könnte etwa ein generelles Veto des Verletzten gegen Strafverfolgungsmaßnahmen erwogen werden, sofern er das Risiko einer Perpetuierung oder Intensivierung der Viktimisierung befürchtet. Andererseits ließe sich über umfassende verfahrensmäßige Teilhaberechte diskutieren, wenn diese nach dem Dafürhalten des Betroffenen zur eigenen Rehabilitation und Reintegration beitragen. Beides wäre gegebenenfalls geeignet, die Legitimität der Strafrechtspflege sowohl bei den Opfern wie auch in der Öffentlichkeit zu stärken. Die wohlverstandenen Interessen des Verletzten sind daher aufzugreifen, um sie für eine Optimierung des staatlichen Strafverfahrens fruchtbar zu machen. Die Viktimisierung muss als Aufgabe begriffen werden, um problembezogene Lösungen aufzuzeigen bzw. zu dokumentieren, inwiefern Änderungen überhaupt notwendig oder empfehlenswert sind.

B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit und Partizipation I. Subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen als Basis Der Sinn eines Gerichtsverfahrens wird idealtypisch darin gesehen, durch eine verbindliche Entscheidung einen sozialen Konflikt zu bereinigen. Aus Opferperspektive stellt sich diese Intention vielfach als bloßes Wunschdenken dar. Im Strafprozess wird nach Ansicht vieler Verletzter lediglich eine Konfliktlösung im formalen Sinne erreicht. Die mit Hilfe konsequenter Durchsetzung des Rechts beabsichtigte soziale Befriedung bleibt indessen aus.1 Damit aber könnte die Optimierungsbedürftigkeit der staatlich angestrebten Rechtswirksamkeit angezeigt sein.2 Der Zustand, der sich an ein Gerichtsverfahren anschließt, ist nicht gleichbedeutend mit der bloßen Gewissheit, wie ein bestimmter Sachverhalt normativ eingeordnet werden soll. Vielmehr liefern die Gerichte den Beteiligten und Beobachtern auch immer einen Gegenstand kritischer Bewertung.3 Entscheidungen werden deshalb als gut oder schlecht, als richtig oder falsch bzw. gerecht oder ungerecht eingeordnet.4 Individuelle Vorstellungen von Fairness und Gerechtigkeit bilden die Grundlage für die Bewertung menschlicher Handlungen und Entscheidungen. Sie werden gleichzeitig Kriterium dafür, welcher Grad an Legitimität einem sozialen Programm zukommt. Des weiteren bilden sich aufgrund der Interaktion Einzelner mit dem Sozialsystem individuelle Einstellungen, Erwartungen und Enttäuschungen, die ihrerseits auf das Gesamtsystem zurückwirken.5 So Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317 ff. Röhl, Rechtssoziologie, S. 161; Gerade Rechtsempfinden und Strafbedürfnis sind wichtige Komponenten für die Wahrnehmung sozialer Gerechtigkeit bzw. den verwirklichten Grad derselben, dazu Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 1 ff. 3 Damit aber verbindet sich die Frage nach der Akzeptanz einer Entscheidung bzw. einer Institution. Engagement und Loyalität zu Gunsten einer bestimmten Ordnung werden hierdurch beeinflusst, Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 1. 4 Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317 ff., 318 f.; Zugleich folgt daraus ein Unterschied zwischen einem abstrakten System der Urteilsbildung und dessen Umsetzung in konkretes Handeln, Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 1 f. 5 Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 318. 1 2

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

Diesem Phänomen haben sich auch die Sozialwissenschaften angenommen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Rechtsbewusstsein empirisch abzufragen und mit den Grundsätzen und Detailregelungen des geltenden Rechts zu vergleichen.6 Den Gegenstand der Untersuchung bildete die Problematik, wie Verfahren wohl beschaffen sein müssten, um eine gerechte Rollenverteilung zu bewerkstelligen.7

1. Eigenständige Bedeutung des Verfahrens Die sozialwissenschaftliche Forschung begann, die subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen der Betroffenen auszuloten und gelangte so zu sozialpsychologischen Gerechtigkeitstheorien, die über die Rechtssoziologie auch Berücksichtigung in der Jurisprudenz gefunden haben.8 Dort wiederum hatte man das Verfahrensrecht lange Zeit lediglich als dienendes, technisches Recht begriffen.9 Es wurde auf seine instrumentell-funktionale Aufgabe reduziert10 und seine existentielle Abhängigkeit vom materiellen Recht betont.11 Die gerechte Gestaltung des Lebens sah man durch die Normen des materiellen Rechts bereits vollzogen.12 Demzufolge wurde das prozedurale Recht als eine besonders formale, ja formalistische, spröde und nachgerade trockene Materie aufgefasst.13 Bei einer solchen Sicht der Dinge würde sich die Durchführung des Strafverfahrens allenfalls als notwendiges, ohne Alternative gebliebenes Übel darstellen. Je mehr aber das Verfahrensrecht als Medium der Verwirklichung individueller Freiheitsrechte und der Partizipation entdeckt und anerkannt wurde, für desto notwendiger wurde auch die theoretische Aufarbeitung wahrgenommener Unstimmigkeiten erachtet. Die viktimologisch-soziologische Forschung hat gezeigt, dass das Verfahren von den Beteiligten und Beobachtern unabhängig vom jeweiligen Ausgang als mehr oder weniger gerecht bzw. fair eingeschätzt wird und dass gerade diese EinschätDazu Röhl, Rechtssoziologie, S. 161. Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1 ff. 8 Röhl, Rechtssoziologie, S. 146 ff.; Machura, Fairneß, S. 77 ff. 9 Zum Wandel der Auffassungen Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 27 ff. 10 So insbesondere die Lehre im Bereich des Zivilprozessrechts, siehe noch Stein / Jonas, ZPO I, S. VII. 11 Jauernig, JuS 1971, S. 329 (ebenfalls mit primärem Bezug auf das Zivilprozessrecht). 12 Dazu Schaper, Studien, S. 135; auch der Rechtsprechung lassen sich gelegentlich entsprechende Tendenzen entnehmen, vgl. RGZ 102, S. 276, 278; 141, S. 347, 350 f. 13 Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 161 ff., 162, 175, der die formalen Zwänge des Strafprozessrechts aber im politischen Zusammenhang beleuchtet. Insofern gehe das Verfahren weit über rein technische Anwendungssätze hinaus und müsse als Brücke zu einer historischphilosophischen Grundhaltung verstanden werden. 6 7

I. Subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen als Basis

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zung erheblichen Einfluss auf die Frage hat, ob das am Ende des Verfahrens stehende Ergebnis als richtig akzeptiert wird.14 Die stetig wachsenden Erkenntnisse der Sozialpsychologie über die Wirkung von Gerechtigkeitsprinzipien im Leben der Menschen sind demnach mit dem Wissen der Rechtswissenschaft abzustimmen, um so zu Einsichten hinsichtlich der Steuerung von Sozialbeziehungen zu gelangen.15 Dazu ist zu ermitteln, wie sich die persönlichen Vorstellungen von Fairness und Gerechtigkeit mit den vorhandenen Regeln und Verfahren, nach denen gegenwärtig entschieden wird, vertragen. So könnten sich mittels subjektiver Gerechtigkeitsvorstellungen Möglichkeiten der Konfliktbeilegung gleichsam automatisch ergeben. Dieser Versuch wird auch und gerade vor dem Hintergrund schwindender metaphysischer und ontologischer Sicherheiten über den Begriff der materialen Gerechtigkeit unternommen.16 Zentral ist die Beobachtung, dass es neben der Einhaltung vorgegebener Verfahrensregeln Zusatzbedingungen geben könne, welche die empfundene „gerechte“ Behandlung im Zuge eines Verfahrens ausmachen. Letztlich soll gerade die Erfüllung dieser Zusatzbedingungen dazu führen, dass Urteile von den Betroffenen eher angenommen werden.17 Wird dem Verfahren auf diese Weise ein eigener Wert beigemessen18, so lohnt die Untersuchung, wie die Struktur des Prozesses so modifiziert werden kann, dass die für die Wahrnehmung von Gerechtigkeit relevanten Zusatzbedingungen leichter zu realisieren sind. Aus Opfersicht ist hierbei von besonderer Bedeutung, welches Maß an Partizipation die Berücksichtigung ihrer Interessen gegebenenfalls rechtfertigt.

2. Gleiche Beiträge im sozialen Austausch Erste Ansätze für die Erklärung von sog. fair-process-effects lieferten die Hypothesen der Equity-Theorie.19 Demnach seien Individuen bestrebt, maximale Ergebnisse zu erzielen. Mithin werde im sozialen Austausch ein Zustand dann als 14 Dazu Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 35 ff., der herausstellt, dass die Fairness im Verfahren mitunter wichtiger sei als das Ergebnis. Dies gelte besonders für Menschen, die bei objektiver Betrachtung in einem Streit unterlegen seien. 15 So auch Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317 ff., 325. 16 So der Befund von Bora, Verfahrensgerechtigkeit, S. 21, 31 ff., der sogar meint schließen zu können, dass „aristotelische“ Formeln wie die Suche nach der „Mitte“, „Proportionalität“ und ähnlichen dogmatischen Konstrukten in ihrer Wirksamkeit aufgebraucht seien. Kritisch auch Callies, Prozedurales Recht, S. 27 ff. 17 Bora in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 18, 24 f. 18 Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 2 f., spricht vom „Mehrwert des Verfahrens“. 19 Zum Ganzen Röhl, Rechtssoziologie, S. 147 ff.; ferner Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 4.

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

gerecht erlebt, wenn das Verhältnis der aufgewandten Mühen und der eingebrachten Investitionen zu den erreichten Belohnungen für alle Austauschbeteiligten gleich sei.20 Werde hingegen Unausgewogenheit im Sinne von inequity wahrgenommen, so löse dies Unbehagen aus, worauf regelmäßig mit Einstellungs- oder Verhaltensänderung reagiert werde, um auf diese Weise ein immerhin psychologisches Gerechtigkeitsempfinden (wieder-)herzustellen.21 Die für die Beurteilung von Gerechtigkeit maßgeblichen Faktoren sind damit solche, die in der Rechtsphilosophie unter dem Blickwinkel der Verteilungsgerechtigkeit diskutiert werden: (1) Das Beitragsprinzip, wonach eine Aufteilung dann fair ist, wenn Personen, die einen größeren Beitrag leisten, auch eine höhere Belohnung erhalten. (2) Das Gleichheitsprinzip, wonach jedem Beteiligten allein wegen seines Menschseins das gleiche zusteht sowie (3) das Bedürfnisprinzip, das eine Aufteilung dann als fair beurteilt, wenn die Belohnungen unter Beachtung der legitimen Bedürfnisse verteilt werden. Das Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit fungiert als bloße Hilfsgröße zur Verwirklichung der anderen, primär wichtigen Prinzipien. Immerhin aber wird anerkannt, dass die Bewertung einer Verteilung nicht allein vom erzielten Ergebnis abhängig ist, sondern dass die Art des Entscheidungsprozesses die endgültige Verteilung direkt oder indirekt zu beeinflussen vermag.22 Letztlich aber darf nicht verkannt werden, dass die Equity-Theorie den gemeinsamen Nenner aller Gerechtigkeit im Beitragsprinzip findet23, was eine sehr weite Definition dessen, was als Beitrag in Betracht komme, erforderlich macht. Es werden folglich nicht nur Leistungen und Aktivitäten als Beiträge angesehen, sondern ebenso der Status einer Person, ihre individuellen Bedürfnisse oder gar der bloße Umstand des Menschseins selbst.

20 Dazu Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 4, mit dem Hinweis, dass die Equity-Theory ursprünglich für den Leistungs- und Berufsbereich entwickelt worden war. Sie setzt eine gewisse egoistische Motivation der betroffenen Personen voraus. 21 Dazu Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317, S. 319; Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 4, spricht vom subjektiven Ausgleich in Reaktion auf schlechte Behandlung. 22 Röhl, Rechtssoziologie, S. 152. 23 Worauf Röhl, Rechtssoziologe, S. 152, mit Nachdruck hinweist.

II. Verfahrensmodelle

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II. Verfahrensmodelle 1. Eigene Teilhabe und Leistung als Bezugspunkte von Verfahrensgerechtigkeit a) Das Self-Interest-Model Das Konzept der Equity-Theorie ist für die Bewertung einer ganzen Reihe unterschiedlicher Verfahrensmodelle fruchtbar gemacht worden, auch im sog. Self-Interest-Model von Thibaut und Walker.24 Demzufolge bilde das instrumentelle Handeln des aufgeklärten, eigeninteressierten Individuums den Ausgangspunkt für die Beschreibung des subjektiven Gerechtigkeitsempfindens. Trotz seiner eigenständigen Bedeutung stehe für alle Beteiligten der dienende Charakter des Verfahrens im Vordergrund. In diesem Sinne bestehe zwischen einem als ungerecht wahrgenommenen Ergebnis und der Art und Weise, wie eine konkrete Entscheidung erreicht werde, ein Zusammenhang, der dahingehend zu spezifizieren sei, dass die Unzufriedenheit über ein Urteil mit dem wachsenden Einfluss von Autoritäten und Institutionen zunehme. Umgekehrt steige die Zufriedenheit über ein Ergebnis, je mehr dieses die eingebrachten Beiträge der streitenden Beteiligten abbilde.25 Einzelfallgerechtigkeit könne daher überhaupt nur durch Rücksichtnahme auf die Interessen der die Beiträge leistenden Personen erreicht werden.26 Wenn also das Verhältnis von Beiträgen und Belohnungen für die Akzeptanz eines bestimmten Verfahrenstyps entscheidend sein soll, dann wäre das Strafverfahrensrecht das gerechteste, das am ehesten geeignet ist, die individuellen Beiträge der Betroffenen zu erfassen. Dies schlösse die Entscheidungsmacht des Richters mitnichten aus, jedoch müsste die Verfahrensherrschaft mehr oder weniger bei den am Konflikt beteiligten Individuen bleiben. Dies wiederum würde heißen, dass das adversary model dem Inquisitionsprozess nach deutschem Muster (zumindest aus Sicht der individuellen Beteiligten) in jedem Falle überlegen wäre.27 Singuläres Kriterium für erlebte VerfahrensgerechtigThibaut / Walker, Procedural Justice – A psychological analysis (1975). Machura, Fairneß, S. 77, geht so weit, dass er die Beziehung zwischen Beitrag und Ergebnis mit dem klassischen Lehrbuchbeispiel der Entlohnung von Arbeitsleistung vergleicht. 26 Demzufolge sind zwei Stadien der Konfliktbewältigung zu unterscheiden: Ein Verfahrensstadium, in dem es um Beweisführung und Argumentation geht, und ein Entscheidungsstadium, in dem die Lösung des Konflikts erreicht wird. Die Kontrolle des Entscheidungsstadiums soll durch eine unabhängige Autorität erfolgen, während den Betroffenen an der Kontrolle des Verfahrensstadiums gelegen sei. Dazu Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 35, 39 ff. 27 Tatsächlich stand für Thibaut und Walker der Vergleich zwischen adversary und inquisitorial model im Mittelpunkt der Untersuchungen. Sie sahen in ihnen die beiden Extreme der denkbaren Ausgestaltungsmöglichkeiten von Gerichtsverfahren. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Parteienprozess dem Inquisitionsprozess objektiv als Instrument zur Vorbereitung gerechter Entscheidungen wie subjektiv in der Einschätzung der Beteiligten überlegen sei. 24 25

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

keit wäre die Möglichkeit, die eigene Sicht der Dinge darlegen zu können. Der eigene Beitrag müsste sich überdies als Bestandteil des abschließenden Urteils erweisen. Für eine Zurückdrängung des individuellen Einflusses auf den Gang des Verfahrens lassen Thibaut und Walker nur drei Faktoren unumschränkt zu: So sei dem Bedürfnis Rechnung zu tragen, eine möglichst schnelle Entscheidung herbeizuführen. Das Interesse an Verfahrenseffektivität (verstanden als die Notwendigkeit, Zeit und Kosten zu sparen) könne die Verfahrensherrschaft der Parteien begrenzen. Weiterhin könne die Existenz griffiger Entscheidungsstandards die Verständigung der Beteiligten über die entscheidungserheblichen Kriterien entbehrlich machen. Drittens schließlich spreche die Herstellung einer Symmetrie, also die Vermeidung von Nullsummenkonflikten zwischen den Betroffenen für eine gewisse Verfahrenskontrolle durch eine neutrale Autorität. Die Vorzugswürdigkeit des kontradiktorischen Verfahrens wird durch solche Zweckmäßigkeitserwägungen freilich nicht angegriffen. Sie befreien den Parteienprozess lediglich von vermeidbar erscheinenden Verschleppungen und Unwägbarkeiten. b) Schwächen des Modells Die Präferenz zu Gunsten einer möglichst weitgehenden Kontrolle durch die Beteiligten wirkt sich allerding dysfunktional hinsichtlich solcher Zielsetzungen aus, die über den Erwartungshorizont der Betroffenen hinausgehen.28 So setzen Thibaut und Walker voraus, dass das Verfahren einem Ergebnis dienlich sei, mit dem sich zuvorderst die beteiligten Personen einverstanden erklären können. Würde man demnach die Interessen des Verletzten als zentral und verfahrensleitend anerkennen, so müsste das Ziel des Strafprozesses darin bestehen, das jeweilige Ergebnis an den Erwartungen und Bedürfnissen des Opfers auszurichten. Ferner müsste das Urteil maßgeblich auf den vom Verletzten eingebrachten Informationen und Wunschvorstellungen beruhen. Das kann freilich dazu verleiten, Informationen, die den eigenen Erfolgsaussichten abträglich sind, zurückzuhalten.29 Kritisch Bora, Verfahrensgerechtigkeit, S. 25; einschränkend auch Machura, Fairneß, S. 77 ff. sowie Röhl, ZfRSoz 1993, S. 1, 9 ff. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein überzeichnetes Bild des Inquisitionsprozesses zur Grundlage der Studie gemacht wurde. Übereinstimmungen mit der Realität inquisitorischer Prozessordnungen sind also nur bedingt zu verzeichnen, Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 35, 43 ff. 28 Vgl. Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317, 320. 29 Es wäre daher nur konsequent, den Grundsatz der formellen Wahrheit auch im Bereich des Strafprozessrechts zur Durchsetzung zu verhelfen. Dieser Schritt ist aber auch im amerikanischen Rechtsraum nicht vollzogen worden. Überhaupt strebt auch das adversatorische Verfahrensmodell nach materieller Wahrheit, nur dass die Wahrheitsermittlung im Prinzip von Rede und Gegenrede ihren Ausgangspunkt findet und nicht dem „Monolog des Inquisitors“ überlassen bleibt.

II. Verfahrensmodelle

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Da die Ausgangssituation für den mutmaßlichen Täter dieselbe ist, steht sogar zu befürchten, dass es im Zuge des Verfahrens zur Konstituierung einer wettbewerbsähnlichen Lage kommt. Damit aber würde die Gerechtigkeit des Verfahrens mit dem absoluten Erfolgsprinzip identifiziert. Dadurch wiederum sind Konstellationen denkbar, die „Gewinner“ und „Verlierer“ hervorbringen. Der in diesem Sinne von einem positiven Ergebnis Begünstigte wird das Verfahren stets als gerecht empfinden, während der durch ein negatives Ergebnis Benachteiligte dasselbe Verfahren als ungerecht erlebt.30 Verfahrensgerechtigkeit wäre dann aber etwas einseitiges, polares. Des weiteren offenbart das Self-Interest-Model ein Bewertungsproblem: Wenn als Gerechtigkeitskriterium vor allem das Maß der den Beteiligten überlassenen Verfahrenskontrolle gilt, so ist das Ergebnis des Verfahrens in hohem Maße von der vorhandenen Mitwirkungsbereitschaft der betroffenen Individuen abhängig. Das Beitragsprinzip erweist sich auch in diesem Falle als der gleichsam „entscheidende“ Faktor. So sieht es die Equity-Theory vor. Der Wert einzelner Beiträge richtet sich nach den jeweiligen Bedürfnissen der Partizipanten. Mithin scheint eine Aussage darüber, welche Aktivitäten überhaupt wertvoll und damit für das Erleben von Gerechtigkeit von Belang sind, in einer unendlichen Variabilität zu versanden. In einem einzigen Verfahren kann derselbe Beitrag von ganz unvorhersehbarem Wert sein, wenn man diesen nach der individuellen Präferenzstruktur und dem augenblicklichen Sättigungsgrad bemisst. Die intersubjektiven Unterschiede sind so groß, dass ein einheitlicher institutioneller Rahmen, der der Gesamtheit sich bietender Verhaltensalternativen Rechnung trägt, kaum denkbar ist. Die als Begleitziel akzeptierte Gewährleistung einer gewissen Verfahrenseffektivität würde die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens de facto beherrschen müssen. Im Hinblick auf etwaige Opferinteressen besonders beachtenswert ist auch, dass das Bedürfnis, am Strafprozess aktiv teilzunehmen, gegebenenfalls bis auf Null herabsinken kann. Es stellt sich die Frage, wie sich dieser Umstand auf die Rechtsfindung auswirken soll. In Bezug auf den Delinquenten treten ähnliche Probleme zutage: Warum sollte er immer an eigener Mitwirkung interessiert sein? – Legt man die Konzeption des Self-Interest-Models zugrunde, so wäre das höchste Maß an Gerechtigkeit dann erreicht, wenn das Verfahren in solchen Fällen von vornherein nicht stattfände. Wenn den individuellen Interessen etwa durch Erlangung materiellen Schadensersatzes oder der Auszahlung einer Versicherungsleistung genügt wäre, müsste die Durchführung des Strafprozesses mangels eines punitiven Interesses seitens des Opfers entfallen. Dem Täter würde an einer solchen Konsequenz freilich nur gelegen sein. Wenn sich das Strafverfahren aus Sicht aller Beteiligten als unmaßgeblich oder gar überflüssig darstellte, müsste von jeder weiteren strafrechtlichen Aufarbeitung abgesehen werden, um das Ziel allseits empfundener Verfahrensgerech30

Röhl, Rechtssoziologie, S. 152 f.

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

tigkeit ins Werk zu setzen. Ebenso verhielte es sich bei tendenziell schwerer viktimisierten Opfern, die den Strafprozess deshalb fürchten, weil sie Angst vor der neuerlichen Konfrontation mit dem Täter haben. Diese Lösung wäre die einzig konsequente, wenn außerhalb von Opfer und Täter stehende Interessen keine bzw. eine lediglich untergeordnete Rolle spielen würden. Von dieser Annahme geht das gegenwärtige Strafrechtssystem aber nicht aus und das wird, soweit ersichtlich, auch von niemandem behauptet. Nach allem ist zu schließen, dass das Self-Interest-Model letztlich mehr Fragen aufwirft als beantwortet werden. Anregungen für eine angemessene Verteilung der Kompetenzen und Teilhabebefugnisse lassen sich mit ihm indessen nicht gewinnen. Weder ist geklärt, in welchem Verhältnis private zu öffentlichen Interessen stehen, noch ist ersichtlich, warum die Möglichkeit, die eigene Sicht der Dinge darlegen zu können, an die formelle Parteirolle gebunden sein sollte. Es ist ohne weiteres vorstellbar, dass sich auch der vom einfachen (Opfer-)Zeugen eingebrachte Beitrag im Urteil niederschlägt. Vielfach wird dies schon deshalb so sein, weil der Verletzte der einzige Zeuge der abzuurteilenden Straftat ist. Es kommt dann ganz entscheidend auf seinen Beitrag im Rahmen der Tataufklärung an. Die Teilnahme am Verfahren muss dazu nicht einmal freiwillig erfolgen. Zwischen individuellen Zielen und einem bestimmten Ergebnis besteht daher nicht notwendigerweise ein Zusammenhang, der für die Wahrnehmung von Gerechtigkeit erforderlich wäre.

2. Das Group-Value-Model von Lind und Tyler a) Legitimität durch wechselseitige Anerkennung zwischen Gruppe und Individuum Das Eigennutzstreben als singuläres Kriterium für die Erklärung wahrgenommener Verfahrensgerechtigkeit stellten Lind und Tyler ausdrücklich in Frage.31 Sie wiesen auf die Bedeutung sozialer Bindungen für das Individuum hin. Nach Auffassung von Lind und Tyler stellen sich Verfahren als gewissermaßen stilprägende Eigenschaften32 sozialer Einheiten dar. Da die Entstehung einer persönlichen Identität von mannigfachen Sozialisationsprozessen abhängig sei, werde das Individuum gerade durch die Auseinandersetzung mit Normen, Regeln und Weltbildern der Gruppe geformt.33 Folglich könne nicht ausschließlich die persönliche Vorteilssuche über die Gerechtigkeit eines Verfahrens entscheiden: Durch die existenzielle Bindung des 31 32 33

Lind / Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice (1988). Verstanden als Ausdruck der Charakteristik einer Gruppe. Vgl. auch Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 11 ff. sowie Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 8.

II. Verfahrensmodelle

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Menschen an die Gruppe34 bestehe dieser gegenüber eine Erwartungshaltung, in bestimmter Weise behandelt zu werden. Werde diese Erwartung enttäuscht, so folge daraus nicht lediglich eine Unzufriedenheit mit einer einzelnen Entscheidung, sondern zugleich eine Erschütterung des Vertrauens in die für die Gruppe handelnden Autoritäten und die Gruppe selbst. Insofern würden durch Verfahren nicht nur die Beziehungen zwischen individuellen Gruppenmitgliedern geregelt, sondern darüber hinaus der soziale Status des Einzelnen festgelegt. Eine unfaire Behandlung im Verfahren sei deshalb für die Stellung einer Person in einer Gruppe tendenziell eine Bedrohung. Erlebte Ungerechtigkeit bzw. schlechte Behandlung stelle sich für den Betroffenen als Ausgrenzung dar. Da sich im Verfahren jedoch das Wertsystem einer Gruppe widerspiegele, lasse dies auf die Fehlerhaftigkeit einer Dauereinrichtung schließen und nicht allein auf ein im Einzelfall getroffenes ungerechtes Urteil. Umgekehrt vermittle ein als gerecht erlebtes Verfahren das Gefühl der Wertschätzung, der Zugehörigkeit zur Gruppe. Normbefolgung wäre in diesem Falle mit respekt- bzw. würdevoller Behandlung im Verfahren erklärbar. Die Anerkennung der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft ginge dann damit einher, die bestehende Ordnung auch in Zukunft als legitim zu betrachten.

b) Group-Value-Theory als Beschreibung realer Bedingungen? Im skizzierten Sinne scheint die Group-Value-Theory die Opferinteressen in mancherlei Hinsicht zutreffend einzufangen. Es konnte bereits herausgearbeitet werden, dass insbesondere Opfer mit Nichtsachschäden – also solche, die schwerwiegendere physische und psychische Tatfolgen zu gewärtigen haben – auf eine sensibilisierte, respektvoll-helfende Atmosphäre während der gesamten Strafverfolgung besonderen Wert legen. Sie begehren die Anerkennung als vollwertiges Rechtssubjekt, woran letztlich jedem Menschen gelegen ist. Unter opferspezifischen Gesichtspunkten wird dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit eine neue Dimension hinzugefügt. Den Betroffenen geht es darum, nach der vom Täter erfahrenen Demütigung nicht zusätzlich im Verfahren als Objekt behandelt zu werden. Dies nämlich könnte die ohnehin eingetretene Viktimisierung perpetuieren oder sogar intensivieren. Da den Opfererwartungen oft nicht entsprochen wird, erfolgt im Zuge des Strafverfahrens eine tiefe Erschütterung des Glaubens an Gerechtigkeit, die eine 34 Der Begriff der Gruppe ist bei Tyler und Lind mit dem der Gesellschaft durchaus gleichbedeutend.

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

Schwächung des Normvertrauens mit sich bringt. Das Strafsystem und seine Institutionen werden in solchen Fällen als Instrument der Reintegration nicht wahrgenommen. Dies entlädt sich in der Forderung nach struktureller Überarbeitung des gegenwärtigen Kriminalsystems. Damit aber ist wieder nur eine ganz bestimmte, abgrenzbare Opfergruppe erfasst. Auch die Group-Value-Theory setzt eine vorhandene Erwartungshaltung, eine Hoffnung in das Handeln der staatlichen Organe voraus. Diese Erwartungshaltung kann bei einer nicht geringen Anzahl von Verletzten aber so ausgestaltet sein, dass ein Strafverfahren besser nicht durchgeführt werde. Für einige, eher leichte Delikte stellt das deutsche Strafprozessrecht das Instrument des Strafantrags zur Verfügung, um derartigen Konstellationen Rechnung tragen zu können.35 Wo das Erfordernis des Strafantrages jedoch nicht besteht, muss die Group-Value-Theory zu dem Ergebnis gelangen, dass die öffentliche Strafverfolgung und somit der durch sie repräsentierte Wille der Gemeinschaft die gegebenenfalls kundbar gemachten gegenläufigen Interessen des Opfers ignoriert. Hierin aber würde sich eine Form der Rücksichtslosigkeit gegenüber individuellen Interessen manifestieren. Wenn hierdurch die im Zuge der Straftat eingetretene Viktimisierung aufrechterhalten würde, so wäre dies Zeugnis des fehlenden Respekts der Allgemeinheit gegenüber dem Einzelnen. Letzterer könnte nicht länger auf eine Verwirklichung gerade seiner Interessen hoffen, weshalb sich in solchen Fällen die Gruppe als Bedrohung darstellen müsste. Hier aber tritt die Schwäche der Group-Value-Theory zutage: Sie ist entwickelt worden, um Erklärungsmuster zu liefern, wann redlicherweise von subjektiver Verfahrensgerechtigkeit ausgegangen werden darf. Sie orientiert sich also maßgeblich am Empfinden des Einzelnen. Gradmesser für die Einschätzung des Verfahrens als gerecht oder ungerecht bleiben in ihr jedoch de facto die Wertvorstellungen der Gemeinschaft. Unterscheiden sich diese im Einzelfall von denen des individuell Betroffenen, so wäre nachzuweisen, welche der kollidierenden Interessen den Vorzug verdienen. Maßstab für diese Bewertung können dann aber nur objektive Kriterien der Gerechtigkeit sein, womit sich die Group-Value-Theory von ihrem eigentlichen Anliegen lossagen müsste und gezwungen wäre, ihre eigenen Prämissen und Annahmen auf den – alt hergebrachten – rechtsphilosophischen Prüfstand zu stellen. Es kommt hinzu, dass Variablen wie Höflichkeit und Respekt keinerlei Aufschluss darüber zu geben vermögen, wie Verfahren sinnvollerweise ausgestaltet sein müssen, um auch widerstreitenden Interessen und Erwartungen zu einem ge35 Wobei berücksichtigt werden muss, dass eine Reihe von Antragsdelikten zugleich Privatklagedelikte sind, was die Konsequenz mit sich bringt, dass die Betroffenen gezwungen sind, die rechtliche Aufarbeitung des Erlebten in eigener Sache voranzutreiben, was freilich nur in seltenen Ausnahmefällen wirklich geschieht. Vor diesem Hintergrund ist nur davor zu warnen, den Strafantrag hinsichtlich seiner opferspezifischen Funktionen und Rücksichtnahmequalitäten zu überfrachten.

II. Verfahrensmodelle

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rechten Ausgleich zu verhelfen. Kriterien wie Wertschätzung und Rücksichtnahme sind von spezifisch rechtlichen Themen unabhängig. Sie kommen vor allem in Betracht, um eine allgemeine, von rechtlichen Interessen gelöste Konversationsanalyse vorzunehmen.36 Man würde sie überstrapazieren, wenn man aus ihnen Rückschlüsse für verfahrensrechtliche Reformüberlegungen ableiten würde. Abseits davon ist klarzustellen, dass innere Einstellungen dem Bereich der Moral zuzuordnen sind und sich nicht zwangsläufig in rechtliche Kategorien pressen lassen. Es ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass Opferzeugen von einem Gefühl der Ausgegrenztheit ergriffen würden, wenn das Gericht eine ausführlichere Befragung des Verletzten für entbehrlich hält. – Höflichkeit und Respekt sind nicht an einen bestimmten institutionellen Rahmen gebunden. Auch die Group-Value-Theory scheitert mithin an ihren eigenen Voraussetzungen und trägt nicht dazu bei, den schillernden Topos der erlebten Verfahrensgerechtigkeit in Bezug auf die am Prozess Beteiligten zu konkretisieren.

3. „Legitimation durch Verfahren“ nach Luhmann Einen radikalen Gegenentwurf zu den dargestellten, ganz auf die Person des Individuums fokussierten Konzeptionen liefert Niklas Luhmann. Er löst die Funktion des Verfahrens von seinen Folgen vollständig ab. Hinter dieser strikten Trennung steht die Auffassung, dass das Verfahren zunächst die Aufgabe habe, den Betroffenen als Problemquelle von seiner bisherigen Umgebung zu isolieren und die Sozialordnung von seiner Zustimmung oder Ablehnung unabhängig zu stellen. In einem solchen Vorgehen repräsentiere sich die Indifferenz gegenüber individuellen Motivationsstrukturen. Mithin bestehe der Zweck des Verfahrens darin, den Geltungsanspruch von Werten und Normen im sozialen Leben zu verwirklichen.37 Dies wiederum könne nur durch eine Beschränkung der Parteifähigkeit in Bezug auf den konkreten Prozess erreicht werden: Es könne nicht jedermann hinzutreten und mitreden, sondern nur derjenige, der ein berechtigtes Interesse am Verfahren bekundet habe. Dieses Interesse aber müsse schon deshalb ein spezielles, rechtlich fixiertes sein, weil nur so der Konflikt politisch neutralisiert werden könne.38 Diese Kanalisierung und Konzentration rechtfertige alsdann den Zugang zum Verfahren und eine aktive, sprechende Rolle. Beteilige sich der Betroffene am Zeremoniell des Verfahrens und an der laufenden Bestätigung der Entscheidungsprämissen und Kompetenzen, so seien ihm nach und nach immer mehr die Möglichkeiten zur Kritik abgeschnitten.39 36 37 38 39

Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1 ff., 5 f. Luhmann, Verfahren, S. 121. Luhmann, Verfahren, S. 121. Luhmann, Verfahren, S. 129.

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Das lässt sich freilich so interpretieren, dass man sich gerade deshalb auf das Verfahren einlasse, weil man auf einen positiven Ausgang hoffe.40 Wer sich im so verstandenen Sinne auch nur halbwegs freiwillig in das Verfahren hinein begibt, hätte also damit seine Bereitschaft, das Ergebnis zu akzeptieren, bereits bekundet.41 Mit Hilfe des Verfahrens würden Normen verinnerlicht und zum Gesetz des eigenen Selbst gemacht.42 Luhmann meint, das Verfahren baue die jeweiligen Erwartungen des Betroffenen in einer Weise um, dass alle Beteiligten die Entscheidung „[ . . . ] als etwas unvermeidliches akzeptieren müssen wie das Wetter.“43 Damit beruhe das Verfahren auf der konsensualen Übereinstimmung aller. Voraussetzung sei freilich, dass Konsens in großem Umfang tatsächlich bestehe oder zumindest durch die fehlende Bekundung von Dissens fingiert werden könne.44 Dies bedinge eine Rückbindung an die das Verfahren bindenden Sozialsysteme. Vehikel dafür sei die Zulassung der Öffentlichkeit. Die Allgemeinheit solle ebenfalls zu der Überzeugung gelangen (können), dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Ferner solle den Beobachtern das Gefühl vermittelt werden, dass auch ihnen mit institutioneller Unterstützung zu ihrem Recht verholfen werde, wenn sich dies als nötig erweise.45 Da ein derartiges Gefühl durch den gegenwärtigen strafprozessualen Rahmen eher nicht (flächendeckend) gewährleistet zu werden scheint, wäre das System nach Auffassung Luhmanns wohl reformierungsbedürftig. Die teilweise harsche Kritik am Ist-Zustand und dessen In-Frage-Stellung durch die Wissenschaft zeigen an, dass der für Legitimität besonders relevante Lernprozess im Verfahren nur begrenzt stattfindet. Luhmann sieht das Ziel des Verfahrens in der Unterstreichung bzw. Erhärtung von Werten und Normen. Dies gelte gerade gegenüber dem betroffenen Einzelnen. Allerdings ist der Schritt von der bloßen Teilnahmebereitschaft zur unumschränkten Akzeptanz einer bestimmten prozeduralen Form ein erheblicher. Luhmann setzt den Wunsch der Beteiligten voraus, sich selbst in das Verfahren einzubringen. An diesem Partizipationsinteresse orientiert er den von ihm skizzierten institutionell-rechtlichen Rahmen. Eine Begründung dafür, warum einem irgendSo auch der Schluss von Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 20 f. Ebenso Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 20 f. 42 So ausdrücklich Luhmann, Verfahren, S. 121. 43 So die etwas polemische Überspitzung der Interpretation Luhmanns durch Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 20 f. 44 Luhmann, Verfahren, S. 123. 45 Luhmann, Verfahren, S. 123. Insoweit besteht eine Verwandtschaft zum Begriff der Legitimität bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1980, S. 16. Das wird von Luhmann selbst eingeräumt. Legitimität ist – nach Weber – der Glaube an die Verbindlichkeit und, vor allem anderen, an die Vorbildlichkeit einer Ordnung. Legitime Herrschaft besteht demnach solange, wie der Gehorchende seine Befolgungspflicht annimmt. 40 41

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wie gearteten Teilhabebegehren gefolgt werden sollte, bleibt Luhmann jedoch schuldig. Der Personenkreis, der ein berechtigtes Interesse am Verfahren soll haben dürfen, ist durch nichts konkretisiert, sondern wird in seiner Existenz pauschal vorausgesetzt. Es bleibt unaufgeklärt, wann und unter welchen Umständen ein konkretes Interesse zu einem berechtigten wird. Es ist zu vermuten, dass Luhmann dazu die das Verfahren umgebenden Sozialsysteme zu Rate ziehen würde. Auch hier bleibt jedoch völlig offen, welche Systeme sich als in diesem Sinne relevant herausstellen würden und welche nicht. Daraus folgt aber wiederum, dass keine Kriterien dafür zu benennen sind, wer berechtigt sein soll, am Verfahren teilzunehmen und wer nicht. Freilich ist Luhmann zuzugestehen, dass sich derlei Fragen in einem konsequent durchgeführten Positivismus von vornherein nicht stellen. Schließlich müsste das Recht selbst festlegen, wann und unter welchen Voraussetzungen der Einzelne in einem geordneten Verfahren teilnahmeberechtigt ist. In diesem Sinne würde also die Rechtsordnung selbst als maßgebliches System fungieren. Indessen würden die einen eventuellen Reformbedarf anzeigenden Probleme auf diese Weise schlicht ausgeblendet und müssten gar nicht weiter hinterfragt werden. Der an das Verfahren herangetragene Anspruch, Normen des sozialen Miteinander zu veranschaulichen, um so Werte zu vermitteln, würde sich in bloße Fiktion verlieren.46 Damit aber sind die Rollen aller denkbaren Beteiligten ganz und gar offen; namentlich auch die derjenigen, die zur Teilnahme am Verfahren verpflichtet werden (können). Es lässt sich nicht ermitteln, ob etwa auch Opferzeugen in den durch das Verfahren in Gang gesetzten Lernprozess mit aufgenommen werden sollen, ob sie als Beobachter oder Beteiligte zu gelten haben, welche ihrer Interessen als berechtigte oder vernachlässigbare zu kennzeichnen sind. Stellt man hierzu auf die das Strafverfahren begleitenden Systeme (bzw. die Rechtsordnung schlechthin) ab, so wird das Problem lediglich verlagert. Es kommt hinzu, dass nicht bei allen potentiellen Verfahrensbeteiligten von einer vorhandenen Lernbereitschaft ausgegangen werden kann. Hierin liegt allenfalls der Grund und die gesetzgeberische Motivation für die Festlegung einer Mitwirkungsverpflichtung. Andererseits wird die Gefahr geschaffen, dass jedwede Lernbereitschaft von vornherein unterbunden wird. – Schließlich steht zu befürchten, dass die Akzeptanz von Verfahren eher sinkt, wenn es unter dem Deckmantel der Wertevermittlung dazu missbraucht wird, den eigentlichen Willen der Betroffenen zur Wahrung vermeintlich höherer Interessen zu beugen. Luhmann hätte sicher keine Schwierigkeiten, Zeugenaussagen als einfache Beweismittel zu begreifen. Aufschluss über die Natur der mit Hilfe des Verfahrens verfolgten Interessen ist damit jedoch nicht gegeben. Beweismittel und -methoden 46 Das allein spricht freilich nicht schlechthin gegen die Richtigkeit systemtheoretischer Erwägungen. Vielmehr läge hierin ein Ansatz, das Strafprozessrecht aus systemtheoretischer Perspektive zu reformulieren, was indessen weder Aufgabe noch Ziel dieser Arbeit sein kann. 47 Leventhal, Social Exchange, S. 27 ff.

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wären zwar Bestandteil des angestrebten Lernprozesses und ermöglichen dessen Durchführung, jedoch bliebe die Identität der Adressaten auch weiterhin unklar.

4. Suche nach einem gemeinsamen Nenner Es fragt sich, welchen Ertrag die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erklärungsversuchen für einen procedural-justice-effect hat, wenn schon die grundlegenden Modelle unter gravierenden konzeptionellen Schwächen leiden. Wie dargelegt, ist das Spektrum denkbarer menschlicher Erwartungshaltungen, Hoffnungen und Begehren so groß, dass sich mit Hilfe subjektiver Kriterien kaum ein für alle Fallkonstellationen tragbares Verfahrensgerüst entwerfen lässt. Und dennoch treffen sich die divergierenden Ansätze zur Bewertung von Verfahrensvarianten in einigen Punkten. Leventhal47 und Bierbrauer48 extrahierten einige Gesichtspunkte, die konsensual als Mindestbedingungen für das Erleben von Verfahrensgerechtigkeit aufgefasst werden. (1) Die Konsistenzregel stellt die Bedeutung von gleichbleibenden Kriterien für spätere Leistungsbewertungen heraus. Misstrauen stellt sich demnach vor allem dann ein, wenn Verfahrensregeln fortlaufenden, sich wiederholenden Änderungen unterzogen werden. Der Eindruck von Ungerechtigkeit wird genährt, wenn stetig neue Verfahrensordnungen aus der Taufe gehoben und dann doch wieder verworfen werden. Dies indiziert die Notwendigkeit eines stabilen Systems. Konstante Verfahren stärken das Vertrauen in die Richtigkeit eines eingeführten Prinzips und ersticken zu befürchtende Konkurrenzgefühle. Dies trägt zur Chancengleichheit bei. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass eine gewählte und lange Zeit bewährte Ordnung auch durch neue Ideen überholt werden kann. Die Konsistenzregel zwingt nicht zum Stillstand. Jedoch ist ihr die Warnung vor einer übermütigen, allein dem Zeitgeist verpflichteten Gesetzgebung zu entnehmen. Sie trägt letztlich die Forderung nach Rechtssicherheit in sich. (2) Ein Verfahren, das sich der Akzeptanz der an ihm Teilnehmenden sicher sein will, soll nach der Unvoreingenommenheitsregel die Unparteilichkeit der Entscheidenden sicherstellen. Eigeninteressen oder Vorurteile der Entscheider sind daher der Bewertung des Verfahrens als gerecht abträglich. (3) Die Korrigierbarkeitsregel fordert einem Verfahren die Möglichkeit ab, gegen ein bestimmtes Resultat Rechtsmittel einlegen zu können. Werden entsprechende Institute gewährleistet, so ist über sie hinaus sicherzustellen, dass die Überprüfung Begehrenden keine Nachteile aus ihrer Intervention

48 Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317, 322 ff.; Übersichten auch bei Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1, 11 ff. sowie Bierhoff, LdR 3 / 230, S. 8.

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zu gewärtigen haben.49 Umgekehrt darf der Einsatz von Korrekturmitteln aber auch nicht dazu geeignet sein, die Autorität der Entscheidenden zu unterminieren. Anderenfalls stünde die Nichteinhaltung der Konsistenzregel zu befürchten. (4) Die Genauigkeitsregel besagt, dass ein Verfahren immer dann zu subjektiv wahrgenommener Fairness führt, wenn die der Entscheidung zugrunde liegenden Informationen optimal sind. Mithin ist die Unzufriedenheit über Verfahren und Entscheidung dann besonders groß, wenn ein im Rahmen der Möglichkeiten liegendes, erzielbares Optimum verfehlt wird. In diesem Punkt scheint sich der empirische Befund mit der theoretischen Vermutung zu decken: Hat der Verletzte den Eindruck, dass nicht alle verfügbaren Informationen über Tat, Täter und Tatfolgen in die rechtliche Beurteilung eingeflossen sind, so besteht die Wahrscheinlichkeit einer Negativeinschätzung des Prozesses.50 Das Gefühl, ein nicht vollwertiges Rechtssubjekt zu sein, wird gerade hierdurch verstärkt. (5) Inwiefern dieses Bild des Verletzten relevant ist, versucht schließlich die Repräsentationsregel zu illustrieren. Sie verlangt, dass in allen Phasen des Prozesses die grundlegenden Probleme und Werte der von der Entscheidung betroffenen Untergruppen der Bevölkerung berücksichtigt werden sollen. Auf diese Weise spiegele sich im Verfahren der Wille all derjenigen wider, die selbst hätten betroffen sein können. Bierbrauer51 räumt ein, dass die Einhaltung dieser Regel von der Frage begleitet werde, welche Werte und Interessen berechtigterweise Eingang in das Verfahren finden sollten. Darüber hinaus muss ausgelotet werden, ob ihre eventuelle Einbeziehung und Berücksichtigung rechtstatsächlichen Niederschlag finden soll oder nur reinen Symbolwert hat. Gerade damit aber sind die entscheidenden Fragen erst aufgeworfen. Der von Sozialpsychologie und Rechtssoziologie erteilte Auftrag besteht darin, das in der Straftat sich manifestierende Beziehungsgeflecht aufzudecken und für die Gestaltung des Strafprozesses fruchtbar zu machen. Es ist zu untersuchen, zu wessen Gunsten straf- und strafprozessrechtliche Normensysteme zur Entfaltung gebracht werden sollen. Die als gemeinsamer Nenner herausgefilterten Kriterien für die Akzeptanz eines Verfahrens decken sich einstweilen nur mit den in der juristischen Literatur und Wissenschaft diskutierten Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfah49 Aus der Korrigierbarkeitsregel folgt ohne weiteres das Verbot der reformatio in peius, die im Anwendungsbereich der StPO indessen noch immer keine allgemeine Anerkennung gefunden hat. 50 Man denke nur an die Diskussion um Berechtigung und Voraussetzungen des sog. Deals im Strafverfahren. 51 Bierbrauer in: E. Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternativen, S. 317, 324.

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ren. Insofern handelt es sich um rechtsstaatlich-juristische Selbstverständlichkeiten.

5. (Nicht-)Nullsummenspiele a) Nullsummenspiele Der Versuch einer grundlegenden Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafverfahren wird von Risiken begleitet, die es nach Auffassung etlicher Kritiker52 nicht lohnenswert erscheinen lassen, die bisherige Aufteilung der Kompetenzen im Strafprozess in Frage zu stellen. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass der weitere Ausbau der Rechte des Verletzten zu einer nachhaltigen Gefährdung der Verteidigungseffektivität führen müsse.53 Um diese Befürchtung möglichst plakativ zu verdeutlichen, wird die Eröffnung neuer Perspektiven zu Gunsten des Opfers neuerdings gern als Nullsummenspiel zu Lasten des Beschuldigten beschrieben54: Der Gewinn des Einen entspricht dem Verlust des Anderen; was man dem Opfer als Mehr an Rechten einräumt, das muss man dem Tatverdächtigen als Minus wegnehmen. Die Summe von Gewinn und Verlust ist damit jeweils Null. Von gesetzgeberischer Seite wird stets beteuert, dass Opferschutz ohne Einbußen an Rechtsstaatlichkeit bei der Wahrheitsfindung bewerkstelligt werden müsse.55 Analysiert man freilich die bisher vorgenommenen Änderungen näher, so liegt die Vermutung nicht fern56, dass bislang durchgeführte und noch durchzuführende Reformen dem Muster von Nullsummenspielen folgen. Noch vor Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes von 1987 machte Schünemann darauf aufmerksam, dass allein schon die Existenz eines Nebenklagevertreters unter gruppendynamischen Aspekten eine Schwächung der Verteidigungsposition mit sich bringe. Beachte man die Realbedingungen der Hauptverhandlung, so sei anzuerkennen, dass sich die Verteidigung in einer für sie hoffnungslosen numerischen Unterlegenheit befinde.57 Ganz ähnlich verhalte es sich in Bezug auf die Erweiterung der Informationsrechte des Verletzten: Das Akteneinsichtsrecht in Verbindung mit der unbeschränkten Möglichkeit der Hinzuziehung eines Rechts52 Schon Schünemann, NStZ 1986, S. 193 ff.; 198 f.; ferner Seelmann, JZ 1989, S. 670, Salditt, StV 2001, S. 314 ff. 53 Schünemann, NStZ 1998, S. 193, 198 ff.; Salditt, StV 2001, S. 314 ff. 54 Dazu Barton in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 241, 242 ff.; kritisch Hassemer / Reemtsma, Verbrechensopfer, S. 62 f., die betonen, dass es nicht nur um die Zuteilung von Interventionsrechten gehe, sondern um die fundamentale Einschätzung von Rechtspositionen, die Täter und Opfer sollen geltend machen dürfen. 55 Stellungnahme der Bundesregierung in StV 2001, S. 314; ferner Däubler-Gmelin; StV 2001, S. 359, 360 ff. 56 Barton in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 241, 249 f. 57 Dazu Schünemann, NStZ 1986, S. 198.

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anwalts als Beistand beeinträchtige die Wahrheitsfindung in ihrer Gesamtheit. Befugnisse des Verletzten über die Zeugenrolle hinaus stellten eine Einladung zur Manipulation dar. Im Vordergrund stünde die Interessenverfolgung in eigener Sache, was dadurch begünstigt werde, dass Prozesshandlungen den jeweils vorliegenden Beweisergebnissen angepasst werden könnten.58 Das Ziel eines kommunikativen und transparenten Strafprozesses, der die möglichst frühzeitige Partizipation des Verletzten vorsieht, wird auch von Salditt59 kritisch beurteilt. Die stärkere Nutzung von Gesprächsmöglichkeiten zwischen den Verfahrensbeteiligten bereits in einem frühen Stadium der Strafverfolgung laufe auf eine Drei-Plus-Eins-Konferenz hinaus, weil Gericht, Staatsanwaltschaft und Opferbeistand dem Beschuldigten wie eine Einheitsfront gegenübersäßen. Die vom Gesetzgeber befürwortete Emanzipation des Verletzten vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten stelle sich deshalb nicht als kommunikativer Schulterschluss, sondern als eine Verfahrensform dar, die der Verteidigung so etwas wie Unterwerfung nahelege. Der Strafprozess verliere damit seine Offenheit und führe zu einem ernsthaften Konflikt mit der Unschuldsvermutung.60 Würde sich eine derartige Argumentation als zutreffend erweisen, dann würden opferfreundliche Reformen des Strafsystems tatsächlich in die faktische Schlechterstellung der Rechtsposition des Beschuldigten münden. Die These vom Nullsummenkonflikt wäre damit untermauert: In dem Maß, in dem der Verletzte neue prozessuale Chancen erwirbt, sinken spiegelbildlich die Abwehr- und Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten. Die Skizzierung derartiger Szenarien dient freilich der Empfehlung, den Versuch der Einbettung des Opfers in das Strafverfahren nicht weiter zu verfolgen. Auch Nack61 hält ein Gleichgewicht zwischen Verletztem und Beschuldigtem in dem Sinne, dass allen tatsächlichen und rechtsstaatlichen Interessen entsprochen werden könne, für problematisch. Nullsummenspiele seien im Gesetz und namentlich in der StPO schon von vornherein angelegt. Nack weist auf die zentrale Bedeutung des Rechts, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, hin und stellt die Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 d EMRK heraus. Beachtlich sei, dass die StPO ein Anwesenheitsrecht des Beschuldigten oder des Verteidigers bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren nicht vorsehe. Diese Situation könne sich zwar für das Opfer als vorteilhaft erweisen, beeinträchtige aber umgekehrt die Verteidigungsstrategie der Gegenseite erheblich. Auch hier dränge sich der Verdacht auf, als würden Normen, die die Rechte der Verteidigung schützen, gegen Opferinteressen ausgespielt.62 58 59 60 61 62

Schünemann, NStZ 1986, S. 199 f. Salditt, StV 2001, S. 314. Salditt, StV 2001, S. 314, 317 f. Nack in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 33, 35 f. Nack in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit , S. 33, 35.

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Schließlich sieht sich auch die Rechtspraxis dem Vorwurf ausgesetzt, sie gebe Verteidigungsrechte zu Gunsten der einseitigen Durchsetzung von Opferinteressen auf. Besonders die Revisionsrechtsprechung des BGH bot Anlass zur Kritik. Ein Fall sei hier beispielhaft nachgezeichnet: Der Angeklagte war wegen sexuellen Missbrauchs (§ 176 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt worden. Er hatte hiergegen Revision eingelegt und diese mit der unzureichenden Beachtung von Verfahrensvorschriften begründet. Insbesondere bemängelte er, dass die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt sei. Dies aber stelle einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO dar. Bei Erfolg der Revision hätte der vorher fehlerhaft entlassene Zeuge nochmals gehört werden müssen, und zwar diesmal in Anwesenheit des Angeklagten. Der 5. Strafsenat des BGH wies die Rüge indessen zurück und stellte fest, dass sie an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO scheitere.63 Er führte zur Begründung aus, dass die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen generell nicht wesentlicher Bestandteil der Hauptverhandlung sei und stellte sich damit gegen die Auffassung des 3. Strafsenats. Dieser hatte in einem anderen Fall64 entschieden, dass die Entlassung eines Zeugen als selbstständiger Verfahrensabschnitt zu begreifen sei, der grundsätzlich auch einen wesentlichen Bestandteil der Hauptverhandlung bilde. Die Richter des 5. Strafsenats rechtfertigten ihr Judikat damit, dass der prozessuale Vorgang der Entlassung eher organisatorischen Charakter habe, jedoch nicht unmittelbar der Urteilsfindung diene. Nur eine solche Auslegung des Verfahrensrechts stelle sich als angemessene Lösung von Fällen dar, die im Spannungsfeld der Wahrung aktiver Mitwirkungsbefugnisse des Angeklagten einerseits sowie des Zeugen- und Opferschutzes im Strafverfahren andererseits anzusiedeln seien. Der Opferschutzgedanke wurde also explizit für die einschränkende Auslegung von Verfahrensrechten herangezogen. Das wirkt sich freilich zum Nachteil des Angeklagten aus: Es handelt sich um einen Nullsummenkonflikt. b) Nicht-Nullsummenspiele Natürlich wird das Ziel einer verbesserten Berücksichtigung von Opferinteressen auch mit Chancen für die Beschuldigten und das Strafverfahren insgesamt in Verbindung gebracht. So werden bestimmte Tendenzen innerhalb der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter dem Blickwinkel sog. Nicht-Nullsummenspiele analysiert.65

BGH StV 2000, S. 240. Der 2. Strafsenat hingegen fasst die Entlassung eines Zeugen ebenfalls nicht als wesentlichen Teil der Hauptverhandlung auf, vgl. BGH StV 2000, S. 239. 65 Dazu Nack in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 31, 40 ff. sowie Barton in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 241 ff. 63 64

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Als Nicht-Nullsummenspiele werden solche Konstellationen bezeichnet, in denen es den Spielern gelingt, den eigenen Gewinn zu steigern, ohne dass zugleich ein Verlust beim Gegner eintritt. Man schlägt also gemeinsam Kapital aus derselben Spielsituation. Durch Kooperation und ein Zusammenfallen gewisser „Zugkombinationen“ werden Vorteile für beide Spieler erreicht. In Entsprechung zu diesem Modell sollen sich auch im Strafprozess bei Erfüllung bestimmter Gegebenheiten ganz neue Chancen und Perspektiven für Verletzte, Beschuldigte und Strafverfahren auftun. Auch hier sei ein vom BGH entschiedener Fall66 beispielhaft skizziert: Das LG hatte drei Angeklagte wegen Mordes an einer 79-jährigen Frau in Tateinheit mit versuchtem Mord an ihrem 75-jährigen Ehemann zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Bei einem der drei Angeklagten hatte das LG zusätzlich eine tateinheitliche absichtliche schwere Körperverletzung angenommen (§ 226 Abs. 2 StGB). Hinsichtlich dieses Angeklagten stellte das Schwurgericht die besondere Schwere der Schuld fest. Maßgeblich war hierfür, dass der Angeklagte (in der Form des Mittäterexzesses) den Ehegatten der Getöteten in besonders gefühlloser Weise durch das Zerdrücken des linken Augenkörpers geblendet habe. Die Revision des Angeklagten richtete sich allein gegen die der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zugrunde liegende Verurteilung wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung. Begründet wurde die Rüge mit einem Verstoß gegen § 265 Abs. 1 StPO: Das Schwurgericht hätte nur dann wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung verurteilen dürfen, wenn es den Angeklagten ausdrücklich auf die gegenüber Anklage und Eröffnungsbeschluss veränderten rechtlichen Gesichtspunkte hingewiesen hätte. Dies aber war unterblieben. Gegenstand von Anklage und Eröffnungsbeschluss war „nur“ eine schwere Körperverletzung im Sinne des § 226 Abs. 1 StGB. Ein rechtlicher Hinweis wäre deshalb erforderlich gewesen, weil § 226 Abs. 2 nicht nur Strafzumessungsvorschrift, sondern ein Qualifikationstatbestand ist. Mithin hätten die veränderten rechtlichen Gegebenheiten explizit angezeigt werden müssen. Deshalb bejahte der BGH einen Verstoß gegen Verfahrensrecht. Dennoch wurde die Sache nicht an das Ausgangsgericht zurück verwiesen. Der 1. Strafsenat entschied selbst in der Sache. Getragen von der Zustimmung des Generalbundesanwalts wurde gem. § 154 a Abs. 2 StPO eine Verfahrensbeschränkung hinsichtlich der absichtlichen schweren Körperverletzung vorgenommen und der Ausspruch der besonderen Schwere der Schuld aufgehoben, da er nun der Grundlage entbehrte. Der Senat führte aus, dass „mit Rücksicht auf das in Fällen der vorliegenden Art bedeutsame Interesse des Opferschutzes [ . . . ]“ und „angesichts der hohen Belas66 BGH v. 24. 07. 2001 – 1 StR 286 / 01, dazu auch Nack in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 31, 38 ff. sowie Barton in: Barton (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit, S. 241 ff.

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tung des überlebenden, inzwischen 77 Jahre alten, psychisch und physisch mit Dauerfolgen schwer geschädigten Tatopfers [ . . . ] eine neue tatrichterliche Hauptverhandlung nicht mehr verantwortbar“ erscheine. Von dieser Entscheidung profitierte vor allem das Opfer, aber auch der Angeklagte. Allein der staatliche Strafanspruch wurde nicht in vollem Umfang verwirklicht. Der über den Verlust beim Gegner hinausgehende Gewinn blieb den an der Straftat Beteiligten freilich erhalten, weshalb es durchaus nicht abwegig anmutet, die Konstellation als typisches Beispiel für ein Nicht-Nullsummenspiel aufzufassen.

c) Zur Eignung des Spiel-Modells bei der Analyse des Strafverfahrens Ungeklärt bleibt allerdings, ob derartige (recht plakative) Formeln zur Analyse strafprozessualer Situationen überhaupt geeignet sind. Neumann67 meint eine Reihe von anerkannten strafprozessualen Regeln und Prinzipien anhand des Spielmodells erklären zu können. Er sieht im Bild des Prozesses als Spiel bzw. Wettkampf das Gegenmodell zum Verfahren als dienendem Instrument der Gerechtigkeit. Indessen weist Barton68 darauf hin, dass die Strafprozessordnung gerade nicht von einem Gegenüber von Beschuldigtem und Verletztem ausgehe. Das Gegenteil sei der Fall: In diesem Sinne scheint Barton Reflexionen über Nullsummen- und Nicht-Nullsummenspiele eher als Verdeutlichung zur Illustration vorfindbarer Asymmetrien zu verstehen. Es mag hier dahinstehen, welchen Wert man derartigen Erklärungsmustern beimisst. Fraglich ist, ob spieltheoretische Erwägungen69 überhaupt Aufschluss über strafprozessuale Probleme geben können. Die Spieltheorie stellt keinen weiteren Versuch dar, den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren oder diesen mit bestimmten Inhalten zu füllen. Sie will auf induktivem Wege bestimmte Vorstellungen zu Begriffen und Kriterien präzisieren.70 So dient sie der Ermittlung der jeweils vorteilhaftesten Entscheidungsstrategie. Einzige Voraussetzung ist deshalb das Vorhandensein eines Interessenkonflikts. Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52, 68 ff. Barton in: Barton (Hrsg.),Verfahrensgerechtigkeit, S. 241, 272 (dort in Fn 10). 69 Die Spieltheorie wird zunehmend für die nähere Bestimmung von Verfahrensgerechtigkeit bemüht. Vgl. dazu von Arnauld in: von Arnauld, Spielregeln, S. 143, 145, der es für zweifelhaft hält, ob die Prozeduralisierung egoistischer Perspektiven dazu beiträgt, verlässliche Aussagen über die Richtigkeit von Normen zu ermöglichen. Vgl. auch Tschentscher, Theorien, S. 170 ff., 270 ff., der einen direkten Zusammenhang zwischen wertungsmäßiger Orientierung am individuellen Nutzen und der Spieltheorie sieht. 70 Schlink in: Podlech (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden, S. 113, 114 f. 67 68

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Die Spieltheorie liefert die Sprache zur Analyse von Situationen, in denen konfligierende Interessen aufeinander prallen.71 Ihr Anwendungsbereich ist nur bei sehr vordergründiger Betrachtung auch im Strafprozess eröffnet. Auf die persönlichen Bedürfnisse einzelner Spieler nimmt die Spieltheorie nur bedingt Rücksicht. Als „fair“ wird eine Spielsituation dann angesehen, wenn formale Symmetrie hergestellt ist.72 Diese aber ist bereits dann gewährleistet, wenn alle Mitspieler mit den gleichen Rechten ausgestattet sind und selbst ein Rollentausch den Zweck des Spiels nicht verlagern würde.73 Eine wichtige (und nicht vernachlässigbare) Prämisse der Spieltheorie liegt folglich darin, dass das Ziel des Spiels für alle Spieler gleich ist; die Gewinnchancen müssen auf denselben Gegenstand bezogen sein. Schon dies ist im Strafprozess aber nicht der Fall. Sein Fairnessbegriff lässt sich auf rein formale Kriterien nicht beschränken oder zurecht stutzen. Materielle Gesichtspunkte sind aber nicht Bestandteil spieltheoretischer Analysen. Das Fairnessprinzip der Spieltheorie ist frei von jeder Richtigkeitsorientierung74, was man im Grunde sogar als Vorzug feiern könnte. Jedoch ist von der Spieltheorie keinerlei Antwort auf die Frage zu erwarten, ob es sinnvoll ist, im Strafprozess eine Symmetrie zwischen Verletztem und Beschuldigtem im Sinne von „Waffengleichheit“ herzustellen. Sie trifft auch keine Entscheidung darüber, wer überhaupt geeigneter Mitspieler oder Spieler im Prozess sein sollte. Bei festgestellten Asymmetrien, d. h. wenn die Gewinnchancen der Mitspieler unterschiedlich groß sind, plädiert die Spieltheorie schlicht dafür, die Symmetrie durch Änderung der Spielregeln zu gewährleisten. Es stellt sich aber gerade die Frage, in welcher Weise und zu wessen Gunsten dies zu geschehen hat. Man überstrapaziert das spieltheoretische Konzept, wenn man mit seiner Hilfe die Suche nach dem günstigsten strafprozessualen System durchführen wollte. Es ist sicherlich sehr veranschaulichend, mit den Begriffen „Gewinn“ und „Verlust“ zu argumentieren. Mit Spielsituationen hat die Durchführung des Strafprozesses jedoch wenig gemein. Es sind deshalb auch anhand einiger vom BGH entschiedener Fälle keine Rückschlüsse auf systematische Änderungen oder prozessuale Strategien zu ziehen; Auslegungsmaßstäbe lassen sich schon gar nicht deduzieren. Die opferfreundliche Tendenz der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nicht Holler / Illing, Spieltheorie, S. 1 ff. Tschentscher, Theorien, S. 271 ff. 73 Holler / Illing, Spieltheorie, S. 1 ff.; J. v. Neumann / O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 165 ff. 74 Tschentscher, Theorien, S. 272; J. v. Neumann / O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour (1944), S. 225, mit dem Hinweis, dass selbst formale Symmetrie nicht vollends zu gewährleisten ist, da die Anwendung der Spielregeln fehlerhaft bzw. asymmetrisch erfolgen kann: „It is the argument that even an absolute, formal fairness – symmetry of the rules of the game – does not guarantee that the use of these rules by the participants will be fair and symmetrical.“ 71 72

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B. Opferinteressen, subjektive Verfahrensgerechtigkeit, Partizipation

mehr als ein Faktum. Wenn überhaupt eine Erkenntnis spieltheoretischer Art in Betracht kommt, dann ist es die, dass Nullsummenkonflikte nach Möglichkeit zu verhindern sind. Nach allem lässt sich resümieren, dass die Spieltheorie die Bestimmung des Zustands, von dem aus der Konflikt seinen Lauf nimmt, voraussetzt. Die Bedeutung der Frage, welche Interessen im Strafprozess überhaupt zu verfolgen oder gar zu befriedigen sind, wird nochmals bekräftigt, nicht aber beantwortet. Es ist daher zu untersuchen, ob der Strafprozess – um im Bild zu bleiben – ein Spiel ist, an dem nur zwei Personen beteiligt sind oder ob gegebenenfalls weitere Interessenträger hinzutreten. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sich herausstellen, dass von einem Spiel überhaupt nicht die Rede sein darf. Eine Perspektivenerweiterung über die strikte Täterorientierung des Strafprozessrechts hinaus erscheint damit nur möglich, wenn das Programm des Strafrechts ausreichend beleuchtet wird. Das soll nun geschehen.

C. Das strafrechtliche Programm I. Rechtsgüterschutz als Auftrag Herkömmlicher Auffassung nach dient das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz. Mit dieser Formulierung ist zugleich ein wünschenswertes Ideal umschrieben, denn der im vorstehenden Sinne bestimmten Funktion wäre immer dann Genüge getan, wenn der Normbruch1 ausbleibt. Die intentionale Richtung der einzelnen Tatbestände sowie der in ihnen auffindbaren Verhaltensbefehle weist damit regelmäßig in die Zukunft. Es liegt mithin in der Natur der Sache, bei Normerlass nicht die wirklichen, sondern die virtuellen Opfer in Bezug zu nehmen. Mit der Schaffung und Verabschiedung strafrechtlicher Vorschriften sucht der Gesetzgeber den Schutz der Bürger zu gewährleisten, ohne Identität und Bedürfnisse derjenigen zu kennen, die zukünftig Opfer einer Straftat sein werden. Um die Zahl der Betroffenen niedrig zu halten, werden die Forderungen der Verhaltensnormen durch entsprechende Sanktionsnormen untermauert.2 Gleichwohl kann keinerlei Garantie dafür abgegeben werden, dass es zur Begehung von Straftaten nicht kommen werde. Im Gegenteil: Das Ziel des Strafgesetzgebers besteht in einer allgemeinen Verhaltenssteuerung bei gleichzeitiger Gewissheit über das Versagen der im Strafgesetz zum Ausdruck gebrachten normativen Erwartungshaltung im Einzelfall. Nicht zuletzt deswegen werden Art und Maß der Reaktion auf Zuwiderhandlungen im Vorfeld geregelt. Die Sanktionsnorm soll die Wirksamkeit und Durchsetzungsfähigkeit des normativen Willens unterstreichen3 und trägt doch das Bekenntnis in sich, dass das Ziel des Rechtsgüterschutzes nicht lückenlos gewährleistet werden kann. 1 Binding, Normen I, S. 4, hat herausgestellt, dass sich die im Strafgesetz beschriebene und die vom Täter konkret begangene Handlung decken. Deshalb dürfe nicht davon gesprochen werden, dass der Täter das Strafgesetz „verletzt“ habe. Er müsse „vielmehr immer, damit er bestraft werden könne, diesem Gesetze in seinem ersten Theile gemäss, in Einklang damit gehandelt haben.“ [ . . . ] „Mit anderen Worten: das Gesetz, welches der Verbrecher übertritt, geht begrifflich und zeitlich dem Gesetze, welches die Art und Weise seiner Verurtheilung anordnet voraus.“ Nicht das Strafgesetz, sondern das ihm zugrunde liegende Veroder Gebot werde „verletzt“. Vgl. ders., Handbuch Bd. 1, S. 155, 162 ff. 2 Zum intentionalen Charakter der Sanktionsnormen Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 187 ff.; wobei darauf hinzuweisen ist, dass in der organisierten Reaktion auf die Normverletzung ein Kriterium zu sehen ist, durch das sich das Recht schlechthin von Sitte und Moral abhebt. 3 Die normtheoretische Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnorm wird auch nachfolgend als Grundannahme vorausgesetzt. Dazu Renzikowski, Gössel-FS, S. 3 ff.; auch Maurach / Gössel / Zipf, Allg. Teil, TeilBd. 2, § 45 Rn 12 ff.

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C. Das strafrechtliche Programm

Der Zweck positiver Rechtssätze liegt folglich in der verlässlichen Regelung einer unbestimmten Anzahl von Fällen mit Wirkung pro futuro.4 Eine rückwärts gewandte rechtliche Beurteilung anlässlich konkreter, sich bereits zugetragen habender Sachverhalte – wie sie etwa im case-law vorgenommen wird – soll gerade nicht stattfinden, da sie die Festlegung des jeweiligen juristischen Maßstabs immer erst erforderlich macht. Die Entscheidung hierüber wird durch die jeweils einschlägige gesetzliche Formel regelmäßig hinfällig. Positive Rechtssätze werden freilich unter Berücksichtigung der ihnen beigemessenen Zwecke angewendet. Wenn sich diese nicht am Vergangenen orientieren, sondern daran, was in Zukunft idealtypisch sein soll, dann bleibt von untergeordneter Bedeutsamkeit, an welchem Rechtsgenossen sich die Normverletzung konkret vollzogen hat. Das wirkliche Opfer einer Straftat wäre nicht mehr als das Medium der Vermittlung über-individueller gesetzlicher Zielsetzungen. Vor diesem Hintergrund erfolgt auch die Diskussion um Sinn und Funktion der strafrechtlich geschützten Rechtsgüter. Die Wichtigkeit von Individualität und Subjektivität wird zwar allenthalben betont, realiter jedoch nur reflexiv ins Werk gesetzt. Auffällig ist insbesondere, dass eine Differenzierung zwischen dem jeweiligen zu schützenden Rechtsgut und dem betroffenen Rechtsgutsträger vorgenommen wird. Die strafrechtliche Würdigung des Sachverhalts erfolgt denn auch weniger aus der Perspektive des im Zuge der Straftat in seinen Interessen konkret beeinträchtigten Rechtsgenossen, als vielmehr vor dem Hintergrund des Anliegens, die Allgemeinheit vor zukünftigen Angriffen mit strafrechtlicher Relevanz zu bewahren oder das Vertrauen in die Geltungskraft und Verlässlichkeit der Rechtswirksamkeit5 zu stärken. Damit ist man freilich bereits bei der Debatte um die legitimen Strafzweckerwägungen angelangt. Ihren Grund findet die Kontroverse letztlich aber in der Struktur der Vorschriften des positiven Rechts. Wer Anknüpfungspunkte für eine größere Rücksichtnahme auf Opferbelange finden will, muss sich daher der Zielsetzung strafrechtlicher Sollenssätze annehmen und die Frage beantworten, ob die Erreichung zukünftiger vermeintlicher Ideale ohne Rückbezug auf 4 Nach Rawls, Theorie, S. 162, entscheidet der Gesetzgeber bei Schaffung einer Norm dabei „unter dem Schleier des Nichtwissens“, d. h. ohne Kenntnis davon zu haben, wer im einzelnen Falle von dem Gesetz betroffen sein wird. Insofern könne niemand die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens nach seinem eigenen Gutdünken zuschneiden. Gerade der Umstand, dass noch niemand persönlich betroffen sei bewirke, dass alle Menschen – ihr rationales Handeln vorausgesetzt – nach allgemeinen Grundsätzen entscheiden müssten und demzufolge einer allgemeinen, einstimmig angenommenen Gerechtigkeitsvorstellung zur Durchsetzung verhelfen würden. Rawls’ Erwägungen betreffen die Situation im Urzustand, in dem über die Bedingungen des Gesellschaftsvertrages entschieden wird. Im Mittelpunkt steht jedoch die Vermeidung egoistischer Grundsätze. Dazu auch Ellscheid in: A. Kaufmann / Hassemer, Rechtsphilosophie, S. 179, 218 sowie Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 265. Der Gesetzgeber sei regelmäßig zu einem Verallgemeinerungstest gezwungen. Es müsse festgestellt werden, ob das Gesetz als allgemeine Regel brauchbar ist, anderenfalls handele es sich nicht um ein allgemeines Gesetz. 5 Dazu auch Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 138.

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das Vergangene überhaupt möglich ist. Die entscheidende Prämisse liegt darin, sich mit der geschehenen Individualverletzung nicht einfach abzufinden, sondern sie als Aufgabenstellung, die an das Gemeinwesen herangetragen wird, zu begreifen. Dazu müsste es gelingen, die Straftat in tatsächlicher Hinsicht nicht nur als Sachverhalt einzuordnen, der rechtlich zu bewerten ist. Es ist zu hinterfragen, ob das anlässlich des verwirklichten Delikts offenbar werdende Rechtsverhältnis über das zwischen Staat und Delinquent hinausgeht. Es ist deshalb erforderlich, sich mit den Grundideen und Intentionen des Rechtsgutsbegriffs im Strafrecht auseinander zu setzen bzw. die hinter ihm stehenden dogmatischen Konzeptionen zu hinterfragen. Möglicherweise halten die hergebrachten und immer noch herrschenden dogmatischen Ansätze einer nach modernen Gesichtspunkten vorgenommenen Prüfung nicht stand. Wichtig ist die Untersuchung vor allem deshalb, weil der Klärung bedarf, warum der Staat die Rechtsdurchsetzung anlässlich krimineller Delinquenz in eigener Zuständigkeit wahrnimmt, während die bürgerlich-rechtlichen Mechanismen die Initiative des Individuums zum Ausgangspunkt jeder juristischen Würdigung erheben. Im bürgerlichen Recht scheint das jeweilige individuelle Interesse gewissermaßen als Motor der rechtlichen Auseinandersetzung zu fungieren. Im Gegensatz dazu verleiten die strukturellen Bedingungen des Strafprozesses und die für seinen Ausgang relevanten Gesichtspunkte eher zu der Annahme, dass sich das Strafrechtssystem der Berücksichtigung individueller Interessen gleichsam bewusst verschließt. Der Schutzauftrag des Strafrechts scheint sich von dem des Privatrechts insofern grundlegend zu unterscheiden, womit sich die Frage stellt, warum individuelle Präferenzen vor dem Hintergrund derselben verfassungsmäßigen Ordnung in zweierlei Rechtsgebieten von ganz und gar unterschiedlichem Stellenwert sind. Dies gilt umso mehr, als sowohl im Privatrecht wie auch im Strafrecht mit dem Begriff des Rechtsguts operiert wird. Seine Inhalte sind indessen unklar.

1. Die naturalistisch-positivistische Rechtsschule Das gemeinhin übliche Verständnis des Rechtsgutsbegriffs und des Rechtsgüterschutzes ist maßgeblich von der naturalistisch-positivistischen Rechtsschule von Liszts geprägt. Seiner Konzeption nach sei das Recht die Ordnung der im Staate organisierten Gesellschaft; als solche sei sie dem steten Wandel der Verhältnisse unterworfen. Der Staat bilde einen Zweckverband, der der gemeinsamen Verfolgung gemeinsamer Ziele diene.6 Hierin deutet sich bereits die Vorstellung von der primär überindividuellen Bedeutung der Rechtsnormen an. Jedoch erkennt von Liszt den Träger des Staates einzig und allein im Staatsvolk, was ihn zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass 6

Von Liszt, Lehrbuch, S. 3.

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C. Das strafrechtliche Programm

alles Recht um der Menschen willen sein Dasein habe. Es bezwecke mithin den Schutz menschlicher Lebensinteressen.7 Das Wesen des Rechts bestehe im Interessenschutz und der Zweckgedanke sei die das Recht erzeugende Kraft. Die durch das Recht geschützten Interessen nannte von Liszt Rechtsgüter.8 Beachtenswert sei freilich, dass die Rechtsgüter Lebensinteressen repräsentierten, die nicht von der Rechtsordnung erzeugt würden, sondern vom Leben selbst. Erst der Rechtsschutz aber erhebe tatsächliche Interessen zu Rechtsgütern. Recht in diesem Sinne sei eine Kulturerscheinung und unlöslich mit der Gesamtkultur verbunden. Der Schutz dieser und die Zurückweisung anderer Interessen werde vom über dem Einzelnen stehenden allgemeinen Willen vorgenommen: Die Rechtsordnung scheide somit die berechtigten von den unberechtigten Interessen.9 Dies geschehe im Zuge der Abgrenzung von Machtkreisen. Durch sie werde bestimmt, wie der Wille sich frei betätigen, „wie weit er insbesondere fordernd oder versagend in die Willenskreise anderer Rechtssubjekte übergreifen darf.“10 So werde die Freiheit gewährleistet und die Willkür verboten, so würden Lebensbeziehungen zu Rechtsbeziehungen gemacht. Die Normen der Rechtsordnung seien der Schutzwall der Rechtsgüter.11 Eine solche Konzeption steht erkennbar in der Tradition des Menschenbildes Hobbesscher Prägung.12 Demnach sei der Mensch im Naturzustand ein asoziales Individuum, dessen Sozialbeziehungen allein durch Externität definiert seien.13 Das Verhältnis der Individuen untereinander wird allein vor dem Hintergrund der Verwertbarkeit für die eigenen egozentrischen Interessenlagen beleuchtet.14 Sozialverbände stellen sich folglich als eine „Vereinigung determinierter, moralisch sich selbst genügender rationaler Egoisten“ dar, „die – wie im Naturzustand – äußerlich isoliert nebeneinander stehen und für sich wirtschaften.“15 Entsprechend werden die Voraussetzungen menschlicher Koexistenz allein „unter dem Blickwinkel des Sicherheits- und Glückseligkeitsstrebens für-sich-seiender Individuen erVon Liszt, Lehrbuch, S. 4. In Anlehnung an die von Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), S. 149, eingeführte Terminologie. 9 Von Liszt, Lehrbuch, S. 4; zustimmend von Hippel, Lehrbuch, S. 12: „Das Wort Rechtsgut besagt lediglich, dass ein von der Rechtsordnung geschütztes menschliches Lebensinteresse vorliegt. Wann die Rechtsordnung solchen Schutz gewährt und damit ein Lebensgut zum Rechtsgut erhebt, darüber sagt jenes Wort nichts. Dies entscheidet das geltende Recht bzw. für die Zukunft der Gesetzgeber [ . . . ].“ 10 Von Liszt, Lehrbuch, S. 4. 11 Von Liszt, Lehrbuch, S. 5. 12 Was von Liszt selbst einräumt, Lehrbuch, S. 5. 13 Hobbes, Vom Bürger, 1. Kap., S. 75 ff. 14 Dazu Köhler, Strafrecht-AT, S. 18; auch Lesch, Verbrechensbegriff, S. 177. 15 So auch die Interpretation von Lesch, Verbrechensbegriff, S. 178. 7 8

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faßt.“16 Recht und staatlicher Zwang wären mithin auf die Abgrenzung individueller Interessen- und Willensmachtsphären beschränkt, um ein äußerlich reibungsloses Nebeneinander der Individuen zu gewährleisten und Übergriffe mangelhaft angepasster Individuen zu verhindern. Schon Jhering kritisierte an der naturalistisch-positivistischen Rechtsschule, dass sie den Einzelnen lediglich als Atom ohne weiteren Lebenszweck als den, neben allen anderen Atomen zu existieren, begreife. Das Recht erschöpfe sich seiner Funktion nach in der „Abgrenzung der Freiheitssphären nach Art der Käfige in der Menagerie, damit die wilden Bestien sich nicht gegenseitig zerfleischen.“17 In der Tat weist von Liszt selbst darauf hin, dass die staatliche Friedensordnung mit ihren rechtlichen Geboten und Verboten im täglichen Kampf mit den Schwächen und Leidenschaften des Menschen stehe. Unrecht stellte sich für ihn allgemein als trotzige Auflehnung des Einzelnen gegen die Rechtsordnung oder als hinterlistige Umgehung ihrer Normen dar, gelegentlich auch als sorglose Nichtbeachtung der an den Verkehr gestellten Anforderungen. Unrecht sei stets Rechtswidrigkeit. Nach Zivil- und Strafrechtswidrigkeit differenzierte von Liszt nicht. Es gehe regelmäßig um die Übertretung eines staatlichen Ge- oder Verbots, in welcher sich der Angriff auf die rechtlich geschützten Interessen anderer manifestiere. Unrecht sei schlicht die Verletzung oder zumindest die Gefährdung von Rechtsgütern und deshalb antisozial18, d. h. es richtet sich generell gegen die gesellschaftliche Ordnung und deren Anschauungen. Auf die konkreten Interessen und Bedürfnisse vom Unrecht betroffener Einzelner muss dabei keinerlei Rücksicht oder Bezug genommen werden. Wodurch aber unterscheidet sich dann die Privatrechtsordnung vom Strafrecht? – Für von Liszt in erster Linie durch die eigenartige Rechtsfolge, die Strafe.19 Das Strafrecht setze sich im übrigen lediglich mit quantitativen Steigerungen schon privatrechtlich relevanten Unrechts auseinander.20 Genaue Analyse ergebe, dass der Staat die Strafe überall da verwende, wo ihm die Restitutionsfunktion des Privatrechts, d. h. Erfüllungszwang, Wiederherstellung und Entschädigung nicht ausreiche, um das Unrecht einzudämmen. Dies sei etwa der Fall, wenn wie beim Diebstahl, dem mittellosen Täter gegenüber der Entschädigungszwang versage oder wenn, wie im Falle einer Tötung, die privatrechtliche Entschädigung eine Ausgleichung der rechtlichen Störung herbeizuführen nicht geeignet sei. Strafe sei ferner dort angebracht, wo einem Rechtsgut ein besonders hoher Wert beigelegt werde oder die Missbilligung eines Angriffs in besonders eindringlicher Form ausgesprochen werden solle. Schließlich müsse die Strafe ein genügendes Gegengewicht 16 17 18 19 20

Lesch, Verbrechensbegriff, S. 178. Jhering, Zweck, Bd. 1, S. 419. Von Liszt, Lehrbuch, S. 5. Von Liszt, Lehrbuch, S. 190. Von Liszt, Lehrbuch, S. 191.

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zum Überhandnehmen gewisser Verbrechen darstellen.21 Strafrecht werde letztlich immer bei besonders gefährlichen Angriffen auf die durch die Rechtsordnung rechtlich geschützten Interessen angewandt.22 Nach dieser Lehre ist jeder Rechtsgutsverletzung eine Störung des „gesunden“ Lebens der Rechtsgemeinschaft immanent. Wenn man mit Binding die Rechtsgüter als etwas auffasst, das in den Augen des Gesetzgebers Bedingung gedeihlichen Zusammenlebens innerhalb der Rechtsgemeinschaft ist und daher für diese von Wert sei, weshalb man an deren unveränderter Erhaltung ein striktes Interesse haben müsse23, so stellt sich allerdings die Frage, warum das Privatrecht nicht die Möglichkeit vorsieht, dass die Allgemeinheit oder der sie repräsentierende Staat neben bzw. an Stelle des in seinen Rechtsgütern Beeinträchtigten soll Schadensersatz verlangen können, wenn die betroffenen Individuen etwa auf die Geltendmachung entsprechender Ansprüche verzichten. Mit der Aufrechterhaltung der gestörten Güterordnung könnte sich die naturalistisch-positivistische Dogmatik ihren eigenen Prämissen nach nicht begnügen – auch nicht in privatrechtlicher Hinsicht, wird der Rechtswidrigkeitsbegriff doch in einem universellen Sinne gebraucht. Ebenso wenig kann von diesem Boden aus erklärt werden, warum das strafrechtliche, vertikale Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger im Zivilprozess zu Gunsten einer Begegnung gleichgeordneter Rechtssubjekte „umkippen“ sollte. Der zivilprozessuale status quo müsste als fehlerhaft bzw. unzulänglich verworfen oder als zumindest korrekturbedürftig entlarvt werden. Es wäre nur konsequent, von einem generellen Staat-Bürger-Verhältnis auszugehen, wie es sodann in allen Bereichen der Rechtsordnung vorzufinden wäre. Das Recht müsste um seiner eigenen Erhaltung willen den Einzelnen prozessual entmündigen oder ihn zumindest als Sachwalter des allgemeinen Interesses – gerade im Zivilprozess – einer besonderen Pflichtenbindung unterziehen.24 Eine staatliche Tätigkeit, die sich am individuellen Gutdünken Einzelner orientiert, würde sich geradezu als Risiko herausstellen. Sie würde die von ihr als unbedingt schützenswert eingestuften Interessen in wesentlichen Teilbereichen der Beliebigkeit des individuellen Willens anheimstellen. Das soll aber gerade vermieden werden. Eine Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafsachen wäre nicht länger in allen Fällen vorzunehmen. Auf sie käme es angesichts der im Vordergrund stehenden Bemühungen um die Beseitigung rechtswidriger Zustände nicht elementar Von Liszt, Lehrbuch, S. 190. Von Liszt, Lehrbuch, S. 191. 23 Binding, Normen I, S. 353 ff. 24 So wären zivilprozessuale Handlungsmöglichkeiten regelmäßig von Voraussetzungen abhängig zu machen, die positiv wie negativ dem öffentlichen Interesse am Erhalt der in Normen zum Ausdruck gebrachten gesellschaftlichen Wertvorstellungen zur Durchsetzung verhelfen. Beispielsweise müsste von der Möglichkeit einer freien Klagerücknahme Abstand genommen werden. Andererseits müsste der Staat darauf bedacht sein, den privaten Einzelnen in einer Reihe von Situationen zur Klageerhebung zu zwingen. 21 22

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an. Allerdings müssten sämtliche rechtsgutsrelevanten Vorgänge und Geschäfte über und mit Hilfe des Staates abgewickelt werden, um eine stetige, umfassende Kontrolle sicherzustellen und Verletzungen der Rechtsordnung von vornherein zu unterbinden. Es bedarf keiner weitergehenden Begründung, dass auf diese Weise ein System totalitären Charakters installiert würde. Die Ausübung bzw. das Vorhandensein von Freiheit wäre auch in den Randbereichen von hoheitlicher Zustimmung abhängig. Dies aber soll nach dem Willen des Grundgesetzes gerade nicht der Fall sein. Dennoch hat sich das skizzierte Verständnis des Rechtsgutsbegriffs bis in die Gegenwart gehalten. Prinzipielle Unterschiede der heutigen im Verhältnis zur tradierten (Straf-)Rechtsdogmatik sind trotz der aufgezeigten – und weithin bekannten – Bedenken nicht erkennbar.25 Rechtsgüter gelten als schutzwürdige ideelle Werte der Sozialordnung, an deren Erhaltung die Gemeinschaft ein Interesse habe.26 Sehr verbreitet ist auch die Formulierung, dass Rechtsgüter rechtlich anerkannte Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit abbildeten.27 Die naturalistisch-positivistische Rechtsschule scheint hier überall durch. In all ihren Thesen wird die Ablösung der geschützten Rechtsgüter von ihren Trägern quasi schon vorausgesetzt. Stets geht es um die Erreichung überindividueller Ziele. Entsprechend folgert beispielsweise Rudolphi, dass die Rechtsgüter die für die verfassungsmäßige Gesellschaft und damit auch für die verfassungsmäßige Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers unverzichtbare und deshalb werthafte Funktionseinheiten seien.28 Der Schutz des Individuums gestaltet sich also als Reflex übergeordneter Zwecke. Eine derartige Sichtweise ist de facto kollektivistisch-etatistisch29 und den Denkstrukturen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verhaftet. Auf dieser Grundlage ist auch die stärkere Berücksichtigung des durch die Straftat Verletzten kaum zu begründen. Das Ziel besteht mitnichten in der Verwirklichung subjektiver Präferenzen irgendeines Rechtsgenossen, sondern in der Wahrung der allgemein anerkannten Interessen eines beliebigen Rechtsträgers. Nicht das wirkliche, sondern allenfalls das virtuelle Opfer bildet den Ausgangsund Endpunkt aller Überlegungen.

Ähnlich Haas, Rechtsverletzung, S. 60. Jescheck / Weigend, AT, § 26 I 1; Blei, AT, S. 89. 27 Freund, AT, § 1 Rn 11; Wessels / Beulke, AT, § 1 Rn 7; Koriath, GA 1999, S. 561 ff., 569 f.; Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 8. 28 Rudolphi, Honig-FS, S. 163; ders. in: SK, Vor § 1 Rn 8. 29 Zum Ganzen auch Haas, Rechtsverletzung, S. 61. 25 26

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2. Etatismus, utilitaristische Ethik und Entindividualisierung des Rechts Ihren Höhepunkt fand die Entindividualisierung des Rechts in den Thesen des Etatismus und in der utilitaristischen Ethik. Hier wie dort wurde mit der rein individualistischen Rechtsauffassung des alten Naturrechts endgültig gebrochen.

a) Der Etatismus Bindings Namentlich Binding wandte sich explizit gegen die seiner Ansicht nach grenzenlose Überschätzung des Willens und der Wohlfahrt des Einzelnen.30 Es müsse dem gesellschaftlichen Wert des Rechts genüge getan werden, weshalb nicht die Unversehrtheit dieser oder jener Güter, sondern die des gesamten lebendigen Gemeinwesens den Mittelpunkt des Interesses bilde.31 Daraus resultiere überhaupt erst die Schutzwürdigkeit von Rechtsgütern. Nichts sei falscher „als hier eine individualistische Betrachtungsart anwenden und etwa Güter des Einzelnen von denen der Gesellschaft und des Staates scharf trennen zu wollen.“32 Die Befolgung von Rechtsnormen sei ein öffentliches Anliegen. Deshalb sei allein der Staat Inhaber des in Normen verfassten Gehorsamsrechts. Die Gehorsamsverweigerung sei folglich „stets die Verneinung des obrigkeitlichen Willens, stets Zuwiderhandlung gegen ein dem Staate allein zustehendes [ . . . ] Recht.“33 Der Staat könne die Ausübung seines Gehorsamsrechts zwar an Privatpersonen delegieren, jeder bindende Befehl verwirkliche jedoch ausschließlich den obrigkeitlichen Willen; nur für ihn könne Gehorsam verlangt werden, aber nie für den privaten Willen als solchen.34 Als zentraler Gedanke fungierte hierbei nicht die bloße Durchsetzung des staatlichen Willens zur Demonstration von Autorität. Der wesentliche Zweck jeder Bewährung des gemeinschaftlichen Willens wurde in der Bewährung der Gerechtigkeit schlechthin sowie in der Realisierung des Humanitätsgedankens gesehen.35 Dazu aber sei der Einzelne nicht aus eigener Kraft in der Lage. Die staatlichen Binding, Normen I, S. 355 (dort in Fn 1). Binding, Normen I, S. 340. 32 Binding, Normen I, S. 341, versteht den Begriff des Rechtsguts mithin rein öffentlichrechtlich und schließt, dass auch dann, „wenn das Gut den Gegenstand eines Privatrechts bildet, [ . . . ] die Norm es sogar für den Berechtigten als unangreifbar erklären“ könne. 33 Binding, Normen I, S. 98; zustimmend Finger, Lehrbuch, S. 110, in der Norm manifestiere sich „das Recht des Staates, das in der Norm bezeichnete Verhalten zu verlangen.“ 34 Ähnlich Sauer, Grundlagen, S. 77, der das Ziel einer jeden Gemeinschaft in der Erhaltung ihrer selbst und ihrer Mitglieder sieht: „Weswegen setzt aber die Gemeinschaft durch ihre Organe ihren Willen durch? Sie tut es, um sich selbst zu erhalten und sich selbst [ . . . ] weiterzuentwickeln, um ferneren Zielen zu genügen. [ . . . ] Das ist der oberste teleologische Gesichtspunkt aller Soziologie und Rechtswissenschaft.“ 35 So ausdrücklich Sauer, Grundlagen, S. 76. 30 31

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Machtbefugnisse seien daher mit „wesentlichen Ordnungserwägungen“ zu erklären. Nagler fasste dies so zusammen, dass der Staat letztlich die Verwirklichung der „äußeren Ordnung Gottes im Diesseits“ bezwecke.36 An dieser Formulierung wird offenbar, dass der klassische Etatismus im Lichte der politischen Verhältnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt mit Rücksichtnahme auf das damalige absolutistische Herrschaftsideal zu beurteilen ist. Inhaltlich ändert dies nichts an dem Umstand, dass die Rechtsgüter von ihren Inhabern vollständig emanzipiert werden. Treibt man diesen Ansatz auf die Spitze, so lässt sich resümieren, dass der Einzelne niemals als Inhaber von Rechten in Betracht kommt, sondern immer nur der Staat, der lediglich die Ausübung seiner eigenen Rechte in Teilbereichen an den Bürger überträgt. Rechte des Bürgers oder gar Rechte des Bürgers gegen den Staat gibt es nicht und sind in einem etatistischen Modell nicht einmal denkbar. Eine ausschließlich an den Belangen des Gemeinwesens orientierte Rechtsauffassung muss die Frage nach individuellen Befindlichkeiten überhaupt nur im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Masse zum Zwecke der Erhaltung des umfassenden staatlichen Machtanspruchs stellen. Mit einer derartigen Sichtweise leugnet man freilich die Eigenständigkeit und rechtliche Unabhängigkeit des Individuums. Es gäbe überhaupt keinen Lebensbereich, auf den der Staat nicht Zugriff nehmen dürfte. Das verträgt sich schwerlich mit den im Grundgesetz festgeschriebenen unveräußerlichen Menschenrechten. Insofern ist der etatistische Ansatz ähnlichen Bedenken ausgesetzt wie die naturalistisch-positivistische Rechtsschule. Derlei Konzepte sind von vornherein nicht in der Lage, dem Einzelnen einen Kernbestand unantastbarer Freiheit in allen Konfliktsituationen zu belassen.37 Letzteres aber fordert die gegenwärtige Verfassungsordnung in den Art. 1, 2 und 19 Abs. 2 GG mit Nachdruck.

b) Die Aufgabe des Rechts im Utilitarismus Differenzierter und insofern überzeugender mutet bei vordergründiger Betrachtung die Rechtsauffassung der utilitaristischen Ethik an. Doch auch die angeblich „intuitive Plausibilität“38 utilitaristischer Begründungsstrategien erweist sich als 36 So lasse sich die Aufgabe des Staates „am wenigsten gezwungen“ illustrieren, Nagler, Strafe, S. 92. 37 So auch Renzikowski, Notstand, S. 205. 38 Vgl. dazu Pawlik, Notstand, S. 36 ff., der eine interessante Parallelität des Utilitarismus zur Rechtsauffassung Bindings aufdeckt. So führte Binding, Handbuch, S. 760 f., zur Begründung des Notstandsrechts aus, dass sich der staatlicherseits gewährte Schutz eines Rechtsguts an dem ihm beigemessenen Wert sowie am Umfang des insoweit betroffenen öffentlichen Interesses zu bemessen habe. Wo der Staat vor zwei Übeln stehe, von denen eines sicher eintrete, meide er das größere und wähle das kleinere. Damit wird eine Gegenüberstellung von Gewinn und Verlust dazu herangezogen, eine Abwägung zwischen mehreren Rechtsgütern zu

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nur scheinbar feste Größe, denn die Unterschiede zum klassischen Etatismus sind allenfalls graduellen Charakters. Damit aber ist vorgezeichnet, dass das einzelne Deliktsopfer wiederum nur von randständiger Bedeutung ist. So liegt dem Utilitarismus die Prämisse zugrunde, dass der Bestand eines jeden Gutes für die Gesamtrechtsordnung von höchstem Interesse sei39 und jeder Verlust – auch wenn er nur den Einzelnen treffe – das öffentliche Wohl in Mitleidenschaft ziehen müsse.40 Die Erhaltung der Güter sei daher die volkswirtschaftlich beste Lösung.41 So gesehen, bestünde die Aufgabe des Rechts allein darin, den reibungslosen Ablauf des Verkehrs zu ermöglichen.42 Der Nutzen, nicht der Wille bildet dann die Substanz des Rechts.43 Demzufolge tritt der einzelne Mensch nur als Teil der über ihm stehenden Gemeinschaft in Erscheinung, mag das Recht dem Individuum auch gelegentlichen Nutzen stiften. Eine solche Lehre darf als konsequenzialistisch-kollektivistisch bezeichnet werden: Konsequenzialistisch, weil es in allen denkbaren Konstellationen stets um den größtmöglichen Bestand an Gütern geht und kollektivistisch, weil sämtliche Maximierungsstrategien jeweils auf die Gesellschaft als ganze bezogen sind, die Gesellschaft also als einheitliches Großsubjekt behandelt wird.44 Es geht immer um die Erhaltung des gesamtgesellschaftlichen Gütervorrats mittels pragmatisch-nutzenorientierter Methodik.45 Die These, die Gesellschaft oder die Rechtsordnung hätten ein Interesse an einem möglichst hohen Gesamtbestand an Gütern, erweist sich indessen als widerlegbare Behauptung. Gegen sie spricht schon die oftmals gänzliche Ahnungs- oder Teilnahmslosigkeit nahezu aller Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft hinsichtlich außerhalb ihres eigenen Lebenskreises befindlicher Güter und Werte.46 Das einzelne Gesellschaftsmitglied hat in aller Regel zuvorderst ein Interesse am rechtlichen Schutz des ihn selbst betreffenden Lebensbereichs.47 Überdies können sich die Bedürfnisse verschiedener Personen trotz Betroffenheit ein und desselben Rechtsguts stark voneinander unterscheiden. Hier ein übergeordnetes, vermeintliches Gesamtinteresse zu installieren bzw. zu postulieren würde damit einhergehen, zumindest einem der betroffenen Individuen eine bestimmte Wertvorstellung zu oktroyieren. Das aber soll im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht geschehen. ermöglichen, um so Interessenkollisionen auszuräumen. Ähnlich verfährt auch von Thur, Nothstand, S. 79. 39 Hammacher, Notstandshandlung, S. 37; kritisch insoweit Pawlik, Notstand, S. 41. 40 Torp, ZStW 23 (1903), S. 84 ff., 101. 41 Mauczka, Rechtsgrund, S. 50. 42 So ausdrücklich schon Jhering, Geist III 1, S. 315 f. 43 Jhering, Geist III 1, S. 316. 44 Kritisch dazu Pawlik, Notstand, S. 33. 45 Pawlik, Notstand, S. 35. 46 In diesem Sinne auch Pawlik, Notstand, S. 42; Merkel, Zaungäste, S. 180. 47 Renzikowski, Notstand, S. 194 (in Fn 151); Pawlik, Notstand, S. 42.

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Erschwerend tritt hinzu, dass eine ausschließlich am Gesamtnutzen orientierte Betrachtung keine absoluten Eingriffsschranken kennt.48 Überdies ist die pauschale Annahme einer umfassenden zwischenmenschlichen Interessenharmonie nicht realistisch49 und soll in einer pluralen Gesellschaft nachgerade verhindert werden. Pawlik50 und Renzikowski51 bekräftigen die Ablehnung utilitaristischer Denkmodelle in der Formulierung, dass die Rechtsordnung nicht einen Bestand an Gütern maximieren, sondern vielmehr Freiheitsrechte garantieren soll; sie ist eine Gerechtigkeits- und keine Versicherungsordnung. Schließlich erweisen sich utilitaristische Thesen auf dem Boden gesellschaftlicher Umbruchssituationen als kaum weiterführend. Wie sind die sozialverträglichsten Interessen beschaffen, wenn sich ein gesellschaftlicher Wertewandel vollzieht und die Rechtsordnung vor der Aufgabe steht, sich den neuerlichen Entwicklungen anzupassen? Der Utilitarismus stellt sich hier als nicht genügend aussagekräftig heraus, um die Frage beantworten zu können, ob es sich empfiehlt, das Recht dem aktuellen Denken entsprechend zu ändern oder bestimmte Tendenzen als nur temporäre Modeerscheinungen für rechtlich irrelevant zu disqualifizieren. Opferspezifisch gesprochen ließe sich die Vermutung wagen, dass es angesichts der regen Diskussion dem größten gesellschaftlichen Gesamtnutzen diente, den Verletzten stärker als bisher in die Belange der Strafrechtspflege einzubeziehen. Das übergeordnete Interesse bestünde dann in der jeweiligen Berücksichtigung der Individualinteressen der durch die Straftat Betroffenen. Einer solchen individualistischen Betrachtung verweigert sich der utilitaristische Etatismus aber gerade. Seine Prämissen gelangen ins Wanken, wenn ein übergeordnetes impersonales Interesse sich im Einzelfall nicht feststellen lässt oder die Allgemeinheit geneigt ist, den Interessen des Einzelnen Folge zu leisten. Der Utilitarismus ist in derartigen Konstellationen nicht geeignet, adäquate Lösungsstrategien aufzuzeigen. Die Aufgabenstellung wird zusätzlich verkompliziert, wenn unterschiedliche Ansichten mit etwa gleichgroßen Lagern darüber bestehen, was den größten gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu erzielen verspricht. Wird die Richtigkeit utilitaristischer Annahmen nicht schon durch eine schillernde Intuition vorgegeben, so erweist sich der erläuterte Ansatz als enttäuschend konturenlos.

3. Zur Rolle des Verletzten in einem rein objektiven Rechtsverständnis Die Auffassung, dass Unrecht allein die Verletzung der objektiven Ordnung meinen könne, hielt sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein und erfreute sich recht 48 49 50 51

Renzikowski, Notstand, S. 205. Klescewski, E.A. Wolff-FS, S. 232; Pawlik, Notstand, S. 42. Pawlik, Notstand, S. 44. Renzikowski, Notstand, S. 241.

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breiter Zustimmung. Mezger sprach gar von der „adressenlosen Norm“ und sah in ihr die theoretische Grundlage für die klare praktische Einsicht des Rechts als rein objektive Lebensordnung.52 Begriffliche Klarheit sei nur zu erreichen, wenn man die Norm als unpersönliches Sollen begreife, für die der Adressat kein wesentliches Erfordernis sei. Normen des Rechts seien demzufolge „Bewertungsnormen gerichtet auf einen bestimmten objektiven sozialen Zustand.“53 Stelle man jedoch allein auf die Herbeiführung eines rechtlich missbilligten Zustands ab, so bedürfe es keines Subjekts, um in einem Handeln den Makel der Rechtswidrigkeit zu erkennen.54 Mezger ging es freilich in erster Linie um methodische Erwägungen zur Frage, inwiefern Unrecht und Schuld voneinander geschieden werden müssten. Insofern ist seine Argumentation am handelnden Täter, am Unrechthandelnden, orientiert. Seine Argumentation ist nichtsdestotrotz auch für die Seite des Unrechterleidenden, für den Rechtsgutsträger, von weitreichender Relevanz.55 Mezger lässt – wie von Liszt – keinen Zweifel daran, dass im Unrecht stets die Verletzung menschlicher Interessen liege. Gemeint ist allerdings nicht die Verletzung eines einzelnen Rechtsguts, sondern die eines allgemeinen menschlichen Interesses an der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens. Dies wird auch deutlich, wenn davon die Rede ist, dass das Endziel allen Rechts die „Idee der Gerechtigkeit verstanden als das Streben nach dem kompossiblen Maximum der Interessenbefriedigung“ sei. Zugleich wird eine enge Verwandtschaft zum Utilitarismus offenbar. Was dem Endziel maximaler Interessenbefriedigung widerstrebe, sei materiell gesprochen „Unrecht“.56 Der objektivistische Ausgangspunkt führt zu der Konsequenz, dass alles Subjektive der Täterpsyche zur Schuld und umgekehrt alles Objektive der Ebene des Unrechts zuzuordnen sei. Der Ansatz kulminierte schließlich in der Auffassung Nowakowskis, der die Existenz strafbarer Handlungen, die zwar schuldhaft, nicht aber rechtswidrig seien, zu begründen suchte.57 Kommt es für die Bejahung des Unrechts nur noch auf die Herbeiführung inakzeptabler Zustände an, so gerät man in der rechtlichen Einordnung und Behandlung des Unzurechnungsfähigen in ernstliche dogmatische Schwierigkeiten. Bereits Merkel wies darauf hin, dass das Recht eine geistige Macht sei, deren HerrMezger, GS 89 (1924), S. 207, 239 ff.; 242 f. Mezger, GS 89 (1924), S. 245 f. 54 Kritisch dazu Lampe, Unrecht, S. 52 ff., 57 f., der meint, dass der Kreis der für ein Rechtswidrigkeitsurteil notwendigen Gegebenheiten zu sehr verengt werde, wenn man nur auf die Veränderung oder Herbeiführung von Zuständen abstellte. Der Rechtsfriede werde auch durch den Willen, durch Ziele und Absichten unmittelbar beeinflusst. Die Bezugnahme auf subjektive Phänomene sei daher zwingend notwendig. 55 Worauf Mezger ausdrücklich hinweist, GS 89 (1924), S. 207, 248. 56 Mezger, GS 89 (1924), S. 207, 248 f. 57 Nowakowski, ZStW 63, S. 287, 310 f. 52 53

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schaft weder durch Naturereignisse, noch durch den Menschen berührt werden könne, der lediglich als Repräsentant einer Summe natürlicher Kräfte erscheine.58 Nur wo der Mensch als denkendes und wollendes Wesen auftrete, sei er imstande, Unrecht zu bewirken. Wo dies nicht der Fall sei, könne er allenfalls Urheber in keinem anderen Sinne als der Regen, eine Überschwemmung oder eine angerichtete Verwüstung sein. Durch das bloße Bestehen eines Kausalzusammenhangs werde noch keine Beziehung zur Herrschaft von Rechtsgrundsätzen hergestellt. Insofern müsse zwischen der wehrfähigen Verletzung der Rechtssubjekte und der zurechenbaren Verletzung des Rechts unterschieden werden. Merkel führte dies allerdings zu der Schlussfolgerung, dass Unrecht stets die Verletzung der geistigen Macht des Rechts durch den zurechnungsfähigen Menschen sei.59 Gegen die darin liegende Gleichsetzung von Unrecht und Schuld wandte sich Mezger mit dem Argument, man dürfe die geistige Beziehung zwischen Mensch und Recht nicht auf der subjektiven Seite des Unrechthandelnden suchen, da dies – so Mezger – den Unterschied zwischen dem Tatbestandshandlungsobjekt und dem eigentlichen Schutzobjekt überspiele. Das Unrecht aber richte sich gegen die Rechtsordnung selbst.60 Das Handlungsobjekt als Gegenstand des Unrechtsangriffs sei immer körperlicher Natur und damit nicht geeignet, das Wesen der Verletzung des Rechts als geistiger Macht näher zu bestimmen. Das objektive Unrecht sei freilich am „Gegenstand“ seiner Verletzung orientiert. Wenn man aber schon von einer „geistigen Macht“ des Rechts sprechen wolle, so sei dies dahingehend zu interpretieren, dass sich das Unrecht als Störung der geistigen Rechtsbeziehungen auf der „objektiven“ Seite des Unrechterleidenden (!) darstelle. Jener Gegenstand, der im Unrecht verletzt werde, sei folglich kein körperlich-materieller Gegenstand. Verletzt werde vielmehr die durch die „geistige Macht des Rechts dem zu Unrecht Verletzten eingeräumte Willensmacht.“61 Mithin sei der wirkliche Gegenstand, der durch das Recht geschützt werde und weswegen das Unrecht verboten sei, die Willenssphäre, das „Interesse“ der verletzten Person. Dieses Interesse sei das Schutzobjekt des Rechts und nicht das jeweilige Handlungsobjekt des einschlägigen Tatbestandes. Unrecht definiert sich damit als Störung einer vom Rechte gewollten (gebilligten) Willensbetätigung.62 Das Unrecht stellt sich als subjektive Rechtsverletzung dar. Wenn Mezger das Unrecht zugleich als Auflehnung gegen die rein objektive Lebensordnung bezeichnet, so liegt das in seiner Auffassung über die Gewährung subjektiver Rechte begründet. Sein Verständnis ist maßgeblich durch die von Windscheid gegebene Definition beeinflusst. Nach dieser wird die Willensmacht durch die objektive Rechtsordnung erst verliehen. „Die Rechtsordnung [ . . . ] hat 58 59 60 61 62

Merkel, Kriminalistische Abhandlungen Bd. 1, S. 6 ff., 46 ff. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen Bd. 1, S. 49 f. Mezger, GS 89 (1924), S. 207, 247. Mezger, GS 89 (1924), S. 207, 248. Mezger, GS 89 (1924), S. 248 f.

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aufgrund eines concreten Tatbestandes einen Befehl zu einem Verhalten bestimmter Art erlassen und diesen Befehl demjenigen, zu Gunsten dessen sie ihn erlassen hat, zur freien Verfügung hingegeben.“63 Das subjektive Recht würde damit vom objektiven abgeleitet und wäre in seinem Bestand von diesem abhängig. Insofern aber ist Mezger nicht der Freiheit verpflichtet, sondern dem utilitaristischen Denken, das dem klassischen Etatismus nur ein anderes Gewandt gibt. Intendiert ist die Mehrung des Nutzens, des Vorteils, des Gewinns. Das Recht schafft in diesem Sinne zunächst nur einen Zustand, der bestimmte Vorzüge oder Genüsse ermöglicht. Solcherlei faktische Interessen können aber von jedem, der hierzu tatsächlich in der Lage ist, aufgehoben bzw. unterbunden werden. Dem Gesetz müsste daher die Aufgabe zugemessen werden, der Interessenwahrnehmung die Zufälligkeit zu nehmen. Erst auf diese Weise würde die rechtliche Verbindlichkeit und Sicherheit des allzeitigen Genusses gewährleistet.64 Dabei wird freilich keinerlei Rücksicht auf eine konkret-individuell betroffene Person genommen. Ihre subjektiven Zwecksetzungen spielen keine Rolle. Im Mittelpunkt stehen die rechtlich gebilligten Interessen eines beliebigen, austauschbaren Rechtsgenossen. Stets geht es um Klärung der Frage, ob eine Störung der objektiven Rechtszuweisungsordnung vorliegt. Interessen eines individuellen Rechtsträgers stehen dagegen nicht zur Debatte. Schutz der Rechtszuweisungsordnung meint nicht die Sicherung subjektiver Bedürfnisse, sondern Schutz der vom Richter, vom jeweiligen Machtinhaber oder der von der Mehrheit anerkannten Interessen. Damit aber wird der Rechtsträger über die Bindung an die Gesetze hinaus auch an die Anschauungen der staatlichen Institutionen und Amtsträger bzw. der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Mehrheit gebunden.65 Eine individuelle Bedürfnisstruktur wird auch hier nicht hinterfragt. Man hat es lediglich mit Derivaten eines rein objektiv-etatistischen Rechtsverständnisses zu tun.

4. Personale Rechtsgutslehre Nach dem bisher Erörterten lassen sich Rechtsgüter als Lebensinteressen der im Staat organisierten Gesellschaft66 charakterisieren. Individualinteressen werden demnach allenfalls als Reflex der Wahrnehmung von Gemeinschaftsinteressen geschützt.67 Mithin ist das Ziel nicht auf die Selbstverwirklichung des Einzelnen, sondern auf die Förderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt gerichtet. Die verfasWindscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Bd., S. 87. Jhering, Geist III 1, S. 315 ff. 65 Zum Ganzen Schwarz, ArchBürgR 32, S. 37 ff.; Pawlowski, Einführung, S. 184 ff. 66 Hegler, ZStW 36 (1915), S. 29 f. 67 Vgl. auch Renzikowski, Notstand, S. 165, in Auseinandersetzung mit Baumgarten, Notstand, S. 58 sowie Nagler, Binding-FS II, S. 273 ff., 298, die den einzelnen Bürger in der Wahrnehmung seiner Interessen als bloßen Delatar des Willens der Allgemeinheit, mithin als bloßen Verwalter seiner Güter einstuften. 63 64

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sungsmäßige Ordnung und namentlich der Grundrechtskatalog zeichnen freilich ein sich hiervon deutlich unterscheidendes Bild. Um diesem Rechnung zu tragen, ist ein personaler Rechtsgutsbegriff liberalen Gehalts entwickelt worden.68 Dabei wird mitnichten der Versuch unternommen, aus der Verfassung einen bunten Katalog von Rechtsgütern zu destillieren. Gesucht wird vielmehr ein Beurteilungsmaßstab, den zu beachten dem Strafgesetzgeber aufgegeben ist.69 Dies äußert sich in der Forderung, dass alle Schutzobjekte, seien es solche des Individuums oder der Allgemeinheit, einheitlich von der einzelnen Person aus legitimierbar sein müssen.70 Folglich sei der Gesetzgeber in der Auswahl der Schutzobjekte durch den Staatszweck begrenzt, die größtmögliche Freiheit der Individuen zu garantieren. Schutzobjekte seien daher die subjektiven Rechte der Individuen und die dem Staat zur Erreichung seines Zwecks verliehenen Rechte.71 Dies führt allerdings nicht zur Identifikation von subjektivem Recht und Rechtsgutsbegriff. So weist Sina ausdrücklich darauf hin, dass die Freiheit der Person zwar den maßgeblichen Wertgesichtspunkt bilde, im Bereich der Verbrechenslehre aber dessen Objektivation über den Rechtsgutsbegriff stattzufinden habe.72 Renzikowski stellt fest, dass der personale Rechtsgutsbegriff natürlich individualistisch sei, dadurch überindividuelle Aspekte jedoch nicht an Bedeutung einbüßten: So sei zunächst nicht von Belang, welchen Wert der Einzelne seinen Gütern beimesse, sondern es komme entscheidend auf die Wertvorstellungen der Allgemeinheit an. Dies sei auf das Universalisierbarkeitsprinzip zurückzuführen, welches für alle Rechtssätze Geltung beanspruche.73 Es gebe daher kein Allgemeininteresse an der Geltung und Durchsetzung der Rechtsordnung, sondern unzählige Einzelinteressen, im Rahmen der persönlichen Freiheitssphäre unangetastet zu bleiben. Der in seiner Freiheit konkret Beeinträchtigte bleibt damit vom Normprogramm unberücksichtigt. Der Einzelne spielt lediglich für den Legitimationszusammenhang von Normen eine Rolle und wird zur Begründung des Schutzbedarfs von Rechtsgütern herangezogen. Rückbindung an das Individuum meint aber nicht Rückbindung an den betroffenen Verletzten. Der personale Rechtsgutsbegriff ist in 68 Dazu Altenhain, Anschlußdelikt, S. 284 ff.; Sina, Dogmengeschichte, S. 89 ff.; Roxin, AT I, § 2 Rn 8; Rudolphi, Honig-FS, S. 151 ff., 167. 69 Hassemer, AK-StGB, Vor § 1 Rn 289; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 76 f. 70 Sina, Dogmengeschichte, S. 91; Renzikowski, Notstand, S. 167 f. 71 Altenhain, Anschlußdelikt, S. 289 f. 72 Sina, Dogmengeschichte, S. 91. 73 Renzikowski, Notstand, S. 167: „Weiterhin sind alle Rechtsgüter allgemein: Wenn das Interesse des A, Sachen als seine eigenen zu haben, rechtlich geschützt werden soll, müssen auch die Interessen von B,C,D usw., Sachen als ihre eigenen zu haben, rechtlich geschützt werden. In diesem Sinne besteht etwa ein allgemeines Interesse an der Existenz von Regeln, die verbieten, fremde Sachen wegzunehmen, zu beschädigen usw. Jedoch lässt sich deshalb das Eigentum nicht als Rechtsgut der Allgemeinheit bezeichnen. Vielmehr führt das Interesse an einem Eigentumsschutz zu einer generellen Regelung, weil jeder einzelne Rechtsschutz für sein Eigentum wünscht.“ Vgl. auch Lampe, Welzel-FS, S. 160, 163 f.

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diesem Sinne prospektiv, nicht aber retrospektiv. Versteht man das Recht als Regelungsinstrument, das Freiheit zwischen Individuen verteilt74, so ist dem personalen Rechtsgutsbegriff an der Einhaltung dieser Ordnung gelegen, er fragt aber nicht nach den Befindlichkeiten eines in seinen Interessen schon beeinträchtigten Individuums. Die These, dass es keinen von den Individuen unabhängigen Zweck staatlichen Handelns geben dürfe, bleibt also am virtuellen Opfer orientiert. Allein zu seinen Gunsten entfaltet sich die Vorstellung vom anthropozentrischen Charakter75 des modernen Rechtsstaates. Für die tatsächlichen Opfer ist auch mit Hilfe des personalen Rechtsgutsbegriffs gegenüber den hergebrachten Lehren noch nichts gewonnen. Es scheint eher so, als seien jegliche konkret-individuellen Befindlichkeiten der wirklichen Opfer in der Weise aufzugreifen und zu verallgemeinern, dass sie zu Gunsten der zukünftigen, potenziellen Opfer bei Reformvorhaben des Strafgesetzgebers Berücksichtigung finden und so selbst zu prospektiven Maßnahmen Anlass geben. Die Strafrechtsdogmatik hielte abseits davon keinerlei Lösungsvorschläge bereit.

5. Funktionale Strafrechtslehre Eine an den Interessen des wirklichen Opfers orientierte Lehre scheint indessen die funktionale Strafrechtsdogmatik zu vermitteln. Den Anknüpfungspunkt für notwendig erachteter strafrechtlicher Maßnahmen bildet hier nicht ein Gefahrentatbestand überindividuellen Charakters, sondern die tatsächlich verwirklichte Tatschuld sowie das geschehene Unrecht.76 Ziel ist die Entwicklung eines genuin strafrechtlichen Systems, das den polizeilichen Konzeptionen herkömmlicher Art eine Absage erteilt. Unterstellt wird die Notwendigkeit einer Anbindung jeder strafrechtlichen Maßnahme an den perfekten Eintritt des Erfolges. Dementsprechend wird jede Straftat, die ein individuelles Rechtsgut verletzt, primär als Konflikt zwischen den Beteiligten, zwischen Täter und Opfer (bzw. dessen Angehörigen) aufgefasst. Die Straftat wird phänomenologisch als soziale Interaktion eingeordnet, die auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt sei.77 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Einzelne sich „erst in der ,Relation zu anderen Personen‘, d. h. im sozialen Kontakt mit dem ,alter ego‘, in der Kommunikation mit seinesgleichen konstituiert.“ Erst dadurch gelange die menschliche Existenz über das subjektive Für-Sich-Sein eines Tieres hinaus und finde zu einer 74 75 76 77

So Paeffgen, Armin Kaufmann-GS, S. 399 ff., 415. Herzog, HdBdStR III, § 58 Rn 31. Lesch, Verbrechensbegriff, S. 184. Appel, Verfassung, S. 460 ff.

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reflektierten Individualität. Kommunikation stelle damit den elementaren sozialen Prozess der Konstitution von Sein im zwischenmenschlichen Umgang dar, ohne den weder eine personale Identität, noch ein ganzes Sozialsystem denkbar seien.78 Gesellschaft sei weder „Zustand“, noch „Museumswelt“ und konstituiere sich daher ebenso wenig durch die Unantastbarkeit subjektiver Rechte wie durch die Integrität individueller Rechtsgüter oder Rechtsgutsobjekte. Die maßgebliche Größe sei stets in der Kommunikation zwischen Personen zu sehen, die ihre Rechtsgüter bzw. Rechtsgutsobjekte in andere Interessensphären einbringen und damit notwendigerweise mannigfaltigen Gefährdungen oder gar der Preisgabe aussetzen.79 Dies darf nun aber nicht dahin missverstanden werden, dass eine funktionale Strafrechtsdogmatik zwingend mit einer opferfreundlicheren Perspektive einherginge. Die Einhaltung der strafrechtlichen Verhaltensnormen wird nicht dem Einzelnen gegenüber geschuldet, sondern dem Staat. Die Anerkennung des Straf- und Gewaltmonopols bringt die Entprivatisierung des Konflikts zwischen Täter und Opfer mit sich. Daran ändert die funktionale Betrachtungsweise nichts. Insofern findet auch hier eine Verallgemeinerung des Konflikts in dem Sinne statt, dass die im Täterverhalten liegende Auflehnung gegen fremde Interessen vom Opfer auf die Norm verlagert wird: „Sobald im konkreten Falle eine Normverletzung bejaht wird, kann sie nicht mehr zur Privatsache von Täter und Opfer erklärt werden. Sie wird von einem Staat an sich gezogen, der nicht nur das Gewalt- und Strafmonopol für sich beansprucht, sondern sich – in seiner Funktion als normgebende Instanz – selbst als durch die Straftat verletzt betrachtet.“80 Der Wille bzw. das Verhalten des Opfers erhalten also erst durch den Bezug auf die Norm Bedeutung – und dies auch nur, sofern dem von der Norm Geschützten ausnahmsweise die Dispositionsbefugnis über die Verbindlichkeit der Norm zuerkannt wird.81 Laut Jakobs hängt dies damit zusammen, dass es im Strafrecht keineswegs nur um den Schutz von Rechtsgütern gehe. Das Strafrecht interessiere sich nicht für jede beliebige nachteilige Veränderung eines Gutes oder Interesses, sondern vor allem für den Normwiderspruch. Ein solcher sei im Tod durch Altersschwäche aber nicht erkennbar. Es sei eine merkwürdige Konsequenz, wenn sich das Strafrecht mit derartigen natürlichen Geschehensabläufen solle beschäftigen müssen. Würde man jede Vernichtung oder Beeinträchtigung von Schutzgütern als straf78 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 186, der insbesondere an die Tradition Hegels anknüpfen will: „Alle Erkenntnisse, die Nachdenken verlangen, alle, zu denen man nur durch Aneinanderreihen von Begriffen kommt und die sich nur nach und nach vervollkommnen, scheinen ganz und gar außerhalb der Tragweite der Wilden zu bleiben, und zwar mangels des Umgangs mit seinesgleichen, das heißt mangels des Instruments, das diesem Verkehr dient und mangels der Bedürfnisse, die ihn nötig machen.“ Näher Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 ff., 849 ff.; Kindhäuser, ZStW (1995), S. 705 ff. 79 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 187 im Anschluss an Jakobs, AT, 7 / 35, 37. 80 So zusammenfassend Appel, Verfassung, S. 462; dazu auch Neumann, in: Strafrechtspolitik, S. 225 ff., 226; Hellmer, JZ 1979, S. 41 ff. 81 Appel, Verfassung, S. 461.

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rechtlich relevante Störung begreifen, so führe das zu absurden Folgen.82 Deshalb sei die Gesellschaft als ein durch Kommunikation konstruiertes soziales System zu begreifen, dessen Identität sich gerade nicht über Güter, sondern über Orientierung ermöglichende Normen bestimme.83 Das Subsystem Strafrecht stelle sich folglich als Leistung für das Gesamtsystem Gesellschaft dar.84 Das Strafrecht institutionalisiert nach diesem Verständnis – wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme – objektive, generalisierte und kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen, an denen man sich orientieren, nach denen man sich richten kann, die also überhaupt zu den Grundbedingungen sozialer Koexistenz und der darin eingeschlossenen menschlichen Personalität zählen.85 Deshalb kommen etwa nach dem von Luhmann entworfenen Modell prinzipiell zwei sich unterscheidende gesellschaftliche Funktionen für Rechtsnormen in Betracht: eine verhaltenssteuernde und / oder eine erwartungssichernde.86 Im Strafrecht aber sei es für eine Verhaltenssteuerung mit dem Ziel, Abweichungen von einer rechtmäßigen Wirklichkeit vorzubeugen, immer schon zu spät. – Die Abweichung sei schließlich bereits eingetreten. Ein Strafrechtssystem könne allein auf die erwartungssichernde Funktion des Rechts gestützt werden.87 Die Bestrafung des Täters diene demnach nicht der Wiederherstellung eines durch die Verhaltensnorm geschützten Gegenstandes. Jedoch sei das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die Wirksamkeit der Norm durchaus wiederherstellbar. Strafe sei folglich das Mittel zur Behebung eines Normgeltungsschadens. Es wird vorausgesetzt, dass der Täter die Pflicht habe, die Normgeltung nicht zu beeinträchtigen. Widersetze er sich dieser Vorgabe, so habe er den von ihm angerichteten Normgeltungsschaden auszumerzen.88 Das Instrument dazu sei die Strafe. Die Pflicht zur Befolgung der Verhaltensnormen stelle sich als Resultat des Gewaltverhältnisses zwischen Staat und Bürger dar. Die Normbefolgungspflicht enthalte nicht den über sie hinausgehenden Befehl, dafür zu sorgen, dass auch Dritte ihrer Gehorsamspflicht genügen.89 „Beispielsweise kann das Tötungsverbot nicht dem Zweck dienen, Verstöße gegen das Tötungsverbot zu verbieten.“90 Der Zweck einer Norm bestehe nicht in der Sicherung ihrer eigenen Geltung: „Die Sicherung der Geltung einer Norm kann nur der Zweck einer anderen Norm sein. Jakobs, AT, 2 / 4. Jakobs, AT, 1 / 1 ff., ders. ZStW 107 (1995), S. 859 in Anlehnung an die systemtheoretische Soziologie von Niklas Luhmann, Grundrechte, S. 25, 60. 84 Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 845. 85 So Lesch, Verbrechensbegriff, S. 187; ders. JA 1994, S. 597 ff. 86 Luhmann, ARSP-Beiheft Nr. 8 1974, S. 31 ff. 87 So der Schluss von Lesch, Verbrechensbegriff, S. 187; Jakobs, ZStW 89 (1977), S. 1 ff., 19. 88 Zum Ganzen auch Altenhain, Anschlußdelikt, S. 318. 89 Altenhain, Anschlußdelikt, S. 318. 90 Kindhäuser, Gefährdung, S. 132. 82 83

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Diese Aufgabe erfüllen im Strafrecht die jeweiligen Sanktionsnormen. Obgleich die Sanktionsnormen nur Verhaltensnormen für den Rechtsanwender sind, sind sie für den Adressaten doch insoweit von Belang, als er ihnen das Maß an Handlungsund Motivationsfähigkeit entnehmen kann.“91 Das Schutzobjekt der Sanktionsnorm sei mit dem der Verhaltensnorm also nicht identisch. Vielmehr stelle die Sanktionsnorm das rechtliche Mittel zum Schutze der Geltung der Verhaltensnorm bereit.92 Mithin solle das Recht das Festhalten und Weiterverfolgen von Erwartungen im Enttäuschungsfalle gewährleisten. „Die Rechtsnorm stellt sicher, was man erwarten kann und in welchen Hinsichten man bei enttäuschendem Verhalten nicht lernen und sich anpassen muss, sondern seine Erwartungen auch gegen die Tatsachen (kontrafaktisch) durchhalten darf.“93 Gemeint ist dabei freilich nicht die Erwartung des individuell Betroffenen, sondern die des Sozialverbandes. Denn erst durch die Generalisierung von Erwartungen in Form von Normen „wird die konkrete Abstimmung des sozialen Verhaltens mehrerer erleichtert“, stellt Lesch94 klar. „Soweit eine Erwartung institutionalisiert ist, kann der Erwartende stets von Zustimmung ausgehen, ohne jeweils individuelle Meinungen und Motive geprüft zu haben.“95 Kurzum geht es darum, Konsens erwartbar zu machen. Dieser Konsens „fungiert kraft Unterstellung und muss dann normalerweise gar nicht mehr konkret abgefragt werden.“96 Der funktionale Ansatz ist damit auf das „Ob“ einer bestimmten Reaktion beschränkt. Das „Wie“ hinsichtlich des Festhaltens, Weiterverfolgens und Erfüllens von Erwartungen bleibt umgekehrt aber außer Betracht. Erwartungen können innerhalb desselben sozialen Systems jedoch sehr vielschichtig ausgestaltet sein, so dass Konsens zwar in einem gewissen Sinne pauschaliert und verallgemeinert, nicht aber immer lapidar unterstellt werden kann. Die gegenteilige Annahme degradiert Konsens zur reinen Formalie und macht das Vorhandensein bestimmter Erwartungen letztlich von den jeweils bestehenden Mehrheitsverhältnissen innerhalb einer Sozietät abhängig. Mehrheitsentscheidung und Konsens sind jedoch voneinander zu scheiden und mitnichten deckungsgleich. Eine Konzeption, die diese Differenzen nivelliert, kann sich in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs als nachgerade gefährlich erweisen. Nun ist ein solches Risiko allen normativistischen Modellen gemein, jedoch besteht die Aufgabe einer konsistenten und stringenten Dogmatik eben darin, Lösungsmöglichkeiten auch in Situationen aufzuzeigen, in Kindhäuser, Gefährdung, S. 132. Appel, Verfassung, S. 431; auch Jakobs, AT, 1 / 11; Kindhäuser, Gefährdung, S. 30; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 361. 93 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 188; ähnlich Kindhäuser, Gefährdung, S. 30; jeweils im Anschluss an Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 516 ff., 517 sowie Luhmann, ARSP-Beiheft Nr. 8 (1974), S. 32. 94 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 189. 95 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 189. 96 Lesch, Verbrechensbegriff, S. 190. 91 92

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denen die Richtigkeit der normativen Grundlagen einer Ordnung erst noch zu beweisen oder gerade zweifelhaft ist. Das positive Recht kann nicht stets zur unangreifbaren Prämisse erhoben werden. Auch die Annahme, die Strafe könne zwar den Normgeltungsschaden beheben, das verletzte Rechtsgut aber nicht mehr retten, bleibt eine bloße Behauptung. Denn einerseits gibt man den in seinen Interessen Beeinträchtigten auf diese Weise gewissermaßen auf97 und andererseits wäre zu erklären, warum ein Normgeltungsschaden überhaupt eingetreten sein soll. Es bleibt ferner offen, warum der vermeintliche Normgeltungsschaden ausgerechnet vom Täter zu beheben ist und inwiefern die Strafe hierzu ein geeignetes Mittel darstellt. Diese Fragen bleiben auch dann unbeantwortet, wenn man den unterstellten Normgeltungsschaden als nur theoretisches Konstrukt begreift. Altenhain gibt zusätzlich zu bedenken, dass der genuin strafrechtliche Charakter einer Maßnahme mit funktionalistischen Thesen nur schwer begründbar sei. Denn selbst wenn man unterstellt, dass eine Verhaltensnormverletzung einen Normgeltungsschaden herbeiführt, den der Täter zu beheben habe, „so steht man vor dem Problem, dass ein solcher Schaden bei jeder Verhaltensnormverletzung eintreten kann, also auch bei nicht strafbaren Vertragsverletzungen oder Zuwiderhandlungen gegen verwaltungsrechtliche Ver- oder Gebote.“98 Die entscheidende Frage, warum im Strafrecht eine Überleitung der prozessualen Dispositionsbefugnis hinsichtlich des betroffenen Rechtsguts vom Verletzten auf den Staat erfolgt, ist damit ebenfalls nicht erklärt. Es bleibt offen, warum die im Zivilrechtssystem durchgeführte Begegnung gleichgestellter Rechtssubjekte im Strafrecht zu Gunsten eines Subordinationsverhältnisses zwischen Bürger und Staat aufgegeben wird. Es konnte bislang kein Kriterium gefunden werden, anhand dessen strafbare von straflosen Verhaltensnormverstößen abzugrenzen wären.99 Schon gar nicht gelingt eine plausible Erklärung, warum der Staat sich selbst gegen Übergriffe auf einzelne Personen verteidigt. Die Transformation von Individualinteressen auf eine übergeordnete Ebene bleibt letztlich bloßes Postulat. Lesch sieht den Zweck des Strafrechts in der Sicherung der Grundlagenbedingungen sozialer Koexistenz100 und muss sich vorwerfen lassen, damit letztlich einen Rückzug auf die Grundthesen der von ihm angegriffenen naturalistisch-positivistischen Lehren anzutreten. Ein neues Konzept der Charakterisierung von Strafrecht wird jedenfalls nicht entworfen. Wenn die jeweils zu garantierenden Grundbedingungen einer Gesellschaft immer anhand der bestehenden Verhältnisse festgestellt werden sollen, so verlangt 97 Obgleich die Wiederherstellung bei nur geringfügigen Interessenbeeinträchtigungen ohne weiteres möglich sein kann. 98 Altenhain, Anschlußdelikt, S. 320. 99 Ebenso Altenhain, Anschlußdelikt, S. 321. 100 Lesch, Beihilfe, S. 230.

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man zunächst nur nach der Anwendung des rechtssoziologischen Methodenkanons. Das aber hat den Vorteil einer nur scheinbaren Evidenz: Denn wie soll man das, was ist, noch hinterfragen?101 Um die kritische Würdigung des Bestehenden rankt sich jedoch das Problem. Ferner setzt sich die funktionalistische Strafrechtsdogmatik zu wenig mit der Bedeutung eines Gerüsts von Verhaltensnormen auseinander. Diese Bedeutung liegt darin, die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern zu regeln; Verhaltensnormen können nicht ausschließlich als Anknüpfungspunkt für Sanktionen interpretiert werden.102 Tut man dies dennoch, so lässt sich weder der fragmentarische Charakter des Strafrechts begründen, noch das ultima-ratio-Prinzip aufrechterhalten. Dabei handelt es sich jeweils um elementare Prinzipien, die in keinem strafrechtlich-dogmatischen Problemlösungsansatz zu vernachlässigen sind. Insofern können strafrechtskritische Erwägungen in einem tragfähigen Konzept nicht einfach ausgeblendet werden. Überdies bleibt der Staat alleiniger Inhaber des Anspruchs auf Bewahrung der Normgeltung und ist deshalb nicht gehalten, das Augenmerk auf irgendein Individuum zu richten, wenn man in der Strafe nur einen Ausgleich für den angerichteten Normgeltungsschaden sieht. Androhung und Verhängung der Strafe verkümmern so zum Selbstzweck. Eine personale oder gar individualistische (Straf-)Rechtskonzeption steht dem beinahe kontradiktorisch gegenüber. Funktionalistische Konstrukte nehmen zwar ihren Ausgangspunkt bei den unmittelbar konfligierenden Beteiligten, reichen im übrigen aber nicht über die Thesen der herkömmlichen Strafrechtsmodelle hinaus. Ein am Individuum orientiertes Recht lässt sich mit ihnen nicht entwickeln. Nicht der Mensch wäre das rechtlich relevante Opfer, sondern der Staat.

6. Würdigung des Schulenstreits Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass die Bindung des Strafgesetzgebers an die Personalität des Einzelnen heute als selbstverständlich anerkannt gilt. Allen strafrechtlichen Konzeptionen ist gemein, dass sie das staatliche Handeln letztlich in den Dienst des Individuums stellen wollen. Wie Altenhain resümiert, folgt da101 So der Einwand Renzikowskis, Täterbegriff, S. 52, der es für methodengerechter erachtet, von normativen Entscheidungen des Gesetzgebers abzugehen und auf diese Weise die Letztbegründungslücke offen zu lassen. 102 Renzikowski, Täterbegriff, S. 53; vgl. ders., ARSP 87 (2001), S. 110 ff., 121, am Beispiel der Straßenverkehrsregelungen: „Vielmehr sollen sie die für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft unerläßliche Orientierungssicherheit bewirken, indem sie einen Bestand von Verhaltenserwartungen schaffen.“ Die Befolgung von Verhaltensnormen „erfolgt aber nicht nur aus Angst vor Sanktionen, sondern aus der Erwartung, daß die anderen sich ebenso verhalten, und aus dem Bewußtsein, daß verkehrswidriges Verhalten nicht zuletzt auch zu einem Schaden für sich selbst führen kann.“

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raus jedoch nicht, dass es auch gerade Individualinteressen sind, deren Schutz und Förderung dem Staat obliegt103 bzw. an deren Verwirklichung dem Staat in erster Linie gelegen ist. Einzig die personale Rechtsgutslehre richtet ihre Thesen ausdrücklich am anthropozentrischen Charakter des modernen Rechtsstaats aus und begreift die Grundrechte als verfassungsrechtlich abgesicherte Individualinteressen, denen zu dienen auch Aufgabe des Strafrechtssystems sei.104 Dennoch erfahren sie durch strafrechtliche Normen einen allenfalls mittelbaren, reflexiven Schutz. Der überkommene Rechtsgutsbegriff hebt gebündelte Individualinteressen auf eine objektiv-rechtliche Ebene und macht deren Durchsetzung so zu einer Angelegenheit der Allgemeinheit. Dieses gemeinschaftliche Verständnis ist im Rechtsdenken der Gegenwart nach wie vor tief verwurzelt und schlägt sich selbst in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nieder. So charakterisiert das BVerfG das strafrechtliche Delikt seinem Wesen nach als „die schuldhafte Verletzung eines für alle gewährleisteten Rechtsguts.“ [ . . . ] „Es erscheint als eine Störung des allgemeinen Rechtsfriedens.“105 Darüber hinaus wird gelegentlich bekräftigt, dass die Aufgabe des Strafrechts nicht allein im Schutz von Rechtsgütern bestehe, sondern auch in der Sicherung der Grundlagen eines geordneten Gemeinschaftslebens106 bzw. wichtiger Gemeinschaftsbelange.107 Man überinterpretiert die verfassungsrechtliche Judikatur, wenn man ihr eine Bestätigung des überwiegend vertretenen Dogmas vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz entnehmen wollte.108 Und doch illustriert sie die verbreitete Auffassung von Schutzrichtung und -gegenstand strafrechtlicher Normen. Diese Vorstellung stützt ein Lehrgebäude, das den Menschen weniger in der Interaktion mit seinen Mitmenschen betrachtet, als vielmehr in Richtung und seinem Verhältnis zu einer höheren Instanz.109 Danach aber erscheint das Recht als objektive Macht, als ein Komplex von Imperativen. Der Wert einer Norm würde dann allein in der Macht des allgemeinen Willens bestehen.110 Dass formaljuristisch eine Rückbindung an Individualinteressen stattfindet, wäre zwar eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, bliebe in Bezug auf deren Durchsetzung jedoch ohne Bedeutung. Die subjektive Interessenwahrung könnte niemals mehr als ein Reflex der DurchsetAltenhain, Anschlußdelikt, S. 322. Altenhain, Anschlußdelikt, S. 322 im Anschluss an Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 88. 105 BVerfGE 21, S. 391, 403; vgl. auch BVerfGE 25, S. 269, 286 sowie BVerfGE 50, S. 142, 153. 106 BVerfGE 88, S. 203, 257. 107 BVerfGE 90, S. 145, 184. 108 Hierauf weist Hefendehl, Rechtsgüter, S. 49, zutreffend hin. Eine bewusst differenzierte Wortwahl ist den Entscheidungen des BVerfG insofern nicht zueigen. Vgl. ferner Lagodny, Grundrechte, S. 145. 109 Schon Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit, S. 104. 110 Thon, Rechtsnorm, S. 6. 103 104

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zung des Gemeinwohls sein. Die Wirksamkeit des Einzelwillens würde sich pauschaliert aus dem Gesetz ableiten111 und bliebe eine in diesem Sinne zufällige Größe. Aber selbst das wäre als unausweichliche Konsequenz in Kauf zu nehmen, wenn das Recht generell als Summe von Machtbefehlen anzusehen wäre; wenn Befehlen nur dann der Charakter als rechtliche Befehle zukommt, wenn sie ihrem Inhalte nach die Überzeugung bzw. den Willen der Gemeinschaft zu transportieren hätten. Die Anerkennung der Imperativentheorie112 wäre dann die unumgängliche Konsequenz und nicht einmal zu beanstanden. Es müsste in diesem Falle auch nicht der etwas „gekünstelte“ Versuch unternommen werden, in jeden Satz eines Gesetzes zwanghaft einen unmittelbaren Befehl hineinzulesen. Allerdings wäre geltendes, wirksames Recht nur solches, das sich zumindest auf Imperative zurückführen lässt. Imperative stellen sich demnach als reale Macht dar, die durch die Begründung von Pflichten in den empirischen Verlauf der Ereignisse eingreift.113 Für eine derartige Konstruktion bedarf es nur der Autorität des objektiven Rechts und der Unterwerfung des durch die Norm angesprochenen Personenkreises. Wer der Inhaber eines individuell betroffenen Gutes oder Interesses ist, darf nach diesem Modell ohne weiteres außer Betracht bleiben. Einer personalen Staats- und Rechtsauffassung wäre auf diese Weise eine kategorische Absage erteilt. Ein Staat, der die Würde des Menschen zu seinem höchsten verpflichtenden Gut erhoben hat, steht im schroffen Gegensatz zu einem System, das die einzelne Person zum bloßen Objekt des Kollektivs degradiert.114 Die Interessen der Gemeinschaft dürfen daher nur in ihrer den Einzelinteressen dienenden Funktion hervorgehoben werden. So will es das Grundgesetz.115 Die verfassungsrechtliche Absicherung ihrer Inhalte sucht die personale Rechtsgutslehre durch eine Rückbindung an das Individuum umfassend zu erreichen.116 Gegen diese Intention ist auch nichts einzuwenden. Jedoch dürfen nicht die Augen So auch Haas, Rechtsverletzung, S. 73. Die Imperativentheorie wurde von Austin, Lectures I, S. 79, 88 sowie Bentham, Laws, S. 1, begründet. Im deutschen Rechtsraum tauchte sie erstmals bei Thon, Rechtsnorm, S. 8 und Bierling, Prinzipienlehre Bd. 1, S. 30 ff., auf. Dazu auch Röhl, Rechtslehre, S. 201 ff. 113 Dazu Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit, S. 108. 114 Hefendehl, Rechtsgüter, S. 50. 115 Vgl. nur Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 88. Dem ist freilich hinzuzufügen, dass es mit Hilfe der Imperativentheorie nicht gelingt, die Selbstbindung des Gesetzgebers zu erklären. Einer modernen Vorstellung der staatlichen Idee widerspricht dies völlig. Es gibt keinen über dem Volk stehenden, in seinen Kompetenzen unbeschränkten Souverän, der gewissermaßen über dem Recht steht. Insofern muss die klassische Imperativentheorie vor dem Hintergrund der historischen Befindlichkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts beleuchtet werden. Dazu auch Renzikowski, Gössel-FS, S. 1 ff., 9 f.; vgl. ferner Höffe, Pol. Gerechtigkeit, S. 143. 116 Vgl. Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 88. 111 112

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davor verschlossen werden, dass auch diese Konzeption dem Staat die Definitionsmacht darüber belässt, was dem Interesse der Individuen entspricht.117 Das ist das zwingende Resultat einer Ablösung des Rechtsguts vom Rechtsgutsinhaber. Möglicherweise aber ist ein derartiges Vorgehen ohne Alternative, denn nicht alle Individualinteressen sind gleichermaßen schutzwürdig. Interessen sind nicht stets rational oder zweckgerichtet. Sie mögen gelegentlich triebhaft, sogar unvernünftig und von einer nicht aufdeckbaren inneren Dynamik sein.118 Schünemann polemisiert, dass nicht jedes Interesse, nicht die „albernste Laune des egoistischen Individuums“119 strafrechtlichen Schutz genießen könne. Wolle man Strafrecht auf den Schutz fundamentaler Individual- und / oder Allgemeininteressen beschränken, so müsse sich der Staat an bestimmte Maßstäbe binden.120

II. Strafrecht als limitiert-akzessorisches Schutzrecht Fraglich ist, worin der durch den Strafgesetzgeber zu beachtende Maßstab gefunden werden kann und – wenn es einen solchen geben sollte – welche weiteren Schlüsse aus ihm zu ziehen sind. Wenn man die Akzessorietät des Strafrechts als Grundsatz ernst nimmt, kann man die Bestimmung seiner Funktionen und Aufgaben nicht als gleichsam internes Problem behandeln.121 Nicht eine etwaige programmatische Isoliertheit, sondern die Bindung an die Gesamtrechtsordnung determiniert die Bezugspunkte des Strafrechtssystems. Das für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen notwendige Ordnungsgefüge wird nicht in erster Linie mit den Mitteln und Instrumenten des Kriminalrechts hergestellt.122 Die Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Daseins wird bereits durch das Zivil- sowie durch das Öffentliche Recht vollzogen.123 Im Zuge dessen wird eine Rechtszuweisungsordnung statuiert, mit Hilfe derer konkrete Rechtspositionen bestimmt und miteinander in Ausgleich gebracht werden.124 Das Strafrecht findet insofern eine vollständige Ordnung des sozialen Lebens schon vor.125 Einer zusätzlichen Sortierung bedarf es nicht. So ausdrücklich auch Altenhain, Anschlußdelikt, S. 294. Jäger, Strafgesetzgebung, S. 11; ebenso Altenhain, Anschlußdelikt, S. 294. 119 Schünemann, GA 1995, S. 201 ff., 207. 120 Altenhain, Anschlußdelikt, S. 295. 121 Appel, Verfassung, S. 428. 122 Haas, Rechtsverletzung, S. 54 ff.; Appel, Verfassung, S. 428. 123 Appel, Verfassung, S. 431. 124 Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, S. 350, sehen das Grundproblem, mit dem jede Rechtsordnung konfrontiert sei darin, das Spannungsverhältnis zwischen Güterschutz und Handlungsfreiheit in Ausgleich zu bringen. Demzufolge bestehe die Aufgabe des BGB darin, 117 118

II. Strafrecht als limitiert-akzessorisches Schutzrecht

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Das Kriminalrecht gehört einem System an, das die Normbefolgung sicherstellen soll. Dazu trifft es eine Entscheidung zu Gunsten besonders wichtiger Werte, die für die Funktions- und Bestandsfähigkeit der Rechtsgemeinschaft von herausragender Relevanz erscheinen.126 Mithin unterstreicht das Strafrecht die Geltungskraft und Bedeutsamkeit der in der Rechtsordnung an anderer Stelle getroffenen Wertentscheidungen. Das Strafrecht schützt demnach konkrete Rechtspositionen nicht unabhängig von der übrigen Rechtsordnung oder disqualifiziert Verhaltensweisen kraft der eigenen Durchsetzungsmacht als rechtswidrig.127 – Im Sinne eines limitiert-akzessorischen Schutzrechts128 stellt es nicht selbst Verhaltensanweisungen auf, sondern knüpft hinsichtlich seiner Rechtsfolgen an anderweit vorgefundene Regelungen an.129 Nach gängigem Verständnis wählt es „aus der Fülle von Normen, die die Rechte und Pflichten der Normunterworfenen festlegen, diejenigen aus, die besonders wichtige Rechtsgüter schützen, oder es bedroht besonders qualifizierte Formen des Normbruchs mit Strafe.“130 Hieraus resultiert einerseits die fragmentarische Natur des Strafrechts. Andererseits lässt sich resümieren, dass die in den Mittelpunkt gestellte Rechtsgüterschutzaufgabe keine dem Strafrecht exklusiv zugewiesene Materie darstellt. In ihr liegt keine Besonderheit des Strafrechts, sondern schlicht eine an die Gesamtrechtsordnung gerichtete Aufgabenstellung.131 Insofern aber kann eine opferorientierte Untersuchung der strafrechtlichen Programmatik nicht erst bei den Strafzwecklehren ansetzen, denn diese setzen ihrerseits ein Vorverständnis über die Charakteristik des Kriminalsystems voraus. Es ist vielmehr erforderlich, sich der Frage zuzuwenden, wie das Verhältnis des Strafrechts zur übrigen – der primären – Rechtsordnung überhaupt beschaffen ist. Aus Sicht des betroffenen Individuums scheint hier das Verhältnis zur Privatrechtsordnung von besonderer Relevanz zu sein. Es ist daher zu ermitteln, warum sich im Strafrechtssystem das Ziel des Rechtsgüterschutzes vom jeweiligen Rechtsgutsträger emanzipiert. Eine solche Ablösung findet im Bereich des Privatrechts nicht statt.132 die Rechtskreise festzulegen, innerhalb derer der Einzelne seine individuelle Freiheit entfalten und seine Interessen verfolgen dürfe. 125 Haas, Rechtsverletzung, S. 55; Nagler, Binding-FS Bd. 2, S. 315 ff.; Mezger, GS 89 (1924), S. 239 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 154; Schmidhäuser, Würtenberger-FS, S. 91 ff.; Appel, Verfassung, S. 431. 126 Renzikowski, Täterbegriff, S. 55; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 155 f.; Appel, Verfassung, S. 429. 127 Haas, Rechtsverletzung, S. 54. 128 Appel, Verfassung, S. 431; Haas, Rechtsverletzung, S. 54. 129 Renzikowski, Täterbegriff, S. 55; Freund, Unterlassen, S. 114; Günther, JuS 1978, S. 12 ff. 130 Renzikowski, Täterbegriff, S. 55. 131 Zur Diskussion Altenhain, Anschlußdelikt, S. 282 ff., 284 ff.; Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 80 sowie Otto, Grundkurs AT, § 1 Rn 25, 37.

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Bernhard Windscheid schrieb 1856, es könne kein Zweifel daran bestehen, „dass demjenigen, welcher in einem ihm zustehenden Rechte verletzt worden ist, eine actio zugeschrieben wird.“133 Das Aktionendenken ist inzwischen durch den Anspruchsbegriff ersetzt worden.134 Und doch folgt aus der Formulierung Windscheids etwas an sich Selbstverständliches: Aus dem Tatbestand der Rechtsverletzung folgt ein Anspruch des Verletzten auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens. Für das Zivilrecht hat dieser Satz nach wie vor unbestrittene Gültigkeit. Demgegenüber kommt die Strafhoheit ausschließlich dem Staat zu. Der Strafanspruch ist entindividualisiert. Nach Windscheid kann nun aber „niemand eine Strafe einklagen, der nicht einen Anspruch auf die Strafe hat.“135 Die Eliminierung des Opfers aus dem strafrechtlichen Denken müsste folglich ihren Grund darin haben, dass es hier nicht um die Verwirklichung seiner Interessen und Bedürfnisse geht, sondern ausschließlich um die Verfolgung überindividueller, vielleicht sogar transpersonaler Ziele. Wären die subjektiven Befindlichkeiten der Einzelpersonen irrelevant, so scheint es nur konsequent, die stattdessen betroffenen Interessen der Allgemeinheit oder die des Staates durch geeignete Repräsentanten wahren zu lassen. Es stellt sich freilich die Frage, ob sich dies mit den verfassungsrechtlich anerkannten Prinzipien unserer Rechtsordnung unbesehen verträgt. Nach dem Grundgesetz ist das Individuum gegenüber der Gemeinschaft als vorrangig zu behandeln.136 Der Grundrechtskatalog sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip fordern für die Begrenzung der individuellen Handlungsfreiheit ausnahmslos eine tragfähige Legitimation.137 Die bisherigen Ausführungen indizieren indessen ein primär kollektivistisches (Straf-)Rechtsverständnis, das sich bis in die heutige Zeit erhalten hat. Das gegenwärtige Strafrechtssystem ist gewissermaßen Spiegelbild dieser Dogmatik. Es wird daher zu untersuchen sein, wie sich die Funktion des Strafrechts nach dem Bild des Grundgesetzes sinnvollerweise bestimmen lässt und welche prozessuale Ausstrahlungswirkung sich hiermit verbindet. Dies kann – den Akzessorietätsgedanken ins Zentrum stellend – nur mit Rücksichtnahme auf Rang und Bedeutsamkeit des Strafrechts im Rahmen der Gesamtrechtsordnung geschehen.

132 Obwohl auch im Bereich des Zivilrechts ein entsprechendes Unrechtsurteil die Grundlage der Haftung bildet. Man denke nur an das Feld des Deliktsrechts, in dem menschliche Handlungen ebenfalls anhand der dem Gesetz entnommenen Verhaltensge- und verbote gemessen und bewertet werden. Dazu Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, S. 365. 133 Windscheid, Actio, S. 2. 134 Dazu H. Kaufmann, Strafanspruch, S. 12. 135 Windscheid, Actio, S. 23. 136 Nur Haas, Rechtsverletzung, S. 76 f. 137 Haas, Rechtsverletzung, S. 77.

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1. Individualität und Rechtsordnung a) Subjektive Rechte und materielle Rechtszuweisungsordnung Die Bewertungskompetenz des die Allgemeinheit repräsentierenden Gesetzgebers entfaltet sich in der grundgesetzlichen Vorgabe, dass der Staat um des einzelnen Staatsbürgers willen da ist und nicht umgekehrt. Der Staat stellt sich lediglich als Vereinigung seiner Mitglieder zum Schutze der Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen dar.138 Hierin kulminiert geradezu Kants Definition des Rechts als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“139 Carl von Savigny140 entwickelte diesen Satz dahingehend weiter, dass freie Wesen sich gegenseitig fördern müssten und nicht hemmend nebeneinander stehen dürften. Das Recht habe daher die freie Entfaltung der Kraft zu sichern, die dem individuellen Willen entspringt. Die Aufgabe der Rechtsregeln bestehe mithin darin, dem individuellen Willen einen Bereich zuzuerkennen, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen herrschen könne. Das so abgesteckte Betätigungsfeld der Freiheit nannte Savigny „subjektives Recht“.141 Es avancierte bald zum zentralen Begriff des Privatrechts, wie von Thur bereits 1910 feststellte142 und Medicus143 in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des BGB bis heute bekräftigt. Der individuelle Wille unterliegt indessen vielerlei Schwankungen. Bedürfnisse unterscheiden sich von Person zu Person. Klärungsbedürftig ist deshalb, wie das Recht der Diversifikation und Mannigfaltigkeit denkbarer Interessen Rechnung trägt. Der Inhalt subjektiver Rechte ist gesetzlich näher bestimmt. Beispielhaft sei das Eigentum herausgegriffen: Gemäß § 903 BGB kann der Eigentümer einer Sache mit dieser nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Die Hauptcharakteristika des Eigentums sind also einerseits sein Zuweisungsgehalt sowie andererseits seine Ausschlussfunktion.144 Beide Merkmale treffen auch auf Schwab, Einführung, S. 29. Kant, MdS, S. 337. 140 Savigny, System Bd. 1, S. 331 ff. 141 Zum subjektiven Recht im allgemeinen Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 41, 327 ff. 142 Von Thur, AT I, S. 53: „Der zentrale Begriff des Privatrechts und zugleich die letzte Abstraktion aus der Vielgestaltigkeit des Rechtslebens ist das Recht des Subjekts, das subjektive Recht.“ In neuerer Zeit mehrten sich die Stimmen gegen das subjektive Recht als Zentralbegriff, dazu Raiser, JZ 1961, S. 465, 472; Coing, Geschichte, S. 29 ff. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Jedoch sei die Anmerkung erlaubt, dass das subjektive Recht mitnichten überholt ist. Es wurde nur durch modernere Aspekte ergänzt. Entbehrlich wird es deshalb nicht, siehe zum Ganzen Medicus, BGB-AT, S. 33 ff. 143 Medicus, BGB-AT, S. 33 ff. 144 Dazu auch Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, S. 374. 138 139

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Leben, Körper, Gesundheit etc. zu. Der Rechtsgenosse darf mit ihnen weitgehend145 nach eigenem Befinden umgehen. Auf diese Weise wird ein Gleichlauf von individuellen Präferenzstrukturen und eingeräumter Rechtsposition erreicht. Rechtsausübung und faktische Interessen werden zu einer Einheit verknüpft. Die Konsequenzen seien am Beispiel des vom BGH entschiedenen Fleet-Falles illustriert: Durch die Sperrung eines Fleets konnte dieses von drei Schiffen nicht mehr verlassen werden. Das Einsperren der Schiffe wurde vom BGH als Eigentumsverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB qualifiziert, denn das Eigentum schließe unzweifelhaft die Befugnis ein, über die räumliche Lage einer beweglichen Sache selbst zu bestimmen. Die Wahrnehmung dieser dem eigenen Willen folgenden Befugnis sei dem Eigentümer genommen worden.146 Auf die Dauer der Einsperrung oder eine Minderung des Marktwertes der betreffenden Sachen komme es nicht an. Auch eine Substanzbeeinträchtigung oder Brauchbarkeitsminderung müsse nicht eingetreten sein. Kriterien wie diese werden im materiellen Strafrecht üblicherweise bemüht, um die Strafbarkeit gem. § 303 StGB näher zu spezifizieren. Die faktischen Interessen oder der individuelle Bedürfnishorizont des Betroffenen treten ihrem Stellenwert nach demgegenüber zurück. Für den tatbestandlich umschriebenen Bereich der Strafbarkeit erscheint die Faktizität des jeweils artikulierten Willens von untergeordneter Bedeutsamkeit. Es spricht somit ein gewisses Indiz dafür, dass das Unwerturteil im Strafrecht anders angeknüpft wird als in den Gefilden des bürgerlichen Rechts. Möglicherweise ist hierin auch der Grund für die wesensverschiedenen prozessualen Strukturen beider Rechtsgebiete zu suchen.147 Nichtsdestotrotz ist das einfache Beispiel des Fleet-Falles ein Beleg dafür, dass auch das BGB Verhaltensweisen einzelner Rechtsgenossen missbilligt. Am Recht der unerlaubten Handlungen gem. §§ 823 ff. BGB wird dies unmittelbar sinnfällig. Es fällt nicht weniger als ein in Normen zum Ausdruck gebrachtes Unwerturteil. Aus den Rechtsquellen selbst bzw. aus der Summe ihrer Rechtsvorschriften lässt sich schließen, ob ein Vorgang von der Rechtsordnung gebilligt wird oder nicht.148 Dazu bedarf es nicht zwingend des Strafrechts. Dieses scheint seiner akzessorischen Natur nach dazu prädestiniert, ein bereits feststehendes Unwerturteil zu untermauern149 oder dessen Appellcharakter zu verstärken. In positiver Hinsicht lässt sich schlussfolgern, dass die Privatrechtsordnung ein vollständiges System subjek145 Einige Rechte gelten freilich als unveräußerlich. Das braucht hier indessen nicht weiter vertieft zu werden. 146 BGHZ 55, S. 153 ff.; dazu auch Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, S. 388 f. 147 Jedenfalls folgt aus der bloßen Auflehnung gegen den tatsächlichen oder möglichen individuellen Willen nicht automatisch auch eine strafrechtliche Erheblichkeit. 148 Und zwar mit Rücksichtnahme auf den (möglichen) individuellen Willen. Nagler, Binding-FS Bd. 2, S. 315. 149 Man kann sich deshalb zu der These verleiten lassen, dass strafrechtliche Sachverhalte mit individualrechtlicher Dimension – abseits des untauglichen Versuchs – in der Regel auch von zivilrechtlicher Bedeutsamkeit sind, nicht jeder bügerlich-rechtliche Streit aber ist auch von strafrechtlicher Relevanz.

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tiver Rechte entwirft. Sie statuiert eine Rechtszuweisungsordnung, die die Autonomie aller am Rechtsverkehr Beteiligten ermöglichen soll. Freilich ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Reaktion auf bestimmte Verletzungen oder Gefährdungen subjektiver Rechte.150 Es bedarf eines Schutzprogramms, das auf die Abwehr von Angriffen auf subjektive Rechte bzw. auf ihre Wiederherstellung gerichtet ist. Das zivilrechtliche Instrumentarium hierfür ist in der Bereitstellung eines umfassenden Anspruchssystems zu sehen. Unterlassungsund Schadensersatzansprüche etwa dienen dem Ziel der Bewahrung oder Wiederherstellung der betroffenen Freiheitssphären.151 Es lässt sich folglich sagen, dass ohne Rücksicht auf strafrechtliche Normen oder Kategorien bereits ein umfängliches rechtliches Gewährleistungssystem existent ist. Schon die Privatrechtsordnung sucht die gleichmäßige Zuteilung von Freiheitssphären zu erreichen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit sind Schlüsselbegriffe eines freiheitlichen Systems. Die Autonomie ist das Grundprinzip des rechtlichen Ordnungsrahmens. Durch den Schutz seiner individuellen Interessen wird jedem Bürger ein Kernbereich garantierter Freiheit zuerkannt152, in dem er seine Bedürfnisse in eigener Verantwortung wahrnehmen kann und gegen Eingriffe von außen nach dem Willen bzw. mit Billigung des materiellen Rechts abgeschirmt wird. Dieser Satz kann von seiten der Strafrechtslehre ohne weiteres mit Zustimmung rechnen. Gleichwohl wird nur sehr vereinzelt der Versuch unternommen, die Dogmatik des Strafrechtssystems an den subjektiven Rechtspositionen der Betroffenen zu orientieren.

b) Subjektive Rechte als Basis einer freiheitlichen Rechtsordnung Dabei wird die Radikalität und ästhetische Klarheit der Rechtsverletzungslehre selbst von ihren Gegnern gern hervorgehoben.153 Trotzdem besitzt das Denken in der Ordnungsvorstellung subjektiver Rechte, wie Haas es formuliert, „in der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik kein gesichertes Bürgerrecht.“154 Mehr noch: Sie scheint völlig in Vergessenheit geraten zu sein, was sich wohl auf den Untergang der naturrechtlichen Aufklärungsphilosophie zurückführen lässt, die das Fundament für die Entwicklung der Rechtsverletzungslehre bildete.

R. Schmidt, Lehrbuch, S. 174 f. Nicht minder wichtig sind freilich die Regelungen über die Einschränkungen der Privatautonomie im Bereich des Vertragsrechts. Sie können für die hiesige Untersuchung aber außer Betracht bleiben. 152 Renzikowski, Notstand, S. 178. 153 Nur Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 45. 154 Haas, Rechtsverletzung, S. 58. 150 151

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aa) Subjektive Rechte als Legitimität stiftende Notwendigkeit In der Tat kann sich der Gedanke, der Gesetzgeber habe nur Vorpositives zu implementieren, keiner nennenswerten Anhängerschaft (mehr) erfreuen. Und das aus gutem Grund: Die Naturrechtslehre leitete ihre Grundrechte aus den durch die Grundbedürfnisse des Menschen determinierten Interessen ab. Gegenüber einer absolutistischen Staats- und Strafgewalt mutete das Postulat der Bindung an vorpositive subjektive Freiheitsrechte nachgerade „systemkritisch“155 an und war geeignet, einen gewissen Ausgleich zwischen Bürgerfreiheit und staatlicher Ordnungsmacht zu schaffen. Schon bald aber erwies sich die Begründung von Grundrechten im Naturzustand als kaum tragfähig, denn im nicht-rechtlichen, vorpositiven Naturzustand ist die Freiheit ständig durch die aggressiven Neigungen der Mitmenschen bedroht.156 Hätte also jeder im Naturzustand ein Recht auf Befriedigung seiner individuellen Interessen, so würde ein jeder jedem anderen neben ihm dessen Recht streitig machen können, sobald es um der Verfolgung eigener Bedürfnisse willen nötig ist.157 Die Rechte würden sich im Ergebnis wechselseitig aufheben. Doch auch der Eintritt in den durch Vertrag gegründeten Bürgerverein, den Staat, konnte nicht plausibel erklärt werden. Denn warum hätten die, die im Naturzustand ihre Interessen bereits umfassend zu verwirklichen in der Lage gewesen wären, zu Gunsten anderer, bedürftigerer Mitmenschen auf eine eigene Bedürfnisbefriedigung verzichten sollen? Die im staatlichen Zusammenschluss liegende Unterwerfung und der damit verbundene Verzicht sind vor diesem Hintergrund nicht überzeugend nachzuvollziehen. Die gegen die Naturrechtslehre vielfach wiederholten Einwände158 sind nicht unzutreffend, lassen sich aber zwanglos im Zuge einer moderneren Auffassung über die Aufgaben des Staates überwinden: Es kommt zum staatlichen Zusammenschluss nicht deshalb, weil er die individuelle Interessenverfolgung optimiert, sondern weil er die Freiheit einer Interessenverfolgung gewährleistet wie sie nur im Staat möglich – und ohne Staat nicht möglich – ist.159 Es bedarf des „Staatsvertrages“ bzw. der Gründung einer bürgerlichen Gesellschaft zur „konkreten Bestimmung der Hinsichten gleicher subjektiver Freiheiten sowie zur zwangsförmigen Sicherung gleicher Freiheitsrechte gegen Verletzungen.“160 Folglich handelt es sich bei den Grundrechten nicht um Gewährleistungen von Rechten, die aus dem natürlichen Interesse an der Befriedigung von Bedürfnissen abgeleitet werden, 155 156 157 158 159 160

Hassemer, Theorie, S. 27 ff.; vgl. auch Klaus Günther, Zustand, S. 445, 447. So die gängige Annahme, vgl. dazu Naucke, KritV 1993, S. 135 ff., 137 f. Altenhain, Anschlußdelikt, S. 294. Vgl. Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 46. Klaus Günther, Zustand, S. 445, 446; Altenhain, Anschlußdelikt, S. 295. Klaus Günther, Zustand, S. 445, 446.

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sondern um subjektive Rechte, die die Freiheit der Interessenverfolgung überhaupt ermöglichen.161 bb) Verbürgung subjektiver Rechte als Verkörperung rechtspolitischer Forderungen Es soll nicht abgestritten werden, dass einer derartigen Konzeption die Annahme subjektiver Freiheitsrechte mit vorpositivem Status implizit ist. Allein diese Auffassung ist mit den Prinzipien unserer Rechtsordnung in Einklang zu bringen: Das Grundgesetz geht ersichtlich von der Existenz vorstaatlicher Rechtspositionen aus. Warum sonst sollte in Art. 1 Abs. 2 GG von unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft die Rede sein? In Art. 4 Abs. 2 GG wird die ungestörte Religionsausübung „gewährleistet“, ebenso das Eigentum in Art. 14 Abs. 1 GG. Damit wird die Existenz entsprechender Institute schon vorausgesetzt. Dies freilich nicht im naturrechtlich begründbaren Sinne, sondern in Form rein moralischer Postulate162, die sich so weit zu rechtspolitischen Forderungen verdichtet haben, dass ohne die Metamorphose zu konkreten, benennbaren Rechten die gesellschaftlich-staatliche Machtausübung ihre Legitimität verlieren würde. „Die Grundrechte wollen diesem Legitimitätserfordernis Rechnung tragen. Sie sind Ausdruck rechtlicher Anerkennung des Rechtsunterworfenen als autonomer Person.“163 Es ist also keineswegs so, dass die Rechtsverletzungslehre als historisch angelegtes Modell die Lasten der Vergangenheit trüge, wie Stächelin164 es behauptete. Es kann ohne Mühe eine zeitgemäße, am gegenwärtigen Gesellschaftsund Staatsverständnis orientierte Reformulierung der „klassischen“ Thesen vorgelegt werden.

2. Phänomenologie und Wirkweise subjektiver Rechte Es darf deshalb mit guten Gründen die Rede davon sein, dass das Grundgesetz vorpositive Rechtspositionen oder besser: als rechtspolitische Forderungen bestehende, moralische Postulate in Legitimität stiftende, konkrete subjektive Rechtspositionen gegossen hat. Die Rechtsordnung erkennt den Einzelnen auf diese Weise als autonome Person an.165 Die subjektiven Rechte werden durch das objektive Recht nicht erst geschaffen. Gleichwohl setzt die Rechtsordnung die subjektiven Rechte gewissermaßen in Geltung. Das objektive Recht besteht insofern, um Explizit Altenhain, Anschlussdelikt, S. 295. Haas, Rechtsverletzung, S. 81. 163 Haas, Rechtsverletzung, S. 81 f. 164 Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 45. 165 Haas, Rechtsverletzung, S. 82: „Insoweit ist es zutreffend zu sagen, daß das subjektive Recht sittlich in einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis gründet.“ 161 162

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doch noch einmal mit Binding zu sprechen, aus einer Vielzahl bejahender Rechtssätze,166 allerdings unter völlig anderen Bedingungen als sie ihm seinerzeit vorschwebten. a) Die Verwirklichung subjektiver Freiheitsrechte durch die Privatrechtsordnung aa) Normative Verhaltensbefehle kraft Setzung Die Ausformung des subjektiven Rechts hinsichtlich Entstehung, Wandlung und Untergang erfolgt maßgeblich durch das Privatrecht, also durch den Teil der Rechtsordnung, der die Beziehungen der einzelnen Personen zueinander auf der Grundlage ihrer Gleichberechtigung und Selbstbestimmung regelt.167 Verhältnisse der Über- und Unterordnung mit einseitiger Bestimmungsmacht zum Zwecke hoheitlicher Aufgabenerfüllung gibt es nicht.168 Im Privatrecht dominiert die freie, keinem Begründungszwang unterliegende Entscheidung des Einzelnen.169 Das grundlegende Ordnungsprinzip ist in der Anerkennung der individuellen Autonomie zu sehen170 und somit in der personalen Selbstverantwortung der Bürger. Ihnen selbst ist die Ausübung und die Gestaltung ihrer Freiheit überlassen. So wird die im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes gewährte persönliche Entfaltungsfreiheit ins Werk gesetzt. Eine irgendwie geartete Bevormundung seitens staatlicher Stellen findet nicht statt. Das handelnde Individuum ist niemandem Rechenschaft schuldig, seine Motivation „bleibt tabu, und die Folgen seines Tuns muss es allenfalls vor sich selbst verantworten.“171 Freilich ist eine einseitige Bestimmungsmacht auch zwischen an sich gleichgeordneten Rechtssubjekten denkbar. Deshalb lässt auch die Privatrechtsordnung keine totale Handlungsfreiheit zu. Jeder hat einen autonomen Kernbereich des jeweils anderen Rechtsgenossen zu achten. Damit aber ist die bürgerliche Freiheit des Menschen durch die bürgerliche Freiheit aller anderen begrenzt.172 Die Rechtsordnung kann ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie die „dem Menschen als Teil seiner natürlichen Ausstattung mitgegebene faktische Freiheit zwischen den Privatrechtssubjekten verteilt.“173 Binding, Normen I, S. 96; ders. Handbuch I, S. 181 ff. Larenz / Wolf, Allg. Teil, S. 1 f. 168 Gerade dies charakterisiert nach der lange herrschenden Subjektionstheorie aber das öffentliche Recht, dazu Medicus, Allg. Teil, S. 5; ferner Larenz / Wolf, Allg. Teil, S. 3. 169 Medicus, Allg. Teil, S. 3. 170 Larenz / Wolf, Allg. Teil, S. 2. 171 So ausdrücklich und plakativ Köntgen, AcP 184 (1984), S. 600, 602 f. 172 Nur Schwab, Einführung, S. 29 (Rn 64). 173 So Haas, Rechtsverletzung, S. 55; vgl. ferner Nagler, Binding-FS Bd. 2, S. 315 ff.; Nowakowski, ZStW 63 (1951), S. 287; Kühl, AT, § 3 Rn 6. 166 167

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Die Zuweisung und Anerkennung konkreter Rechtspositionen ist dabei ohne die Festlegung bestimmter Rechtspflichten nicht denkbar. „Das subjective Recht [ . . . ] ist nicht ein Dürfen, sondern es ist ein Können und zwar ein Können, lediglich vom Standpunkt eines anderen Menschen, eben des Verpflichteten betrachtet.“174 So beschreibt Hold von Ferneck den Zusammenhang zwischen subjektivem Recht und Pflicht. Erst die Freiheitsbeschränkung des einen durch Auferlegung von Pflichten gewährleistet die rechtlich garantierte Freiheit des anderen.175 Freiheit ist deshalb nur dort möglich, wo Menschen zu ihrer Achtung verpflichtet werden. Die Verpflichtung geschieht durch die Setzung von Verhaltensnormen.176 Diese aber werden hoheitlich auferlegt. „Sie werden von der staatlich verfaßten Gemeinschaft teils gewohnheitsrechtlich kraft einer auf Rechtsüberzeugung beruhenden Übung, teils durch förmliches Gesetz in Geltung gesetzt. Das Maß des rechtlich Geforderten legt die staatlich verfaßte Sozietät vor dem Hintergrund ihrer Vorstellungen von einem guten gesellschaftlichen Leben fest.“177 Es ist der Staat, der die Ordnung des Gemeinschaftslebens mittels gesetzlicher, behördlicher und richterlicher Ge- und Verbote herstellt. Hierin erst liegt die Verwirklichung von Recht. Begreift man die Verhaltensnormen als hoheitlich auferlegten Wertmaßstab, der den Bürgern Orientierung in ihrem Handeln geben soll, so lässt sich ihre öffentlich-rechtliche Natur nicht anzweifeln. Der Staat wendet sich über Normen an die durch sie betroffenen Bürger und will sie zu einem bestimmten Verhalten motivieren.178 Daraus erfahren Verhaltensnormen ihre Bestimmungs- und Bewertungsfunktion179, so werden Rechte verbürgt und Pflichten verbindlich und so wird unmittelbar ersichtlich, wer Subjekt von Rechten und wer Adressat von Pflichten Hold von Ferneck, Rechtswidrigkeit I, S. 106. So auch Renzikowski, Notstand, S. 171. 176 Sie werden von sog. Distributionsnormen begleitet, deren Funktion darin besteht, die Reichweite subjektiver Rechte näher auszugestalten. Die Missachtung solcher Distributionsnormen zieht regelmäßig Abwehr- und Schadensersatzansprüche nach sich. Abseits davon ist zur Absicherung größtmöglicher Gewährleistungsinhalte nicht selten eine Abwägung zwischen der Handlungsfreiheit und der durch ihre Wahrnehmung tangierten subjektiven Rechtspositionen Dritter vorzunehmen. Dies ist angesichts des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts unvermeidbar. Verhaltensnorm und subjektives Recht müssen einander also nicht zwingend und in jedem Falle völlig komplementär entsprechen; man denke nur an den Bereich des gesamten Beförderungsverkehrs, der einerseits erwünscht, andererseits aber auch risikobehaftet ist. Freilich wäre es wenig zweckmäßig, einen Unterlassungsanspruch einzuräumen, der etwa darauf gerichtet ist, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, jeden Straßenverkehr von sich fernhalten zu können. Das Recht behilft sich hier mit der Gefährdungshaftung, um einen am Einzelfall orientierten Interessenausgleich herstellen zu können, ohne auf die Vorzüge schnellerer Fortbewegung verzichten zu müssen. Genauso verhält es sich im technischen Sicherungsrecht und im Bereich der industriellen Weiterentwicklung, wo die Gefährdungshaftung eine nicht minder wichtige Rolle spielt. 177 Haas, Rechtsverletzung, S. 78. 178 Zum Ganzen Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 95. 179 Binding, Normen I, S. 97. 174 175

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ist.180 Mit der In-Geltung-Setzung von Normen wird verlautbart, welches Verhalten von wem in welcher Situation erwartet wird. Hieraus ergeben sich gleichsam die Pole der in Verhaltensnormen zum Ausdruck gebrachten „Erwartungshaltung“: Da letztere von den zuständigen Gesetzgebungsorganen in verbindliches Recht überführt wird, kann es nur die im Staat verfasste Allgemeinheit sein, die ihren Willen in Verhaltensnormen artikuliert. Damit ist bewiesen, was schon Binding181 mit aller Deutlichkeit betonte und Haas erst kürzlich bekräftigte: Berechtigter der Norm ist immer ihr Urheber! „Als Urheber der Verhaltensnormen ist die Allgemeinheit Berechtigter. Wer die Verhaltensnormen beachtet, führt, sich dem Willen der Allgemeinheit unterwerfend, stellvertretend ihr Geschäft.“182 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob im Bereich des Privatrechts die Verhaltenspflichten nachträglich soweit privatisiert worden sind, dass die aus ihnen abgeleitete Berechtigung auf die einzelnen Rechtssubjekte übertragen worden ist. Fest steht, dass der Staat zumindest ursprünglich derjenige gewesen ist, demgegenüber die Verhaltensnormen einzuhalten sind.183 Dadurch aber ist nicht ausgeschlossen, dass er sich seiner Berechtigung zu Gunsten der Individuen entäußert haben könnte. Die Rechtsgenossen würden sich in diesem Falle die Einhaltung der Verhaltensnormen wechselseitig schulden. Berechtigter wäre dann der durch den jeweiligen Verhaltensbefehl Begünstigte.184 Eine derartige Konstruktion verträgt sich jedoch kaum mit der Bewertungs- und Bestimmungsfunktion von Verhaltensnormen. Wenn Normen als Wertmaßstab fungieren sollen, dann muss es jedem Adressaten möglich sein, die in Ge- und Verboten liegenden Wertungen zu erkennen. Um seine Ordnungsaufgabe zu erfüllen, muss ein rechtliches Ge- oder Verbot aber auch im Kontext der übrigen Regelungen des jeweiligen Gesetzes, Rechtsgebietes und der gesamten Rechtsordnung zu klaren, eindeutigen und verständlichen Verhaltensmaßregeln führen.185 Eine zuverlässige Orientierung ist vielfach nur unter Beachtung des Zusammenspiels von Zivilrecht und öffentlichem Recht möglich. Erst aus dem Moment der Orientierungssicherheit ergibt sich der Maßstab des rechtlich Erwarteten.186 Eine vollständige Übertragung der Berechtigung Haas, Rechtsverletzung, S. 76. Binding, Normen I, S. 97. 182 Haas, Rechtsverletzung, S. 76, 79. 183 Haas, Rechtsverletzung, S. 76. 184 So Renzikowski, Notstand, S. 169; Otto, Pflichtenkollision, S. 49 f., geht soweit, auch den materiell-rechtlichen Gehalt der Verhaltensnormen zu privatisieren und insofern ein horizontales Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer anzunehmen. Keine andere Interpretation lässt etwa die Formulierung zu: „Wo die Rechtsordnung dem einzelnen Rechtssubjekt ein Recht einräumt, aus dem Ansprüche auf Achtung dieses Rechts einfließen, gewährt sie dem einzelnen ein Tätigkeitsfeld, auf dem er sich ungestört bewegen kann. Den anderen Rechtsgenossen wird die Pflicht auferlegt, diesen Rechtsraum des Individuums zu achten. Dessen Recht auf Wahrnehmung und Achtung korrespondiert somit mit einer Pflicht gleichen Inhalts auf Seiten der anderen Rechtsgenossen.“ 185 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 95. 186 Haas, Rechtsverletzung, S. 78. 180 181

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auf die einzelnen Rechtsgenossen hätte die unweigerliche Konsequenz, dass die Individuen selbst Art und Inhalt der Verhaltensnormen würden bestimmen können. Eine solche Personalisierung der rechtlichen Erwartungshaltung ginge aber mit deren Atomisierung in zahllose unterschiedliche Maßstäbe einher. Geschützt würden dann nicht mehr Rechte im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern nur noch faktische Interessen. Rechtssicherheit ließe sich so nicht verwirklichen. Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wäre nicht zu gewährleisten. Daraus wiederum folgt mit einer gewissen Stringenz, dass zwischen faktischem Interesse und Recht zu unterscheiden ist. Ein Recht dient der Wahrnehmung faktischer Interessen und muss in diesem Sinne in der Lage sein, eine Vielzahl denkbarer Konstellationen zu erfassen.187 Gelingt das, so wird ein Gleichlauf bzw. ein Entsprechungsverhältnis von Interesse und Rechtsposition im dargestellten Sinne erreicht. Dieser Effekt umschreibt jedoch lediglich das reflexive Ziel der Schaffung von Rechtsnormen. Der Reflex ist jedoch nicht selbst Inhalt der Norm. Rein faktische Interessen gehen der Rechtsausübung mithin voraus, werden aber nicht selbst von der Rechtsordnung zu einer Art „staatlichem Interesse“ erhoben. Die umfassende Wahrnehmung von Freiheit liegt aus Legitimitätsgründen im staatlichen Interesse. Der Staat macht sich die unzähligen Einzelinteressen jedoch nicht in dem Sinne zueigen, dass er als Großsubjekt fungiert, das seine eigenen Interessen schützt. Die Schaffung neuer Rechtsnormen erfolgt aus einem bestimmten Interesse gesellschaftlicher oder individueller Art. Das Medium, um die Verwirklichung dieser Interessen ins Werk zu setzen, ist das Recht. Recht und Interesse sind jedoch niemals deckungsgleich. Daraus erhellt: Die herkömmlichen Inhalte des Rechtsgutsbegriffs beruhen auf einem falschen Verständnis der Aufgaben des Rechts. Sie differenzieren nicht zwischen der eingeräumten Rechtsposition und der Motivation seiner Wahrnehmung. Für letztere hat eine freiheitliche Rechtsordnung sich nicht zu interessieren. Sie hat nur sicherzustellen, dass die allseitige Möglichkeit der Interessenwahrnehmung – wie auch immer diese beschaffen sein mag – besteht. Vor diesem Hintergrund wird auch die anlässlich des Fleet-Falles188 vorgenommene Charakterisierung des Eigentums einsichtig. Geschützt wird in Gemäßheit des § 903 BGB das Recht, mit der Sache nach Belieben zu verfahren. Es ist deshalb notwendig, die ganz unterschiedlichen Möglichkeiten des im Gesetz beschriebenen Beliebens mit in Betracht zu ziehen. Da dies enumerativ nicht zu bewältigen wäre, muss es in einem umfassenden Sinne geschehen, was wiederum nur so zu bewerkstelligen ist, dass man die Motivation des Rechtsinhabers nicht hinterfragt, sondern diesem schlicht den größtmöglichen Spielraum belässt. Auszugehen ist also nicht von einem irgendwie gearteten Recht auf eine bestimmte Interessenwahrnehmung, sondern von den möglichen Hinsichten der Eigentumswahrnehmung, für die die jeweilige Motivation die Triebfeder bildet, die das Gesetz nur 187 188

Auf diese Weise erlangt es Allgemeingültigkeit. Vgl. BGHZ 55, S. 153.

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voraussetzt, nicht aber näher bestimmt. Die Bündelung selektiv herausgegriffener Einzelinteressen zu einem einheitlichen Rechtsgut trägt stets den Verdacht der Bevormundung in sich. Der Topos „Rechtsgut“ ist daher mit Inhalten zu füllen, die den Forderungen einer freiheitlichen Rechtsordnung genügen. Nur so wird man den Anforderungen der modernen staatlichen Idee im Einflussbereich der Verfassung gerecht. Und das gilt nicht nur für das Strafrecht, sondern für die Rechtsordnung schlechthin. Die Normen dienen lediglich der Umschreibung der Grenzen von Freiheit im Zeichen ihrer Optimierung. Es ist allein der Gesetzgeber, der alle Rechtssätze schafft, aufhebt oder ändert. Mithin kann nur er es sein, der den Inhalt von Verhaltensnormen festlegt. Das Ziel, oder besser: das Ideal, besteht gerade darin, ein homogenes und harmonisches Recht zu formen.189 Dazu aber kann der Staat die Berechtigung aus Verhaltensnormen nicht nur gelegentlich an sich ziehen. Vielmehr hat er sich ihrer zu keiner Zeit begeben. Lediglich „Ob“ und „Wie“ der Folgen von Verletzungen einzelner Verhaltensnormen bestimmen die Rechtsgenossen in der Privatrechtsordnung und namentlich im Zivilprozess selbst. Auch das ist Ausdruck der ihnen eingeräumten Freiheit: Die Rechtssubjekte begegnen einander auf gleichgeordneter Ebene und regeln die Folgen von Rechtsverletzungen selbstbestimmt, eigenverantwortlich und unter weitgehender Zurückgezogenheit des Staates. All dies ändert freilich nichts am öffentlich-rechtlichen Charakter der Verhaltensnormen. Auch im Privatrecht ist der Verstoß gegen sie eine Auflehnung gegen den kundbar gemachten Willen der Allgemeinheit! Das darf nicht im Sinne einer aktualisierten bzw. reformulierten kollektivistischetatistischen Rechtsauffassung missverstanden werden. Das Recht ist kein „über den Wassern schwebendes Normensystem“.190 Es findet seinen Ausgangspunkt beim Menschen. Seine Freiheit zu gewährleisten, ist die Aufgabe des Staates. Damit gründet man das Recht auf einem Begriff der Freiheit, der nicht isolierte Subjekte konstituiert, sondern eine interpersonale Dimension hat. Freiheit des Einzelnen ist ohne Gemeinschaftsbezug nicht denkbar. Selbstbestimmung des Einzelnen basiert auf dem Anerkennungsverhältnis zur Freiheit des Anderen. Das Recht fordert die gegenseitige Anerkennung von Freiheitssphären ein. Wenn die Individuen dieses Prinzip in ihr Bewusstsein bzw. in ihren Handlungshorizont191 übernehmen, wird die normative Rechtszuweisungsordnung Realität. Subjektive Rechte bekommen so eine eigene Festigkeit und führen zu einer Interaktion, die eine Eigendynamik entwickelt. Der Anwendung äußeren Zwanges zur Durchsetzung von Verhal189 Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 96: „Weil die Rechtsordnung ein einheitliches Ganzes darstellt, müssen ihre Aussagen, gleich welchem Rechtsgebiete sie zuzuordnen sind, aufeinander abgestimmt sein.“ 190 Schottky, Untersuchungen, S. 134. 191 Zaczyk, in: Lüderssen / Nestler-Tremel / Weigend, Modernes Strafrecht, S. 113 ff., 121 f.

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tensnormen bedarf es dann nicht mehr. Verhaltenspflichten, die als sinnvoller Handlungsinhalt aufgefasst werden, werden von eigenverantwortlichen Rechtssubjekten in vernunftgeleiteter Interaktion durchgesetzt. Der Staat erleichtert lediglich die privatautonome Rechtsdurchsetzung, indem er sie in bestimmte Formen gießt. Selbst die Einräumung der Vertragsfreiheit versetzt den einzelnen Bürger aber nicht in die Lage, neue bzw. eigene Verhaltensnormen – etwa mit Geltung inter partes – zu schaffen. Die Vereinbarungen mit dem Kontrahenten gehören dem Bereich der Grundrechtsausübung an. Der Vertrag kreiert nicht subjektive Rechte, sondern entspringt dem subjektiven Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung. Während der Freiheitsbereich des Einen im Wege privativer Abmachungen erweitert wird, wird der des Anderen beschränkt. Beides beruht schlicht auf dem Umstand des Gebrauchs von Freiheit im Sinne einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Daseinsbewältigung. Verhaltensnormen sind öffentlich-rechtlich und stecken das Feld der zulässigen Rechtsausübung ab. Sie setzen den Rahmen, innerhalb dessen sich der Einzelne frei bewegen kann, ohne dass hiermit die Befugnis verbunden wäre, diesen Bereich zu modifizieren oder gar außer Kraft zu setzen. Diese Kompetenz kommt nur der im Staat verfassten Allgemeinheit zu. Die Verhaltensnormen werden im bürgerlichen Recht – oder genauer: im Vertragsrecht – deshalb durch das ius cogens, durch zwingendes Recht, statuiert. Die dispositiven Regelungen enthalten demgegenüber nur einen Vorschlag für die sinnvolle Wahrnehmung von Freiheit, die nach freiem Ermessen abbedungen bzw. im Sinne einer vernunftgemäßen Rechtsausübung im Einzelfall näher ausgestaltet werden können. Erst die Begrenzung der Rechtsausübung im Zeichen der Optimierung von Freiheit zu Gunsten aller Rechtsgenossen erfolgt durch die Setzung von Verhaltensnormen. Mithin ist die Vertragsfreiheit schlicht Ausdruck der rechtspolitischen – und insofern vorpositiven – Forderung, seine Lebensverhältnisse selbst und ohne äußerliche Einmischung regeln zu dürfen. Sie dient der Erreichung eines gesellschaftlich anzustrebenden Normalzustands. Spezifisch rechtliche Relevanz gewinnt derselbe Sachverhalt erst, wenn er sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelungen als pathologisch herausstellt, was wiederum der Fall ist, wenn Freiheit ungleich verteilt oder missbraucht worden ist. Man denke an das Verbot sittenwidriger Geschäfte oder das Schikaneverbot. Solcherlei Verhaltensweisen sucht das BGB zu unterbinden. Um Konfliktlagen von vornherein aus dem Wege zu gehen, hat jeder Rechtsgenosse die Möglichkeit, sich über die Reichweite der ihm eingeräumten Freiheit zu vergewissern. Auch dem bürgerlichen Recht kommt deshalb eine Orientierungsfunktion zu. Es intendiert Verhaltenssteuerung. Ein Normbruch liegt vor, wenn in fremde Rechtssphären missbräuchlich eingedrungen wurde.

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bb) Durchsetzung subjektiver Rechtspositionen als Wahrnehmung von individueller Verantwortung (1) Zur Möglichkeit privativer Konfliktbewältigung Durch die in diesem Sinne vorgenommen Charakterisierung der Verhaltenspflichten als öffentlich-rechtlich ist eine Privatisierung sich offenbarender Konflikte mitnichten ausgeschlossen. Im Gegenteil: Sie wird sogar gefordert. Soll das subjektive Recht und die in ihm liegende Willensmacht keine leere Hülse für den Rechtsinhaber sein, so müssen Institute geschaffen werden, die der freien Entfaltung des einzelnen Individuums sowie seiner eigenverantwortlichen Lebensgestaltung den ihnen gebührenden Raum gewähren. Staatliche Einflussnahme ist daher stets auf ein Minimum zu begrenzen und, wo möglich, sogar auszuschließen. Nur so kann einem liberalen Rechts- und Staatsverständnis überhaupt genüge getan werden. Als Vehikel hierfür bietet es sich an, nicht auf jede Verletzung einzelner Verhaltensnormen mit der Anwendung des staatlichen Instrumentariums zu reagieren. Erst recht nicht kann die Beachtung von Verhaltensanweisungen schon im Vorfeld einer Verletzung mit Hilfe obrigkeitlichen Zwangs durchgesetzt werden. Anderenfalls würde ein totalitäres, polizeistaatliches System installiert. Der Geschädigte, also derjenige, in dessen Rechtssphäre eingedrungen wurde, ist gehalten, das Recht bzw. die Normen der Allgemeinheit in eigener Sache aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen. Von seiner Initiative ist die Rechtsbewährung abhängig. Da ihm die private Selbsthilfe im zivilisierten Staat untersagt ist, muss er den Gerichtsweg wählen, um seinem Anliegen nach Anerkennung des eigenen selbstbestimmten Freiheitsbereichs Ausdruck zu verleihen. (2) Trennung zwischen rechtszuweisender materieller Verhaltensnorm und formeller Zuständigkeit hinsichtlich ihrer Aufrechterhaltung und Durchsetzung Man kann dem freiheitlichen Charakter des subjektiven Rechts optimal Rechnung tragen, wenn man die Überwachung über die Einhaltung von Verhaltenspflichten in die Hände der Individuen legt und sie selbst darüber entscheiden lässt, wann und in welchem Umfang etwaigen Verletzungen nachgegangen wird. Die konkrete, reale Ausgestaltung der Rechtszuweisungsordnung erfolgt dann durch die Rechtsgenossen selbst. Die durch die Gesetze normativ vorstrukturierte Welt wird durch die jeweiligen Präferenzen der Individuen im Tatsächlichen modifiziert. Der Einzelne ist nicht gehalten, auf die Wiederherstellung der durch die Gesetze vorgegebenen Ordnung des Gemeinschaftslebens zu drängen. Er mag seine Gründe haben, auf die Geltendmachung von Schadensersatz zu verzichten. Die Vernünftigkeit seiner Erwägungen haben weder die staatliche Gemeinschaft, noch

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ein beliebiger Dritter in Zweifel zu ziehen; sie darf nicht einmal hinterfragt werden, denn die jeweilige Motivation betrifft wieder nur den Bereich des faktischen Interesses, demgegenüber sich das Recht indifferent verhält. So sieht es die Privatrechtsordnung vor und so wird die im subjektiven Recht liegende Willensmacht respektiert. Der materiellrechtliche Schutz wird von hoheitlicher Seite nicht oktroyiert. Es ist nach bürgerlich-rechtlichen Kategorien die (Privat-)Sache des Betroffenen, ob er die ihm nach dem materiellen Recht zustehenden Ansprüche und Rechtspositionen auch tatsächlich geltend macht. Insofern setzt sich der Gedanke der Autonomie im Prozess fort. Soll das subjektive Recht nicht entwertet werden, so muss die Möglichkeit seiner Aufrechterhaltung und Durchsetzbarkeit gegeben sein.192 Das Zivilprozessrecht bildet dabei die Summe der zu wahrenden formalen Vorschriften. Ob von der Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung Gebrauch gemacht wird, ist aber allein von demjenigen zu entscheiden, der meint, in seiner ihm zustehenden Rechtssphäre beeinträchtigt zu sein. Verzichtet er hingegen auf die Durchsetzung der ihm nach materiellem Recht zustehenden Ansprüche, so drängt ihm die Rechtsordnung ihren Schutz nicht auf, sondern geht geradezu davon aus, dass der Verzicht dem wohlverstandenen (faktischen) Interesse des Betroffenen entspricht: Es mag etwa sein, dass eine gerichtliche Auseinandersetzung den Konflikt eher intensiviert als dass sie ihn zu lösen geeignet ist. Es kann auch sein, dass der in seinen subjektiven Rechten Beeinträchtigte der Auffassung ist, den Streit ohne prozessuale Schritte besser bewältigen zu können. Es kommt ferner in Betracht, dass Rechtsgenossen auf die Wahrung subjektiver Rechtspositionen verzichten, weil sie jegliches Erhaltungsinteresse verloren haben. Das Strafrecht wählt diesbezüglich offenbar einen ganz anderen Ansatzpunkt. Bei vordergründiger Betrachtung nimmt dies wunder, denn eine Rechtsordnung, die sich dem Prinzip der Autonomie und somit dem Prinzip der Eigenverantwortung verpflichtet fühlt, muss auf die Wünsche des Einzelnen Rücksicht nehmen und die individuellen Entscheidungen der Rechtsgenossen respektieren. Die Selbstbestimmung als Ausdruck subjektiver Rechte bleibt im zivilgerichtlichen Verfahren erhalten. Die Wahrung aller privatrechtlichen Interessen ist dem Individuum überantwortet. Demzufolge liegen Beginn, Gegenstand und Ende des Verfahrens in den Händen der einzelnen, am Verfahren beteiligten Personen. Hierin liegt die Bedeutung der Dispositionsmaxime: Die Hilfe des Staates wird auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts nur demjenigen zuteil, der sie explizit begehrt und sie wird ihm auch nur zuteil, soweit er sie begehrt.193 Über die jeweiligen Anträge der Parteien darf das Gericht nicht hinausgehen. 192 Grunsky, Grundlagen, S. 2, der den Zweck des Zivilprozessrechts allein im Schutz subjektiver Rechte erkennt. 193 So bereits Weismann, Lehrbuch, S. 3; auch Grunsky, Zivilprozessrecht, S. 24 ff.

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Dass der Zivilprozess der Klärung privater Rechtsverhältnisse dient, wird durch den Verhandlungsgrundsatz nochmals unterstrichen. Es sind die beteiligten Individuen selbst, die die Verantwortung für die Tatsachengrundlage des Prozesses tragen.194 Umstände, die nicht vorgetragen sind, dürfen vom Gericht nicht berücksichtigt werden. Auch diesbezüglich setzt sich also keine Institution über den artikulierten Willen des Einzelnen hinweg. Nach allem kann geschlossen werden, dass die Privatrechtsordnung die optimale Verteilung von Freiheitssphären zu erreichen sucht, aber nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern in deren ausdrücklich bekundetem Interesse. In der Konsequenz sind subjektive Rechte ihrem tatsächlich wahrgenommenen Gehalt nach abhängig vom Willen ihrer Inhaber. Hierin liegt geradezu die Quintessenz der Anerkennung subjektiver Rechte durch die Privatrechtsordnung. Eine Diskrepanz zwischen materiell-rechtlicher Ausgangssituation und Rechtswirklichkeit wird dabei bewusst in Kauf genommen und ist zwingende Folge der Anerkennung privatautonomer Willensmacht.195 Führt man den Gedanken zu Ende, so ergibt sich, dass der Wille der Privatperson das notwendige Organ ist, die von der Rechtsordnung festgelegte Einteilung von Freiheitssphären realiter ins Werk zu setzen. Bereits Hälschner stellte fest, dass „nicht unmittelbar das Recht an sich, [ . . . ] sondern der Wille der Privatperson“ das Medium sei, durch welches die rechtliche Ordnung hergestellt wird. Die Normen auf dem Gebiet des Privatrechts haben letztendlich allein im Willen des Berechtigten ihr Dasein und können „nur mittels seiner und in ihm verletzt“ werden.196 Das Unrecht im zivilrechtlichen Sinne tritt demnach erst zutage und wird als solches offenbar, wenn es mit dem Willen des jeweiligen Rechtsgutsträgers kundbar gemacht wird und er selbst einen Vorgang als Auflehnung gegen die ihm zukommende Willensmacht empfindet. Erst so wird die Abwehr äußerer Eingriffe in die eigene Freiheitssphäre mit rechtlichen Mitteln ausgelöst.197 Nur Grunsky, Zivilprozessrecht, S. 27. In diesem Sinne auch Ullmann, Lehrbuch, S. 18, 19, der sogar mit der Möglichkeit eines Zwiespalts zwischen wahrer Sachlage und einem durch die Parteien hervorgerufenen Zivilurteil rechnet. Die Anerkennung des Einzelnen als Rechtssubjekt zeitige eben Folgewirkungen im Hinblick auf die tatsächliche Bewährung des Rechts. Letztlich werde verdeutlicht, dass „verzichtbare“ Rechte den Gegenstand des bürgerlichen Rechts bildeten. Indessen dürfte der Verzicht auf die jeweilige Rechtsposition der freiheitlichen Rechtsausübung gerade entsprechen. 196 Hälschner, GS 21 (1869), S. 86, 87; vgl. ders., Strafrecht, S. 14, der so weit geht, dass es Aufgabe und Ziel des Staates sein müsse, sich zum sittlichen Organismus zu gestalten, wobei dessen Gliedern die Freiheit der Bewegung zu gewähren und zu sichern sei. Die Freiheit sei die notwendige Voraussetzung der sittlichen Existenz und Entwicklung, womit unvermeidlich aber auch die Möglichkeit des Unrechts gesetzt sei. 197 Stein / Jonas-Brehm, Vor § 1 ZPO Rn 9. Auch der Zivilprozess diene deshalb dem Schutz subjektiver Rechte. Wenn der Staat die Selbsthilfe verbiete, müsse er selbst ausrei194 195

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Binding198 hat sich gegen eine derartige Konzeption gewandt. Er wies darauf hin, dass die Norm aufhörte zu existieren, wenn sie lediglich im Willen des Berechtigten ihr Dasein finde. Der Wille werde so zum eigentlichen Gesetzgeber und das Subjekt des Zivilunrechts die subjektive Willkür. Rechtliche Pflichten würden eliminiert und die Norm verkäme schließlich zu einer „Wetterfahne, die der Wind bald so bald anders herumdreht.“199 Der vermeintliche Dieb werde mit privatrechtlicher Unterstützung durch einen reinen Willkürakt zu einem Nicht-Dieb gemacht, wenn der Eigentümer der Sache sie nur im Moment der Apprehension derelinquiere.200 Der Wille aber dürfe nicht die Macht der Verbindlichkeit einer Norm für einzelne Fälle ausschließen. Es müsse folglich beachtet werden, dass die derelinquierte Sache den Eigentumsschutz deshalb nicht mehr genieße, weil sie res nullius sei. Mit der Willkür des Verletzten habe dies nichts zu tun. Eine Handlung bleibe andererseits immer Diebstahl, wenn im Zeitpunkt der Wegnahme der Wille des Eigners oder Besitzers noch in der Sache gelegen habe, auch dann, wenn der Bestohlene den Gegenstand nicht mehr zurückhaben wolle. Wille und Recht seien daher strikt zu unterscheiden.201 Auch Zivilunrecht bzw. Unrecht im bürgerlichrechtlichen Sinne könne nicht lediglich Verletzung eines subjektiven Willens meinen. Bindings Einwände beruhen indessen auf einem Missverständnis. Dass eine nach materiellem Recht gegebene Beeinträchtigung subjektiver Rechtspositionen auf Grund einer Willensentscheidung nicht moniert bzw. nicht geahndet wird, nimmt einem Sachverhalt nicht die Rechtswidrigkeit. Ein Diebstahl ist auch nach zivilrechtlichen Regeln ein Diebstahl, egal ob die Rückerstattung des gestohlenen Gegenstands eingefordert wird oder nicht. Die Geltung bürgerlich-rechtlicher Normen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Betroffene von der Erhebung eines ihm nach materiellem Recht zustehenden Anspruchs absieht. Das anhand des materiellen Rechts erkennbare Unwerturteil bleibt erhalten. Allerdings bleibt seine Verlautbarung in Bezug auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen zwei Personen aus. Das eingeräumte subjektive Recht wird in derartigen Konstellationen zum Abstraktum. Das Autonomieprinzip und das mit ihm untrennbar verknüpfte Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Individuums bringen es mit sich, dass der Umfang der nach den Normen des Zivilrechts ermittelbaren Freiheitssphären in tatsächlicher Hinsicht beschränkt bleibt.202 Die (Wieder-)Herstellung der Rechtszuweichenden Schutz gewährleisten. Zugleich werde die Bewährung des objektiven Rechts als notwendige Folge des Individualrechtsschutzes bewerkstelligt. 198 Binding, Normen I, S. 265 ff. 199 Binding, Normen I, S. 265. 200 Binding, Normen I, S. 266. 201 Binding, Normen I, S. 267. 202 Stein / Jonas-Brehm, Vor § 1 ZPO Rn 12. Dabei mindere die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung des Rechts die Wahrscheinlichkeit des Rechtsbruchs erheblich. Es sei

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sungsordnung wird dem Bürger nicht aufgedrängt. So sieht es das Zivilprozessrecht vor und hier liegt, wie beschrieben, die Bedeutung von Dispositionsgrundsatz und Verhandlungsmaxime. Dies kann freilich soweit gehen, dass auch Lebenssachverhalte, die durch eine einseitige Beherrschungsmacht gekennzeichnet sind, nicht zu Gunsten der Erhaltung bzw. In-Geltung-Setzung des – materiellen – subjektiven Rechts aufgelöst werden. Hier stößt der zivilrechtliche Schutz an seine Grenzen. Fraglich bleibt damit, worin der Geltungsgrund für die privatrechtliche Ausgangssituation liegt. Warum steht dem Einzelnen kein Anspruch gegen die im Staat verfasste Allgemeinheit auf Wiederherstellung beeinträchtigter Freiheitssphären zu? Die Antwort liegt in der Anerkennung subjektiver Rechte: Ein dem Individuum verpflichtetes Recht darf „in keiner Weise äußeres Instrument zur Durchsetzung einer bestimmt-inhaltlichen Konzeption der Glückseligkeit und des Guten sein.“203 Köhler bemerkt zutreffend, dass Recht und Staat weder moralische Veranstaltung noch zwangsweise Glücksorganisation oder gar Erziehungsanstalt sind. Besteht der Inhalt des Rechts in der Konstitution freier Personalität, so geht damit ein Defizit an Allgemeingültigkeit und -wirksamkeit der Privatrechtsverhältnisse einher. Auch das ist eine Konsequenz privat-subjektiver Rechtsbestimmung und -durchsetzung, wobei der Grund dieses Mangels nicht in der subjektiven Bösartigkeit, sondern in der Perspektivengebundenheit der autonom-moralischen Regelungskonzeptionen zu sehen ist.204 Die konkrete Gestalt der sozialen Strukturen folgt somit aus den Interpersonalitätsverhältnissen in ihren jeweiligen Ausprägungen. Das Privatrechtsverhältnis zwischen Personen bzw. Personenverbänden existiert zunächst ohne staatliche Einflussnahme und ist von hoheitlichen Interventionen unabhängig. Solange sich der Berechtigte nicht auf die ihm zustehende Rechtsmacht beruft und dieser nicht Wirksamkeit verleiht, bleibt das materielle subjektive Recht gewissermaßen eine leere Hülse, die jedoch jederzeit mit Inhalten gefüllt werden kann, wenn es der Rechtsinhaber begehrt. Erkennt man das subjektive Recht als Grundbegriff des Privatrechts205 an, so ist eine divergierende Interpretation kaum möglich. Fezer hat hiervon ausgehend die wesentlichen Aufgaben des subjektiven Rechts herauszukristallisieren versucht: Es sei geeignet, eine Kultur aufzunehmen (Rezeptionsfunktion), eine Ordnung zu begründen (ordnungskonstitutive Funktion) und deshalb damit zu rechnen, dass die subjektiven Rechte tatsächlich verwirklicht werden und das objektive Recht insoweit regelmäßig seine Bewährung erfahre. 203 Köhler, AT, S. 15. 204 Köhler, AT, S. 16; Kant, MdS, § 44, in Kritik an Hobbes (Einl. VI, 240 f.). Hierin liegt der Gegensatz zu Entwürfen einer umfassenden universalen Weltordnung bzw. totalitären Ordnungskonzeptionen, dazu auch Köhler, ARSP 1993, S. 457 ff. 205 Vgl. auch Larenz / Wolf, Allg. Teil, S. 198.

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die Freiheit zu verbürgen (freiheitsoptimierende Funktion).206 Er sieht die Rezeptions- und ordnungskonstitutive Funktion des subjektiven Rechts im Dienst der Interdependenz von Recht und Sozialleben.207 Die freiheitsoptimierende Funktion aber steht ganz im Dienst der personalen Freiheit. Insofern ist das subjektive Recht der Garant des individuellen Freiheitsoptimismus.208 Dabei wird das Personsein um seiner selbst willen anerkannt. „Der einzelne Mensch wird nicht als Teil der Gesellschaft konstituiert; er ist an sich existent.“209 Prämisse des subjektivrechtlichen Denkens ist die Annahme, der einzelne Mensch sei fähig zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. „Selbstverwirklichung ist die Zielbestimmung, Autonomie das Modell einer solchen Rechtsbegründung.“210 „In einem subjektivrechtlich koordinierten Lebensbereich entscheidet die Person über die Alternativen ihres Handelns nach einem eigenen Programm der Lebensgestaltung. Die soziale Nützlichkeit des individuellen Verhaltens in concreto ist rechtlich ohne Belang, denn der Rechtsinhaber nimmt keine übertragenen Kompetenzen oder gesellschaftlichen Funktionen im Interesse der Gesellschaft wahr, sondern handelt nach Belieben im eigenen Interesse. Das ist der Sinn der personalen Freiheit: Autonomie als Selbstgesetzgebung.“211 Dieses Ziel würde unterlaufen, wenn der Staat seinen Schutz aufdrängte. Er würde sich über die Köpfe der Beteiligten hinwegsetzen. Gerade das aber soll nicht geschehen. Eine in diesem Sinne verstandene Konzeption der Selbstverwirklichung des Menschen ist nur aufrecht zu erhalten, wenn man Selbstbestimmung und Selbstverantwortung als Seiten ein und derselben Medaille anerkennt. Verantwortung ist Voraussetzung für Teilhabe. Denn Individualität ist ohne Sozialität und Kulturalität undenkbar. Arthur Kaufmann fasste dies dahingehend zusammen, dass der Rechtsbereich einer personalen Teilhabe „das dem Menschen als Person im Mitsein mit den anderen zustehende“ sei.212 Mit der Anerkennung eines individuellen Freiheitsbereichs bzw. mit der Verwirklichung seiner subjektiver Rechte kann am ehesten rechnen, wer die individuellen Freiheitsbereiche der anderen respektiert und diese an der Ausübung der ihnen zustehenden subjektiven Rechte nicht hindert. Aus dem Zusammenspiel von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung folgt so die interpersonale Geltung von Verhaltenserwartung. Das Gesetz hat dann sein Ziel erreicht. Fezer, Teilhabe, S. 364. Dazu auch E. Hirsch, AcP 175 (1975), S. 471, 486 f. 208 Fezer, Teilhabe, S. 363: „Gegenstand einer Subjektivierung des ius ist die Verrechtlichung des Freiheitsvermögens der Person. Subjektivrechtliches Rechtsdenken zentriert um den einzelnen Menschen. Die Person ist Programm des Rechts.“ 209 So Fezer, Teilhabe, S. 364. 210 Fezer, Teilhabe, S. 364. 211 Fezer, Teilhabe, S. 365, was im Gegensatz zu der überholten Auffassung steht, die subjektive Rechte als bloßes Reflexrecht objektiver Rechtsnormen begreift. 212 Arthur Kaufmann, Recht, S. 16. 206 207

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Die Richtung der privatrechtlichen Verhaltensnorm wird dadurch indessen noch nicht präjudiziert, denn die Abgrenzung der Freiheitssphären erfolgt durch Normen die „von oben“ gesetzt werden. Das Gesetz ermöglicht also, wie Coing herausstellt, die Kooperation in Freiheit213; das Recht organisiert die Kooperation der Mitglieder einer Gemeinschaft, hält sich bezüglich der Regelung konkreter Lebenssachverhalte jedoch zurück. Für die Privatrechtsordnung gilt das ganz selbstverständlich, womit die Frage eröffnet wird, warum das Strafrechtssystem, mit den dargestellten Grundsätzen zu brechen scheint. Nicht der Einzelne bedient sich der staatlichen Institutionen und fordert deren Tätigwerden, sondern der Staat fordert die Tätigkeit des Einzelnen, wenn er es für nötig befindet oder für sinnvoll hält. Billigenswert bzw. legitim ist dies nur, wenn die Parameter Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gegenüber anderen Erwägungen zurückzutreten hätten. Die limitiert-akzessorische Natur des Strafrechts müsste mit einem Paradigmenwechsel grundlegender Art einhergehen.

3. Subjektive Rechte und limitiert-akzessorische Natur des Strafrechts a) Die Straftat als rein quantitative Steigerung zivilen Unrechts Hergebrachter Auffassung nach verdankt das Strafrecht seinen eigenständigen Charakter vor allem dem Befund, dass sich sein Schutz auf besonders elementare Rechtsgüter exponierten Wertes beschränkt.214 Demnach wäre es eine rein kriminalpolitische Frage, ob ein Rechtsgut auch strafrechtlichem Schutz genießt oder nicht. Gerade deshalb aber könnte man sich mit einem universellen, für die gesamte Rechtsordnung gültigen Unrechtsbegriff begnügen, der aus einem einheitlichen Normbegriff deduzierbar sei.215 Die Unterscheidung zwischen Privat- und Strafrechtssystem wäre nach quantitativ-graduellen Kriterien vorzunehmen. Eine eventuelle Akzessorietät des Strafrechts von den anderen Teilrechtsordnungen müsste darüber hinaus nicht weiter begründet werden. Eine solche Unterscheidung der Rechtsgebiete nach der Schwere der Verletzung überlässt es dem mehr oder weniger zeitgeistnahen Gesetzgeber, die Differenzierung zwischen den Unrechtsarten vorzunehmen. Allein trägt man auf diese Weise dem eigentümlichen Charakter von Zivil- und Strafunrecht nicht Rechnung. 213

Coing / Lawson / Grönfors, Subjektives Recht, S. 22; auch Coing, Zivilrechtssystem,

S. 39. Günther, JuS 1978, S. 8, 13 f. Kritisch Lesch, Verbrechensbegriff, S. 175 ff.; ferner Schünemann, Einführung, S. 61 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 29 ff. 214 215

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Ein einfacher Vertragsbruch kann einen erheblich höheren Schaden nach sich ziehen als die Verwirklichung einer ganzen Reihe strafrechtlicher Delikte. Dennoch gilt es als selbstverständlich, dass etwa der Diebstahl eine kriminelle Tat und der Vertragsbruch Unrecht im rein bürgerlich-rechtlichen Sinne sei.216 Quantitative Kriterien allein können das Kriminalunrecht also vom ausgedehnten Begriff des Zivilunrechts nicht scheiden. Wenn eine Rechtsverletzung also zusätzlich eine bestimmte Qualität erreicht haben muss, um strafrechtliche Folgen auszulösen, so fragt sich, wie diese hinzutretende Komponente wohl beschaffen sein mag.

b) Die Straftat als Unrechtsverwirklichung sui generis Weitaus verbreiteter ist denn auch die Ansicht, dass die Rechtsordnung verschiedene Arten bzw. Gattungen des Unrechts kenne. Zwischen Zivil- und Strafunrecht sei scharf zu differenzieren.217 Allein die zivile Rechtsverletzung stelle einen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre, d. h. die Verletzung eines subjektiven Rechts dar.218 Die kriminelle Rechtsverletzung hingegen sei immer ein Angriff auf das objektive Recht, auf das „Recht an sich“.219 Abegg fasste dies darin zusammen, dass Unrecht im bürgerlich-rechtlichen Sinne stets nur die Verletzung des besonderen Rechts meine, während das Verbrechen das Recht als solches breche und angreife „zugleich mit der besonderen Verletzung, in welcher die verbrecherische Handlung wirklich sei.“220 Vor einem solchen Hintergrund würde die Ablösung des jeweils betroffenen Rechtsguts von seinem Träger unmittelbar einsichtig: Da die Straftat in erster Linie oder sogar ausschließlich in Recht gegossene Interessen des Staates bzw. der in ihm verfassten Allgemeinheit tangiert, ist es nur folgerichtig, die rechtliche Bewältigung der Tat von der Einflussnahme des individuell Verletzten unabhängig zu stellen. In der Individualverletzung würde sich lediglich die Auflehnung gegen den im Tatbestand verfassten Willen der Rechtsgemeinschaft repräsentieren. Der Einzelne müsste sich den übergeordneten staatlichen Interessen konsequenterweise unterwerfen. Es erhebt sich dann allerdings die Frage, worin die akzessorische Dimension des Strafrechts zu sehen ist.

Worauf E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 214 f., hinweist. Zum Ganzen Lesch, Verbrechensbegriff, S. 193 ff.; auch Hälschner, GS 21 (1869), S. 11 ff., 81 ff.; Binding, Normen I, S. 237 ff., 298 ff. 218 Dazu Lesch, Verbrechensbegriff, S. 194 ff.; Binding, Normen I, S. 300 f.; ferner Welzel, Lehrbuch, S. 52. 219 Binding, Normen I, S. 298; Hälschner, Preuß. Strafrecht II, S. 1 ff., 214 ff. 220 Abegg, Lehrbuch, S. 4 f. 216 217

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c) Grundsatz der limitierten Akzessorietät als Zeichen des Schutzes subjektiver Rechte Das Strafrechtssystem fristet sein Dasein nicht in einer Art juristischen Isolation. Darauf muss bestanden werden. Die subjektiven Rechte verlieren mit der zunehmenden Intensität ihrer Verletzung nicht an Wert. Sie werden durch die Gewährleistungen des Grundgesetzes anerkannt und verdienen auch im Lichte der strafrechtlichen Würdigung eines Sachverhalts umfassende Beachtung. Verfassungsrechtlich abgesicherte Schutzpositionen können nicht einfach ignoriert werden. Nur durch ihre Berücksichtigung wird die Bindung des Strafrechtssystems an die Gesamtrechtsordnung ins Werk gesetzt und dem Topos der limitierten Akzessorietät eine Bedeutung verliehen. Das Strafrecht setzt eine Rechtszuweisungsordnung voraus, die ihre Legitimation aus der Bezugnahme auf subjektive Rechte herleitet. Sie werden durch das Strafrecht im Wege der Androhung von Sanktionen abgesichert. Die dogmatischen Schwierigkeiten werden durch diesen Befund nicht ausgeräumt. Es ist zu untersuchen, in welcher Weise das Strafrecht den Schutz subjektiver Rechte durchzusetzen sucht. Der individuelle Bedürfnishorizont wirkt sich in rein rechtlicher Hinsicht sowie hinsichtlich seiner rechtsförmigen Verwirklichung problematisch aus. Denn weder Grundgesetz noch BGB enthalten einen Appell an die Vernunft oder brandmarken einzelne Vorzüge oder Faible als unschicklich. Insbesondere die Verfassung schützt die Freiheit, ohne dass deren Wahrnehmung im Einzelfall einer Wertung hinsichtlich Motivation, Qualität oder Nachvollziehbarkeit unterzogen würde. Solange es nicht zu einer Überlagerung unterschiedlicher Freiheitssphären kommt, verhält sich die Rechtsordnung gleichsam passiv und hinterfragt die Beweggründe ihrer Mitglieder nicht. Wenn das (Straf-)Recht die Wahrnehmung individueller Präferenzen nach dem Willen des Betroffenen als irrelevant221 zurückweist, so muss es hierfür einleuchtende Gründe geben. Der pauschale Hinweis auf die ganzheitliche Bedeutung des Strafrechts und seiner Schutzfunktion greift noch zu kurz. Wenn rein subjektive Anliegen Einzelner nicht verwirklicht werden und überindividuellen Gesichtspunkten der Vorzug gegeben wird, so muss sich dies anhand der bestehenden Ord221 Im Übrigen ändert auch die Anerkennung von tatbestandsausschließendem Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung nichts an der Unbeachtlichkeit rein faktischer Interessen. Das Recht hinterfragt die Gründe des sich mit dem jeweiligen Übergriff einverstanden erklärenden Betroffenen nicht, sondern akzeptiert dessen Entscheidung als Wahrnehmung der ihm eingeräumten Freiheit, über seinen eigenen Rechtskreis selbst zu bestimmen. Die Motivation seiner Entscheidung bleibt rechtlich irrelevant, seine Beweggründe werden nicht bewertet. Die Rechtsordnung begnügt sich mit der Feststellung, dass ein Verhaltensnormverstoß, auf den mit rechtlichen Mitteln reagiert werden kann oder gar zu reagieren ist, nicht vorliegt. Die Erweiterung des Freiheitsbereichs des handelnden Akteurs resultiert aus der eigenverantwortlich vorgenommenen Freiheitsbeschränkung des Anderen. Eine Überlagerung von Freiheitssphären mit dem Ergebnis, dass eine korrekturbedürftige, die Gleichheit störende Einbuße zu verzeichnen wäre, hat gerade nicht stattgefunden.

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nung rechtfertigen lassen. Mit anderen Worten: Wenn Opferbelange keine Berücksichtigung finden, obwohl ein entsprechender Wunsch an das Strafrechtssystem herangetragen wird, muss es hierfür eine stichhaltige und rechtlich tragfähige Begründung geben. Eine solche konnte bislang nicht präsentiert werden. Gelingt das auch mit den nachstehenden Ausführungen nicht, so wäre die Strafrechtsordnung fehlerhaft und reformierungsbedürftig.

4. Die Straftat als Läsion gleicher Freiheitssphären a) Strafrecht als freiheitssichernde Institution Subjektive Rechte erfahren zuvorderst durch die Privatrechtsordnung ihre nähere Ausformung, um einen geordneten und berechenbaren Rechtsverkehr zu ermöglichen. Auf beliebige, in ihren mannigfachen Ausprägungen nicht fassbare und daher schillernde Interessen muss dabei nicht einmal zurückgegriffen werden, denn es wird lediglich der Rahmen bestimmt, innerhalb dessen der einzelne Rechtsgenosse seine subjektiven Präferenzen verfolgen darf, ohne mit Widerspruch durch Dritte oder den Staat rechnen zu müssen. Eine Anlehnung an rein faktische Gesichtspunkte ist weder nötig noch erforderlich, um die Wirksamkeit des Rechts zu erklären. Für den Bereich des Strafrechts gilt nichts anderes. Der Rechtsgutsbegriff muss daher auf die Gewährleistung subjektiver Rechte abgestimmt werden. Dies bedeutet zugleich ein allgemeines Bekenntnis zur Philosophie der Freiheit. Namentlich Feuerbach definierte die Straftat als eine Verletzung gleicher Freiheitsrechte, die durch einen Staatsvertrag verbürgt und durch Strafgesetze gesichert seien.222 Eine derartige Bestimmung des relevanten Gegenstandes folgt schlicht aus der Begründung des Rechts als äußere, zwangsförmige Sicherung der wechselseitigen Kompatibilität gleicher Freiheiten.223 Das subjektive Freiheitsrecht kann also legitimerweise „durch nichts anderes als das gleiche subjektive Freiheitsrecht einer anderen Person beschränkt werden. Nur gleiche Freiheitsbeschränkungen ermöglichen gleiche individuelle Freiheit.“224 Die Lehre vom subjektiven Recht erlebt im Strafrecht neuerdings so etwas wie eine Renaissance.225 In ihr wird die griffigste und effektivste Begrenzung der TäFeuerbach, Lehrbuch, §§ 19, 21, 22. Feuerbach, Lehrbuch, § 8; dazu Klaus Günther, Zustand, S. 445 ff.; Voraussetzung ist die Anerkennung der Idee der Autonomie wie sie in Kants Definition des Rechts zum Ausdruck gebracht wurde. Danach ist das Recht die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen die Willkürfreiheit des einen mit der des anderen nach einem allgemeinen Freiheitsgesetz vereinbar ist, Kant, MdS, S. 337. 224 So Klaus Günther, Zustand, S. 445, 446. 225 So die Feststellung von Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 45; als „Geburtshelfer“ gerieren sich Haas, Rechtsverletzung, S. 58 ff.; Altenhain, Anschlußdelikt, S. 295 ff.; Klaus Günther, Zustand, S. 445, 446 ff.; auch Naucke, KritV 1993, S. 135 ff. 222 223

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tigkeit des Strafrechtsgesetzgebers gesehen. Für die hiesige Untersuchung ist indessen von maßgeblichem Wert, dass sich das Institut des subjektiven Rechts von seinem Inhaber nicht ablösen lässt. Recht und Rechtsausübung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Eine Trennung zwischen Rechtsgutsobjekt und Rechtsgutsträger kommt von vornherein nicht mehr in Betracht.

b) Zur Begrenzungsfunktion subjektiver Rechte Es mag nun befürchtet werden, dass die Lehre vom subjektiven Recht dem Strafgesetzgeber die notwendige Mindestflexibilität in Hinblick auf die Schaffung neuer strafbewehrter Verhaltensnormen nehme, weil der Kanon zu schützender Gegenstände unangemessen beschränkt werde.226 Damit wird jener „theoretisch unaufwändige strafpolitische Pragmatismus“227 aufgegriffen, der Birnbaum 1834 dazu veranlasste, das Erfordernis der Rechtsverletzung zu Gunsten eines stets zeitgeistnahen Rechtsgutsbegriffs kategorisch aufzugeben.228 Bis heute ist nicht ermittelt, was Rechtsgüter eigentlich sind, wer sie legitim schaffen kann und ob die Freiheit ebenso ein notwendiges Rechtsgut ist.229 Dem Rechtsgutsbegriff ist sicherlich der Vorteil zueigen, den strafrechtlichen Schutz an den jeweiligen politischen Machtverhältnissen ausrichten zu können. Schnelle Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen sind jederzeit möglich. Sein Gewinn besteht in seiner steten Anpassungsfähigkeit, die aber auch mit Konturenlosigkeit identifiziert werden kann. Viel schwerer wiegt freilich, dass der herkömmliche Rechtsgutsbegriff nicht geeignet ist, den fragmentarischen Charakter des Strafrechts, das ultima-ratio-Prinzip und seine akzessorische Natur im Verhältnis zu den anderen Teilrechtsordnungen zu erklären. Insofern besteht Bedarf, einen kritischen Rechtsgutsbegriff zu entwickeln, der geeignet ist, pragmatischen Erwägungen zu genügen, ohne die Bedeutung subjektiver Rechte zu vernachlässigen. Dies kann hier nicht geleistet werden. Einzugehen ist gleichwohl auf einige Grundbedingungen, die für die Stellung des Individuums im Strafrechtssystem besonders bedeutsam erscheinen. aa) Verbot moralischer Bevormundung So ermöglicht jede der oben skizzierten traditionellen Rechtsgutskonzeptionen die Statuierung von Ver- und Geboten einer primären Normenordnung. Diese Aufgabe kommt jedoch bereits den Verhaltensnormen zu, die den Strafgesetzen vorgelagert und nicht immer sanktionsbewehrt sind.230 Der Strafgesetzgeber ist also 226 227 228 229

Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 46. Dazu Naucke, KritV 1993, S. 135 ff., 138. Birnbaum, Archiv des Criminalrechts 15 (1834), S. 149 ff. Naucke, KritV 1993, S. 135 ff., 138.

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gehalten, sich an den vor-strafrechtlichen Primärordnungen zu orientieren und darauf aufbauend zu entscheiden, welche selektierten Ver- und Gebote über den zivilund öffentlich-rechtlichen Schutz hinaus auch strafrechtliche Relevanz erhalten sollen.231 Man mag den rein sekundären, akzessorischen Charakter des Strafrechts dabei als nachteilig empfinden, weil Sitten- und Moralwidrigkeiten bei konsequenter Aufrechterhaltung der Akzessorietät nicht strafrechtlich geahndet werden können. Die materielle Gleichsetzung des Rechtsgutsbegriffs mit rein faktischen Interessen würde auch in diesem Bereich jede Kreativität zulassen: Volk und Rasse, Sozialismus und Kapitalismus232, eine bestimmte religiöse Ausrichtung, Weltanschauungen, kurzum jedwede Schutzintention ließe sich in strafrechtliche Normen gießen, und zwar unabhängig vom Bestehen in die gleiche Richtung zielender zivilund öffentlich-rechtlicher Vorschriften. Auf Grundlage des Gesellschaftsvertrages ist ein solches Vorgehen nicht möglich: Sitten- und Moralwidrigkeiten könnten schon deshalb nicht Gegenstand strafbewehrter Verbote sein, weil die Bürger – denen selbst unstreitig jedes Recht fehlt, ihre Mitbürger moralisch zu bevormunden – die von ihnen gewählten Staatsorgane nicht entsprechend ermächtigen können.233 Eine Kompetenz, die nicht vorhanden ist, kann auch nicht übertragen oder delegiert werden. Frisch meint gleichwohl, darauf hinweisen zu müssen, dass sich vorstrafrechtliche Aussagen über zu missbilligende Verhaltensweisen keinesfalls durchgängig treffen ließen.234 So seien Verhaltensnormen etwa dort nicht feststellbar, wo ein Lebenssachverhalt unter dem Aspekt der Geltendmachung von Ansprüchen uninteressant sei, was im Falle der Abtreibung zutreffe.235 Ferner sei zu beachten, dass sich das Polizeirecht zwar für bestimmte in der Öffentlichkeit abspielende Sachverhalte interessiere, nicht aber für ähnliche Ereignisse, die sich ausschließlich im privaten Bereich zutrügen. Auch das öffentliche Recht behandle demnach einige, von Frisch so genannte, Moralwidrigkeiten nicht, bei denen dann allein und zuerst das Strafrecht zu reagieren aufgefordert sei.236 Der letztere Einwand ist bereits dadurch zu entkräften, dass sich das Polizeiund Ordnungsrecht überhaupt nur mit Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung befasst.237 Es lassen sich mit seiner Hilfe also von vornherein keine Aus230 Was eigentlich weithin anerkannt wird, Freund, Lehrbuch, § 1 Rn 12; Sternberg-Lieben, Schranken, S. 176 ff.; Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 362 ff.; Renzikowski, Täterbegriff, S. 85; Stree, Deliktsfolgen, S. 3 f. 231 Frisch, Stree / Wessels-FS, S. 82. 232 Beispiele von Naucke, Schwerpunktverlagerungen, KritV 76 (1993), S. 135 ff., 138. 233 Rudolphi, SK-StGB, Vor § 1 Rn 1; ders. Honig-FS, S. 160; vgl. auch Altenhain, Anschlußdelikt, S. 296. 234 Frisch, Stree / Wessels-FS, S. 69 ff., 82. 235 Frisch, Stree / Wessels-FS, S. 69 ff., 82 (dort in Fn 56). 236 Ebenfalls Frisch, Stree / Wessels-FS, S. 82 (dort in Fn 56).

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sagen zu Vorgängen innerhalb des rein privaten Bereichs treffen. Eine Akzessorietät des Strafrechts kann hier schon deshalb nicht gegeben sein, weil es im Beispiel an der notwendigen Identität des betreffenden Schutzgegenstandes fehlt. Die Bedenken Frischs gehen insofern ins Leere. Doch auch der Hinweis auf die Strafbarkeit der Abtreibung trägt nicht. Richtig ist nur, dass der Leibesfrucht mangels Rechtsfähigkeit keine zivilrechtlichen Ansprüche zustehen können. Auch offensichtliche tatsächliche Gründe verhindern dies. Im übrigen aber knüpft Frisch den Grundsatz der Akzessorietät falsch an. Bezugspunkt ist hier das öffentliche Recht und nicht das zivilrechtliche Anspruchssystem. Gemäß Art. 2 Abs. 2 GG ist schon der nasciturus Inhaber des Grundrechts auf Leben. Im öffentlich-rechtlichen Schrifttum wird nach ganz überwiegender Meinung aus Art. 2 Abs. 2 GG sogar eine staatliche Schutzpflicht des Inhalts angenommen, dass eine entsprechende Strafvorschrift geschaffen werden müsste, wenn es die §§ 218 ff. StGB nicht gäbe.238 Damit ist klargestellt, dass es im Strafrecht auch hinsichtlich der Abtreibung um den akzessorischen Schutz anderweit anerkannter subjektiver Rechte geht. Das verkennt Frisch. bb) Abwesenheit originär strafrechtlicher „Güter“ und „Interessen“ Wer die akzessorische Natur des Strafrechts befürwortet, muss überdies berücksichtigen, dass durch die anderen Teilrechtsordnungen keine Güter oder Interessen vorgegeben werden, sondern entweder Rechte der Individuen, von anderen Individuen etwas verlangen zu können oder Rechte der Individuen gegen den Staat.239 Warum diese Rechte im Anwendungsbereich des Strafrechts zu bloßen wandelbaren Interessen herabgestuft werden sollten, ist nicht einzusehen. Das Strafrecht wäre zur Implementation einer Primärordnung nur dann geeignet, wenn es irgendwie geartete „Güter“ oder „Interessen“ gäbe, die weder einem zivilnoch einem öffentlich-rechtlichem Schutz unterstellt werden könnten. Dafür aber kommen nur solche Materien in Betracht, deren Nichtbeeinträchtigung weder die Individuen, noch der Staat würden fordern können. Solcherlei Konstellationen sind indessen nicht denkbar. „Wenn weder ein Privater noch der Staat berechtigt sind, von Dritten ein Unterlassen zu verlangen, dann ist nicht ersichtlich, woher der Staat die Berechtigung nimmt, dieses Verlangen mittels Strafandrohung durchzusetzen.“240 Nochmals: Nicht-existente Kompetenzen können auch nicht übertragen werden! Die Lehre vom subjektiven Recht ist in der Lage, derartige Nur Friauf, in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 2. Abschn. I 1. BVerfGE 39, S. 1 ff., 36 f.; 88, S. 203 ff., 251; dazu auch Maunz / Dürig-Dürig, Art. 2 Abs. 2, Rn 22. 239 Appel, Verfassung, S. 386 f.; Altenhain, Anschlußdelikt, S. 298. Dass es auch Rechte des Staates gegen Individuen gibt, steht außer Zweifel, braucht vorliegend aber nicht weiter verfolgt werden. 240 Altenhain, Anschlußdelikt, S. 299. 237 238

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Widersprüche zu vermeiden. Sie kann daher auch weiterhin als Grundlage der Untersuchung dienen.

5. Die Auslösung strafrechtlicher Zwangsbefugnisse Die vorgegebenen subjektiven Freiheitsrechte werden vom Staat durch objektives Recht gegen bestimmte Arten von Verletzungen geschützt: Hier beginnt denn auch der Anwendungsbereich des Strafgesetzes.241 Das Motiv des Konzepts liegt in der Einsicht in die stete Gefährdung der individuellen Freiheit. „Diese Gefährdung entsteht aus der Machtausübung durch den Straftäter gegenüber dem Opfer und aus der Machtausübung des Staates gegenüber dem zum Täter erklärten Bürger.“242 Der Verletzte ist in einem freiheitlichen Strafrecht eine wichtige Person. „Am Opfer wird die Verletzung der Freiheit durch den Täter sichtbar.“243 Dennoch wird es gegenwärtig als bloßes Tatobjekt behandelt, dessen Lebensvorteile in einer „für die aktuelle Ordnung störenden Weise berührt worden sind.“244 Die Alternative läge, wie im Zivilprozessrecht, in der Privatisierung strafrechtlicher Konflikte. Die materielle Berechtigung aus der Verhaltensnorm und die formelle Zuständigkeit ihrer Durchsetzung würden dann voneinander geschieden. Eine derartige Rückübertragung der Konfliktbewältigung würde dazu führen, dass Täter und Opfer im Strafprozess einander auf Augenhöhe begegnen. Wer eine subjektive Rechtsposition mit einer umfassenden Zuständigkeit in eigener Sache identifiziert, könnte leicht geneigt sein, die gegenwärtige Struktur des Strafprozesses abzulehnen. Die Tätigkeit des Staates sowie der Ausschluss des Verletzten aus dem Strafverfahren müssten als Einmischung in die Belange selbstbestimmter Individuen gedeutet werden; Recht und Rechtsschutz würden im Bereich des Strafrechts unsachgemäß voneinander getrennt. Versteht man das subjektive Recht als Tätigkeitsfeld, auf dem man sich ungestört bewegen kann und will man dieses Verständnis unumschränkt verwirklichen, so wäre der herkömmliche Inquisitionsprozess unter staatlicher Leitung möglicherweise durch ein adversatorisches System zu ersetzen.245 Das materielle Prinzip der Autonomie müsste sich im Prozess fortsetzen. Nur so ließe sich die Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung aufrechterhalten. Fraglich und klärungsbedürftig ist indessen, ob eine in diesem Sinne entwickelte Konzeption zutreffend ist. Feuerbach, Lehrbuch, § 22; Klaus Günther, Zustand, S. 445 ff., 446. Naucke, KritV 1993, S. 135, 137 f. 243 Naucke, KritV 1993, S. 135, 140. 244 So gleichsam plakativ wie polemisierend Naucke, KritV 1993, S. 135, S. 140 f. (Hervorhebung von mir). 245 Das geltende deutsche Zivilprozessrecht bzw. der im anglo-amerikanischen Rechtsraum verbreitete Parteienprozess würden das zu verfolgende Leitbild abgeben. 241 242

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a) Rechtsverletzung als Enttäuschung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse Das Recht begründet günstigstenfalls wechselseitige Anerkennungsverhältnisse. Soweit der Einzelne im Prozess der eigenen Erkenntnisleistung auch das freie Dasein des Anderen respektiert, entsteht darüber hinaus ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens in die Einhaltung der Verhaltensnormen.246 Dieses Vertrauen besteht darin, dass auch der jeweils andere Rechtsgenosse rechtliche Institute annimmt und ihre Bestimmungen mitträgt.247 In der Rechtsverletzung manifestiert sich die Enttäuschung entgegengebrachten Vertrauens. Fraglich bleibt aber, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Sachverhalt auch strafrechtliche Relevanz erhält. Die Ermittlung der entsprechenden Schwelle wird dadurch zusätzlich erschwert, dass die Verhaltensnormen generell öffentlich-rechtlicher Natur sind, ein Verstoß gegen sie, materiell betrachtet, immer eine Auflehnung gegen den Willen der Allgemeinheit darstellt und insofern stets das vertikale Staat-Bürger-Verhältnis betroffen ist. Unrecht kann daher ganz allgemein als äußeres Handeln, das objektiv einem bestimmten Rechtssatz widerspricht, definiert werden.248 Aus dem Wesen des Rechts folgt das Wesen des Unrechts: Begreift man die Normen als Befehle, mit denen sich die Rechtsordnung (bzw. die im Staat verfasste Allgemeinheit) an die Normunterworfenen richtet, um den Ordnungszustand zu realisieren, der von der Rechtsordnung in ihrer Bewertungsfunktion als erstrebenswert beurteilt wird249, so stellt sich das Unrecht als Verneinung dieses Ideals dar, als nachteilige Veränderung des sozial Werthaften. aa) Eigenverantwortung und Privatinitiative In Rechnung zu stellen ist dabei die Charakteristik des subjektiven Rechts. Das Unrecht ist gekennzeichnet durch die Läsion gleicher Freiheitssphären. Auf der Seite des Inhabers der beeinträchtigten Rechtssphäre stellt sich das rechtlich miss246 E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 183 f., der seine Ausführungen freilich nicht an den Thesen der Lehre vom subjektiven Recht orientiert. 247 E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 195 f.: „Recht konstituiert solche Anerkennungsverhältnisse mit und legt die Konturen und die Mindestvoraussetzungen von einer bestimmten Seite her fest. Diese Seite betrifft die Notwendigkeit gemeinsamer Orientierung, die besonders deswegen besteht, weil sonst jeweils der einzelne durch den Widerstand des Anderen an seiner Tätigkeit behindert werden kann.“ [ . . . ] „Die Normen werden u. a. die Zuordnungen von Gütern und Betätigungsräumen der Einzelnen und der entsprechenden gegenseitigen Verbote, sie nicht zu verletzen, zum Gegenstand haben.“ (S. 140). 248 Köhler, AT, S. 20. 249 Zielinski, Erfolgsunwert, S. 122 f., der die Kombination von Bewertungs- und Bestimmungsfunktion mit Nachdruck einfordert. Ebenso Armin Kaufmann, Lebendiges, S. 69 ff.; Gallas, Beiträge, S. 31 (dort Fn 41).

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billigte Geschehen als Negation des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses und mithin des entgegengebrachten Vertrauens dar. Damit aber wird das zur Gewährung größtmöglicher Autonomie von seiten des Rechts begründete Gegenseitigkeitsverhältnis jedoch (noch) nicht automatisch aufgehoben. Es bleibt in seiner ursprünglichen Bedeutung zunächst noch aktuell.250 Das Prinzip der Eigenverantwortung, das die Kehrseite der eingeräumten Freiheit bildet, bringt es mit sich, dass der Einzelne aufgefordert ist, sich gegen eventuelle Rechtsverletzungen selbst zu schützen bzw. zur Wehr zu setzen. Wem in Bezug auf seine Lebensgestaltung jedwede Freiheit gewährt wird, von dem kann auch erwartet werden, dass er sich gegen eventuelle oder erfahrene Freiheitsbeeinträchtigungen angemessen absichert oder wehrt.251 Der Staat ist kraft des ihm eingeräumten Gewaltmonopols nur Hilfsorgan der durch den Bürger zu initiierenden Rechtsbewährung. Auch die notwendigen Voraussetzungen, von den eingeräumten Freiheiten umfassenden Gebrauch machen zu können, hat sich der Einzelne regelmäßig selbst zu schaffen. Die Mittel hierfür stellt das Recht nicht zur Verfügung.252 Das subjektive Recht dient in diesem Sinne ausschließlich dem Erhalt im Bestande, jedoch auch diesbezüglich nur, insofern dem Inhaber an der Aufrechterhaltung des aktuellen Bestands überhaupt gelegen ist. Da der Träger des subjektiven Rechts in keiner Hinsicht bevormundet werden darf, entscheidet er selbst über den Umfang der Bestandssicherung. Rechtsverletzungen werden daher grundsätzlich nur auf Initiative des Rechtsinhabers und erst auf seine eigenverantwortliche Initiative hin zu Gunsten der Wiederherstellung der normativen Rechtszuweisungsordnung behoben. Solange der Einzelne in seiner Selbstbestimmtheit nicht gefährdet ist, verbleibt man aber im Bereich des bürgerlichen Rechts bzw. des Zivilprozessrechts.

250 E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 215. Die Enttäuschung entgegengebrachten Vertrauens darf deshalb nicht mit der Ausschaltung der Subjektivität identifiziert werden. 251 Der Terminus des Vertrauens in den Bestand des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses darf nicht mit Naivität verwechselt werden. So löschen auch Rechtsverletzungen, die sich im Zuge von Sorgfaltswidrigkeiten oder Gefährdungen im Rahmen des technologischen Fortschritts ereignen, die individuelle Selbstbestimmung nicht aus. Die Vielzahl gefahrengeneigter Tätigkeiten schmälert nicht die Bedeutsamkeit der durch das Recht geschaffenen Vertrauenstatbestände, sondern sie vervollkommnet geradezu die Ausübung von Freiheit. Ihre Ausübung wird erleichtert. 252 Das Recht regelt den Eigentumserwerb, die Eigentumsübertragung und die Dereliktion, sorgt aber nicht dafür, dass das einzelne Individuum einen bestimmten Eigentumsgegenstand als selbstverständlichen Teil seines Aktivvermögens begreifen könnte. Die Grundlagen hierfür hat sich jeder selbst zu schaffen, wofür ihm das Recht den nötigen Freiraum gewährt, gleichzeitig aber ein ausreichendes Maß an Eigenverantwortung einfordert.

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bb) Straftat als Aufhebung des Basisvertrauens in die Aufrechterhaltung wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse Damit ist der Anwendungsbereich der Strafrechtsordnung vorgezeichnet. Die in der Rechtsverletzung liegende Enttäuschung des Basisvertrauens ist geeignet, eine Intensität anzunehmen, dass von einer weiteren Aufrechterhaltung des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses nicht mehr die Rede sein kann. Hiervon ist auszugehen, wenn die Selbstbestimmung des Individuums durch ein Verhalten des Täters ausgeschaltet wird. Der Delinquent drängt den Betroffenen in derartigen Konstellationen aus seiner Subjektivität heraus. Dem Betroffenen wird ein Stück seiner Selbstbestimmung genommen. Mithin ist das Kriminaldelikt durch eine Basisverletzung im gegenseitigen Anerkennungsverhältnis gekennzeichnet, die das Vertrauen des Individuums so sehr beeinträchtigen muss, dass Gefahren für die Gewährleistung der selbstständigen Daseinsbewältigung im generellen Sinne253 zu gewärtigen sind. Mit der nachhaltigen Verletzung individuellen Vertrauens allein ist freilich der weitgehende Ausschluss des Betroffenen von der Strafverfolgung noch nicht vollständig erklärt. Es gilt nach wie vor, die spezifisch hoheitliche Komponente der Strafrechtsmaterie zu identifizieren. Jedoch lässt sich die Transformation der Kompetenzen auf staatliche Organe mit dem subjektiven Recht oder besser: mit der aus der Anerkennung subjektiver Rechte folgenden Natur der Rechtszuweisungsordnung ohne weiteres begründen. Mit dem Herausdrängen des Einzelnen aus seiner Subjektivität in einem Teilbereich ist zugleich die normative Struktur der Rechtsordnung insgesamt beeinträchtigt. Die objektive, dem Willen der Allgemeinheit entsprechende Zuweisungsordnung aus subjektiven Rechten ist dann in ihrer Substanz betroffen. Das Nebeneinander gleicher Freiheitssphären ist durch das Verhalten eines Einzelnen zerstört worden. Die Enttäuschung des Vertrauens eines Individuums geht mit dem drohenden Bedeutungsverlust des in Gesetzen kundbar gemachten Willens der Allgemeinheit einher. Freiheit ist Grundlage und Voraussetzung verantwortungsvollen Handelns. Eigenverantwortung ist deshalb nicht mehr zu erwarten oder auch nur möglich, wo es am Substrat der freiheitlichen Betätigung fehlt. 253 So auch E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 215; vgl. ferner Köhler, AT, S. 30. Damit ist freilich kein Kriterium geliefert, wodurch das Strafrecht trennscharf vom bürgerlichen Recht geschieden werden könnte. Als einigermaßen verlässliche Orientierung, die mit einer gewissen Begrenzungsfunktion einhergeht, erscheint die Enttäuschung des rechtlichen Basisvertrauens gleichwohl tauglich. Das kann allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass es letztlich den jeweiligen gesellschaftlich-politischen Anschauungen überlassen bleibt, wann ein Übergriff als derart gravierend eingestuft wird, dass sich eine Reaktion mit den Mitteln des Strafrechts aufdrängt. Insoweit ist eher zu empfehlen, das Prinzip in seiner gleichsam negativen Ausprägung anzuwenden und jeweils danach zu fragen, ob in der durch eine konkrete Strafnorm beschriebenen (oder noch zu beschreibenden) Situation regelmäßig schon eine Basisverletzung im gegenseitigen Anerkennungsverhältnis zu erkennen ist oder noch nicht.

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Soll die liberale, auf dem Prinzip der Freiheit beruhende Rechtszuweisungsordnung fest und verlässlich sein, so muss sie sich gegen nachteilige Veränderungen zur Wehr setzen können. Das Tätigwerden der im Staat verfassten Allgemeinheit resultiert folglich aus der Auflehnung gegen ihren klar artikulierten Willen, die normativen Strukturen der Rechtszuweisungsordnung zu wahren und, wenn nötig, zu bekräftigen. Strafrecht dient somit dem Schutz der Rechtsordnung selbst. In der Straftat manifestiert sich tatsächlich die objektive Verletzung des subjektiven Rechts „als Institut“. Will die Allgemeinheit die Fähigkeit zu einem selbstständig-regulativen Dasein freier Individuen dauerhaft gewährleisten, so kann sie die Verfolgung von substanziellen Rechtsverletzungen nicht der Eigeninitiative Einzelner überlassen, denn Eigeninitiative setzt Selbstbestimmung voraus. Letztere aber kann aufgrund individuellen Handelns durch Fremdbestimmung ersetzt worden sein. Die häufigere Ersetzung der Selbst- durch Fremdbestimmung entwertet das Raster gleicher Freiheitssphären, an dessen Erhalt der im Staat verfassten Allgemeinheit gelegen sein muss, wenn er an Legitimität nicht verlieren will. Wenn der Staat die freiheitliche Ordnung dauerhaft verbürgen will, so hat er dafür Sorge zu tragen, dass die eingeräumten Rechtspositionen sich im Zuge missbräuchlichen Verhaltens nicht wechselseitig aufheben. Der individuelle Wille ist daher soweit zu respektieren, wie er seitens des betroffenen Rechtsgenossen noch zur Grundlage eigenen, selbstbestimmten Entscheidens gemacht werden kann bzw. soweit eigenverantwortliches Entscheiden erwartet werden kann, ohne dass ein Bedeutungsverlust der subjektiven Rechte zu befürchten wäre. Diese Schwelle wird übertreten, wenn ein Sachverhalt strafrechtliche Relevanz gewinnt. Die Rechtszuweisungsordnung ist ihrem Bestande nach gefährdet, sofern ihre Gewährleistungen kraft tatsächlichen Handelns außer Kraft gesetzt werden können. Soll die staatliche Gemeinschaft auch weiterhin als Garant freiheitlicher Betätigung fungieren und ihren Legitimationsgrund nicht preisgeben, so ist sie aufgefordert, substanziellen Angriffen auf die freiheitliche Ordnung kraft der eigenen Durchsetzungsmacht zu begegnen. Versteht man subjektive Rechte als in Geltung gesetzte rechtspolitische Forderungen, so genügt der Staat durch Statuierung der Strafrechtsordnung einer an ihn herangetragenen Erwartungshaltung, die enttäuscht würde, falls er sich mit der vollständigen Ausschaltung subjektiver Rechtspositionen einfach begnügen würde.

cc) Versuchsstrafbarkeit und Gefährdungsdelikte Man mag der vorstehenden Konzeption entgegenhalten, dass sie weder die Strafbarkeit des Versuchs, noch die Existenz der Gefährdungsdelikte plausibel zu erklären vermag. Im beiden Fällen kommt es schon im Vorfeld der eigentlichen Rechtsverletzung zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen. Die Enttäuschung des wechselseitigen Basisvertrauens in den Bestand von Freiheit hat sich hier nicht in einer wahrnehmbaren Veränderung der Außenwelt realisiert, weshalb die Subjektivität eines Individuums nicht als ausgeschaltet betrachtet werden könnte. Der

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Wiederherstellung der Rechtszuweisungsordnung bzw. ihrer Bewährung bedürfte es dann nicht. Privatrechtliche Konsequenzen im Sinne der Gewährung restituierender Ansprüche kommen ebenfalls nicht in Betracht. Deshalb könnte man der Ansicht sein, dass in diesem Teilbereich das Strafrecht seinen limitiert-akzessorischen Charakter nicht entfalten könne. Der Einwand greift indessen zu kurz. Schon der Versuch oder die Verwirklichung von Gefährdungsdelikten sind geeignet, den Inhaber subjektiver Rechte in seinem Vertrauen auf ihren Bestand in empfindlicher Weise zu stören. Das Privatrecht kann in solchen Situation mit negatorischen Ansprüchen reagieren. Für das Strafrecht aber ist von entscheidendem Belang, dass sich im Versuch wie in bestimmten Gefährdungen die Labilität der normativen Rechtszuweisungsordnung zeigt.254 Das Basisvertrauen ist in diesen Fällen auch ohne konkret wahrnehmbare Beeinträchtigung erschüttert. Es wird deutlich, dass die Gewährleistung von Freiheit ständig auf dem Spiel steht. Vielfach wäre es der Legitimität der Rechtsordnung sogar abträglich, wenn man die konkret wahrnehmbare Ausschaltung der Subjektivität abwarten würde, denn wenn das Ziel in der Optimierung von Freiheit besteht, dann kann sich das Strafrecht nicht in der Reaktion auf bereits eingetretene intensive Rechtsverletzungen erschöpfen. Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, dass die Existenz der Versuchsstrafbarkeit sowie der Gefährdungsdelikte überhaupt nur mit der Schaffung öffentlichrechtlicher Verhaltensnormen zu erklären ist, die dem Adressaten schon im Vorfeld eventueller Rechtsverletzungen seitens Dritter in die Pflicht nehmen. Der Schutz der Rechtszuweisungsordnung wird so effektuiert. Die Allgemeinheit verleiht ihrem Willen Ausdruck, den Schutz subjektiver Rechte nicht der Zufälligkeit anheimzustellen. Zudem liegt darin die Einsicht, dass Konstellationen denkbar sind, die auch ohne den Eintritt eines bestimmten Erfolges ein selbstbestimmtes Dasein zunichte machen können und daher einer Verletzung gleichzustellen sind. Die Beeinträchtigung eines freiheitlichen und selbstbestimmten Daseins durch primäre Viktimisierung im Zuge des Erlebens einer (versuchten) Straftat ist nicht vom Eintritt konkreter physischer Verletzungen abhängig. dd) Spezialfall Bagatelldelikte Ist klargestellt, dass das Strafrecht nicht allein nach der Art bzw. dem „Ob“ einer Verletzung beschrieben werden kann, so lassen sich auch die Bagatelldelikte in das System subjektiver Rechte integrieren. Insbesondere E.A. Wolff hat darauf hingewiesen, dass strafrechtliche Konsequenzen überall dort unangebracht sind, wo das Individuum in seiner Selbstständigkeit nicht nachhaltig tangiert ist.255 Es 254 Schon Nagler, Strafe, S. 102: „Die Unverbrüchlichkeit und Unangreifbarkeit der Rechtsordnung [ . . . ] erscheint in Frage gestellt. Egozentrische und darum rechtsfeindliche Willensmächte haben es auf eine Kraftprobe ankommen lassen.“ 255 E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 218.

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liegt deshalb die Vermutung nahe, dass die Verwirklichung sog. Bagatelldelikte generell nicht geeignet sei, die Rechtszuweisungsordnung im ihrem Bestand zu gefährden. Indessen kann auch hier das subjektive Recht in seiner Bedeutung und Tragweite für die Daseinsbewältigung als Medium einer griffigen Abgrenzung herangezogen werden. Dies soll induktiv belegt werden: Nicht jede beliebige Eigentumsbeeinträchtigung ist von strafrechtlicher Relevanz. Das Strafgesetzbuch kennt die Typen der Zueignungs- und Sachbeschädigungsdelikte. Beide zeichnen sich vom Unrechtsgehalt her darin aus, dass besonders intensive Eingriffe in ein fremdes Eigentumsrecht vorliegen. E.A. Wolff256 weist zutreffend darauf hin, dass jedes Rechtssubjekt nur eine begrenzte Zahl an Gütern hat, die es sein Eigentum nennen kann. Der Einzelne soll sich mit Hilfe des Eigentums einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sichern können, um es zur Grundlage einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zu machen.257 Das Eigentum ist im System subjektiver Rechte daher von elementarer Bedeutung für die Wahrnehmung persönlicher Freiheit. Wer sich an die Stelle des Eigentümers setzt, nimmt diesem ein Stück seiner individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und zerstört gewissermaßen das Substrat für ein selbstbestimmtes, von äußeren Einflüssen freies Handeln. Der Täter drängt den Geschädigten aus der normativen Rechtszuweisungsordnung heraus. Der materielle Schaden mag vergleichsweise gering sein. Jedoch darf nicht außer Betracht bleiben, dass hier nicht lediglich eine partikulare, vorübergehende Beeinträchtigung fremder Rechte258 vorliegt, sondern ein irreversibler Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre eines Anderen. Es kommt auch hier zu einer Verletzung des subjektiven Rechts als Institut. Es kann von den Rechtsgenossen nicht verlangt werden, dass sie sich auf die Möglichkeit, bestohlen zu werden schlechthin und ein für alle Male einrichten. Ebenso wenig sind Sachbeschädigungen in der Weise absehbar, dass ihr Eintritt bereits im Vorfeld zu verhindern wäre.259 Wechselseitige Anerkennung muss darauf vertrauen, dass jeder den Freiheitsbereich des jeweils anderen respektiert und die ihm eingeräumten Positionen nicht zu Lasten Dritter missbraucht werden. Deshalb reicht das verwirklichte Unrecht über eine nur bürgerlich-rechtliche Tragweite hinaus. Zur subjektiven Rechtsverletzung als solcher tritt die Beeinträchtigung der normativ verfassten Struktur der Rechtszuweisungsordnung. Soll der Kern individueller Freiheitsausübung umfassend geschützt werden, so dürfen vor allem die Grenzen der eingeteilten Freiheitssphären nicht verschwimmen oder der Willkür einzelner Delinquenten überantwortet werden. Auch eher geringwertige Gegenstände gehören daher zu den Bestandsbedingungen individu256 257 258 259

E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 215. BVerfGE 24, S. 367, 389. Kriterium von Köhler, AT, S. 30. Ähnlich E.A. Wolff in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137, 214.

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C. Das strafrechtliche Programm

eller Freiheit.260 Eine Rechtsordnung, die subjektive Rechtspositionen dem freien Spiel der Kräfte überlässt, läuft Gefahr, dass die Freiheiten sich im täglichen Miteinander wechselseitig aufheben. Selbstbestimmung würde auf Dauer durch Fremdbestimmung ersetzt; zumindest trüge die Rechtsordnung ein entsprechendes Risikopotential in sich.

b) Folgerungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hergebrachte Trennung von Rechtsgut und Rechtsgutsträger dringend überwunden werden muss. Sie ist das Ergebnis einer unsachgemäßen Verrechtlichung faktischer Interessen, die in Wahrheit nicht stattfindet. Vielmehr ist die Rechtsordnung am Individuum zu orientieren, was die Forderung birgt, seine Subjektivität zur Grundlage und Legitimationsbasis jeglicher rechtlicher Diskussion zu erheben. Das Recht gewährleistet die Ausübung von Freiheit in möglichst umfassender Hinsicht und mit dem steten Ziel der Optimierung. In diesem Sinne hat die Rechtsordnung die Entfaltungsfreiheit faktischer Interessen sicherzustellen, ohne dass diese selbst durch den Staat als eigene übernommen werden müssten. Hierin ist auch die Basis für die systematisch-dogmatische Verortung des Strafrechts zu sehen. Es ist seiner Charakteristik nach ein limitiert-akzessorisches Schutzrecht, wodurch gleichzeitig seine Bindung an die Gesamtrechtsordnung offenbar wird. Wenn das Recht eine Ordnung gleicher Freiheitssphären schafft, so manifestiert sich auch in der Verwirklichung von Straftaten zunächst ein Eingriff in subjektive Rechte. Nicht jede Rechtsverletzung ist aber per se von strafrechtlicher Relevanz. Die Gewährung umfassender Freiheit korrespondiert mit dem Prinzip der Eigenverantwortung. Der Einzelne ist daher aufgefordert, den individuellen Bestandsschutz selbst vorzunehmen. Dieses Prinzip wird durch die Zivilrechtsordnung verwirklicht. In einer Rechtsverletzung kann jedoch zusätzlich die vollständige Aufhebung individueller Freiheitsbereiche zu sehen sein. Damit aber ist die Rechtszuweisungsordnung in ihrer Gesamtstruktur beeinträchtigt. Es kommt zur Auslöschung einer Zelle, die dem normativen Willen nach Bestandteil der Rechtsordnung hätte bleiben sollen. Betroffen ist dann die subjektive Rechtsposition in ihrer insitutionellen und rechtskonstitutiven Bedeutung. Da die Verhaltensnormen generell öffentlich-rechtlichen Charakters sind und in ihnen der Wille der Allgemeinheit deutlich wird, ist es – bei Erschütterung der normativen Rechtszuweisungsordnung insgesamt – diese selbst, die auf die Wahrung der persönlichen Freiheitsbereiche zu drängen und deren Bedeutung für das Ganze zu untermauern hat. 260

In diesem Sinne auch Köhler, AT, S. 30.

II. Strafrecht als limitiert-akzessorisches Schutzrecht

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Der Einzelne wird seiner bürgerlich-rechtlichen Ansprüche dadurch nicht enthoben, vielmehr bleibt das bürgerliche Recht das Forum individueller Rechtswahrnehmung. Strafrechtlich betrachtet aber repräsentiert sich in der subjektiven Rechtsverletzung als Institut die Auflehnung gegen den Willen der Allgemeinheit und somit der Rechtsordnung schlechthin. Der Verletzte steht mithin nicht im Fokus des strafrechtlichen Schutzes. Die gegenwärtige Kompetenzverteilung im Strafprozess ist vor diesem Hintergrund nicht fehlerhaft und lässt sich plausibel erklären. Als Resümeé taugt eine Äußerung Johannes Naglers, der den Anwendungsbereich des Strafrechts bereits 1918 anschaulich zu illustrieren vermochte: „Jeder Ungehorsam gegen die gesetzlichen Befehle, mag er noch so leicht sein, schließt eine Mißachtung jener ein und geht daher wider deren unverkümmerte Machtstellung an. Die schwereren Verbrechen ziehen aber darüber hinaus noch weitere Kreise. Sie stören die Autorität des Rechts und erschüttern das Vertrauen auf dessen Macht und Schutz. Es erhebt sich die Gefahr, daß die als ohnmächtig erwiesene Gesetzlichkeit an psychologischer Wirksamkeit innerhalb der Rechtsgemeinschaft verliert, die rechtlichen Bande sich lockern und die Rechtsorganisation allmählich zerfällt. Wie auch immer diese psychologische Auswirkung im Einzelfall sich gestalten mag, jede schuldhafte Nichtachtung des Rechts verletzt aufs empfindlichste den Rechtswillen der Gemeinschaft, der unmittelbar aus dem [ . . . ] in der Koexistenz durch Gewöhnung geschärften Rechtsgefühl entspringt, d. h. aus dem Trieb nach Begründung und Erhaltung der äußeren Ordnung des menschlichen Zusammenlebens.“261 Strafrecht ist von seinem Ausgangspunkt her ein Instrument des kollektiven Willens, nicht der individuellen Bedürfnisse. Individualität und Subjektivität werden dadurch aber nicht bedeutungslos. Um ihrer Wahrung willen ist die staatliche Gemeinschaft zu handeln aufgefordert. Die Straftat stellt sich als Ausschaltung der Subjektivität dar. Mit diesem Befund hat es indessen nicht sein Bewenden. Der Betroffene ist aufgrund der Straftat in einem Teilbereich seiner Selbstbestimmung verlustig gegangen, dadurch aber verliert er nicht seine Qualität als Rechtsgenosse. Optimierung von Freiheit bedeutet auch, den Einzelnen nicht fallen zu lassen. Es muss daher darüber nachgedacht werden, wie er erneut als Destinatär der staatlichen Gewährleistungsgarantien in die gesellschaftlichen Strukturen zu reintegrieren ist. Es ist zu ermitteln, wie die Ausübung subjektiver Rechtspositionen auch für das Opfer auf eine tragfähige Grundlage gestellt werden kann. Zugleich weist auch die in diesem Sinne definierte Aufgabenstellung aber in die Zukunft. Allerdings gelingt dies nicht ohne Rückanknüpfung an die konkreten Verhältnisse des Betroffenen. In der an ihm verübten Rechtsverletzung manifestiert sich der Angriff auf die Rechtszuweisungsordnung. Es ist 261 Nagler, Strafe, S. 102, wobei freilich in Rechnung zu stellen ist, dass sich die Bezugspunkte im Verhältnis zu Naglers Konzeption entsprechend zu Gunsten eines freiheitlichen Verständnisses von subjektiven Rechtspositionen im dargestellten Sinne verschieben. So fasste Nagler die subjektiven Rechte gerade nicht als Freiräume für das Individuum auf. Der Einzelne war nicht mehr als Delatar der Gemeinschaft.

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C. Das strafrechtliche Programm

seine Subjektivität, deren Ausschaltung den Handlungsauftrag an die Rechtsordnung formuliert. Nur auf diese Weise gelingt die Aufrechterhaltung der Rechtszuweisungsordnung pro futuro, anderenfalls bleibt sie defekt. Zu untersuchen ist aber, ob das Straf- bzw. das Strafprozessrecht das richtige Forum bieten, um der erstrebenswerten Reintegration und der damit verbundenen Ermöglichung von Freiheit Vorschub zu leisten. Das kann nur beurteilt werden, wenn man sich mit den Ursachen für die Verbannung des Opfers aus der Strafrechtspflege auseinandersetzt. Es ist schwer vorstellbar, dass die gegenwärtigen Strukturen des Strafrechtssystems grundlos installiert worden sind. Insofern lohnt es, den historischen Prozess der Marginalisierung des Verletzten im staatlichen Strafverfahren zu beleuchten.

D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts I. Germanisches Rechtsdenken Die Germanenzeit wird gewöhnlich als der Beginn der deutschen Rechtsgeschichte angesehen.1 Darstellungen der Strafrechtsgeschichte nehmen hier ihren Ausgangspunkt.2 Dabei wird der durch die jeweilige Missetat Verletzte als die zentrale Figur des germanischen Rechtsganges identifiziert,3 wobei die Befriedigung des Rachebedürfnisses im Mittelpunkt der Konfliktbewältigung gestanden habe.4 Die Fehde war hierfür das gängige Instrument. Sie zielte auf die Zufügung mindestens äquivalenter Einbußen und wurde auf Initiative des Verletzten hin betrieben. Verzichtete er auf Racheakte, so stand es ihm frei, gegebenenfalls die Volksversammlung anzurufen, in der er Streitigkeiten in Anwesenheit eines neutralen Beobachters klären und beilegen konnte. Freilich brauchte er eine gewaltsame Auseinandersetzung keineswegs zu scheuen. Vielfach forderte die Sippenehre die Ausübung von Rache. Es ist in der Literatur herausgestellt worden, dass die Individualität von Opfer und Täter gelegentlich hinter der Wahrung der Sippeninteressen zurückzutreten hatte.5 Jedenfalls aber sei die private Selbsthilfe die Grundlage der germanischen Rechtsordnung gewesen, schließt die herrschende Meinung. In der Tat liegt dieser Schluss nahe, denn ein Rechtssystem, das Ordnung und Kontrolle hätte gewährleisten können, gab es nicht. Folglich fehlte es auch an einem Verfolgungsapparat, dessen Aufgabe darin hätte bestehen können, Missetaten aufzudecken und angemessen zu ahnden. Es gab gar keinen über alles bestimmenden obrigkeitlichen Verband mit einheitlichen, unteilbaren Hoheitsrechten und 1 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 19 ff.; Köbler, Rechtsgeschichte, S. 66 ff.; Vgl. aber Kroeschell, Rechtsgeschichte I, S. 25, der gleichzeitig auf die enge Verzahnung der deutschen mit der europäischen Rechtsentwicklung hinweist und nicht von einem spezifisch germanischen Recht sprechen will. 2 Rüping / Jerouschek, Grundriß, S. 2 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 21 ff.; anders v. Hippel, Lehrbuch, S. 54 ff., der bereits beim römischen Strafrecht ansetzt. Ferner die Darstellungen speziell der Entwicklung im Bereich des Strafverfahrensrechts bei Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 23 ff. sowie Peters, Strafprozeß, S. 57 ff. 3 Nur Eb. Schmidt, Einführung, S. 23. 4 So vor allem v. Hippel, Lehrbuch, S. 101. 5 Rüping / Jerouschek, Grundriß, S. 3 ff.

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

Kompetenzen. Wer sich in seinen Freiheiten oder Gütern beeinträchtigt sah, hatte keine andere Wahl, als sein Heil in der eigenmächtigen und meist kämpferischen Auseinandersetzung zu suchen. Ein Tätigwerden Dritter im Zusammenhang mit Missetaten ist erst dort zu erwarten, wo Interessen berührt werden, die über die Lebenskreise der unmittelbar Betroffenen hinausgehen. Solche Interessen aber können nur dort existent sein, wo sich so etwas wie ein Gemeinschaftsgeist bzw. ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat. Derartiges war ursprünglich allenfalls kraft natürlicher Verbundenheit, also innerhalb der eigenen Familie, vorhanden. Die Herausbildung einer überfamiliären Gemeinschaft vollzog sich erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung. Es erscheint daher sinnvoll, die Germanenzeit in zwei Etappen aufzuteilen: in eine Früh- und eine Spätphase.

1. Frühphase a) Die Hausgemeinschaft als Verletzte Soweit man in Bezug auf die Frühphase der Germanenzeit von einer gesellschaftlichen Ordnung sprechen kann, bestand diese in einem Nebeneinander agnatischer6 Verwandtschaftsgruppen.7 Zusammen bildeten sie einen Stamm. Dennoch blieb das Gefüge segmentär.8 Die Segmente werden als Sippen bezeichnet. Sie gelten als die bedeutsamste Gemeinschaft der Germanen, sind aber auch nur das Produkt einer Entwicklung. Es darf zuverlässig angenommen werden, dass die Hausgemeinschaft das erste Zentralinstitut der germanischen Rechtsordnung war.9 Die älteste Gemeinschaft ist damit diejenige, die auf der gemeinsamen Abstammung beruhte. Die Verwandtschaft begründete eine Friedens-, Schutz- und Rechtsgemeinschaft.10 Diese erschöpfte sich im mehr oder weniger organisierten Familienverband.11 In ihm allein entfaltete sich anfangs ein Bedürfnis nach Ordnung und Kon6 Der Begriff Agnaten ist der römischen Rechtssprache entnommen. Er umfasst die Verwandten, die sich in rein männlicher Linie auf einen gemeinsamen Stammvater zurückführen lassen. Die agnatisch verwandten Männer werden auch als Schwertmagen, Speermagen bzw. Germagen bezeichnet. Näher Hagemann, HRG I – Agnaten, Sp. 61, 62. 7 Wesel, Geschichte, S. 266. 8 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 32, sprechen gar von einer Selbstverwaltung der Teilverbände. 9 Ogris, HRG I – Hausgemeinschaft, Sp. 2025. Zur Hausgemeinschaft zählten der Hausherr und alle seiner Munt unterworfenen Personen. Dazu gehörten die Hauskinder sowie alle sonstigen im Haushalt lebenden Verwandten des Hausherrn. 10 Dazu Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179, 184 f.

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trolle. Der Schutz vor inneren und äußeren Gefahren machte eine gewisse Ordnungsmacht erforderlich,12 die meist vom pater familias ausgeübt wurde. Der Mensch wurde in die familiäre Gemeinschaft gezwungen, denn er war den Gefahren der Natur ausgesetzt, konnte sich nicht selbstständig bis ins hohe Alter ernähren oder gar allein sämtliche Tätigkeiten ausüben, die das Überleben sicherstellten. Er war auf ein arbeitsteiliges Zusammenwirken beim Jagen, Sammeln und Werkzeuge herstellen angewiesen und musste auf die Entwicklung entsprechender Talente vertrauen.13 Diese Erwartungshaltung beschränkte sich auf die im unmittelbaren Umfeld lebenden Personen, die wiederum ausschließlich Familienangehörige waren. Die Gesellschaft zeichnete sich weitgehend durch eine wirtschaftliche und soziale Autonomie der einzelnen Familien aus. Übergeordneter Institutionen bedurfte es nicht. Traten innerhalb der Hausgemeinschaft Konflikte auf, so wurden Haus- und Familienstrafen verhängt.14 Vermögensstrafen schieden in diesem Bereich aus. Vermögensverschiebungen innerhalb derselben Familie wurden schon immer als wenig sinnvoll empfunden. Auch die Todesstrafe spielte, abgesehen von affektbedingten Ausnahmefällen, keine Rolle. Einerseits bestand gegenüber Verwandten eine tabuverstärkte Tötungshemmung. Wichtiger aber ist der Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Rücksichtnahme. Jede Arbeitskraft wurde benötigt.15 Jeder arbeitete zugleich für sich und für die anderen. Die Germanen betrieben Ackerbau und Viehzucht. Sie waren sesshaft geworden, hatten Viehherden und erwirtschafteten Erntevorräte. Man begann, Güter zu kumulieren. Innerhalb der Familie war jeder vom anderen abhängig. Die an den individuellen Fähigkeiten ausgerichtete Arbeitsteilung führte zu einer großen Solidarität. Die arbeitsteilige Gemeinschaftsordnung setzte zwingend voraus, dass sich der Eine auf den Anderen verlassen konnte. Sie war nur auf der Basis wechselseitig entgegengebrachten Vertrauens möglich. Kam dieses Vertrauen abhanden, so konnte das ernsthafte Schwierigkeiten für den gesamten Familienverband mit sich bringen.16 Alleingänge Einzelner waren geeignet, eine existenzielle Not heraufzubeschwören. Faulheit störte das familiäre Gleichgewicht mitunter empfindlich17 und führte zur Ausübung der allgemeinen Leitungs- und Ordnungsgewalt durch den Hausherrn.18 Individuelles Fehlverhalten wirkte sich auf die gesamte Hausgemeinschaft aus. Der pater familias war kraft seiner Munt aufgerufen, auf die Wiederherstellung des 11 Hier liegt das Abgrenzungskriterium zur vorwiegend genossenschaftlich organisierten Sippe, die erst mit der fortschreitenden Exogamie der Hausgemeinschaft entstand. 12 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 48. 13 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 39. 14 Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179 ff., 184 f. 15 Wesel, Geschichte, S. 25. 16 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 49 f. 17 Wesel, Geschichte, S. 25. 18 Ogris, HRG I – Hausgemeinschaft, Sp. 2023.

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

inneren Gleichgewichts hinzuwirken. Schließlich waren alle von auftretenden Unregelmäßigkeiten betroffen. Dafür, wie solche Konflikte bewältigt wurden, gab es keine festen Regeln. Das Verfahren war formfrei, arbiträr. Bemerkenswert aber ist die vertikale Struktur.19 Es gab keinen individuellen Verletzten. Der Hausherr trat dem Missetäter als Sachwalter des allgemeinen familiären Interesses gegenüber. Das Opfer war nicht ein ganz bestimmtes Individuum, sondern der gesamte Familienverband, welcher gewissermaßen mit der Allgemeinheit identisch war. Intendiert war nicht weniger als soziale Kontrolle. Es stand nicht im Vordergrund Ungehorsam, Eigenmächtigkeiten oder Disziplinlosigkeit zu rächen. Zentral war die Absicht, Störungen des ökonomischen Gleichgewichts bzw. der existenziellen Mechanismen in Zukunft zu unterbinden. Sollten Krisensituationen endgültig abgewendet werden, so mussten Einsicht und Besserung vom Abweichler zu erwarten sein. Das wiederum setzte die Wahrheit des jeweiligen Vorwurfs logisch voraus.20 Nur so konnte angenommen werden, dass der Übeltäter sich den Gepflogenheiten wieder fügen würde. Es darf geschlussfolgert werden, dass es zu kurz griffe, das frühe Rechtsdenken auf Rache und Fehde zu reduzieren. Innerhalb der kleinsten sozialen Zellen standen ganz andere Erwägungen im Mittelpunkt. Wo der Einzelne als gleichwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt war und gebraucht wurde, bestand das Ziel der Konfliktregelung in einem erzieherisch-maßvollen Handeln. Solange sich der Missetäter nicht als Mitglied der Hausgemeinschaft disqualifiziert hatte, kamen drakonische, durch Rachsucht gekennzeichnete Unrechtsfolgen nicht in Betracht.

b) Von der Hausgemeinschaft zur Sippe Die rechtshistorische Forschung hatte noch bis ins 20. Jahrhundert hinein angenommen, dass wie vor ihr die Hausgemeinschaft auch die Sippe entscheidende vorstaatliche Aufgaben als Friedens- und Rechtsgemeinschaft zu bewältigen gehabt habe.21 Diese Behauptung ist in ihrer Pauschalität sicher nicht mehr haltbar.22 Im Gegensatz zur Familie im engeren Sinne war die Sippe weniger herrschaftlich als vielmehr genossenschaftlich organisiert. Der Grund für diese Form der Gemeinschaftsbildung kann unter anderem im vermehrten Auftreten von Eheschließungen gesehen werden. Der Sexualtrieb des Menschen führte zur Bildung von Gemeinschaften mit andersgeschlechtlichen Partnern, die er wegen des Inzesttabus 19 20 21 22

Vgl. auch Holzhauer, Rechtstheorie 32 (2001), S. 53, 61 f. Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179, 186 f. Nur Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 110 ff. Dazu E. Kaufmann, HRG IV – Sippe, Sp. 1667.

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außerhalb seiner eigenen Gruppe suchen musste.23 Die Schaffung künstlicher Verwandtschaft vergrößerte die Mitgliederzahl der einzelnen Familienverbände und löste die von der Hausgemeinschaft dominierte soziale Struktur zu Gunsten der Sippe auf. Jedoch wird man hieraus nicht den Schluss ziehen dürfen, dass mit der Entstehung von Sippen gleichsam automatisch die noch in der Hausgemeinschaft bewährte Ordnung verloren gegangen wäre. Zunächst wurde einfach nur der Kreis der Beteiligten – und somit der durch Konflikte unmittelbar Betroffenen – erweitert. Auch die Hausgemeinschaft konnte in Form latenter Mitspracherechte der Haussöhne schon einige genossenschaftliche Züge tragen. Diese traten im Zuge der Sippenbildung mehr und mehr in den Vordergrund. Die vertikale Struktur bei der Bewältigung von Missetaten blieb aber zunächst erhalten. Die Hausherren waren lediglich zum Zusammenwirken in einem Sippenrat gezwungen, durch den die Straf- und Züchtigungsbefugnis gegenüber Kindern und Ehefrauen beschränkt wurde.24 Ein neuer Rechtsverband war geboren. Aus nachbarlichen Solidaritätsgefühlen heraus war Verwandtschaft geschaffen worden.25 Es entstanden Siedlungs-, Wirtschafts- und Religionsgemeinschaften. Der Kreis der denkbaren Verletzten war nun größer und unübersichtlicher. Von einem höheren Rechtsverband hoheitlichen Charakters wird man aber noch nicht sprechen dürfen. Allerdings wurde die Festigkeit des auf reiner Abstammung beruhenden Zusammenhalts nachhaltig geschwächt.26 c) Kollektiver Ehrenschutz, Volksreligion und Rachebedürfnis Die existenzielle Abhängigkeit des Einzelnen von seinem Sippenverband ging mit einem starken Zugehörigkeitsempfinden einher. Dies erzeugte ein sehr emotional geprägtes Miteinander. Das Sippenheil forderte nicht allein die Wahrung des ökonomischen Gleichgewichts. Daneben war die stete Aufrechterhaltung der Sippenehre von höchster Priorität.27 Es gab keine über den eigenen Sozialverband hinausgehenden Werte, die hätten beachtet werden müssen. Also war es selbstverständlich, auf externe Eingriffe in einer Weise zu reagieren, die Bedeutung, Geltungsrang und Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Sippe dokumentierte. Missetaten von außen galt es zu rächen. Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 39. Ogris, HRG I – Hausgemeinschaft, Sp. 2025, bei missbräuchlicher Ausübung der eheherrlichen Gewalt schritt die Verwandtschaft der Ehefrau sogar zu Fehde. Dazu Schwab, HRG I – Familie, Sp. 1068. 25 Stradal, HRG I – Genossenschaft, Sp. 1523. 26 Mit der fortschreitenden Exogamie der Segmente entstand schließlich die sog. wechselnde Sippe. Jede Eheschließung begründete einen neuen Sippenkreis. Dies trug später zur Auflösung der Sippenverbände bei. Näher Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 24. 27 Auch Weigend, Deliktsopfer, S. 31. 23 24

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Fehde nicht als integrierter Bestandteil des germanischen Rechtsganges aufgefasst werden sollte. Ihrem Ursprung nach ist sie eher mit einer kriegerischen Auseinandersetzung zweier voneinander unabhängiger Souveräne vergleichbar. Sucht man dennoch nach einem die unterschiedlichen Sippen verbindenden Element, so kann es allenfalls im Dämonenglauben gefunden werden. Kultstätten wurden von allen genutzt. Die Kräfte der Natur galten als beseelt und als beherrschbar durch Zauber. Die Germanen glaubten etwa, der Getötete könne als Dämon weiterleben und als Wiedergänger zurückkehren. Die Angst vor der Rückkehr des Toten bewegte die betroffene Sippe denn auch zur Fehde. Die Toten selbst forderten Rache und galten als fähig, den Mörder eigenhändig zu überführen.28 Würde man somit den Dämonenglauben als allgemein anerkannten, übergeordneten Wert identifizieren, so führt dies gerade nicht zur Keimzelle eines gemeinschaftlichen Denkens, sondern – im Gegenteil – zur nachhaltigen Unterstreichung des Stellenwertes der einzelnen Sippe.

d) Von der Fehde zum Sühnevertrag Umso bemerkenswerter ist es, dass sich bald der Sühnevertrag29 als Alternative zur Fehde etablierte. Der Grund hierfür liegt in der raschen Wandlung der sozialen Rahmenbedingungen. Aus der festen, auf Abstammung beruhenden (sog. geschlossenen) Sippe war die wechselnde (sog. offene) Sippe geworden. Der Kreis der durch Heirat fehde- und unterstützungspflichtigen Verwandten war nun größer denn je. Die ökonomischen Zwänge waren dadurch mitnichten behoben. Die offene Austragung der Fehde konnte die aus der Missetat resultierenden Schwierigkeiten jedoch weiter intensivieren. Die Fehde war an keinerlei Form gebunden. Das „Recht“ zur Rache erstreckte sich auf die gesamte Sippe des Täters. Da auf Opfer- wie auf Täterseite alle Mitglieder des jeweiligen Sozialverbandes in der Pflicht standen, war gelegentlich eine erhebliche Reduzierung der Anzahl der Sippengenossen zu befürchten. Dies aber hätte die beschriebenen wirtschaftlichen Krisensituationen zur Folge gehabt. Existenzielle Not war ausreichende Veranlassung, neue Wege der Konfliktbewältigung zu entwickeln. Die Kränkung des Ehrgefühls trat demgegenüber in den Hintergrund. Freilich wurde die Bedeutung der Großfamilie als Sozialverband hierdurch weiter geschwächt.30 Die rapide Vergrößerung der Sippenstärken führte zu einer Lo28 29 30

Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 22. Dazu Eb. Schmidt, Einführung, S. 22. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 24.

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ckerung der persönlichen Bindungen. Überdies ermöglichten Eheschließungen einen besseren Kontakt unter den Sippen und ihren Mitgliedern. Die intensivere Kommunikation und die weitere Diversifikation der Arbeitsteilung ließen nunmehr auch überfamiliäre Institutionen als sinnvoll erscheinen.31 Für Streitigkeiten wurde ein Schlichtungsorgan geschaffen, als das die Volksversammlung, der so. Thing, agierte. Freilich handelte der Thing nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Es gab keinen Gehorsamsanspruch der höheren Gemeinschaft. Allerdings stand nunmehr ein Schiedsrichter zur Verfügung,32 der auf Initiative des Verletzten oder dessen Sippe hin angerufen werden konnte. Es bestand endlich die Möglichkeit, sich an ein Gericht zu wenden. Bald fand das Instrument des Sühnevertrages Eingang in die vor dem Thing ausgetragenen Verhandlungen. Unter neutraler, schlichtender Aufsicht konnte auf eine Einigung hingewirkt werden. Die Anrufung der Volksversammlung war der Fehde nicht zuletzt deshalb vorzuziehen, weil die Kräfte der eigenen Sippe im Verhältnis zu der des Verletzers eine gewaltsame Auseinandersetzung oft nicht ratsam erscheinen ließen.33 In diesem Falle agierte das Volksgericht nicht allein als Schlichter. Es bot eine gewisse Gewähr dafür, auch unter ungleichen Gegnern Waffengleichheit zu erreichen. aa) Rechtsgang vor der Volksversammlung Beide Parteien unterlagen den Formen des Rechtsganges gleichermaßen. Ein Beweisverfahren über die materielle Richtigkeit der vom Verletzer vorgetragenen Tatsachen fand aber nicht statt. Das Volksgericht unternahm nichts, den Sachverhalt aufzuklären oder den Tathergang zu rekonstruieren. Der Thing war lediglich das Forum, innerhalb dessen die Beteiligten Gelegenheit bekommen sollten, sich ohne kämpferische Auseinandersetzung auszusöhnen. Die Verfahrensherrschaft blieb bei den Parteien. Das Gericht bot in jedweder Hinsicht Gelegenheit zu Vereinbarungen.34 Der Prozess selbst unterlag der Formenstrenge. Der Verletzte brachte als Kläger den Gegner mittels rechtsförmlich erfolgter Ladung vor Gericht. Der Beklagte konnte sich dieser nur um den Preis der Friedloslegung entziehen. Es gab also bereits prozessuale Ungehorsamsfolgen.35 Die Friedlosigkeit und die in ihr liegende Ächtung durch die Gemeinschaft ließ den Stamm für den unfolgsamen Beklagten zur Gefahr werden.36 Dem Thing verschaffte das Autorität. 31 32 33 34 35

Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 37. Weigend, Deliktsopfer, S. 29. Weigend, Deliktsopfer, S. 31. Eb. Schmidt, Einführung, S. 38. Eb. Schmidt, Einführung, S. 39.

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

Andererseits lag in der Androhung einer Sanktion eine Sympathiebekundung zu Gunsten des klagenden Verletzten und des als berechtigt empfundenen Anliegens, sich gütlich zu einigen. Mit der stetig zunehmenden Exogamie und der Entwicklung hin zur wechselnden Sippe ging die Gefahr einher, selbst unverhofft in die Fehden rivalisierender Sippen hineingezogen zu werden.37 Dieser Befürchtung konnten die Mitglieder der Volksversammlung am besten dadurch vorbeugen, dass sie das Zustandekommen des Sühnevertrages sicherstellten. Damit aber war es nicht mehr nur ein Interesse des Verletzten, welches mit Hilfe des Things verwirklicht werden sollte. bb) Klageerhebung und Verhandlungsriten Die Klageerhebung erfolgte mündlich vor Gericht. War ein Tötungsdelikt Verhandlungsgegenstand, so galt der Tote selbst als Kläger. Er wurde durch seine Sippengenossen vertreten.38 Das kultisch strenge Verfahren forderte dem Beklagten ab, auf die Klage zu antworten.39 Es war ihm anheimgestellt, entweder die Berechtigung der Klage einzuräumen oder diese Wort für Wort zu verneinen. War der Beklagte geständig, so erging ohne weiteres ein Endurteil. Stritt der Beklagte den Vorwurf jedoch ab, so entschied das dennoch sofort ergehende Urteil einerseits über den zu erbringenden Beweis und andererseits darüber, was der Beklagte im Falle des Misslingens des Beweises zu leisten habe. Mit Erlass dieses sog. zweizüngigen Urteils endete die Tätigkeit des Gerichts. Der Beweis selbst war außergerichtlich zu erbringen.40 Die Beweisführung war damit eine Angelegenheit des Beklagten. Für ihn bestand die Möglichkeit, sich vom Klagevorwurf zu reinigen. Das Ziel bestand freilich nicht darin, die Wahrheit einzelner Behauptungen zu erhärten oder zu widerlegen. Vielmehr sollte die durch die Klage gekränkte Ehre des Beklagten wiederhergestellt werden. Das primäre Mittel der Reinigung war der Eid. Sein Zweck bestand nicht etwa in einer Anrufung Gottes, sondern er enthielt eine bedingte Selbstverfluchung. Der Beklagte setzte sich und seine Habe für die Wahrheit des Beweises ein. Für den Fall des Meineides sollten den Beklagten Naturgewalten oder eine durch Be36 Die Friedlosigkeit erforderte ein positives Einschreiten der Gemeinschaft gegen den Einzelnen. Es wurde also nicht lediglich der Schutz der Gemeinschaft entzogen, sondern die Existenz als Person. Die Beziehungen zu Volk und Sippe erloschen. Jeder Rechtsgenosse war verpflichtet, den Friedlosen zu vernichten, wo und sobald es möglich war. Näher Eb. Schmidt, Einführung, S. 30. 37 Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass alle freien und waffenfähigen Männer Mitglieder des Things waren. Dazu Hoke, Rechtsgeschichte, S. 4. 38 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45. 39 Eb. Schmidt, Einführung, S. 46. 40 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 46.

I. Germanisches Rechtsdenken

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rührung zauberisch geladene Waffe vernichten. Der Eid wurde vom Kläger „gestabt“. Die Form des Rituals war auch hier streng vorgeschrieben. Zeugen wurden nicht gehört. Die Sippengenossen des Beklagten wurden zu Eidhelfern ernannt. Sie setzten sich für die Gesamtpersönlichkeit des Beklagten ein und beschworen, der Eid sei „rein und nicht mein“. cc) Erfolgsaussichten des Verletzten Aus Vorstehendem könnte man schließen, dass das Verfahren wenig attraktiv für den Verletzten gewesen sei. Bei vordergründiger Betrachtung musste es dem Beklagten nur gelingen, ausreichend viele Eideshelfer zu finden. Tatsächlich wird behauptet, das Verteidigungsmittel des Reinigungseides sei allzu leicht durchzuführen gewesen. Daher müsse es zwangsläufig zu Freisprüchen am laufenden Band gekommen sein.41 Die Aussicht auf eine Sühneleistung wäre also regelmäßig enttäuscht worden. Wenn die erwarteten Sühneleistungen im Zuge der durchgeführten Verfahren wirklich ständig ausgeblieben wären, dann hätte dies zu einem Verlust an Autorität und Beliebtheit der Volksgerichte führen müssen. Hätte sich das Verhandeln im Thing als gänzlich unattraktiv herausgestellt, so würde sich das förmliche Prozedieren als lediglich zwischenzeitliche „Modeerscheinung“ darstellen, die bald in Vergessenheit hätte geraten müssen. Das war indessen nicht der Fall. Das genaue Gegenteil ist eingetreten. Die rechtsförmlich-rituellen Instrumente der Konfliktbewältigung wurden erweitert und ausgebaut. Nicht selten wurde der Weg vor das Volksgericht deshalb gewählt, weil Fehden ein Ende bereitet werden sollte. Es wird vor Gericht also eher selten noch streitige Vorwürfe gegeben haben.42 Mehr noch: Die meisten vertraglichen, auf eine Sühneleistung abzielenden Abmachungen wurden im außergerichtlichen Verfahren getroffen und gewissermaßen in die gerichtliche Auseinandersetzung hineingetragen. Die gerichtlichen Bußsätze sind aus den von Fehdegängern getroffenen Friedensvereinbarungen hervorgegangen.43 Es ist also nicht richtig, wenn angenommen wird, der Gang vor das Volksgericht sei für den Verletzten meist ohne Ertrag geblieben. Beachtung verdient weiterhin, dass auch das Beweisverfahren Bestandteil des Sühneverfahrens war und ebenso gut außergerichtlich hätte vereinbart werden können.44 In diesem Zusammenhang darf das rituelle Moment der Beweisaufnahme nicht unterschätzt werden. Das Recht wurde letztlich aus dem Unterbewusstsein So Weigend, Deliktsopfer, S. 34. Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179 ff., 186, 190 f. 43 Eb. Schmidt, Einführung, S. 37. 44 Beweisverträge wurden de facto auch und gerade außergerichtlich geschlossen, Eb. Schmidt, Einführung, S. 39. 41 42

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geschöpft. Es wurde als objektive Wahrheit begriffen, die man nur finden musste. Entscheidungen waren demnach nicht das Ergebnis irgendeiner Rechtsanwendung, sondern Produkt eines allgemein verbindlichen Erkenntnisprozesses.45 Das Los war Mittel der Rechtsfindung, die Eidesleistung zauberische Handlung. Der Dämonenglaube entfaltete in jeder Phase der Konfliktbewältigung seine Wirkung. Die Beweismittel wurden von sakralen Vorstellungen also nicht nur begleitet, sondern beherrscht.46 Der Beklagte setzte durch Eid seine primäre Lebens- und Friedensgemeinschaft aufs Spiel. Es bot die Gewähr der Richtigkeit, wenn der Beklagte bereit war, sich und seine Sippe sowie deren Güter zu verfluchen. Der Schicksalsglaube und die Furcht vor – den Menschen richtende – Dämonen zwangen mithin auch den vermeintlich übermächtigen Gegner zum Einlenken und zum Verzicht auf einen nur fingierten Reinigungseid. Falsches Reinigen war mit dem Mythos verbunden, von den Göttern gerichtet zu werden. Es bedurfte folglich keines obrigkeitlichen Verbandes, um den Respekt vor hoheitlicher Gewalt im Denken der konfligierenden Parteien zu etablieren.47 dd) Ziel des Verfahrens: Wiedergutmachung Das Verfahren verfolgte das Ziel der Aussöhnung im Sinne vollständiger Wiedergutmachung. Das wird auch anhand der zu leistenden Bußen offenbar: Tacitus48 schildert, dass der Missetäter dem Geschädigten Pferde und Rinder zukommen lassen musste. Das Zahlungsmittel „Vieh“ war alternativlos. Die Germanen hatten kein Geld. Gelegentlich kam es zur Umsippung des Täters.49 Pferde und Rinder konnten im Ackerbau den Verlust einer Arbeitskraft wenigstens bedingt ausgleichen. Der Zweck der Umsippung liegt darüber hinaus im vollständigen Ersatz für erlittene Einbußen.50 Die Wiedergutmachung vollzog sich damit aber nicht gegenüber dem betroffenen Einzelnen, sondern gegenüber seinem Sippenverband. Im Gegenzug verzichtete dieser darauf, die Fehde zu betreiben. Wiedergutmachung bedeutete also schlicht Ausgleich für erlittene Nachteile; eine Leistung des Missetäters an den Verletzten bzw. an dessen Sippe.51 Die Buße ist daher mit dem zivilrechtlichen Schadensersatz am ehesten vergleichbar.52 Der Eb. Schmidt, Einführung, S. 39. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 21. Daher bestand auch das Bedürfnis, Recht hörbar oder sichtbar zu machen. Man verwendete symbolische Gegenstände (z. B. Stab des Richters oder das Werfen des Fehdehandschuhs). 47 Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 186, 191 f. 48 Tacitus, Germania 12.1. 49 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 40. 50 Daher auch die Übersetzung der Buße als satisfactio im Lateinischen, E. Kaufmann, HRG I – Buße, Sp. 575 ff. 51 E. Kaufmann, HRG I – Buße, Sp. 575. 45 46

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Geschädigte verzichtete auf die Fehde und akzeptierte einen materiellen Gegenwert als Ausgleich für die erlittene Kränkung.53 Das verträgt sich mit der Etymologie des Wortes „Vergeltung“: Die Vokabel ist germanischen Ursprungs, wobei sich ihre Bedeutung vom heutigen Verständnis unterschied. Das altdeutsche „frageldan“ bzw. das althochdeutsche „forgeltan“ ist mit „zurückzahlen“ oder „erstatten“ zu übersetzen.54 Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass im Frühstadium des kulturellen Lebens nach juristischen, ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten nicht unterschieden worden sei.55 Denn es ist nicht zu erklären, weshalb die fehlende Differenzierung nach gesellschaftlichen Kategorien mit einem Wandel des Wortverständnisses einhergehen sollte. Es wird vielmehr bestätigt, was schon festgestellt wurde: Im Mittelpunkt des Interesses stand das Sippenheil. Es galt, die eigene Existenz zu sichern. Auch das Vorhandensein der Volksversammlung enthob die Sippe nicht ad hoc ihrer Rolle als wichtigster Sozialverband. Ein Stamm hatte keine gemeinsame Identität, sondern war in erster Linie die Summe weitgehend autonomer Segmente. Rachegelüsten wurde kein Einhalt geboten, solange es die Rivalen nicht ausdrücklich verlangten. Wurde Aussöhnung gewünscht, so beschränkte sich die Tätigkeit des Things auf die Schaffung einer Verhandlungsatmosphäre. Nicht zu unterschätzen ist, dass auf eine gütliche Einigung mit Hilfe prozessualer Ungehorsamsfolgen hingewirkt wurde. Jedoch wurde die Wiedergutmachung schlussendlich weder oktroyiert noch verordnet. Sie stellte eine freiwillige Leistung dar und wurde im eigenen Interesse für notwendig befunden. Sie war ein Produkt der Vernunft und ein Resultat der Angst vor weiteren Verlusten. Mit strafrechtlichen Sanktionen modernen Verständnisses hat das nichts zu tun. ee) Handhaftverfahren Einen besonderen Typus des germanischen Rechtsganges stellte die Reaktion auf die sog. handhafte Tat dar. Als Handhafttäter galt, wer unmittelbar nach Begehung der Tat vom Verletzten bzw. von herbeigeeilten Verfolgern ergriffen werden konnte. Die Spuren der Tat mussten also noch an den Händen des Übeltäters haften.56 Dem Verletzten selbst aber auch jedem anderen hinzukommenden Dritten stand in diesem Fall das uneingeschränkte Recht zu, den Handhafttäter sofort zu töten. Die heutigen Erlaubnissätze der Notwehr bzw. Nothilfe enthalten nur noch den Kern eines damals erheblich breiteren Instituts der Rechtsverteidigung.57 52 53 54 55 56 57

Die Trennung von Straf- und Zivilrecht war freilich nicht durchgeführt. E. Kaufmann, HRG I – Buße, Sp. 576. Dazu P. Hoffmann, Vergeltung, S. 4. So aber Bianchi, Ethik des Strafens (1966), 8.62. Werkmüller, HRG I – Handhafte Tat, Sp. 1965, 1966 f. Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179, 190 f.

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Die Besonderheit liegt allerdings weniger in der zuweilen archaischen Härte der eingeräumten Rechtsmacht als vielmehr darin, dass das Tötungsrecht ohne Rücksicht auf die Sippenzugehörigkeit des von ihm Gebrauch Machenden bestand. Damit aber stellte sich das Handhaftverfahren als geradezu exotisch für das System des germanischen Rechtsganges dar. Klärungsbedürftig ist vor allem, weshalb die Verletzteneigenschaft ausnahmsweise nicht den alleinigen für den Rechtsgang erforderlichen Ausgangspunkt bildete.58 Welches Interesse konnte Dritte dazu veranlassen, Anstrengungen für jemanden zu unternehmen, der nicht zum eigenen Sippenkreis zählte? Nach älterer Lehre war das Tötungsrecht Ausfluss der Friedlosigkeit, wobei es einer gesonderten Friedloslegung nicht mehr bedurfte.59 Zweifelhaft ist diese Interpretation deshalb, weil die Friedlosigkeit eigentlich Folge vorhergegangenen Ungehorsams gegenüber Gericht oder Urteil war. Für eine irgendwie geartete antizipierte Friedlosigkeit gibt es keinen Beleg.60 Das Ergreifen des Täters auf frischer Tat brachte lediglich Beweiserleichterungen für den Verletzten oder dessen Sippe in einem sich anschließenden Gerichtsverfahren mit sich.61 Insofern handelte es sich auch hierbei um eine Form geduldeter Rache, wobei diese entweder durch den Verletzten oder durch die Stammesgemeinschaft ausgeübt werden durfte. Gerade der letzte Aspekt aber verdient Hervorhebung. Das Ertappen des Täters wurde auf das sog. Gerüfte des Verletzten, eines Sippengenossen oder jedes zufällig anwesenden Dritten hin offenkundig. Das Gerüfte war ein Hilferuf oder Klageschrei, mit dessen Hilfe der Rufende Nachbarn bzw. sich gerade in der Nähe befindende Personen zum Herbeieilen aufforderte, gemeinschaftlich drohende Gefahren abzuwenden oder rasch möglichst viele Stammesgenossen davon zu überzeugen, dass die schon vorgenommene Tötung aus Anlass einer Notwehrsituation vorgenommen worden sei.62 Insofern diente das Gerüfte der Verklarung, d. h. der Pflicht, die handhafte Tat nach außen zu dokumentieren. Sodann wurden die Leiche des Erschlagenen sowie alle Spuren der handhaften Tat dem Volksgericht vorgelegt. In der nun stattfindenden „Klage gegen den toten Mann“ wurde von den durch das Gerüfte herbeigeeilten Personen beschworen, dass der Getötete der eigentliche Aggressor gewesen sei.63 Sie leisteten darauf einen Eid. Anders als beim Reinigungseid bezog sich dieser aber weniger auf die Ehrenhaftigkeit des Klägers. Im Vordergrund stand die Wahrheit des gegen den 58 Wichtig scheint der rechtshistorische Befund zu sein, dass unter den Germanen heimliche Begehungsweisen für schandbarer gehalten wurden als offenkundige, Rüping / Jerouschek, S. 4. 59 Nur Brunner, Rechtsgeschichte II 482, Abspaltungen 62. 60 Werkmüller, HRG I – Handhafte Tat, Sp. 1965, 1966 f. 61 Werkmüller, HRG I – Handhafte Tat, Sp. 1965, 1967 f. 62 Buchda, HRG I – Gerüfte, Sp. 1584. 63 Eb. Schmidt, Einführung, S. 40.

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Toten erhobenen Vorwurfs. Die Eideshelfer des Klägers waren damit in die Rolle von Tatzeugen gebracht: Nicht im Sinne echter Wahrnehmungszeugen, wohl aber in dem Sinne, dass sich die Beobachtung auf höchst belastende und den Verdacht erhärtende Umstände bezog.64 Sie bestätigten durch Eid den durch den Kläger geschilderten Sachverhalt und halfen so, den Missetäter zu überführen.65 Umgekehrt war den Verwandten des Beklagten der Reinigungseid verwehrt. Der Augenschein der handhaften Tat und der hier zulässige Voreid des Klägers genügten als ausreichende Bestätigung für dessen Angaben.66 Wurde diesen Erfordernissen genügt und das Handhaftverfahren somit ordnungsgemäß und für den Kläger erfolgreich durchgeführt, so blieb die im Zuge der handhaften Tat vorgenommene Tötung bußlos. Die Sippe des Handhafttäters durfte nicht zur Fehde schreiten. Die Wahrheit des Vorwurfs entzog der Durchführung der Fehde jegliche Legitimation. Die Ausübung von Rache wäre unzulässig gewesen. Die Wahrheit verschaffte dem Verletzten und seiner Sippe eine günstige Stellung vor Gericht und verschonte vor den Risiken, die mit der Fehde gewöhnlich verbunden waren. Lohnenswert erscheint ferner ein intensiverer Blick auf das zur Verklarung der handhaften Tat vorgenommene Gerüfte an sich. Gegenstand des Gerüftes konnten neben der Ergreifung oder Ausschaltung eines Missetäters auch ein Deichbruch, ein Brand oder von wilden Tieren ausgehende Gefahren sein.67 In Bezug auf Verbrechen ist strittig, inwiefern eine Verpflichtung zur sofortigen Tötung des Täters bestand.68 Dies braucht hier nicht vertieft zu werden. Es steht jedoch fest, dass es zumindest eine Pflicht gab, dem Gerüfte zu folgen. Sie war Teil der Dingpflicht und unterlag mithin einem großen Personenkreis. Daraus aber ist zu schließen, dass die handhafte Tat als alle angehend begriffen wurde. Dies wird dadurch gestützt, dass das Gerüfte außer bei Verbrechen quasi ausnahmslos in Fällen gemeiner Gefahr üblich war. Mit dem Gerüfte war der Gedanke verbunden, dass jeder hätte in einen bestimmten Gefahrenbereich gezogen werden können. Anstelle des konkret Geschädigten hätte auch jeder andere betroffen sein können. War eine Missetat Auslöser des Gerüftes, so stellte sich der mit ihr verbundene Angriff nicht als Attacke gegen eine ganz bestimmte Person oder deren Sippe dar, sondern als unehrenhafte Eigenmächtigkeit, die es zurückzuweisen galt. Niemand sollte unverdient Vorteile in Anspruch nehmen dürfen. Die handhafte Tat lässt erkennen, dass die Zufügung von Übel auch zur germanischen Zeit eine Dimension annehmen konnte, die über die inter-segmentären Beziehungen hinausging. Missetaten waren nicht ausschließlich der Willkür rivalisierender Sippen anheimgestellt. Es gab Konstellationen, in denen die Tat an 64 65 66 67 68

Eb. Schmidt, Einführung, S. 81 ff. Eb. Schmidt, Einführung, S. 40. So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 36. Buchda, HRG I – Gerüfte, Sp. 1584. Dazu His, Geschichte, S. 51.

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sich Auslöser für das regulierende bzw. unterbindende Einschreiten durch Dritte war.

2. Spätphase a) Von der kollektiven Ehre der Sippe zur kollektiven Sicherheit des Stammes aa) Königtum und Heerbann – Vom Sippen- zum Königsheil Obrigkeitliche Gebilde, die die Macht zentralisieren und auf die Einhaltung allgemeingültiger Normen bestehen, gibt es erst in komplexeren, umfassend verzahnten Gesellschaften mit überfamiliärer Arbeitsteilung.69 Auf vorstaatlicher Ebene, die durch eine wirtschaftliche und soziale Autonomie der einzelnen Familie gekennzeichnet war, bedurfte es derartiger Institutionen nicht. Erst Interdependenzen höheren Ausmaßes machten eine übergreifende und dauerhafte Führung notwendig. Je mehr die Bedeutung der Großfamilie als Sozialverband zurückgedrängt wurde, desto mehr ergab sich die Notwendigkeit überfamiliärer Herrschaftsformen. Die zunehmende Atomisierung der gesellschaftlichen Struktur stellte die hergebrachte Auffassung vom familiären Ehrenschutz in Frage. Dies führte nicht zur resoluten Abschaffung der Fehde. Jedoch konnte sich ihre Durchführung nachhaltig auf das Wohl des gesamten Stammes niederschlagen. Die Entwicklung hin zur wechselnden Sippe hatte den Anhang der jeweiligen Täter und Verletzten gefährlich anschwellen lassen. Größe und Unübersichtlichkeit der beteiligten Sippen waren in der Lage, die Fehde in bürgerkriegsähnliche Zustände zu versetzen. Das machte neue Konfliktlösungsmechanismen erforderlich und erklärt, warum sich das Streben nach einer Eindämmung privater Selbsthilfe wie ein roter Faden durch die meisten germanischen Stammesrechte zieht.70 Als Alternative zur blutigen Fehde stand der friedliche Ausgleich durch Zahlung einer Buße zur Verfügung.71 Missetaten wirkten mithin vielfach über die Lebenskreise der an ihnen unmittelbar Beteiligten hinaus. Es war nicht in Kauf zu nehmen, dass mitunter beträchtliche Teile des gesamten Stammes in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt wurden. Die Relevanz der Volksversammlung wuchs. Zusätzlich begünstigt wurde die Entwicklung durch die Unwägbarkeiten der Völkerwanderungszeit72, welche auf die Struktur des Gerichtswesens einen ganz 69 70 71

Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 39. Kroeschell, Rechtsgeschichte I, S. 39. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 24.

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eigenen Einfluss haben sollte. Der Gesichtspunkt der Führung im Krieg wurde nun wichtiger.73 Im Rahmen von Beute- und Eroberungszügen war die Einheitlichkeit des Auftretens aller Stammesgenossen unbedingt erforderlich.74 Die äußere Gefahrenabwehr75 forcierte die Herausbildung einer neuen internen Ordnung. Das gemeinsame Schicksal erforderte Solidarität, gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, sich im übergeordneten Interesse des Überlebens gewissen Zielen der Gemeinschaft zu unterstellen.76 Kephale Herrschaftsformen versprachen dies am ehesten zu gewährleisten. Allmählich bildete sich das Königtum heraus. Vom Stammesherren wurde eine Führung im Sinne des Ganzen, d. h. der Gesamtgemeinschaft erwartet. Der König musste gerecht regieren und darauf achten, dass das Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl erhalten und verstärkt wurde. Dabei bestand zwischen König und Volk ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Macht beruhte auf Volksrecht und auf dem Volkswillen.77 Zum Führer wurde gewählt, wer sich durch besondere Fähigkeiten, durch Tüchtigkeit, Weisheit und Stärke auszeichnete. Gelang es dem König, für Feldzüge und Eroberungen eine ihm hörige, eigene Armee aufzubauen, konnte er diese auch für die Durchsetzung seiner Befehle im Inneren verwenden und sich den Stamm untertänig machen.78 Die Gefolgschaft des Königs profilierte sich unter diesen Bedingungen als organische Einrichtung der germanischen Verfassung. Die Gefolgschaft bildete, ähnlich wie vorher die Sippe, eine Friedensgemeinschaft.79 Diese militärische Ausgangssituation wurde sodann der Keim, aus dem sich ein öffentliches Strafrecht entwickelte.80 Es war das Recht des Königs, das Heer einzuberufen, es zu befehligen und in ihm Frieden zu gebieten.81 Sollte die militärische Schlagfertigkeit dauerhaft gewährleistet und verlässlich sein, so musste auch 72 Die im Nord- und Ostseeraum sowie die im nördlichen Mitteleuropa angesiedelten Stämme begaben sich südwärts auf Wanderschaft. Auslöser dieses massenhaften Exodus war nicht zuletzt der Druck der um 375 n. Chr. aus dem Osten heranrückenden Hunnen. Dazu Rüping / Jerouschek, Grundriß, S. 2 f. 73 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 24 74 Die Kephalisierung war also das Ergebnis einer für nötig befundenen Hierarchisierung, Rüping / Jerouschek, Grundriß, S. 7 f. 75 Abwehr äußerer Gefahren meint freilich auch die Bewältigung von Naturkatastrophen, Ernteeinbrüchen etc. 76 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 48. 77 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 35. 78 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 38. 79 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 35. 80 Wesel, Geschichte, S. 272; Hoke, Rechtsgeschichte, S. 28. 81 Hoke, Rechtsgeschichte, S. 28.

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und vor allem der innere Friede des Heeres gewährleistet sein. Im Krieg musste Frieden herrschen!82 Mithin hatte auch die Sippenfehde im mobilen Heer zu ruhen.83 Im eigenen (existenziellen) Interesse des Stammes waren Heeresführung, politische Versammlung und Gerichtsversammlung nunmehr identisch. Bald erstreckte sich die königliche Banngewalt auf alle öffentlichen Bereiche.84 Missetaten schlugen sich nicht mehr allein auf das Wohl und Wehe des Verletzten und seiner Sippe nieder. Die Unrechtsfolgen und namentlich die Fehde konnten einen Riss in der Homogenität des Stammes verursachen. Die militärische Kampfeskraft wäre dadurch in Mitleidenschaft gezogen worden. Gelang es dem König in einer solchen Situation nicht, die Aussöhnung der Parteien zu erreichen, so stellte er damit seine eigene Legitimation in Frage. Der König war Symbol der Volkseinheit. Wurde diese beeinträchtigt, so verlor auch das Königsgeschlecht sein Heil.85 Es liegt in der Konsequenz, dass Missetaten nun nicht mehr nur Angriffe auf ein bestimmtes Individuum und dessen Sippschaft waren, sondern zugleich Auflehnungen gegen die Würde des Königs. bb) Bußensystem Die Herausbildung des Königtums zeitigte bald seine Wirkung im Bereich des Bußensystems. Ging die Sühneleistung ursprünglich vollständig an den Verletzten bzw. an dessen Sippe, so forderte nun auch die Beeinträchtigung der Königswürde Entschädigung. Tacitus berichtet, dass ein Teil der Buße der civitas anheimgefallen sei.86 Dieser Teil wird in Quellen fränkischer Zeit als fredus, Friedensgeld, bezeichnet. Das Friedensgeld ist in der rechtshistorischen Forschung häufig als Vermittlungsgebühr charakterisiert worden, die König und Gemeinschaft für die Garantie des Friedens beanspruchten.87 Im Vordergrund stand jedoch etwas anderes: Beim fredus ging es in erster Linie darum, einen Ausgleich für erlittene Einbußen zu schaffen. Das Friedensgeld wurde nur bei vorsätzlicher Tat erhoben, nicht hingegen bei absichtslosem Tun, dem sog. Ungefährwerk. Dies lässt die Interpretation zu, dass nur solche Verhaltensweisen als Auflehnung gegen die Würde des Königs begriffen wurden, die gewissermaßen sehenden Auges den Achtungsanspruch des Königs missachteten88 und gerade deshalb eine bewusste Störung 82 83 84 85 86 87 88

So zugespitzt formuliert von Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 36. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 36. Hoke, Rechtsgeschichte, S. 28. Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 35. Tacitus, Germania 12.1. So ausdrücklich Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44. In diesem Sinne auch E. Kaufmann, HRG I – Friedensgeld, Sp. 1296.

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des Friedens darstellten. Das Friedensgeld war somit keine bloße Vermittlungsgebühr. Es hätte sonst auch bei fahrlässigem Verhalten erhoben werden müssen. Hiervon jedoch sah man ab. Gleichwohl kam es zu einer gerichtlichen Klärung des betreffenden Sachverhalts. Durch Zahlung des Friedensgeldes konnte der Missetäter die Aussöhnung mit dem König wie auch mit dem Verletzten erreichen. Leistung an den König bedeutete gleichzeitig Leistung an die Allgemeinheit, denn nicht das Volk gehörte dem König, sondern der König gehörte dem Volk als sein höchstes Gut.89 Die Menschen glaubten, der König sei allen anderen aufgrund seiner schier übernatürlichen Kräfte überlegen, weshalb er die Fähigkeit aber auch die Legitimation habe, das Volk zu führen.90 Die königliche Legitimation wurde anlässlich der Bußenverhängung nachträglich wiederhergestellt bzw. untermauert, nachdem diese durch die Missetat beeinträchtigt worden war. Darüber hinaus erschien es ratsam, Störungen durch Missetaten überhaupt zu verhindern. Dies sicherte die Regentschaft des Königsgeschlechts dauerhaft und pro futuro. Für die Tötung eines Menschen wurden daher die Wergelder bald so sehr erhöht, dass zu ihrer Tilgung ganze Viehherden aufgebracht werden mussten.91 Die Buße bekam pönalen Charakter. Es blieb nicht beim einfachen Ausgleich für erlittene Einbußen. Sippen liefen Gefahr zu verarmen, wenn sich ein einzelner Sippengenosse zu einer Missetat hatte hinreißen lassen. Über Straftheorien oder -zwecke wurde freilich nicht reflektiert, wohl aber war ein Bewusstsein dafür entstanden, dass die Verhinderung zukünftig zu befürchtender Friedensstörungen eine wesentliche Rolle neben der Bewältigung bereits begangenen Unrechts würde einnehmen müssen. Sobald also eine bestimmte gesellschaftliche Organisationsform erreicht war, gewannen allgemeine Befriedungsbemühungen an Bedeutung. Es war die Aufgabe und lag im eigenen Interesse des Königs, Zurückhaltung einzufordern, die Kampfeslust zu dämpfen und die Einen gegen die Anderen zu schützen.92

b) Angriffe auf Gemeinschaftswerte als Keim eines öffentlichen Strafrechts Aufgrund militärischer Vorhaben und äußerer Zwänge war ein neuer übersegmentärer Gemeinschaftsgeist entstanden. Es waren nicht mehr nur persönliche Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 35. Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 36. 91 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 40. 92 Dazu auch Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 35 ff., 37 f., die ähnliche Entwicklungen in nahezu allen Kulturen festzustellen meinen und diese anschaulich darstellen. Erstaunlich sind insbesondere die Parallelen zur asiatischen Rechtsentwicklung. 89 90

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Bindungen, die den Bezugspunkt des täglichen Miteinanders bildeten. Gemeinsame, über den eigenen Familienkreis hinausreichende Wertvorstellungen nahmen einen viel höheren Rang als bisher ein. Nicht mehr nur der dem Sippenverband angehörige Einzelne, sondern auch die im Stamm konstituierte Allgemeinheit wurde für schutzwürdig befunden. Im neuen Geist entstanden nun erste allgemeine Straftatbestände, die ihren Ausgang ebenfalls im Militärischen hatten.93 Missetaten wie Überläuferei, Verrat und Feigheit im Kampf wurden geahndet.94 Ihr allgemeinschädlicher Charakter wurde anlässlich der Sanktionsverhängung nach außen kundbar gemacht: Verräter und Überläufer wurden an Bäumen aufgehängt. Bösartigkeit und Niedertracht sollten öffentlich angeprangert werden. Diese Form der Dokumentation des Unerwünschten mag Beleg der für die mit der Hinrichtung intendierten Botschaft sein, dass die Auflehnung gegen Interessen der Allgemeinheit sich nicht lohne und entsprechend verurteilt werde. Das Sichtbare sollte vor Nachahmung abschrecken. Gemeinsame Glaubensüberzeugungen wurden zu einem weiteren gemeinschaftskonstitutiven, integrativen Element: Von allen genutzte Kultstätten und heilige Bezirke wurden für allgemein schutzwürdig befunden. Der Kult forderte eine Reaktion auf Sakraldelikte wie Tempel- und Grabschändung.95 Religiöse Überzeugungen brachten schließlich auch gemeinsame Moralvorstellungen zum Vorschein, die sich in Bestrafungsakten widerspiegelten. Sexualtäter etwa wurden im Moor versenkt.96 Die Allgemeinheit sollte so vor ihnen geschützt werden. Über den Toten ausgebreitetes Flickwerk sollte seine Rückkehr als Wiedergänger verhindern. Das passt zu der rechtsethnologischen Beobachtung, dass Verhaltensregulierung im Bereich der Sexualität zu den gemeinschaftlichen Identifikationsmerkmalen einer Ethnie gehören kann.97 Die aus militärischen Erwägungen und gemeinsamen Glaubensvorstellungen resultierenden Regulierungsbemühungen bewirkten eine weitergehende Begrenzung der Fehde. Es wurde allgemein verboten, was sich als gemeinschaftsschädlich im aufgezeigten Sinne darstellte.98 Die Reaktion auf Missetaten vollzog sich spiegelbildlich zum als verletzt identifizierten Interesse. Die Beeinträchtigung von Gemeinschaftsgütern bzw. gemeinsamer Werte zog auch eine kollektive, gemeinschaftliche Reaktion nach sich. Der die Allgemeinheit schädigende Übeltäter wurde aus dieser entfernt; sei es aus 93 94 95 96 97 98

Wesel, Geschichte, S. 270. Tacitus, Germania 12.1. Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179, 183 f. Tacitus, Germania 12.1. Steinmetz, Studien II, S. 325. Holzhauer, E. Kaufmann-FS, S. 179, 183 f.

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Motiven der Abschreckung oder sei es aus der Erwägung heraus, dass der Täter Schande auf sich geladen habe und daher gesellschaftlich isoliert werden müsse. Bemerkenswert ist die königliche Ordnung deshalb, weil die Sippenzugehörigkeit des Täters ohne Belang war. Nicht die Sippe, nicht die Familie des Täters hatte Schuld auf sich geladen, sondern das Individuum. Im Bereich der Auflehnung gegen König und Gemeinschaft gab es keine kollektive Verantwortlichkeit. Hierin liegt der deutlichste Unterschied zu den archaischen Formen privater Selbsthilfe. Nicht Demütigung war das primäre Ziel, sondern Verhaltensregulierung, um die Legitimität des Königs zu festigen. Damit aber gelangte der Gedanke der sozialen Kontrolle ins Zentrum des neuen Ordnungsgefüges.

3. Schlussfolgerungen Es ist folglich nicht richtig, dass die Fehde die Gepflogenheiten des germanischen Rechtsgangs in besonderem Maße illustrieren würde. Sie war nicht Bestandteil der Konfliktbewältigung unter Gleichen, sondern entspricht ihren Wesenszügen nach eher einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei autonomen Souveränen. Anfangs bildete die in der Hausgemeinschaft vereinte Großfamilie den eigentlichen und singulären Bezugspunkt des Einzelnen. Ihr kam neben einer umfassenden wirtschaftlichen Autarkie auch eine weitgehende rechtliche Autonomie zu. Allein innerhalb der autarken Großfamilie, die für Existenz und Wohlergehen ihrer Mitglieder verantwortlich war, fand eine an endgültiger Befriedung orientierte Konfliktbewältigung unter gleichwertigen Personen statt. Wo unter den Mitgliedern eines Sozialverbandes eine ausgeprägte Interdependenz hinsichtlich Arbeit, Versorgung und Erziehung bestand, dort nahmen Kategorien wie Rache und Demütigung eine allenfalls randständige Rolle ein. Nicht Individualinteressen, sondern das Wohl aller sowie die Aufrechterhaltung des existenziellen Gleichgewichts bildeten die Ziele der Streitbeilegung. An derartigen wechselseitigen Abhängigkeiten, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl hätten erzeugen können, fehlte es auf übersegmentärer Ebene zunächst völlig. Erst mit der zunehmenden Atomisierung der Gesellschaft, der Herausbildung der wechselnden Sippen und der stetig wachsenden Anzahl von Eheschließungen entstand ein über die natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen hinausgehendes Miteinander. Das Einsetzen dieser Entwicklung markierte zugleich den Anfangspunkt für Bemühungen, die Fehde als Mittel der Streitaustragung zurückzudrängen. Für die Etablierung eines wirklichen obrigkeitlichen Verbandes mit Gehorsamsanspruch sind vor allen anderen zwei signifikante Faktoren von höchster Relevanz: Glaube und Krieg. Das Interesse an der Wahrung der internen Ordnung im Militär

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ist die eigentliche Keimzelle eines öffentlichen Strafrechts. Der gemeinsame Schicksalsglaube förderte diese Genese seiner eigenen Art nach und lud die ersten sanktionierten Tatbestände moralisch und religiös auf. Zugleich wird deutlich, dass der Verletzte seinen zentralen Posten bei der Konfliktbewältigung verlor, als das Phänomen Strafrecht als Instrument der Erhaltung des inner-sozialen Friedens erkannt wurde. Das Ansinnen der gesellschaftlichen Kontrolle steht mit dem Verdrängen des Verletzten aus dem strafrechtlichen Denken also in unmittelbarem Zusammenhang, Das aber heißt nicht weniger, als dass der Verletzte noch nie und zu keinem Zeitpunkt den zentralen Bezugspunkt eines öffentlichen Strafrechts einnahm. Strafrecht war demnach schon immer an der Mehrung des Allgemeinwohls ausgerichtet. Individuellen Bedürfnissen wurde abseits der Fehde und des Sühnevertrages jedenfalls nicht Rechnung getragen. Wo Sanktionen angeordnet oder ausgesprochen wurden, dort geschah dies aus überindividuellen Erwägungen heraus.

II. Rechtsentwicklung im Mittelalter Mit der Etablierung des Königtums waren die Türen für neues Gedankengut und zweckdienlichere Formen der Gerichtsbarkeit aufgestoßen. Die Entwicklung des Rechtswesens stand ganz im Zeichen der Straffung der königlichen Gewalt.99 Sollte sie sich als legitimes und anerkanntes Herrschaftsinstrument manifestieren, so konnte sie vor Missetaten nicht gleichgültig die Augen verschließen und Konflikte auf sich beruhen lassen.100 Einem öffentlich-rechtlichen Verständnis des Strafrechts bzw. des Strafens kam dies zugute; auch wenn sich die hergebrachte germanische Rechtstradition freilich nicht einfach wegwischen ließ. Bemerkenswert ist die einflussreichere Rolle der Gerichte, welche etwa darin sichtbar wurde, dass die mannitio, d. h. die Ladung des Beklagten durch den Kläger in einem außergerichtlichen Formalakt, durch die bannitio, d. h. durch die amtliche Ladung seitens des Gerichts, verdrängt wurde. Gleiches galt in Bezug auf die Bestellung der Eideshelfer und – soweit solche für das Verfahren vorgesehen waren – die Zeugen.101 Eb. Schmidt, Einführung, S. 41. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 28. Die staatliche Autorität begann, sich über den Einzelwillen zu erheben. 101 Das Zeugnis über Wahrnehmungen zum Tatvorgang bekam einen gewissen Anwendungsbereich. Allerdings war die Zeugenfähigkeit eng begrenzt, da die Glaubwürdigkeit von Zeugen unbedingt gewährleistet werden sollte. Vermögensbesitz und guter Leumund bildeten dabei wichtige Gesichtspunkte, Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 29; vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung, S. 41. 99

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Der Prozess selbst wurde zwar keiner grundlegenden Neuerung unterzogen, jedoch antwortete der Beschuldigte nunmehr auf Befehl des Richters, nachdem der Kläger seinen Vorwurf erhoben hatte. Auch das Beweisverfahren wurde auf Geheiß des Gerichts durchgeführt. An die Stelle des bewährten Sühnevertrages trat der Urteilserfüllungsvertrag, der sich von jenem in erster Linie dadurch unterschied, dass sein Abschluss vom Richter erzwungen wurde. Reinigungseid und Ordal blieben wesentliche Bestandteile der Rechtsfindung. Derlei feierliche Rituale erfuhren allerdings zunehmend eine christliche Prägung.102 Der Einfluss der christlichen Kirche wurde in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen offenbar. Namentlich Karl der Große fühlte sich der Idee eines christlichen Friedensreiches verpflichtet. Er sah sich in der Verantwortung, die Herstellung und Wahrung des inneren Friedens zu Gunsten der Untertanen zu gewährleisten.103 Die Rechtspflege war ein bedeutsames Mittel zur Durchsetzung dieses Anspruchs. Der König avancierte geradezu zum Hüter des Rechts. Er führte durch die Setzung von Amtsrecht verfahrensrechtliche Reformen durch und griff mit einer eigenen Gerichtsbarkeit in die Strafrechtspflege ein. Die königliche Gewalt emanzipierte sich damit vom Volksrecht. Sie trat nicht neben die Volksgerichtsbarkeit, wie sie sich zu germanischer Zeit entwickelt hatte, sondern stellte sich über sie.104 Das Königsgericht war in seiner Zuständigkeit nicht an bestimmte Angelegenheiten gebunden. Die Übertragung des königlichen Bannes auf die Gerichte der königlichen Sendboten, den missi dominici, verlieh dem Königsgericht zudem eine gewisse Effektivität. Daneben gelang so etwas wie eine Kontrolle der Reichsverwaltung. Es konnte etwa die Heeresflucht einigermaßen unterbunden und gegebenenfalls verurteilt werden.105 Auch das Strafverfahrensrecht blieb nicht unangetastet. Der Fortschritt hielt in den Gerichtsalltag Einzug. Der Gedanke, dass Verbrechensbekämpfung eine Aufgabe des Staates sei, gewann an Überzeugungskraft.106 Im Zuge der Christianisierung war es nicht mehr akzeptabel, die Ahndung strafbarer Handlungen ausschließlich der Privatinitiative des Verletzten zu überlassen. Das allein ließ die Offizialmaxime freilich nicht automatisch zum tragenden Pfeiler der Strafrechtspflege werden. Dazu war der volksrechtliche Parteienprozess Weigend, Deliktsopfer, S. 49; Eb. Schmidt, Einführung, S. 42. Weigend, Deliktsopfer, S. 43; Kroeschell, Rechtsgeschichte I, S. 75. 104 Eb. Schmidt, Einführung, S. 43. 105 Eb. Schmidt, Einführung, S. 44. 106 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 28: „Der Parteiwille als ursprünglich allein bewegende Kraft des Verfahrens verliert an Bedeutung und wird mehr und mehr durch den Staatswillen abgelöst. Die Verhandlung vollzieht sich auf diese Weise nicht mehr in selbständigen Handlungen der Parteien, als Auseinandersetzung zwischen den Parteien, sondern unter maßgeblicher richterlicher Leitung.“ 102 103

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zu tief im Bewusstsein der Menschen verwurzelt. Außerdem fehlte es an einem tauglichen Apparat, der das gewaltige Ziel einer hoheitlichen Wahrnehmungskompetenz zum damaligen Zeitpunkt hätte auch nur ansatzweise verwirklichen können. Jedoch wurden erste zaghafte Schritte unternommen, um eine amtliche Verbrechensverfolgung ins Werk zu setzen. Das war vor dem Hintergrund des königlichen Selbstverständnisses auch notwendig. Der König im Allgemeinen und Karl der Große im Besonderen begriffen sich selbst als Garant des Friedens.107 Die missi dominici halfen, diesen Anspruch möglichst flächendeckend aufrecht zu erhalten. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des hochgesteckten Zieles wurden in der nach wie vor hohen Anzahl von Missetaten deutlich sichtbar. Umso weniger erschien es einsichtig, von weiteren Bemühungen der Verbrechensbekämpfung abzusehen.

1. Rügeverfahren Es hätte bedeutet, den ohnehin labilen Frieden dem Zufall zu überlassen, wenn allein die Initiative bzw. die Befindlichkeiten eines privaten Klägers über Ahndung oder Nichtahndung von Verbrechen entschieden hätten. Das karolingische Rügeverfahren108 sollte hier Abhilfe schaffen. Die Gerichte der königlichen Sendboten wurden beauftragt, Männer von vorzüglichem Leumund auszuwählen und als Rügegeschworene eidlich dazu zu verpflichten, ihnen auf Befragung mitzuteilen, was sich innerhalb des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs an Verbrechen zugetragen habe bzw. bekannt geworden sei. Dem Amt als Rügegeschworener durfte sich niemand entziehen. Das unanfechtbare Zeugnis der Rügegeschworenen, welches eine bestimmte Person einer Missetat bezichtigte, galt als Klage. Das Vorbringen einer sich als verletzt ausgebenden Person musste also nicht abgewartet werden. Der Beschuldigte wurde von Amts wegen geladen. Der unbescholtene Freie bekam Gelegenheit zur Leistung des Reinigungseides; der Bescholtene oder Unfreie musste sich dem Gottesurteil unterziehen. Der Sachverhalt wurde mithin nicht inquisitorisch ermittelt. Man wird schon gar nicht vom Einsatz moderner oder gar rationeller Erkenntnismethoden sprechen dürfen. Jedoch liegen hier die Ursprünge des Inquisitionsprozesses.109

107 108 109

Weigend, Deliktsopfer, S. 43. Dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 28. Zum Ganzen Eb. Schmidt, Einführung, S. 44 ff.

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2. Die ritterliche Fehde Dem Bestreben, Macht und Kontrolle in einer zentralen Gewalt zu bündeln, mussten private Maßnahmen jeglicher Art entgegenstehen. Daher war sowohl dem König wie auch den Territorialherren und Städten daran gelegen, Fehde und Rache auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Auseinandersetzungen um die Rolle kirchlicher und weltlicher Strömungen führten allerdings zu einer Stagnation in der Ausbildung des Königtums110, was sich teils unmittelbar, teils mittelbar auf die Strafrechtspflege auswirkte. So waren die ständischen Verhältnisse einem tiefgreifenden Wandel unterzogen.111 Im Ritterstand fand die Entwicklung eine eigentümliche Ausprägung.112 In Abwesenheit einer starken, autoritären Obrigkeit hatten es sich adelige Herren zur beinahe sportlichen Muße werden lassen, den eigenen Unterhalt durch Raubzüge aufzubessern.113 Der quasi aus Berufskriegern bestehende Ritterstand wurde hierdurch zu einer selbstverständlichen Erscheinung des frühen Mittelalters.114 Weil es an einer durchsetzungsfähigen Staatsgewalt fehlte, konnten archaische Gepflogenheiten ungestört und rücksichtslos zur Mehrung der eigenen Vorteile eingesetzt werden. Je mehr also der Sinn für eine über den persönlichen Lebenskreis hinausgehende Gemeinschaftlichkeit abhanden kam, desto eher konnte die Fehde immer neue Auswüchse annehmen. Voraussetzung für den Beginn der Fehde war nun nicht mehr ausschließlich die Begehung einer Missetat. Auch Streitigkeiten um Hab und Gut kamen als Auslöser für kämpferische Auseinandersetzungen in Betracht. Schon geringfügige Verletzungen von Ehre und Anstand, ja sogar die Verletzung unbeteiligter Dritter genügten plötzlich als Vorwand für den Beginn ritterlicher Fehdehandlungen. Die Ritter machten sich fremde Rachegelüste zueigen und versetzten die eigentlichen Kontrahenten in die Lage, den mit Waffengewalt ausgetragenen Streitigkeiten als Zuschauer beiwohnen zu können. Folglich waren von der Fehde weniger die konfligierenden Parteien betroffen, als vielmehr deren Gefolgsleute, die nicht die Möglichkeit hatten, sich zum Schutz in der eigenen Burg zu verschanzen. Es liegt auf der Hand, dass im Gefolge der Fehden schwere Schäden zu Lasten der einfachen Bevölkerung zu verzeichnen waren. Die landwirtschaftliche 110 Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Reichs- und Landesgewalt. Die Reichsgewalt wurde hierdurch nachhaltig geschwächt und war gelegentlich vom Niedergang bedroht. Andererseits erlebte die Landesgewalt ihre Blütezeit. Das führte zu einer Verlagerung der Gerichtsbarkeit auf die jeweiligen Einflussbereiche der Landesherren, Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 30. 111 Eb. Schmidt, Einführung, S. 46; Weigend, Deliktsopfer, S. 55. 112 Eb. Schmidt, Einführung, S. 48. 113 Weigend, Deliktsopfer, S. 55; Eb. Schmidt, Einführung, S. 48. 114 Weigend, Deliktsopfer, S. 55.

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Betätigung wurde gestört und die Sicherheit der Landstraßen war nicht mehr gewährleistet.115 Die ritterliche Fehde ist nicht selten als Derivat des illegalen Faustrechts charakterisiert worden. Andere haben diese These zurückgewiesen und betrachteten die Fehde als wesentlichen Bestandteil des mittelalterlichen Verfassungsrechts.116 His meinte gar, die Fehde sei ein gewohnheitsrechtlich anerkanntes Instrument der Konfliktbewältigung gewesen.117 Richtigerweise wird man den Begriff der Anerkennung wohl durch den Terminus der Duldung bzw. des Sich-Abfindens ersetzen müssen. Die Fehde war mit einiger Sicherheit ein gewöhnliches und daher absehbares Mittel der Streitaustragung. Das allein macht sie gleichwohl nicht zum rechtlich gebilligten Instrument der mittelalterlichen Verfassung. Hervorzuheben ist stattdessen, dass die Fehde stets im Klima fehlender Herrschaft neue Blüten treiben konnte. Das Nichtvorhandensein obrigkeitlicher Gewalt führte schnell zum Missbrauch der wahrgenommenen Freiheiten. In dem Maße wie sich Standesherren von Adel der eigenen Allmacht und Durchsetzungsfähigkeit bewusst waren, war auch der Nährboden für ausgeprägt egoistische Zielsetzungen vorhanden. Eine Unabhängigkeit, die auf Belange Anderer keine Rücksicht nahm, ließ das ungesunde Streben gedeihen, den eigenen Einfluss so weit es ging zu vergrößern. Umgekehrt war es nicht zwingend geboten, kämpferischen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen; gab es doch mit dem Rittertum die allzeitige Möglichkeit, die Fehde durchzuführen, ohne Beeinträchtigungen der eigenen Unversehrtheit befürchten zu müssen. Nicht ein loses Miteinander, sondern ein echtes Nebeneinander von Standesherren mit konfligierenden und oft einander ausschließenden Interessen sowie der Faktor des schwächelnden und allzu nachgiebigen Königtums lieferten die Bedingungen für das Erstarken der Fehde. Addiert man die Umstände, so stellt sich auch und gerade die ritterliche Fehde nicht als Institut einer allgemeinen, geübten Verfassung dar, sondern einmal mehr als kriegerische Auseinandersetzung zweier territorial und ökonomisch autarker Souveräne. Daraus erhellt: Die Fehde ist nicht internes Instrument der Konfliktbewältigung, sondern externe Reaktion auf Eingriffe äußerer, abzuwehrender Aggressoren. Sie ist damit Zeugnis der Inhomogenität und Zerrissenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Mittelalter. Ein rigoroses, hoheitlich auferlegtes Verbot der Fehde war vor diesem Hintergrund illusorisch oder stand nur auf dem Papier. Die dennoch nicht bedingungslose Schrankenlosigkeit der Fehde ist wohl eher auf subtile 115 116 117

Eb. Schmidt, Einführung, S. 48. So Eisenhardt, Rechtsgeschichte, S. 71. His, Geschichte, 1928.

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Ehrvorstellungen innerhalb des Ritterstandes selbst zurückzuführen. Es entsprach dem ritterlichen Habitus, gewisse Regeln der Fairness einzuhalten. Die Standessitte verlangte etwa eine Ansage118 der Fehde mit dreitägiger Frist durch förmlichen Rechtsbrief. Eine Reihe von Fehdehandlungen galten als unritterlich. Den Einschränkungen fehlte jeder spezifisch rechtliche Charakter; sie waren lediglich Ausfluss der einzuhaltenden Sitte.

3. Die Gottes- und Landfriedensbewegung a) Bemühungen um die Eindämmung von Fehdehandlungen Eine spürbare Zurückdrängung der Fehde wurde erst durch die Einflussnahme der christlichen Kirche erreicht. Dem weltlichen Unfrieden stellte die Kirche die Idee des geheiligten Friedens gegenüber.119 Sie forderte Pax und Treuga ein, wobei Pax die dauernde Befriedung gewisser Personen, Orte und Sachen gegenüber Fehdehandlungen bedeutete und Treuga die Befriedung gewisser Zeiten, in denen jegliche Fehdehandlungen untersagt waren.120 Die Idee des Kirchenasyls markierte einen wichtigen Ausgangspunkt: So wie die kirchlichen Gebäude seit jeher den verfolgten Verbrechern Schutz boten, so wurden sie nun selbst und mit ihnen die zur Waffenlosigkeit verpflichteten Geistlichen sowie die in kirchlichem Gehorsam stehenden Bauern samt ihres Besitzes als befriedet und gegenüber allen Fehdehandlungen unantastbar angesehen. Die Treuga ergänzte den räumlich und personell befriedeten Bereich in zeitlicher Hinsicht. Zunächst wurde die Respektierung der Sonntagsruhe angemahnt. Einzelne Festtage und schließlich die gesamte Advents- und Fastenzeit traten hinzu. Die Gottesfriedensbewegung mündete bald darin, dass nur noch drei Monate des Jahres für die Durchführung der Fehde zur Verfügung standen. Jegliche Verletzung des Gottesfriedens zog kirchliche Strafen, vor allem aber die Exkommunikation nach sich.121 118 Sog. diffidatio (absage, widersage). Derartige Ge- und Verbote fanden später sogar Berücksichtigung in der Gesetzgebung, etwa in der constitutio contra incendiaros 1186 durch Friedrich I., dazu Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 305. Das darf freilich nicht die Augen davor verschließen, dass es sogar vergleichsweise starken Kaisern nicht gelang, Fehdeverbote kategorisch durchzusetzen. Die Gesetzgebung begnügte sich deshalb damit, die Fehde nicht zu untersagen, sondern immerhin zu reglementieren. In den Willen der Rechtsordnung wurde sie deshalb nicht aufgenommen. Vielmehr wurden die gesetzlichen Ziele auf ein erreichbares Maß gebracht. In diesem Sinne auch Weigend, Deliktsopfer, S. 57; näher Eb. Schmidt, Einführung, S. 48. 119 Eb. Schmidt, Einführung, S. 49. 120 Eb. Schmidt, Einführung, S. 49; dazu auch v. Hippel, Lehrbuch, S. 86 ff. 121 Das führte zu einer Konkurrenz mit der weltlichen Gerichtsbarkeit, insbesondere im Bereich der delicta mixta, die einerseits Bezug zu kirchlichen Lehren aufwiesen, andererseits aber ein allgemeines sittliches Ärgernis darstellten. Dazu v. Hippel, Lehrbuch, S. 86.

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Aufgrund der Akzeptanz der Gottesfrieden durch weltliche Herren122 kam es wenig später zur Androhung nicht-kirchlicher Strafen für Formen der Auflehnung gegen die Gottesfrieden. Hiervon ausgehend setzte auch die Entwicklung des peinlichen Strafensystems ein.123 Friedlosigkeit für Freie und Handverlust für Unfreie waren die Strafandrohungen für Zuwiderhandlungen. In einem fließenden Prozess wurden die Gottesfrieden durch allgemeine Landfrieden ersetzt. Aus dem Schutz von Personen und Personenverbänden waren territoriale Frieden geworden; Städte wurden zu Friedensbezirken erklärt.124 Inhaltlich gingen die Landfrieden über die Gottesfrieden sogar hinaus. Während diese ausschließlich die ritterliche Fehde in Bezug nahmen, wurden in jenen auch Missetaten abseits der Fehden mit Strafe bedroht. Die Bewegung fand ihren Höhepunkt im Mainzer Reichslandfrieden von 1103, der durch Heinrich IV. maßgeblich getragen wurde. Dies darf freilich nicht den Blick davor verstellen, dass es an einem umfassenden Verbot der Fehde auch weiterhin fehlte. Die Landfrieden hatten allenfalls den Charakter von Satzungen, waren also nur bedingt verbindlich. Sie waren nicht das Ergebnis hoheitlicher Setzung und erhoben keinerlei Anspruch auf widerspruchslosen Gehorsam.125 Die Verbindlichkeit beruhte nicht auf einseitigem Rechtsgebot, sondern wurde durch quasi-vertragliche Abmachung erreicht. Die Landfrieden hatten nur Geltung kraft der eidlichen Selbstunterwerfung der daran Beteiligten.126 Dadurch wurde die Durchsetzungsfähigkeit der Landfrieden jedoch nicht merklich geschwächt. Im Gegenteil: Nur auf diese Weise war überhaupt eine gewisse Geltungskraft zu gewährleisten. Schließlich fehlte es an den organischen Voraussetzungen, die ein anderes Procedere nahegelegt hätten. Einen staatlichen Apparat, der mit soviel Legitimität (bzw. Macht) ausgestattet gewesen wäre, dass er die Menschen den neuen Regelungen unterwerfen hätte können, gab es nicht.127 Ohne die gleichsam vertragliche Einigung der das „Reich“128 bildenden „Großen“ war der König nicht in der Lage, die mit der Landfriedensbewegung verbun122 Das Königtum erfuhr ohnehin zunehmend sakrale Bedeutung, Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 69. Die allgemeine Chrisitianisierung ist daher als wichtiger Umstand mit in Betracht zu ziehen. 123 Eisenhardt, Rechtsgeschichte, S. 52. Die Einhaltung der Gottesfrieden sollte durch die Androhung von Leibes- und Lebensstrafen erreicht werden. 124 Eb. Schmidt, Einführung, S. 50. 125 Dazu Ebel, Gesetzgebung, S. 45 f., von einer echten gesetzgebenden Gewalt des Kaisers und Königs kann nicht gesprochen werden. 126 Eb. Schmidt, Einführung, S. 50; Ebel, Gesetzgebung, S. 45. 127 „Schon die politische, verfassungsmäßige Stellung des deutschen Königs gegenüber den Kurfürsten, Fürsten und (später) den übrigen Reichsständen schloss eine echte Gebotsgewalt über sie aus.“ Ebel, Gesetzgebung, S. 45. 128 Als das „Reich“ sahen sich eher die Fürsten und Optimaten selbst an, Ebel, Gesetzgebung, S. 45.

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denen Ziele ins Werk zu setzen. Eine Bindungswirkung war nur so zu veranlassen, dass die Träger des Königtums dessen Führungsanspruch annahmen. Geschah dies, so war es Pflicht und Aufgabe der Mitwirkenden, die Untertanen auf den Erhalt der Ordnung schwören zu lassen, „wie der Fürst und Herr selbst geschworen hat“.129 Der Kampf gegen die Fehde richtete sich somit anfangs nur gegen bestimmte, nicht länger hinnehmbare Auswüchse. Man schuf Missbrauchstatbestände, die nicht an konkrete Handlungen, sondern an räumliche und zeitliche Umstände anknüpften. Damit war aber lediglich ein labiles Gerüst geschaffen worden, das zudem auf freiwillige Einhaltung vertrauen musste. Solange es an einer gefestigten Obrigkeit fehlte, war ein zwingenderes Vorgehen schlicht unmöglich. Königlicher Führungsanspruch und gesellschaftliche Realität klafften insofern auseinander. Es gab zwar die Idee eines Strafrechts mit öffentlich-rechtlichem Charakter, nicht aber die Mittel zu seiner konsequenten und wirksamen Umsetzung. Das freilich ändert nichts an der Feststellung, dass das Ziel jedenfalls nicht in der individuellen Bedürfnisbefriedigung bestand. Das fürstlich-königliche Streben war auf die Wahrung und Mehrung des Allgemeinwohls im Zeichen des christlichen Glaubens gerichtet. Wo die Religion in den Hintergrund trat, war es die Eindämmung der infidelitas gegenüber dem König und seinem Herrschaftsideal, der mit den Mitteln des Strafrechts entgegengewirkt werden sollte.

b) Verbreitung der öffentlich-rechtlichen Idee Die Geltungskraft der Landfrieden war von der Zustimmung einflussreicher Standesherren abhängig. Umso schwieriger war es, die Fehde in den ländlichen Regionen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. So sehr die ritterliche Fehde im Zuge der Landfriedensbewegung unterbunden werden konnte, so aussichtslos war es zuweilen, die nicht-ritterliche Blutrache zu verhindern. In siedlungsärmeren, bäuerlichen Gefilden stellte sich die Blutrache gar als gemeinhin gebräuchliche Institution dar. Die alten germanischen Anschauungen waren nicht ohne weiters auszublenden und durch ein fortschrittlicheres Denken zu ersetzen. Nur dort, wo die Verkehrsströme lebendig pulsierten, Interessen der Wirtschaft durchgesetzt werden mussten und Verkehr und Handel durch jede Störung des Friedens erheblich beeinträchtigt wurden, war eine ausreichende Einsichtsfähigkeit und Bereitschaft vorhanden, auf ein resolutes Verbot der Fehde hinzuwirken.130

129 Eb. Schmidt, Einführung, S. 50; Ebel, Gesetzgebung, S. 45. Sämtliche Beschlüsse des „Reichs“ wurden nach dem Grundsatz der Einmütigkeit im Anschluss an die vom Kaiser gemachten Propositionen getroffen. Rechts- und Geltungskraft wurden also gleichsam durch „Vertrag“ zwischen Kaiser und Ständen erreicht. 130 Eb. Schmidt, Einführung, S. 54.

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Die Städte entwickelten sich allmählich zu Zentren fortschrittlichen Denkens. Rachehandlungen wurden bald ausschließlich Stadtfremden gegenüber geduldet. Innerhalb des städtischen Friedensbereichs kamen Fehdehandlungen darüber hinaus nur noch in Betracht, wenn der vorherige Versuch einer gerichtlichen Klärung des Streits gescheitert war. Mit dem Ausbau des Gerichtswesens in den Städten entfiel nach und nach die Notwendigkeit privater Selbsthilfe. Eine geordnete Rechtspflege ließ jegliche privative Bemühungen überflüssig erscheinen. Auch der außergerichtliche Sühnevertrag büßte an Bedeutung ein. Schlichtungsverhandlungen vollzogen sich immer häufiger unter Aufsicht von Bürgermeistern oder Ratsherren. Die Kirche brachte sich vielfach als Vermittler ein und nahm auch inhaltlichen Einfluss auf Sühneverträge. Hierdurch bekamen die Verhandlungen eine neue Dimension: Im Vordergrund stand nicht länger der Schadensausgleich beim Verletzten, sondern die Aussöhnung mit Gott. Die Täter verpflichteten sich etwa zu Wallfahrten oder zur Teilnahme an einem Kreuzzug. Das sollte dem persönlichen Seelenheil dienen und war Ausdruck der Reue für begangene Sünden.131 Wurden Vermögensleistungen vereinbart, so wussten sich Stadt und Kirche einen eigenen Anteil zu sichern. Die Vermittlung durch die obrigkeitliche Gewalt wurde zum kostenpflichtigen Gut. Es setzte die Tendenz ein, heimliche und rein privative Sühneverhandlungen bzw. -einigungen zu untersagen. Den Beteiligten wurde das Heft sprichwörtlich aus der Hand genommen. Finanzielle Interessen der neuen öffentlichen Gewalt führten zur Aufrechterhaltung des Bußensystems, das seinen Charakter allerdings nachhaltig gewandelt hatte. Es bedarf keiner näheren Begründung, dass sich mit alledem die Entwicklung von der Sühneleistung zur Geldstrafe vollzogen hat. Das Interesse an der Wahrung der städtischen Ordnung gewann eine Eigendynamik. In städtischen Willkürsatzungen fanden sich nun Unrechtsfolgen für Verstöße gegen bürgerliche Pflichten; gewerbliche Vergehen wurden sanktioniert. Derlei leichte Delikte und Ordnungswidrigkeiten leisteten der Verstaatlichung der Strafrechtspflege zusätzlich Vorschub und sorgten für die Verdrängung der privatrechtlichen zu Gunsten einer ganz und gar öffentlich-rechtlichen Auffassung von Verbrechen und Strafe.132

c) Peinliches Strafensystem Politische Erwägungen führten schließlich zum peinlichen Strafensystem. Die obrigkeitlichen Machtmittel zur Durchsetzung der Friedensordnung waren begrenzt, die Durchschlagskraft der Strafverfolgung gering. Wollte man die Akzeptanz der Zentralgewalt im Bewusstsein der Bevölkerung mehren, so galt es, dafür einen geeigneten und respekteinflößenden Weg zu finden. Dies führte zur Vorstel131 132

Eb. Schmidt, Einführung, S. 55. Eb. Schmidt, Einführung, S. 57.

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lung, harte Strafen und noch härtere Vollzugsmethoden seien geeignet, eine abschreckende Wirkung in der Bevölkerung zu erzeugen.133 Der Abschreckungsgedanke diente zu gleichen Teilen der Unschädlichmachung des Missetäters und der Entlastung des Gemeinwesens. Das Prinzip der spiegelnden Strafen sollte bei allen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es sollte Sicherheit für die Zukunft geschaffen werden, indem schädliche Leute als solche zu erkennen waren. Unliebsame Elemente wurden aus der Gemeinschaft entfernt. Überdies enthielt die Bestrafung des Delinquenten auch immer eine Warnung an tatgeneigte Dritte. Das Ziel lag in der Verbürgung eines mehrdimensionalen, sichernden Effekts. Das peinliche Strafensystem wurde so zum Vehikel für den Wunsch der Obrigkeit, den eigenen Machtanspruch nach außen zu dokumentieren. Es galt, Stärke und Einflusskraft zu demonstrieren, um so die politischen Verhältnisse im eigenen Machtbereich zu festigen. Härte und Grausamkeit der Strafrechtspflege sollten mithin die offensichtlichen Schwächen im politischen Führungsvermögen ausgleichen.134 Die nur sühnemäßige Erledigung einzelner Delikte stand der umfassenden Verwirklichung dieser Ziele im Wege. Die Auffassung, dass Verbrechen im Interesse der Allgemeinheit zu verhindern seien, hatte auch Auswirkungen auf die vorher übliche Unterscheidung zwischen Freien und Unfreien: Auch der Freie ging nun seiner Unantastbarkeit verlustig. Die in einer Friedensordnung zu schützenden öffentlichen Belange verboten eine Rücksichtnahme auf den Status des jeweiligen Delinquenten. Der Tatunwert bildete den einzigen Bezugspunkt für die Einschätzung, inwiefern die Allgemeinheit im friedlichen Dasein beeinträchtigt worden sei.135 Die Besserungsidee spielte daneben keine Rolle. Auch die Freiheitsstrafe war kein sonderlich verbreitetes Mittel strafrechtlicher Sanktionierung.136 Stattdessen wurde die alttestamentarische Talionsidee allenthalben ins Werk gesetzt. Das mosaische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wurde unmittelbar sinnfällig. 133 Vgl. v. Hippel, Lehrbuch, S. 130, der in der Grausamkeit des Strafvollzugs einerseits das biblische Talionsprinzip abgebildet sieht, den politischen Charakter allerdings in der Abschreckung der Gesamtheit im Zuge der Bestrafung sowie in der Abschreckung und Unschädlichmachung des einzelnen Verbrechers erblickt. 134 Eb. Schmidt, Einführung, S. 67, der im peinlichen Strafensystem den Beweis sieht, dass Härte und Grausamkeit immer ein Zeichen politischer Schwäche seien. Zugleich werde die Unsicherheit der politischen Verhältnisse insgesamt manifest. 135 Freilich ist nicht zu leugnen, dass vielfach eine schonende Vorzugsbehandlung in Aussicht gestellt wurde. Es gab etwa die Möglichkeit, die peinliche Bestrafung durch Bezahlung abzulösen. 136 Wo mittelalterliche Gefängnisse eingerichtet wurden, dort erlitt der Gefangene Qualen durch Dunkelheit, Kälte und Hunger. Die Freiheitsstrafen der damaligen Zeit sind letztlich also nur eine Variante der üblichen Leibstrafen und diesen ohne Einschränkung zuzuordnen, Eb. Schmidt, Einführung, S. 65. Gelegentlich stellte sich das Gefängnis als eine Form der Gnadenstrafe dar oder als Instrument der Ersatzstrafe bei Zahlungsunfähigkeit, dazu v. Hippel, Lehrbuch, S. 137.

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Die in der Bestrafung liegende Demütigung wurde zuweilen für ein Zugeständnis an das Rachebedürfnis gehalten. Zugleich jedoch lag hierin ein Instrument zur Bekämpfung privater Rachebestrebungen. Selbst insofern aber war die Befriedigung eines etwaigen Genugtuungsinteresses seitens des Verletzten nur bloßer Reflex anderer Zwecke. So nährte das christliche Ideal die Vorstellung, im Zuge der Bestrafung könne Gottes Zorn über die Missetat vom Lande abzuwenden sein. Das Land sollte entsühnt werden und der Täter dem Umfang seiner Sünden nach leiden.137

d) Mittelalterliches Prozessrecht aa) Öffentlich-rechtliche Modifikationen des germanischen Rechtsgangs Die Änderungen im Bereich des mittelalterlichen Prozessrechts stellen sich nicht als plötzliche Abkehr vom germanischen Privatklageverfahren dar. Noch bis ca. 1500 war es verbreitet, dass entweder der Verletzte selbst oder aber seine Verwandten und Freunde das Verfahren durch Klageerhebung in einem feierlichen Formalakt138 zu eröffnen hatten. Eine gerichtliche Tatsachenermittlung fand nicht statt, vieles blieb der Initiative der Parteien überantwortet. Eid und Gottesurteil waren weiterhin wichtige Beweismittel. Neben den hergebrachten Formen und Ritualen fanden jedoch auch eine Reihe neuartiger Institute Eingang in das Privatklageverfahren. So gewann der rationellere klägerische Zeugenbeweis an Relevanz. Er vollzog sich in der Weise, dass bestimmte Tatumstände und -folgen durch Zeugen zu verklaren waren.139 Die unmittelbare Täterschaft des Beklagten war damit immer noch nicht Gegenstand des Prozessierens. Allerdings war dem Kläger der Überführungseid erleichtert worden. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich der klägerische Überführungsbeweis auf die gesamte Tat und die Täterschaft des Beklagten bezog. Die Wahrheit des klägerischen Vorwurfs bekam durch die Einbeziehung von Zeugen eine eigene Qualität im Privatklageverfahren.140 137 Was etwa in der Blume von Magdeburg explizite Erwähnung fand: „welchem misteter um seine mistat seine beschrebin peine angeleit wirt, der mistat ist vor gote vergessin, und mit der peine wird gotis zorn gesenftit.“ 138 Vielfach wurde die Formenstrenge nicht etwa abgeschwächt, sondern in einem überkünstelten Formalismus gesteigert, dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 31. 139 Es zeigte sich das Bemühen um eine umfassende Wahrheitsermittlung, Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 31. 140 Beachtlich sind freilich die vielen regionalen Verschiedenheiten sowie die Zersplitterung der Rechtsentwicklung. Sie konnte sich je nach Rechtsgebiet und Rechtskreis in unterschiedlichem Umfang und in jeweils völlig anderer Geschwindigkeit vollziehen.

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Zunächst führte dies zu einer Beschneidung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beklagten. Der Reinigungseid verlor seine frühere Plausibilität und Glaubwürdigkeit. Die Stellung des Beklagten war aber auch deswegen nicht sonderlich komfortabel, weil an der überkommenen Einseitigkeit der Beweisführung festgehalten wurde. So war es in Reaktion auf den klägerischen Überführungsbeweis nicht gestattet, den Gegenbeweis anzutreten. Das formale Denken des germanischen Rechtsganges war also mitnichten überwunden. Dagegen nahmen andere tradierte Instrumente deutlich inquisitorische Züge an. So verlor etwa das Handhaftverfahren seine einstige Strenge. Die Wandlungen im Bereich der handhaften Tat wurden zum Dokument des Übergangs zum inquisitorischen Offizialverfahren. Die Frist für statthafte Festnahmen wurde deutlich ausgedehnt. Die Schreimannen mussten jetzt über eigenes Wissen von der Tat verfügen, hatten also vollends die Funktion echter Zeugen angenommen. Besondere Hervorhebung verdient allerdings die Beteiligung amtlicher Personen bei der sofortigen Verfolgung des Täters. Nach dessen Ertappung wurde das Gericht durch Glockenschlag herbeigerufen, welches sodann bei Ergreifung und Festnahme des Delinquenten mitwirkte. Das Glockengeläut galt zugleich als Klageerhebung. Die Verurteilung war sofort und ohne das Eingreifen des Verletzten möglich. Aufgrund der Offenkundigkeit der Tatbegehung waren alle weiteren Überführungsbemühungen entbehrlich geworden. Es zeichnete sich insgesamt die Tendenz ab, die zwanghaft enge Gebundenheit des germanischen Rechtsgangs zu überwinden. Das alte Verfahren hatte sich als zu träge im Kampf gegen das Verbrechertum herausgestellt. Die territoriale Zersplitterung der obrigkeitlichen Machtbereiche tat ihr übriges: Missetäter konnten sich unwillkommenen Verurteilungen leicht durch Veränderung des jeweiligen Aufenthaltsortes entziehen. Es bedurfte daher neuer Organisationsformen, um die Strafrechtspflege zu effektuieren. bb) Tätigkeit der Vemegerichte Im westfälischen Raum wurden zu diesem Zwecke die sog. Vemegerichte ins Leben gerufen.141 Die königliche Bannleihe ermöglichte die Ausübung einer Blutgerichtsbarkeit. Gerade die enge Beziehung zum König erweckte die Idee, dass die Vemegerichte auch mit Strafsachen aus nicht-westfälisch-engerischen Gebieten sollten befasst werden dürfen. Auf diese Weise ergab sich eine Zuständigkeit für das gesamte Reichsgebiet. Zudem war es jedem ehelich geborenen, freien und beleumundeten Deutschen freigestellt, Vemegenosse zu werden.142 Als solcher hatte er die 141 Dazu Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 256 ff. sowie Eb. Schmidt, Einführung, S. 84 ff.

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Gerichte über Missetaten „wissend“ zu machen. Im Zuge dessen entwickelte sich ein eigentümlicher Kreis der „Wissenden“, die im ganzen Reichsgebiet verteilt waren.143 Sie hatten die Pflicht, todeswürdige Sachen bei einem Vemegericht zu rügen. Für eigentlich auswärtige Angelegenheiten galt das dann, wenn das zunächst zuständige Gericht versagt hatte, die Sache also nicht zur Sühne oder Bestrafung gelangt war. Die Praxis der Vemegerichte blieb letztlich auf einen vergleichsweise kurzen Zeitabschnitt begrenzt.144 Jedoch wird einmal mehr deutlich, dass mit der Verbrechensbekämpfung verbundene Maßnahmen stets kollektiver Art waren. Im Vordergrund stand der Versuch, die Strafrechtspflege von den hergebrachten, lähmenden und zu ineffektiven Mitteln des germanischen Rechtsgangs abzulösen. Verbrechen stellten sich nicht als individuelles, sondern als allgemeines Problem dar, das nach neuen Wegen der Konfliktbewältigung verlangte. Allein fehlte es an den personellen und materiellen Ressourcen. Die hoheitlichen Einflussmöglichkeiten waren zu gering und zu sehr von der Zustimmung und Mitwirkungsbereitschaft der Untergebenen abhängig.

e) Vom Festnahmerecht zum Inquisitionsprozess Die Formen des germanischen Rechtsgangs waren der Durchsetzung der mit der Landfriedensbewegung offenbar gewordenen Ziele hinderlich. Es sollten nicht Versöhnung und angemessene Entschädigung des Verletzten erreicht werden, sondern die Verwirklichung eines allgemeinen Friedens. Staatlich-soziale Gesichtspunkte spielten die dominierende Rolle. Daraus ergab sich der Auftrag, den Rechtsgang so auszugestalten, dass auch Verbrechensverfolgung und Prozessführung im Zeichen kollektiver Interessen standen. Das war über eine irgendwie geartete Weiterentwicklung oder Reformierung des germanischen Rechtsgangs nicht zu bewerkstelligen. Es galt, die neuen Denkweisen auch im Gerichtsalltag zu etablieren. Die öffentlich-rechtliche Idee musste aus sich heraus und ohne Bezug zu tradierten Rechtsinstituten adäquate Methoden der Strafrechtspflege hervorbringen. Die pein142 Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 111, sehen in den Send- und Vemegerichten ein Aufleben des vormaligen Rügeprinzips. Eine verfahrenstechnische Verwandtschaft lässt sich wohl auch nicht leugnen. Indessen weist v. Hippel, Lehrbuch, S. 88 ff., darauf hin, dass vor allem die Kirche auf eine zentrale Verbrechensverfolgung hingewirkt habe. Die geistliche Gerichtsbarkeit aber sei immer römisch-rechtlichen Charakters gewesen. Es sei daher naheliegend, hier die Wurzeln der Vemegerichtsbarkeit sowie des Inquisitionsprozesses schlechthin zu suchen. 143 Die Aufnahme in den sog. Freischöffenbund erfolgte durch Eid, der die Wissenden zur Geheimhaltung verpflichtete, Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 256. 144 Was nicht zuletzt an zahlreichen Missbräuchen lag. Es „drängte sich lichtscheues Gesindel in den Femebund ein.“ Mitteis / Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 257. Die Rechte des Angeklagten wurden nicht gewahrt, Urteile widersprachen einander, Vemegenossen wurden käuflich.

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lichen Strafen sollten ein Gegengewicht zum Verbrechertum bilden. Die Landfrieden wurden durch Gewohnheitstäter empfindlich gestört. Verkehrswege wurden durch sie unsicher gemacht, was nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen zu unterbinden war. Gegenüber gefährlichen Subjekten entwickelte sich deshalb ein Festnahmerecht. Das Verteidigungsbedürfnis ließ dabei Kautelen über Herkunft und Status nicht zu, weshalb die neue Befugnis als Jedermannsrecht ausgestaltet wurde. Die Landschädlichkeit der Gewohnheitsverbrecher führte zu Verfolgungsmaßnahmen und Festnahmegestattungen, die sich von den formalen Erfordernissen der handhaften Tat nun vollständig emanzipierten. Bald schalteten sich auch Amtspersonen in die Verfolgung der landschädlichen Leute ein. Es wurden spezielle Organe geschaffen, die ausschließlich für den Schutz des Landfriedens zuständig waren.145 Alsdann wurden Verfolgung und Festnahme der landschädlichen Leute sogar befohlen. Es gab nun die Pflicht, zum Schutz des Landfriedens von Amts wegen tätig zu werden.146 Das Hervortreten und Tätigwerden eines privaten Klägers wurde nicht abgewartet. In den Städten, die an der Wahrung des Friedens innerhalb der Stadtmauern mit Nachdruck interessiert waren, wurde der Obrigkeit ferner ein Verfolgungs- und Verhaftungsrecht eingeräumt.147 Die von den Städten vorangetriebenen Bemühungen ließen es bei der Befriedung der Landstraßen nicht bewenden. Ab dem 14. Jahrhundert wurden das sorgfältige Ermitteln von Amts wegen und das obrigkeitliche Einschreiten zu einer verbreiteten Pflicht der Stadtherren. Das Rechtswesen wurde zunehmend dadurch bestimmt, dass die gesamte amtliche Tätigkeit sich vom ersten Verdacht bis zum Urteil hin erstreckte. Zugleich erfolgte eine Abkehr von formalen Beweismitteln, die sich seit jeher lediglich auf die unmittelbare Klärung von Schuld oder Unschuld bezogen hatten. Eine differenziertere Aufarbeitung strafrechtlicher Fragen setzte sich allmählich durch. Rationale Erkenntnismittel kamen nun zum Einsatz und dienten der Aufklärung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts. Dort, wo sich Offizial- und Instruktionsmaxime vereinigten, war der Inquisitionsprozess praktische Wirklichkeit geworden.148 145 Eb. Schmidt, Einführung, S. 83, der auf den Landfrieden in der Wetterau von 1371 verweist: „Auch wer es, ob derselbe heubtmann (d. h. das amtliche, zum Schutz des Landfriedens vom Landvogt eingesetzte Organ) und sine gesellen in dhein sloß quemen, da schedelichen lute inne weren, die sal der heubtmann mit sinen gesellen angriffen, daruz nehmen und die halden und von den richten, als man von schedelichen luten billich richten sal, an hindersal und schurunge allermenlichs.“ 146 Eb. Schmidt, Einführung, S. 87, mit dem Hinweis auf den Schwäbischen Landfrieden von 1104. Ferner der Fränkische Landfrieden von 1179, wo die allgemeine Verfolgung von Räubern, Dieben und Münzfälschern angeordnet wurde. 147 Wobei dem begüterten Bürgertum freilich einige Privilegien auch weiterhin nicht abgesprochen wurden, Eb. Schmidt, Einführung, S. 88. 148 Eb. Schmidt, Einführung, S. 88.

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Beachtlicherweise wurde diese Entwicklung durch die Fehde zusätzlich forciert. Dies birgt keineswegs einen Widerspruch: Es stellte sich nicht als außergewöhnlich dar, dass gegebenenfalls ganze Städte in Fehden verwickelt wurden, weil ritterliche Nachbarn oder andere, rivalisierende Städte die kämpferische Machtprobe suchten. War die Fehde eröffnet worden, so galt es, sowohl den Fehdegegner wie auch dessen Helfershelfer unschädlich zu machen. Die jeweiligen Kontrahenten wurden verfolgt und bei sich bietender Gelegenheit festgenommen. Je mehr den Städten die Wahrung des Landfriedens nahegelegt bzw. von Königen und Landesherren mit Dringlichkeit anempfohlen wurde, desto mehr wurden aus Fehdehandlungen strafprozessrechtliche Verfolgungsmaßnahmen. Städtische Exekutivorgane und Söldnerscharen verfolgten die Fehdegegner kraft obrigkeitlichen Auftrags als tatverdächtige Beschuldigte. Die Zufügung blutiger Verletzungen wäre geduldet worden. Damit aber war die Verhaftung als prozessuale Maßnahme erst recht nicht unzulässig, sondern ein willkommenes Minus. Die Verteidigung gegenüber externen Angriffen, verbunden mit dem Wunsch nach endgültiger Befriedung führte also zu einem Verzicht, was den Einsatz archaischer, schrankenloser Gewalt anbelangte. Das Bemühen um einen umfassenden und steten sowie bestandskräftigen Frieden hatte die Herausbildung eines Rechts modernerer Prägung zur Folge. Amtliche Verfolgungsmaßnahmen wie Festnahme und Verhaftung brachten eine neue Einstellung der zuständigen Organe gegenüber dem jeweiligen Sachverhalt mit sich. Die amtliche Verfahrenseinleitung war mit einem ganz anderen Aufwand verbunden als es im germanischen Rechtsgang üblich war. Es erschien plötzlich kontraproduktiv, dem Delinquenten Gelegenheit zum Reinigungseid einzuräumen. Es konnte nicht der Sinn der amtlichen Ermittlungen und Anstrengungen sein, den Missetäter einfach laufen zu lassen, wenn es ihm nur gelang, einige ihm wohlgesonnene Eideshelfer für sich zu rekrutieren. Es lag nahe, die Beweisführung vollständig in die Hände des amtlichen Verfolgungsapparates zu legen. Er selbst musste sich Aufschluss darüber verschaffen, was sich eigentlich zugetragen hatte. Die Befragung des Tatverdächtigen drängte sich als einfachstes Mittel der Tatsachenermittlung geradezu auf. Die Aussagen von Wissenszeugen erhärteten oder widerlegten den Anfangsverdacht und dienten der möglichst restlosen Aufklärung des Sachverhalts. Derartige Methoden verursachten natürlich zusätzlichen Aufwand. Das Geständnis des Tatverdächtigen erwies sich schnell als das „bequemste“ Beweismittel. Die amtlichen Organe waren aller weiteren Ermittlungen enthoben, wenn es gelang, dem Beschuldigten ein Geständnis abzuringen. „Und daran hatte man ein nicht geringes Interesse. Bei den damaligen Verkehrsverhältnissen waren Ermittlungen außerhalb des unmittelbar gerichtlichen Machtbereichs zeitraubend und schwierig. Ein Bote konnte Wochen brauchen, bis er mit einer wichtigen Ermittlung zur Gerichtsobrigkeit zurückkehrte.“149 Aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und 149

Eb. Schmidt, Einführung, S. 90.

III. Rezeption und Wandel der Staatlichkeit – die gemeinrechtliche Zeit

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-verbilligung wurde versucht, den anfallenden Aufwand möglichst überschaubar zu halten. Dazu aber war das Geständnis des verhafteten Beschuldigten das vorteilhafteste Mittel. Die Folge bestand freilich in einem fatalen Bemühen um ein geständiges Einlenken seitens des Beschuldigten. War er nicht bereit, den Vorwurf zuzugeben, so half man unter Verwendung von Folterinstrumenten nach. „Die Anwendung der Folter ist das sicherste Zeichen dafür, daß die Obrigkeit von sich aus mit Hilfe der Erklärungen und Aussagen des Beschuldigten den tatsächlichen Sachverhalt erforschen will.“150 Hier aber liegt auch der Ursprung des Spannungsverhältnisses zwischen Obrigkeit und (mutmaßlichem) Täter. Der Verletzte bleibt dabei völlig ausgeblendet.

III. Rezeption und Wandel der Staatlichkeit – die gemeinrechtliche Zeit Die Rezeption stand im Zeichen der Verwissenschaftlichung der Strafrechtspflege.151 Im Zuge des Rezeptionsvorgangs gelangten juristische Prinzipien der italienischen Rechtsschule in die deutsche Strafrechtspflege. Das rationale Element der zweckmäßigen Verbrechensbekämpfung und die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit lieferten einen neuen Maßstab für die Strafrechtsanwendung. Das Ziel der Rezeptionsgesetze bestand darin, die mittelalterliche Rechtsentwicklung voranzutreiben, Entwicklungshemmungen zu beheben und vorhandene Rechtsinstitute zu vervollkommnen. Zugleich sollten die alten Rechtsauffassungen endgültig überwunden werden.152

1. Inquisitionsprozess als primäres Mittel der Strafrechtspflege Dabei ist der Gedanke, dass Verbrechensbekämpfung eine staatliche Aufgabe sei, keine Errungenschaft der Rezeptionsbewegung. Der an staatlich-sozialen Gesichtspunkten orientierte Inquisitionsprozess hatte sich in Deutschland selbstständig entwickelt und war das Resultat eines gewandelten Verständnisses von Staatlichkeit. Allerdings half die Rezeption, das prozessuale Recht in ein schlüssiges, Eb. Schmidt, Einführung, S. 92. Dazu v. Hippel, Lehrbuch, S. 157 ff. 152 Eb. Schmidt, Einführung, S. 111, der auf Unfertigkeiten und Unausgeglichenheiten in der deutschen Strafrechtspflege hinweist und in der Rezeption das Bemühen erkennt, in Rechtsunsicherheit und Willkür sichtbar gewordene Mängel und Schäden, über die gegen Ende des 15. Jahrhunderts so lebhaft geklagt worden sei, durch einen Geist echter Ordnung zu beseitigen. 150 151

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

konsistentes System einzubetten. Der Inquisitionsprozess bekam so sein eigentliches Gesicht.153 Das wird etwa anhand der Wormser Reformation von 1498 deutlich. Bei vordergründiger Betrachtung standen sich hier Anklage- und Inquisitionsprozess mit jeweils eigenständigen und klar voneinander geschiedenen Anwendungsbereichen gegenüber. Während der Akkusationsprozess durch den privaten Ankläger zu eröffnen war, hatten im Inquisitionsprozess Bürgermeister und Rat von Amts wegen gegen Missetaten vorzugehen. Es hat den Anschein, als stellte der Akkusationsprozess eine fortschrittlichere Variante des germanischen Rechtsgangs dar. Das Verfahren blieb maßgeblich dem Willen und Gutdünken des Privatklägers überantwortet. Er war es, der die Beweislast innehatte, wenn der Beklagte den an ihn gerichteten Vorwurf abstritt. Das einseitige Beweisverfahren war aber der materiellen Wahrheitssuche gewichen. Der Beklagte durfte entlastende Beweise in den Prozess einführen. Gelang es dem Kläger nicht, Täterschaft und Schuld des Kontrahenten aufzudecken, so war der Beklagte für alle durch den Prozess erlittenen materiellen und immateriellen Einbußen zu entschädigen. Die praktische Bedeutung des Akkusationsprozesses tendierte damit freilich gen Null. Der Privatkläger wurde nachgerade davon abgehalten, von der für ihn vorgesehenen Verfahrensart Gebrauch zu machen: So musste noch vor der eigentlichen Klageerhebung beeidet werden, dass die Bezichtigung gerecht und wahr sei. Darüber hinaus war der Kläger zur Sicherheitsleistung für den Fall des Scheiterns verpflichtet. Die Verantwortung für die Beweisführung sowie die Aussicht, bei Nichtgelingen des Beweises den Beklagten entschädigen zu müssen, hielten davon ab, das eigene Recht im Wege des Akkusationsprozesses einzufordern. Bei kleinsten Zweifeln an der Täterschaft des Beklagten drohte die Klage abschlägig behandelt zu werden, weshalb das Risiko die Erfolgsaussichten bei weitem überstieg. Dagegen wurde die Pflicht der Obrigkeit, von Amts wegen inquisitorisch gegen jeden Verbrechensverdächtigen vorzugehen, mit größtem Nachdruck hervorgehoben. Der Inquisitionsprozess wurde in der Wormser Reformation in ausführlichen Vorschriften ausgestaltet. Erstmals wurde angeordnet, wie sich der Richter durch Befragung und unter Unterscheidung der in Betracht kommenden Beweistatsachen zur materiellen Wahrheit vorzutasten habe. Der Wille der Beteiligten spielte keine Rolle. Es war allein der Richter, der unvoreingenommen die Umstände der Tat erhellen sollte. Das richterliche Ermessen wurde in vernunftgeleitete Bahnen gelenkt und ein an rationalen Methoden orientiertes Verfahren ermöglicht.154

153 Vorher war das Inquisitionsverfahren ein reines Zweckverfahren ohne eigentliches Gesicht geblieben, Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 38. 154 Eb. Schmidt, Einführung, S. 124, 125.

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2. Zur Rolle des Verletzten in CCB und CCC Das Misstrauen gegenüber dem Privatklageverfahren schlug sich auch in der Bambergensischen Halsgerichtsordnung von 1507 (Constitutio Criminalis Bambergensis, CCB) sowie in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls IV. von 1532 (Constitutio Criminalis Carolina, CCC) nieder.155 In beiden Gesetzeswerken bildete dem Wortlaut nach der Anklageprozess die in erster Linie in Betracht kommende Prozessart. Der Inquisitionsprozess hingegen wurde lediglich in einigen wenigen Vorschriften abgehandelt. Die Gerichtspraxis vermittelte indessen ein anderes Bild: Der Akkusationsprozess war von allenfalls untergeordneter Bedeutung.156 Der Inquisitionsprozess hatte sich als primäre Verfahrensart durchgesetzt. CCB und CCC untermauerten diese Vormachtstellung auch verbal.157 Die Verfahrenseröffnung durch den Privatkläger stellte sich nur noch als ein mögliches Mittel neben der Prozesseinleitung durch öffentliche Klage dar. Der Verfahrensgang selbst aber mündete hier wie dort im Inquisitionsprozess. Die Struktur des Verfahrens hatte mit der vormaligen Parteienherrschaft vollends gebrochen.158 Anders als noch in der Wormser Reformation machten CCB und CCC den Ausgang des mittels Anklage eingeleiteten Verfahrens nicht davon abhängig, ob es dem Kläger gelang, den Schuldbeweis gegen den Bezichtigten zu erbringen oder nicht. Die Obrigkeit nahm das Verfahren selbst in die Hand, wenn der Kläger nicht fähig war, den von ihm erhobenen Vorwurf im Laufe des Prozesses zu erhärten. Von Relevanz war sodann nur noch, ob es möglich war, den Beschuldigten mit den gebräuchlichen inquisitorischen Untersuchungsmethoden zu überführen. Auch der Akkusationsprozess konnte also in der Folterkammer fortgesetzt werden. Überdies wurde alles dafür getan, den Kläger möglichst von Anfang an von der Durchführung des Akkusationsprozesses abzuhalten. Auch CCB und CCC kannten die Entschädigungspflicht für den Fall, dass die klägerische Überführung des Beschuldigten misslang. Ferner konnte Sicherheitsleistung durch Stellung eines Bürgen gegen den Kläger angeordnet werden. Noch schwerer wiegt, dass der Kläger selbst in Haft genommen wurde, wenn er die Sicherheitsleistung nicht aufbringen Zu CCB und CCC auch Eb. Schmidt, Einführung, S. 126. Die Privatklage bildete „nach der Carolina eher eine Last als ein Recht“, v. Hippel, Lehrbuch, S. 209. 157 Beide Gesetzeswerke bildeten die Grundlage der späteren Reichsgesetzgebung. Die Carolina stellte sich als erstes Reichsstrafgesetz dar, das formelles und materielles Strafrecht in sich aufnahm, dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 39 sowie v. Hippel, Lehrbuch, S. 175 ff. 158 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 39; v. Hippel, Lehrbuch, S. 178, meint gar, „innerhalb des Gebiets der peinlichen Strafe bringt die Carolina die öffentlich-rechtliche Auffassung des Strafrechts zur vollen Durchführung.“ 155 156

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

konnte. Insofern also teilte er gegebenenfalls das Schicksal des Beschuldigten und wurde mitnichten besser behandelt. Von der einstigen Schlüsselstellung des privaten Anklägers war nur die Befugnis übriggeblieben, den Anklageprozess bei ausreichender Risikobereitschaft einleiten zu können. Der Sache nach vollzogen sich jedoch alle Verfahrensarten gleichermaßen in den Bahnen des amtlich betriebenen Inquisitionsprozesses. Auf eine Mitwirkung der Beteiligten und insbesondere des Verletzten kam es nicht länger an. Vom germanischen Rechtsgang war nur noch ein Rudiment erhalten. Gesetzgebung und Praxis waren darauf bedacht, alle privativen Schritte aus dem Prozess zu eliminieren.

3. Kulturgeschichtlich-staatstheoretischer Hintergrund Die recht radikale Hinwendung zum Inquisitionsprozess mit all seinen grausamen Konsequenzen sollte nicht ausschließlich negativ apostrophiert werden. Grundsätzlich war die Entwicklung durch das Bestreben gekennzeichnet, eine willkürfreie, gerechte und einheitlich gehandhabte Strafrechtspflege zu implementieren. Den politischen Hintergrund bildete nicht zuletzt das im Vordringen befindliche absolutistische Herrschaftsverständnis. Die Territorien konsolidierten sich zu Territorialstaaten. Eine neue Auffassung von moderner Staatlichkeit trat ihren eigentümlichen Siegeszug an. Landesfürsten und Könige wurden sich ihres Herrscheramtes bewusster denn je. Die Ausübung hoheitlicher Macht war zunehmend religiös beeinflusst. Die Verhältnisse innerhalb der Strafrechtspflege spiegelten insofern den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess wider. Das christliche Verständnis vom Fürstenamt drängte dazu, der Justiz neben dem Wort Gottes besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. „Die besondere Verantwortung für die Handhabung gerade der Strafrechtspflege wird mit Ernst aus frommer Einstellung heraus erfaßt. Der Fürst ist Gott dafür verantwortlich, daß im weltlichen Reich die Guten, d. h. die wahren Christen, vor den Bösen geschützt werden. [ . . . ] Nur in der Idee einer strengen Gerechtigkeit, die die Handhabung des Schwertes nicht scheut, hierbei aber Stetigkeit, Gleichmäßigkeit und Freiheit von aller Willkür verlangt, kann der Fürst die Richtlinie für die ihm anvertraute staatliche Strafrechtspflege finden. Daß es eine staatliche Strafrechtspflege sein muß, ausgerichtet allein an staatlich sozialen Zwecken ohne Rücksicht auf die Interessen der einzelnen Beteiligten, diese Auffassung erhält von jener fürstlichen Einstellung her bedeutsamen Auftrieb.“159 Hier begann der eigentliche Siegeslauf des Inquisitionsprozesses. Er bildete die Idee des zum Absolutismus neigenden Obrigkeitsstaates am adäquatesten ab und leuchtete als optimale, dem Staat dienende Verfahrensart unmittelbar ein. Er legte 159

Eb. Schmidt, Einführung, S. 112.

IV. Neuzeitliche Entwicklung

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die gesamte Strafverfolgung in die Hand der hoheitlichen Gewalt. Jede Mitwirkung einzelner Individuen musste den umfassenden Herrschaftswillen der Obrigkeit stören. Das mutmaßliche Streben nach Willkürfreiheit und Neutralität in der Strafrechtspflege brachte also die Herausbildung eines staatlichen Tätigkeitsdrangs mit sich, der bevormundend und reglementierend auf die Angelegenheiten der Untertanen Einfluss nahm. Der Einzelne galt als unmündiges Objekt, unfähig sein Glück zu erkennen oder gar eigenständig zu verwirklichen. Jedes eigenverantwortliche Handeln beeinträchtigte die Regierungsgewalt im Allgemeinen und die Untersuchungstätigkeit der Inquisitionsrichter im Besonderen. Die Verdrängung und Unterdrückung des Anklageverfahrens ging deshalb mit dem Abbau prozessualer Formen einher. Diese erwiesen sich als Hindernisse und lästige Schranken für die Betätigung staatlicher Macht, welche lieber nach freiem, ungebundenem Ermessen Bewertungen vornahm. So gewann der Strafprozess an politischer Brisanz. Private Willkür wurde zwar unterbunden. Jedoch wurde der Ausübung staatlicher Willkür nunmehr Tür und Tor geöffnet.160 Schließlich entwickelte sich der absolutistische Polizeistaat, der alle Staatsgewalt beim Landesherren bündelte. Die Aufgaben des Fürsten, für die Sicherheit des Landes und die in ihm lebenden, unmündige Untertanen zu sorgen, das Interesse an der Wahrung der eigenen Macht und – nicht zu vergessen – das fiskalische Interesse an Vermögenseinziehungen und Geldbußen drängten dazu, die Strafrechtspflege unter landesherrliche Leitung zu stellen. Sie wurde als Zweig der „Polizei“ begriffen.161 Da Gewaltenteilungsgesichtspunkte keine Rolle spielten, nahm der Fürst auch die höchstrichterliche Position für sich in Anspruch.

IV. Neuzeitliche Entwicklung 1. Blütezeit des Absolutismus Der absolutistische Staat erhob den Anspruch, sämtliche gestaltenden Aufgaben selbst zu lösen. Dabei stand der Schutz auch der schwächsten Untertanen durchaus 160 Da, wo der reine Anklageprozess zugelassen wurde, ging er in den Formen des gemeinen Zivilprozesses auf. Der Ankläger war beweispflichtig; zumindest für die zur Folterung ausreichenden und erforderlichen Indizien. Dem Beklagten war der Gegenbeweis gestattet. Ein Schriftsatzwechsel mit Replik, Duplik, Triplik usw. diente der Erörterung des Prozessstoffes. Beide Parteien konnten sich durch Advokaten vertreten lassen. Der Prozess bot dem Beklagten also lukrativere Verteidigungsrechte, die er allerdings eher als Verschleppungsmöglichkeit wahrnahm. Gerade das aber machte den Akkusationsprozess dem Polizeistaat zum missliebigen Übel. Dazu Eb. Schmidt, Einführung, S. 199. 161 Eb. Schmidt, Einführung, S. 179.

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D. Historische Grundlagen des Täterstrafrechts

im Zentrum der angedachten umfassenden politischen Tätigkeit.162 Als problematisch erwies sich indes die Verquickung weltlicher und geistlicher Ideen im Zuge der Amtsführung. Der kirchlichen Theorie nach war jeder Herrscher ein Beauftragter Gottes und zugleich Gesalbter des Herrn. Es bedeutete schwerste Sünde, sich an ihm zu vergreifen. Die kirchliche Salbung machte den Gedanken, dass alle Herrschaft von Gott abgeleitet sei, unmittelbar sinnfällig. Die Formel „Dei gratia“ brachte dieses Verständnis plakativ zum Ausdruck.163 Sollte der eigene Einfluss gemehrt werden, so musste der Fürst mächtiger sein als alle anderen gesellschaftlichen Kräfte.164 Insofern aber enthielt die Berufung auf den Willen Gottes die verschleierte Legitimierung des Prinzips der Souveränität. Der Staat beanspruchte die totale Verfügungsmacht über den Menschen; dies jedoch immer im Namen der angeblichen Wahrnehmung der Rechte der Untertanen.165 Mitnichten also war der Fürst dazu genötigt, den Individuen innerhalb des Staates eine Sphäre der Bewegungsfreiheit zuzubilligen. Das ohnehin lockere Staatswesen der Feudalzeit erforderte gerade das Gegenteil.166 Die Struktur des im Werden begriffenen Staates ist nur vor dem Hintergrund des Nebeneinander von weltlichem und geistlichem Führungsanspruch überhaupt erklärbar: Ein staatliches Monopol im Hinblick auf die allgemeine gesellschaftliche Aufgabenwahrnehmung konnte es nicht geben, solange der christliche Glaube das Denken der Menschen bestimmte. Nicht die oberste weltliche Macht, sondern der christliche Gott, vor dessen Majestät jeder irdische Glanz verblasst, war Gegenstand der größten Liebe und der größten Furcht. „Diese Doppelpoligkeit der christlichen Existenz enthebt den wahrhaft Gläubigen aller Menschenfurcht; sie macht ihn in seinem sittlich-religiösen Wesenskern von allem staatlichen Gebot unabhängig und schafft damit bereits eine staatsfreie Lebenssphäre.“167 In einer derartigen Formulierung könnte man so etwas wie eine Voraussetzung für ein modernes Menschenrechtsverständnis entdecken. Allerdings war es zunächst der absolutistische Herrscher, der seine Amtsführung von allen staatlichen Geboten unabhängig stellte. Er war nicht länger an vorgegebenes Recht gebunden. Er konnte Gesetze allein schaffen, aufheben, ändern oder durchbrechen, stand also über dem Recht.168

Kriele, Staatslehre, S. 122. Oestreich, Geschichte, S. 23, unter Hinweis auf die neue Festsetzung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt: „Die Zwei-Gewalten-Lehre des Papstes Gelasius wurde nun dahin erläutert, daß Gott dem Papst die beiden Schwerter verliehen habe und dieser dem Kaiser das weltliche übergebe“. 164 Kriele, Staatslehre, S. 122. 165 Kriele, Staatslehre, S. 129. 166 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 207 f. 167 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 207 f. 168 Kriele, Staatslehre, S. 121. 162 163

IV. Neuzeitliche Entwicklung

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Der in diesem Sinne installierte Souverän besaß die ungeteilte, unbedingte sowie unbeschränkte Macht, Recht nach eigenem Gutdünken zu manipulieren. Freilich wurde diese Befugnis nicht allein im Ausnahmefall oder gelegentlich als ultima ratio ausgeübt.169 Dem Christentum als Staatsreligion stand vielmehr der Arm des weltlichen Staates zur Verfügung, um damit alle missliebigen Gegner zu verfolgen und gegebenenfalls auszurotten. Der Fanatismus des Offenbarungsglaubens, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnte, machte von seinen Möglichkeiten rücksichtslos Gebrauch.170 In voller Übereinstimmung mit den zeitgenössischen politischen Theorien schilderte der liber de regimine principum den üblen Herrscher, den Tyrannen, der seine Untertanen beraubt und plündert, sie in Knechtschaft führt und ihre Freiheit schädigt, der sie sogar nach Willkür tötet.171

2. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung als Keim des Täterstrafrechts a) Willkür als Bezugspunkt des Ur-Grundrechts In der politischen Situation liegt ein maßgeblicher Grund für die vollständige Hinwendung des Strafprozessrechts zum (mutmaßlichen) Täter. Der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung gewann rapide an Bedeutung. Willkürliche Verfolgungsmaßnahmen im Dienste des Glaubens erhitzten die Gemüter und ließen die Strafrechtspflege zum Gegenstand der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion werden. Insofern aber steht die Entwicklung des modernen Strafprozessrechts in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage nach dem Ur-Grundrecht. Das Strafverfahrensrecht ist nicht (allein) das Ergebnis einer sich schrittweise vollziehenden Anpassung des gerichtlichen Verhandelns an die mit der Aufarbeitung von Delikten des sog. Kernstrafrechts verbundenen Bedürfnisse. Die Genese des Strafprozessrechts ist keineswegs ausschließlich von innen heraus und angelehnt an Tatbestände wie Diebstahl oder Mord erfolgt. – Das Interesse am Täter im Zeichen des Schutzes seiner Belange wurde ganz wesentlich von außen an die gesetzliche Konzeption des modernen Strafprozesses herangetragen. Genau an dieser Stelle trifft sich die Täterbezogenheit des strafrechtlichen Denkens mit der Geschichte der geistigen Vorbereitung der Menschenrechte. Neben wirtschaftlichen und politischen Motiven nehmen hier geistig-religiöse Anschauungen eine tragende Rolle ein.172 Die Empörung „vergewaltigter“ Gewissen sowie der Widerwille gegen die sog. Staatsräson liefern den ideengeschichtlichen Hinter169 170 171 172

Ritter, Menschenrechte, S. 202, 207. Ritter, Menschenrechte, S. 202, 208. Oestreich, Geschichte, S. 23, 24. Ritter, Menschenrechte, S. 202, 208 f.

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grund für den späteren Rationalismus und das Erfordernis, den Toleranzgedanken in den Strafprozess Einzug halten zu lassen. Dabei nimmt etwa die Reformation eine historisch durchaus umstrittene Stellung ein. Sicher aber ist, dass Teile des Protestantismus nicht wenig zur Begründung und Verwirklichung von Individualund Menschenrechten beigetragen haben.173 So stellte Martin Luther jeden einzelnen Menschen in eine unvermittelte Verantwortung vor Gott. Die Einzelperson erhielt eine religiöse Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, die in Glaubensfragen auch gegenüber der Obrigkeit in Erscheinung treten mussten.174 Jean Calvin griff die Lehren Luthers auf und betonte noch vehementer die Pflicht, sich jedem ungerechten Handeln einer Regierung zu widersetzen. „Der Genfer Reformator beauftragte hierzu die Ständevertretungen und knüpfte damit an die ständestaatlichen Institutionen seiner Zeit an. Calvin begriff das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen in Parallele zur Idee des religiösen Bundes zwischen Gott und Volk Gottes als gegenseitige Verpflichtung, als mutua obligatio zwischen Haupt und Gliedern der politischen Gemeinschaft mit wechselseitigen Rechten und Pflichten.“175 Radikale sowie verfolgte Sektierer waren leidenschaftliche Gegner des Absolutismus in Staat und Kirche. In einem sehr allgemeinen Sinn hatte der Kampf um die Religion folglich herausragende Bedeutung für die Entstehung des modernen Liberalismus und Demokratismus.176 „Er schuf gewissermaßen die Temperatur, die Weißglut der Leidenschaften, ohne die es unmöglich gewesen wäre, das starre System des fürstlichen Absolutismus zum Schmelzen zu bringen.“177 Die Auseinandersetzungen waren nicht auf ganz bestimmte Territorien beschränkt, sondern vollzogen sich im Rahmen einer gesamteuropäischen Entwicklung.178

b) Sogwirkung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Als besonders wichtig sollte sich die Gruppe jener streng gläubigen, englischschottischen Puritaner kongregationalistischer Richtung erweisen, die in England mit dem offiziellen Staatskirchentum in Konflikt gerieten und nach Holland bzw. 173 Oestreich, Geschichte, S. 31, der darauf hinweist, dass die Bandbreite der unter Historikern vertretenen Meinungen von der unmittelbaren Zurückführung der Menschenrechte auf einzelne Reformatoren bis zur vollkommenen Leugnung jedweder Verbindung mit dem reformatorischen Geistesgut reicht. 174 Dazu Oestreich, Geschichte, S. 31. 175 Oestreich, Geschichte, S. 32. 176 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 209 f. 177 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 211. 178 Oestreich, Geschichte, S. 32, bemerkt, dass der Calvinismus in den Niederlanden und England den Sieg des Absolutismus sogar verhindert habe: „Erst mit der Einbeziehung der Glaubenslehren, die hinter diesem Kampf standen, wird das Bild der politischen Geschichte des frühneuzeitlichen Ständestaates vollständig.“

IV. Neuzeitliche Entwicklung

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Amerika auswanderten. Die Neu-Englandstaaten dienten den Auswanderern als Forum des eigenen „Covenant mit Gott“. In Europa war es unmöglich gewesen, die puritanisch-theokratischen Sichtweisen ins Werk zu setzen. In Amerika sollte demgegenüber die restlose und ungestörte Verwirklichung aller ins Auge gefasster Ideale stattfinden.179 Hieraus resultierte die vornehmlich von Jellinek getroffene Einschätzung, dass die Wurzel aller politischen Menschenrechte im kolonialen Nordamerika des achtzehnten Jahrhunderts zu suchen sei und namentlich in der Forderung nach Religionsfreiheit.180 Damit wäre die aus der Anerkennung der Menschenrechte folgende Freiheit letztlich ein Ergebnis der Reformation.181 Freilich aber standen die ersten puritanischen Auswanderer nicht im Rufe, in Amerika ein Reich religiöser Freiheit begründen zu wollen.182 Die Puritaner waren ebenso wenig Verfechter religiöser Toleranz wie die Lutheraner und Calvinisten. Es ist zwar richtig, dass die englischen Kolonisten vielfach der Religionsbedrückung im Mutterland entflohen waren, jedoch entwickelten sie schon bald nach der Ankunft in Amerika selbst die größte Unduldsamkeit gegen alle Andersgläubigen.183 Die Trennung von Staat und Kirche lag ihnen fern. Es ging ihnen allein darum, ihre religiösen Überzeugungen ungehemmt leben und bedingungslos verwirklichen zu können. – Und zwar durchaus mit ungebremster Härte gegen jede Form der Opposition.184 Es ist daher unmöglich, die 1776 proklamierten Menschenrechte, wie es Jellinek in einer berühmten Untersuchung von 1895 tat, aus irgendwelchen religiösen Toleranzforderungen der Amerikaner abzuleiten.185 Die Summe der individuellen Freiheitsrechte wie sie auch im Strafprozess stete Berücksichtigung zu finden haben, sind jedenfalls nicht Resultat und Folge der Anerkennung der Religionsfreiheit als Ur-Grundrecht. Gleichwohl steht fest, dass in der Bill of Rights der Staatsverfassung Virginias erstmals ein vollständiger Katalog von allgemeinen Menschen- und Bürgerrechten niedergeschrieben wurde. Erst 1776 erhielten die Menschenrechte damit eine Form, die sie zu einem wesentlichen Bestandteil des modernen staatlichen Rechts machten.186 Menschenrechte als Rechte hatte es im absolutistischen Europa nicht Ritter, Menschenrechte, S. 202, 209. Jellinek, Erklärung, S. 1 ff.; dazu insbesondere Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129 ff.; Vosseler, Studien, S. 166 ff. sowie Kriele, Staatslehre, S. 133 ff. 181 Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129 f. 182 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 209 f. 183 Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129, 131. 184 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 209 f.: „Ihre Freibriefe, die Stiftungsurkunden der NeuEnglandstaaten sagen es mit größter Deutlichkeit, dass diese Siedler Freiheit für ihre kirchliche Sondergruppe wollen – nichts weiter.“ 185 So ausdrücklich auch Ritter, Menschenrechte, S. 202, 210. 186 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 213 f. 179 180

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gegeben. Zwar gab es Verfassungsurkunden, die einzelne Rechte formulierten und die auch richterlich anwendbar waren. Jedoch handelte es sich hierbei lediglich um Toleranzen, die jederzeit durchbrochen oder aufgehoben werden konnten. Gesicherte Rechte standen den Menschen nicht zu. Ihnen blieb letztlich nur die Möglichkeit, untertänigst um die Gewährung oder Beibehaltung einzelner Toleranzen zu betteln.187 Politisch gesehen erschöpften sich die Menschenrechte also lediglich in einem moralischen Appell an den souveränen Herrscher.188 Rechte sind inhaltlich so formuliert, dass sie als Bestandteil des Verfassungssystems dem jeweiligen Machtinhaber selbst Grenzen setzen. Sie dürfen nicht lediglich zur Akklamation geeignet sein, sondern müssen darüber hinaus zur Opposition berechtigen. Sie sind ferner so auszugestalten, dass sie qua Verfassungsgesetz und durch richterliche Interpretation eine gewisse Verlässlichkeit gewähren. Man muss von ihnen Gebrauch machen können. Erst das verleiht Mut und Sicherheit bei denen, die sich auf ihre Grundfreiheiten berufen.189 Diese Forderungen wurden in der Bill of Rights erstmals konsequent umgesetzt. Mit Religionsfreiheit hatte dies weniger zu tun. Die Entstehung der einschlägigen Erklärungen stellt sich vielmehr als Ereignis der amerikanischen Revolutionsgeschichte dar.190 „Diese Freiheitsbills sind ein publizistisches Kampfmittel, ein Stück Revolutionspropaganda, wenn man will, zur Aufreizung eines noch zögernden, einer erst halb zum Abfall entschlossenen Nation.“191 Die amerikanischen Rechteproklamationen waren demnach zu einem beträchtlichen Teil Mittel der Abspaltung vom Mutterland. Sie sind nicht weniger als Proteste gegen das Verhalten der englischen Regierung. Es gab greifbare Veranlassung genug, um ganz bestimmte politische Rechte einzufordern, gesetzlich festzulegen und schließlich zu verkünden.192 Alles, was geschah, vollzog sich in Reaktion auf Maßnahmen der englischen Obrigkeit. Sämtliche verfasste Freiheiten wandten sich gegen wirkliche oder vermutete Übergriffe seitens des englischen Unterhauses.193 Auf allgemeine PolizeiKriele, Staatslehre, S. 127. Kriele, Staatslehre, S. 127, unter Berufung auf Kant, der dem „hochmütigen Namen der Toleranz“ die Freiheit gegenüberstellte. Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 878, meinte, „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führn. Dulden heißt beleidigen.“ 189 Kriele, Staatslehre, S. 128. 190 Dazu Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 139, 140: „Der Kampf gegen England wurde nicht nur militärisch, sondern auch publizistisch-propagandistisch geführt. Da seine Leitung vornehmlich in der Hand von hervorragenden Vertretern der angelsächsischen Rasse lag, so braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass die Führer gerade den nicht-militärischen Teil des Kampfes zu besonderer Meisterschaft entwickelten.“ 191 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 216. 192 Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129, 144. 193 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 214. 187 188

IV. Neuzeitliche Entwicklung

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vollmachten, die pauschal zu Haussuchungen und Festnahmen Verdächtiger legitimierten, antwortete man mit einem positiven Rechtssatz, der derlei Verfügungen kategorisch untersagte. Auf das Verbot freier Meinungsäußerung und der Verlautbarung abtrünniger Tendenzen reagierte man mit der Gewährung von Presse- und Versammlungsfreiheit, dem Petitions- und Beschwerderecht sowie der vollen Diskussionsfreiheit der Abgeordneten im Parlament. Zentral war folglich die strikte Untersagung aller Formen von Willkür.194 Sonder- und Ausnahmegerichte wurden verboten und stattdessen unparteiische Schöffengerichte in Straf- und Zivilgerichtsbarkeit ins Leben gerufen. Grundlos verhängte Strafen lieferten den Impuls für die Untersagung jeglicher Grausamkeiten in Strafprozess und -verfahren. Worum es mit all dem ging, lässt sich schlussendlich auf ein Wesentliches reduzieren: Intendiert war der Schutz vor willkürlicher Verfolgung, Verhaftung und Bestrafung.195 „Kein Gegenstand, der in den Rechteerklärungen so breit und so energisch behandelt wird, wie das Verhaftungsrecht und der Strafvollzug und positiv die Freiheit des Hauses, der Person der Familie gegen willkürliche Durchsuchungen und Verhaftungen und im Gefolge davon auch wichtige allgemeine Fragen des Straf- und Zivilprozesses, auch des materiellen Rechts im weitesten Sinne.“196 Der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung (Habeas Corpus) erweist sich mithin als grundrechtliche Voraussetzung dafür, dass der Einzelne überhaupt den Schutz des Gesetzes genießt und Freiheit berechenbar ist. Erst so wird ein selbstbewusstes, sicheres Dasein in einer Gesellschaft garantiert.197 Diese Sicherheit aber stellte sich als Grundlage aller anderen Freiheiten dar.198 Die politische Betätigungsfreiheit ist dabei von besonderer Relevanz. 194 Es ist bemerkenswert, dass nicht etwa ein Verbot der Sklaverei den Gegenstand und Ausgangspunkt des Ringens um Grundrechte bildete. Dabei war Thomas Jefferson durchaus daran gelegen, einen entsprechenden Passus in der Unabhängigkeitserklärung unterzubringen. Der Kongress ließ dies jedoch vorsichtig aber bestimmt korrigieren. Diese Inkonsequenz wurde viel später und erst nach den schweren Bürgerkriegen bereinigt. Die Sklaverei wurde also mitnichten ignoriert, ein entsprechendes Verbot war gleichwohl politisch nicht durchsetzbar. Dazu Ritter, Menschenrechte, S. 202, 217 ff. 195 Ebenso Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129, 146 f.; Ritter, Menschenrechte, S. 202, 213; Kriele, Staatslehre, S. 133 ff. 196 Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129, S. 146. 197 Kriele, Staatslehre, S. 136. Politische und konfessionelle Gründe sind dabei nicht voneinander zu trennen. Es ist keine englische Ausnahmeerscheinung, Dissidenten aus konfessionellen Erwägungen polizeilich zu verfolgen. Die von den Puritanern begehrten Freiheiten waren in der Versammlung von Hampton Court im Jahre 1604 von Jakob I. verweigert worden. Die Herstellung konfessioneller Konformität wäre anderenfalls behindert worden. Dies zog freilich schon im Mutterland aktiven Widerstand nach sich, etwa im schottischen Aufstand von 1638. 198 Die konsequente Trennung von Exekutive, Legislative und richterliche Gewalt war vor diesem Hintergrund geradezu selbstverständlich. „Sicherung gegen Willkür und Miß-

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c) Rechtsphilosophische Begründung Auch in rechtsphilosophischer Hinsicht ist die erste echte Anerkennung grundrechtlicher Mindestgarantien bemerkenswert. Auf dem „jungfräulichen Boden“ Kolonialamerikas gab es nach Abschüttelung der englischen Oberherrschaft eine ganz und gar traditionslose Gesellschaft.199 Es bedurfte keinerlei revolutionären Umsturzes der herkömmlichen Art. Dies aber ging mit einem Bruch in der Auffassung über die Erklärung des Naturrechts einher. Der „reine“, oder besser: „bereinigte“ Rationalismus erforderte keine Bestätigung kraft altehrwürdigen Herkommens. Man bewegte sich weg vom historischen und hin zum sog. „reinen Naturrecht“.200 Auch die Ideen und Ideale des christlichen Naturrechts blieben unaufgegriffen. Alle religiösen Bestandteile wurden säkularisiert. Die in den Bills verfassten Grundrechte fielen in der Hauptsache mit denjenigen Rechten zusammen, die der Mensch auch im Naturzustand bereits genoss. „Diese Rechte behielt der Mensch auch, wenn er den Gesellschaftsvertrag, ja sogar, wenn er den Subjektionsvertrag abschloß. Sie galten nicht nur als angeboren, sondern auch als unveräußerlich. Wenn man sie beschränkte, was selbst einige Theoretiker zuließen, so konnten derartige in der Praxis des absoluten Staates allgemein gebräuchliche Beschränkungen an den bei den Grundeigenschaften der naturrechtlich konstruierten subjektiven öffentlichen Rechte nichts ändern. Daß ihre Gültigkeit auf alle und auf jeden einzelnen erstreckt wurde, dafür sorgte der Universalismus und der Individualismus der Aufklärung.“201 Dieser Lehre nach kamen jedem Individuum wohlverstandene eigene Interessen zu, die dem Staat vorausgingen. Daraus folgte bereits eine gewisse Prästabilisierung der Harmonie zwischen Eigen- und Gemeininteresse. Der neue Staat erkannte die Personalität des Einzelnen an, bejahte also die Subjektivität des Menschen. Gerade das aber stellte sich als vertrauens- und identitätsstiftend heraus. „Politische Freiheit, sofern sie den Staatsbürger zum Mitträger der öffentlichen Gewalt macht – jedem an seiner Stelle und in den Grenzen seines brauch der Gewalt ist die höchste Aufgabe der Verfassung.“, Ritter, Menschenrechte, S. 202, 214 f. 199 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 217 f. 200 Ritter, Menschenrechte, S. 202, 216. 201 Hashagen, Entstehungsgeschichte, S. 129, 152 f.; vgl. dazu Locke, Letter, S. 45, mit dem Hinweis, dass staatlicher Zwang stets unstatthaft sei, wenn er sich gegen ein Verhalten richte, dass keine Rechte anderer verletze und nicht darauf abziele, andere zu beherrschen. Überhaupt sei jede praktische Meinung, die in Widerspruch mit der Möglichkeit menschlicher oder bürgerlicher Existenz stehe, abzulehnen: „No opinions contrary to human society, or those moral rules which are necessary to the preservation of civil society, are to be tolerated by the magistrate.“ Folglich seien Zwangsmaßnahmen nur legitim, um die Schädigung anderer zu verhüten, so Mill, Freiheit, S. 16, wobei „Schädigung“ nur die Beeinträchtigung bzw. Bedrohung rechtlich geschützter Güter und Interessen meine. Damit wurde gewissermaßen die Rechtsgutsdiskussion des 19. Jahrhunderts schon vorweggenommen, so auch Renzikowski, Meurer-FS, S. 183 ff.

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praktischen Vermögens – verstärkt das moralische Band der politischen Gemeinschaft, das alle umschließt.“202 Das war durch die Bill of Rights geschehen. Hierin liegt die Bedeutsamkeit der Abspaltung von England. Vorher hatten nicht einzelne Private ihre Mitmenschen zu Opfern gemacht, die ins Blickfeld der Öffentlichkeit gelangten. In der Wahrnehmung der zur Untertänigkeit verpflichteten Gemeinschaft machte der Staat die Menschen zu Opfern. Er bediente sich der Mittel und Methoden des Strafrechts, um eigene Macht und Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren. Dies brachte Täter ohne greifbare Tat hervor und Verfolgungen bzw. Bestrafungen, die allenfalls abweichende Gesinnungen zur Grundlage hatten. Hieraus resultierte die Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Staat und dem einer Straftat bezichtigten Bürger. Täter und Opfer waren in den die Wahrnehmung der Öffentlichkeit erregenden Konstellationen deckungs- und personengleich. Die staatliche Verfolgungstätigkeit suchte nicht individuelle Opfer zu schützen, sondern brachte selbst Opfer hervor. Die amerikanischen Verfassungen hatten deshalb eine fast isolationistische Tendenz. Sie schufen Fluchtburgen für europäische Emigranten203, denn inzwischen litt Europa unter dem Absolutismus.

3. Case law und Parteienprozess Von eruptiven politischen Umwälzungen blieb das englische Mutterland stets verschont.204 Auch hier gab es ein Ringen um Bindung und Beschränkung der obersten Herrschaft.205 Jedoch sind die relevanten Bezugspunkte von grundsätzlich verschiedener Natur. Um dies zu erklären, erscheint es angezeigt, auf einen Zeitpunkt weit vor der amerikanischen Verfassungsbewegung zurückzuspringen. Die Entwicklung nimmt ihren Ausgangspunkt bereits in der Regentschaft Johann Ohnelands, der sich in langjährige Streitigkeiten mit seinen Vasallen und dem französischen König, mit dem Papst sowie mit seinen englischen Untertanen verstrickte.206 Ungeschicktes politisches Agieren führte dazu, dass Johann in jedweder Hinsicht Verluste zu beklagen hatte.207 Die Streitigkeiten führten zu einem Ritter, Menschenrechte, S. 202, 219 ff. Kriele, Staatslehre, S. 143. 204 Zweigert / Kötz, Rechtsvergleichung, S. 178, mit dem Hinweis, dass das Rechtswesen in England nie durch ein radikal neues System ersetzt wurde. 205 Oestreich, Geschichte, S. 25. 206 Näher aus historischer Sicht M. Maurer, Geschichte, S. 44. 207 Johann Ohneland musste den größten Teil des angevinischen Reiches und der Normandie aufgeben, wurde vom Papst zwischenzeitlich exkommuniziert, musste an den Heiligen Stuhl eine hohe Strafsumme zahlen und das englische Königreich zum Lehen des Papstes erklären, M. Maurer, Geschichte, S. 45. 202 203

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Abkommen, das oft als eine Art Verfassungsurkunde der englischen Geschichte betrachtet wurde: die Magna Charta Libertatum von 1215. In Wahrheit handelte es sich indessen um die eigentümliche Variante eines Herrschaftsvertrages. Die englischen Barone nutzten die allgemeine Unzufriedenheit im Lande, um mit dem als despotisch empfundenen Johann Ohneland zu einer grundsätzlichen Neuregelung der Verhältnisse zwischen Krone und Ständen zu finden.208 Die Magna Charta diente in England im Laufe der Geschichte immer wieder dazu, den Anspruch auf Freiheit gegenüber dem Herrscher aufrechtzuerhalten. Allerdings ging es dabei nicht um irgendeine Form von Menschenrechten, sondern um korporative Rechte zu Gunsten der Stände. Der König gab einige neue Rechte, die er sich angemaßt hatte, auf und bestätigte ältere Privilegien der Barone. Auf diese Weise sicherte er einen freiheitlichen Raum für die das englische Gemeinwesen repräsentierende Schicht.209 Schon die Lektüre des berühmten Art. 39 der Magna Charta verdeutlicht den ständischen Charakter des Dokuments. Hier ist der Satz zu lesen, dass kein freier Mann verhaftet, gefangen gehalten, enteignet, geächtet, verbannt oder auf irgendeine Art zugrunde gerichtet werden dürfe, es sei denn aufgrund gesetzlichen Urteilsspruchs von seinesgleichen oder aufgrund des Landesrechts. Angesprochen war also nur der durch das Lehensrecht priviligierte Personenkreis.210 Es ist zwar eine nicht zu vernachlässigende Erkenntnis, dass schon 1215 die Wichtigkeit der Freiheit vor Willkür herausgestellt wurde, jedoch gelang es erst in Amerika, den zitierten Worten individualrechtlichen Gehalt zu verleihen. Garantien gegen den Missbrauch der königlichen Gewalt konnten in England nur durch und für Barone erzwungen werden. Die ständischen Beschränkungen wurden auch in den nächsten Jahrhunderten nicht korrigiert. Trotz des personell begrenzten Anwendungsbereichs der Magna Charta brachte diese nicht zu unterschätzende Neuerungen mit sich, welche auf die Entwicklung des Gerichtswesens nachhaltigen Einfluss haben sollten. Auf Drängen der Stände wurde ein Gericht nach dem anderen vom Handeln des Königshauses und seinen unmittelbaren Ratgebern unabhängig gemacht.211 Es setzte sich als Rechtsprinzip durch, dass eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Stände sprach. Nicht die Macht der Regierung, sondern die Freiheit der Barone galt als grundsätzlich unbeschränkt. Alle Handlungen des freien Bürgers wurden solange für gesetzmäßig gehalten, wie nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie gegen geltendes Recht 208 M. Maurer, Geschichte, S. 45. Als der König nicht auf die Forderungen einer größeren Gruppe von Baronen einging, kündigten sie ihm die Lehenstreue auf und gingen zum bewaffneten Widerstand über. Um diesen abzuwenden, trat Johann in Verhandlungen ein. 209 Oestreich, Geschichte, S. 25. 210 Oestreich, Geschichte, S. 25. 211 Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte, S. 275. Das Königtum reagierte zwar anfangs mit der Einrichtung einer außerordentlichen Gerichtsgewalt. Gleichwohl konnte sich aber die ständische gegenüber der königlichen Jurisdiktion durchsetzen.

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verstießen. Mithin war die Staatsgewalt auf solche Eingriffe beschränkt, die in einem vorhandenen Gesetz ausdrücklich bezeichnet waren.212 Es ging also nicht darum, die Stände von der monarchischen Gewalt schlechthin unabhängig zu stellen oder diese gar zu vernichten. Das Ziel bestand darin, der Macht des Souveräns Grenzen zu setzen. Das schuf eine gewisse Balance, erhielt gleichzeitig die Konkurrenz und verhinderte eine Übermacht der Krone über die Stände.213 Deren Handlungsfreiheit wurde zum selbstverständlichen Gut und bedurfte keiner weiteren Reglementierung durch umfangreiche Kodifikationen. Freiheit wurde nicht positiv gewährt. Im Streitfalle war umgekehrt die Feststellung nötig, dass die Freiheit rechtsmissbräuchlich betätigt worden war. Das führte dazu, dass der Rechtspraktiker nicht mit der Durchsetzung gesetzlicher Anspruchsgrundlagen und Tatbestände befasst war, sondern mit der Wahl des zutreffenden Klagetyps. Nicht ein bestimmter Codex, sondern der betreffende Sachverhalt war (und ist) für die Verarbeitung und Behandlung des Rechtsstoffes (meist) von Belang.214 Da jedes unaufgeforderte hoheitliche Tätigwerden als Eingriff in die Freiheit der Stände empfunden worden wäre, war es dem Kläger selbst überantwortet, die Ladung des Beklagten vor Gericht zu beantragen.215 Sodann wurde die Sache in Gegenwart der Parteien verhandelt. Jede Form der Bevormundung hätte die Beteiligten empört, weshalb sie selbst die Verfahrensherrschaft innehatten. Der Entwicklung wurde durch eher beiläufige Gesichtspunkte Vorschub geleistet. Die Spezifika des englischen Rechtswesens konnten sich auch vor dem Hintergrund der Herausbildung eines einflussreichen Juristenstandes etablieren, der sich die handwerklich-praktische Seite der Rechtspflege zu sichern wusste und nie wieder aus den Händen hat nehmen lassen. Insofern stärkten die Besonderheiten der englischen Rechtsschulen und die Eigentümlichkeiten des juristischen Berufslebens die Parteienherrschaft vor Gericht zusätzlich. Die verhandelten Sachverhalte wiesen freilich Ähnlichkeiten auf und so kam es zu einer Standardisierung des Verfahrens. Das Recht wurde zu einem kasuistisch verfestigten Apparat, der seiner Intention nach an der Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit interessiert war. Ohne positives Recht wird das vertikale Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger weniger offenbar. Der rechtstheoretische Hintergrund erscheint in verändertem Antlitz. Es ergibt sich der Schluss, dass case law und Parteienprozess ursprünglich in einem unmittelbaren Zusammenhang standen. Rechtliche Fragen wurden nicht mittels förmlichen Gesetzes für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen für die Zukunft geregelt. Der Eintritt von Konflikten wurde abgewartet und 212 213 214 215

Zippelius, Gesellschaft, S. 206 Zippelius, Gesellschaft, S. 208. Zweigert / Kötz, Rechtsvergleichung, S. 183. Zweigert / Kötz, Rechtsvergleichung, S. 181.

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diente als unbedingte Grundlage, um das Recht hinsichtlich seiner Reichweite und die Freiheit in Bezug auf ihre Grenzen abstecken zu können. Dies geschah freilich auch nur mit Geltungskraft zwischen den am Rechtsstreit Beteiligten. Alle weiteren Standardisierungen sind das Ergebnis der Notwendigkeit, Rechtssicherheit und eine gewisse Vereinheitlichung der Rechtspflege zu erreichen. Das aber sind letztlich aus Praktikabilitätserwägungen geborene Folgeerscheinungen, die sich durch Übung wiederum zu eigenen Rechtsprinzipien verdichtet haben und erst in ihrer Summe zu einem überschaubaren System führen.

V. Konsequenzen für die deutsche Rechtsentwicklung In Deutschland schien die Entwicklung indessen zu stagnieren. Von einem demokratischen Radikalismus konnte nicht die Rede sein. Die „Befürworter eines demokratischen Verfassungsstaates krümmten ihr Rückgrat und fuhren fort, Bitten an den Fürsten zu richten, von denen sie wussten, daß sie abgeschlagen werden würden, und verschafften sich mit solchen Bitten das gute Gewissen der Fortschrittlichkeit.“216 Vor der Revolution scheute man dagegen zurück. Die allseitige Polarisierung entlud sich erst 1848.217 Jedoch geriet der Aufstand allzu halbherzig, unausgegoren, inkonsequent und ohne ausreichende Berücksichtigung der realen Kräfteverhältnisse und Machtbedingungen.218 Noch bis 1918 behielt der Fürst alle Staatsgewalt inne. Es gab zwar ein Parlament, dem gewisse Mitwirkungsrechte zugestanden wurden, jedoch war der Monarch auch weiterhin in der Lage, geltendes Recht auszusetzen bzw. nach eigenem Gutdünken einseitig zu interpretieren.219 Es wurden also Toleranzen gewährt, nicht aber justitiable Grundrechte. Die Erfahrungen der Revolutionsbewegung in Europa ließen es aus monarchischer Perspektive nicht zu, die Geduld der Untertanen über Gebühr zu strapazieren. „Klugheit und Milde haben es dem Souverän geboten erscheinen lassen, in Kriele, Staatslehre, S. 322. Im Ergebnis brachte die Revolution von 1848 eine rückwärts gewandte Entwicklung mit sich. Alle neueren Verfassungen mussten auf Drängen einer extra geschaffenen Bundesaufsichtsbehörde (dem sog. „Reaktionsausschuss“) aufgehoben werden. Es kam zu drastischen Einschränkungen der gewährten Toleranzen, etwa der Presse- und Meinungsfreiheit, Hattenhauer, Grundlagen, S. 104. 218 Kriele, Staatslehre, S. 323. 219 Kriele, Staatslehre, S. 313. Es gab zwar demokratische Verfassungselemente. Allerdings wurde die monarchische Souveränität nur relativiert, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt. Ferner Hattenhauer, Grundlagen, S. 105 ff., mit dem Hinweis, dass sich etwa Friedrich Wilhelm IV. einem Papier geradezu verweigerte, das sich zwischen Land und Herrgott drängte. Für ihn ging alle Gewalt von Gott und nicht vom Volke aus. 216 217

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normalen Zeiten die gesetzlich gewährten Rechte als Toleranzen zu respektieren [ . . . ], wenn auch nur unter dem Druck der Notwendigkeit, sich eine breitere Legitimitätsgrundlage zu verschaffen und die Revolution abzuwenden.“220 Es gelang nicht, die Rule of Law auch in Deutschland durchzusetzen.221 Landesherrliche Eingriffe in die Rechtspflege blieben selbstverständlich. Der Wille des Fürsten konnte sich immer noch über Gerichtsurteile hinwegsetzen. Der Geist des absolutistischen Polizeistaates hielt sich in allen deutschen Regionen.222 Nicht anders in der Strafrechtswissenschaft. Die straftheoretische Diskussion lieferte die wissenschaftliche Begründung und Untermauerung des polizeistaatlichen status quo. Das Strafrecht wurde als Teil der Prävention begriffen. Es wurde als Konsequenz des dem Staate naturrechtlich zustehenden Schutzrechts zu Gunsten der Untertanen beschrieben.223 Das Verbrechen enthielt demnach die konkludente Drohung, dass die begangene Tat in Zukunft wiederholt werde. Die Tat diente mithin als Erkenntnisgrund für die gefährliche rechtsbrecherische Gesinnung des Täters, die es im Zuge der Vollstreckung der Strafe zurückzuweisen und auszuräumen galt. Das die Methoden des Polizeistaates legitimierende Moment lag also weniger in der abstrakten Strafandrohung als vielmehr im Strafvollzug. Der Umfang des im Einzelfall anzuwendenden Präventionszwangs wurde in Proportion zu der im Verbrechen sichtbar gewordenen Androhung zukünftiger Straftaten ermittelt. Das bedeutete einerseits eine kategorische Absage an den Gedanken der Tatvergeltung und an jede Form der Genugtuung, ließ andererseits aber einen breiten Spielraum für die Festlegung der schlussendlich zu verhängenden Strafe zu. Die Gesinnung des Täters bildete schließlich den einzig relevanten Bezugspunkt der strafrechtlichen Beurteilung. „Aus der jeweiligen psychologischen Situation des Täters, aus der Stärke der Anreize und Motive, ergeben sich die Abstufungen, die den Grad der Immoralität wie den der Imputation bestimmen und demgemäß für die rechte Verhältnismäßigkeit von zurechenbarer Schuld und Strafe sorgen.“224 Die Summe der einschlägigen Gesichtspunkte ergab eine Theorie der Spezialprävention, die politische Besserung intendierte, die dem Täter abverlangte, sich mit den polizeistaatlich-absolutistischen Bedingungen zu arrangieren. Schon die geistige Auflehnung gegen die Obrigkeit genügte, um die Berechtigung der Strafe theoretisch zu fundieren. Die Strafrechtswissenschaft war zur wortgewandten Basis absolutistischer Nützlichkeitserwägungen geworden.225 Kriele, Staatslehre, S. 313. Stattdessen spricht man von einer eigentümlichen Gemengelage zwischen Absolutismus und Verfassungsstaat. Es formierte sich eine Demokratie unter den Bedingungen und unter dem Vorbehalt des Obrigkeitsstaates. Dazu Huber, Verfassungsgeschichte Bd. III, S. 3 ff.; ferner Kriele, Staatslehre, S. 313. 222 Eb. Schmidt, Einführung, S. 281. 223 Dazu Eb. Schmidt, Einführung, S. 226 ff. 224 Eb. Schmidt, Einführung, S. 227. 220 221

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In diesem Klima entwickelte Kant seine Lehren. Er stellte dem Polizeistaat eine neue Auffassung von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit gegenüber.226 Er lehnte eine Staatsräson ab, die darauf drängte, den Einzelnen durch Zwang auf den Weg der Tugend zu führen. Jede sittliche oder politische Beeinflussung verbat sich daher. Freiheit könne nicht durch eine obrigkeitliche oder sonstige Instanz verordnet werden, sondern sei das Ergebnis der Selbstbindung an das Gesetz der Vernunft.227 Ihr zu folgen, sei die einzige sittliche Pflicht. Nur die Vernunft mache die Persönlichkeit des Individuums aus, nicht aber Maßnahmen einer äußeren Befehlsgewalt. Dies stellte einen scharfen Widerspruch, ein krasse Auflehnung gegen den Absolutismus dar. Kant rief die Autonomie aus und forderte die Selbstverwirklichung des Menschen, die ihn zur sittlichen Persönlichkeit werden lasse und ihm überhaupt erst die Möglichkeit der Erfüllung des menschlichen Daseinszwecks verschaffe. Der Ausübung staatlichen Zwangs wurden auf diese Weise erstmals klare Grenzen gesetzt. Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass Rechtszwang nur insoweit zulässig ist, als die Willkür an der Idee der Freiheit ohnehin ihre Schranken findet. Legalität wird durch die Richtigkeit äußeren Handelns erreicht, für den Menschen als sittliche Persönlichkeit ist sie jedoch ohne Relevanz. Das Verdienst von Kant bestand in der Trennung von Legalität und Moralität.228 Auf dieser Grundlage aber waren die damals gängigen Präventionstheorien nicht länger vertretbar. Sie legitimierten die Ausübung von Willkür und legten alle Geschicke in die Hände der landesherrlichen Gewalt. Die historische Debatte verdeutlicht, in welchem Spannungsfeld sich das Strafrecht damaliger Zeit befand. Die polizeistaatliche Tätigkeit war letztlich und trotz aller Gewährungen kaum berechenbar. Es war leicht, sich der Mittel des Strafrechts zu bedienen, um absolutistischen Zielen zur Durchsetzung zu verhelfen. Die staatliche Ordnung machte Andersdenkende und Abweichler zu Beschuldigten und entledigte sich so missliebiger Zweifler. Dies aber forcierte eine Entwicklung, an 225 Eb. Schmidt, Einführung, S. 229, der auch auf die Besorgnisse innerhalb anderer kultureller Bereiche hinweist, etwa auf Schillers „Maria Stuart“, in der die Makel des polizeistaatlichen Denkens zur Sprache gebracht werden: „Mißtraut Euch, Edler Lord, daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine.“ 226 Kant, MdS, S. 345: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“ 227 Kant, MdS, S. 326: „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff [ . . . ].“; S. 329 f.: „Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen [ . . . ], woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie [ . . . ] sich selbst gibt, unterworfen ist.“ 228 Kant, MdS, S. 324: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“

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deren Ende schließlich eine Reihe von Instituten standen, die die Beschuldigtenrechte im Strafprozess wahren sollten. An derartigen Fragen entzündete sich die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion. Die Position konkret betroffener Opfer im Bereich von Delikten des Kernstrafrechts war demgegenüber von nicht einmal randständiger Bedeutung. Das wissenschaftliche Ziel bestand darin, eine schwankungsunterworfene, zur Willkür neigende Strafrechtspflege in eine gewisse Stetigkeit, Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu bringen.229 Dieser Gedanke findet sich auch bei Feuerbach, der aus dem politischen Zeitgefühl heraus den konstitutionellen Staat forderte, in dem die Untertanenrolle des Einzelnen der Staatsbürgerfunktion weicht.230 Feuerbach hielt – wie Kant – den Strafvollzug für weniger erheblich. Es sei die konkrete Strafandrohung, die in der Allgemeinheit der Staatsbürger die Vorstellung eines bestimmten, mit Notwendigkeit eintretenden Übels für den Fall hervorrufe, dass jemand mit dem Gedanken der Begehung von Straftaten spiele.231 Insofern entfalte das Strafrecht eine Art psychologischen Zwang.232 Feuerbach griff also – anders als Kant – die Präventionstheorie wieder auf. Die Idee der Generalprävention hatte bereits Pufendorf postuliert, jedoch verschoben sich bei Feuerbach die Akzente: Zentral war die Verbindung der Generalprävention mit der Funktion des Strafgesetzes. Denn das Gesetz allein hatte zu bestimmen, was strafbar ist und wie zu bestrafen sei.233 Damit kam ein freies Eb. Schmidt, Einführung, S. 239. Feuerbach, Grundbegriffe Bd. 1, S. 39: „Der Zweck des Staates ist die wechselseitige Freiheit aller Bürger, oder, mit anderen Worten, der Zustand, in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann.“ Dazu Eb. Schmidt, Einführung, S. 238. 231 Feuerbach, Grundbegriffe Bd. 1, S. 49: „Hieraus folgt denn, daß die Verknüpfung des Uebels mit dem Verbrechen durch ein Gesetz angedroht sein müsse. Das Gesetz ist allgemein und nothwendig: es spricht zu allen Bürgern, droht jedem, der sich des Verbrechens schuldig macht, die Strafe, und stellt diese Strafe, eben weil es ein Gesetz ist, als eine rechtlich-nothwendige Folge des Verbrechens dar.“ 232 Feuerbach, Grundbegriffe Bd. 1, S. 43 ff.: „Die zweite Sorge des Staates, welche durch den Gesellschaftszweck nothwendig gemacht wird, geht daher dahin, daß wer unbürgerliche (rechtswidrige) Neigungen hat, psychologisch verhindert werde, sich nach diesen Neigungen wirklich zu bestimmen. [ . . . ] Niemand ist frei, als durch sich selbst; niemand kann frei werden, als durch eigne Kraft. Es bleibt daher dem Staate kein anderes Mittel übrig, als durch die Sinnlichkeit selbst auf die Sinnlichkeit zu wirken, und die Neigung durch entgegengesetzte Neigung, die sinnliche Triebfeder zur That durch eine andere sinnliche Triebfeder aufzuheben. [ . . . ] Die Uebertretungen werden daher verhindert, wenn jeder Bürger gewiß weis, daß auf die Uebertretungen ein größeres Uebel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Beduerfnisses nach der Handlung [ . . . ] entspringt.“ 233 Feuerbach, Grundbegriffe Bd. 1, S. 52. Der Vollzug sei nur insofern von Belang, als er die Ernsthaftigkeit der gesetzlichen Strafandrohung unterstreiche: „[ . . . ] das Gesetz enthält die Drohung, die Ausübung des Gesetzes giebt der Drohung Wirksamkeit; das Gesetz bestimmt, daß die Verknüpfung des Uebels mit einer Rechtsverletzung, eine rechtlich-notwendige Verknüpfung sey, die Execution aber, daß diese rechtliche Ordnung nicht blos idealisch, 229 230

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Ermessen des Richters ebensowenig in Betracht wie der machtpolitische Einfluss absolutistischer Staatsgewalt: Nullum crimen, nulla poena sine lege.234 Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass hiermit der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Bestrafung erneut in Bezug genommen war.235 Es ist also nicht zutreffend, wenn gelegentlich die gleichsam vorsichtige Vermutung geäußert wird, die Hinwendung des Strafrechts zum Täter sei wohl in der Herausbildung staatlicher Macht sowie in deren Ausdehnung und Verfestigung im Laufe der Jahrhunderte zu sehen.236 Eine solch vage Andeutung greift zu kurz. Die Hinwendung zum Täterstrafrecht entsprach der Jahrhunderte alten Forderung nach Begrenzung staatlicher Macht sowie dem Streben, der Ausübung staatlicher Willkür Einhalt zu gebieten. Das Täterstrafrecht mit seinen umfassenden Schutzmechanismen zu Gunsten des Beschuldigten wurde der staatlichen Autorität nach nahezu einem Jahrtausend der Auseinandersetzungen abgerungen. Der Ruf nach stärkerer Einflussnahme seitens des Opfers ist demgegenüber eine echte Neuerung innerhalb der strafrechtlichen Diskussion. Die Konzentration auf die Rechte des Beschuldigten resultiert nicht zuletzt aus der stets vorhandenen Skepsis gegenüber dem Ruf nach individueller Genugtuung, sei es die des absolutistischen Herrschers oder die des rachsüchtigen Einzelnen. Stets stand ein Ringen um größtmögliche Objektivität im Mittelpunkt des Interesses. Es erscheint deshalb zweifelhaft, ob es ratsam ist, von diesem Streben zu Gunsten einer opferorientierteren Strafrechtspflege abzurücken. Die geschichtliche Entwicklung ist durchzogen von Ereignissen, die einzig das Ziel verfolgten zu dokumentieren, dass die eigenen Kräfte im Verhältnis zu denen des Kontrahenten in nichts nachstehen. Genugtuung wurde erreicht durch Demütigung, durch ein Sich-Erheben über den anderen im Zuge einer Handlung bzw. eines Verhaltens des Trotzes. Trotz aber führt zu einer nicht enden wollenden Auseinandersetzung rivalisierender Konkurrenten, in der es nicht um Befriedung oder Klärung des ausgetragenen Konflikts geht, sondern allein um eine Demonstration der Stärke.237 Das hat sich als fruchtlos und gesellschaftlich schädlich erwiesen. Das Streben nach individueller Genugtuung mündete regelmäßig in einer Spirale der Gewalt. Hierin ist der Grund für eine Entindividualisierung, für die Verallgemeinerung und Hochzonung wie letztlich auch für die Forderung nach Gewalsondern real, die Drohung des Gesetzes nicht eine Scheindrohung, sondern eine wirkliche Drohung sey.“ 234 Dazu ferner Eb. Schmidt, Einführung, S. 239. 235 Vgl. auch Ritter, Menschenrechte, S. 202, 234. 236 So aber Weigend, Deliktsopfer, S. 93; ferner Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 123 ff. 237 Vor diesem Hintergrund ist auch Feuerbachs, Grundbegriffe Bd. 1, S. 66 f., Verständnis der Strafe zu verstehen, der diese sorgfältig von der bloßen Rache scheidet, der rechtlicher Charakter nicht zukomme: „Die bürgerliche Strafe ist unterschieden von der Rache. Diese ist ein, ohne einen rechtlichen Grund zugefügtes Uebel; die Strafe hat in der Uebertretung des Gesetzes einen hinreichenden rechtlichen Grund. Es ist daher Rache und nicht Strafe, wenn der Staat, ohne daß ein Gesetz vorhanden ist, einem Beleidigten ein Uebel zufügt.“

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tenteilung zu sehen. Übergeordnete und vor allem unabhängige Organe und Institutionen wurden mit der Aufgabe betraut, für eine endgültige Streitbeilegung und Befriedung zu sorgen. Damit verband sich bei Kant zunächst ein Wandel im Verständnis von Genugtuung oder Vergeltung. Es ging um deren Objektivation. Sie wurde ergebnisorientierter und vernunftgeleitet im Sinne der Förderung von Gerechtigkeit. Daraus aber folgt, das die Verdrängung des individuellen Genugtuungsstrebens aus dem strafrechtlichen Denken seinem historischen Hintergrund nach eine Errungenschaft ist. Denn individuelles Genugtuungsstreben und finale Erledigung des Streits schlossen einander aus. Rechtliche Streitbeilegung meint also objektive und befriedende Konfliktbewältigung. Es ist lobenswerte Eigentümlichkeit des juristischen Prozessierens, emotionalen Aufwallungen und ungestümen Gemütsregungen möglichst nicht Vorschub zu leisten, sondern diese in einem geordneten, an sachlichen Kriterien orientierten Verfahren auf ein unausweichliches Minimum zu reduzieren. Die Nüchternheit und Unvoreingenommenheit des Richtens, die Zurückweisung eines subtilen Ehrdenkens sowie die Absage an alle Rachegelüste machen die Essenz des rechtlichen Verhandelns aus. Soweit man der Genugtuung also einen Stellenwert beimessen möchte, so wäre dieser in der Idee (objektiver) Vergeltung, im Prinzip der Talion zu entdecken, wie er im peinlichen Strafen seinen grausamsten Ausdruck fand. Wenn man den Straftäter als Mitglied der Gesellschaft indessen nicht disqualifiziert betrachtet, verliert auch dieser Gedanke an Überzeugungskraft. Folglich sollte dem Terminus der Genugtuung im Strafrecht eine allenfalls randständige, reflexive Bedeutung beigemessen werden. So lehrt es zumindest die Geschichte.

E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien Mit dem Gegenüber der straftheoretischen Thesen Kants und Feuerbachs ist man im Grunde in der Gegenwart angekommen. Gelegentliche Impulse hat die Strafzwecklehre durch die Befürwortung der Wiedergutmachung1 sowie die Konstruktion eines Genugtuungsanspruchs zu Gunsten des Opfers2 erfahren. Der alte Streit um die Vorzugswürdigkeit vergeltungstheoretischer oder präventionsorientierter Thesen3 ist gleichwohl nie durch gänzlich neue Vorschläge ersetzt worden. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die Bestrafungspraxis der tradierten Art bislang nicht durch alternative Konfliktlösungsmechanismen verdrängt worden ist.4 Ob sich derartiges in nächster Zeit abzeichnet, ist mindestens zweifelhaft. Eine moderne Auffassung von Individualität und Staatlichkeit indiziert mitnichten revolutionäre Umbrüche im Bereich der Strafrechtspflege. Auch eine Dogmatik, die dem einzelnen Bürger verpflichtet ist und diesen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, führt nicht automatisch zu eruptiven Veränderungen hinsichtlich der sachgerechten Folgen krimineller Delinquenz. Einzig die Prämissen verschieben sich. Die herkömmliche Trennung von Rechtsgut und Rechtsgutsträger wird mit Hilfe der Rechtsverletzungslehre sowie im Zuge der Anerkennung subjektiver Rechte überwunden. Jede an einem Individuum verübte Straftat stellt sich daher zunächst als Beeinträchtigung ihrer geschützten Rechtspositionen dar bzw. als Unmöglichmachung ihrer Ausübung. Mithin stört die Straftat das subjektive Recht als Institut. 1 Wobei die Diskussion vielfach vor dem Hintergrund der hergebrachten Strafzwecklehren stattfindet. So betont etwa Roxin, AT I, § 3 Rn 73, die resozialisierende Wirkung der Wiedergutmachung, denn sie zwinge den Täter, sich mit den Folgen seiner Tat auseinanderzusetzen und die Bedürfnisse des Opfers kennenzulernen, wodurch die Anerkennung von Normen gefördert werde. 2 Das Bestehen eines Genugtuungsanspruchs wird indessen selten näher begründet, sondern mehr oder minder als gegeben vorausgesetzt, nur J.-C. Wolf, JRE 11 (2003), S. 199 ff. Er wird auch zur dogmatischen Begründung der Verletzteninstitute der StPO herangezogen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 3 Zum Ganzen Pawlik, Person, S. 18 ff., 21 ff., 45 ff. sowie H. Kaiser, Widerspruch, S. 11 ff. 4 Es gibt Tendenzen, Vermittlung und Versöhnung zwischen Täter und Opfer an die Stelle des tradierten Strafverfahrens treten zu lassen, Rössner / Wulf, Strafrechtspflege, S. 129; Schöch, NStZ 1984, S. 385 ff., 390; dazu auch Weigend, Deliktsopfer, S. 320 ff. Die allenthalben unterbreiteten Vorschläge haben sich in der Praxis bislang nicht merklich niedergeschlagen, Roxin, AT I, § 3 Rn 73.

E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

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Es konnte daher resümiert werden, dass der originär strafrechtliche Charakter einer Verhaltensweise nicht allein in der Läsion gleicher Freiheitssphären gesehen werden kann, sondern in der darüber hinaus gehenden Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung insgesamt. Der personelle Bezug strafrechtlicher Maßnahmen scheint sich damit in der Anerkennung einer Individualrechtsverletzung zu erschöpfen. Wird durch sie lediglich die Auflehnung gegen Ge- und Verbote des objektiven Rechts repräsentiert, so bleibt das in strafrechtlicher Hinsicht zu identifizierende, konkret betroffene Opfer der Staat5 bzw. das Recht selbst. Die Betroffenheit einer mit subjektiven Rechten ausgestatteten Person müsste hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Relevanz hinter die Verletzung eines im Tatsächlichen virtuell bleibenden Rechtsinstituts zurücktreten. Die Zulässigkeit einer hoheitlich auferlegten Sanktion wird vor diesem Hintergrund unmittelbar sinnfällig. Da die staatliche Interessenwahrnehmung den Ausgangs- und Endpunkt jeder strafrechtlichen Fragestellung bildet, muss eine weitere Auseinandersetzung mit den eventuellen Strafbedürfnissen Dritter nicht stattfinden. Weil der (potenzielle) Täter nun aber der einzige in Betracht kommende Adressat einer möglicherweise zu verhängenden Strafe ist, muss diese selbst sowie alle auf sie zulaufenden Maßnahmen vor allem seiner Person gegenüber zu rechtfertigen sein. In der Tat steht im Zusammenhang mit der Sanktion für den Verletzten nichts mehr auf dem Spiel. Bei vordergründiger Betrachtung scheint er für die Strafe nur insofern wichtig zu sein, als diese mit seiner Hilfe dem Verantwortlichen gegenüber plausibel begründet werden kann. Es ist also nur zu verständlich, dass sich nahezu alle hergebrachten Straftheorien allein mit dem Spannungsverhältnis zwischen einer irgendwie verfassten Obrigkeit und dem zu bestrafenden Täter auseinandersetzen. Das verträgt sich auch mit dem hier vertretenen normtheoretischen Konzept: Die Verhaltensnorm bezweckt zwar den Schutz subjektiver Rechte, jedoch entfaltet die Sanktionsnorm ihre volle Wirkung erst bei Zuwiderhandlungen gegen jene. Damit muss jede Straftheorie zwingend bei der Person ansetzen, die sich gegen rechtliche Sollenssätze auflehnt. Der Schutzgegenstand der verletzten Verhaltensnorm ist zwar von hohem Legitimationsinteresse, nicht aber von unbedingter Wichtigkeit im Hinblick auf die kriminalrechtliche Würdigung. Diese Erkenntnis war in der Vergangenheit so selbstverständlich, dass Opferinteressen und -bedürfnisse in straftheoretischen Abhandlungen nicht einmal Erwähnung fanden. Erst neuere Publikationen6 lassen hie und da die Bemühung erkennen, Opferbelange in die Diskussion einzuführen. Die nach wie vor herrschende Der Staat, verstanden als die in ihm rechtlich verfasste Gemeinschaft. Reemtsma, Recht des Opfers (1999); Prittwitz in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 51 ff.; Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 75 ff.; Hörnle, JZ 2006, S. 250 ff. 5 6

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Auffassung geht dahin, dass das Opfer im Strafrecht neutralisiert sei und staatliches Strafrecht mit der Neutralisierung des Opfers gewissermaßen überhaupt erst entstehe.7 Die Macht des Strafrechts beruhe auf der Entmachtung des Opfers.8 Nachfolgend wird zu untersuchen sein, ob dieser Satz in seiner Absolutheit aufrecht erhalten werden kann. Denn noch ist nicht bewiesen, dass eine Rückgabe des Konflikts an den Verletzten per se ausgeschlossen ist. Wenn die Störung des Basisvertrauens in die Einhaltung von Rechtsnormen den Kern strafrechtlich relevanter subjektiver Rechtsverletzungen ausmacht, so könnte sich eine Rechtsfolge als sinnvoll erweisen, die das dem Opfer abhanden gekommene Vertrauen in die Geltungskraft und Anerkennung der Norm wiederherstellt. Der Strafzweck läge dann (zumindest auch) in der Verbesserung der Opfersituation. Auf dieser Linie liegen etwa die Versuche einiger Autoren, die Wiedergutmachung als eigenen Strafzweck ins Strafrechtssystem zu implementieren.9 Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich das Strafrecht mit Termini wie Kompensation, Restitution, Herstellung des status quo ante etc. überhaupt befasst bzw. befassen muss. Sollte eine modernisierte Straftheorie die genannten Komponenten in sich aufnehmen, hätte dies sicher Konsequenzen auch und gerade für die Ausgestaltung des Strafprozesses. Die damit zu stellende, gleichsam allumfassende Frage ist die, ob ausgerechnet das Strafrecht das geeignete und erforderliche Forum für die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Rechtszuweisungsordnung darstellt.

I. Absolute Straftheorien Die Bindung strafrechtlicher Maßnahmen an Opferbelange scheint durch ein vergeltungsorientiertes Strafrecht im Sinne der absoluten Straftheorien am besten verwirklicht werden zu können. Die Größe des Schadens, die Intensität des Schmerzes sowie die Beschädigung der Zukunft von Opfer und Angehörigen sind hier wichtige Kriterien für die Androhung von Strafen und ihre Verhängung im Strafverfahren.10 Ein nach Vergeltung strebendes Strafrecht beachtet das Opfer deshalb, „weil sich an ihm die Verletzung vollzogen hat, um deren Vergeltung es geht.“11 7 Hassemer, Einführung, S. 70; in die gleiche Richtung zielend wohl Lüderssen, HirschFS, S. 879 ff, 887 ff. 8 So Reemtsma, Recht des Opfers, S. 10. 9 Ostendorf, ZRP 1983, S. 302; Rössner / Wulf, Strafrechtspflege (1984); Pfeiffer, SchülerSpringorum-FS, 1993, S. 53; zur Integration der Wiedergutmachung in das strafrechtliche Sanktionensystem: Dölling, JZ 1992, S. 493; Rössner, NStZ 1992, S. 409; Schmidt-Hieber, NJW 1992, S. 2001; Roxin, Lerche-FS, S. 301; kritisch Lampe, GA 1993, S. 485; Loos, ZRP 1993, S. 51. 10 Nur Hassemer, Einführung, S. 72.

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Trotz dieser mutmaßlichen Opferfreundlichkeit erleben die absoluten Straftheorien im deutschen Rechtskreis keine Renaissance. Eine wissenschaftliche Meinung, die den Sinn der Strafe im Ausgleich des Vergangenen erblickt, wird vielfach als überholt und ganz und gar unvertretbar bezeichnet.12 Allerdings hegt die höchstrichterliche Rechtsprechung von Bundesgerichtshof13 und Bundesverfassungsgericht14 für Gedankengut der absoluten Straftheorien gelegentliche Sympathien.15 Es wird zwar vermieden, zu den in der Wissenschaft vertretenen Straftheorien grundsätzlich Stellung zu beziehen16, jedoch werden Ziele wie Sühne und Vergeltung in einem Atemzug mit den Strafzwecken Schuldausgleich, Prävention und Resozialisierung des Täters genannt.17 Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit vergeltungstheoretischen Thesen auch und gerade mit Bezug auf die Opfer von Straftaten findet in der deutschsprachigen Literatur dagegen kaum statt.18 Das hängt wohl mit der Abkehr vom Talionsprinzip zusammen sowie mit dem Umstand, dass ein säkularisiertes Rechtsverständnis mit einem Vergeltungsbegriff, der die Sühneleistung des Täters als gewissermaßen sakramentalen Vorgang auffasst, nicht viel anzufangen weiß.19 Tatsächlich ist das Konzept der Strafe als ausgleichende Vergeltung seit dem Altertum bekannt und es findet im alttestamentarischen Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ seinen plakativsten Ausdruck.20

11 Hassemer, Einführung, S. 72; zu den klassischen Vergeltungslehren von Kant und Hegel ein Überblick bei H. Kaiser, Widerspruch, S. 52 ff.; 86 ff. 12 Etwa Roxin, AT I, § 3 Rn 8 ff., 44; auch Hassemer, Einführung, S. 282. 13 Der die bereits vom Reichsgericht eingeschlagene Linie nicht verlassen hat, vgl. schon RGSt 58, S. 109. Vergeltungstheoretische Thesen sind etwa in BGHSt 19, S. 201, 206 und BGHSt 20, S. 264, 266 f., auffindbar. Andere Strafzwecke rücken demgegenüber jedoch ausdrücklich nicht in den Hintergrund. 14 Die Kriminalstrafe sei unabhängig von ihrer Aufgabe abzuschrecken und zu resozialisieren vor allem Vergeltung für begangenes Unrecht, BVerfGE 39, S. 1, 57. 15 Freilich ohne sich auf einen singulären Ansatz verbindlich festzulegen. Roxin, AT I, § 3 Rn 33, bezeichnet die in der Rechtsprechung anklingende Auffassung daher als „vergeltende Vereinigungstheorie“. Ähnlich Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 78 ff. 16 Vgl. den Hinweis in BVerfGE 45, S. 187, 253 f. 17 BVerfGE 22, S. 132, wo die Vergeltung sogar zur Grundlage der Kriminalstrafe erklärt wird. Siehe auch BGHSt 24, S. 134. 18 Vgl. aber die Beiträge von H. Mayer, Engisch-FS, S. 77 und Seelmann, JuS 1979, S. 687 ff. 19 So auch Reemtsma, Recht, S. 12; Hassemer, Einführung, S. 282 f. 20 Roxin, AT I, § 3 Rn 2; zur religiösen Dimension des Vergeltungsprinzips Althaus, Todesstrafe, S. 21.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

1. Retributive Hatred und Victim’s Turn in der Literatur des angloamerikanischen Rechtskreises Einer über etwaige Racheakte zu erreichenden Befriedigung vorhandener Genugtuungsinteressen wird ohnehin eine kategorische Absage erteilt. Das ist in seiner Striktheit hierzulande völlig selbstverständlich.21 Einzig Reemtsma postuliert die zumindest moralische Zulässigkeit entwickelter Rachegefühle, die das Opfer subjektiv als Vergeltung solle phantasieren dürfen.22

a) Racheakt als demokratisch gefordertes Mittel der Konfliktbewältigung Weitaus radikalere Vorschläge und Lösungsansätze finden sich im angloamerikanischen Rechtskreis, wo vergeltungstheoretische Erwägungen sich traditionell auf fruchtbarem Nährboden entwickeln können. Namentlich Jeffrie G. Murphy23 befürwortet einen umfassenden „victim’s turn“ und erachtet die Ausübung von Racheakten in bestimmten Grenzen für nicht zu beanstanden. Er wendet sich gegen die pauschale Vorverurteilung eines vom Opfer artikulierten Genugtuungsinteresses, sucht die Nachvollziehbarkeit von Rachegelüsten wissenschaftlich zu begründen und meint, sich damit auf die Seite derer zu stellen, die durch Straftaten schwere Leiden zu gewärtigen haben. Er fasst seine Thesen unter dem Terminus „retributive hatred“ zusammen.24 Eine wichtige Stütze seiner Konzeption sieht er im Demokratieprinzip (!). Es bildet gleichsam die Grundlage seiner Argumentation.25 Murphy nimmt an, dass der Wunsch nach Vergeltung in jedem Menschen von Natur aus angelegt sei. Das dokumentiere sich etwa in den Reaktionen auf das alltägliche Angebot der Unterhaltungsmedien. So sympathisierten die Zuschauer genretypischer Kinofilme26 natürlich mit dem Rächer zugefügten Leids. Ferner sei nicht zu leugnen, dass sich derjenige heftigen Beifalls und einer breiten Anhängerschaft erfreuen könne, der den Kommandanten eines Todeslagers umbringt.27 21 Und wird nicht einmal weiter ausgeführt, vgl. Höffe, Interkulturelles Strafrecht, S. 71, der – ohne dies näher zu begründen – davon ausgeht, dass man ein Rechtsinstitut, das Rachegelüste der Gesellschaft auslebt, zweifelsohne bekämpfen müsse. 22 Reemtsma, Recht, S. 10. 23 Murphy, Retribution, S. 61 ff. 24 Murphy, Retribution, S. 64. 25 Murphy, Retribution, S. 66. 26 Murphy, Retribution, S. 65, selbst bezieht sich ausdrücklich auf den Film „Silverado“. In der Tat gibt es eine Reihe erfolgreicher Kinofilme, die das Motiv der Rache thematisieren und in Bildern einfangen, man denke nur an „Gladiator“ von Ridley Scott, „Braveheart“ von Mel Gibson oder „Kill Bill“ von Quentin Tarantino. Hinzugefügt sei aus der belletristischen Literatur der Roman „Der Graf von Monte Christo“ von Alexandre Dumas.

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Murphy unterstellt damit die im Menschen vorhandene Sehnsucht, es dem Übeltäter schmerzhaft aber gerecht heimzuzahlen.28 Die Frage sei deshalb, ob Racheakte tatsächlich dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen. Man dürfe den Gelüsten und Sehnsüchten einer Mehrheit nur dann nicht nachgeben, wenn sich die Institutionalisierung solcher Gefühle als irrational herausstelle. Dazu aber müssten sich Rachegefühle als prinzipiell falsch erweisen. Dies aber bestreitet Murphy. Hass und Rachegelüste dürften nicht schon deshalb als irrational gebrandmarkt werden, weil es sich bei ihnen um Emotionen handele. Gefühle seien erst dann irrational, wenn man ihnen erlaube, die gesamte Persönlichkeit bis hin zum Exzess zu dominieren. Es sei aber nicht ersichtlich, warum sich Hass- und Rachegefühle nicht in der Weise kanalisieren ließen, wie es im Falle anderer emotiver Elemente ebenfalls der Fall sei. Man gehe generell voreilig von der Prämisse aus, dass Rache zu einem pathologischen Extrem ausgelebt werde, was psychologisch keineswegs bewiesen sei.29 Murphy wagt die These, dass sich Rache auf ein akzeptables Maß transformieren ließe. Mehr noch: Hass sei nur dann geeignet, eine Person innerlich zu vergiften, wenn dieser unterdrückt werde. Deshalb könne man sich dieses Gefühls nur dann entledigen, wenn man es auslebe.30 Den Grund für die Ächtung jedweder Rachegefühle sieht Murphy in der abendländischen Kultur und speziell in der Botschaft des Neuen Testaments, das gebietet, auch den Feind zu lieben. Nach dem Willen der Bibel sei es Gott selbst vorbehalten, Rache zu üben31, was durch die Parabel der Steinigung der Ehebrecherin gestützt werde, wo es heißt: „Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“32 Gott behalte sich das Recht zur Rache deshalb vor, weil nur er es sei, der verlässlich, angemessen und frei von jedem Irrtum vergelten könne.33 Es fehle dem Menschen also regelmäßig an ausreichender Kenntnis der relevanten Umstände. Hassgefühle verstellten überdies den Blick für die wesentlichen Tatsachen. Verallgemeinere man diesen Gedanken, so liege der Schluss nicht fern, dass jede Rache in ihren Folgen unvorhersehbar sein müsse und Konflikte regelmäßig auf ein destabilisierendes Niveau gehievt würden. Rache führe langfristig also immer zu einem sozialen Erosionsprozess. Murphy, Retribution, S. 65. Murphy, Retribution, S. 64: „We like to see the portrayal of evil people getting their painful but just deserts, and we particularly enjoy it when these deserts are administered by their victims.“ 29 Murphy, Retribution, S. 68 ff., 69. 30 Murphy, Retribution, S. 69, beruft sich diesbezüglich auf Nietzsche, Genealogie der Moral, Essay I, Section 10. 31 Murphy, Retribution, S. 72, unter Hinweis auf Römerbrief 12, 19: „Rächt Euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32, 35): ,Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr‘.“ 32 Murphy, Retribution, S. 72, unter Hinweis auf Johannes 8, 7. 33 Zudem könne letztlich nur Gott neutral und unparteiisch agieren. 27 28

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Dem lässt sich mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung uneingeschränkt zustimmen. Murphy zufolge stellt sich dies allerdings zunächst als Argumentation gegen die Privatrache dar. Die aufgezeigten Gesichtspunkte sprächen jedoch sehr für die Vorteilhaftigkeit einer institutionalisierten, staatlich kontrollierten Form der Rache.34 Bei einem säkularisierten Verständnis des Neuen Testaments müsse die Entscheidung über Rechtmäßigkeit und Reichweite der Rache eben auf ein von den Konfliktparteien unabhängiges Organ verlagert werden. Schließlich spreche auch die jedem Menschen anhaftende Fehlbarkeit und Unzulänglichkeit nicht per se gegen Rachehandlungen. Es komme insofern auf eine ausreichende Verlässlichkeit im jeweils signifikanten Zusammenhang an. Schon einmal selbst fehlerhaft gehandelt zu haben sei aber nicht von vornherein dasselbe wie ein fehlerhaftes Verhalten in Bezug auf die die Rache auslösende Straftat. Fehlbarkeit sei in diesem Sinne keine beliebig austauschbare, gegeneinander aufrechenbare Größe.35 Es soll nicht verschwiegen werden, dass Murphy seine Thesen bewusst provokant formuliert, um die herkömmlichen utilitaristischen Straftheorien ad absurdum zu führen. Er setzt sich daher sorgfältig mit den Positionen auseinander, die jede Vergeltung kategorisch ablehnen, so etwa mit der Befürchtung, Rache müsse zwingend zu grausamen und ungewöhnlichen „Strafen“ führen, umgekehrt aber auch mit dem Risiko, dass die Verhängung der für notwendig befundenen Sanktion von der Fähigkeit des Einzelnen abhängig gemacht würde, Gefühle wie Hass oder Trauer mit ausreichender Überzeugungskraft artikulieren zu können. Schließlich resultieren hieraus Konsequenzen, die mit der zu beurteilenden Tat eigentlich nichts zu tun haben. Murphy begegnet derartigen Einwänden, indem er zu bedenken gibt, dass auch die utilitaristischen Strafzwecklehren an sich sachfremde Erwägungen zum Gegenstand der Strafverhängung machten. So wiesen die Überfülltheit von Strafvollzugsanstalten, das Rückfallrisiko des Täters, dessen Familienverhältnisse, sein Alter und seine Gesundheit, das Vorstrafenregister etc. ebenfalls keinerlei Bezug zu der zu bewertenden Straftat auf. Auch im Hinblick auf den Grad an Vorwerfbarkeit im jeweiligen Zusammenhang hätten solcherlei Kriterien keinerlei Aussagekraft.36 Die zu befürchtende Ungleichmäßigkeit der Bestrafungspraxis erachtet Murphy für weniger problematisch, seien es doch die jeweiligen Präferenzen des Opfers, die dem Staat überhaupt erst einen Grund geben würden, das zu tun, wozu nur er ein Recht habe. Diese Auswirkung sei im Zuge der Anerkennung einer institutionalisierten Form der Rache unausweichlich.37 Murphy, Retribution, S. 76. Murphy, Retribution, S. 74. 36 Murphy, Retribution, S. 81 ff. 37 Vgl. auch den entsprechenden Hinweis von Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 86. 34 35

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b) Rachegelüste als Unterstellung und Minderheitenschutz als demokratischer Grundsatz Eine im beschriebenen Sinne verstandene Vergeltungstheorie ist freilich nicht aufrechtzuerhalten, ohne dass bestimmte Prämissen unbesehen akzeptiert werden. So bliebe ein Strafrechtssystem, wie es Murphy vorschwebt, ein wirkungsloses Instrument, wenn nicht die überwiegende Anzahl der durch Straftaten Verletzten einen intensiven Rache- bzw. Vergeltungswunsch entwickelte. Das aber ist gerade nicht der Fall. Das weite Feld sog. Alltags- und Bagatelldelikte bliebe strafrechtlich ohne Ahndung; geht das Interesse der Opfer hier doch kaum über die Erlangung einer Versicherungsnummer hinaus. Diese Konsequenz wäre allerdings in Kauf zu nehmen, wenn es für den Staat tatsächlich keinen vom Opfer unabhängigen Grund gäbe, gegen bestimmtes Fehlverhalten vorzugehen. Ein solcher aber ist in der Natur des Strafrechts als limitiertakzessorisches Schutzrecht zu erblicken. Die Freiheit wäre eine allzu instabile Errungenschaft, wenn Selbstbestimmung nur in einem engen Kernbereich „höchstpersönlicher“ subjektiver Rechte verwirklicht würde. Als nachgerade leere Hülle aber würde sie sich herausstellen, wenn selbst der Schutz elementarster Werte wie Leib und Leben von ganz und gar unwägbaren Faktoren abhängig gemacht würde. So stellte sich für Murphy der gesamte Bereich der Tötungsdelikte als außerordentliches Problem dar. Ein von wem artikuliertes Vergeltungsinteresse sollte hier zur Verhängung strafrechtlicher Maßnahmen führen? Murphy würde sich freilich dafür aussprechen, dem Rachebegehren naher Angehöriger nachzukommen. Was aber geschieht, wenn den Angehörigen der Tod des Opfers schlicht gleichgültig ist oder sie ihn sogar begrüßen? Was, wenn das Opfer keine Angehörigen hat? Eine Antwort auf diese Fragen bleibt Murphy schuldig. Seine Konzeption steht auf unsicheren Füßen und ist gezwungen, mit einer Reihe von Unterstellungen zu operieren. Die Wirklichkeit vermittelt indessen ein anderes Bild. Doch selbst, wenn man Murphys Prämissen einmal als gegeben hinnimmt, lässt sich sein System des „retributive hatred“ nicht widerspruchsfrei und in sich schlüssig darlegen: Denn einerseits sollen Hassgefühle durch ihr Ausleben abgebaut werden, andererseits aber sollen Inhalt und Reichweite des Racheakts auf ein „gesundes Maß“ zurechtgestutzt und durch staatliche Organe vollzogen werden. Was aber bleibt vom „Ausleben“ des Hasses übrig, wenn es nicht das Opfer selbst ist, das die Rache am Täter durch eigene, gleichsam therapierende Handlungen verübt? Emotionen sind nicht beliebig vertret- oder gar übertragbar. Und selbst wenn man letzteres für möglich hielte, muss bezweifelt werden, dass eine institutionalisierte Form der Rache zu einer umfassenden Genugtuung im Sinne einer vollständigen Befriedigung des Vergeltungsbegehrens führte. – Die Satisfaktion ist eine lediglich partielle, wenn Rachegelüsten staatlicherseits nur in begrenztem Umfang stattgegeben würde. Aus Sicht des nach Rache lechzenden Opfers bekommt der Täter demnach auch in Murphys Konzeption nicht das, was er verdient. Eine nur teilweise Befriedigung, zumal sie nicht durch opfereigenes Tun angestrebt würde,

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

kann die Bezeichnung eines „Auslebens von Rachegelüsten“ nicht tragen. Genugtuung oder Satisfaktion würde also allenfalls versprochen, nicht aber in jeder Hinsicht befriedigend gewährleistet. Murphy genügt daher seinem eigenen Anspruch nicht. Dem ließe sich nur so ausweichen, dass man sich nach dem tatsächlichen Genugtuungsempfinden der Opfer gar nicht erst erkundigt, sondern es dabei bewenden lässt, ihre Rachegelüste im Zuge der Bestrafung als gestillt anzunehmen. Die Bedürfnisse der konkreten Opfer würden sich dann ihrer Bedeutung nach darin erschöpfen, einer allgemeinen, institutionalisierten Bestrafungspraxis den Sinn zu geben.38 Der individuell-persönliche Charakter der Genugtuung und ihre emotionale Komponente würde damit allerdings aufgegeben und wiederum zu Gunsten übergeordneter Erwägungen in den Hintergrund gedrängt. Subjektive Empfindungen entziehen sich einer Regelung mittels objektiver Normen und müssen daher abgefragt werden, wenn man sie berücksichtigen will. In Bezug auf die prozessuale Umgebung, innerhalb derer das Bestehen oder Nichtbestehen von Rachegelüsten geprüft werden müsste, stellt sich die Frage, inwiefern die verfahrensmäßigen Mitwirkungsrechte der Betroffenen zu verbessern wären. Wenn die Entscheidung über Rechtmäßigkeit und Reichweite der Rache auf ein von den Konfliktparteien unabhängiges Organ verlagert wird, wie Murphy anregt, dann ist allein der Staat dazu aufgefordert, über Art und Umfang des verwirklichten Unrechts zu entscheiden; er würde gewissermaßen den berechtigten Umfang der Rache definieren. Der Staat würde auch die zulässige Rechtsfolge bestimmen. Daraus folgt, dass weitergehende Mitwirkungsbefugnisse als sie im Hier und Jetzt vorzufinden sind, auch in einer institutionalisierten Form der Rache nicht erforderlich sind. Dem Verletzten wäre nur Gelegenheit zu geben, seine persönlichen Präferenzen und Wünsche vor Gericht zu äußern. Eine Rolle, die über die des einfachen Zeugen hinausgeht, ist hierfür aber nicht erforderlich. Schließlich überdehnt Murphy auch den zulässigen Anwendungsbereich des Demokratieprinzips, womit der Legitimität seines Modells der Boden entzogen wird: Dem Willen der Mehrheit zu entsprechen, bedeutet gleichzeitig, das differierende Votum der Minderheit zu respektieren. Das Mehrheitsprinzip darf also nicht dazu missbraucht werden, die wohlverstandenen Interessen der Minderheit zu ersticken und so eine mit nur geringer Halbwertzeit ausgestattete Auffassung für alle Zeiten zu zementieren. Murphy kann sich folglich nur insoweit auf das Demokratieprinzip berufen, wie es totalitäre, diktatorische Regime seit jeher tun. Murphy selbst würde nicht bestreiten, dass dies mit den Kriterien des Demokratiebegriffs nicht viel gemein hat und kann ihn daher nicht dazu heranziehen, sein Gedankengebäude zu stützen. 38 Solche Begründungsmodelle sind der Strafzwecklehre durchaus nicht fremd. So verweist etwa Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843, 844, darauf, dass empirische Untersuchungen zur Generalprävention immer deplaciert seien, weil die Stärkung des Normvertrauens praktisch nicht fassbar sei. Auf diese Weise wird der Zweck strafrechtlicher Maßnahmen generell von individuellen Anliegen unabhängig gestellt.

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Rache kann in einem demokratisch verfassten Staat mithin nicht zum zulässigen Instrument erhoben werden. Die Rechte und Interessen des Täters werden durch ein vermutetes oder bekundetes Vergeltungsinteresse des Opfers (und auch durch emotional aufgeladene Sympathiebekundungen seitens der Öffentlichkeit) nicht weniger schutzwürdig. Die Konzeption Murphys findet in einem modernen Strafrechtssystem daher keinen Platz.

2. Gemäßigtere Ansätze einer Einbeziehung des Opfers in vergeltungstheoretische Konzepte a) Vergeltung ohne Rache Einen gemäßigteren vergeltungstheoretischen Ansatz, der das Opfer ausdrücklich mit einbezieht, vertritt George P. Fletcher.39 Auch er räumt den Gefühlen des Opfers eine wichtige Rolle bei der Verhängung der Strafe ein. Allerdings will er es vermeiden, die Kriminalstrafe am Vergeltungsbedürfnis der verletzten Personen auszurichten. Das Opfer in die Rechtfertigung von Strafe zu integrieren dürfe nicht mit dem Vorhaben verwechselt werden, der Ausübung von Rache Tür und Tor zu öffnen.40 Ein Nachgeben gegenüber populären Gefühlen kommt für Fletcher daher nicht in Betracht. Entsprechend fällt seine Definition des Vergeltungsbegriffs aus: „Vergeltung“ meine schlicht die Auferlegung einer Strafe, die einer begangenen Straftat wegen verdient sei. Dieses Verständnis illustriere die grundlegende Intuition über Gerechtigkeit, die das Bedürfnis schaffe, denjenigen zu bestrafen, der für wahrgenommenes Unrecht verantwortlich sei. Fletcher selbst erkennt an, dass der Verweis auf eine irgendwie geartete Intuition noch kein hinreichendes Argument für die Rechtfertigung von Strafe ist. Jedoch sei die Intuition in eine Theorie einzubetten, die die faire Verteilung von Lasten und Vorteilen in der Gesellschaft zum Gegenstand habe. Strafe stelle deshalb die Bemühung dar, die Inanspruchnahme unberechtigter Vorteile durch den Straftäter zu korrigieren.41 Die Schädigung des Opfers sei für die Beurteilung des strafbaren Verhaltens deswegen von Relevanz, weil nur so die angemessene Bewertung des Unrechts möglich sei. Schließlich bilde der eingetretene Erfolg die Grundlage für die sachgemäße Bemessung der verdienten Strafe. Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 75 ff. Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 76. 41 Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 77. Ähnlich auch J.-C. Wolf, JRE 11 (2003), S. 199, 205, der die Strafe als Instrument der Wiederherstellung eines Gleichgewichts begreift. Der Vorteil einer Straftat bestehe in abstracto im Abwerfen einer Bürde bzw. im Gewinn einer illegalen Freiheit. Strafe sei deshalb in der Weise zu rechtfertigen, dass sie einen illegalen Vorteil annulliere. Der Täter verschaffe sich den Vorteil einer unerlaubten Freiheit unter Ausnutzung des rechtskonformen Verhaltens der anderen Rechtsgenossen. In beidem liege die Anmaßung, sich selbst als Ausnahme und Nutznießer der Selbstbeschränkung aller Anderen zu verstehen. 39 40

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

b) Berücksichtigung der Opfer als allgemeine Kategorie Es sei mithin folgerichtig, eine Vergeltungstheorie zu entwerfen, die den Opfern Gerechtigkeit zuteil werden lasse. Die Einbeziehung der Opfer diene nicht dazu, ihre individuellen Belastungen und Gefühle im Verhältnis zum Straftäter zu berücksichtigen, sondern lediglich der Anerkennung des Verbrechens als ein Verhalten, das anderen Menschen Schaden zufügt. Das Opfer sei deshalb Symbol und Repräsentant einer allgemeinen Kategorie.42 Wer die Bedeutung der Gleichbehandlung innerhalb einer Theorie der Gerechtigkeit nicht vernachlässigen wolle, müsse den Verletzten in das Rahmenwerk einer absoluten Straftheorie einführen. So wie der Täter im Zuge der Straftat eine Form der Herrschaft über das Opfer gewinne, so sehr liege die Funktion der Strafe darin, dieser Herrschaft entgegenzuwirken. Auf diese Weise werde die Gleichheit zwischen Täter und Opfer wiederhergestellt.43 Fletchers dogmatisches Gebäude mutet opferfreundlich an, führt indessen aber nicht zu einem grundlegend neuen Ansatz. Das Opfer wird als wichtiger Bestandteil der Straftheorien begriffen bzw. ausgerufen, ohne dass sich hieraus Konsequenzen ergäben. Letztlich werden die gängigen vergeltungstheoretischen Thesen unter bewusster Verwendung des Wortes „Opfer“ reformuliert. Wenn der Verletzte nur als Repräsentant einer allgemeinen Kategorie betrachtet wird, so verträgt sich dies trefflich mit dem Diskussionsstand innerhalb der tradierten Rechtsgutslehre. Das Opfer ist allein als Inhaber eines nach überindividuellen Gesichtspunkten für schützenswert befundenen Interesses von Wichtigkeit. Eine darüber hinausgehende Funktion kommt ihm nicht zu. Für Fletchers Theorie der Strafe ist deshalb nicht eine konkret betroffene Person als Bezugspunkt erforderlich, sondern nur der jeweils feststellbare Erfolg an einem bestimmten Tatbestandsobjekt. Mit einer am wirklichen Opfer orientierten Straftheorie hat das wenig gemein. Fletchers Thesen beschränken sich schlussendlich darauf, dass der Täter bestraft wird, weil er der Urheber einer Rechtsgutsverletzung ist. Vor diesem Hintergrund ist die Herstellung der Gleichheit zwischen Täter und Opfer nicht die Rechtfertigung, sondern die Folge der verhängten Strafe. Das Opferinteresse taucht bei Fletcher demnach als Reflex innerhalb einer Vergeltungstheorie üblichen Maßstabs auf, nicht aber als Begründungsmodell für die Auferlegung einer Strafe. Der Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 78. Fletcher in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 75, 84. Auch J.-C. Wolf, JRE 11 (2003), S. 199, 206, der meint, dass das Ideal des typischen Verbrechers darin bestehe, als Täter unentdeckt zu bleiben. Er wolle erst den Genuss einer unerlaubten Freiheit und sodann den ungestörten Genuss der Früchte der Straftat erlangen. Aus diesem doppelten Parasitismus folge die Störung der Balance aus Vorteilen auf der einen und Nachteilen auf der anderen Seite. Die Strafe suche die Balance jeweils wiederherzustellen. Niemand solle von verbotenen Extra-Freiheiten profitieren und keiner solle die Früchte der Tat ungestört genießen können. 42 43

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wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird indessen nichts Neues hinzugefügt. Ein innovativer Ansatz, der das Opfer in die Begründung der Strafe aufnimmt, wird nicht vorgestellt. Es gelingt Fletcher auch nicht, die Teilhabe des Verletzten am Strafprozess theoretisch zu untermauern oder gar zu legitimieren. Es bleibt offen, warum für die Herstellung von Gleichheit zwischen Delinquent und Betroffenem die Mitwirkung anderer Beteiligter als Richter und Staatsanwalt notwendig sein sollte. Wie Fletcher selbst einräumt, sind Art und Höhe der auszusprechenden Strafe nicht von Willensbekundungen seitens des Verletzten abhängig. Für die Feststellung des Ausmaßes der Beeinträchtigungen und die damit einhergehende Einschätzung und Beurteilung des verwirklichten Unrechts ist auch hier eine über die Rolle des einfachen Zeugen hinausgehende Teilhabe des Betroffenen nicht zwingend angebracht. Er bleibt eine Randfigur innerhalb der strafrechtlichen Aufarbeitung und Würdigung.

3. Recht des Opfers auf ein Unwerturteil als Ausdruck des „normativen Individualismus“ nach Hörnle Tatjana Hörnle meint gleichwohl, dass eine moderne Strafzwecklehre nicht von der Person des tatsächlichen Opfers gelöst werden könne. Dabei verzichtet sie bewusst darauf, ihre Thesen in das Umfeld einer der absoluten oder relativen Strafzwecklehren einzubetten. Eine opferbezogene Sichtweise müsse vor allem dem kollektivistisch-autoritärem Hintergrund der hergebrachten Straftheorien eine klare Absage erteilen. Es sei anzuerkennen, dass die Interessen des Opfers über die Wahrnehmung privatrechtlicher Reparationsmöglichkeiten hinausgingen. Es bestehe ein Reaktionsbedürfnis auf psychologischer Ebene. Die individuelle Selbstbehauptung sei als Waffe im Kampf um das eigene Dasein zu begreifen44, woraus schließlich Rachegelüste resultierten. Deshalb sei die Abfederung emotionaler Wallungen geboten. Einer Spirale der Gewalt müsse von vornherein Einhalt geboten werden. Eine sinnvolle Straftheorie dürfe Rachewünsche des Opfers daher nicht ungefiltert übernehmen, sondern müsse für Zähmung und Kontrolle sorgen, ohne die Belange der betroffenen Menschen zu vernachlässigen. Es müsse insofern genügen, auf die primär individualistische Prägung des Grundgesetzes zu verweisen, wie sie in der systematischen Stellung der Grundrechte und an ihren Inhalten sichtbar werde. Die Rechtsordnung verfolge das Konzept eines normativen Individualismus. Dem sei auch mit Perspektive auf das Opfer Rechnung zu tragen. Mithin sei die expressive Bedeutung der Strafe herauszustellen. Das in ihr zum Ausdruck ge44

Hörnle, JZ 2006, S. 950 ff., 953 ff.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

brachte Unwerturteil enthalte ein kommunikatives Element.45 In ihm liege die Anerkennung, dass dem Opfer Unrecht geschehen sei. Dies könne für die Aufarbeitung des Geschehenen von elementarer Relevanz sein. Folglich liege die opferspezifische Bedeutung des Unwerturteils „darin, dass alternative Erklärungen, die schwieriger zu verarbeiten wären, in einer offiziellen Bewertung ausgeschlossen werden.“ Dies wiederum sei „wichtig, um normativ unbegründeten, zerstörerischen Selbstzweifeln entgegenzuwirken und Selbstrespekt zu sichern.“46 Damit aber werde ein berechtigtes Interesse verfolgt, weshalb davon auszugehen sei, dass nicht nur ein faktisches Interesse am Unwerturteil bestehe, sondern den Opfern ein entsprechendes Recht zuzugestehen sei. Im Strafurteil werde die Verletzung des Opfers anerkannt. Die Strafe fungiere als Symbol der Missbilligung, um dem Opfer glaubhaft Beileid und Solidarität zu versichern. Hörnle lässt dabei indessen außer Acht, dass aus einem Symbolwert gerade noch nicht die Anerkennung eines Rechts folgt. Selbst ein irgendwie geartetes „berechtigtes“ Interesse ist für sich genommen noch nicht geeignet, dem Staat eine dahingehende Verpflichtung aufzuerlegen, wie und durch welche Maßnahmen er dieses zu befriedigen habe. Aus der Anerkennung eines Interesses als „nicht unberechtigt“ resultiert noch kein konkreter Anspruch auf Berücksichtigung in einem ganz bestimmten Zusammenhang. Schon gar nicht lässt sich automatisch darauf schließen, gegen wen sich ein solcher Anspruch richtet. Da Hörnle dafür keine Erklärung liefert, bleibt das von ihr befürwortete Recht des Opfers auf das Unwerturteil ein bloßes Postulat. Eine gesicherte Rechtsposition im Sinne einer Berechtigung, wie sie Hörnle vorschwebt, ist für die Anerkennung als Opfer im Strafurteil auch gar nicht erforderlich. Schließlich ist die Verhängung von Strafe nicht möglich, wenn ein Verhaltensnormverstoß nicht festgestellt werden kann. Jede Anwendung der Sanktionsnorm setzt einen Verhaltensnormverstoß voraus. Der Verhaltensnormverstoß aber setzt die Verletzung eines Rechts(-gutes) voraus, das von seinem Träger nicht zu trennen ist. Daraus folgt, dass ein Strafausspruch, der in Reaktion auf eine Individualrechtsverletzung erfolgt, sich ohnehin zwingend auf ein konkretes Opfer beziehen muss. Jeder Strafausspruch enthält insofern ohne weiteres die Anerkennung des betroffenen Rechtsträgers als „Opfer“. Es ist Hörnle freilich zuzugeben, dass der Strafausspruch gerade für das Opfer von besonderer Wichtigkeit ist. Es ist richtig, dass die Adaption nach der Tat besser gelingt, wenn dem Opfer im Zuge eines Strafurteils bescheinigt wird, dass das Unrecht nicht hätte geschehen dürfen.47 Das ist aber ohnehin so. Dies entspricht einigermaßen gesicherten kriminologisch-soziologischen Erkenntnissen vor dem Hintergrund des herkömmlichen strafrechtssystematischen Verständnisses, wie es im 45 46 47

Hörnle, JZ 2006, S. 954 f. Hörnle, JZ 2006, S. 955. So explizit auch Hörnle, JZ 2006, S. 955.

I. Absolute Straftheorien

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Gerichtsalltag praktisch umgesetzt wird. Allerdings geht damit nicht die zwingende Konsequenz einher, die Strafzwecklehren stärker an Belangen des Opfers ausrichten zu müssen. Außerdem müsste Hörnle erklären, wieso der Verletzte im Strafprozess jeder maßgeblichen Einflussmöglichkeiten beraubt ist, obwohl auch und – vor dem Hintergrund des normativen Individualismus – gerade sein individuelles Recht auf ein Unwerturteil verwirklicht werden soll. Der Verweis auf die für notwendig erachtete Bekundung von Beileid und Solidarität genügt allein nicht, denn beide Termini lassen keine Aussage darüber zu, wer Berechtigter einer Summe von Rechtssätzen ist. Normtheoretische Bezugnahmen erscheinen deshalb unausweichlich. Geschieht dies nicht, kann nicht verlässlich erläutert werden, wessen Anliegen im Zuge der Aburteilung festgestellten Unrechts verwirklicht wird. Nach Auffassung Hörnles scheint das Strafverfahren (zumindest aber das Strafurteil) der Befriedigung eines individuellen Bestrafungswunsches zu dienen, wodurch die persönliche Bewältigung des Geschehens positiv beeinflusst werde.48 Zugleich diene das Strafverfahren der sozialen Kontrolle. Es verhindere eine Reaktion, „die von heftigen Emotionen befeuert wird und deshalb Gefahr läuft, übersteigert auszufallen.“49 In diesem Zusammenhang spricht Hörnle von „Zähmung“ und „Kontrolle“. Damit wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Strafprozess überhaupt und insgesamt die Verwirklichung eines dem Opfer zustehenden Rechts bezwecke. Dann aber wird die Wahrnehmung dieses Rechts durch Einschaltung des Staates nicht lediglich gezähmt oder kontrolliert, sondern vereitelt, denn der Verletzte ist grundsätzlich mit keinerlei Offensivbefugnissen ausgestattet. Es wäre deshalb zu begründen, warum der Staat ein individuelles Recht bejaht, dessen Ausübung er gleichzeitig untersagt. Schließlich verkennt Hörnle, dass die Anerkennung des Opferstatus vom tatsächlich ausgesprochenen Strafurteil abhängig ist. Davor gibt es somit niemanden, dessen „Recht“ im Zuge staatlicher Einflussnahme gebändigt oder kanalisiert werden müsste, womit sich die weitergehende Frage stellt, mit welchem Ziel vorher verhandelt wurde. Rekurriert man insofern pauschal auf das dem Opfer zustehende Recht, ein Unwerturteil zu erhalten, so würde damit das Verfahrensergebnis immer schon vorweggenommen. Schließlich bedarf es für die Anerkennung des Opferstatus stets auch eines Täters. Noch schwerer wiegt, dass das Opferrecht am Unwerturteil nach dem Willen Hörnles nicht absolut gewährt werden solle, sondern einer Abwägung zugänglich sei: „Bei geringfügigen Verletzungen individueller Rechte kann eine Strafverfolgung unverhältnismäßig sein, unter solchen Umständen können Opferrechte zurücktreten.“ Anders verhalte es sich aber „bei gravierenden Delikten zu Lasten eines Individuums.“50 48 49 50

So Hörnle, JZ 2006, S. 955. Hörnle, JZ 2006, S. 954. Hörnle, JZ 2006, S. 955.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Diese Argumentation enthält den völlig berechtigten Kern, die stärkere Berücksichtigung von Opferbelangen am Viktimisierungsgrad auszurichten. Indessen geht Hörnle zu weit, wenn sie ihn für generelle straftheoretische Erwägungen fruchtbar macht. So tritt bei weniger gravierenden Individualrechtsverletzungen das Phänomen einer traumatischen Viktimisierung erst gar nicht auf. Diese dient Hörnle aber sichtlich als Anknüpfungspunkt ihres Konzepts. Insbesondere Opfer mit rein materiellen Schäden hegen aber de facto kein wesentliches Interesse an der Durchführung oder dem Ausgang eines Strafverfahrens. – Für die versicherungsrechtliche Schadensregulierung genügt in der Regel die Mitteilung der polizeilichen Tagebuchnummer. Damit ist der breite Bereich der Bagatellkriminalität angesprochen, mit deren Bewältigung die strafrechtliche Praxis vorwiegend befasst ist. Da hier Traumata gewöhnlich nicht auftreten und heftige emotionale Ausbrüche nicht zu befürchten sind, müsste Hörnle ein Bestrafungsrecht (bzw. ein Recht auf Ausspruch eines Unwerturteils) zum Zwecke der Rehabilitation also verneinen. Dann aber gibt es auch kein Recht, das im Wege der Abwägung hinter vorzugswürdige Interessen zurückzutreten hätte. Überdies wäre die von Hörnle vorgeschlagene Straftheorie damit nicht in der Lage, einen einheitlichen, für alle Delikte tragfähigen Rahmen zu liefern. Hörnle teilt nicht mit, inwiefern sie dem Opfer aktive Mitwirkungsbefugnisse einzuräumen bereit ist. Es bleibt auch offen, ob mit der Absage an jedes kollektivistische Denken ein konkreter Handlungsbedarf verbunden ist, der in der Rechtspraxis umzusetzen wäre. Vielmehr lässt sich resümieren, dass sie die Forderung einer am Individuum ausgerichteten Systematik dazu nutzt, die Situation der Opfer als allgemeine Kategorie aufzugreifen, die vor allem dazu geeignet ist, in der Begründung des Strafurteils die Akzente leicht zu verschieben. Damit aber wird der Konzeption Fletchers nichts Wesentliches hinzugefügt.

4. Gegner und Kritiker einer opferfreundlichen Vergeltungstheorie Den eben skizzierten Versuchen, die theoretische Rechtfertigung der Strafe (auch) vom Opfer aus herzuleiten, ist Michael Moore51 mit Vehemenz entgegengetreten. Er fühlt sich zu der Klarstellung aufgerufen, dass auch der Vergeltungstheoretiker eine Normverletzung benötige, um die Strafe dem Täter gegenüber zu begründen. Das Opfer könne somit lediglich als Begünstigter der Norm, gegen die verstoßen wurde, eine Rolle spielen. Mithin sei der elementare Gedanke, der jedem Normverstoß zugrunde liege, in der Pflichtverletzung zu sehen.52 Es stelle sich Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85 ff.; 88 f. Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 89 f. lässt nicht außer Acht, dass als Normverstöße nicht nur Zuwiderhandlungen gegen negative Verbote, sondern auch Auflehnungen gegen positive Gebote in Betracht kommen. 51 52

I. Absolute Straftheorien

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daher die Frage, ob es Sinn mache, dem Opfer Einfluss auf das Schicksal des Täters zu geben.53 Moore verneint das. Die Opfer seien zwar wichtig für das, was der Täter verdiene; jedoch sei dieser Umstand irrelevant für die prozessuale Frage, ob das Opfer Mitspracherechte in Bezug auf die vom Täter zu gewärtigende Strafe haben solle.54 Die Bestrafungspräferenz des Opfers dürfe nicht mehr zählen als die eines jeden anderen Bürgers.55 Folglich erschöpfe sich der Einfluss des Verletzten in seinem Recht auf demokratische Mitwirkung bei der Strafgesetzgebung. Moore lenkt damit den Blick vom wirklichen auf das virtuelle Opfer. Diesen Schritt zu vollziehen sei gewissermaßen sogar notwendig, wenn man tatsächlich ein abstraktes Gerechtigkeitsideal zu verwirklichen suche. Die Teilhabe des Verletzten stehe einer zurückhaltenden, leidenschaftslosen Abwägung eher im Wege, da die subjektive Anschauung des Geschehens verzerrt und somit wenig zweckdienlich sei.56 Moore plädiert also für ein kollektives Verständnis des Vergeltungsbegriffs und sieht sich damit in der Nähe Kants und Hegels, deren absolute Straftheorien ebenfalls ein entindividualisiertes Bild vermittelten. Die Strafgerechtigkeit solle jedenfalls nicht den persönlichen Befindlichkeiten eines Einzelnen anheimgestellt werden. In der Tat weist Kant darauf hin, dass die Gerechtigkeit aufhörte „eine zu sein, wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt.“57 „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und, wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glücksseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde, nach dem pharisäischen Wahlspruch: ,es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe‘; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.“58 Kants Ausführungen kulminierten bekanntermaßen in dem berühmten Gedankenexperiment der sich auflösenden Inselgesellschaft: „Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu verstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.“59 Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 92. Insofern stimmt der Hinweis Moores mit der hier vorgenommen Ablehnung der Thesen Fletchers überein. 55 Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 91 f. 56 Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 92. 57 Kant, MdS, S. 453. 58 Kant, MdS, S. 453. 59 Kant, MdS, S. 455. 53 54

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Wie Moore zutreffend analysiert, ergibt sich hieraus zunächst die Verpflichtung, den schuldigen Täter zu bestrafen.60 Die eigentliche Rechtfertigung der Vergeltungsstrafe steht indessen noch aus.61 Doch immerhin: Das etwas überspitzte62 Beispiel veranschaulicht die gesellschaftliche, transpersonale Verpflichtung zu strafen. Die Konsequenz eines solchen Denkens liegt darin, dass es die im Staat verfasste Allgemeinheit ist, die auf die Bestrafung des Täters hinzuwirken hat, will sie sich nicht dem Vorwurf der Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit aussetzen. Soll die Gleichmäßigkeit und Striktheit der Bestrafungspraxis gewahrt werden, so muss jedes Nachgeben gegenüber individuellen Bedürfnissen als Aufweichung der Gerechtigkeit begriffen werden. Eine unter diesen Prämissen entwickelte Straftheorie muss sich mit dem vertikalen Rechtsverhältnis zwischen Staat und Täter auseinandersetzen, nicht aber mit dem horizontalen zwischen Täter und Opfer. Jede andere Interpretation würde zu einer Einschränkung des unbedingt zu wahrenden Prinzips der Gleichheit führen.63 Der nachgezeichnete Gedanke war dereinst auch in der deutschen Strafrechtslehre populär und fand in Johannes Nagler einen prominenten Anhänger. Er warnte davor, den Vergeltungsbegriff und die mit ihm verbundene Reaktion auf den Rechtsbruch mit dem Rache- und dem Genugtuungsstreben des (verletzten) Individuums zu identifizieren: „So stützt sich die rechtliche Vergeltung nicht auf das Ausgleichungsbedürfnis des Einzelnen (Verletzten), sondern wird kollektiv durch die psychischen Bedingungen der Gemeinschaft motiviert.“64 Es sei zwar unverkennbar, dass der Vergeltungsdrang vom Einzelgeiste ausgehe, jedoch dürfe dieser außerhalb des individuellen Bewusstseins kein Dasein haben.65 „So gut wie das geistige Gebilde des Rechts im ganzen ein völkerpsychologisches Phänomen ist, weil der Rechtssinn (das praktische Rechtsgefühl) und weiterhin die Rechtsidee, die im Einzelnen leben, doch erst in der geistigen Gemeinschaft zur vollen Entfaltung gedeihen, ebenso ist das rechtliche Vergeltungsbedürfnis eine Tatsache des Gesamtbewußtseins.“66 Auch Nagler rekurriert auf die schuldhafte Verletzung rechtlicher Pflichten und stellt schließlich fest, dass sich in der Strafe die Rückstoßkraft der angegriffenen Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 96. Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 96 f. 62 So Reemtsma, Recht des Opfers, S. 11. 63 Diese bildet den Kern der Thesen Kants, MdS, S. 453; Moore in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 85, 95, bekräftigt dies und begründet so die Ablehnung der Auffassung Fletchers. 64 Nagler, Strafe, S. 527. 65 Nagler, Strafe, S. 528. 66 Nagler, Strafe, S. 528, wobei anzumerken ist, dass Nagler subjektive Rechte damals freilich nicht als Freiräume für das Individuum auffasste. Der Einzelne galt lediglich als Delatar der Gemeinschaft. Folglich musste es auch die Gemeinschaft selbst sein, die durch das Verbrechen beeinträchtigt wurde. Unter Verwendung moderner Prämissen gewinnt die Formulierung Naglers gleichwohl wieder Bedeutung. 60 61

II. Relative Straftheorien

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Rechtsordnung entlade.67 Hierin werde auch der Unterschied zwischen individuellem Willen und Rechtswillen manifest. Die für notwendig erachtete rechtliche Gegenleistung könne allein in Form eines kollektiven Genugtuungsbegriffs zugleich objektiv sein: „[ . . . ] nicht irgendein erregter Einzelwille – sei es nun der Verletzte oder eine Person seiner Sympathie oder ein Unbeteiligter – soll eine persönliche Befriedigung finden, sondern dem im unparteiischen Gesetze sich niederschlagenden, besonnen die Rechtsbedürfnisse abwägenden Gesamtwillen soll Genüge geschehen.“68 Erst so werde aus der Vergeltung ein selbstständiges, spezifisch juristisches Phänomen.69 Nagler greift damit ein Gedankengut auf, das insbesondere durch Hegel weit verbreitet worden war. Dieser hatte in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ die Befürchtung geäußert, dass Gerechtigkeit und Wahrheit untergingen, wenn alles nur auf subjektive Weise behandelt würde.70 Folglich dürften Willkür und Meinung nicht wesentlicher Bestandteil der Rechtspflege werden. Der Gerechtigkeit zu dienen bedeute, der Vernunft gemäß zu handeln, damit „die Freiheit ihr Dasein erhalte.“71 Mithin sei es falsch, „Mitleid und Empfindung auszuführen“ bzw. „sinnliche Triebfedern zu ehren.“72 Nach Hegel sei die Rechtspraxis von Gefühlseinbrüchen und irrationalen Sentimentalitäten freizuhalten. Damit bleibt nicht nur angedeutet, wieviel Raum den Interessen den durch Straftaten verletzten Personen im Strafrechtssystem eingeräumt werden soll. – Für die Opfer ist innerhalb der populäreren vergeltungstheoretischen Ansätze kein Platz vorgesehen. Der straftheoretische Blick in die Vergangenheit geht nicht mit einer opferfreundlicheren Perspektive einher. Im Gegenteil: Die hergebrachten Strukturen sowie die typische Polarität zwischen Staat und Täter lassen sich mit Hilfe der Thesen einer absoluten Strafgerechtigkeit eher bekräftigen. Das Urteil fällt noch radikaler aus, wenn man die eben nachgezeichneten Postulate zugespitzt formuliert: Ein an äußerster Objektivität orientiertes Vergeltungskonzept, das nach kollektiver Genugtuung strebt, darf das Opfer und dessen individuelle Präferenzen nicht einmal hören.

II. Relative Straftheorien Als geradezu opferblind nehmen sich die relativen Straftheorien aus. Sie identifizieren die Strafe nicht mit einem am Gerechtigkeitsstreben orientierten mora67 68 69 70 71 72

Nagler, Strafe, S. 568. Nagler, Strafe, S. 568 f. Nagler, Strafe, S. 570 f. Hegel, Grundlinien, Bem. zu § 99 / Anm., S. 189. Hegel, Grundlinien, Bem. zu § 99 / Anm., S. 190. Hegel, Grundlinien, Bem. zu § 99 / Anm., S. 190 f.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

lischen Tadel, sondern versuchen, sie auf der Grundlage empirischer Daten zu rechtfertigen. Strafe in diesem Sinne diene ausschließlich dem Schutz der Gesellschaft.73 Die metaphysische Deutung sozialer Probleme unterbleibt. Im Vordergrund stehen humanitäre, rationale und utilitaristische Gedankengänge.74 Wenn die Idee der Vorbeugung zum maßgeblichen Zweck allen Strafens erstarkt, verliert das Individuum an Bedeutung. Dies ist die merkwürdige Konsequenz einer Lehre, die sich die spezifisch-menschliche Gestaltung der Strafjustiz zur Aufgabe gemacht hat. Hieraus resultiert seit jeher der Einwand des vergeltungstheoretischen Lagers, dass jede präventionsorientierte strafrechtliche Maßnahme mit einem Menschenwürdeverstoß Hand in Hand gehen müsse, „denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt.“75 Akzeptierte man dieses Argument als zutreffend, wäre jede weitere Auseinandersetzung mit den relativen Straftheorien hinfällig. Allein stellt sich ein derartiges Verdikt als allzu pauschal dar: Die Verwendung eines Menschen zu einem bestimmten Zweck ist nicht per se mit dem Entzug der Menschenwürde gleichzusetzen. Man subsumiert einen Menschen noch nicht unter die Regeln des Sachenrechts, weil man ihn als Mittel zur Verwirklichung von Zielen gebraucht, die von seiner Person unabhängig sind.76 Wer Anhänger gängiger Präventionstheorien ist, verweigert sich nicht der Kommunikation mit Täter und Opfer. Diese als Personen wahrzunehmen und mit ihnen in Beziehung zu treten, schließt die Verfolgung übergeordneter Interessen nicht aus und umgekehrt.77 Es darf daher zulässigerweise danach gefragt werden, inwiefern Opferbelange in einem präventionstheoretischen Konzept Berücksichtigung finden können.

1. Die Spezialprävention Sieht man die Aufgabe der Strafe darin, den Täter von zukünftigen kriminellen Handlungen abzuhalten, spricht man von Spezialprävention.78 Der Einzelne soll Nur Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 71. Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 71. 75 Kant, MdS, S. 453. 76 Vgl. dazu Reemtsma, Recht des Opfers, S. 14. 77 Reemtsma, Recht, S. 41, der richtigerweise festhält, dass es eine Vielzahl von Situationen gibt, in denen Menschen als Mittel zum Zweck benutzt werden, ohne dass man ihnen deshalb die Menschenwürde abspricht, „etwa wenn wir Brötchen kaufen oder uns bei einem Passanten nach der Zeit erkundigen.“ 78 Zum Ganzen Jakobs, AT, S. 22 ff.; Roxin, AT I, § 3 Rn 11 ff.; Baumann / Weber / Mitsch, Lehrbuch, § 3 Rn 36 ff. 73 74

II. Relative Straftheorien

205

durch gezielte, spezielle Einwirkung auf die Gesamtpersönlichkeit von der Begehung weiterer Straftaten abgebracht werden.79 Vokabeln wie „Erziehung“, „Besserung“ und vor allem „Resozialisierung“ bilden damit die zentralen Punkte eines an Vorbeugung interessierten Strafrechtssystems. In § 2 Satz 1 des Strafvollzugsgesetzes findet dies seinen positiv-rechtlichen Ausdruck, wenn davon die Rede ist, dass im Vollzug der Freiheitsstrafe der Gefangene fähig werden solle, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Damit wird etwas aufgegriffen, was schon 1883 durch von Liszt leidenschaftlich verteidigt wurde. Ziel der Strafe sei: (1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; (2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; (3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.80 Einerseits also soll der Täter vor Rückfälligkeit bewahrt werden, andererseits aber sichert sich die Allgemeinheit vor dem Straftäter durch seine Einsperrung ab.81 Davon ist auch im Strafvollzugsgesetz die Rede: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“, legt § 2 Satz 2 fest.82 Das mag Indiz für eine in Kriminalitätsfurcht lebende Gesellschaft sein83, jedoch scheint gerade dieser Aspekt eine Perspektive für das Opfer zu eröffnen: Wenn sich in der Verletzung des subjektiven Rechts die Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung manifestiert, so dient die Strafe nicht lediglich der Sicherung der Allgemeinheit, sondern auch und in besonderem Maße dem Schutz des Verletzten vor weiteren Viktimisierungen. Die Strafe soll dann der Intensivierung der Beeinträchtigung subjektiver Rechtspositionen vorbeugen und nimmt die Belange des Opfers insoweit in sich auf. Das folgt unmittelbar aus der Prämisse, dass der soziale Schaden bzw. die der Rechtszuweisungsordnung zugefügte Beeinträchtigung nur so groß sein kann, wie die konkret betroffene Rechtsposition sowie der in ihr liegende Ausschlusscharakter und Zuweisungsgehalt durch das Verhalten des Täters missachtet wurden. Eine Pflicht zur Schadensbegrenzung seitens der staatlichen Institutionen besteht mithin, wenn überhaupt, im Umfang der beim Opfer zu verzeichnenden Verletzungen. Folglich würde jede dem Täter gegenüber zu verhängende strafrechtliche Sanktion beim Opfer ihren Ausgangspunkt nehmen. Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit wäre mit dem des Opfers deckungsgleich.

79 80 81 82 83

Nur Baumann / Weber / Mitsch, Lehrbuch, § 3 Rn 36. Von Liszt, ZStW 3 (1883), S. 1, 36. Von Liszt, ZStW 3 (1883), S. 1, 39. Vgl. auch den Hinweis von Hassemer, Einführung, S. 285. Hassemer, Einführung, S. 285.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

a) Schutz von Opferbelangen als Zielvorstellung von Resozialisierungsmaßnahmen? Mit Hilfe eines derartig gelagerten Repräsentationsmodells ist selbst die vollständige Ausschaltung jedweder subjektiven Rechtsposition kein Problem. Dies betrifft vor allem den Bereich der Tötungsdelikte, bei denen es am Opfer, das vor weiteren Beeinträchtigungen geschützt werden müsste, denknotwendig fehlt. Hier wird ein in seinem Bestande geschütztes Glied der Gemeinschaft ausgelöscht und die Rechtsordnung insgesamt zugleich in ihrem Substrat geschwächt: Es ist dem Handeln des Täters zu verdanken, dass ein Individuum nicht länger Adressat subjektiver Rechte sein kann. Will sich die Rechtsordnung hiermit nicht einfach abfinden und sich in ihrer Geltungskraft nicht ad absurdum führen lassen, so ist sie zu reagieren aufgefordert. Da eine Wiederherstellung des status quo ante tatsächlich nicht möglich ist84, bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem Täter. Soll dieser von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten und somit die Gefahr für die Rechtszuweisungsordnung minimiert werden, so ist die Zielstellung der (Wieder-)Eingliederung des Täters in die Gesellschaft sowie die der Stärkung der Akzeptanz von Normen unumgänglich. Normen aber schützen subjektive Rechte und subjektive Rechte sind von ihren Inhabern nicht ablösbar. Würde das Recht auf die Benutzung und Anwendung der ihr zur Verfügung stehenden Instrumente verzichten, so wäre das der Wirksamkeit und Durchsetzungsmacht des Rechts abträglich. Die durch die Rechtszuweisungsordnung vermittelten Freiheiten stünden nur auf dem Papier. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies nicht weniger, als dass dem Täter der Stellenwert subjektiver Rechte vor Augen zu führen ist. Gelingt eine in diesem Sinne durchgeführte Sozialisation, ist eine effektive Sicherung der Rechtsgemeinschaft vor dem (früheren) Straftäter erreicht. Den Verletzten schlösse das – abseits der Tötungsdelikte – jeweils mit ein, weil er weitere Schädigungen nicht mehr zu befürchten hätte. Eine zukunftsorientierte Strafrechtspflege käme auch ihm zugute. Das aber unterstreicht zugleich den nur reflexiven Symbolwert der Strafe für die Opfer. Sie sind Destinatäre einer mit dem Resozialisierungsgedanken verbundenen Zielvorstellung, die hinsichtlich ihrer Bewerkstelligung nicht versprochen werden kann. Überdies ist zu berücksichtigen, dass Schutz oder Sicherheit der wirklichen Opfer nur durch das Wirksamwerden des staatlicherseits angewandten Instrumentariums gegenüber dem als solchen 84 Denkbar ist eine Restitution im zivilrechtlichen Sinne. Die vergangene Ausschaltung von Freiheit, durch welche die strafrechtliche Verhaltensnorm durchbrochen wird, kann insofern aber nur durch ein materiell gleichwertiges aliud ersetzt werden. Am Umstand der Unmöglichmachung früherer Freiheiten im Hinblick auf den konkret beeinträchtigten Gegenstand ändert sich dadurch nichts. Die Verletzung der Norm kann mit anderen Worten nicht ungeschehen gemacht werden.

II. Relative Straftheorien

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identifizierten Täter erreicht werden. Der mittels der Strafe verfolgte Zweck erschöpft sich weiterhin in hoheitlichen Programmen, die mit unmittelbarem Bezug ausschließlich beim Täter vorgenommen werden. Jeder darüber hinausgehende Effekt ist nur mittelbaren und indirekten Charakters. Damit aber wird der Verletzte nicht stärker begünstigt als jeder andere Rechtsgenosse, der vor eventuellen Übergriffen durch denselben Täter bewahrt werden soll. Es bleibt folglich bei der Fragestellung, ob ausgerechnet die Strafe in der Lage ist, dem Betroffenen die durch den Delinquenten genommene Freiheit zurückzugeben.85 Das aber ist zu verneinen. Die Verhängung der Sanktion wirkt unmittelbar nur auf den Täter. Jeder darüber hinausgehende Effekt kann nur reflexiven bzw. mittelbaren Charakter haben. Auf den jeweiligen Viktimisierungsgrad schlägt sich die Strafe allein nicht nieder. Die Bestrafung nimmt dem Täter etwas, gibt seinem Opfer jedoch nichts. Unterstellt man ein gelegentliches Gefühl der Genugtuung, so mag das für das persönliche Befinden der Betroffenen von Wichtigkeit sein, jedoch liegt hierin nicht die Intention des Strafurteils. Der Strafzweck der Spezialprävention ist von der Person des Verletzten unabhängig. b) Trennung von Strafgrund und Strafzweck Das allein spricht jedoch nicht für eine Straftheorie, die das Opfer ignorieren könnte. Denn der Grund der Einleitung aller strafrechtlichen Maßnahmen liegt freilich in der (vermuteten) Rechtsverletzung, respektive in der Verletzung subjektiver Rechte des Betroffenen im institutionellen Sinne und der damit verbundenen Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung. Ihren Erhalt im Bestande zu schützen, ist die Aufgabe des Strafrechtssystems. Der Sinn des Strafgesetzes liegt darin, die Unverbrüchlichkeit des Prinzips der gleichen Verteilung von Freiheit zu sichern. Wenn dies im Einzelfall misslingt, so ist die Anwendung der einschlägigen Sanktionsnorm zu erwägen. Der Grund der Strafe ist mithin in der Zuwiderhandlung gegen die substanziellen Ge- und Verbote des Rechts zu sehen, in der Auflehnung gegen die Verhaltensnorm und somit in der Missachtung des Prinzips der Gewährleistung gleicher Freiheiten. Der mit der verhängten Rechtsfolge zu erreichende Zweck, also die Intention der Bestrafung selbst, ist hiervon aber zu unterscheiden. Es wäre zirkulär zu behaupten, der Grund der Strafe liege in der Absicht, den Täter zu resozialisieren. Denn die angestrebte Resozialisierung ist nicht Selbstzweck, sondern eine Aufgabe, die aus der festgestellten Missachtung der Rechte des Anderen erst resultiert. Da die Bestrafung allein der Täter zu gewärtigen hat, ist er der zutreffende Adressat sämtlicher Maßnahmen auf Rechtsfolgenebene. Auf den Rechtsgrund hat das jedoch keinen Ausschlag. Wenn die Verhaltensnorm des Erhalts subjektiver Rechte wegen geschaffen wird, so ist hier anzuknüpfen, wenn 85 Das wird gelegentlich angenommen, ohne dass dies näher begründet würde, vgl. etwa J.-C. Wolf, JRE 11 (2003), S. 199 ff., der davon ausgeht, dass die Strafe dazu geeignet und bestimmt sei, das Gleichgewicht zwischen Täter und Opfer wiederherzustellen.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

man eine stärkere Berücksichtigung von Opferbelangen ermöglichen will. Die Diskussion um eventuelle Mitwirkungsmöglichkeiten des Opfers im Prozess hat daher nicht bei den Strafzwecklehren anzusetzen, sondern schon vorher, bei der Aufdeckung des jeweils einschlägigen Rechtsgrundes. Zumindest deutet es sich so aufgrund der Analyse spezialpräventiver Gesichtspunkte an, deren Bedeutsamkeit durch die Differenzierung zwischen Rechtsgrund- und Rechtsfolgenebene nicht gemindert wird.

c) Resozialisierung als verfassungsmäßige Verpflichtung Der Strafzweck der Resozialisierung ist also nicht aus dem Auge zu verlieren. Will man den Täter als Mitglied der Gesellschaft nicht aufgeben, so ist die bessernde Einwirkung auf seine Persönlichkeit ohne Alternative. Eine soziale Disqualifikation oder gar Formen der Ausgrenzung kommen im Staat des Grundgesetzes nicht in Betracht. Ein derartiges Konzept bräuchte indessen nicht weiter verfolgt zu werden, wenn es sich Einwänden ausgesetzt sähe, die schlechthin gegen präventionstheoretische Erwägungen sprechen. Populär ist etwa der Vorwurf, dass „Heilung“ und „Besserung“ als Strafzwecke empirisch schwer zu belegen seien. Namentlich das Gefängnis sei eher eine gute Schule des Verbrechens als eine Besserungsanstalt.86 In der Tat ist die mit der Freiheitsstrafe einhergehende Stigmatisierung und Entwöhnung ein Problem: „Sie hält den Gefangenen nicht nur räumlich fest, sondern isoliert ihn auch sozial.“87 Es mutet daher widersprüchlich an, Resozialisierung erreichen zu wollen, indem man den Täter seiner sozialen Kontakte beraubt und ihn nach dem Ende der Strafzeit in eine Welt entlässt, „die sich außerhalb der Anstaltsmauern nach ihren eigenen Gesetzen weiterentwickelt hat.“88 Bei Lichte betrachtet führt die Strafe also nicht zur Resozialisierung, sondern sie macht diese erforderlich. Im Grunde müsste die Strafe deshalb durch therapeutische bzw. pädagogische Maßnahmen ersetzt, mindestens aber ergänzt, werden, um dem Täter die Vorteilhaftigkeit eines friedvollen gesellschaftlichen Miteinanders aufzuzeigen.89 Die in der Strafe liegende Missbilligung90 der Tat wäre jedenReemtsma, Recht, S. 16; auch Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 42. Hassemer, Einführung, S. 289. 88 Hassemer, Einführung, S. 289. 89 Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 75. 90 Auf eine irgendwie gelagerte Form ethischen Tadels muss dabei entgegen der h. L. nicht einmal zurückgegriffen werden. Die Gewährung subjektiver Rechte sowie die daraus resultierende Statuierung der Rechtszuweisungsordnung sind Ausdruck eines allgemeinen Willens, der durch die Straftat gewissermaßen durchbrochen wird. Die Strafe verkörpert die Abwehr86 87

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falls ebenso wenig rational wie die gegenüber dem Patienten zum Ausdruck gebrachte Missbilligung einer Krankheit.91 Allerdings würde damit verkannt, dass sich der Delinquent vorher bewusst für die Begehung der Straftat entschieden hatte.92 Anders als eine Erkrankung sucht der Entschluss für die Rechtsverletzung den Täter nicht gleich einem Virus heim. Will man den Ausdruck von Missbilligung93 nicht als verfehlt aufgeben, so kommt man an der Auferlegung eines Übels nicht vorbei. Damit aber verlagert sich das Problem auf die Zielstellung, die Bestrafung so zu gestalten, dass von ihr zumindest auch ein resozialisierender Effekt ausgeht – und sei es nur in dem Sinne, dass der Täter von der Begehung anderer Taten deswegen abgebracht wird, weil er die mit der Freiheitsstrafe verbundenen nachteiligen und isolierenden Nebenwirkungen nicht wiederholt in Kauf nehmen möchte. Eine Verabschiedung der (Freiheits-)Strafe ist jedenfalls nicht in greifbarer Nähe, solange eine verlässlichere Form der Bestrafung nicht zu Tage gefördert wird.94 So ist die Strafe in mancherlei Hinsicht eine Chimäre. Freiheitsentzug und Resozialisierung mögen nicht recht in Einklang zu bringen sein. Das Ziel der sozialen Wiedereingliederung des verurteilten Täters bleibt dennoch ein weiter zu verfolgendes Ideal, welches die Verfassung genauso in sich trägt, wie sie die Rechte eines jeden anderen Bürgers im gesellschaftlichen Dasein zu schützen sucht. Daran ändert auch ein durchaus vorhandener empirischer Pessimismus nichts. Vor dem Verzicht auf Strafe ist auch aus weiteren Erwägungen heraus zu warnen: Wer die Abschaffung von Sanktionen fordert und sich darauf zurückzieht, Programme zur Schulung ausreichender Sozialkompetenz als strafrechtliche Reaktion genügen zu lassen, muss befürchten, dass das Strafgesetzbuch (zumindest gelegentlich) als Angebot für Kurse in gesellschaftlichen Umgangsformen missverstanden wird. Sieht man von jeder nachteiligen Wirkung strafrechtlicher Maßnahmen ab, so kann sich leicht eine Situation einstellen, in der sich der Einzelne aus gleichsam achtenswerten Motiven zur Begehung von Straftaten veranlasst sieht. Das Ziel wirksamer Prävention wäre dann nicht lediglich empirisch schwierig zu untermauern. Möglicherweise würde sogar Vorschub in die gegenteilige bereitschaft gegenüber Verhaltensweisen, die die Gesellschaft nicht zu dulden bereit ist. Insofern signalisiert die Bestrafung eine kollektive Willensbekundung zwingenden Charakters. Ethisch-moralischer Postulate bedarf es dafür nicht. 91 Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 75; tatsächlich leugnet die Lehre von der défense sociale die Verantwortlichkeit des Einzelnen und sieht die Straftat als ausschließliches, vom Willen unbeeinflussbares Ergebnis kriminogener Faktoren an, dazu H. Kaufmann, JZ 1962, S. 193 ff., 194 sowie erläuternd Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 47. 92 Oder dass der Täter sich den Verhaltensbefehl bzw. das Risiko seines Verhaltens nicht ausreichend ins Bewusstsein gerufen hat, namentlich im Falle der fahrlässigen Begehung von Straftaten. 93 Missbilligung verstanden als die Artikulation des Willens, die strafbare Verhaltensweise nicht zu dulden bzw. sich gegen ihre Vornahme zu wehren. 94 Ähnlich Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 48.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Richtung geleistet. Um es polemisch-überspitzt zu formulieren: Manch geläuterter Rechtsgenosse sähe sich vielleicht zur Straffälligkeit ermutigt, um ein „besserer Mensch“ zu werden. Am Institut der Strafe ist daher festzuhalten. Es bleibt also beim herausgearbeiteten Ansatz: Vom Standpunkt des Betroffenen aus lässt sich resümieren, dass der Schutz seiner subjektiven Rechtspositionen vor weiteren Beeinträchtigungen nicht gewährleistet ist, solange der Täter ungehindert auf die Freiheitssphäre seines Opfers einwirken kann. Eine Stabilisierung der Rechtszuweisungsordnung ist damit ohne den Schutz des in seinem Freiheitsbereich verletzten Rechtsträgers nicht möglich, bleibt bezogen auf die zu verhängende Rechtsfolge aber unumgänglich reflexiv und mittelbar. d) Konkretisierung des Strafzwecks durch den Strafgrund Die Lehre von der Spezialprävention fordert dazu auf, die Strafe so auszugestalten, dass dem Täter die Möglichkeit einer erfolgreichen Reintegration in den Sozialverband eröffnet wird. Dies wird freilich gern als Kritikpunkt aufgegriffen. So mag es sein, dass der Täter gar nicht von anderen Taten abgehalten werden muss, weil von ihm nach Lage der Dinge zukünftig ohnehin keine Gefahr mehr zu befürchten ist.95 Umgekehrt sei „eine auf die Spitze getriebene Spezialprävention der Versuchung ausgesetzt, den rückfallgefährdeten Täter ohne Rücksicht auf das Gewicht der begangenen Tat so lange zu verwahren und zu behandeln bis er gebessert erscheint.“96 Damit sei das Risiko verbunden, dass auf geringfügige aber für ihre kriminelle Neigung symptomatische Vergehen mit tiefgreifenden therapeutischen und sichernden Maßregeln geantwortet werde, die in keinem Verhältnis zum Umfang des verwirklichten Unrechts stünden.97 Während der in ein verbrecherisches System verstrickte KZ-Mörder also straflos bliebe, müsste der Gewohnheitsdieb unter Umständen sein ganzes Leben im Strafvollzug zubringen. Die Schwäche der spezialpräventiven Idee scheint mithin darin zu liegen, dass sie keinerlei brauchbaren Maßstab für Art und Höhe der zu verhängenden Sanktion vorgibt. Darüber hinaus müsste – vordergründig betrachtet – eine entschlossen praktizierte Spezialprävention schon vor der Begehung von Straftaten vorbeugend auf den als behandlungsbedürftig erkannten Bürger einwirken. Es mutet wenig plausibel an, den als asozial bzw. antisozial identifizierten Einzelnen erst verbrecherisch tätig werden zu lassen, bevor man sich seiner im Interesse der Verhinderung von Straftaten annimmt.98 95 Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 45, sehen hierin den Grund, warum spezialpräventives Denken mit dem gegenwärtigen Strafrechtsverständnis nicht in Einklang zu bringen sei. 96 Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 46. 97 Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 75. 98 So die Lehrmeinung von Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 46 sowie Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 75.

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Wollte man diese Unstimmigkeit bereinigen, ginge dies freilich nicht ohne einen Bruch mit dem Grundsatz, dass es ein Gesinnungsstrafrecht auf keinen Fall geben darf. Strafrechtliche Maßnahmen müssten bereits in einem Stadium eingeleitet werden, in dem die rechtsfeindliche Einstellung des potentiellen Delinquenten noch nicht in einem äußeren Handeln manifest geworden ist. Dass sich das mit einem nach rechtsstaatlichen Prinzipien verfassten Strafrechtssystem nicht verträgt, bedarf keiner näheren Begründung. Vom Boden der überkommenen Rechtsgutslehre aus greifen die dargestellten Bedenken wohl sogar durch. Mit Hilfe der Rechtsverletzungslehre lassen sie sich jedoch überwinden: Auszugehen ist einmal mehr vom Institut des subjektiven Rechts und seiner Bedeutung für die Rechtszuweisungsordnung. Es besteht kein Grund, gegen den – wenn auch rechtsfeindlich gesinnten – Bürger vorzugehen, solange er die ihm zustehende Freiheit nicht zu Lasten der Freiheit Dritter missbraucht hat. Das Recht entfaltet seine zurückweisende Funktion erst, wenn es zur Läsion von Freiheitssphären kommt, wenn also der Strafgrund anlässlich einer konkreten Verhaltensweise unterstrichen wird. Die endgültige Beeinträchtigung braucht nicht abgewartet zu werden, jedoch muss die Labilität der Rechtszuweisungsordnung durch ein äußerlich wahrnehmbares Verhalten erkennbar werden.99 Fehlt es hieran, kann von einem Übergriff in subjektive Rechtspositionen, der pariert werden müsste, nicht gesprochen werden. Rechtsfeindliche Gedanken bringen noch keine Überlagerung gleicher Freiheiten mit sich, eine solche ist angesichts der fehlenden Verhaltensbetätigung nach außen nicht einmal zu befürchten; es besteht weder ein Anlass, noch eine ausreichende Legitimationsgrundlage für ein staatliches Einschreiten. Damit ist klargestellt, dass auch die Spezialprävention jede strafrechtliche Maßnahme von der bereits begangenen Straftat abhängig machen muss. Die Verfolgung eines bestimmten Strafzwecks ist ausgeschlossen, solange hierfür kein Grund besteht. Schließlich weiß die Rechtsverletzungslehre auch mit dem nicht besserungsbedürftigen sowie mit dem nicht besserungsfähigen Täter etwas anzufangen: Versteht sich jede Straftat zuvorderst als Ausschaltung subjektiver Rechte, so findet die Strafe hierin ihren Grund. Weil sich die Rechtsordnung mit der Schwächung ihres Substrats nicht abfindet, reagiert sie in Ermangelung der Möglichkeit der Wiederherstellung des status quo ante mit einer Sanktion. Durch die Strafe findet die Missbilligung des Vergangenen statt. Soll die Bedeutsamkeit der Rechtszuweisungsordnung nicht geschwächt werden, ist zu bestrafen. Die Frage, ob der Täter überhaupt besserungsbedürftig ist, muss insoweit gar nicht gestellt werden, da die Rechtsfolgenebene nicht berührt ist. Die Spezialprävention bleibt bei Bestätigung des Strafgrundes gleichwohl ein verfolgungswürdiges Ziel, das nicht etwa an Bedeutung verliert: Die Einwirkung auf den Täter muss sich in der Weise vollziehen, dass die bereits erfolgte Sozialisa99 Man denke etwa an die Strafbarkeit des Versuchs und ihre genauere dogmatische Begründung.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

tion100 im Zuge der Bestrafung nicht zunichte gemacht wird. Es ist mit anderen Worten dafür zu sorgen, dass die Bestrafung nicht zur nachhaltigen Erschütterung von Rechtsbewusstsein und Rechtschaffenheit führt. Zentral dafür ist die Akzeptanz des empfangenen Urteils. Es muss darauf hingewirkt werden, dass der an sich nicht besserungsbedürftige Täter die ihm gegenüber verhängte Strafe als richtig annimmt. Spezialprävention ist in diesem Sinne ein Instrument, das dem Einzelnen den Stellenwert der Rechte anderer sowie die Bedeutsamkeit und Geltungskraft einer freiheitlichen Rechtsordnung illustrieren soll. Das ist gegenüber dem erblindeten Banknotenfälscher genauso möglich wie gegenüber dem inzwischen querschnittsgelähmten Fassadenkletterer, um auf einige nicht unpopuläre Lehrbuchbeispiele zu rekurrieren.101 Von etwas größerer praktischer Relevanz sind eher die Strafurteile gegen ehemalige NS-Gewaltverbrecher oder frühere Mitglieder der DDR-Regierung. Gerade in Fällen des sogenannten Systemunrechts ist es von Notwendigkeit, den Verantwortlichen die Bedeutsamkeit von Freiheit und Leben vor Augen zu führen. Anderenfalls erschiene die Überwindung totalitärer Regime lediglich als Phänomen sich gelegentlich wiederholender Änderungen der gesellschaftlichen Mehrheits- und Kräfteverhältnisse. Gerade letzteres aber ist für die Opfer von besonderer Wichtigkeit. In der Strafe liegen Bejahung und Anerkennung der von den Betroffenen erlittenen Freiheitsbeeinträchtigungen. Nachteile und Einbußen stellen sich nicht länger als negative Auswirkungen gesellschaftlicher Umstände dar, sondern als Unrecht. Die subjektive Rechtsverletzung liefert den Grund zur Verhängung der Strafe, die idealiter die Einsicht in das Unrecht früheren Tuns vermittelt. Ganz ähnlich verhält es sich in Bezug auf den nicht besserungsfähigen Täter. Ihn nicht in den Genuss spezialpräventiver Maßnahmen kommen zu lassen, hieße, ihn als Mitglied des Sozialverbandes aufzugeben. Durch das Grundgesetz wird ein solches Fallenlassen untersagt. Das Hinwirken auf ein sozialverträgliches Dasein ist vor diesem Hintergrund ohne jede Alternative. Fraglich bleibt damit allein die Dauer der pädagogisch-therapeutischen Einwirkung.102 Der aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie der Grundsatz schuldangemessenen und maßvollen Strafens verbieten es, den Täter länger festzuhalten, als es nach dem Grad des verwirklichten Unrechts nötig ist. Mithin kommen strafrechtliche Maßnahmen unbestimmten Umfangs auch dann 100 Gemeint ist die vor der Bestrafung vorgefundene und ohne weiteres akzeptable Sozialstruktur des Täters. 101 Nur Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 45. 102 Lampe, Strafphilosophie, S. 7, befürchtet gar, dass die „Aufrechterhaltung der Rechtsordnung eine Täterstrafe bedingen [kann], die, ob positiv oder negativ, außer Verhältnis zur begangenen Straftat steht; dann erscheint sie unserem ,naiven‘ Gerechtigkeitsempfinden ebenfalls als ungerecht und damit kontraindiziert – man denke an lange Freiheitsstrafen für Parksünder aufgrund von Wiederholungsgefahr oder an leichte Strafen für Totschläger oder Vergewaltigungstäter mangels solcher Gefahr.“

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nicht in Betracht, wenn sie eigentlich spezialpräventiv geboten wären. Deswegen ist die Idee der Spezialprävention jedoch nicht automatisch verfassungswidrig. Die Erklärung für die verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit maßvollen Strafens kann mit Hilfe der Unterscheidung von Strafgrund und Strafzweck, wie sie aus der Rechtsverletzungslehre resultiert, geliefert werden. Denn wenn der Grund der Strafe in der Verletzung subjektiver Rechte zu sehen ist, dann darf der Zweck der Bestrafung nicht über die ihn legitimierende Rechtsverletzung hinausgehen. Der Strafzweck darf also nur verfolgt werden, soweit hierfür dem begangenen Unrecht nach Anlass besteht. Der staatliche Eingriff auf die Freiheitssphäre des Täters im Zuge der Bestrafung darf die im Zusammenhang mit der begangenen Tat erreichte Eingriffsintensität auf die Opfersphäre nicht überschreiten. Hierdurch erfährt die Bestrafung ihre erforderliche Begrenzung. Gleichzeitig ist offengelegt, dass der Erfolg der Spezialprävention immer nur Ziel, nicht aber hinreichende Bedingung strafrechtlicher Maßnahmen sein kann. Das wird durch die limitierte Akzessorietät des Strafrechts gegenüber den anderen Teilrechtsordnungen sogar noch unterstrichen. Wenn das Strafrechtssystem als letztes Mittel der Rechtsdurchsetzung fungiert, so kann dies qua seiner Aufgabenstellung nur im Rahmen der durch die übrige Rechtsordnung vorgegebenen Grenzen geschehen. Das Strafsystem kann sich demnach seiner verfassungsrechtlichen Bindungen nicht entledigen, was dazu führt, dass jede Diskussion über Sinn und Zweck der Strafe ohnehin nur im Rahmen von Rechtsstaat und Verhältnismäßigkeit zu führen ist. Alle darüber hinausgehenden Vorschläge widersetzen sich den Vorgaben der Primärrechtsordnung und können schon deshalb nicht als tragbare Ansätze einer Straftheorie herangezogen werden. Nichts anderes gilt in Bezug auf die Ablehnung einzelner präventionstheoretischer Erwägungen. Soweit die Kritik auf Thesen und Befürchtungen beruht, die im Staat des Grundgesetzes keinerlei Geltungsanspruch besitzen, so kann sie in einer argumentativen Auseinandersetzung auch keine ernsthafte Berücksichtigung finden. Anderenfalls würde man das Strafrechtssystem von seinen rechtsstaatlichen Bindungen lösen und den Grundsatz der limitierten Akzessorietät durchbrechen. Nach allem wird Spezialprävention der Wahrung subjektiver Rechte wegen gefordert, was jedoch nicht zwingend zu einer stärkeren Berücksichtigung des Opfers führt. Seine Verletzung bildet lediglich den Rechtsgrund für Einleitung und Verhängung strafrechtlicher Maßnahmen gegenüber dem Täter. Die Bipolarität des Verhältnisses zwischen Staat und Delinquenten wird hingegen nicht zu Gunsten der Betroffenen aufgelöst. Im Vordergrund steht die Wahrung allgemeiner verfassungsrechtlich-gesellschaftlicher Belange.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

2. Die Generalprävention Es ist bereits bemerkt worden, dass sich die Rechtsordnung ihrer Geltungskraft begeben würde, wenn sie sich gegen Angriffe nur unzureichend absicherte. Subjektive Rechte und die Gewährleistung von Freiheit stünden nur auf dem Papier, wenn sie nicht vor willkürlicher Aufhebung durch Dritte geschützt würden. Es scheint also, als ob erst die Wechselwirkung zwischen spezial- und generalpräventiven Thesen die Tragfähigkeit einer modernen Straftheorie begründete. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Berücksichtigung überindividueller Ziele die Bedeutsamkeit des einzelnen subjektiven Rechts noch weiter zurückdrängt mit der Konsequenz, dass die über die Trennung von Strafgrund und Strafzweck herausgearbeitete zumindest relative Opfernähe wieder nivelliert wird. Schließlich geht es darum, das gekränkte Rechtsempfinden der Bevölkerung zu heilen und den Normbefolgungswillen der Allgemeinheit zu festigen. Die positive Stabilisierung des Rechtsbewusstseins strebt eine straftatverhindernde Fernwirkung an103 und begründet die Strafe daher nur aus der Perspektive potentieller Straftäter. Die zu beurteilende Tat selbst und die an ihr beteiligten, konfligierenden Personen geraten damit aus dem Blick. Durkheim schreibt der Allgemeinheit sogar ein kollektives Bewusstsein zu, das die Tendenz aufweise, emotive Widersprüche zu eliminieren.104 Aus der Fusion der Gefühle im gemeinschaftlichen Leben entstehe eine neuartige Kraft, die keinerlei Widerspruch dulde. Vor diesem Hintergrund erkläre sich der soziale Charakter der Strafe105: Die Verletzung eines kollektiven Gefühls durch das Verbrechen stelle eine Beunruhigung der gemeinschaftlichen Ordnung dar, die sich im Akt der Bestrafung nicht nur in ihrer Erhaltung bekräftige, sondern die emotiven Kräfte des sozialen Lebens insgesamt konzentriere.106 Selbst die Entsprechung von Verbrechen und Strafe ergebe sich aus dem einfachen Gesetz der Kollektivpsychologie.107 Ein derartiges Konzept ist gehalten, den individuell Betroffenen lediglich als pathologisches Glied innerhalb eines Meta-Körpers zu begreifen, an dessen Verletzung sich gewissermaßen der gefühlsmäßig richtige Drang zu strafen entzündet. Das Ausmaß der konkreten Reaktion solle sich anhand eines Vergleichs mit dem Individualbewusstsein ermitteln lassen.108 Gephart schließt daraus, dass die VerletNur Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 30. Durkheim, Travail Social, S. 64 ff. Zur Idee der positiven Generalprävention bei Durkheim auch Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 145. 105 Durkheim, Travail Social, S. 64 ff.; Zu Durkheims Theorie der emotiven Dissonanz auch Gephart, Strafe und Verbrechen, S. 120 ff. 106 „Le crime rapproche donc les consciente honnêtes et es concentre.“, Durkheim, Travail Social, S. 70. 107 Dazu Gephart, Strafe und Verbrechen, S. 121 ff. 108 Durkheim, Travail Social, S. 64 f. 103 104

II. Relative Straftheorien

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zung kollektiver Gefühle damit letztlich der Logik individueller Emotionen verhaftet bleibe.109 Ein wie auch immer geartetes Kollektivbewusstsein kommt demnach ohne Rückbezug auf die Verletzung des jeweiligen Individuums nicht aus. Die Straftat ist daher nicht an sich eine Verletzung des Ganzen, sondern die Allgemeinheit macht sich die Enttäuschung des Einzelnen gleichsam im Interesse der Gesamtheit zueigen. Die Wechselwirkung zwischen dem konkret beeinträchtigten subjektiven Recht und der es tragenden Rechtszuweisungsordnung wird durch generalpräventives Denken damit nicht etwa hinfällig, sondern geradezu offenbar: Eine Stärkung des Normvertrauens der Bevölkerung kommt nur in Betracht, sofern es gelingt, das Rechtsbewusstsein des individuell Verletzten zu festigen. Die Anerkennung eines Sachverhalts als Unrecht verschafft Sicherheit und Orientierung im sozialen Leben110 vor allem zu Gunsten des Opfers und hilft ihm, den Kontrast zwischen dem sozio-kulturell wünschenswerten Soll-Zustand und der Straftat zu erkennen. Die Wahrnehmung des juristischen Urteils in der Öffentlichkeit ermöglicht die Transformation dieses Vermittlungsvorgangs auf die Allgemeinheit. Hierdurch wird die theoretisch festgestellte Wechselwirkung zwischen subjektivem Recht und Rechtszuweisungsordnung praktisch ins Werk gesetzt.

a) Positive Generalprävention als Grundlage eines Opferrechts auf Bestrafung? Reemtsma geht nun so weit, die positive Generalprävention als eine Art Rahmentheorie zu begreifen, innerhalb derer die Pflicht des Staates, den sozialen Schaden zu beheben, mit einem entsprechenden Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters korrespondiere.111 Dies birgt freilich einen Fehlschluss. Die Pflicht des Staates, sozialen Schaden zu minimieren – und womöglich zu beheben – korrespondiert mit einem dahingehenden Recht der den Staat tragenden Allgemeinheit.112 Insofern verwechselt Reemtsma die zulässigen Bezugspunkte des in Rede stehenden Rechtsverhältnisses. Der Anspruch auf Wiederherstellung des individuellen subjektiven Rechts richtet sich gegen denjenigen, der seine Freiheitssphäre rechtsmissbräuchlich zu Lasten der Freiheiten anderer eingesetzt hat. Dieser Rechtsmissbrauch ist in der Tat rückgängig zu machen, und zwar durch den Delinquenten. Die dafür erforderlichen Instrumente werden durch das bürgerliche Recht bereitgestellt. Eventuelle Ansprüche des Opfers richten sich gegen den Urheber der beanstandeten Rechtsverletzung. Da hier die Ebene der Gleichordnung zwischen zwei Rechtsgenossen 109 110 111 112

Gephart, Strafe und Verbrechen, S. 121. Reemtsma, Recht des Opfers, S. 26. Reemtsma, Recht des Opfers, S. 27. Allgemeinheit, verstanden als die Summe aller Individuen.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

betroffen ist, handelt es sich jedoch ausschließlich um eine Materie des Privatrechts. Ein Recht des Opfers auf Bestrafung ist demgegenüber nicht existent. Aus persönlicher Betroffenheit folgt keinerlei Berechtigung aus der einschlägigen Sanktionsnorm.

b) Wechselseitige Abhängigkeit von General- und Spezialprävention Die kraft der Verletzung einer Verhaltensnorm ausgelöste Betroffenheit der Rechtszuweisungsordnung kann nur durch die sie tragende Allgemeinheit geltend gemacht werden. Für die Wahrung von Rechtspositionen in ihrer Funktion als Institution ist nur derjenige zuständig, der sie eingeräumt bzw. bejaht hat und das ist die Rechtsordnung selbst. Die Strafe ist denn auch ganz und gar ungeeignet, die im Zusammenhang mit der Tat zu verzeichnenden Einbußen wettzumachen. Wie sollte sie das gewährleisten? Folglich liegt der Zweck des Strafens in etwas anderem, etwa in der Dokumentation der Durchsetzungsmacht der Rechtsordnung und in der Signalisierung des Beharrens auf bestimmten Gewährleistungen. Dies zeigt tatsächlich eine Gemengelage aus general- und spezialpräventiven Thesen an, denn sie schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: Sie sind ineinander verzahnt und bedingen sich gegenseitig. So wie das Recht auf seine Beachtung drängt, so hat es sich derer anzunehmen, die durch die Verhängung rechtlicher Zwangsmaßnahmen von ihm angesprochen werden.

c) Rechtsgrund als Begrenzung generalpräventiver Ziele Die hiesige Annahme eines Bedingungszusammenhangs aus Spezial- und Generalprävention lässt sich allerdings nur aufrechterhalten, sofern nicht durchgreifende Bedenken entgegenstehen. Wie gegen die Spezialprävention, so wird auch gegen generalpräventive Erwägungen eingewandt, dass eine vernünftige und vorhersehbare Festlegung und Begrenzung des Strafmaßes mit ihrer Hilfe nicht vorgenommen werden könne. Wenn die Intensität der Enttäuschung der normativen Verhaltenserwartung der Rechtsgenossen den Ausschlag für die zu verhängende Rechtsfolge gebe, dann sei zu befürchten, dass es zu einer Ablösung der Strafe von der eigentlichen Tat sowie von deren wirklichen Unrechtsgehalt komme.113 Die Strafe sei also weniger am tatsächlichen Unrecht zu orientieren, als vielmehr am Grad der wahrgenommenen Empörung seitens der Bevölkerung.114 Mehr noch: Es bedürfte nicht einmal des wirklichen Vorliegens einer Tat, um die Strafe 113 114

Lampe, Strafphilosophie, S. 11; vgl. dazu auch Baumann / Weber / Mitsch, § 3 Rn 31 ff. Lampe, Strafphilosophie, S. 11 f.

II. Relative Straftheorien

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zu legitimieren: „[ . . . ] es müßte schon der Widerschein der Strafe im allgemeinen Bewußtsein der Bevölkerung zur Regulation des Verbrechens ausreichen.“115 Mithin sei eine simulierte Strafe um nichts schlechter als die wirkliche. Sie sei sogar besser, da sie die schädlichen Folgen vermeide, welche die wirkliche für den Täter mit sich brächte.116 Umgekehrt aber sei ein geheimes Verbrechen nicht strafwürdig. Derartiger Kritik lässt sich indessen einmal mehr mit dem Hinweis begegnen, dass zwischen Strafgrund und Strafzweck zu unterscheiden ist. Die Stabilisierung des Normvertrauens ist unzulässig, sofern hierfür kein Anlass gegeben ist. Die konkrete Rechtsverletzung liefert die Grundlage jeglichen verfolgungswürdigen Strafzwecks. Deshalb ist eine Strafe und der mit ihr verbundene Zweck der Generalprävention nur ins Auge zu fassen, sofern sich eine Straftat auch wirklich zugetragen hat. Fehlt es an ihr, so ist der Bestrafung jeglicher Boden entzogen. Sämtliche diskussionswürdigen Strafziele fußen anderenfalls auf einem rechtlichen Nullum. Der Umfang der in der Bevölkerung wahrnehmbaren Enttäuschung ist insofern durch den konkreten Unrechtsgehalt der materiellen Strafrechtsvorschriften kanalisiert. Wäre dem nicht so, so könnte man auf eine kodifizierte Strafgesetzgebung einschließlich eines förmlichen Verfahrensrechts verzichten und die Verhängung der Strafe gänzlich an der Empörung der Mitglieder einer Sozietät orientieren. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes kommt ein solches Vorgehen nicht in Betracht. Ebenso ausgeschlossen sind folglich strafrechtliche Maßnahmen, die über den sie legitimierenden Grund hinausgehen. Jede Kränkung des allgemeinen Rechtsbewusstseins, die die Forderung eines höheren Strafmaßes nach sich zieht, obwohl es hierfür an der Ermächtigungsgrundlage fehlt, muss ungehört verhallen. Auch simulierte Strafen, die den Bürger beruhigen sollen, tatsächlich jedoch nicht vollstreckt werden, lassen sich mit generalpräventiven Thesen nicht rechtfertigen. Denn es ist nicht einzusehen, warum einzelne Rechtsverletzungen ohne Reaktion bleiben sollten, wenn hierzu ein hinreichender Grund besteht. Der Erhalt und die Unverbrüchlichkeit der Rechtszuweisungsordnung bedingen die Gleichmäßigkeit der Strafrechtsanwendung. Auf Strafe in Einzelfällen zu verzichten hieße, einzelne Adressaten subjektiver Rechte als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft in Frage zu stellen. Damit aber erwiese sich die Rechtsordnung wiederum als labil und würde an Legitimität einbüßen. Die Freiheit wäre im Ergebnis ungleichmäßig verteilt bzw. würde von Rechtsgenosse zu Rechtsgenosse mit unterschiedlicher Intensität geschützt. Während einem Teil der Gemeinschaft ein Missbrauch der Freiheit zu Lasten Dritter verboten wäre, hätte ein anderer Teil infolge des unter Umständen gleichen Missbrauchs jedenfalls keinen Nachteil zu befürchten. Dies müsste das angestrebte interne Gleichgewicht der Rechtszuweisungsordnung nachhaltig beeinträchtigen oder pointierter: Die Gewährleistung gleicher Freiheitssphären zu 115 116

Lampe, Strafphilosophie, S. 11 f. Lampe, Strafphilosophie, S. 11 f.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Gunsten aller wäre zwar formal kodifiziert, würde in praxi jedoch nicht mit Inhalten gefüllt. Schließlich bereitet auch das heimliche Delikt keine Schwierigkeiten, denn es ist, bei Lichte betrachtet, nicht existent. Jede gegenteilige Behauptung läuft auf eine unzulässige Verquickung von Rechtsgrund- und Rechtsfolgenebene hinaus. Über Angemessenheit und den sachgerechten Umfang der Strafe kann nur diskutiert werden, soweit über den sie legitimierenden Rechtsgrund Sicherheit besteht. Solange dieser nicht offengelegt ist, fehlt es am Fundament des zweckmäßigen Bestrafens. Ohne Kenntnis über den maßgeblichen Verhaltensnormverstoß ist der betreffende Vorgang nicht heimlich, sondern schon kein Delikt. Die unterbliebene oder unvollständige Aufklärung des Sachverhalts und dessen nicht vorgenommene rechtsverbindliche Subsumtion unter den einschlägigen Straftatbestand hat das Nichtentstehen des Rechtsgrundes zur Folge. Der Rechtsgrund aber ist notwendige Bedingung aller Strafzweckerwägungen. Man kann freilich die rechtspolitische Forderung nach einer effektiveren Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden erheben. Die zutreffende und lückenlose Ermittlung von Tat und Täter ist ein berechtigtes Anliegen, um der Frage nachgehen zu können, ob und inwiefern Grund für die Verhängung strafrechtlicher Maßnahmen besteht. Die Zweckbestimmung der Bestrafung wird dadurch aber mitnichten determiniert. Die Ziele der Generalprävention sind vom jeweiligen Rechtsgrund unabhängig. Sie bleibt neben der Spezialprävention ein wichtiger Strafzweck.

III. Konsequenzen 1. Der Normbruch als Strafgrund Es lässt sich resümieren, dass das Strafrecht Individualrechtsverletzungen nicht ignoriert, sondern als Anknüpfungspunkt zur Eröffnung des eigenen Anwendungsbereichs benötigt. Die Beeinträchtigung des subjektiven Rechts im institutionellen Sinne liefert den Grund für die Tätigkeit der Strafrechtspflege. Das aber darf nicht den Blick davor verstellen, dass die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion erst in Betracht kommt, wenn über die Individualrechtsverletzung hinaus die Rechtszuweisungsordnung in ihrer Gesamtheit erschüttert wird. Insofern dient das Strafrecht tatsächlich dem Erhalt der Rechtsordnung, wie sie von der Allgemeinheit getragen wird. Die Allgemeinheit setzt sich freilich aus der Summe aller Individuen zusammen. Daran hat sich das strafrechtliche Konzept zu orientieren. Das Recht gewährleistet die Freiheit des Einzelnen im Zuge hoheitlicher Setzung. Das Recht legitimiert sich also „von unten“, kommt gleichwohl aber „von oben“. Über das freiheitliche Dasein aller und die damit verbundene Akzeptanz des Rechts erfährt der Staat Legitimität. Individualität und Allgemeinheit sind auf diese Weise untrennbar mit-

III. Konsequenzen

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einander verwoben. Das Allgemeinwohl ist ohne Berücksichtigung des Wohls der Individuen nicht zu mehren. Ein transpersonales Verständnis verbietet sich daher in einer modernen Straftheorie. Täter und Opfer sind Mitglieder des gemeinschaftlichen Ganzen. Durch Begehung der Straftat nimmt der Delinquent eine Freiheit in Anspruch, die ihm nach dem Willen des Rechts nicht zusteht. Dies geschieht zu Lasten des jeweiligen Opfers. Ihm wird ein Stück seiner rechtlich verbürgten Freiheit genommen. Geht dies mit der Erschütterung des Basisvertrauens in die Geltungskraft des Rechts einher, so hat dieses seine Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Würde die Rechtsordnung in ihrem Bestande nicht geschützt, so würde sich in der Beeinträchtigung der Freiheit des Einzelnen die Instabilität der Freiheit aller manifestieren. Das Verhalten des Täters ist folglich als inakzeptabel zurückzuweisen. Da die Bewährung der Gesamtrechtsordnung dem verantwortlichen Täter gegenüber unterstrichen werden soll, ist es die im Staat verfasste Allgemeinheit, die ihrem Anspruch auf Einhaltung der Normen Ausdruck zu verleihen hat. Dieser Anspruch ist nicht beliebig durchsetzbar. Er ist erst zu artikulieren, sofern hierzu durch einen Normbruch Anlass gegeben ist und das wiederum ist erst bei der festgestellten Läsion gleicher Freiheitssphären der Fall. Der Strafanspruch findet in der Verletzung subjektiver Rechte mithin seinen Grund. Die Rechtsverletzung wird so zur notwendigen Bedingung staatlichen Strafens. Ein etwaiger Verletzungserfolg braucht nicht abgewartet zu werden, denn die Rechtsverletzung ist handlungsbezogen. Sie erfährt ihre Charakteristik nicht durch schädigende Ereignisse beim einzelnen Individuum, sondern durch den Missbrauch von Freiheit seitens des Täters. Was die Sphäre des Opfers anbelangt, so genügt eine (nachhaltige) Gefährdungssituation, um eine persönliche Betroffenheit zu begründen. Nur aus der Betroffenheit Einzelner kann die Betroffenheit aller resultieren. Insofern besteht auch in strafrechtlicher Hinsicht eine Deckungsgleichheit zwischen Einzel- und Allgemeinwohlinteressen. Sie sind deshalb in Einklang zu bringen. Es ist stets zu ermitteln, ob eine strafrechtlich relevante Beeinträchtigung subjektiver Rechte vorliegt, die der Verhängung einer Sanktion den Grund gibt. Sollte dies der Fall sein, ist zu bestrafen.

2. Verbot zweckfreien Strafens a) Rechtsverletzung als Rahmen general- und spezialpräventiver Ziele Die Strafe darf freilich nicht zweckfrei und um ihrer selbst willen ausgesprochen werden. Sie soll dem Täter die Bedeutung der subjektiven Rechte bzw. der Freiheit anderer aufzeigen, ohne dass ihm seine subjektiven Rechte aberkannt werden. So

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

wird die Geltungskraft des Rechts gefestigt. Spezial- und Generalprävention haben folglich gleichermaßen eine Daseinsberechtigung. Der in der Straftat liegende Rechtsmissbrauch liefert den Rahmen, innerhalb dessen die Bestrafung zielgerichtet vollzogen werden darf. Um über die Rechtsfolge ein sachgerechtes Urteil treffen zu können, muss der Umfang der Beeinträchtigung subjektiver Rechte bemessen werden. Da die einzelnen subjektiven Rechtspositionen von ihren Inhabern nicht abzulösen sind, ist die Person des Verletzten von nachhaltiger Relevanz. Das endgültige Strafmaß muss Rücksicht auf das jeweilige Ausmaß der Viktimisierung und den damit verbundenen Verlust an Freiheit nehmen. Es ist zu ermitteln, in welchem Umfang eine Zelle der Gesamtrechtsordnung in Mitleidenschaft gezogen wurde, um präzise Aussagen darüber treffen zu können, inwiefern das Substrat des Rechts sich als geschwächt darstellt. Der staatliche Strafanspruch unterliegt folglich einer doppelten Bindung.

b) Kein Strafanspruch des Opfers Zugleich aber ist ein eigener Strafanspruch des Opfers ausgeschlossen. Das Problem verlagert sich auf die Fragestellung, ob eine Mitwirkung des Verletzten an der Feststellung des staatlichen Strafanspruchs bedenkenswert ist. Insofern setzen die Strafzwecklehren zu spät an. Eine Teilhabe des Verletzten an der Untersuchung über das Bestehen eines Strafgrundes erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, denn die Strafbefugnis des Staates wird hierdurch nicht unmittelbar berührt. Wenn das Verfahren zunächst Aufschluss darüber zu geben hat, ob überhaupt eine strafrechtlich erhebliche Rechtsverletzung vorliegt, so fehlt es bei konsequenter Anwendung der theoretischen Prämissen noch bis zum Endurteil am juristisch identifizierten Opfer. Jede andere Annahme würde der Unschuldsvermutung abträglich sein und das Strafverfahren von vornherein präjudizieren, denn noch ist nicht offengelegt, ob sich ein hinreichend intensiver und vom Beschuldigten begangener Rechtsmissbrauch wirklich zugetragen hat. Es fehlt am rechtlichen Grund, die rivalisierenden Pole als Täter und Opfer zu bezeichnen. Vom Bestehen eines ausreichenden rechtlichen Grundes gehen die Strafzwecklehren aber regelmäßig schon aus. Deshalb lässt sich mit ihrer Hilfe auch kein Hinweis darüber erwarten, wie die Rolle des Verletzten im Prozess beschaffen sein sollte. Spezial- und Generalprävention orientieren sich bei bereits feststehender Strafbarkeit primär an Täter und Allgemeinheit. Sie nehmen das Opfer reflexiv als Begünstigten ihrer Ziele mit auf, unmittelbare Folgen im Hinblick auf die Strukturen der Strafrechtspflege verbinden sich damit jedoch nicht. Die Prämisse einer eventuellen Verletztenbeteiligung muss somit im Umstand der noch nicht festgestellten und in diesem Sinne noch fraglichen Strafbarkeit des Täters liegen. Mitwirkungsmöglichkeiten im Verfahren betreffen die Rechtsgrund-, nicht aber die Rechtsfolgenebene.

III. Konsequenzen

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c) Strafrechtliche Äquilibristik aa) Straftat und Bestrafung als Ausschaltung von Freiheit In der Straftat manifestiert sich die Instrumentalisierung des Opfers durch den Täter. Dem Verletzten wird im Zuge des Übergriffs die Subjektqualität genommen. Der darin liegende Missbrauch von Freiheit soll durch die Strafe pro futuro unterbunden werden. Das geschieht in der Weise, dass der Täter zur (vorübergehenden) Preisgabe eigener Freiheitsrechte gezwungen wird. Der in der Begehung der Straftat sich bereits zugetragen habende Missbrauch wird dadurch jedoch nicht aus der Welt geschafft. Die Viktimisierung des Opfers wird nicht behoben. Die Rechtsfolge, also die Bestrafung, ist ihrer Natur nach nicht geeignet, dem Opfer zurückzugeben, was es durch die Straftat verloren hat. Die Strafe stellt allenfalls eine Einbuße bzw. ein Verlust an Freiheit für den Täter dar, jedoch folgt daraus kein zu bezeichnender, genereller Vorteil für das Opfer. bb) Bestrafung als Schaffung eines Gleichgewichts sui generis In gewisser Weise wird also durch die Strafverhängung zwischen zwei Personen ein Gleichgewicht sui generis geschaffen. Beiden ist die Ausübung der ursprünglich vollumfänglich zugesprochenen Freiheitsgewährleistungen tatsächlich nicht mehr möglich. Bei gleichsam äquilibristischer Betrachtung wird der verurteilte Täter im Zuge der angemessenen Bestrafung hinsichtlich der ihm verbleibenden Freiheitsrechte auf das Niveau seines Opfers niedergedrückt. Dennoch ist das durch die Strafe erreichte Äquilibrium zwischen Täter und Opfer nicht geeignet, letzterem einen konkret benennbaren Dienst zu erweisen. Die Straftat mindert die Qualität des Daseins eines bestimmten Rechtsgenossen, der nach abgeschlossenem Verfahren zum Opfer erklärt wird; im Gegenzug mindert die Bestrafung die Daseinsqualität des Täters. Im Ergebnis verursacht die Bestrafung also eine vergleichbare Beschränkung von Freiheit; sie ermöglicht dagegen keine verbesserte Wahrnehmung von Freiheit auf der Seite des Opfers. In diesem Sinne wendet sie sich beschränkend dem Täter zu, ohne sich um den Verletzten zu kümmern. Die Spezialprävention fordert nun dazu auf, dem Täter ein Leben in Freiheit und Verantwortung alsbald wieder zu ermöglichen. Eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung ist hier jedoch selbst dann nicht erreicht, wenn die vollständige Resozialisierung des Täters gelingt, denn die Viktimisierung des Opfers sowie die damit verbundene Beschränkung von Freiheit bleiben möglicherweise über diesen Zeitpunkt hinaus bestehen, schlimmstenfalls ein Leben lang. Zwischen einer gelungenen Resozialisierung des Täters und einer vollständigen Rehabilitation des Opfers besteht mithin kein kausaler Zusammenhang. Die durch die Straftat geschwächte Rechtszuweisungsordnung bleibt beeinträchtigt. Die Gewährleistung von Freiheit ist nicht flächendeckend und zu Gunsten aller ins Werk gesetzt. Das

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Gemeinwesen nimmt sich im Zuge der Bestrafung des Täters an, vernachlässigt jedoch die Position des Opfers, um dessen subjektiver Freiheitsrechte willen die Strafe ursprünglich verhängt worden war. Denn Allgemein- und Individualwohlinteresse sind im Staat des Grundgesetzes gleichwertig.

3. Resozialisierung der Opfer als originäre Aufgabe des Sozialrechts a) Freiheitsoptimierende Dimension des Sozialrechts Wenn das Allgemeinwohl jedoch nur über das Wohl aller Individuen zu erreichen ist, dann wird sich die Rechtsordnung auch und gerade des Opfers annehmen müssen, um die Gewährleistung von Freiheit nicht durch ein Unterlassen weiter in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Resozialisierungsbemühungen sind also vom Täter auf die von ihm verletzten Personen zu erstrecken, um dem gleichmäßigen Raster gewährter Freiheitssphären in Zukunft wieder praktische Wirksamkeit zu verleihen. Dadurch wird eine entsprechende Zuständigkeit der Allgemeinheit indiziert. Wenn die Straftat die gesamte Gesellschaft betrifft, so wird man eine Verpflichtung zur Hilfeleistung gegenüber dem geschädigten Einzelnen annehmen dürfen.117 Klärungsbedürftig ist allerdings, ob derartige Bemühungen noch dem Anwendungsbereich des Strafrechts unterliegen. Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I schürt den Verdacht, dass solcherlei Reintegrationsbemühungen eher dem Bereich des Sozialrechts zuzuordnen sind. Demnach soll das Sozialrecht ein menschenwürdiges Dasein sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit schaffen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abwenden bzw. ausgleichen. Derartige Ziele sind gewöhnlich nicht Gegenstand originär strafrechtlicher Diskussionen. Möglicherweise löst eine weitergehende Opferfreundlichkeit also Reform- und Handlungsbedarf in anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht aus. Fest steht, dass Viktimisierungen eine empfindliche Minderung der Daseinsqualität mit sich bringen. Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Person sollen im sozialen Rechtsstaat erhalten, gebessert oder nötigenfalls wiederhergestellt werden. Insoweit befinden sich die Opfer in keiner anderen Situation als die Betroffenen eines Arbeits- oder Verkehrsunfalls. Die Straftat ereignet sich oft nicht weniger plötzlich oder unvorhergesehen, beschwört aber mitunter weit gravierendere körperliche und psychische Schädigungen herauf.118 Das Sozialrecht dient dem Ziel der vollen Rehabilitation. Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit sollen die Gewährleistung von Freiheit mit Leben erfüllen. Ist dem Individuum eine autonome Gestaltung seiner Lebensverhältnisse aufgrund der Viktimisierung nicht 117 118

So schon Schätzler, GA 1974, S. 471, 472. So auch Schätzler, GA 1974, S. 471 ff., 475.

III. Konsequenzen

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möglich, so resultiert daraus eine gesteigerte Verantwortung der im Staat verfassten Allgemeinheit. Die Begehung der Straftat lässt regelmäßig erkennen, dass der Staat seiner Schutzfunktion nicht allein mit Hilfe der Strafgesetzgebung genügen kann. Das jeweilige Delikt dokumentiert regelmäßig das Versagen der normativen Schutzvorkehrungen. Die Aufgaben des Gemeinwesens haben sich damit jedoch nicht erschöpft. Sie werden nur erweitert. Die Enttäuschung der normativen Erwartungshaltung trägt neue Ansprüche an den Staat heran und indiziert die Optimierungsbedürftigkeit des status quo. Das Deliktsopfer repräsentiert diesen Befund und ist sodann Adressat freiheitsoptimierender Maßnahmen.

b) Wiedergutmachung statt Strafe? Die Bestrafung des Täters leistet hier wenig. Man könnte deshalb geneigt sein, an die Stelle der Strafe das Ziel der Wiedergutmachung treten zu lassen. Tatsächlich ist zu vermuten, dass eine Reintegration von Täter und Opfer am besten gelingt, wenn der der Straftat zugrunde liegende Ausgangskonflikt im Zuge eines beidseitig akzeptablen Arrangements beigelegt wird. Frehsee nimmt an, die Strafe sei nur dazu geeignet, Schmerz zuzufügen und erschöpfe sich in der Erzeugung eines negativen Stimulus.119 Stattdessen ermögliche die Begegnung zwischen Täter und Opfer eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Tat und ihren Auswirkungen. Insbesondere die Degradierung des Täters durch Auferlegung des Strafübels würde durch das in ihn gesetzte Vertrauen vermieden, dass er sich für die Bewältigung der Tatfolgen engagiere. Insofern sei etwa der Täter-Opfer-Ausgleich sogar besser geeignet, den funktionalen Aufgaben des Strafrechts gerecht zu werden als die konventionelle Bestrafung.120 Gleichzeitig aber birgt eine zu offensive Berücksichtigung von Wiedergutmachungsleistungen Risiken im Hinblick auf die Begrenzungsfunktion des Strafrechts.121 So ist in Rechnung zu stellen, dass Strafe und Wiedergutmachung unterschiedliche Pflichtsubjekte in Bezug nehmen.122 Wiedergutmachung ist der 119 Frehsee in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 117, 128. Das trifft sich mit der populären Formulierung Bindings, Normen I, S. 281, wonach die Strafe „eine Wunde schlagen“ solle. Dazu auch Walther, Rechtsbruch, S. 134. 120 Frehsee in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 117, 128. Der Staat bemächtige sich nicht lediglich der Persönlichkeit des Täters, sondern erreiche mit Hilfe des TäterOpfer-Ausgleichs die Vermittlung eines konkreten Lernerlebnisses. 121 Was Frehsee in: Schünemann / Dubber, Strafrechtssystem, S. 117, 129, ausdrücklich einräumt. Zum Diskussionsstand auch Bleckmann / Tränkle, ZfRSoz 25 (2004), S. 79 ff., 99 ff., 101, die den Vorschlag unterbreiten, den Täter-Opfer-Ausgleich als strafrechtliche Sanktion zu begreifen: „TOA ist eine Strafe und all das, was ihm als Mehrwert angesonnen wird, dürfte er kaum halten können.“ 122 Darauf weist bereits Binding, Normen I, S. 255, hin.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

Initiative des Täters überantwortet und staatlicherseits daher kaum ausrechenbar. Die Strafpflicht des Staates besteht angesichts der anzuwendenden Sanktionsnorm aber fort.123 Im Ergebnis wäre die Bestrafung im Einzelfall also der Zufälligkeit anheimgestellt, wenn die Wiedergutmachungsleistung des Täters dazu herangezogen würde, den Staat von der Strafpflicht zu dispensieren. Die Durchsetzungsmacht des Rechts würde hinter ein persönliches Aussöhnungsengagement zurücktreten. Darüber hinaus bleibt beachtlich, dass die Straftat durch die Ausschaltung von Freiheit gekennzeichnet ist, worin eine substanzielle Schwächung der rechtlichen Gewährleistungsinhalte zu erblicken ist. Kriterium von Kriminalität ist deshalb nicht lediglich eine vorübergehende oder leicht zu behebende Überlagerung gleicher Freiheitssphären, sondern die missbräuchliche und dauernde Erweiterung des eigenen Freiheitsbereichs zu Lasten eines Dritten. Mithin wiegt bloße Reparation die Nachteile der Rechtsverletzung nicht auf. Die Strafe wird des Nicht-Wiederherstellbaren im Unrecht wegen verhängt und betrifft das in diesem Sinne Irreparable.124 Strafe und Wiedergutmachung schließen sich somit vom Grundsatz her aus. Eine Außerkraftsetzung der Sanktionsnormen kommt nicht in Betracht. Zudem wird die Bindung der Wiedergutmachungsidee an den Strafzweck der Spezialprävention anhand der geltenden Regelungen deutlich, denn eine tatsächliche Mitwirkung des Opfers ist nicht zwingende Voraussetzung, um den Täter in den Genuss einer Strafmilderung zu bringen. Es genügt regelmäßig das Bemühen, einen Ausgleich zu erreichen125, woraus geschlossen wird, dass die Einsicht in die Bestandskraft der Rechtszuweisungsordnung vorhanden ist und es überintensiver Resozialisierungsmaßnahmen insoweit nicht bedarf. Die Ausgleichsbemühungen entfalten also eine Signalwirkung an die Strafverfolgungsorgane, woraus erhellt, dass die Wiedergutmachungsinitiative des Täters sich in erster Linie auf sein Verhältnis zum Staat niederschlägt.126 Die (versuchte) Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer macht dessen verstärkte Einbeziehung in die Mechanismen des Strafverfahrens folglich nicht mit Notwendigkeit erforderlich. Deshalb ist es für die Vergünstigungen des § 46 a StGB von geringer Erheblichkeit, ob der Konflikt zwischen Täter und Opfer tatsächlich bereinigt wird.127 Der Verletzte kann sich sogar jedes Gesprächs mit dem Delinquenten verweigern; die Strafmilderungsmöglichkeit ist von eventuellen Willensbekundungen des Opfers unabhängig. Daraus aber folgt, dass von einem Ausgleich im eigentlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein kann. Es bedarf abseits davon keiner weiteren Begründung, dass der Staat den Binding, Normen I, S. 275; auch Walther, Rechtsbruch, S. 133 ff. So die Formulierung Bindings, Normen I, S. 288, 290. 125 Dazu auch BGH NStZ 1999, S. 454; auch BGH NJW 2001, S. 2557 sowie BGH StV 2000, S. 129. 126 Das wird auch anhand der Regelung des § 46 StGB deutlich, wonach das Bemühen um Wiedergutmachung für die Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Dazu Maiwald, GA 2005, S. 339, 340 f. 127 Sch / Sch-Stree, § 46 a Rn 2. 123 124

III. Konsequenzen

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Beteiligten auch nicht aufzwingen kann, sich auszusöhnen. Wiedergutmachung lässt sich nicht gesetzlich verordnen. Freilich ist dem Ziel der Wiedergutmachung sowie dem Täter-Opfer-Ausgleich dadurch nicht der vernünftige Sinn entzogen. Allerdings ist die Bedeutsamkeit für das Opfer in verändertem Kontext zu suchen. So mögen Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Täter zur Bewältigung und Verarbeitung des Geschehenen beitragen und insofern der Reintegration und Resozialisierung des Opfers förderlich sein. Der Staat hat hier bei angemeldetem Bedarf die notwendigen Instrumentarien zur Verfügung zu stellen. Das ist indessen nicht Resultat der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung, sondern Hilfe zur Selbsthilfe als Materie des Sozialrechts.128 Der Täter-Opfer-Ausgleich129 steht mithin außerhalb des Strafrechtssystems und ist Bestandteil des freiheitsoptimierenden Programms, wie es durch die staatliche Gemeinschaft zu realisieren ist. Die Leistungskraft der Wiedergutmachungsidee im Sinne echter Versöhnung und persönlicher Begegnung zum Zwecke der allumfassenden Konfliktschlichtung ist gleichwohl anzuzweifeln. Erfolge werden ganz überwiegend im Bereich der leichten und mittleren Kriminalität verzeichnet.130 Demgegenüber wird die Forderung nach Wiedergutmachung insbesondere von Opfern mit starken Viktimisierungen als unangemessen, ja in manchen Fällen als dreiste Zumutung empfunden.131 Die Konfrontation mit dem Täter wird gescheut und das erfahrene Leid für „nicht wiedergutzumachen“ gehalten – und schon gar nicht durch den Täter.132 Alternativ bleibt dann nur noch ein Appell an die sozialen Sicherungssysteme des Staates.

128 In diese Richtung zielend auch Schädler, NStZ 2005, S. 366. Seiner Meinung nach handele es sich insbesondere beim Täter-Opfer-Ausgleich um ein sozialpädagogisches Konzept zur Konfliktbewältigung, das allerdings mit strafrechtlichen Mitteln kontrolliert werde. Anders BGHSt 48, S. 134, 141, wonach der Täter-Opfer-Ausgleich ein Instrument strafrechtlicher Konfliktbewältigung sei. 129 Zur sehr geringen praktischen Relevanz des Täter-Opfer-Ausgleichs nur Kerner in: Weisser Ring (Hrsg.), Wiedergutmachung, S. 27 ff. mit dem pointierten Befund: „Täter-Opfer-Ausgleich ist in vieler Munde, aber nur verstreut in der Realität zu finden!“ In der Tat dürfte die Anzahl der Veröffentlichungen in keinem Verhältnis zur Anwendungshäufigkeit des Instituts stehen. 130 Dazu Roxin, AT I, § 3 Rn 72; auch Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 290, die die Wichtigkeit der Schadenswiedergutmachung im Bereich leichter und mittelschwerer Delikte zum Kern ihrer Argumentation erheben (wobei sie das Adhäsionsverfahren als Instrument der Schadenswiedergutmachung beleuchten). Das Viktimisierungsproblem betrifft indessen solche Tatbestände, deren Natur darin begründet liegt, dass sich der durch die Straftat verursachte Schaden nicht in Geld aufwiegen lässt. Tatsächlich sind die eigentlichen Opferprobleme nicht finanzieller Art. 131 Dazu auch Schöch in: Egg / Minthe (Hrsg.), Opfer, S. 19, 27. 132 Womit insbesondere die immateriellen Tatfolgen angesprochen sind.

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E. Zur Position des Opfers in den Straftheorien

c) Strafrechtssystem und reintegrative Aufgabenwahrnehmung Fraglich ist, ob ein in diesem Sinne formulierter Auftrag in das strafrechtssystematische Gefüge einzubetten ist oder nur der Verweis auf andere Rechtsgebiete anempfohlen werden kann. Es wird daher zu untersuchen sein, ob ausgerechnet der Strafprozess geeignet ist, das Forum für Reintegrations- und Resozialisierungsbemühungen zu bieten. Die Straftheorie konnte zwar einen Hinweis geben, wie das Ziel strafrechtlicher Konfliktbewältigung beschaffen sein sollte, löst das im Vordergrund stehende Spannungsfeld zwischen Staat und (mutmaßlichem) Täter jedoch nicht zu Gunsten des Opfers auf. Das vertikale Rechtsverhältnis zwischen Staat und (potentiellem) Delinquenten hat sich nur bestätigt und – was die Opfer betrifft – Aufgabenstellungen in ganz anderer Richtung eröffnet. Die Position des Verletzten im Strafverfahren ist mit Hilfe straftheoretischer Exkursionen allein nicht auf eine grundsätzlich neue Ebene zu heben. Andererseits aber steht fest, dass eine allumfassende Konfliktbewältigung ohne das Opfer nicht denkbar ist. Es ist daher aufzudecken, ob eine weitergehende Mitwirkung des Verletzten am Strafverfahren zweckmäßig und anlässlich der sozialrechtlich determinierten Vorgaben wünschenswert ist. Dafür müssen die Ziele des Strafprozesses näher unter die Lupe genommen werden. Es wird sich zeigen, ob Raum für eine offensivere Einbeziehung der Verletztenbelange vorhanden ist und ob das Strafverfahren dafür herhalten kann, Resozialisierung und Reintegration des Opfers voranzutreiben.

F. Zum Zweck des Strafverfahrens Das Strafrechtssystem soll die Unverbrüchlichkeit und Wehrhaftigkeit der Rechtszuweisungsordnung unterstreichen. Strafrechtsgeschichte, Norm- und Straftheorie nehmen sich denn auch pessimistisch aus, was eine stärkere Berücksichtigung von Individualinteressen im Prozess anbelangt. Der wissenschaftliche Rahmen spricht eher gegen eine Einbeziehung des (mutmaßlichen) Verletzten als Initiator und Gestalter des Strafverfahrens.1 Im Bereich der Strafrechtsordnung scheint der spezifisch öffentlich-rechtliche, hoheitliche Charakter staatlicher Aufgabenwahrnehmung auf die Spitze getrieben zu werden. Gleichwohl kommt eine strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehenen, die sich über die Köpfe der Konfliktbeteiligten hinwegsetzt, nicht in Betracht. Der Staat nimmt seine Kompetenzen dem Wohlergehen des Einzelnen wegen wahr. Insofern hat eine stete Rückbindung an die Interessen des Individuums zu erfolgen. Diesen Umstand anerkennend ist die überkommene Rechtsgutsdoktrin zu überdenken, denn Recht und Rechtsinhaber können von einander nicht geschieden werden. Die Anlehnung an die Lehre vom subjektiven Recht trägt dem umfassend Rechnung. Durch sie werden die grundlegenden Thesen und Ideen des Strafrechtssystems nicht in ihr Gegenteil verkehrt, sondern eher bestätigt. Dennoch steht fest, dass sich der Verletzte dem Willen der Obrigkeit nicht ohnmächtig zu fügen hat.2 Die Gemeinschaft muss sich der Einzelperson annehmen, will sie nicht Gefahr laufen, ihr eigenes Substrat und damit ihre Legitimität aufs Spiel zu setzen. Hieran hat sich ein moderner Rechtsgutsbegriff zu orientieren. Dies gilt nicht minder für den Strafprozess: Eine Mitwirkung des sich als Opfer ausgebenden Individuums ist in dem Maße zu erwägen, wie der Staat gegen den unter Tatverdacht stehenden Beschuldigten vorgeht. Es scheint nichts dagegen zu sprechen, das vermutete Opfer in den Genuss bedenkenswerter Vergünstigungen kommen zu lassen, soweit hiermit entsprechende Eingriffsbefugnisse gegenüber dem (mutmaßlichen) Täter korrespondieren. Rein rechtlich sind die Türen für eine stärkere Opferbeteiligung mitnichten zugeschlagen; zumal eventuelle Mitwirkungsbefugnisse die Rechtsgrundebene betreffen, nicht aber die täterzentrierte Rechtsfolgenseite. Staatlicher Strafanspruch und Rücksichtnahme auf Individualwohlbelange schließen einander nicht kategorisch aus, sondern müssen sich dem 1 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 172, womit zunächst nur der Rückschritt zum privaten Rechtsgang ausgeschlossen ist. 2 Ebenso Weigend, Deliktsopfer, S. 172.

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F. Zum Zweck des Strafverfahrens

verfassungsrechtlichen Auftrag nach ergänzen. Allein der Wiedereinführung des privaten Rechtsganges ist eine prinzipielle Absage zu erteilen. Es ist der Staat, der dem Beschuldigten den Prozess macht.3 Er ist jedoch nicht gehalten, sich dabei individueller Unterstützung zu verweigern. Fraglich ist allerdings, ob sich die Einbeziehung des Verletzten in die strafprozessualen Strukturen auch als unumschränkt zweckmäßig und wünschenswert erweist. Die Mitwirkung des Opfers darf die Ziele und Ideen des Strafverfahrens nicht aufheben oder zum Nachteil des Gesamtsystems modifizieren. Die Rolle des Opfers ist – wie auch immer sie beschaffen sein mag – in das strafverfahrensmäßige Beziehungsgeflecht einzubetten und auf die grundlegenden Intentionen des Prozesses abzustimmen. Dazu aber ist es unumgänglich, sich die relevanten Strukturprinzipien des Strafverfahrensrechts vor Augen zu führen und gegebenenfalls auf den Prüfstand zu stellen.

I. Idee des inquisitorischen Strafprozesses In der Eröffnung des Strafprozesses wird das Interesse des Staates bzw. der in ihm verfassten Allgemeinheit an der Erhaltung der Integrität der Rechtsordnung offenbar. Am Anfang jeder strafprozessualen Maßnahme steht die Vermutung der Nichteinhaltung öffentlich-rechtlicher Verhaltensnormen. Der Anspruch auf Wahrung der Rechtszuweisungsordnung wird prozessual geltend gemacht. Der Staat folgt auf diese Weise einer aus dem Strafzweck folgenden Pflicht4 und sucht damit, seine Legitimität zu untermauern.

1. Die Unschuldsvermutung Will der Staat sich nicht in Widerspruch zu seinen eigenen Prämissen und Werten setzen, so ist er gehalten, im Einzelfall auf die Herstellung voller Gewissheit in Bezug auf den Tatbestand, der den Strafanspruch begründet, zu drängen und auf eine dem Gesetze in allen Beziehungen genügende Feststellung der jeweiligen Rechtsfolgen der Straftat hinzuwirken. Die Strafe darf nur gegenüber dem wirklich Schuldigen verhängt werden und ausschließlich im Umfang des tatsächlichen Verschuldens.5 Indem die Strafgewalt im Interesse der Erhaltung der Rechtszuweisungsordnung und somit wesentlich mit dem Willen der Allgemeinheit ausgeübt wird, gewinnt „die processuale Erledigung des einzelnen Straffalls eine Beziehung zu den Interessen der Gesammtheit.“6 3 4 5

Nur Meyer-Goßner, Einl Rn 5; auch KK-Pfeiffer, Einl Rn 1. Ullmann, Lehrbuch, S. 18. Ullmann, Lehrbuch, S. 21.

I. Idee des inquisitorischen Strafprozesses

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Jede unrechtmäßige Anwendung der Strafgewalt würde das Allgemeinwohl mehr schädigen als die unverdiente Nichtahndung eines Schuldigen, da sich der Staat anderenfalls als Bedrohung für den Einzelnen darstellte, was wiederum die Legitimität des hoheitlichen Verbandes in Frage stellen würde. Dies aber birgt eine eigentümliche Parallelität der Interessen des Staates mit den Interessen des Beschuldigten: Die ausschließliche Bestrafungsmöglichkeit Schuldiger trägt die ausnahmslose Forderung an die Strafrechtspflege in sich, durch eine „entsprechende Gestaltung des Verfahrens die Verurtheilung eines Unschuldigen zu verhüten.“7 Die Anerkennung der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen korrespondiert mit der Pflicht des Staates, die Freiheit jedes Einzelnen bedingungslos zu schützen. Würde er hierauf verzichten, wären seine Grundlagen der Beliebigkeit anheimgestellt. Da gerade das aber verhindert werden soll, werden dem Beschuldigten weitreichende Verteidigungsbefugnisse zuerkannt.8 Im Zweifel wird die dem Beschuldigten günstigere Auffassung der Sachlage zu Grunde gelegt.9 Die Unschuldsvermutung ist in allen Stadien der Strafverfolgung von überragender Bedeutung.10 Schon das aber stellt sich für die wirklichen Opfer vielfach als Problem dar, resultiert aus der Unschuldsvermutung doch unmittelbar ein Misstrauen gegenüber der Behauptung, dieser oder jener habe sich einer Straftat schuldig gemacht. Die Strafverfolgungsorgane sind durch das Rechtsstaatsprinzip und die EMRK gezwungen, an den belastenden Darlegungen Einzelner zu zweifeln. Dem Risiko einer sekundären Viktimisierung wird dadurch Vorschub geleistet; Opfer fühlen sich nicht ernst genommen.

2. Ausgestaltung des Amtsprozesses Einen gewissen Ausgleich schafft hier das Legalitätsprinzip, das einen Verfolgungszwang gegen jeden Verdächtigen auslöst.11 Sofern also ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte gegeben sind, ist die Staatsanwaltschaft nach § 152 Abs. 2 StPO dazu verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten. Das geschieht freilich unter grundsätzlichem Ausschluss jedes Dispositionsrechts des VerUllmann, Lehrbuch, S. 22. Ullmann, Lehrbuch, S. 24. 8 Der Strafprozess ist von Verfassungs wegen vor die Aufgabe gestellt, wirksame Sicherungsmechanismen bereitzustellen. Das ist Ausdruck der Anerkennung der Würde des Menschen und läuft schlussendlich auf den Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ hinaus, der durch verfahrensmäßige Vorkehrungen praktisch ins Werk zu setzen ist, nur BVerfGE 57, S. 250, 275; auch KK-Pfeiffer, Einl Rn 29. 9 Ullmann, Lehrbuch, S. 27; KK-Pfeiffer, Einl Rn 32 a; auch BGHSt 41, S. 153. 10 Die Unschuldsvermutung ist kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts, genießt aber als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang, BVerfGE 35, S. 311, 320; 74, S. 358, 370 ff.; auch BGH NJW 1975, S. 1829, 1831. 11 Nur KK-Pfeiffer, Einl Rn 5. 6 7

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F. Zum Zweck des Strafverfahrens

letzten.12 Ein Handeln als dessen verlängerter Arm oder zu seinen Gunsten scheidet schon deshalb aus, weil das Legalitätsprinzip die Einheit und Gleichheit der Rechtsanwendung gewährleisten will. Jede Form der Willkür soll unterbunden werden. Dadurch wird das Vertrauen in eine sachliche und gleichmäßige Handhabung der Strafverfolgung genährt und zugleich das Normvertrauen der Allgemeinheit gestärkt.13 Die Offizialmaxime entfaltet insofern eine gewisse absichernde Wirkung. Die Strafverfolgung obliegt grundsätzlich dem Staat, nicht dem einzelnen Bürger.14 Das bringt es mit sich, den Behauptungen Einzelner nicht einfach Glauben zu schenken, sondern in Gemäßheit des Instruktionsgrundsatzes den Sachverhalt staatlicherseits selbst zu ermitteln, ohne irgendwelchen Bindungen in Bezug auf den Willen individueller Beteiligter zu unterliegen. Staatsanwaltschaft und Gericht sind hier gleichermaßen zur Neutralität verpflichtet.15 Der Amtsprozess, der auf freie und unabhängige Erforschung des zu beurteilenden Sachverhalts abzielt, ist Charakteristikum der Inquisitionsmaxime. Dabei gilt es, das Ziel größtmöglicher Objektivität mit einer gewissen Strafverfolgungseffektivität sowie der Unschuldsvermutung in Einklang zu bringen. Wäre man geneigt, all diese Gesichtspunkte ins freie Ermessen eines einzelnen Subjekts zu stellen, so würde dadurch eine unnatürliche Machtfülle erzeugt, die den Keim des Missbrauchs schon in sich trägt.16 Die Erfahrungen der geschichtlichen Entwicklung haben zur Genüge erkennen lassen, dass Strafverfolgungseffektivität und Unschuldsvermutung nur schwer zu vereinen sind, denn sie streben in entgegengesetzte Richtungen. Von einem Richter, der selbst in der Situation ist, die zur Klärung einer Straftat zu erhellenden Umstände prüfen zu müssen, ist ein objektives, unvoreingenommenes Urteil nicht zu erwarten. Unparteiische Entscheidungen aufgrund richterlicher Unbefangenheit sind nur zu gewährleisten, wenn Strafverfolgung und Prozessleitung voneinander isoliert werden. Der Akkuationsgrundsatz verlangt daher die Erhebung der Klage durch die zuständige Strafverfolgungsbehörde, die Staatsanwaltschaft. Sie soll eine richterliche Entscheidung überhaupt erst ermöglichen.17 Die Verfahrensinitiative liegt nicht beim Gericht, sondern bei der Staatsanwaltschaft, welche mit dem Nachweis des hinreichenden Tatverdachts und der AnklaUllmann, Lehrbuch, S. 23. BGHSt 15, S. 155, 159; KK-Pfeiffer, Einl Rn 5, 62. 14 Meyer-Goßner, § 152 Rn 1; KK-Pfeiffer, Einl Rn 4. 15 BVerfGE 57, S. 250, 275; 63, S. 45, 61; BVerfG NJW 1987, S. 2663: Die Ermittlung des wahren Sachverhalts sei das zentrale Anliegen des Strafprozesses, und dieses Anliegen dürfe nicht durch unzweckmäßige äußere Einflüsse gestört werden. 16 Ullmann, Lehrbuch, S. 28. 17 Das Gericht kann selbst dann nicht aus eigener Machtvollkommenheit agieren, wenn eine Straftat in der Sitzung vor den Augen des Richters begangen wird. Der Akkusationsgrundsatzes gilt lückenlos. Dazu KK-Pfeiffer, Einl Rn 3. 12 13

I. Idee des inquisitorischen Strafprozesses

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geerhebung betraut ist. Die Klärung der Tat- bzw. Schuldfrage liegt sodann beim Gericht.18 Ermittlung und Entscheidung sind dem Verletzten demnach bewusst entrissen. Seine Mitwirkung beschränkt sich auf eine Hilfestellung bei der Tätigkeit von Staatsanwaltschaft und Gericht. Das setzt sich in der Hauptverhandlung fort, für die die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gelten. Beide sind eng miteinander verzahnt und bilden die Voraussetzung für die Verwirklichung des Öffentlichkeitsprinzips. Allein der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff darf zum Gegenstand des abschließenden Urteils gemacht werden. Die Beweisaufnahme darf keiner anderen Institution als dem Gericht selbst überlassen bleiben. All das zusammen genommen soll Zuhörer der Hauptverhandlung in die Lage versetzen, dem Prozessverlauf im vollen Umfang folgen zu können. Die Tätigkeit der Rechtsprechung soll sich nicht hinter verschlossenen Türen abspielen; sie soll transparent sein. In der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung wird seit jeher ein tragender Pfeiler des Rechtsstaates erkannt. Sie wird zu den Grundfesten des Strafverfahrens gezählt.19 Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit sind freilich das genaue Gegenteil von dem, was die Opfer für sich selbst als förderlich oder notwendig empfinden. Die Erinnerung an Tat und Täter sowie die unmittelbare Konfrontation mit dem Delinquenten wird als notwendig eingefordert und als rechtsstaatliche Errungenschaft gefeiert. Die Provokation rehabilitationshindernder Flashbacks ist somit im Strafprozessrecht angelegt. Es lässt sich beinahe formulieren, dass das Risiko einer sekundären Viktimisierung im Zeichen von Strafverfolgung und richterlicher Entscheidung bewusst in Kauf genommen wird. Will man sich hiervon lösen, so wird man grundlegende Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränken müssen. Das aber kann nur im Zuge der Anerkennung legitimer, rechtlich einwandfreier Zielsetzungen geschehen, die den – ideengeschichtlich völlig richtigen – strafprozessualen Strukturprinzipien ihrerseits Grenzen setzen. Verkompliziert wird die Suche nach derartigen Zwecken dadurch, dass die meisten der skizzierten Prozessmaximen sogar Verfassungsrang genießen. Es genügt also nicht jedes tatsächliche, irgendwie artikulierte Interesse nach opferfreundlicherer Behandlung, um Mitwirkungsrechten einen breiteren Raum zu gewähren als bisher. Aussichtsreich erscheint insofern ein Rückgriff auf Positionen, die selbst verfassungsrechtlich verbürgt sind und gerade deshalb im Strafprozess unbedingte Berücksichtigung finden müssen.

18 Daher wird die Staatsanwaltschaft populärerweise als „Herrin der Ermittlungsverfahrens“ bezeichnet, KK-Pfeiffer, Einl Rn 3. 19 BGHSt 1, S. 334, 335; 9, S. 280, 281; 22, S. 297, 301. Der historischen Zielsetzung nach sollten mit Hilfe des Öffentlichkeitsgrundsatzes Heimlichkeiten ausgeschlossen und die Förderung der Wahrheit durch den Zugang für Unbeteiligte erleichtert werden. Dazu Rüping, Strafverfahren, S. 135.

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F. Zum Zweck des Strafverfahrens

II. Zum Bestehen eines Verfassungsrechts auf Teilhabe am Strafverfahren 1. Anspruch auf rechtliches Gehör Zu denken ist dabei etwa an Art. 103 Abs. 1 GG, dem Anspruch auf rechtliches Gehör. Könnten sich die Opfer auf ihn berufen, so würde dies eine einigermaßen starke Sogwirkung auf die Gestaltung des Verfahrens haben. Die Verletzten wären kraft einer verfassungsrechtlich abgesicherten Position in eine komfortable Ausgangslage versetzt.

a) Gewährleistungsinhalte des Grundrechts Art. 103 Abs. 1 GG normiert zwar ein Recht, jedoch keine Pflicht, Einfluss auf das gerichtliche Verfahren zu nehmen.20 Es bleibt also den jeweiligen Präferenzen des Betroffenen überlassen, ob er von seinen Befugnissen Gebrauch macht oder nicht. Entscheidet er sich dafür, so liegt es in der Konsequenz des Anspruchs auf rechtliches Gehör, dass entsprechende Stellungnahmen durch das Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidungsfindung in die maßgeblichen Erwägungen mit einbezogen werden.21 Die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 1 GG beschwört demnach verfassungsmäßige Begründungserfordernisse gegenüber dem Rechtsinhaber herauf.22 Um diese Forderung mit Leben zu erfüllen, ist es – dem Schutzzweck des Grundrechts entsprechend – notwendig, dass der Verfahrensbeteiligte zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es bei der Entscheidung ankommt.23 Das wiederum geht mit Auskunfts- und Informationspflichten einher.24 Dazu gehört insbesondere die Gewährung von Akteneinsicht.25 Dahinter steht der Schutzzweck, einer verfahrensmäßigen Festlegung von Rechtsbeziehungen vorzubeugen, mittels derer das Gericht über die Köpfe der Be20 Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 81; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn 40; BVerfGE 69, S. 145, 148; 66, S. 260, 263; 64, 135, 143 f. 21 Ständige Rechtsprechung BVerfGE 11, S. 218, 220; 60, S. 247, 249; 70, S. 288, 293; vgl. auch Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn 94. 22 Dazu Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn 42 a. Selbst wenn die Vorbringen der Beteiligten faktische Berücksichtigung gefunden haben, müssen doch die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. 23 BVerfGE 84, S. 188, 190; 86, S. 133, 144; BVerfG NJW 1995, S. 2544. 24 Dazu Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn 15 ff. 25 BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn 29; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 40; BVerfGE 18, S. 399, 405.

II. Zum Bestehen eines Verfassungsrechts auf Teilhabe am Strafverfahren

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troffenen hinweg in konkrete Lebensverhältnisse eingreifen kann.26 Es geht um die Achtung der Person als freier Träger ihrer eigenen rechtlichen Belange.27 Insofern besteht sogar ein Zusammenhang zur Würde des Menschen, die es verbietet, dass die Obrigkeit kurzerhand über die Rechte des Einzelnen verfügt. Dadurch wird keine bestimmte Verfahrensart determiniert, schon gar nicht wird ein verfassungsmäßiges Recht zum Mit-Entscheiden statuiert; jedoch liegt hier die Wurzel für Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen des gerichtlichen Erkenntnisprozesses. Dies bedingt unter anderem das Recht, Anträge zu stellen, denn hierin ist das grundlegende Instrument zu sehen, um auf ein Verfahren lenkend einzuwirken.28 Zugleich ergeben sich aus Art. 103 Abs. 1 GG eine Reihe von Einschränkungen. So ist der sachliche Geltungsbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör ausdrücklich auf Verfahren „vor Gericht“ festgelegt.29 Zudem steht Art. 103 Abs. 1 GG unter der Überschrift „Die Rechtsprechung“. Der Anwendungsbereich ist also nur im Zusammenhang mit der Ausübung rechtsprechender Gewalt eröffnet, wie sie nach Art. 92 GG dem Richter anvertraut ist.30 Nun war der Schutzbereich einige Male Gegenstand von Stellungnahmen des BVerfG. Er ist aufgrund der teleologischen Intention des Grundrechts immer mehr erweitert worden.31 Jedoch blieb die Einschaltung eines Richters immer zwingende Voraussetzung, um die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 1 GG zu ermöglichen. So lassen sich strafprozessuale Maßnahmen wie Haftbefehl, Beschlagnahme und Durchsuchung nicht unter den Terminus „rechtsprechende Gewalt“ subsumieren. Gleichwohl war zu keiner Zeit streitig, dass die Hinzuziehung eines Richters gerade die Aufrechterhaltung der einschlägigen Verfahrensgarantien ermöglichen soll, weshalb dem Anspruch auf rechtliches Gehör auch hier zur Durchsetzung verholfen wurde.32 Das Prinzip des rechtlichen Gehörs wurde somit auf sämtliche gerichtlichen Verfahren erstreckt. Das ist in mancherlei Hinsicht komfortabel, zwingt im Umkehrschluss aber dazu, einen Mitwirkungsanspruch des Verletzten bei der Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft zu verneinen. Art. 103 Abs. 1 GG dient ausschließlich der Durchsetzung subjektiver Rechte anlässlich von Gerichtsverfahren.33 Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1017. Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1015. 28 Das gilt als Kernbereich einer sinnvollen Beteiligung des Betroffenen am Prozessablauf. Dazu Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1021; Winterfeld, NJW 1961, S. 849 ff., 850; BVerfGE 15, S. 303, 307 f. 29 Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn 4. 30 Dazu Bettermann, FS-Lent, S. 17 ff., 42; Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1018. 31 Nur BVerfGE 9, S. 89, 96 f.; Vgl. auch Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1019 f. 32 BVerfGE 9, S. 89, 96; 7, S. 53, 56; 89, S. 381, 390; Zeuner, FS-Nipperdey Bd. 1, S. 1013, 1015; H. Röhl, NJW 1953, S. 1531; Baur, AcP 153, S. 405 f.; ferner Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn 4. 26 27

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b) Personeller Schutzbereich des Art. 103 GG Selbst im Verfahren aber ist den Beteiligten rechtliches Gehör nur dort zu gewähren, wo sie durch die Gerichtstätigkeit selbst und unmittelbar betroffen sind.34 Es kommt zwar „jedermann“ als Träger des Grundrechts in Betracht. Ob das Recht aber auch konkret besteht, richtet sich nach der jeweiligen prozessualen Rechtsstellung mit Blick auf die beantragte und zu erwartende gerichtliche Entscheidung.35 Das Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG steht allein demjenigen zu, „der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird.“36 Das rechtliche Gehör ist somit an die förmliche Beteiligung am Gerichtsverfahren gebunden. Alternativ entfaltet Art. 103 Abs. 1 GG bei materieller Betroffenheit durch das Verfahrensergebnis seine Wirkung.37 Förmlich Beteiligter ist nur, wem die Verfahrensordnungen diesen Status ausdrücklich zuerkennen. Das Grundgesetz nimmt insofern auf die einfachgesetzlichen Regelungen Bezug. Allgemein lässt sich sagen, dass derjenige berechtigt ist, an den sich die Entscheidung als Adressat förmlich richtet.38 Das schließt Zeugen und Sachverständige aus. Solange sich der Verletzte nicht als Nebenkläger39 dem Verfahren angeschlossen oder den Privatklageweg40 eingeschlagen hat, kann er sich auf Art. 103 Abs. 1 GG also nicht berufen. Eine allgemeine Verpflichtung, das mutmaßliche Opfer im Strafprozess zu hören, spricht die Verfassung demnach nicht aus. Auch das Kriterium einer materiellen Betroffenheit kann nicht als Einfallstor einer allgemeinen Berechtigung zu Gunsten eines unüberschaubaren bzw. von vornherein nicht feststehenden Personenkreises herhalten.41 Demgemäß liegt eine materielle Betroffenheit nicht schon dann vor, wenn sich das Verfahrensergebnis in dieser oder jener Weise auf den Einzelnen auswirkt.42 Eine irgendwie geartete Interessenberührung genügt für sich genommen nicht. Vielmehr werden zahlreiche Konkretisierungen vorgeschlagen: So verweist Grunsky etwa auf den Schutzzweck der in Streit befindlichen Beziehung.43 Im 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn 8. Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn 28 ff. Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn 33. BVerfGE 65, S. 227, 233; vgl. auch BVerfGE 17, S. 356, 362; 21, S. 132, 137. Dazu Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 33. Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 34. Dahs, Gehör, S. 55 ff.; Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 34. BVerfGE 14, S. 8, 10; Dahs, Gehör, S. 50. Schlosser, JZ 1967, S. 431, 433. Dazu Bettermann, JZ 1962, S. 675, 677; BK-Rüping, Art. 103 Abs. 1 Rn 81. Grunsky, Grundlagen, § 25 II 2b; Rn 2307.

II. Zum Bestehen eines Verfassungsrechts auf Teilhabe am Strafverfahren

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Strafprozess ist damit vor allem das sensible Verhältnis zwischen Gericht und Beschuldigtem angesprochen, denn seine Freiheit bzw. seine Rechte stehen im Zuge der Entscheidungsfindung auf dem Spiel. Jedweder Nutzen für das Opfer ist bloßer Reflex. Sein rechtlicher Status wird zunächst nicht berührt. Zeuner fragt danach, ob der Betreffende an der vom Verfahren unmittelbar erfassten Beziehung „in eigener Zuständigkeit“ beteiligt ist.44 Auch das ist zu verneinen, was die Stellung des Opfers anbelangt. Die Strafverfolgung ist Angelegenheit des Allgemeinwohls und wird in Zuständigkeit der staatlichen Gemeinschaft gegen den Beschuldigten durchgeführt. Auch insoweit lässt sich eine materielle Betroffenheit des Verletzten also nicht darlegen. Das Bundesverfassungsgericht45 vollzieht die Prüfung einer unmittelbaren rechtlichen Betroffenheit in zwei Schritten: Zum einen wird auf die materiellrechtliche Ausformung der Position des Dritten abgestellt.46 Diese ist im Strafrecht so beschaffen, dass der Verhaltensnormverstoß zwar eine Beeinträchtigung subjektiver Rechte der Person mit sich bringt. Der strafrechtliche Charakter folgt jedoch erst aus der Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung, also im Zuge des Angriffs auf das subjektive Recht als Institut. Damit aber ist nicht die Betroffenheit der Einzelperson tangiert, sondern gerade die des gemeinschaftlichen, rechtskonstitutiven Willens. Es fehlt also schon an der ersten Voraussetzung der materiellen Betroffenheit des Opfers. Doch selbst wenn es gelänge, eine persönliche Betroffenheit zu konstruieren, muss die Erfüllung des vom BVerfG statuierten zweiten einschränkenden Gesichtspunktes verneint werden. So sieht das Gericht die Unmittelbarkeit47 der Betroffenheit nur dann als gegeben an, sofern ein spezifisches Näheverhältnis zwischen der betroffenen Rechtsposition und den Wirkungen des gerichtlichen Urteils vorhanden ist. Faktische Ausstrahlungen genügen auch hier nicht. Das Strafurteil aber greift allein in Rechte und Positionen des Täters ein und gewährt nicht zugleich auch rechtliche Vergünstigungen für das Opfer. Es erfolgt zwar die Anerkennung des Geschehenen als Unrecht, materiell-rechtliche Konsequenzen verbinden sich hiermit aber nicht. Letztlich tangieren weder ein Strafurteil, noch ein Freispruch den rechtlichen Status des Verletzten. Er kann Mitwirkungsrechte daher nicht unter Berufung auf Art. 103 Abs. 1 GG einfordern. Er ist nicht vom personellen Schutzbereich des Grundrechts erfasst. Ein Grundrecht auf Teilhabe lässt sich mit seiner Hilfe nicht begründen.

Zeuner, Urteilswirkungen, S. 25 ff. BVerfGE 60, S. 7, 13; 65, S. 227, 233. 46 Dazu auch Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 40. 47 Sog. „Unmittelbarkeitskriterium“, vgl. dazu auch Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 41. 44 45

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2. Recht auf den gesetzlichen Richter Eine verfassungsrechtlich abgesicherte Position im Strafprozess lässt sich auch nicht mit Hinweis auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG herleiten. Dort wird festgelegt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Zwar ist die Garantie des gesetzlichen Richters gegenüber Art. 103 Abs. 1 GG exklusiv48 und die Anwendbarkeit nicht etwa aus konkurrenzrechtlichen Gründen versperrt, jedoch resultiert daraus kein zusätzlicher Vorteil für das Opfer. Art. 103 Abs. 1 GG bestimmt, ob rechtliches Gehör zu gewähren ist, während sich Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG mit der Frage befasst, vor welchem Richter das zu geschehen hat.49 Der Schutzbereich des Grundrechts beginnt quasi dort, wo der des Art. 103 Abs. 1 GG keinen weiteren Aufschluss mehr zu geben vermag. Die Garantie des gesetzlichen Richters ist insoweit und gewissermaßen von der vorherigen Gewährung und Bejahung der Notwendigkeit rechtlichen Gehörs abhängig. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG knüpft an Art. 103 Abs. 1 GG an. In Bezug auf die hiesige Problematik fehlt daher die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Auch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kann folglich nicht zu Gunsten des Opfers ins Feld geführt werden.

3. Allgemeiner Justizgewährungsanspruch Nachdem die speziellen Justizgrundrechte nicht für die Opferposition im Strafprozess fruchtbar gemacht werden konnten, bleibt nur noch der Justizgewährungsanspruch50 wie er aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, um eine eventuelle verfahrensrechtliche Teilhabe verfassungsrechtlich zu untermauern. Der materielle Rechtsstaat baut auf der Wahrung formeller Voraussetzungen auf, die eine organisatorische und verfahrensrechtliche Gewähr des recht- und gesetzmäßigen Handelns der Staatsgewalt bieten.51 Dies bedingt zunächst die überhaupt Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Abs. 1 Rn 12. BVerfG NJW 1980, S. 1379; BVerfGE 73, S. 339, 366 f., 371 f. 50 Es ist von vornherein unmöglich, eine Beteiligung des Opfers aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleiten. Obgleich die Vorschrift ein subjektives Recht verleiht, kommt sie nicht beliebig zum Tragen. Vorausgesetzt wird ein Handeln der öffentlichen Gewalt, das in den Schutzbereich eines Rechts eingreift. Art. 19 Abs. 4 GG würde also allenfalls dann in Betracht zu ziehen sein, wenn ein anderweit bestehender grundrechtlicher Anspruch auf Teilhabe im Strafverfahren bereits begründet wäre. Das ist aber nicht der Fall. Es kommt hinzu, dass Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz prinzipiell nur gegen Maßnahmen der Exekutive gewährt. Die Tätigkeit der Rechtsprechung kann hingegen nicht mit Hilfe von Art. 19 Abs. 4 GG angegriffen werden, da die Vorschrift den Schutz durch den Richter garantiert, nicht aber den gegen ihn, dazu BVerfGE 73, S. 339, 372. Ebenso wenig eignen sich Handlungen bzw. Unterlassungen der Gesetzgebungsorgane, wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG angegriffen zu werden, dazu Jarass / Pieroth, Art. 19 Rn 24 ff. 51 Stern, Staatsrecht I, S. 838 ff. 48 49

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

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bestehende Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten. Die Justizgewährleistung ist ein Gebot und zugleich Korrelat des staatlichen Gewaltmonopols.52 Aus dem Verbot der Selbsthilfe folgt die an den Staat gerichtete Aufgabe, Instrumente zur Herbeiführung gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen53, wobei der Zugang zu den Gerichten nicht unzumutbar erschwert werden darf. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch sichert die Rechtsdurchsetzung ineigener Sache, womit das Bestehen eines durchsetzungsfähigen Rechts wiederum vorausgesetzt wird. Das erweist sich in zivilrechtlichen Sachverhalten als unproblematisch: Der Staat hat für Streitigkeiten zwischen Privatpersonen54 Möglichkeiten gerichtlicher Entscheidung sicherzustellen und das ist durch die Zivilprozessordnung auch geschehen. Damit ist die Rechtsdurchsetzung der Bürger untereinander angesprochen. Im Strafrecht hingegen steht die Erschütterung der Rechtsordnung schlechthin auf dem gerichtlichen Prüfstand, nicht aber die individuelle Interessenwahrnehmung. Der Staat muss für eine funktionsfähige Strafrechtspflege sorgen.55 Das schließt aber nicht automatisch Mitwirkungsrechte Einzelner ein. Vielmehr folgt aus dem rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruch lediglich ein Verweis auf den Privatrechtsweg. Strafprozessuale Gestaltungsformen werden durch das Grundgesetz indessen nicht vorgegeben. Insbesondere besteht kein individueller Anspruch auf Strafverfolgung Dritter durch den Staat.56

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive Die Verneinung verfassungsrechtlich determinierter strafprozessualer Zielbestimmungen zu Gunsten des Opfers verbietet die stärkere Berücksichtigung gerade seiner Interessen freilich nicht. Eine umfassendere Teilhabe wird durch das Grundgesetz nicht erzwungen, andererseits aber auch nicht untersagt. Es steht also kein illegitimes Ansinnen in Rede. Die offensivere Einbindung des Verletzten in den Verfahrensablauf ist mithin eine Frage allgemeiner Zweckmäßigkeitserwägungen. Und das im besten Sinne des Wortes: Wie Weigend richtigerweise herausstellt, wird man mit Hilfe der Offenlegung der Verfahrenszwecke kaum Aufschluss darüber Isensee, in: HdBdStR I, § 13 Rn 74 ff., 82; vgl. auch Hammer, DÖV 2000, S. 613 ff. BVerfGE 54, S. 277, 291 f.; 88, S. 337, 345; 97, S. 169, 185. 54 BVerfGE 88, S. 337, 345 f.; BVerfG NJW 2001, S. 3473 (Kammerbeschluss). 55 BVerfGE 33, S. 267, 383; 51, S. 314, 343. 56 BVerfGE 51, S. 176, 187; Schmidt-Aßmann, HStR I, § 24 Rn 71. Gegen die zu extensive Ausbreitung der Strafrechtspflege im Allgemeinen Albrecht, KritV 1996, S. 330 ff. 52 53

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geben können, „ob dem Verletzten in diesem Verfahren eine zentrale, eine eher marginale oder gar keine Rolle zukommt.“57 Einzelheiten werden nicht geklärt werden können. Allerdings sollten sich die Grundstrukturen und die elementaren Institutionen des Verfahrens zumindest mit den diskussionswürdigen Anliegen der Opfer vertragen.58 Die eingangs geschilderten Prozessmaximen lassen hieran Zweifel aufkommen. Sie stellen sich als Mitursache der zu Tage getretenen Schwierigkeiten dar. Es steht nicht zu befürchten, dass Verfahrensprinzipien und Verfahrenszweck einander widersprechen. Umso komplizierter erscheint es demgegenüber, Opferbedürfnisse und Prozessrecht aufeinander abzustimmen. Die Ausgangssituation mutet alles andere als günstig an. Über die Ziele des Strafverfahrens besteht zwar eine bunte Meinungsvielfalt59, jedoch findet eine Rückbindung an Individualbelange mit äußerster Zurückhaltung statt. Zwecke wie „Verwirklichung des materiellen Rechts“ oder „Rechtssicherheit“ legen dies auch nicht unbedingt nahe. Eine unbefangene Betrachtung lässt den Verletzten einmal mehr als Extraneus erscheinen.

1. Strafprozess als Instrument der Konfliktbeilegung Etwas anderes könnte sich möglicherweise dann herausstellen, wenn man die Bereinigung sozialer Konflikte als primäre Aufgabe des Strafverfahrens identifizieren würde. Tatsächlich scheint der Rechtsfriede optimal verwirklicht, wenn der Prozess eine echte Streitschlichtung herbeiführt, wenn der zwischen Opfer und Täter bestehende Ausgangskonflikt im Zuge der gerichtlichen Auseinandersetzung also endgültig beigelegt wird.60 Problematisch ist ein solcher Anspruch deshalb, weil die der Tat vorausgehenden Konfliktsituationen nicht selten über einen langen Zeitraum gewachsen sind. Das Recht liefert zudem nicht die Instrumente, die eine erschöpfende Beurteilung von Persönlichkeit und Lebensumständen der Beteiligten erwarten lassen.61 Es kommt hinzu, dass der Richter weder aufgrund seiner Ausbildung oder Funktion62, noch aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Zeit eine Art Sozialtherapeut sein kann.63 Darauf ist sein Amt auch nicht angelegt. Dies wird anhand der Art. 20 Weigend, Deliktsopfer, S. 173. Weigend, Deliktsopfer, S. 173; Henckel, Prozeßrecht, S. 47. 59 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 14. 60 Dazu auch Weigend, Deliktsopfer, S. 201, der zutreffend darauf hinweist, dass der Zweck der sozialen Konfliktbereinigung ein Derivat der Auffassung ist, der Strafprozess beabsichtige die Herstellung des Rechtsfriedens; vgl. auch M. Wolf, Verfahrensrecht, S. 16 ff.; Eike Schmidt, Zweck, S. 31 ff. 61 H. Freund, DRiZ 1981, S. 221, 223. 62 Vgl. Hendel, DRiZ 1980, S. 376. 57 58

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

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Abs. 3, 92, 97 GG deutlich. Nicht die dem Konfliktgeschehen zugrunde liegenden Ursachen oder die Bedingungen seines Zustandekommens werden beleuchtet (oder gar behoben). Es soll einem hypothetischen Normalzustand Geltung verschafft werden. Und dieser wird durch die Summe der gesetzlichen Normen beschrieben. Die selektive Rekonstruktion der Vergangenheit dient der Applikation rechtlicher Kategorien.64 Die Beteiligten sind daher gezwungen, den ursprünglichen Interessengegensatz umzuformulieren. Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Tatsachen müssen der Anwendbarkeit auf die relevanten Normen zugänglich gemacht werden.65 Der Ursprungskonflikt wird so zum juristischen Meta-Konflikt umgeformt.66 Gegenstand des verfahrensmäßigen Handelns ist deshalb eine verkürzte, auf ihr wesentlichstes zusammengestutzte Sicht der Dinge. Damit aber werden die Chancen einer vollständigen Konfliktbereinigung nicht verbessert. Es mutet daher befremdlich an, sie dennoch zum ersten Verfahrensziel zu erklären. Herbert Freund ist gleichwohl der Auffassung, dass das Verfahren die Lösung des Ursprungskonflikts zumindest anstreben müsse. Das Gericht sei zwar in der Pflicht, den Meta-Konflikt zu regeln, solle in jedem Fall aber auch Möglichkeiten und Wege aufzeigen, den Ursprungskonflikt zu beenden. Es könne wenigstens Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. Das Prozessrecht und die dank seiner stattfindende Meta-Kommunikation verhindere immerhin Unsachlichkeiten wie Unterstellungen und Beschimpfungen, was den Beteiligten auch bewusst sei. Gerade deshalb aber werde eine neue Beziehungsstruktur hergestellt, die den Wiederaufbau von Vertrauen begünstige.67 Auch Röhl meint, dass es im Verfahren um die Herbeiführung von Lösungen individuell-personalen Charakters gehe.68 Er kommt zu dieser Annahme bemerkenswerterweise, indem er die Möglichkeit verneint, im Prozess gesellschaftliche Konflikte aufarbeiten zu können. „Gesellschaftlich“ könne man einen Konflikt nur nennen, dessen Parteien sich „in latent antagonistische Quasi-Gruppen einordnen lassen.“69 Vor Gericht ausgetragene Streitigkeiten seien jedoch allenfalls „sozialtypisch“. Sie wiederholten sich zwar vielfach, gingen aber nur auf jeweils ähnliche Interessengegensätze zurück. Das dürfe nicht mit „gesellschaftlichen“ Konflikten verwechselt werden, deren Natur darin bestehe, dass sie immer auf ein und denselben Streitherd reduzierbar seien. Im Recht sei dies aber gerade nicht so: „Ge63 Dazu H. Freund, DRiZ 1981, S. 221, 222. Es ist nicht zu verkennen, dass Freund aus der Perspektive des Familienrichters argumentiert. Er meint seinen Ansatz gleichwohl für alle Verfahrensarten bemühen zu können. 64 Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 116 ff., der das Gerichtsverfahren als judizielle Korrektur eines dem Sollsystem zuwiderlaufenden Zustandes begreift. 65 Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 116 ff. 66 H. Freund, DRiZ 1981, S. 221, 223. 67 H. Freund, DRiZ 1981, S. 221, 223, 224. 68 Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 117 ff. 69 Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 117.

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schwister streiten um das Erbe, Nachbarn um Grenzen und Zäune, geschiedene Eheleute um Kinder, Hausrat und Unterhalt, Unfallbeteiligte um Verschulden und Schadensersatz. Solche Streitigkeiten sind zwar in der Sozialstruktur angelegt, sie wiederholen sich häufig in gleicher oder ähnlicher Weise. Sie können mit erheblicher Intensität bis zu Mord und Totschlag ausgetragen werden und bleiben doch jeweils Einzelfälle, die unverbunden nebeneinander stehen.“70 Es bleibe daher keine Alternative als die, rechtliche Streitigkeiten als individuell und personal zu begreifen. Es könne keine Rede davon sein, dass im Verfahren ein Interessengegensatz behandelt werde, der ganze Sektoren der Gesellschaft durchzieht „und an dem jedenfalls auf einer Seite organisierte oder organisationsfähige Gruppierungen beteiligt sind.“71 Das Gericht sei nicht einmal vor die Aufgabe gestellt, das gesellschaftliche Problem hinter dem zu beurteilenden Fall zu erkennen. Rechtsprechung sei folglich passiv und partikularistisch orientiert und tauge nur zur Schlichtung niederer sozialer Konflikte. Bedeutende politische Impulse seien von ihr nicht zu erwarten. Dafür fehle ihr auch die für eine weitreichende Planung erforderliche Zentralisation der Willensbildung. Sie befriedige allenfalls das Bedürfnis nach einem festen Gerüst von formalisierten Verhaltenserwartungen.72 Röhl verkennt freilich, dass das entscheidende Gericht ein festes Gerüst von Verhaltenserwartungen in Gestalt des materiellen Rechts immer schon vorfindet und mitnichten dazu aufgefordert ist, neue Verhaltenserwartungen zu statuieren. Jede andere Auffassung beschwört einen Widerspruch mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz herauf. Durch den Richter erfolgt maximal eine Konkretisierung anderweit geschaffener Verhaltensmaßregeln. Er trifft die Entscheidung, ob das zu beurteilende Verhalten der materiellen Verhaltenserwartung (noch) entsprochen hat oder nicht (mehr). Eine darüber hinausgehende rechtspolitische Einflussnahme auf Bestand und Umfang von Verhaltensnormen würde der Funktion des Richteramtes zuwiderlaufen. Damit aber ist die Frage nach dem gesellschaftlichen oder individuell-personalen Charakter des Prozesses noch nicht beantwortet. Fest steht zunächst nur, dass der Richter damit betraut ist, anderweit getroffene gesellschaftliche Entscheidungen gegenüber dem Einzelnen durchzusetzen. Auch damit aber ist eine Aussage zum Ursprungskonflikt zwischen Täter und Opfer noch nicht getroffen. Allerdings zeichnet sich ab, dass einheitliche, für alle Verfahren zutreffende Prinzipien kaum abzuleiten sein werden. Röhl ist zuzugeben, dass der Prozess keine Lösungen für gesellschaftspolitische Fragestellungen aufzuzeigen vermag. Jedoch folgt daraus nicht unmittelbar, dass die Struktur rechtlichen Prozedierens ausschließlich personalen bzw. individuellen Charakters ist. Nicht jede rechtliche Streitigkeit basiert auf dem ursprünglichen Konflikt zweier oder mehrerer Individuen mit rivalisierenden Interessen. Insbesondere das Strafrecht ist durch eine Reihe von Konstella70 71 72

Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 118. Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 118. Röhl, Rechtstheorie 8 (1977), S. 93, 119.

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

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tionen gekennzeichnet, in denen es „den einen“ Verletzten nicht gibt. Man denke nur an die Staatsschutz- und Umweltdelikte. Der Strafprozess wird also keineswegs zwingend durch den außerrechtlichen Konflikt zwischen Privatleuten ausgelöst.73 Umgekehrt hindert die außerrechtliche, privative Streitbeilegung durch die Beteiligten die Durchführung des Strafverfahrens nicht. Sogar Täter und Opfer eines versuchten Mordes könnten inzwischen die besten Freunde geworden sein. Es wird dem Täter nicht gelingen, die Durchführung des Strafverfahrens zu unterbinden. Der Hinweis, dass das Opfer die Tat längst verziehen habe genügt insofern nicht. Sähe man dies anders, so hätte ein Delikt wie § 216 StGB keine Daseinsberechtigung. Zumindest würde vielfach auf eine Aburteilung im Strafprozess verzichtet werden müssen. Es gibt also Konstellationen, in denen private Rechtssubjekte Beteiligte einer Straftat sind, obwohl von einem außerrechtlichen Konfliktpotential nicht die Rede sein kann. Der rechtliche Konflikt wird durch die Auflehnung gegen Verhaltensnormen überhaupt erst geschaffen! Zwischen Täter und Opfer gibt es daher nichts zu bereinigen.74 Ein einheitlicher Verfahrenszweck muss also über die Dimension der individuellen Betroffenheit hinausgehen und möglichst alle denkbaren Fallgestaltungen abdecken. Die Streitbeilegung zwischen Täter und Opfer ist weder intendiert noch erforderlich. Schon gar nicht ist eine tatsächliche Versöhnung ausreichend, um die rechtliche Problematik aus der Welt zu schaffen. Der Prozess sucht die Verantwortung des Angeklagten aufzudecken oder zu widerlegen. Dazu werden dem Staat eine Reihe von Mitteln und Instrumenten zur Verfügung gestellt, die von einer Mitwirkung Dritter ganz und gar unabhängig sind. Der Staat handelt aus eigener Machtvollkommenheit zum Schutze der Rechtszuweisungsordnung. Er stellt sich gerade nicht in den Dienst des betroffenen Individuums, um Ungleichgewichtslagen von vornherein auszuschließen. Hieran orientieren sich alle Maximen des Strafprozessrechts. In tatsächlicher Hinsicht tritt schließlich hinzu, dass das Verfahren vielfach durch die Anzeige des Betroffenen in Gang gesetzt wird. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum der Zweck des Strafverfahrens darin bestehen sollte, auf Einsicht oder gar Dankbarkeit des Täters hinzuwirken. Der Delinquent wird über die Initiative des Verletzten selten erfreut sein oder diese als notwendiges Mittel der Konfliktbewältigung begrüßen. Würde die Bereinigung aller Streitigkeiten zum Ziel Vgl. auch Weigend, Deliktsopfer, S. 206. Weigend, Deliktsopfer, S. 205, greift auf die Argumentation Henckels, Prozeßrecht, S. 61, zurück, der darauf hingewiesen hatte, dass der Prozess mitunter das einzige Mittel der Rechtsverwirklichung sei. Weigend untermalt dies mit dem Beispiel des voll geständigen Trunkenheitsfahrers. In der Tat kann hier von einem Konflikt solange nicht die Rede sein, wie es zu schädigenden Ereignissen oder konkreten Gefahrsituationen nicht kommt. 73 74

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des Strafverfahrens erhoben, so wäre die staatliche Strafverfolgungstätigkeit gehalten, stets auf ein gegenseitiges Einvernehmen der Beteiligten hinzuwirken. Dazu fordert die Strafprozessordnung jedoch an keiner Stelle auf. Auch der Vergleich hat (positiv-rechtlich) bisher nicht Eingang ins Strafverfahrensrecht gefunden.

2. Der Strafprozess als Instrument zur Herbeiführung sozialen Friedens Wenn eine rein individualistisch-personale Auffassung der Zwecke des Strafprozesses zu kurz greift, so folgt daraus die Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Aufgabenstellung, die sämtliche Konstellationen in sich aufnehmen kann. Eine vollständige Abkehr von jedweder Individualbezogenheit wird dadurch nicht determiniert. Allein müssen die Mechanismen des Strafverfahrensrechts ausreichend flexibel sein, die jeweiligen Bedingungen des Einzelfalles adäquat verarbeiten zu können. Es ist vorgeschlagen worden, dass dies am besten gelinge, wenn man im Strafprozess ein Instrument zur Herstellung sozialen Friedens erkenne.75 Immerhin kränke die Straftat das Rechtsgefühl des Verletzten und der Gemeinschaft, was Furcht und Rechtsunsicherheit verursache.76 Es trete eine Schwächung der Autorität des Rechts ein.77 Tatsächlich bedingen Individual- und Gemeinwohl einander, weshalb die Rechtsfriedensfunktion prädestiniert erscheint, der Durchführung des Strafverfahrens einen Sinn zu verleihen. Paeffgen hält dies gar für unbestreitbar. Schließlich sei es die Verpflichtung des Rechts, das Gemeinwohl zu gewährleisten, woraus sich wiederum die Pflicht ergebe, dafür entsprechende Verfahren bereitzustellen.78 Es dürfe als „kriminalwissenschaftliches Gemeingut begriffen werden, daß die Straftat als solche Unruhe, Störung, Unfrieden in die soziale Gemeinschaft getragen hat, innerhalb derer sie verübt wurde.“79 Dies resultiere vielfach aus einer Solidarisierung der Gemeinschaft mit den Gefühlen, Bedürfnissen und Ängsten der Opfer. Auf diese Weise entstehe der Wunsch 75 Schon Schmidhäuer, Eb. Schmidt-FS, S. 511, 516 ff., der zunächst dem begrifflichen Sinn des Terminus „Rechtsfrieden“ auf die Schliche zu kommen sucht und sich sorgfältig mit unterschiedlichen Verständnissen auseinandersetzt. Dabei wird der häufig eher unreflektierte Gebrauch des Wortes kritisiert. Dazu auch Weigend, Deliktsopfer, S. 207 ff.; vgl. ferner Nagler, Strafe, S. 102 f. 76 Nagler, Strafe, S. 102. 77 Frank, Beilageheft zu AcP 133 (1931), S. 47, 53; Weigend, Deliktsopfer, S. 207 ff. 78 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 30, der darin freilich die Aufgabe allen Rechts erblickt, weshalb seines Erachtens der Rechtsfriedensbegriff nicht spezifisch den Zweck des Strafverfahrens abbilde und daher zu konturenlos und allgemein bleibe. Vielmehr verleihe der Rechtsfriedensbegriff dem Terminus „Gemeinwohl“ erste Konturen. 79 So Weigend, Deliktsopfer, S. 207.

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nach Wiederherstellung des status quo ante, des vorherigen, besseren, friedlicheren Zustandes.80 Weigend warnt zutreffend davor, die Legitimität des Strafverfahrens von faktischen sozialen Befindlichkeiten abhängig zu machen; anderenfalls verflüchtige sich der konkrete Gehalt des Konzepts zu sehr in die Fiktion: „Wie kann man ernsthaft behaupten, ein Verfahren müsse um der Stabilisierung der sozialen Ordnung willen durchgeführt werden, wenn diese in der Realität durch die Tat gar nicht destabilisiert war?“81 Es mag sich etwa zutragen, dass sich die Gemeinschaft mit einem ganz bestimmten Opfer nicht solidarisiert, weil sie der Meinung ist, dass es „eine Abreibung schon verdient“ oder sich die Begehung der Tat „selbst zuzuschreiben“ habe. Es kann auch sein, dass das Opfer niemandem Mitteilung über die Tat macht und der Vorgang deshalb heimlich bleibt. Eine tatsächliche Enttäuschung des allgemeinen Rechtsgefühls findet hier jeweils nicht statt.82 Man wir daher ein normativistisch-abstraktes Verständnis des sozialen Friedens als „Rechtsfrieden“ befürworten müssen, wenn man den Strafprozess von der Beliebigkeit des kollektiven Geschmacks oder der allgemeinen Kenntnisnahme entkoppeln will. Der soziale Friede müsste im Zuge jedweder Straftat als beeinträchtigt gelten. Die Auflehnung gegen die strafrechtliche Verhaltensnorm und die mit ihr einhergehende Störung des friedlichen Miteinanders wären dann deckungsgleiche Komponenten. Eine derartige Sicht der Dinge wäre unproblematisch, wenn man in der jeweiligen Verhaltensnorm quasi die in Gesetzesform gegossene Definition friedlichen Zusammenlebens sehen würde. Fest steht, dass durch die Norm eine gemeinschaftliche Überzeugung repräsentiert wird. Für die hier zu klärende Frage nach dem Zweck des Strafverfahrens kann dies aber dahinstehen. Die skizzierte Rechtsfriedensfunktion würde voraussetzen, dass der Strafprozess dazu geeignet und bestimmt ist, das durch die Tat gekränkte – und in Normen typisierte – Rechtsgefühl der Gemeinschaft und des Einzelnen wiederherzustellen. Zunächst befasst sich der Strafprozess jedoch mit der Frage, ob eine Straftat überhaupt vorliegt. Aus der Unschuldsvermutung ergibt sich zudem, dass die pauschale Annahme einer Verhaltensnormverletzung sogar verboten ist. Man wird also zu Gunsten des mutmaßlichen Täters davon auszugehen haben, dass der soziale Friede nicht durch die Begehung einer Straftat beeinträchtigt wurde, denn ihr Vorliegen (oder Nichtvorliegen) gilt es während bzw. mit dem Abschluss des Prozesses erst festzustellen. Das Rechtsempfinden oder die Wertungen der – möglicherweise beunruhigten – Allgemeinheit spielen keinerlei Rolle. In juristischer Hinsicht gibt es bis zu einem die Straftat bejahenden Urteil weder Tat noch Täter. Soweit der Befund Weigends, Deliktsopfer, S. 207. Weigend, Deliktsopfer, S. 210. 82 Wie aufgezeigt, liegt hierin auch ein Problem der Präventionstheorien, weshalb Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 ff., immer wieder auf die normative Konstruktion der Kommunikation rekurriert. 80 81

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Die Störung des sozialen Friedens würde die Strafbarkeit des jeweiligen Verhaltens immer schon voraussetzen. Die Rechtsfriedensfunktion kann folglich mit der die Strafbarkeit feststellenden Beendigung des Verfahrens ihre Wirkung frühestens entfalten, sie bildet jedoch nicht das von vornherein anzustrebende Ziel des Prozesses, sonst müsste von Anfang an auf die Bestrafung irgendeines Rechtsgenossen hingewirkt werden, auf den sich das Unbehagen der Allgemeinheit durch die Einleitung des Verfahrens verdichtet hat. Mit solcherlei Begründungsmustern würden sich freilich auch Schauprozesse und Sondergerichte trefflich legitimieren lassen. Zugleich wird deutlich, dass sich Faktizität und Typisierung in Normen nicht in der Weise trennen lassen, dass die eine Komponente die andere zu kompensieren vermag. Die Wiederherstellung des sozialen Friedens setzt seine Beeinträchtigung durch eine Straftat voraus. Des weiteren wäre zu unterstellen, dass die sich anschließende Strafe den Rechtsfrieden tatsächlich wiederherstellt. Damit aber wird nur die Strafzweckdebatte wieder aufgegriffen und namentlich die Frage nach dem Sinn des Inhalts einer Sanktionsnorm erneut gestellt.83 Es wird also ins materielle Strafrecht zurückverwiesen.84 Zur Diskussion um den Zweck des Strafprozesses wird hingegen nicht beigetragen. Überdies ist die Trennung von Rechtsgrund- und Rechtsfolgenebene zu berücksichtigen. Über Art, Maß und Inhalt der konkreten Strafe kann erst befunden werden, wenn Sicherheit über den Rechtsgrund besteht. Dieser aber soll im Zuge des Verfahrens aufgedeckt (oder widerlegt) werden. Vorher lassen sich keine Aussagen darüber treffen, inwiefern der Rechtsfriede tangiert ist.

3. Rechtsfrieden durch Rechtskraft Es zeigt sich, dass der Topos des Rechtsfriedens eine durchaus diffuse Größe ist. Mal wird er im Sinne endgültiger Konfliktbewältigung interpretiert, mal erfolgt eine Rückbindung des Prozesses an schillernde allgemeine Überzeugungen rechtlicher und tatsächlicher Art. Deshalb ist zuweilen versucht worden, den Rechtsfriedensbegriff zu „entmystifizieren“. Ausgangspunkt ist die These, dass der Prozess das Vertrauen des Einzelnen und der Allgemeinheit in den Bestand einer als endgültig getroffenen Entscheidung 83 Auch Weigend, Deliktsopfer, S. 210 ff., der darin die Gefahr sieht, dass Strafzwecklehren und Zweck des Strafprozesses unzulässig miteinander vermengt werden. 84 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 212: „Die Wiederherstellung des sozialen Friedens, der durch die Straftat tangiert wurde, ist aber in erster Linie eine Aufgabe des materiellen Rechts. Durch die angemessene Bestrafung des Täters, nicht durch die bloße Ingangsetzung des Verfahrens, wird das gestörte Gleichgewicht wieder ins Lot gebracht; die öffentliche moralische Verurteilung, nicht schon die Aufklärung und Verhandlung des Tatgeschehens, macht die Grenze zwischen Recht und Unrecht wieder deutlich.“

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fördern und erhalten müsse.85 In diesem Sinne sei die Herbeiführung von Rechtskraft das eigentliche, im Mittelpunkt stehende Ziel des Verfahrens.86 Es gehe nicht um die Erreichung subtiler Ideale und unklarer Wunschvorstellungen, sondern einzig und allein um eine Aussage über die Wirklichkeit. Namentlich Goldschmidt will den Begriff der Rechtskraft daher ausschließlich im empirischen, nicht aber im metaphysischen Sinne verstanden wissen.87 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Volk, der die Rechtsfriedensidee kraft des richterlichen Entscheidens als verwirklicht betrachtet. Mit Abschluss des Verfahrens könne davon ausgegangen werden, es herrsche nunmehr Rechtsfriede. Demnach würde jeder regulär durchgeführte Prozess sein Ziel auch erreichen.88 Wenn es damit sein Bewenden hätte, geriete die Durchführung des Verfahrens zum Selbstzweck. Das stellt sich für Volk nicht als Problem dar. Der Prozess wäre schlicht das notwendige Vehikel für die Erreichung von Rechtsfrieden. Wie das Verfahren ausgehe, sei demgegenüber irrelevant.89 Mithin ließe sich formulieren: Die Durchführung des Verfahrens ist ohne Alternative. Deshalb kann allein das Verfahren der Verwirklichung des Rechtsfriedens dienlich sein. Goldschmidt geht darüber noch hinaus und sieht das eigentliche Ziel erst dann als erreicht an, wenn das Verfahren durch einen nicht mehr anfechtbaren Richterspruch beendet werde. Es komme nicht auf die Richtigkeit des Verfahrensergebnisses oder die volle Übereinstimmung mit der materiellen Rechtslage an, sondern nur darauf, dass die schlussendlich getroffene Entscheidung nicht mehr angreifbar sei.90 Härtestenfalls werde der Rechtsfriede also sogar zwangsweise durchgesetzt. Recht ist dann, was der Richter als Recht verkündet. Das könne so weit gehen, dass die im Zuge des Urteils statuierte Ordnung neben die materielle Rechtsordnung trete, dieser möglicherweise gar widerspreche und sich trotzdem durchzusetzen vermag. Der Rechtsfriede würde, wie Weigend bemerkt, den Beteiligten nach dem soziologischen Machtprinzip aufoktroyiert.91 Die Adressaten des Verfahrensergebnisses bleiben dabei offen. Tatsächliche Konfliktlösung, Kompensation, Teilhabe etc. werden in der skizzierten Konzeption nicht in Bezug genommen. Das wird auch nicht beabsichtigt. Der Ansatz ist vor allem als soziologische Beschreibung des Ist-Zustandes diskus85 Dazu Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, S. 515 f.; ähnliche Erwägungen bei Stock, Mezger-FS, S. 429, 449. 86 So vor allem und mit Nachdruck Goldschmidt, Prozeß, S. 151. 87 Goldschmidt, Prozeß, S. 150; kritisch Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, S. 512 ff.; es stellt sich ohnehin die Frage, worin die metaphysische Bedeutung des Terminus Rechtskraft überhaupt liegen soll. 88 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 201; ablehnend dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 211. 89 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 201. 90 Goldschmidt, Prozeß, S. 151. 91 Weigend, Deliktsopfer, S. 198.

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sionswürdig.92 Es ist daher unzulässig, aus den Erkenntnissen Goldschmidts auf ein prozessuales Sollen zu schließen. Gleichwohl lässt sich seinen Ausführungen entnehmen, dass er den Zweck des Verfahrens in der fortlaufenden Produktion unanfechtbarer rechtlicher Willensbekundungen sieht. Durch sie soll jeder Diskussion über die Richtigkeit der Entscheidung der Sinn genommen werden. Dies aber bedeutet nicht weniger, als dass das Ziel des Prozedierens darin besteht, die Lebensverhältnisse des Adressaten mittels der Entscheidung pro futuro unumstößlich zu regeln. Der Richter wäre im Einzelfall damit befasst, selbst und aus eigener Machtvollkommenheit heraus Recht zu schaffen, ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, eventuelle Fehlurteile zu berichtigen.93 Ein Institut wie die Wiederaufnahme des Verfahrens würde sich als zweckwidrig herausstellen. Es soll nicht behauptet werden, das Wiederaufnahmeverfahren sei ein Rechtsmittel zur Korrektur fehlerhafter Urteile; denn es handelt sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf für Konstellationen, in denen die Unrichtigkeit der ursprünglich rechtskräftigen Entscheidung ein unerträgliches Maß annimmt.94 Trotzdem wird offenbar, dass die Rechtsordnung die Inkongruenz von materiellem Recht und verfahrensmäßig zustande gekommenem Urteil nicht unbesehen oder grenzenlos akzeptiert. Insbesondere § 359 Nr. 5 StPO dokumentiert dies. Wenn neue Tatsachen und Beweismittel beigebracht werden, die die Verantwortlichkeit des Verurteilten und somit dessen Auflehnung gegen Verhaltensnormen widerlegen, kommt es zur Durchbrechung der Rechtskraft aufgrund des eklatanten Widerspruchs zum Willen des materiellen Rechts. Es gibt also kein zusammenhangloses Nebeneinander zwischen materiellem und formellem Regime. Anderenfalls wäre dem Staat ein Mittel in die Hände gelegt, gegenüber dem Einzelnen einseitig bestimmend aufzutreten, ohne dass es hierfür einen Anlass gegeben hätte. Das staatliche Handeln würde letztlich nicht auf eine gültige Ermächtigungsnorm gestützt werden können. Würden sich solche Fälle gehäuft ereignen, zöge der Staat den Verdacht des Totalitären auf sich, was seiner Legitimität abträglich sein würde. Der Staat wäre trotz anders lautender materieller Werte und Normen für das Individuum im Prozess gefährlich. Um es zugespitzter zu formulieren: Der Staat und seine Rechtspflege können sich Fehlurteile nur in geringer Anzahl erlauben, um der eigenen Legitimität nicht verlustig zu gehen. Darin liegt letztlich auch das Anliegen des Instruktionsgrundsatzes, dem mit Hilfe der §§ 359 ff. StPO sogar noch nach Eintritt der Rechtskraft zur Durchsetzung verholfen wird. Der Staat ist gehindert, sehenden Auges Urteile aufrechtzuerhalten, für die es keine vertretbare Basis gibt. Die nachgewiesene Auflehnung gegen eine bestimmte Verhaltensnorm ist stets das Fundament einer sozialverträglichen Entscheidung. Die Verbindung von formellem und materiellem Recht wird zu keinem Zeitpunkt aufgelöst. Schon gar nicht stehen formelle und 92 Darum ging es Goldschmidt, Prozeß, S. 151, wohl auch. Ebenso Weigend, Deliktsopfer, S. 199. 93 Vgl. die Kritik bei Pawlowski, ZZP 80 (1967), S. 345, 362; ferner Henckel, Prozeßrecht, S. 49. Dazu auch Weigend, Deliktsopfer, S. 198 (dort in Fn 86). 94 Nur KK-Schmidt, Vor § 359 Rn 5.

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materielle Normen beziehungslos einander gegenüber mit der Folge, dass jene die Intentionen dieser einfach aushebeln könnten. Das Ziel des Strafprozesses liegt mithin nicht darin, Rechtskraft um ihrer selbst willen zu erzeugen.

4. Wahrheit als Prozessziel Aus dem Erfordernis einer Mindestlegitimität richterlichen Entscheidens könnte man trefflich schließen, dass die Wahrheit bzw. die Wahrheitssuche das zentrale Anliegen des Strafprozesses sei. Wäre dem so, so müsste geklärt werden, ob und wie die eventuelle Mitwirkung des Verletzten die Ermittlung der Wahrheit vorantreiben könnte oder eher behindern würde. Es ist indessen fraglich, ob sich der Zweck des Strafverfahrens tatsächlich in der Wahrheitssuche erschöpft. Die Erforderlichkeit und Unabdingbarkeit der Ermittlung des wahren Sachverhalts wird von der Rechtsprechung95 jedenfalls gern betont und findet in der Literatur96 vielfach positiven Widerhall.

a) Wahrheitssuche als Aufgabe So stehe die Struktur des Inquisitionsprozesses insgesamt im Dienste der Wahrheit und verfolge das Ziel der Rekonstruktion eines Lebenssachverhalts und somit der Gewinnung eines der vergangenen Wirklichkeit adäquaten Vorstellungsinhalts.97 Die materielle Wahrheitsforschung begründe die gesetzgeberische Entscheidung zu Gunsten des Amtsprozesses und bedinge die Mitwirkung einer zur Objektivität verpflichteten Anklagebehörde.98 Letztlich seien alle Prozessmaximen auf das Wahrheitsstreben ausgerichtet, weshalb in ihm der maßgebliche Verfahrenszweck zu sehen sei. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass die Strafprozessordnung die Wahrheitssuche „um jeden Preis“ verbietet.99 Krauß sah die Aktivität zu restloser Aufklärung dennoch durch die StPO in Frage gestellt. Es sei anzuerkennen, dass die staatliche Ermittlungstätigkeit in dem Augenblick, „in dem sie in Richtung auf die Wahrheitssuche Gas geben will, [ . . . ] bremsen muß.“100 95 BVerfGE 57, S. 250, 275; BVerfG NJW 1987, S. 2663, wo sogar eine entsprechende Verpflichtung von Gericht und Staatsanwaltschaft angenommen wird. 96 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 24; auch Eb. Schmidt, LehrK I Rn 20, der weitere Ziele allerdings für nicht minder wichtig erachtet. Wahrheit als ein Zweck neben anderen auch bei KK-Pfeiffer, Einl. Rn 1 ff., 7. 97 So ausdrücklich KK-Herdegen, § 244 Rn 18, gleichsam in der Tradition der „adaequatio intellectus et rei“; dazu Engisch, Wahrheit, S. 5; Spendel, JuS 1964; S. 465 ff.; auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17. 98 Dazu KK-Pfeiffer, Einl. Rn 7; vgl. auch BVerfGE 57, S. 250, 257. 99 BGHSt 14, S. 358, 365; 31, S. 304, 309; KK-Pfeiffer, Einl. Rn 7.

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Tatsächlich unterliegt die Wahrheitsermittlung zahlreichen Begrenzungen, die in erster Linie aus der Unschuldsvermutung folgen. Sie zwingt dazu, den Verdächtigen nicht von vornherein in der Rolle des Täters zu sehen. Die Befürchtung, man sei nicht in der Lage, die Verantwortlichkeit des Beschuldigten nachweisen zu können, darf nicht mit den Methoden der peinlichen Inquisition ausgeräumt werden.101 Allein nimmt ein derartiger Hinweis dem Prozessziel umfassender Wahrheitserforschung noch nicht die Plausibilität. Richtigerweise werden durch die einschlägigen Beschränkungen nur die Mittel und Wege der Wahrheitsfindung näher umschrieben bzw. auf ganz bestimmte zulässige Methoden reduziert. Das hindert nicht daran, die Wahrheit als Verfahrensziel weiter im Auge zu behalten.102 Auch dass die Offenlegung der Wahrheit in vielen Fällen misslingt, ist nicht geeignet, die restlose Tatsachenaufklärung als Verfahrenszweck zu eliminieren, denn sonst brauchte man in manch kriminalistisch aussichtsloser Situation Ermittlungen gar nicht erst aufnehmen. Die Einleitung des Strafverfahrens würde sich als zwecklos erweisen. Dass dem so ist, müsste jedoch gesondert begründet werden. Mangelnde Aufklärbarkeit einzelner relevanter Gesichtspunkte nimmt dem Prozess nicht von vornherein jeden Sinn. Selbst die Androhung oder sogar die Auferlegung der Folter würde sich unter dem Aspekt der Wahrheitserforschung mit einiger Wahrscheinlichkeit als kontraproduktiv darstellen, belegt die historische Erfahrung doch, dass nach dem „Vorführen der Instrumente“ jedes noch so abwegige Geständnis erzwungen werden kann. Folter- und Täuschungsverbot lassen die Aussicht auf verlässliche und in diesem Sinne „wahre“ Verfahrensergebnisse erfolgversprechender erscheinen. Dem angestrebten Zweck wird letztlich also eher gedient. Überhaupt kann man den Eindruck gewinnen, dass das Verfahrensrecht am Ziel größtmöglicher Objektivität massiv interessiert ist. Die Entprivatisierung des Konflikts unterstreicht diese Vermutung. Es ist eher zweifelhaft, ob das Ziel der unmittelbar Beteiligten auf die Erreichung objektiver Wahrheit gerichtet ist, „ist es doch eine Eigentümlichkeit der Konfliktslage, daß jede der beteiligten Parteien die Wahrheit jedenfalls subjektiv schon gefunden zu haben vorgibt.“103 Wenn man auf der Seite des Opfers das Strafbedürfnis einmal unterstellt, wird ihm kaum daran gelegen sein, Für und Wider einer Bestrafung oder gar mildernde Umstände nach neutralen, emotionsfreien Kriterien zu würdigen. Es wird ihm – im Gegenteil – darum gehen, auf ein möglichst hohes Strafmaß hinzuwirken und Umstände, die So Krauß, FS-Schaffstein, S. 411. Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, der die Erforschung der objektiven Wahrheit trotzdem für erstrebenswert hält. 102 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 179: „Diese Einschränkung wird ja gewissermaßen von außen in den Strafprozeß hineingetragen und betrifft nur die Mittel und die Intensität, mit der der Verfahrenszweck verfolgt werden darf, nicht aber dessen Definition.“ 103 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 420 f. 100 101

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der Tat einen differenzierteren Charakter geben, auszuklammern. Umgekehrt ist es nur zu verständlich, dass der (mutmaßliche) Täter nichts tun wird, was seiner eigenen Bestrafung Vorschub leisten könnte. Das muss er im Rechtsstaat auch nicht und hierin besteht gewiss nicht seine Aufgabe. Mit beidem wachsen die Ansprüche gegenüber Staatsanwaltschaft und Gericht. Insbesondere der Richter steht in der Pflicht, gegenüber jeder Behauptung misstrauisch zu sein. Stellt man die Wahrheitserforschung ins Zentrum, so bildet der Zweifel den Ausgangspunkt jedes Prozesses. Die Infragestellung der Urheberschaft der Normverletzung ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die sich selbst von Anfang an in der Opferrolle sehen. Würde sich die Wahrheit als Verfahrenszweck gegenüber anderen Vorschlägen durchsetzen, so deutete sich die Empfehlung an, den Verletzten nicht weiter als bisher ins prozessuale Geschehen einzubinden. Vielleicht müsste sogar die Rücknahme oder Einschränkung einzelner, gegenwärtig eingeräumter Privilegien erwogen werden. b) Wahrheitssuche vs. soziologische Interviewforschung Die These, dass die Ermittlung der materiellen Wahrheit dem Strafverfahren seinen Zweck verleihe, ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Kritik wurde vor allem im soziologischen Lager geäußert. So monierte Karl-Dieter Opp, dass die im Strafprozessrecht angelegten Vernehmungsmethoden ganz und gar ungeeignet seien, akzeptable Aussagen über den wahren Sachverhalt hervorzubringen. Die objektive Wahrheit sei schon deshalb nicht zu ermitteln, weil sich der verfahrensmäßige Rahmen mit den Erkenntnissen der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht vertrage. Insbesondere den Erfordernissen der soziologischen Interviewforschung werde nicht ausreichend Rechnung getragen.104 Es sei wenig erfolgversprechend, eine Befragung ohne Rücksicht auf die Persönlichkeit des zu Hörenden vorzunehmen. Gerade die Formulierung sog. offener Fragen, die keine bestimmten Antwortmöglichkeiten vorgeben, seien für sozial Unterprivilegierte mit geringer Schulbildung eine unüberwindliche Hürde. Einerseits hätten Angehörige unterer Schichten oftmals Schwierigkeiten, ihre Gefühle und Motive zu verbalisieren und andererseits sei von ihnen nicht zu erwarten, dass sie in der Lage seien, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren oder über ihre Beweggründe verlässlich Auskunft zu geben.105 Solche Vorbehalte machen vor dem Verletzten nicht Halt. Das Opfer ist nicht selten der einzige Zeuge der Tat. Schon deshalb steht zu befürchten, dass seine Bekundungen den Verlauf und das Ergebnis des Verfahrens entscheidend mitbestimmen können. Opp griff die generell bedingte Verlässlichkeit der Schilderung persönlicher Wahrnehmungen auf und verfasste seine Thesen vor dem Hintergrund der Analyse 104 105

Opp, Kritsche Justiz 1970, S. 383 ff., 390 ff., 392. Opp, Kritsche Justiz 1970, S. 383 ff., 393 f.

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einer realen Gerichtsverhandlung, der er beigewohnt hatte: Angeklagt war eine mehrfach vorbestrafte Prostituierte. Sie wurde schließlich wegen Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Opps Beanstandungen richteten sich gegen die Verhandlungsführung des Richters, der aus dem geringen Einkommen, der Herkunft, dem Vorstrafenregister sowie überschwänglichem Alkoholgenuss der Angeklagten geschlossen hatte, sie habe eine fremde bewegliche Sache – eine Geldbörse – in Zueignungsabsicht weggenommen. Die genauen Motive der handelnden Akteurin sowie die Einzelheiten des Tathergangs seien indessen offen geblieben, sodass insbesondere Aussagen zur Zueignungsabsicht überhaupt nicht möglich gewesen seien.106 Zudem sei der Richter offensichtlich nicht bestrebt gewesen, nach Umständen zu fragen, die sich zu Gunsten der Angeklagten ausgewirkt hätten. Vielmehr habe er von Anfang an zu erkennen gegeben, dass er keinerlei Zweifel an der Täterschaft der Angeklagten hatte.107 Es mag hier dahingestellt bleiben, inwiefern der von Opp geschilderte Fall der Verallgemeinerung zugänglich ist. Es ist sicher nicht die Strafprozessordnung gewesen, die den Richter dazu veranlasst hatte, die Verhandlung vorurteilsbehaftet durchzuführen bzw. abwegige Rückschlüsse vorzunehmen. Gleichwohl tut sich die Frage auf, ob das Strafprozessrecht insoweit fehlerhaft ist, als es die unbeeinflusste Stellungnahme von Zeugen und Beschuldigten einfordert (§§ 69 Abs. 1, 136 Abs. 2 StPO). Eine Beeinflussung der Erinnerung durch Fragen und Vorhalte ist stets zu vermeiden.108 und nur hilfsweise gestattet.109 Nur wenn eine zusammenhängende Aussage wegen mangelnder Intelligenz oder Schwächeerscheinungen unmöglich ist, sind lenkende Hinweise erlaubt110, wobei der Versuch genügt, den zu Vernehmenden zu einem Bericht über Tat und Täter zu veranlassen.111 Das Interview112, das Erstellen von Fragekatalogen oder Multible-Choice-Mechanismen sind nicht vorgesehen. Der Bürger wird vom Strafprozessrecht als eigenverantwortlicher Gestalter seiner Aussage betrachtet. Eine Überprüfung seiner intellektuellen Fähigkeiten findet nicht statt. Die Menschenwürde sowie der Gleichheitsgrundsatz lassen überdies Bedenken an der Statthaftigkeit solcherlei Tests aufkommen. Opp, Kritsche Justiz 1970, S. 383 ff., 394. Opp, Kritsche Justiz 1970, S. 383 ff., 387, verwahrt sich gegen eine Reihe angeblicher Erfahrungssätze, die der Richter für wahr gehalten habe, die aber in keiner kausaler Beziehung zueinander gestanden hätten. So gebe es keinen empirischen Beleg dafür, dass aus einem geringen Einkommen automatisch das Vorliegen von Zueignungsabsicht resultiere, ebenso wenig aus übermäßigem Alkoholgenuss oder der Anzahl der Vorstrafen. 108 Dazu BVerfGE 38, S. 105, 117 ff.; BGHSt 3, S. 281, 284; schon RGSt 74, S. 35; ferner Humborg, JR 1966, S. 448 ff., 449; vgl. auch KK-Senge, § 69 Rn 1 ff. 109 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 415; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 20. 110 BGH MDR 1966, S. 25; auch Meyer-Goßner, § 69 Rn 5. 111 BGH MDR 1966, S. 25; OLG Hamm JMBlNW 1953, S. 44. 112 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 415, sieht eine subsidiäre Möglichkeit, das Interview als Verhörmethode zu bemühen. 106 107

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Es muss darüber hinaus aber bezweifelt werden, ob der Wahrheitssuche besser gedient wäre, wenn es die Option mehrerer Antwortmöglichkeiten in Form richterlicher Suggestivfragen oder gar irgendwelche Fragenkataloge gäbe. Wenn es dem Befragten intellektuell nicht möglich ist, seine Verhaltensweisen und Motive schildern, reflektieren und analysieren zu können, so ist auch dadurch keine Sicherheit in Bezug auf „die richtige Aussage“ zu bewerkstelligen, dass man gegebenenfalls eine Reihe unterschiedlicher Antwortmöglichkeiten vorgibt. Denn woher sollte man die Gewähr dafür bekommen, dass der Befragte „sein Kreuzchen“ an der zutreffenden Stelle macht? Es wären mit anderen Worten Prüfmechanismen dafür zu entwerfen, die die Überlegtheit und Reflektiertheit des abgegebenen Votums belegen würden. Damit wäre aber wiederum die Frage aufgeworfen, ob der Verhörte in ausreichendem Maße über die entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten verfügt. Die Argumentation Opps ist also zirkulär. Alternativen zum geltenden Strafprozessrecht vermag er nicht aufzuzeigen; schon gar nicht kommt er seinem sich selbst auferlegten Ziel der verbesserten Wahrheitsermittlung näher.

c) Wahrheitssuche vs. strafprozessuales Erkenntnisinteresse Nach Auffassung von Krauß ist dem Verfahren gar nicht daran gelegen, umfassende Kenntnis von Umständen der Vergangenheit und Gegenwart zu erlangen. Funktion und Ziel des Strafprozesses brächten eine systematische Verkürzung mit sich. Es gehe im Verfahren nicht um die Offenlegung aller wissenschaftlich fassbaren sozialen Bedingungen und Zusammenhänge, sondern um die Produktion gleichartiger Entscheidungen in gleichförmiger Weise.113 Nicht die Vielfalt der Realität, sondern typisierende Leitbilder der sozialen Gegebenheiten habe der Prozess einzufangen und zu illustrieren. Schließlich funktioniere die Strafjustiz nur kraft eines funktionsfähigen Reglements. Das Strafverfahren müsse handlich und transparent sein, um für jedermann einsehbare Orientierungspunkte zu liefern. In einer derartigen Konzeption kommt es auf die Berücksichtigung individueller Belange freilich nicht an. Vielmehr steht die Veranschaulichung einer gesellschaftlichen Programmatik im Vordergrund. Auf diese Weise würden die strafrechtlichen Handlungsanweisungen mit Leben erfüllt. Die Forderung rechtsstaatlicher Gleichheit und Berechenbarkeit determiniere folglich einen gewissen Verlust an Realität, erreiche aber gerade deshalb eine psychologische Beeinflussung im Zuge plakativer, allgemeinverständlicher Umschreibung. Es könne mithin nicht die Rede davon sein, dass der Strafprozess die Erforschung objektiver Wahrheit zu optimieren habe. Das Bestreben nach möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung werde zwar nicht vollends aufgegeben oder bestritten, jedoch sei eine Reduktion von Komplexität unumgänglich.114 Die Wahrheit werde im Sinne einer straf113 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 418, in Auseinandersetzung mit Opp, Kritsche Justiz 1970, S. 383 ff.

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prozessualen Funktionalität simplifiziert.115 Folglich bilde sie selbst nicht den Zweck des Strafverfahrens ab. Sie stelle sich lediglich als Mittel zur Verwirklichung anderer Ziele dar.116 Tatsächlich ist es mit der Aufklärung des relevanten historischen Vorgangs auch nicht getan, denn das Ende des Strafverfahrens wird durch die Verkündung einer Entscheidung markiert und nicht durch die Verlesung eines Protokolls über den Tathergang.117 Auch die Entscheidung selbst betrifft nicht die Wahrheit der Behauptungen von Verletztem und Staatsanwaltschaft.118 Das Urteil ordnet eine bestimmte Rechtsfolge an. Das Verfahren soll also nicht lediglich eine Bestandsaufnahme der Wirklichkeit gewährleisten.119 Selbst wenn dies im konkreten Fall einmal gelingen sollte, findet das Strafverfahren hierin nicht seine Erledigung. Sähe man dies anders, wäre zu begründen, warum das Verfahren trotz Zweckerreichung noch fortgesetzt wird. Umgekehrt wird der Prozess aber nicht solange fortgeführt, bis sich verlässliche Aussagen über den wahren Tathergang treffen lassen. Die Unschuldsvermutung fordert, den Beschuldigten nicht für unbegrenzte Dauer im Unklaren über seine persönliche Situation zu belassen. Auch dem Opferinteresse ist durch eine endlose und eventuell fruchtlose Wahrheitsforschung nicht gedient. Der Prozesszweck verlangt auch für tatsächlich ausweglose Situationen Lösungen. Das Ziel der korrekten Wahrheitsermittlung wird diesem Erfordernis nicht gerecht. Letzteres ließe sich gegebenenfalls mit dem Einwand ausräumen, das Strafprozessrecht habe Mechanismen für Konstellationen bereitzustellen, in denen der angestrebte Zweck nicht (mehr) erreicht werden kann. An der Zweckverfolgung als Aufgabe würde sich dadurch nichts ändern. Schwerer wiegt indessen, dass die Inhalte und Bezugspunkte des Wahrheitsbegriffs zutiefst umstritten sind.120 Diskutiert werden etwa die Korrespondenztheorie, die Kohärenz- und Evidenztheorie sowie pragmatische und vermittelnde dialogische Wahrheitstheorien.121 Ein irgendwie lautender Kompromiss oder gar Einigkeit sind nicht in Sicht. 114 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 418 f., der sich damit in der Tradition der Arbeiten Luhmanns sieht. Wobei Luhmann, Legitimation, S. 7, eine allgemeine Verfahrenstheorie entwirft, die zu speziellen inhaltlichen Bedingungen konkreter Verfahren gerade keine Aussage treffen will. Verfahren sollen die Reduktion von Komplexität zwar intersubjektiv übertragbar machen, jedoch ging es Luhmann, Legitimation, S. 26, dabei lediglich um die Darstellung sozialer Beobachtungen. Es wäre fehlerhaft, aus seinen Erwägungen Rückschlüsse auf die Inhalte des Rechts anzustellen. Dazu auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 36. 115 Krauß, FS-Schaffstein, S. 411, 419; dazu auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 20. 116 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 181. 117 Weigend, Deliktsopfer, S. 178. 118 Adomeit, JuS 1972, S. 628, 632; Weigend, Deliktsopfer, S. 178 (dort in Fn 17). 119 Volk, Wahrheit, S. 11. 120 Dazu für die Juristerei Adomeit, JuS 1972, S. 628 ff.; J. Schmidt, JuS 1973, S. 202 ff., 204 ff.; Engisch, Wahrheit, S. 5 ff.; Spendel, JuS 1964, S. 465 f.; auch Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 79 ff.

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Paeffgen meint, das philosophische Problem der Begriffsklärung umgehen zu können. Zentral sei nicht das Anliegen der Ermittlung absoluter Wahrheit, sondern die Erhellung eines Sachverhalts, der auf entscheidungstheoretischer Ebene anzusiedeln sei.122 Paeffgen beabsichtigt letztlich, den Erkenntnisprozess im Verfahren soweit voranzutreiben, dass am Ende niemand mehr das Bedürfnis habe, weiter zu fragen.123 Die Wahrheit wäre dann allein von der Anerkennung einzelner Protokoll- und Beweissätze abhängig, in denen die jeweilige Sinneswahrnehmung mitgeteilt wird.124 Ob ein Protokollsatz als wahr akzeptiert wird, hänge von einem Beschluss der Beteiligten ab. Nach Auffassung Paeffgens ist eine in diesem Sinne funktionalisierte Wahrheit Gegenstand des Prozesses. Sie beschränke sich auf solche Tatsachen, die nach der materiell-rechtlichen Fragestellung als bedeutsam erscheinen können.125 Die Entscheidung hierüber trifft freilich der sitzungsleitende Richter. Er ist nicht gezwungen, die Auffassungen von Staatsanwaltschaft, Beschuldigtem oder Zeugen in seine Erwägungen mit einfließen zu lassen. Er hat sich eine eigene Überzeugung zu bilden. Die Zustimmung einzelner Beteiligter oder gar Konsens wird durch die Strafprozessordnung nicht gefordert. Mithin wird selbst dem pragmatisch-empirischen Wahrheitsbegriff nicht Genüge getan. Paeffgens Vorschläge, die die Beantwortung aller rechtlich bedeutsamen Fragen intendieren, laufen schlussendlich auf das Konzept einer Reduzierung von Komplexität hinaus, wie sie Krauß befürwortet hatte. Paeffgen selbst räumt ein, dass nur selektiv nach der Wahrheit geforscht werde und sieht hierin eine schlichte Notwendigkeit. Die Wahrheit als Erkenntnisgegenstand gebe es nur im Rahmen der jeweils gestellten Fragen126 und diese würden durch das materielle Recht vorformuliert. Tatsächlich soll im Prozess darüber befunden werden, ob ein Verhaltensnormverstoß vorliegt, der die Anwendung der Sanktionsnorm rechtfertigt. Insofern orientieren sich alle Fragestellungen an der materiell-rechtlichen Ausgangssituation. Das aber liefert keine Gewähr für die wahrheitsgemäße Beantwortung der als relevant skizzierten Fragestellungen. Die richtige Frage allein ist noch kein Garant für deren erschöpfende und zutreffende Beantwortung. Frage und Antwort haben also ganz verschiedene Bezugspunkte, die nicht in Eins gesetzt werden dürfen. Es kann mit anderen Worten einer Überprüfung zugänglich gemacht werden, ob die BeteiJ. Schmidt, JuS 1973, S. 202, 204 ff.; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 79 ff. Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17. 123 So die Formulierung von Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 80, der darauf hinweist, dass man sich in der Praxis gewöhnlich mit einem empirischen Wahrheitsbegriff begnüge. Paeffgen spricht dies nicht in dieser Deutlichkeit aus, jedoch ist hier die Grundlage seiner Erwägungen zu verorten. 124 Dazu Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 81. 125 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 18. 126 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 23. 121 122

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ligten von den ihnen zustehenden Kompetenzen im Prozess rechtmäßig Gebrauch gemacht haben; es kann auch darüber geurteilt werden, ob eine bestimmte Frage zur Sachaufklärung beiträgt oder als abwegig zu verwerfen ist. Darüber geben die Gesetze und Verfahrensordnungen Auskunft. Indessen ist es nicht möglich, den zur Entscheidungsgrundlage erhobenen Tathergang auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Das wird auch nicht verlangt. § 261 StPO erklärt die freie Überzeugung des Gerichts zum Gegenstand des Urteils, also eine subjektive Gewissheit, die ohne vernünftige Zweifel ist. Nichtsdestotrotz sieht Volk in der Wahrheit die notwendige Legitimation der Entscheidung; durch das subjektive Überzeugtsein könne der Richter die Verantwortung für die Verantwortlichkeits-Zuschreibung übernehmen.127 Nun kann der Richter aber nicht die Verantwortung für etwas übernehmen, das in der Welt als unangreifbare Größe nicht vorhanden ist. Wenn niemand die Wahrheit erkennt bzw. sie zu erkennen in der Lage ist, so kann auch der Richter für ihr Dasein nicht die Verantwortung übernehmen. Ihn trifft eine Verantwortlichkeit nur für das, was er selbst in den Händen hält, was sich seinem Verantwortungsbereich also zuordnen lässt. Das aber ist nur die korrekte und rechtmäßige Ausübung der ihm zustehenden Kompetenzen. Die pflichtgemäße Wahrnehmung der eigenen Aufgaben lässt im Richter eine subjektive Überzeugung reifen. Er darf seiner Amtspflicht128 nicht zuwider handeln und ist gehalten, wiederspruchsfrei zu agieren. Die Bürde der objektiven Wahrheitsermittlung wird ihm demgegenüber nicht überantwortet. Entscheidend ist indessen ein anderer Umstand: Sämtlichen skizzierten Ansätzen ist gemein, dass sie den Zweck des Verfahrens eng an die Rechtsprechungsfunktion des Richters knüpfen und daran, wie und mit welchem Ziel er diese wahrzunehmen habe. Unabhängig davon, welchen Wert man dabei dem Wahrheitsstreben beimisst, lässt sich eine Indifferenz gegenüber Mitwirkungsbefugnissen des Verletzten konstatieren; sie werden weder erzwungen, noch ausgeschlossen. Es ist deshalb zu untersuchen, ob sich an diesem Befund etwas ändert, wenn man sich von verfahrensinternen Aufgabenstellungen löst und die Bestimmung des Verfahrenszwecks auf einer gleichsam „höheren Ebene“ verortet.

Volk, Wahrheit, S. 11; auch Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 24. Dies wird durch die amtsrechtlichen Haftungsregeln unterstrichen: Regelmäßig ist die Amtspflichtverletzung der Bezugspunkt einer persönlichen Haftung. Hinsichtlich der richterlichen Tätigkeit wird dies durch § 839 Abs. 2 BGB explizit ausgesprochen. Dabei wird auf den Tatbestand der Rechtsbeugung verwiesen, für den die Verletzung objektiven materiellen oder prozessualen Rechts ausschlaggebend ist und somit der eigene Verstoß gegen gültige, beachtliche Gesetze. Nach neuerer und im Vordringen befindlicher Auffassung soll für die genaue Beurteilung des Sachverhalts eine differenzierte Betrachtung auf der Grundlage der richterlichen Amtspflicht vorgenommen werden, dazu etwa Lackner / Kühl, § 339 Rn 5; Behrendt, JuS 1989, S. 945, 948; SK-Rudolphi, § 339 Rn 12 – 17. Hier schließt sich der Kreis zur oben angebrachten Kritik der Wahrheit als tragendem Pfeiler des Verfahrenszwecks. 127 128

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5. Schaffung von Gerechtigkeit als Zweck des Strafverfahrens Nicht weniger populär als das Ziel der umfassenden Wahrheitsermittlung ist etwa die Auffassung, der Strafprozess habe die Aufgabe, Gerechtigkeit zu schaffen. Dabei ist der Begriff der Gerechtigkeit129 nicht minder schillernd als der Terminus „Wahrheit“.130 Gerechtigkeit gilt einerseits als erstrebenswerter, absoluter Höchstwert, andererseits aber als nicht abschließend definierbarer Grundbegriff der Ethik131; zumal die Jahrtausende alte Diskussion wesentlich durch weltanschauliche Belange beeinflusst ist.132 In grober Verallgemeinerung stellt die Gerechtigkeit einen Sollenswert dar, „den der Mensch im Anruf seines Gewissens erlebt, und zwar als dahingehend verpflichtend, ihn in den menschlichen Lebensverhältnissen zu verwirklichen. Demzufolge ist die Gerechtigkeit zugleich ein ethisches Verhaltensprinzip und zwar, wie bereits hervorgehoben, ein universalallgemein-menschliches Verhaltensprinzip.“133 Hieraus resultiert unmittelbar die Zweifelhaftigkeit des Unterfangens, mit prozessualen Mitteln Gerechtigkeit schaffen zu können. Denn der Richter trifft seine Entscheidung nicht nach menschenmöglicher Anspannung des eigenen Gewissens, sondern auf der Grundlage des ihn bindenden materiellen und formellen Rechts. Die Verhaltensprinzipien, denen er zu genügen hat, sind ebenso in den Gesetzen festgelegt, wie die, denen er zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung zu verhelfen hat. Es ist Paeffgen also zuzustimmen, wenn er zu bedenken gibt: „Das Verfahren mag noch so sehr am Prinzip der Waffengleichheit ausgerichtet sein, der Richter ein Ausbund an richterlichen Tugenden – Salomon in Person –, er könnte der ,Gerechtigkeit‘ in einem unspezifizierten Sinne nicht zum Sieg verhelfen, würde das materielle Recht z. B. die Begehung eines Bagatelldiebstahls mit dem Tode bestraft sehen wollen.“134 Die Gerechtigkeit als Meta-Modell wäre also dazu geeignet, 129 Dazu überblicksartig Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 309 ff.; auch Arthur Kaufmann, Gerechtigkeit, S. 27 ff. 130 Vgl. dazu Henkel, Rechtsphilosophie, S. 395: „Was nun aber ist Gerechtigkeit? Auf diese Frage gibt es eine Antwort als Definition ebensowenig wie auf die Pilatus-Frage: Was ist Wahrheit? Beide Begriffe, wie auch die des Guten und des Schönen, entziehen sich als Grund- oder Urbegriffe jeder Möglichkeit einer Definition.“ 131 Arthur Kaufmann, Gerechtigkeit, S. 27 f., der drei Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs hervorhebt: das Gleichheitsprinzip (als absolute und deshalb rein formale Größe), die Zweckmäßigkeit oder soziale Gerechtigkeit (als materiale Komponente mit nur relativer Gültigkeit) und die Rechtssicherheit (im Dienste der Funktionalität und kraft autoritativer Geltung). 132 Dazu Henkel, Rechtsphilosophie, S. 395. 133 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 395. 134 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 25, mit dem Hinweis, dass noch vor 150 Jahren die meisten Juristen in drakonischen Strafen nichts ungerechtes zu sehen vermochten. Der Topos Gerechtigkeit ist daher auch den jeweiligen zeitlichen Bedingungen bzw. dem temporären Ansichten innerhalb einer Sozietät unterworfen.

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die geltende Rechtsordnung schlechthin auf ihren ethischen Gehalt zu überprüfen. Die Rechtsanwendung selbst lässt Aussagen darüber nicht zu. Der Strafrechtspflege wird nicht selten die Aufgabe zugeteilt, die durch das Verbrechen gestörte Ordnung im Sinne der Gerechtigkeit durch die ausgleichende Strafe wiederherzustellen.135 Damit ist lediglich die Frage gestellt, ob dies mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Rechtssätzen auch gelingt. Letztlich wird somit auf die herkömmliche Strafzweckdiskussion zurückverwiesen. Über Strafzwecke aber lässt sich erst reflektieren, wenn die Strafe als Rechtsfolge schon feststeht. Ob diese nach den Gesetzen geboten ist, soll das Strafverfahren überhaupt erst klären! Diese Klippe wäre nur zu umschiffen, indem man die Verhängung der Strafe zum Verfahrenszweck erhebt. Nun will der Inquisitionsprozess aber ein erreichbares Maximum an Objektivität und Unvoreingenommenheit gewährleisten. Es soll nachgerade verhindert werden, dass die Eröffnung des Verfahrens das abschließende Ergebnis schon in sich trägt. Es ist nicht Ziel des Verfahrens, den Beschuldigten auch unbedingt einer Bestrafung zuzuführen. Jede andere Sichtweise käme einer Vorverurteilung gleich. Präjudizien wollen Anklage-, Untersuchungsund Offizialmaxime im Verbund mit der Unschuldsvermutung vermeiden. Die Bezugnahme auf die Straftheorie erlaubt mithin keinerlei Rückschlüsse auf den Zweck des Verfahrens. Wenn man die Gerechtigkeit als Verfahrensziel definiert, deutet man dies aber an. Wer die Gerechtigkeit zur Aufgabe der Strafrechtspflege erklärt, benötigt einen Täter, an dem das Gerechtigkeitsstreben demonstriert wird. Ob es einen solchen Täter auch gibt, ist aber gerade die Frage, die im Zuge der Durchführung des Verfahrens beantwortet werden soll. Schließlich soll auch dem Unschuldigen Gerechtigkeit zuteil werden. Er muss den Prozess als unbescholtener Bürger verlassen können. Niemand würde das bestreiten. Anderenfalls würde die Gerechtigkeit als Grundwert in ihr Gegenteil verkehrt. Das Verfahren würde für den Einzelnen zur Gefahr. Fraglich ist indessen, ob der Topos der Gerechtigkeit in derlei Konstellationen überhaupt bemüht werden muss. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Man stelle sich etwa vor, dass jemand beschuldigt ist, eine Sachbeschädigung begangen zu haben. Im Laufe des Verfahrens stellt sich heraus, dass lediglich eine bloße Sachentziehung vorliegt und auch der Tatbestand des Diebstahls nicht erfüllt ist. Es soll des weiteren unterstellt werden, dass sich eine Strafbarkeit nach den geltenden Vorschriften unter keinen Umständen begründen lässt. Alles andere als ein Freispruch kommt hier nicht in Betracht. Es mag darüber gestritten werden, ob das materielle Strafrecht aus Gründen der Gerechtigkeit und namentlich aus Gesichtspunkten der Vergleichbarkeit der Situationen anzupassen ist; ob sich also mit Hilfe der Anwendung irgendeiner Theorie der Gerechtigkeit ein weitergehendes Strafbedürfnis herleiten ließe. Dem Richter sind jedenfalls die Hände gebunden. Er ist daran gehin135 So insbesondere die Auffassung des vergeltungstheoretischen Lagers in der Tradition Kants.

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

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dert, auf Strafe zu erkennen. Das folgt nicht aus Erwägungen der Gerechtigkeit, sondern schlicht aus der korrekten Rechtsanwendung und der Wahrung der eingeräumten Kompetenzen. Ethische Gerechtigkeitsformeln spielen insofern gar keine Rolle.136 Wenn die Berücksichtigung der einschlägigen Normen durch die materiellen und formellen Rechtssätze gefordert wird, besteht kein Anlass, für die Ermittlung des Verfahrenszwecks auf ethische Meta-Erwägungen zurückzugreifen. Solcherlei Kriterien können für die Auswertung und Beurteilung des rechtlichen status quo herangezogen werden, sie verleihen dem Strafverfahren jedoch nicht seinen Zweck. Der Gerechtigkeit etwas näher zu kommen, ist das Ideal jeder Rechtsschöpfung, aber nicht Charakteristikum des Strafverfahrens.137 Paeffgen fügt dem pessimistisch hinzu, dass die Erreichung von Gerechtigkeit ein Ziel sei, „dessen Verwirklichung Menschen ex definitione versagt ist. Ideale können daher Menschenwerk mangels Erfolgsfähigkeit auch nicht rechtfertigen, auch nicht solches normativer Art.“138 Der oftmals unreflektierte Gebrauch des Wortes „Gerechtigkeit“ untermauert diesen Eindruck. Gerade für die Opfer wird vielfach Gerechtigkeit gefordert. Es dürften indessen Genugtuung, Bestrafungsnotwendigkeit, Reparation bzw. Rehabilitation gemeint sein. Solche Termini werden als Verfahrenszweck freilich nicht thematisiert.

6. Strafverfahren als Mittel zur Verbrechensbekämpfung Mit Argwohn wird die kriminalpolitische Tendenz zur Kenntnis genommen, das Strafverfahren als schlagkräftiges Instrument im Kampf gegen das Verbrechen zu begreifen.139 Dahinter verbirgt sich das Anliegen, effektivere Methoden zur Eindämmung der organisierten Kriminalität sowie des nationalen und internationalen Terrorismus zu entwickeln.140 Die Intention liegt darin, das materielle Strafrecht 136 Daneben stellt sich die Frage, ob es nicht so etwas wie eine Binnengerechtigkeit des Rechts gibt. Das soll hier allerdings dahingestellt bleiben. 137 Ähnlich Murmann, GA 2004, S. 65, 69 f.; auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 380. 138 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 25; Es gelte nicht nur der Grundsatz ultra posse est nulla obligatio, sondern auch legitimatio. Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, S. 511, 517, hält die Gerechtigkeit gleichwohl für erstrebenswert, meint aber sie werde im Strafverfahren durch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtskraft begrenzt. Er verkennt freilich, dass Topoi wie Rechtssicherheit, Praktikabilität und Invariabilität selbst als begriffliche Voraussetzungen der Gerechtigkeit diskutiert werden; sie tragen also zu den definitorischen Unschärfen zusätzlich bei, vgl. auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 191 ff. 139 Dazu kritisch Weigend, Deliktsopfer, S. 175 ff., unter Bezugnahme auf internationales Schrifttum. Kritisch zum Stil des Gesetzgebers hierzulande insbesondere Wohlers, GA 2005, S. 11, 12 ff. 140 Wohlers, GA 2005, S. 11, 12.

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schnell und unkompliziert durchzusetzen.141 Darüber hinaus soll freilich die Wirksamkeit generalpräventiver Strategien dokumentiert werden.142 Es bedarf keiner rechtstheoretischen oder -philosophischen Ausflüge, um den angeblichen Charakter des Strafverfahrensrechts als Verbrechensbekämpfungsinstrument abzulehnen, denn er ist fehlerhaft. Gegenstand des Verfahrens ist zunächst die Frage, ob eine Straftat überhaupt begangen wurde. Sie kann in ihrem Dasein nicht pauschal unterstellt werden. Ein gegenläufiges Ansinnen bringt selbstverständliche Garantien und Errungenschaften des Rechtsstaats ins Wanken. Die dem Beschuldigten zustehenden prozessualen Rechte werden gegenwärtig oftmals als Störfaktoren aufgefasst, die einer zügigen und öffentlichkeitswirksamen Aburteilung entgegenstehen.143 Bemerkenswerterweise bringt das die Forderung nach einer verbesserten Position des Opfers mit sich. Die Täterschaft des Verdächtigen scheint hingegen von vornherein festzustehen und unterliegt keinen nennenswerten Zweifeln. Dass „Täter“ und „Opfer“ bis zum ordnungsgemäßen Abschluss des Verfahrens nicht identifiziert sind, wird freilich nicht problematisiert.144 Ohne nachgewiesene Verfehlung bleibt der Prozess ohne feste Basis für das Ziel effektiver Kriminalitätsbekämpfung. Hierin kann der Zweck des Verfahrens daher nicht liegen.

7. Klärung des Tatverdachts als Verfahrensziel Weitaus elaborierter ist die u. a. von Weigend145 angeregte Konzeption. Er sieht den Zweck des Verfahrens in der Klärung des Tatverdachts und lässt sich dabei von der Erwägung leiten, dass eine Wiederherstellung des Rechtsfriedens sowie gewisse generalpräventive Effekte erzielbar seien, wenn man die Geltung des Strafrechts im Zuge des Prozedierens feierlich bekräftige.146 In diesem Sinne nehme die Klärung der Verdachtssituation eine Reihe flankierender Zielbestimmungen in sich auf147 und verleihe dem Strafverfahren eine gegenüber dem materiellen Recht autonome Funktion. Wichtig ist Weigend die Einsicht, dass der Verdacht einer Straftat auch in der sozialen Wirklichkeit als eine Störung empfunden werde. Dem Strafprozess er141 Wohlers, GA 2005, S. 11, 13 f., der dadurch sogar unverfügbare Grundfesten des Strafverfahrensrechts angetastet sieht. 142 So Weigend, Deliktsopfer, S. 175 f. 143 Wohlers, GA 2005, S. 11, 12. 144 Wohlers, GA 2005, S. 11, 13 sowie Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1 ff., 30 f. 145 Weigend, Deliktsopfer, S. 184 ff., 213 ff. 146 Weigend, Deliktsopfer, S. 217. 147 Murmann, GA 2004, S. 65, 70 f., ist dennoch der Meinung, die Auffassung Weigends greife zu kurz, weil die Leistung des Strafverfahrens von der Rechtsverletzung entkoppelt werde.

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wachse daraus die Aufgabe, diese Störung zu beseitigen.148 Das Bekanntwerden einer Straftat löse bei den unmittelbar Betroffenen und den ihnen nahestehenden Personen Beunruhigung aus. Daraus resultiere die Frage nach dem Urheber des Delikts. Außerdem seien dessen jeweilige Motive sowie das Ausmaß der fortbestehenden Bedrohung aufzudecken. Es bestehe ein Bedürfnis, die Ursachen und Auswirkungen der Tat zu verstehen. Das sei nicht nur ein individuell-viktimologisches Phänomen, sondern auch ein Befund, der innerhalb der Rechtsgemeinschaft wahrnehmbar sei. Ohne die Klärung des Tatverdachts bzw. ohne dass der Täter bekannt sei, stehe „die Tat als ungelöstes bedrohliches Rätsel im Raum, als Angriff aus dem Dunkel, der sich jederzeit wiederholen kann.“149 Solange die Bedrohung unbekannt sei, gebe es keine Möglichkeit, dieser Herr zu werden. Dafür benötige man den Täter. Mithin müsse die Gemeinschaft „an der Aufklärung der Urheberschaft, der näheren Umstände und der Motivation der Tat interessiert sein, da sonst die Wunde, die die Straftat geschlagen hat, offenbleibt und das Gleichgewicht der Gerechtigkeit nicht wiederhergestellt werden kann.“150 Dabei gehe es nicht in erster Linie um die prompte Verwirklichung irgendwelcher Strafzwecke, sondern nur um die bloße Feststellung des Tatgeschehens und seiner Hintergründe. Die Klärung des Tatverdachts solle einen Zustand herbeiführen, in dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich wieder beruhige.151 Die Zielvorgabe der Verdachtsklärung ermögliche es zudem, zwischen geglückten und erfolglosen Verfahren zu unterscheiden.152 Die eingetretene Störung des sozialen Friedens könne je nach Schwere der Tat variieren. Gleichwohl sei die Friedensstörung immer dann am stärksten, wenn lediglich das Faktum des Verbrechens, nicht aber ein individueller Tatverdächtiger bekannt sei.153 Dies werde gerade innerhalb kleinerer Gruppen eng verbundener und aufeinander angewiesener Menschen deutlich: „Das allseitige Mißtrauen und 148 Weigend, Deliktsopfer, S. 185, im Anschluss an Krauß, Unschuldsvermutung, S. 171, der aus der Unschuldsvermutung schloss, dass gegenüber dem Täter keine Vorgriffe im Hinblick auf die wahrscheinliche strafrechtliche Verantwortlichkeit zulässig seien. Der Verdächtige sei deshalb dem Anscheinsstörer im polizeirechtlichen Sinne vergleichbar. Maßnahmen seien folglich in dem Maße zulässig wie eine „Störung“ kraft des vorhandenen Tatverdachts vorliege. 149 Weigend, Deliktsopfer, S. 186. 150 Weigend, Deliktsopfer, S. 186. 151 Weigend, Deliktsopfer, S. 187. 152 Weigend, Deliktsopfer, S. 189, unter Bezugnahme auf Einstellungen und Freisprüche aufgrund des Prinzips „in dubio pro reo“: „Dahinter verbirgt sich weder Resignation noch gar die Preisgabe des Prozeßziels der Verdachtsklärung, sondern lediglich die Anerkennung eben jener vorgegebenen Grenzen, nachdem alle vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Mittel zur Klärung der Schuldfrage ausgeschöpft sind. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, die Definition des Prozeßziels müsse so beschaffen sein, daß sie ihr schützendes Dach auch über alle möglichen Fehlschläge breitet.“ 153 Weigend, Deliktsopfer, S. 213.

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die Angst jedes Gruppenmitglieds vor allen übrigen beherrschen dann das soziale Geschehen bis zu dem Zeitpunkt, in dem Gewißheit über die Tatverantwortung geschaffen wird.“154 Weigend setzt freilich beständig voraus, worüber das Verfahren erst Aufschluss geben soll: Liegt ein Verbrechen vor oder nicht? Sein Vorhandensein kann nicht einfach und pauschal unterstellt werden. Dass sich eine Straftat zugetragen hat, ist Gegenstand der Feststellung im abschließenden Urteil. Vorher hat man es lediglich mit einem Sachverhalt zu tun, der im Zuge des Verfahrens einer rechtlichen Bewertung unterzogen werden soll. So wie das Strafverfahren der Frage nach der Urheberschaft hinsichtlich einer mutmaßlichen Straftat nachgeht, so bleibt bis zur Beendigung des Prozesses unbeantwortet, ob ein in seinem status anerkennungswürdiges Opfer überhaupt vorhanden ist. Das Verfahren gibt also nicht nur Aufschluss über die Täterschaft, sondern über das Vorliegen einer Straftat schlechthin. Das Verfahren soll also erhellen, ob eine Bedrohung der Rechtsgemeinschaft durch Verhängung von Strafe auszuräumen ist oder nicht. Das aber kann im Einzelfall ganz unabhängig von der Problematik der Urheberschaft sein. Es sind zahlreiche Konstellationen denkbar, in denen die Urheberschaft in Bezug auf bestimmte Kausalverläufe völlig außer Streit steht. Gegenstand des Verfahrens mag etwa die ausschließlich rechtliche Auseinandersetzung darüber sein, ob eine in tatsächlicher Hinsicht feststehende Verhaltensweise sich unter den in Rede stehenden Straftatbestand subsumieren lässt oder nicht. Die Aufgabe des Prozedierens liegt dann darin, die Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Störung der Rechtsgemeinschaft zu präzisieren. Die Auflehnung gegen die jeweils maßgebliche Verhaltensnorm steht nicht von Anfang an fest und bedarf sodann nur noch der verfahrensmäßigen Beschwichtigung der verängstigten Allgemeinheit durch Präsentation eines Verdächtigen. Die Quintessenz der juristischen Konfliktbewältigung besteht vor allem in der neutralen und unvoreingenommenen Würdigung des Geschehenen. Die „Tat“ im juristischen Sinne ist deshalb frühestens mit dem sie bejahenden Urteil existent, vorher nicht. Die Verdachtsklärung ist demnach nicht in der Weise von selbstständiger Bedeutung, dass sie von der Frage der Rechtsverletzung geschieden werden könnte.155 Die Unschuldsvermutung entfaltet universelle Geltung. Sie verbietet es, einen beliebigen Rechtsgenossen vorzuverurteilen. In den Augen des Rechts sind bis zur endgültigen Feststellung des Gegenteils alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft Nicht-Täter. Ohne Täter aber gibt es auch die Tat nicht, denn der Verstoß gegen die relevante Verhaltensnorm kommt ohne den Adressaten, der sich gegen den Normbefehl auflehnt, nicht in Betracht. Die Straftat existiert nicht einmal als Faktum. Die Bevölkerung mag sich über gewisse Umstände beunruhigen. Von einer Beeinträchtigung des Rechtsfriedens kann trotzdem nicht die Rede 154 155

Weigend, Deliktsopfer, S. 213. Insoweit ist Murmann, GA 2004, S. 65, 70 ff., daher Recht zu geben.

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sein, denn diese muss durch das rechtsstaatlich durchgeführte Verfahren erst noch festgestellt werden. Nun ist kaum zu leugnen, dass die Verdachtsklärung im Strafverfahren von elementarer Bedeutung ist. „Nicht zufällig beginnt der Prozeß mit dem ,Verdacht‘ einer Straftat (§ 160 StPO) und endet im Urteil mit der Feststellung der für erwiesen erachteten Tatsachen (§ 267 Abs. 1 StPO). Schon im Verfahren soll [ . . . ] alles getan werden, um den Verdacht entweder zu erhärten oder zu entkräften.“156 Aus der dargelegten Kritik der Thesen Weigends ergibt sich noch nicht, dass die Verdachtsklärung als Prozessziel zu verwerfen wäre. Allerdings ist die konzeptionelle Einbeziehung der Rechtsfriedensidee ebensowenig aufrechtzuerhalten wie das alleinige Abstellen auf die zu ermittelnde Urheberschaft des Verdächtigen. Auch das „Faktum“ der Straftat verkörpert keinen unumstößlichen status quo, bei dem es nur noch um die Untersuchung der individuellen Verantwortlichkeit geht. Der Wortlaut des § 160 StPO unterstützt dies sogar, denn dort ist nicht nur vom „Verdächtigen“ die Rede, sondern vom „Verdacht einer Straftat“. Ihrem Vorliegen ist also mit strafprozessualen Mitteln nachzugehen. Im Aufkommen eines Tatverdachts allein liegt nach dem Bekunden der Strafprozessordnung noch keine Beeinträchtigung des Rechts, sondern lediglich die hypothetische Möglichkeit einer derartigen Störung. Zwischen Tatverdacht und Tat muss folglich sorgfältig unterschieden werden. Umgekehrt lassen sich Urheberschaft und Rechtsverletzung nicht voneinander trennen. Die Suche nach dem Verfahrenszweck muss dem Rechnung tragen.

8. Die Bestimmung des Verfahrenszwecks vom Prozessgegenstand her a) Das Strafverfahren als Instrument zur Bewährung des materiellen Rechts Für die Bestimmung des einschlägigen Verfahrensziels scheint der Prozessgegenstand der richtige Anknüpfungspunkt zu sein. Für das Strafrechtssystem konnte bereits festgestellt werden, dass es die Erhaltung der Integrität der Rechtsordnung bzw. der Rechtszuweisungsordnung zu erreichen sucht. Hieraus resultiert sein öffentlich-rechtlicher Charakter. Der Strafprozess dient mithin der Verwirklichung eines Rechts, dessen Durchsetzung allein dem Staat als Aufgabe zugewiesen ist. Dies folgt auch unmittelbar aus der Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Gleichzeitig erfüllt der Staat eine aus dem Staatszweck sich ergebende Pflicht.157 Nach diesem Verständnis bestätigt das Strafrecht das gegenseitige Anerkennungsverhältnis unter Freien und Gleichen.158 156 157 158

Weigend, Deliktsopfer, S. 187. Schon Ullmann, Lehrbuch, S. 18 ff. So auch explizit Murmann, GA 2004, S. 65, 70.

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Der Einzelne ist für das Recht konstitutiv. Wahrung und Durchsetzung seiner Subjektivität verleihen dem Staat Legitimität. Das Individuum hat mithin „begründend an dem teil, was in einem Staat als rechtliche Ordnung gelten soll, und er bestätigt die Rechtsgeltung in seinem Umgang mit anderen.“159 Die Entscheidung für die Freiheit des Einzelnen bildet das Fundament der Rechtsordnung und ihrer Gesetze. Ausbrüche, die das sorgsam geknüpfte Netz subjektiver Rechtsbeziehungen in Frage stellen oder gar zu zerstören drohen, werden durch den Staat nicht einfach erduldet. Das Gemeinwesen wehrt sich gegen Übergriffe auf sein tragendes Substrat. So erfüllt der Staat seine Rechtsschutzfunktion.160 Angriffe auf die Rechtszuweisungsordnung werden in den Normen des materiellen Strafrechts mit einer Sanktion bedroht. Solange der Einzelne den Verhaltensnormen nicht zuwiderhandelt, erfüllt das materielle Strafrecht seine verhaltenssteuernde Funktion, jedoch ist sein Anwendungsbereich damit nicht seiner ganzen Tragweite nach erschöpft; er ist nicht einmal eröffnet! Dies geschieht erst durch die Auflehnung gegen die materielle Verhaltensnorm bzw. durch das Versagen der verhaltenssteuernden Funktion. Erst hierdurch bekommt die Sanktionsnorm überhaupt eine praktische Relevanz. Die Festlegung oder Auferlegung der Strafe folgt freilich nicht automatisch aus dem Verhaltensnormverstoß, denn die Sanktion bringt einen Eingriff in die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers mit sich und unterliegt deshalb ihrerseits den strengen Bindungen des Rechts. Es sind stets die rechtlichen Bedingungen einzuhalten, unter denen die Verhängung der Strafe überhaupt nur in Betracht kommt. Diese Bedingungen sind in den Normen des Strafprozessrechts zusammengefasst. Die Anwendung des abstrakten Rechts auf den konkreten Sachverhalt ist eine gedankliche Leistung, die grundsätzlich auch außerhalb des Verfahrens erbracht werden kann.161 Jedoch gebietet das Rechtsstaatsprinzip und der aus ihm fließende Grundsatz der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns ein kodifiziertes Instrumentarium für den Umgang mit dem einer Straftat bezichtigten Einzelnen. Insofern ist die Existenz der Strafprozessordnung notwendige Selbstverständlichkeit. Damit wird nicht nur angedeutet, dass dem Strafprozessrecht eine dienende Funktion gegenüber dem materiellen Recht zukommt. – Es wird sogar behauptet, dass erst das Strafverfahrensrecht das materielle Strafrecht zu bewähren imstande ist. Es wird gern als unzutreffend bezeichnet, dass die Durchsetzung des Strafrechts nur im Verfahren möglich sei.162 Ebenso wie sich das Zivilrecht nicht nur im Prozess bewähre, setze sich auch das Strafrecht immer schon dann durch, wenn die ihm zugrunde liegenden Ge- und Verbote beachtet würden bzw. „wenn aufgrund der sittenbildend-generalpräventiven Kraft pönalisierte Rechtsverstöße unterblei159 160 161 162

Murmann, GA 2004, S. 65, 70 f. Dazu auch Ullmann, Lehrbuch, S. 2 ff. Murmann, GA 2004, S. 65, 72 ff. Etwa Weigend, Deliktsopfer, S. 194; auch Schroeder, NJW 1983, S. 137, 139.

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ben.“163 Demzufolge werde das materielle Strafrecht erst in letzter Linie im Strafprozess verwirklicht, nämlich erst dann, „wenn seine primären Mittel der Überzeugungsbildung und Gewöhnung versagt haben und es zu einer Straftat gekommen ist.“164 Diese Argumentation erfasst freilich nur die primäre Verhaltensnorm und das auch nur, insoweit dieser Genüge getan wird. Allein befindet man sich damit noch im Vorfeld der Strafrechtsmaterie. Die Anwendung des Strafrechts bzw. das Wirksamwerden der strafrechtlichen Vorschriften vollzieht sich erst mit dem Verstoß gegen die Verhaltensnormen. Mit Verhaltensweisen, die den Vorgaben des Rechts entsprechen, setzt sich das Strafrechtssystem überhaupt nicht auseinander. Die Einleitung des Strafverfahrens ist konsequenterweise von der vermuteten Rechtsverletzung abhängig. Erst wenn die Anwendung der Sanktionsnorm in Rede steht, ist das Strafrechtsregime gehalten, seine Wirksamkeit und Durchsetzungsmacht zu demonstrieren; erst dann steht die Erhaltung der Rechtszuweisungsordnung auf dem Spiel. Vorher fehlt hierfür der Anknüpfungspunkt. Hier liegt auch der wesentliche Unterschied zu den Mechanismen des bürgerlichen Rechts: Das Zivilrecht stellt den Beteiligten gesetzliche Mittel zur Verfügung, mit Hilfe derer sie in der Lage sind, die Übereinstimmung mit dem materiellen Privatrecht zu sichern, überprüfen zu lassen oder ins Werk zu setzen. Idealerweise geschieht dies auf freiwilliger Basis und ohne jegliche Einflussnahme durch den Staat.165 Gegebenenfalls gibt es die Möglichkeit, sich gerichtlicher Unterstützung zu bedienen bzw. die staatliche Zwangsgewalt für sich nutzbar zu machen. Ein Eingreifen des Staates kraft eigener Machtvollkommenheit ist gleichwohl ausgeschlossen. Der Prozessgegenstand unterliegt der privativen Disposition der Parteien. Selbst nach Eröffnung des Zivilprozesses bleibt es den Beteiligten überantwortet, inwiefern sie das materielle Recht bewähren wollen. Schließlich stellen sich Privatrechte als verzichtbare Rechte dar, von denen der Bestand der Gesamtrechtsordnung nicht mit unbedingter Notwendigkeit abhängt.166 Die Situation ist im Strafrecht eine völlig andere. Geltungskraft und Reichweite des materiellen Rechts sind dem Gutdünken des individuellen Willens gerade entzogen. Schon die Möglichkeit einer Auflehnung gegen den Verhaltensbefehl verpflichtet den Staat zum Tätigwerden. Da dieses Tätigwerden gewöhnlich mit Eingriffen verbunden ist, die nicht selbst zum Gegenstand privater Vereinbarungen Weigend, Deliktsopfer, S. 193 f. Weigend, Deliktsopfer, S. 194. 165 Dazu auch Ullmann, Lehrbuch, S. 19 ff. 166 Ullmann, Lehrbuch, S. 18 ff., 19: „Um desswillen bilden alle Erklärungen der Parteien, welche nach ihrer rechtlich massgebenden Bedeutung als Disposition über die Existenz oder den Umfang des Streitgegenstandes erscheinen, einen Bestandteil der Grundlagen, zuweilen die allein massgebende Grundlage, auf welche der Civilrichter sein Urteil stützen muss, auch wenn er überzeugt ist, dass dieses durch den Willen der Parteien hervorgerufene Urteil den Thatsachen nicht entspricht.“ 163 164

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gemacht werden können, ruft dies die Anwendung der strafprozessualen Regelungen auf den Plan. Die Bewährung der Strafrechtsnormen ist mithin nicht anders zu bewerkstelligen als in dem Spannungsverhältnis zwischen Staat und Bürger. Auf die staatliche Mitwirkung kann unter keinen Umständen verzichtet werden. Der Staat allein trifft die Entscheidung, ob die strafrechtlichen Ge- und Verbote im Zuge eines bestimmten Handelns noch be- oder schon missachtet wurden. Die strafrechtlichen Verhaltensbefehle sind nicht zur besonderen Inhaltsbestimmung der Disposition der Beteiligten anheimgestellt. Sie gelten in diesem Sinne absolut und können nicht durch relative Abmachungen abbedungen werden.167 Das Zivilrechtsregime lässt dies vom Grundsatz her zu, da die nähere Rechtsausgestaltung dem Bereich der individuell auszuübenden Grundrechtsgewährleistung angehört; zumindest findet sich das bürgerliche Recht mit dem Vorhandensein von Rechtsverletzungen ab, ohne dass der Staat kraft eigener Einflussmöglichkeiten regulierend eingreifen könnte. Im Bereich des Strafrechts muss der Staat selbst tätig werden! Die Bedeutung des Strafprozessrechts nimmt durch die Befürwortung einer dienenden Funktion nicht etwa ab. Im Gegenteil: Erst durch das Verfahren erlangen die Normen ihre Schärfe und Durchsetzungsfähigkeit. Ohne Verfahrensrecht stünden die materiell-rechtlichen Verhaltensanweisungen sowie die Sanktionsnor167 Das gilt freilich in einem generellen Sinne mit Bezug auf das, was als typisiertes Unrecht Eingang in den jeweiligen Tatbestand eines Strafrechtssatzes finden soll. Die Möglichkeit einer Einwilligung oder auch die eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses sind hiervon streng zu unterscheiden. Bei einem tatbestandsausschließenden Einverständnis liegt schon kein Verhaltensnormverstoß vor, weil dieser die Überwindung eines entgegenstehenden Willens zwingend voraussetzt. Die Verhaltensnorm lässt sich hier überhaupt nur mit Rücksichtnahme auf den wahren Willen des Betroffenen formulieren. Auch die rechtfertigende Einwilligung enthält keine Disposition über die Verhaltensnorm. Diese wird durch den Rechtsträger nicht berührt. Wie andere Rechtfertigungsgründe auch, steht der Verhaltensnormverstoß lediglich unter dem Vorbehalt, dass Erlaubnissätze nicht eingreifen. Damit wird der Situationsgebundenheit jeder Verhaltensanweisung Rechnung getragen, ohne die Rechtsfolgen auslösende Verhaltensweisen nicht sinnvoll von denjenigen geschieden werden könnten, in denen keine Rechtsfolgen zu gewärtigen sind. In diesem Sinne unterscheidet sich die Notwehr nicht von der rechtfertigenden Einwilligung. In beiden Fällen liegt ein Verhaltensnormverstoß, verstanden als typisiertes Unrecht, vor, der aufgrund der situativen Bedingungen jedoch keinerlei Rechtsfolgen auslöst. In dieser Feststellung würde sich auch der Strafprozess erschöpfen. Anderenfalls würde die Rechtsordnung in Widerspruch zu sich selbst geraten. Würde man das Notwehrrecht aberkennen, so würde dies mit der Verpflichtung einhergehen, beeinträchtigende Übergriffe dulden zu müssen, was dazu führte, dass die Freiheitsrechte sich wechselseitig aufheben könnten. Umgekehrt würde die Versagung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund einer situativen Bevormundung gleichkommen. Noch schwerer wiegt allerdings, dass sozial verträgliche oder sogar erwünschte Verhaltensweisen nicht länger vorgenommen werden dürften, wodurch im Einzelfall das freiheitliche Dasein geradezu dem Verfall preisgegeben würde. Man denke nur – Detailfragen der wissenschaftlichen Diskussion ausblendend – an die medizinische Heilbehandlung. Als profaneres Beispiel für geduldete Verhaltensweisen, die der jeweiligen Situation entsprechend einzuschätzen sind, mag der sportliche Bereich herhalten, namentlich etwa das Boxen.

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

265

men nur auf dem Papier und könnten im Bedarfsfalle nicht zu Leben erweckt werden. Sie wären ein zahnloses Gebiss. Es kann mithin nicht davon gesprochen werden, dass durch eine derartige Interpretation das Strafverfahrensrecht an eigenständigem Bedeutungsgehalt einbüßen würde. Es ist vielmehr so, dass das materielle Recht ohne das Vorhandensein von Verfahrensregeln ein kraftloses Instrument wäre. Es käme über den Charakter einer Ansammlung von Programmsätzen kaum hinaus. Es drängt sich freilich der Einwand auf, dass man die Verhängung der Strafe zum Ziel des Prozesses erklärte, wenn man die Bewährung des materiellen Rechts als zentralen Zweckgedanken identifiziert. Richtig sei zwar, dass die Durchführung des Verfahrens Voraussetzung für die Bestrafung sei. Mit diesem Befund gelange man aber nicht über den Satz hinaus, dass Strafen nur aufgrund eines „Strafverfahrens verhängt werden dürfen. Über das Ziel des Strafverfahrens ist damit nichts gesagt.“168 Indessen ist der Strafausspruch nicht zwingende Voraussetzung für die Bewährung des Rechts. Ein unangebrachtes Urteil, an dessen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen es in Wirklichkeit mangelt, würde die Legitimität des Staates in höherem Maße beeinträchtigen als ein freisprechendes Urteil, das den Schuldigen der Strafe aus Mangel an Beweisen entzieht. Die Effektivität der Strafverfolgung ist nicht von höherem Interesse als der Schutz vor einer Verurteilung auf unzureichender Grundlage.169 Insofern aber erfüllt der Strafprozess seine Aufgabe nicht nur durch die Feststellung der begründeten Strafe, sondern auch und gerade durch das Eingeständnis, dass die zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte für ein Strafurteil nicht ausreichen. Dadurch erst wird staatliches Handeln berechenbar.170 Die Bewährung des materiellen Rechts ist also regelmäßig das Resultat des durchgeführten Verfahrens. Fraglich und zu untersuchen bleibt gleichwohl, ob hierin auch sein Zweck liegt. In diese Richtung geht etwa die Auffassung Murmanns. Er erkennt das Ziel des Verfahrens in der Wiederherstellung des Rechts unter den Bedingungen der Unsicherheit. Auch Murmann betont, dass das materielle Recht allein durch Auswahl, Vertypung und Strafbewährung nicht geeignet ist, die Straftat zu bewältigen.171 Darüber hinaus setze sich die materielle Norm nicht mit der Frage auseinander, ob ein Rechtsbruch denn auch wirklich stattgefunden habe. Dieser werde immer schon vorausgesetzt. Tatsächlich aber bestehe regelmäßig eine Unsicherheit über die begangene Tat. Die begrenzte Leistungsfähigkeit und Aussagekraft des materiellen Strafrechts hinsichtlich des konkreten Lebenssachverhalts müsse das Strafverfahren beheben. Es stelle die notwendigen Instrumenta168 169 170 171

So etwa Weigend, Deliktsopfer, S. 193. Dazu auch Ullmann, Lehrbuch, S. 4 ff. Was Weigend, Deliktsopfer, S. 191, freilich auch nicht bestreitet. Murmann, GA 2004, S. 65, 70 ff.

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F. Zum Zweck des Strafverfahrens

rien zur Verfügung, um eine entsprechende Entscheidung mit interpersonaler Verbindlichkeit treffen zu können. Die Sanktionsnormen des materiellen Strafrechts würden lediglich einen deontologischen Sollenszusammenhang umschreiben, seien aber nicht in der Lage, dessen Verwirklichung zu gewährleisten. „Während nämlich das materielle Strafrecht durch Tatbestand und Rechtsfolge nur eine – vielfach konkretisierungsbedürftige – normative Vorgabe für die Wiederherstellung des Rechts auf der Basis einer als wirklich vorausgesetzten Rechtsbruchs gibt, liegt die Leistung des Strafverfahrens gerade darin, auf der Basis von Unsicherheit über einen – in tatsächlicher und in begrenztem Maße auch rechtlicher Hinsicht – nur möglichen Rechtsbruch die zur Wiederherstellung des Rechts erforderlichen Entscheidungen verbindlich zu treffen und so der Wiederherstellung ihre Wirklichkeit zu geben.“172 Murmanns Thesen greifen insofern zu weit, als sie auf die Wiederherstellung des Rechts rekurrieren. Dadurch wird auf eine bestimmte straftheoretische Konzeption Bezug genommen.173 Das Verfahren soll aber, um in der Terminologie Murmanns zu bleiben, erst die Frage beantworten, ob die Wiederherstellung des Rechts erforderlich ist oder nicht. Eine solche Zweckbestimmung erscheint ihrer Ausgestaltung nach zu ergebnisorientiert. Dem Rechnung tragend nennt Murmann die Bedingungen der Unsicherheit ausdrücklich als weiteren Bestandteil des von ihm hergeleiteten Verfahrenszwecks. Nun kann der Prozess jedoch genauso gut darauf hinauslaufen, dass eine Wiederherstellung des Rechts nicht angestrebt werden muss, weil sich das Geschehen als nicht strafbar herausstellt. Hier wiederum erweist sich die Argumentation Murmanns als etwas zu einseitig. Die Wiederherstellung des Rechts ist nicht nötig, wenn sich ein Rechtsbruch nicht zugetragen hat.174 Auch hierüber muss das Verfahren gegebenenfalls Aufschluss gewähren. Der Verfahrenszweck muss solche Konstellation mit einschließen. Der Ansatz Murmanns ist gleichwohl zutreffend und vertiefungsbedürftig: Die Normen des materiellen Rechts können nicht aus sich heraus Wirksamkeit erlangen. Materielle und formelle Rechtsnormen sind daher als Einheit von gleichrangiger Bedeutung zu betrachten. Das materielle Recht funktioniert ohne Verfahrensrecht nicht und umgekehrt. In diesem Sinne ist der jeweils (mögliche) Verhaltensnormverstoß Gegenstand der verfahrensmäßigen Abläufe.

Murmann, GA 2004, S. 65, 73 f. Was Murmann, GA 2004, S. 65, 70 ff., aber auch ausdrücklich bekräftigt. 174 Murmann, GA 2004, S. 65, 77, selbst bezeichnet es als richtig, dass die Ungewissheit nicht bereits für sich genommen Beeinträchtigung des Rechts durch einen Verdächtigen ist, „sondern eben nur die Einsicht in die Möglichkeit einer solchen Beeinträchtigung.“ 172 173

III. Allgemeine Zwecke des Strafverfahrens und Opferperspektive

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b) Suche nach dem Rechtsgrund als Mittel der Bewährung der materiellen Rechtssätze Es soll die Frage nach dem „Ob“ einer Auflehnung gegen Verhaltensnormen beantwortet werden. Diese aber trägt die Fragestellung nach dem entsprechenden „Wie“ schon in sich. Der Zweck des Verfahrens liegt damit in der Untersuchung des vermuteten Verhaltensnormverstoßes, der im Falle seiner Bejahung zur Anwendung der Sanktionsnorm führt. Es soll geklärt werden, ob Grund zur Bestrafung gegeben ist oder nicht. Die Suche nach dem normativ vorgegebenen Strafgrund stützt mithin den legitimen Zweck des Verfahrens. Wird der Verhaltensnormverstoß im Zuge der rechtlichen Würdigung bejaht, so ist der Zweck des Verfahrens erreicht: Den materiellen Rechtssätzen ist im Zuge der Bestrafung praktische Wirksamkeit zu verleihen. Es findet ein Verweis auf die Rechtsfolgenebene statt. Die Frage, inwiefern die gängigen Strafzwecke im Rahmen der Strafzumessung zur Geltung gebracht werden, schließt sich der Suche nach dem Rechtsgrund an. Der Eintritt der Rechtsfolge selbst muss feststehen. Die Erreichung des Verfahrenszwecks ist in diesem Stadium bereits vollzogen. Der Verfahrenszweck ist jedoch ebenso erreicht, wenn die Vermutung eines Verhaltensnormverstoßes im Prozess widerlegt wird. Weitergehende Fragen stellen sich dann nicht mehr. Auch in diesem Falle verwirklichen sich die Ideen der materiell-rechtlichen Vorgaben. Selbst im Falle der Einstellung des Verfahrens hat die Rechtsordnung ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis gestellt und den Bedeutungsgehalt ihrer Normen unterstrichen. Bereits die Suche nach dem „Ob“ eines Strafgrundes lässt die Geltungskraft und Durchsetzungsmacht der Rechtszuweisungsordnung offenbar werden. Allein schon die Verfahrenseröffnung dokumentiert, dass der im materiellen Recht zum Ausdruck gebrachte gemeinschaftliche Wille vor schädigenden Ausbrüchen Einzelner auf der Hut ist. Daraus erhellt: Der Zweck des Verfahrens liegt in der Bewährung des materiellen Rechts im Zuge der Suche nach dem materiell-rechtlichen Strafgrund. Die Klärung des Tatverdachts ist hierzu das gebräuchliche prozessuale Mittel. Zur Anwendung des einschlägigen Verfahrensrechts kommt es immer dann, wenn die Rechtszuweisungsordnung gestört erscheint. Bereits dieser Zustand wird als gefährlich empfunden und soll durch Klarheit beseitigt werden. Murmann wie Weigend geben also richtigerweise zu bedenken, dass schon die Ungewissheit über bestimmte Umstände ein gewisses Gefährdungspotential birgt. Die tatsächliche Suche nach dem jeweiligen rechtlichen Strafgrund bzw. nach seinem Bestehen soll diese Ungewissheit ausräumen. Die Zweckerreichung kann sodann entwarnende Wirkung haben oder aber den anfänglichen Eindruck bestätigen. Wichtig ist insofern nur, dass der Verfahrenszweck beiderlei Richtungen erfasst. Freilich gibt es Konstellationen, in denen sich der Verhaltensnormverstoß weder bekräftigen, noch widerlegen lässt. Der Verfahrenszweck ist dann nicht zur Gänze

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F. Zum Zweck des Strafverfahrens

ins Werk gesetzt. Gleichwohl ist diesem gedient worden. Denn schließlich bestätigt schon die Einleitung des Verfahrens die Unduldsamkeit der Rechtszuweisungsordnung gegenüber Erschütterungen. Zumindest der Wille zur Wehrhaftigkeit ist hier nach außen demonstriert worden. Abseits davon ist es eine rechtstatsächliche und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, dass jede Untersuchung das Risiko der Unerweislichkeit einzelner Umstände in sich trägt. Die Zweckverfolgung wird hierdurch jedoch nicht in Frage gestellt. Es werden lediglich die Grenzen der menschlichen und juristischen Erkenntnisfähigkeit offenbar, die ebenfalls einer verfahrensmäßigen Handhabung zugänglich zu machen sind. Legitimität erfährt der in diesem Sinne abgesteckte Verfahrenszweck dadurch, dass dem Staat, der sich dem Schutz der Freiheit seiner Bürger verschrieben hat, auch die Instrumentarien in die Hände gelegt sind, diesem Ansinnen realiter Nachdruck zu verleihen. Das schließt die verfahrensmäßige Überprüfung des status quo mit ein, wenn Anlass zur Annahme besteht, dass die Gewährleistung der Freiheit durch Dritte Beeinträchtigt worden ist. Es lässt sich daher resümieren, dass die verfahrensmäßige Suche nach dem Rechtsgrund einer eventuellen Bestrafung die materiellen Rechtssätze im Positiven wie im Negativen bewährt. Materielles Strafrecht und Strafprozessrecht bilden insofern eine unauflösbare Einheit. Auf die Betonung eines eigenständigen Bedeutungsgehalts des Verfahrensrechts kommt es gar nicht mehr an, denn die einzelnen Straftatbestände des Strafgesetzbuches erlangen volle Wirksamkeit nur über ihre prozessuale Würdigung durch die dafür zuständigen Organe. Bereits die Eröffnung des Verfahrens zeigt die Wachsamkeit der Rechtsgemeinschaft gegenüber Angriffen an. Eines abschließenden Strafurteils bedarf es dafür nicht zwingend. Der Strafprozess erreicht seinen Zweck kraft der ihm zugedachten Aufgabe, die Durchsetzungsfähigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtszuweisungsordnung zu demonstrieren. Dafür genügt das praktische Vorhandensein einer hinreichenden Wachsamkeit. Die rechtsförmliche Suche nach dem materiellen Rechtsgrund nimmt insofern alle Ziele des Strafrechtssystems in sich auf und vereinigt das Anliegen der umfassenden Gewährleistung von Freiheit mit der Notwendigkeit einer effektiven Wehrhaftigkeit bei Wahrnehmung individueller Alleingänge.

IV. Konsequenzen für den Verletzten Dadurch werden die verfahrensmäßigen Einflussmöglichkeiten der Opfer freilich weiter verengt. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen materiellem und formellem Recht zwingt dazu, die rechtstheoretischen Ideen der materiellen Vorschriften im Verfahrensalltag Wirklichkeit werden zu lassen. Individuelle Belange können folglich nicht im Zentrum der Ausgestaltung des Strafverfahrens stehen. Im Vordergrund steht nicht die Bedürfnisbefriedigung zu Gunsten einzelner Rechtsgenossen, sondern die Anwendung der materiellen Strafrechtssätze, an de-

IV. Konsequenzen für den Verletzten

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ren Befolgung die im Staat verfasste Allgemeinheit die Berechtigung hat. Da dies nicht Selbstzweck ist, hat eine stete Rückbindung an Inhalt und Stellenwert subjektiver Rechte zu erfolgen, zu deren Wahrung und Verwirklichung der Staat verpflichtet ist. Dies bedingt zwingend eine Rücksichtnahme auf die wirklichen Opfer, denn in ihrer Betroffenheit wird die Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung – wenn sich diese im Prozess bestätigt – offenbar. Daraus erhellt: Den staatlichen Strafverfolgungsorganen, die als verlängerter Arm der Allgemeinheit fungieren, obliegt die Einschätzungsprärogative über das „Ob“ der Aufarbeitung eines Sachverhaltes im Wege der strafprozessualen Klärung. Die Bejahung subjektiver Rechte als Institute steht nicht zur Disposition Einzelner. Das Individuum ist nicht in der Lage, den Willen der Allgemeinheit durch eigene Wertungen zu ersetzen. Dieser Grundsatz kann nur durchbrochen werden, um die institutionelle Garantie subjektiver Rechtspositionen im Einzelfall nicht zu entwerten. Wertungswidersprüche gilt es so zu vermeiden; die Geltungskraft der Rechtszuweisungsordnung wird auf diese Weise unterstrichen. Die Ausnahmen bestätigen also nur die Regel. Es wird noch festzulegen sein, in welchem Umfang dies geschehen muss und welche subjektiven Rechtspositionen damit angesprochen sind. Auch das „Wie“ des Prozesses bleibt durch diese Erwägungen nicht unbeeinflusst. Schließlich ist die Allgemeinheit den subjektiven Rechten verpflichtet, nicht aber dem subjektiven Willen im Sinne eines Genugtuungsstrebens oder sonstigen subtilen Eigennutzerwägungen. Es ist nicht dem einzelnen Bürger überantwortet, die Suche nach dem Rechtsgrund für eine Bestrafung verfahrensmäßig voranzutreiben. Diese Aufgabe ist dem Individuum sogar entzogen, denn die Institutsgarantien dürfen nicht über den Umweg einer auf den Einzelnen übertragenen Wahrnehmungskompetenz unterlaufen werden. Vor diesem Hintergrund sind die konkreten Institute der Strafprozessordnung zu beleuchten, die dem Verletzten Teilhabe- und Mitwirkungsbefugnisse zugestehen. Bedeutungsgehalt und Tragweite der Gewährleistung subjektiver Rechte sind dabei umfassend in Rechnung zu stellen. Es ist mithin zu untersuchen, wie sich der strafrechtssystematisch abgesteckte Rahmen auf die Beurteilung der in der StPO statuierten Verletztenpositionen niederschlägt.

G. Verletzteninstitute I. Der Strafantrag Der Zweck des Strafprozesses scheint so beschaffen, dass auf den Willen oder die individuellen Präferenzstrukturen des Verletzten keinerlei Rücksicht zu nehmen ist. Mit dem materiellen Strafanspruch des Staates korrespondieren das Recht und die Pflicht zur Strafverfolgung von Amts wegen.1 Gleichwohl gestattet die Strafprozessordnung einige Durchbrechungen dieses Grundsatzes. Das bereitet nicht wenige rechtstheoretische Schwierigkeiten.2 Wenn allein das Unrecht, verstanden als Normbruch, Voraussetzung für die Verhängung einer Strafe ist, so leuchtet es zunächst kaum ein, die jeweilige rechtliche Reaktion vom Willen eines bestimmten Individuums abhängig zu machen.3 Wenn die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens den maßgeblichen Bezugspunkt der Strafe bildet, dann ist die Strafverfolgungstätigkeit Ausdruck eines allgemeinen Anliegens. Es muss daher verwundern, dass der Staat die Verwirklichung des öffentlichen Interesses gelegentlich unter den Vorbehalt eines ausdrücklichen Verlangens seitens des Verletzten stellt. Namentlich das Institut des Strafantrags legt die Entscheidung über das „Ob“ der Strafverfolgung in die Hände des Verletzten. Trotz der bestehenden Forderung nach einer möglichst gleichmäßigen Strafverfolgungstätigkeit liefern die Antragsdelikte ein Einfallstor für private Willkür. In der Vergangenheit lag hier die Ursache für teilweise harsche Kritik an der Existenz des Strafantrags.4 So hielt ihn etwa Binding für ein fundamental schlechtes Institut, weil er den Staat als Straf- und Strafklageberechtigten benachteilige und er dem Grundsatz der Gerechtigkeit abträglich sei. Schließlich müsse gleiche Schuld den gleichen Lohn finden. Ferner werde einer eventuellen gemeinen Gesinnung des Antragsberechtigten Vorschub geleistet, der mit seinem Recht schnöden Handel betreibe und sich gegebenenfalls zur Erpressung veranlasst sehe.5 Umge1 Dazu auch NK-Lemke, Vor § 77 Rn 1; LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 1; Jescheck / Weigend, Lehrbuch, S. 907. Mithin bedeutet es einen Widerspruch zur Offizialmaxime, wenn es ausnahmsweise eines verfahrenseinleitenden Initiativaktes durch individuelle Personen bedarf, MK-Mitsch, Vor § 77 ff. Rn 2. 2 Weigend, Deliktsopfer, S. 445 ff.; LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 2. 3 Weigend, Deliktsopfer, S. 445; LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 2. 4 Übersicht bei Aug. Köhler, Strafantrag, S. 6 (dort in Fn 3). 5 Binding, Handbuch I, S. 603 ff. Ähnliche Befürchtungen später bei Naucke, Hellmuth Mayer-FS, S. 565 ff.

I. Der Strafantrag

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kehrt werde derjenige Verletzte benachteiligt, dem das Anstandsgefühl den Mund schließe. Indessen werde der Straftäter aus unsachgemäßen Erwägungen heraus seiner gerechten Strafe entzogen.6 Nach Binding fand später auch Zipf deutliche Worte und sah im Strafantragsrecht eine unzulässige Verlagerung der Strafhoheit auf den Verletzten. Dadurch entstehe ein zufälliges und willkürliches Bild der Strafrealisierung. Es sei zwar richtig, nachteilige Konsequenzen für einzelne Betroffene verhindern zu wollen, jedoch dürfe jedenfalls keine Strafsanktion eintreten, wo sich der Staat seiner Strafrealisierung zu Gunsten des Einzelnen begeben habe.7 In der Literatur8 wird der Ausnahmecharakter der Strafantragsdelikte allenthalben betont.9 Indessen wird ihre Berechtigung inzwischen nicht mehr ernstlich in Zweifel gezogen. Lediglich die Reichweite des Strafantragsrechts ist gelegentlich Gegenstand von Diskussionen. Dabei wäre die Abschaffung des Strafantrags nur folgerichtig, wenn es nicht gelänge, ihn als Institut vor dem Hintergrund der relevanten strafrechtssystematischen Prinzipien und Zielsetzungen zu rechtfertigen. Die Begründung des Strafantrags und seine Einbettung in die staatliche Strafverfolgungstätigkeit fällt nicht leicht und ist bislang nicht zufriedenstellend geglückt. Gewöhnlich wird eine Gemengelage verschiedener Erwägungen zur Erklärung des Strafantrags herangezogen.10 So diene er etwa der Eindämmung der Strafbarkeit wegen Bagatelldelinquenz; andererseits sei es bei manchen Delikten erforderlich, auf die persönlichen Beziehungen der Beteiligten Rücksicht zu nehmen. Ferner stelle der Strafantrag vielfach ein wichtiges Instrument zum Schutze der Privat- und Intimsphäre des Verletzten dar, dessen Belange nicht ohne sein Einverständnis an die Öffentlichkeit gezerrt werden sollen. Man geht also üblicherweise von einer Dreigliedrigkeit der Motive für das Strafantragsrecht aus. Die jeweils einschlägige Begründung sei aus der Natur des betreffenden Antragsdelikts zu ermitteln.11 6 Wobei in Rechnung zu stellen ist, dass zu Bindings Zeiten selbst Verbrechen als Antragsdelikte ausgestaltet waren, vgl. dazu Aug. Köhler, Strafantrag, S. 34; LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 1. 7 Zipf, GA 1969, S. 234 ff., 243, 244, 245, der deshalb für den Erhalt der Antragsdelikte plädiert, um die Ablehnung der einschlägigen Verhaltensweisen im Rechtsbewusstsein aufrechtzuerhalten. Allerdings solle im Bereich dieser Tatbestände die Buße an die Stelle der Strafe treten. 8 MK-Mitsch, Vor § 77 ff. Rn 1 ff.; SK-Rudolphi, Vor § 77 Rn 1 ff.; Zielinski, H. Kaufmann-GS, S. 875, 883 ff. 9 „Fremdkörper im System“, LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 2. 10 Dazu Rieß, Gutachten, Rn 16., LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 4 ff. 11 Vgl. auch Schröter, Begriff, S. 19 ff.; auch MK-Mitsch, Vor § 77 ff. Rn 17, der herausstellt, dass den Antragsdelikten keine einheitliche ratio legis zugrunde liege. Auch Rieß, NStZ 1989, S. 102 ff., 104, meint, der Zweck des Strafantrages bestehe „entweder darin, bei geringfügigen Delikten den staatlichen Strafverfolgungsapparat nicht ohne ein ausdrückliches Strafverfolgungsinteresse eines Antragsberechtigten tätig werden zu lassen oder das besondere Nichtverfolgungsinteresse des Verletzten zu respektieren.“

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G. Verletzteninstitute

1. Kein einheitliches Begründungskonzept Versuche, das Strafantragserfordernis auf einen alle Antragsdelikte umfassenden Gedanken zurückzuführen, haben sich nicht durchsetzen können, was auch daran liegen mag, dass sie mitunter wenig reflektiert in den Raum gestellt wurden. So behauptete von Liszt, dass eine Reihe von Beeinträchtigungen nur dann für die Rechtsordnung von Bedeutung seien, wenn der Betroffene sie als Verletzung empfinde und annehme.12 Berner argumentierte bereits zuvor, dass die Missetat bisweilen gar nicht existiere, wenn der Verletzte in ihr kein schädliches Verhalten entdecken könne.13 Freilich verschwimmen damit die Grenzen zwischen unrechtsausschließender Einwilligung und Strafantragserfordernis.14 Es kommt hinzu, dass das Vorliegen eines Normverstoßes auch bei den Antragsdelikten nicht von der Zustimmung oder Ablehnung des betroffenen Rechtsgenossen abhängig ist. Es besteht ein Unterschied zwischen verletztem Rechtsgefühl und Rechtsverletzung.

2. Strafantrag als Ausdruck des Versöhnungsgedankens nach Maiwald Tragfähiger und diskussionswürdiger erscheint die von Maiwald entwickelte Konzeption. Er sieht den Grund für das Strafantragserfordernis in dem Umstand, dass es einer Strafreaktion nicht bedürfe, wenn zwischen Täter und Opfer auf andere Art und Weise bereits eine Versöhnung erreicht sei.15 Maiwald beruft sich dabei auf die historische Entwicklung des Strafantragsrechts, welches aus den Regelungen über die Nichtverfolgbarkeit von Injurien und leichten Körperverletzungen hervorgegangen sei. Das Gefühl, dass eine nachträgliche Willenshaltung des Verletzten zum Eingriff noch eine Bedeutung haben müsse, habe den preußischen Gesetzgeber dereinst veranlasst, von der Strafe abzusehen, wenn die Tat verziehen sei.16 Versöhne sich das Opfer mit dem Täter, „so wird das Gefühl der Unsicherheit und des Gefährdetseins, das für die Allgemeinheit durch die Deliktsbege12 Von Liszt, Lehrbuch (23. Aufl.), S. 195, der freilich zwei Gruppen von Antragsdelikten unterschied. Es sei ebenfalls in Rechnung zu stellen, dass das Verfahren mitunter mehr Schaden anrichte als die zu beurteilende Tat. 13 Berner, Lehrbuch (18. Aufl.), S. 328 (dort in Fn 1). 14 Ebenso Maiwald, GA 1970, S. 33, 35: „Findet sich der Verletzte nach der Tat mit dem Eingriff ab, so mag das im Einzelfall bei entsprechender Erklärung die zivilrechtliche Folge einer Genehmigung des Geschehens haben. Aber für die strafrechtliche Frage, ob der Eingriff ein tatbestandsmäßig-rechtswidriger Akt gewesen ist, ist eine solche nachträgliche Zustimmung bedeutungslos.“ 15 Hierin liege denn auch der gemeinsame Typus der Antragsdelikte, Maiwald, GA 1970, S. 33, 35 ff. 16 In formalisierter Form sei dies auch der Wille des heutigen Rechts, Maiwald, GA 1970, S. 36 ff.

I. Der Strafantrag

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hung entstanden ist, weichen, weil das Spannungsverhältnis, das im Sozialleben eingetreten ist, durch den Willen des Verletzten selbst aus der Welt geschafft ist.“17 Eine darüber hinausgehende Wiederherstellung des Rechtsfriedens mittels Strafe sei nicht mehr erforderlich. Mithin erfasse das Antragserfordernis kriminologisch-typische Situationen, in denen der Staat getrost auf Strafe verzichten könne, wenn dies dem Willen des Verletzten entspreche. Es sei charakteristisch für die Antragsdelikte, dass sie stets mit dem Versöhnungsgedanken in Verbindung zu bringen seien, weil sich bei ihnen Täter und Opfer typischerweise in einer spezifisch persönlichkeitsbezogenen Weise gegenüber stünden.18 Der Delinquent trete seinem Opfer nicht anonym entgegen. Vielmehr sei die Tat immer das Ergebnis schon vorher bestehender Beziehungen zwischen den Beteiligten. Der Tat fehle daher jede Zufälligkeit; sie sei regelmäßig gerade gegen die Person des Verletzten gerichtet. Das Moment der personenbezogenen Tatbegehung sei allen Antragsdelikten gemein, was gleichzeitig die Rechtfertigung dafür abgebe, dass der Staat von seinen Befugnissen keinen Gebrauch mache, wenn der Verletzte die Straflosigkeit des Täters präferiere. Was die Antragsdelikte kennzeichne, sei deren personaler Einschlag: „Dem Täter kommt es darauf an, gerade dieses Opfer zu treffen, und das Ganze basiert häufig auf Streitereien, die aus dem täglichen Miteinander hervorgegangen sind und sich auf diese Weise entladen. Hier erscheint durch eine Versöhnung der Parteien gleichzeitig die Beunruhigung für die Unbeteiligten beseitigt, weil dadurch auch für sie der Streitfall aus der Welt geschafft ist.“19 Bei den Offizialdelikten sei das anders. Für sie sei das Kriterium der Zufälligkeit charakteristisch. In der Rechtsgemeinschaft entstehe im Zuge der Tatbegehung das Gefühl, dass jeder Rechtsgenosse hätte betroffen sein können. Insofern wohne den Offizialdelikten ein egoistisches Moment inne. In kriminologischer Hinsicht gehe es nicht um die Schädigung eines ganz bestimmten Opfers, sondern um den eigenen Vorteil.20 Folglich fehle es hier an der inter-personalen Komponente. Fraglich ist indessen, ob der von Maiwald aufgestellte kriminologische Befund auch zutrifft. So gibt etwa Weber21 zu bedenken, dass sich die in der Praxis häufigen fahrlässigen Körperverletzungen sowie Straßenverkehrsdelikte in völliger Anonymität zutrügen und der Maiwaldsche Ansatz deshalb kaum durchzuhalten sei. Dieser Einwand geht allerdings ins Leere: So merkt Maiwald selbst an, dass der für die Antragsdelikte typische personale Bezug den Fahrlässigkeitsdelikten nicht zueigen sei. Deswegen zieht er hieraus den konsequenten Schluss, dass der Strafantrag dort unangebracht sei, wo es an der geforderten persönlichen Bezie17 18 19 20 21

Maiwald, GA 1970, S. 36 f. Maiwald, GA 1970, S. 37. Maiwald, GA 1970, S. 33, 37. Maiwald, GA 1970, S. 33, 37 f. Weber, JZ 1971, S. 490, 493.

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G. Verletzteninstitute

hung zwischen Täter und Opfer fehle.22 Der Vorwurf Webers trifft Maiwald also nicht. Ähnliches gilt hinsichtlich der von Weber ins Feld geführten Erwägung, dass es dem Delinquenten im Bereich von Straftaten in Zusammenhang mit dem gewerblichen Rechtsschutz sowie dem Urheberrecht ausschließlich auf den eigenen Vermögensvorteil ankomme und ihm meist nicht einmal bekannt sei, wer der geschädigte Rechtsinhaber ist.23 Diesbezüglich nimmt Maiwald das genaue Gegenteil an und bejaht auch hier das Vorliegen der für das Strafantragserfordernis nötigen personalen Komponente. Schließlich sei ein ganz bestimmter Kreis von Mit-Wettbewerbern durch das strafbare Verhalten benachteiligt. Die am Markt beteiligten Akteure seien dem Delinquenten überdies bekannt, was auch dadurch gestützt werde, dass übergeordnete Interessenverbände (deren Mitglieder die Wettbewerber regelmäßig seien) die Wettbewerbssituation beobachteten und überwachten.24 Der Verletzte sei für den Täter also gerade nicht „quivis ex populo“, wie Weber behauptet. Die, verglichen mit Weber, sehr differenzierte Argumentation Maiwalds ist für sich genommen jedoch noch nicht geeignet, seiner Konzeption jeglichen Makel zu nehmen. Denn das personale Gepräge der Antragsdelikte bleibt eine Unterstellung, für die es keinen kriminologischen Beleg gibt, der sich im Maiwaldschen Sinne verallgemeinern ließe. So sind eine Vielzahl von Sachbeschädigungen das Ergebnis von bloßem Vandalismus.25 Die Person des jeweiligen Geschädigten ist hier ganz gleichgültig.26 Die Verwirklichung eines Antragsdelikts scheint daher nicht weniger zufällig als die eines Offizialdelikts. Auch der Jagdwilderer dürfte eher am eigenen Vorteil interessiert sein als daran, in die Zuständigkeit eines ganz bestimmten Jagdberechtigten einzugreifen. Auch insofern treffen die Vermutungen Maiwalds nicht (generell) zu. Umgekehrt aber sind schwerwiegende Differenzen im persönlichen Bereich die Ursache vieler Tötungsdelikte, deren Verfolgung aber gerade nicht von einer Willensbekundung naher Angehöriger abhängig ist. Derartiges steht nicht einmal zur Debatte. Mithin gibt es keinen kriminologischen Befund, der dazu zwingt, einige Delikte für strafantragsbedürftig zu erklären und andere nicht. Darüber hinaus hält auch der von Maiwald vorgeschlagene dogmatische Ansatz einer näheren Überprüfung nicht stand. So behauptet er, dass der durch die Straftat Maiwald, GA 1970, S. 33, 43. Weber, JZ 1971, S. 490, 493. 24 Maiwald, GA 1970, S. 33, 37 f. 25 So auch Schröter, Begriff, S. 53: „Die Täter brechen Autoantennen von irgendwelchen Fahrzeugen ab, besprühen Hauswände, schneiden Autoreifen auf etc., ohne sich Gedanken darüber zu machen, wen sie durch ihr Verhalten schädigen.“ Schröter, Begriff, S. 54, weist ferner darauf hin, dass das Vorhandensein eines persönlichen Bandes sich mitunter sogar straferschwerend auswirkt, man denke nur an Versuche, die Heimtücke mit einem besonders verwerflichen Vertrauensbruch zu definieren, dazu dies., Begriff, S. 54; ähnlich auch Zipf, GA 1969, S. 234, 242 f. 26 Nichts anderes gilt für ein Massendelikt wie den Ladendiebstahl. 22 23

I. Der Strafantrag

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gestörte Rechtsfriede im Zuge der Versöhnung zwischen Täter und Opfer wiederhergestellt werde. Damit setzt er die Straftat als gegeben voraus. Ob ein entsprechendes Delikt verwirklicht wurde, soll aber durch das Strafverfahren erst erhellt werden und ist nicht der Einschätzung durch die Individuen überantwortet. Insofern bleibt das von Maiwald erwähnte, im Sozialleben wahrnehmbare Spannungsverhältnis ein bloßes Faktum ohne juristische Bedeutung, eine interpersonale Missstimmung, die erst im Zuge des durchzuführenden Verfahrens als Störung des Rechtsfriedens zu identifizieren ist. Die Konfliktparteien selbst haben weder die Mittel noch die Befugnis, durch eigenes Handeln den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Dieser steht generell nicht zur Disposition der Beteiligten. Die Versöhnung zwischen Täter und Opfer kann das Strafbedürfnis folglich schon deshalb nicht entfallen lassen, weil noch gar nicht festgestellt ist, ob ein solches überhaupt besteht. Es bleibt vorerst dabei, dass es nicht gelungen ist, die übliche Dreiteilung der Motive für das Strafantragserfordernis durch die Entwicklung einer einheitlichen Konzeption zu überwinden. Freilich aber sind die Kriterien der (noch) herrschenden Meinung nicht von allen kritiklos hingenommen worden.

3. Zur herkömmlichen Trias der Begründungsansätze a) Bagatellcharakter Das gilt vor allem für die These, mit dem Strafantrag habe der Gesetzgeber dem Bagatellcharakter etlicher Tatbestände Rechnung tragen wollen. Die Massenhaftigkeit einiger Delikte sowie der geringfügige individuelle Schaden seien vielfach nicht geeignet, ein öffentliches Interesse an der Verfolgung von Amts wegen auszulösen. An Vorschriften wie §§ 248 a, 248 b, 248 c sowie §§ 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3 und § 266 Abs. 3 StGB werde deutlich, dass das Antragserfordernis primär eine Entlastungs- und Entkriminalisierungsfunktion habe.27 Dies hängt freilich eng mit der Auffassung zusammen, der Strafantrag diene dem Schutz der Strafverfolgungsbehörden, deren Kapazitätsgrenzen anderenfalls gesprengt würden. Die Beschränktheit der zur Verfügung stehenden Mittel mache es unmöglich, jede Straftat zu verfolgen. Das Strafantragserfordernis sei somit der Versuch, zu weit geratene gesetzliche Formulierungen auf ein verfolgungswürdiges Maß zu reduzieren. Insofern sei der Strafantrag zugleich Kritik an der Reichweite des positiven Rechts.28 27 Zielinski, H. Kaufmann-GS, S. 875, 884 f. Die Entkriminalisierungsfunktion werde freilich mit dem Risiko erkauft, unerwünschter Willkür Vorschub zu leisten. Das führe zur Kommerzialisierung der kleinen Vermögenskriminalität (wie etwa „Fangprämien“) oder umgekehrt zu Pressionen gegenüber den Opfern vandalistischer Sachbeschädigungen. 28 So ausdrücklich Naucke, Hellmuth Mayer-FS, S. 565, 579 f.; die Zuständigkeit des Privaten im Strafprozess habe daher eine Korrekturfunktion. „Das Antragserfordernis bringt es

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Tatsächlich deutet die Motivation des Gesetzgebers hie und da auf solche Erwägungen hin.29 Allein ist auch damit ein lediglich faktischer Effekt angesprochen, der jedoch nicht als rechtliche Begründung herhalten kann. Denn warum sollte gerade der Verletzte die Entscheidungsbefugnis darüber haben, womit die staatlichen Verfolgungsorgane befasst werden und womit nicht? Die Kapazitätsgrenzen der Strafverfolgung führen nicht zu einem plötzlichen Überwiegen von Individualinteressen. Der Wille der Einzelperson gewinnt nicht dadurch an Relevanz, dass die Staatsanwaltschaft die Verfolgung von Amts wegen ablehnt. Zwischen beidem besteht keinerlei Zusammenhang. Schon gar nicht dient der Strafantrag der Formalisierung privater Streitigkeiten. Vielmehr sind alle mit der Strafverfolgung befassten Organe in jeder Phase des Verfahrens gehalten, pflichtgemäß und nach einem an der Bedeutung des Falles orientierten Ermessen zu entscheiden.30 Hierfür aber bedarf es des Strafantragsrechts nicht. Die §§ 153 ff. StPO ermöglichen es zwanglos, „auf Bagatellfälle nach rationalen, differenzierten, gleichmäßig angewandten und kriminalpolitisch überlegten Kriterien zu reagieren.“31 Die Mitwirkung Privater ist hierzu weder nötig, noch im Sinne der Prozessmaximen sowie des Prozesszwecks wünschenswert. Der Bagatellgedanke trägt das Strafantragsrecht jedenfalls nicht und scheidet aus der gern zitierten Dreiteilung der Begründungsstränge aus. Es fragt sich dann allerdings, worin der hinter Vorschriften wie § 248 a StGB stehende Gedanke zu sehen ist, scheint doch die Geringfügigkeit des Schadens der tragende Beweggrund für das Antragserfordernis zu sein.

b) Schutz der besonderen Beziehungen zwischen Täter und Opfer Großer Popularität erfreut sich der Vorschlag, die hinter dem Antragsprivileg sich verbergende Motivation im Schutz einer besonderen Beziehung zwischen Täter und Opfer zu sehen.32 Insbesondere die Regelung über den Familiendiebstahl wird gern als Beleg für diese Intention herangezogen. Zwar habe das Antragserfordernis keinerlei Einfluss auf den Grad des verwirklichten Unrechts, was daraus zu schließen sei, dass mit dem Eingreifen des § 242 StGB nicht etwa ein abgemilderter Strafrahmen verbunden sei.33 Jedoch werde deutlich, dass der Staat sich in hier zustande, daß die Zahl der Ermittlungen und Bestrafungen nicht uferlos wird.“, ders. S. 580. 29 Siehe BT-Drucks. 6 / 1552, wo es heißt, dass das Antragserfordernis automatisch eine Abschichtung zwischen harmlosen und schweren Delikten ermögliche. Dazu auch Schröter, Begriff, S. 24. 30 So auch Maiwald, GA 1970, S. 33, 35 ff. sowie Zipf, GA 1969, S. 234, 242. 31 Weigend, Deliktsopfer, S. 449. 32 So schon August Köhler, Strafantrag, S. 9; auch Zipf, GA 1969, S. 234, 242. 33 Zipf, GA 1969, S. 234, 242 f.

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Zurückhaltung übe, was ein unsachgemäßes Einmischen in familiäre Angelegenheiten anbelange. Der Staat gebe hiermit zu erkennen, dass bestimmte Delikte nicht so gemeinschaftsgefährdend seien, dass sie unter allen Umständen verfolgt werden müssten. Der Staat geriere sich als übereifrig, wenn er Angelegenheiten, die der Privatsphäre zuzuordnen seien, in eigener Sache übernehme und sich plötzlich als Hauptverletzter begreife.34 Dies führe letztlich zu einem Überwiegen des privaten Interesses, nicht gegen den eigenen Willen strafrechtlich in Schutz genommen zu werden. Das Delikt, dessen Verfolgbarkeit an das Antragserfordernis geknüpft sei, berühre eben zuvorderst private, nicht aber zugleich auch öffentliche Interessen. 35 Man müsse daher zwischen der Verletzung staatlicher Rechtsnormen und der Verletzung staatlicher Interessen unterscheiden.36 Indessen wird hier ein Fehlverständnis über Aufgabe und Funktion des Strafrechtssystems offenbar. Wie Zipf zutreffend anmerkt, kann die bloße Individualschädlichkeit oder reine Privatheit einer Schädigung die Eingliederung eines verbotenen Tuns in das Strafrecht überhaupt nicht rechtfertigen.37 Der Anwendungsbereich des Strafrechts ist immer erst eröffnet, wenn über die Beeinträchtigung der privaten Rechtssphäre hinaus auch eine Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung vorliegt. Es bedarf eines Angriffs auf das subjektive Recht als Institut. Erst dieser stellt die Geltungskraft und Durchsetzungsmacht der Rechtsordnung in Frage und fordert eine zurückweisende Reaktion im Zuge der Verdeutlichung des in Normen gefassten gemeinschaftlichen Willens. Allein das öffentliche Interesse an der Erhaltung der Rechtszuweisungsordnung verleiht dem Strafrecht seine Legitimation. Wo es bei der Betroffenheit der privaten Rechtssphäre bleibt, kommt dem Staat keinerlei Befugnis aus eigener Machtvollkommenheit zu. Die Anwendung bzw. Ingeltungsetzung des Strafrechts ist ihm dann versagt. Erst das macht ihn schließlich auch nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten berechenbar. Das Antragsprivileg ist demnach nicht das Ergebnis einer Verneinung jedweder öffentlichen Interessen. Diese werden nur nicht ins Werk gesetzt. Die Formulierung des Gesetzes selbst lässt dies im Übrigen erkennen. So ist die Strafverfolgung bei den bedingten Antragsdelikten vom Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses abhängig, wobei die Betonung auf „besonderes“ liegt, nicht aber auf „öffentlich“. Wo es an dieser Einschränkung fehlt – also bei den unbedingten sowie absoluten und relativen Antragsdelikten – besteht zwar ein öffentliches VerfolSo August Köhler, Strafantrag, S. 9. August Köhler, Strafantrag, S. 9 f.; in diesem Sinne auch Schröter, Begriff, S. 24; vgl. BT-Drucks. 10 / 3242, S. 11: „Die Möglichkeit, die Angelegenheit innerhalb der Gemeinschaft zu bereinigen und den häuslichen Frieden selbst wiederherzustellen, der durch eine Strafverfolgung empfindlich gestört werden könnte, soll offengehalten werden. Aus diesem Grund soll der Strafantrag auch in jedem Fall des Diebstahls und der Unterschlagung erforderlich sein.“ 36 August Köhler, Strafantrag, S. 9; kritisch Zipf, GA 1969, S. 234, 239. 37 Zipf, GA 1969, S. 234, 240. 34 35

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gungsinteresse, allerdings wird dieses aus einer Motivation, die noch offengelegt werden muss, tatsächlich nicht ausgeübt. Der Terminus „Schutz der Privatsphäre zwischen Täter und Opfer“ genügt mithin für sich genommen nicht, das Strafantragserfordernis zu begründen, denn ein Verbleib einzelner Angelegenheiten im Privaten und die Eröffnung der materiellen Strafbefugnis schließen einander aus. Insofern bleibt auch hier die Fragestellung nach der Begründung für die – insbesondere relativen – Antragsdelikte ohne befriedigende Antwort.

c) Wahrung besonderer Opferinteressen Es ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass die mit dem Inquisitionsprozess unter staatlicher Leitung einhergehenden umfassenden Aufklärungs- und Ermittlungsinteressen zu vielfältigen Kollisionen mit dem nachvollziehbaren Bedürfnis der Opfer an der Wahrung der eigenen Intimsphäre führen. Es liegt nahe, daraus den Schluss zu ziehen, die Verfolgung der Straftat stelle sich für den Verletzten mitunter als größeres Übel dar als die Entscheidung, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Schließlich gehe es darum, Schlimmeres zu verhindern.38 Eine derartige Konzeption lässt sich möglicherweise auch – und gerade – mit der Lehre vom subjektiven Recht aufrechterhalten. Immerhin fordert sie das Gemeinwesen dazu auf, um der Wahrung der individuellen Freiheit willen von seinen Kompetenzen Gebrauch zu machen bzw. hierauf im Einzelfall zu verzichten. Es ist ein völlig berechtigtes Anliegen, den Betroffenen vor einer Perpetuierung oder Intensivierung der erlittenen Rechtsverletzung zu bewahren. Es kann schwerlich im Sinne der staatlichen Strafverfolgung sein, einzelnen Personen ohne überwiegende, wesentliche Gründe weitere psychische oder sogar physische Beeinträchtigungen zuzumuten.39 Einmal mehr fragt sich jedoch, ob hiermit auch eine Begründung für das Antragsprivileg geliefert werden kann. So sind die Antragsdelikte ausschließlich im Bereich der minderschweren Kriminalität aufzufinden. Viktimisierungen kommen hier zwar vor40, bilden jedoch eher eine Ausnahmeerscheinung. Es nimmt sich daher befremdlich aus, in diesen Gefilden eine Verallgemeinerung vorzunehmen, die ein ganzes Institut zu tragen imstande ist. Dazu musste der Viktimisierungsgedanke – soweit ersichtlich – bislang auch nicht herhalten, ist er doch nur als ein Pfeiler neben dem Geringfügigkeitsprinzip und dem Schutz einer engen TäterOpfer-Beziehung aufgefasst worden. Mit dem Wegbrechen dieser beiden Motive 38 Schon Berner, Lehrbuch, S. 328 (dort in Fn 1); dazu ferner August Köhler, Strafantrag, S. 6 ff. (dort insbesondere in Fn 3). 39 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 452. 40 Dazu das Anfangskapitel; erinnert sei aber etwa an den Hausfriedensbruch, der sich kriminologisch als sehr geeignet erwiesen hat, starke Viktimisierungen hervorzurufen.

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stehen jedoch auch bei Befürwortung diverser Opferschutzerwägungen eine Reihe von Antragsdelikten ohne präzisere dogmatische Fundierung im Raum. Andererseits lässt sich eine Abschaffung des Strafantragserfordernisses aber nur dann fordern, wenn Zweck- und Prinzipienwidrigkeit zweifelsfrei erwiesen sind. Das aber ist noch nicht geschehen. Vielmehr ist der Frage nachzugehen, ob der Strafantrag sich nicht doch auf ein gleichsam vor die Klammer gezogenes Prinzip zurückführen lässt.

4. Rechtsnatur und Wirkungsweise des Strafantrags Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass auch über Rechtsnatur und Wirkungsweise des Strafantrags keine Einigkeit erzielt ist. Die herrschende Meinung betrachtet ihn als Verfahrensvoraussetzung, von deren Vorhandensein die Zulässigkeit des Strafverfahrens abhängig sei.41 In negativer Formulierung gilt das Fehlen des Strafantrags als Verfahrenshindernis.42 Indessen findet eine echte Diskussion um die dogmatische Eingruppierung des Instituts kaum mehr statt.43 Zuletzt hatte Maiwald dem Strafantragserfordernis einen materiell-rechtlichen Gehalt zugesprochen.44 In der neueren Literatur vertritt Rudolphi die Lehre von der Doppelnatur des Strafantrags.45 Sieht man im Strafantrag ein Instrument rein verfahrensrechtlichen Charakters, so verbindet sich damit die Konsequenz, dass die materiell-rechtliche Qualität der jeweiligen Tat unberührt bliebe. Die Unterlassung der Antragstellung hätte also nicht etwa die Straflosigkeit des betreffenden Verhaltens zur Folge.46 Das Fehlen des Strafantrages verhindert dann nur das Entstehen des Prozessrechtsverhältnisses, die materielle Strafberechtigung wird hingegen nicht tangiert.47 Tatsächlich umfasst der Begriff der Prozessvoraussetzung alle positiven und negativen Umstände, die für Entstehung und Fortbestand des ProzessrechtsverhältNur MK-Mitsch, Vor §§ 77 ff. Rn 10. Weigend, Deliktsopfer, S. 444 ff., weist richtigerweise darauf hin, dass der Strafantrag kein Offensivrecht verleiht, sondern dem Verletzten die Möglichkeit der Verfahrensverhinderung einräumt. So auch MK-Mitsch, Vor §§ 77 ff. Rn 10. 43 Vgl. etwa NK-Lemke, § 77 Rn 2, der die Rechtsnatur des Strafantrags zwar ausdrücklich als umstritten bezeichnet, ansonsten aber keinen Zweifel an dessen Zuordnung zum förmlichen Recht aufkommen lässt. Ähnlich Sch / Sch-Stree / Sternberg-Lieben, § 77 Rn 8. 44 Maiwald, GA 1970, S. 33, 38 f. 45 SK-Rudolphi, Vor § 77 Rn 8, wobei den prozessualen Gesichtspunkten ein Übergewicht zukomme. 46 Nur MK-Mitsch, Vor §§ 77 ff. Rn 11. 47 Zipf, GA 1969, S. 234, 237 f. Die materielle Strafberechtigung entstehe auch bei den Antragsdelikten im Augenblick der Tatbestandserfüllung und sei von der späteren Antragstellung völlig autonom. 41 42

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nisses maßgeblich sind.48 Die Definition nimmt auf materiell-rechtliche Gesichtspunkte keinerlei Bezug. Über rein prozessuale Wirkungen ginge der Strafantrag erst dann hinaus, wenn seine Nicht-Stellung Ausschlag auf die Entstehung des staatlichen Strafanspruchs hätte bzw. dessen Inhalt modifizieren würde. Dazu aber müssten nach hergebrachter Auffassung Art und Umfang der Bestrafung zumindest teilweise in die Hände des Antragstellers gelegt sein. Denkbar ist auch, dass sich das Antragserfordernis als Bedingung der Strafbarkeit darstellt.49 Hierin aber liegt ein wichtiger Anknüpfungspunkt: Die Klärung der materiellen Rechtslage ist ohne Verfahren nicht durchführbar. In diesem Sinne erweist sich das materielle Recht vom Verfahrensrecht abhängig. Schon die Eröffnung des Verfahrens dokumentiert die Wehrhaftigkeit der freiheitlichen Rechtszuweisungsordnung. Daraus allein aber resultiert noch nicht das Vorliegen des Delikts selbst. Das Verfahren soll Aufschluss darüber geben, ob eine Auflehnung gegen die Normen des materiellen Rechts überhaupt bejaht werden kann. Bis zu einem die Rechtsverletzung feststellenden Urteil ist eine solche nicht existent. Mithin kann der Bruch der materiellen Verhaltensbefehle bis zu diesem Zeitpunkt nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Das lässt freilich Rückschlüsse auf die dogmatische Natur des Strafantrags zu: Es ist unzweifelhaft, dass sein Fehlen das Entstehen oder den Fortbestand des Prozessrechtsverhältnisses verhindert. Die Frage nach einem Zuwiderhandeln gegen Normen des materiellen Rechts bleibt daher unbeantwortet, was im Rechtsstaat einer Verneinung der Rechtsverletzung gleichkommt. Jedenfalls wirkt sich die Unterlassung der Antragstellung in der Weise aus, dass eine Beurteilung der Strafbarkeit wenigstens zunächst nicht in Betracht kommt. Es lässt sich daher resümieren, dass dem Strafantrag entgegen der herrschenden Meinung eine Doppelnatur zukommt. Man könnte freilich der Auffassung sein, die Rechtsnatur des Strafantrags sei letztlich irrelevant, da sie als solche keine Folge nach sich ziehe.50 Allein greift eine solche Behauptung zu kurz. Gerade aus Opfersicht stellt es sich als durchaus erheblicher Unterschied dar, ob man im Strafantrag ein Verfahrenshindernis mit den dargelegten Konsequenzen für die materielle Rechtslage sieht oder lediglich eine Sachurteilsvoraussetzung. Hält man lediglich eine Verurteilung zu Strafe für Ullmann, Lehrbuch, S. 260; so auch August Köhler, Strafantrag, S. 17. Dazu insbesondere August Köhler, Strafantrag, S. 12: „Wenn eine Handlung z.Z. nicht vorgenommen werden kann, weil sie von einem ungewissen zukünftigen Ereignis abhängt, so ist eine Pflicht zur Vornahme eben noch nicht entstanden, sondern einstweilen bedingt. Die staatliche Strafpflicht [ . . . ] ist also bedingt bis zur Antragstellung. Sie ist vorher noch nicht gegeben.“ 50 Zielinski, H. Kaufmann-GS, S. 875, 889 f.; vgl. auch Naucke, Hellmuth Mayer-FS, S. 565, S. 581 f., der die dogmatische Struktur des Strafantrags für unerheblich hält, interessant seien lediglich dessen Aufgabe und Reichweite; vgl. ferner LK-Jähnke, Vor § 77 Rn 7, der alle dogmatischen Ansätze in Gegensatz zur „gewohnheitsrechtlich verfestigten Rechtspraxis“ stellt. 48 49

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ausgeschlossen, so wäre die Durchführung des Prozesses gleichwohl statthaft. Die Konfrontation mit dem Täter bliebe dem Verletzten trotz des eingeräumten Antragsprivilegs nicht erspart.51 Zu untersuchen ist deshalb, ob auf solche opferbezogenen Umstände im Einzelfall Rücksicht zu nehmen ist. Darauf wird indes keine Antwort zu finden sein, ohne dass eine tragfähige Begründung für die Statuierung des Antragsprivilegs geliefert ist.

5. Rechtsdogmatische Begründung des Instituts a) Individualität und Subjektivität als Basis Wie hervorgehoben, dient das Strafrechtssystem der institutionellen Garantie subjektiver Rechte und somit der Sicherung individueller Freiheitsbereiche. Hieraus resultiert das Erfordernis einer legitimatorischen Rückbindung der Strafrechtsordnung an die Belange des Einzelnen, ohne dass die Strafrechtspflege in die Hände der Individuen gelegt würde. Das schafft eine Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit der Strafverfolgungstätigkeit. Allgemeinwohl und Individualität bedingen einander und fordern einen sinnvollen Ausgleich zur Optimierung beider Komponenten. Der Staat ist gehalten, nicht über die Köpfe der Einzelpersonen hinweg zu entscheiden. Das bringt weitere Schwierigkeiten mit sich, denn das Individuum definiert sich keineswegs ausschließlich über die eigene Person, sondern nicht weniger über sein soziales Umfeld, insbesondere den sozialen Nahbereich. Die Gesellschaft besteht nicht lediglich aus der Summe autonomer Zellen. Mithin verkörpert der Staat mehr als nur ein abstraktes Normensystem; er bindet den Einzelnen in ein komplexes Netzwerk ein und bejaht zugleich eine Vielzahl emotionaler und mehrdimensionaler Bedürfnisse, die nicht immer rational begründbar sein müssen.52 Das zeigt sich etwa am Schutz von Ehe und Familie oder an der Gewährung von Religionsfreiheit. Der Einzelne ist nicht nur Staatsbürger, sondern auch Konsument, Mieter, Arbeitnehmer, Bruder, Schwester, Gläubiger etc. Nicht alle Werte einer Sozietät lassen sich mit Hilfe der Gemeinschaft oder dem Gewaltmonopol verteidigen. Dem trägt die Rechtsordnung Rechnung; am Grundrechtskatalog wird dies unmittelbar sinnfällig. Das Strafrechtssystem kann sich hiervor nicht verschließen. Der hervorgehobene Schutz einiger Rechte wird demzufolge auch im Bereich der Strafrechtspflege umgesetzt. Das Antragsprivileg ist hierzu ein Instrument.

51 Hierin läge die Konsequenz, wenn man zwischen Prozessurteil und Sachurteil unterschiede. Zu dieser Trennung Zielinski, H. Kaufmann-GS, S. 875, 881 ff., der die Unterscheidung freilich für entbehrlich hält. 52 Fleiner / Fleiner, Staatslehre, S. 41.

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b) Strafantrag als Schutzwall ausgewählter subjektiver Rechtspositionen Hier ist denn auch die Begründung für die Regelung über den Haus- und Familiendiebstahl anzusiedeln. Die Vorgaben des Art. 6 GG werden ins Werk gesetzt und gleichzeitig Widersprüche vermieden. In diesem Sinne dient der Strafantrag also dem Schutz subjektiver Rechte. Er ist ein Institut, das selbst der Sicherung der normativen Rechtszuweisungsordnung dient. Abseits von Ehe und Familie ist er nicht weniger angebracht. Der Individualität soll nicht von hoheitlicher Seite das Wort geredet werden. Die Forderung nach einer dosierten Anwendung des Strafrechts ist nicht von der expliziten Erwähnung eines besonderen Freiheitsrechts in der Verfassung abhängig. Vielmehr entfaltet hier die Anerkennung des ultima-ratio-Prinzips Wirkung. Der Umfang der Strafrechtsanwendung ist stets in erträglichen Grenzen zu halten.53 Das Antragsprivileg legt die Entscheidung über die Erträglichkeit in die Hände des Individuums. Die Strafrechtspflege folgt insofern dem jeweiligen Bekunden des in seinen konkreten Lebensverhältnissen betroffenen Bürgers. Auf diese Weise wird die Zuerkennung subjektiver Freiheitsrechte mit Leben erfüllt und eine Verfolgungstätigkeit, die den Einzelnen zum Spielball des öffentlichen Interesses macht, unterbunden. Der Gedanke trägt auch dort, wo die Geringfügigkeit des Vergehens den gesetzlichen Anknüpfungspunkt für das Antragserfordernis bildet. Der Betroffene soll selbst darüber befinden, ob er die weitere Beurteilung und Regelung des Sachverhalts in die Hände der Strafverfolgungsbehörden legt oder dies nicht für nötig erachtet. Es ist dem einzelnen Bürger überantwortet, selbst und aus eigener Kraft eine Lösung des Konflikts herbeizuführen oder den Mechanismen der amtlichen Ermittlungen den Vorzug zu geben. Natürlich stört das die Gleichmäßigkeit der Strafrechtspflege. Das Individuum unterliegt keinen besonderen rechtlichen Bindungen und sieht sich auch keinem öffentlich-rechtlichen Aufgabenkatalog gegenüber. Die Grundrechte entfalten keine absolute Wirkung. Der Antragsteller ist mithin nicht gehalten, den durch Art. 3 GG abgesteckten Rahmen zu berücksichtigen.54 Darunter leiden Offizialmaxime wie Legalitätsprinzip gleichermaßen. Außerdem wird ein Missbrauchsrisiko geschaffen und die Gefahr, dem Querulantentum Vorschub zu leisten.55 Nur der Staat ist als Wahrer des Rechts verpflichtet, auf störende Übergriffe willkürfrei und gleichförmig zu reagieren. Hieraus kann jedoch kein Argument gegen das Antragsprivileg destilliert werden. Schließlich findet keine rechtliche Überprüfung statt, ob der Verzicht auf den Strafantrag sich als rechtsmissbräuchlich oder unsachlich darstellt. – Die Missbrauchsmöglichkeit von Freiheit ist der „Preis von Freiheit und kann niemals Grund für die rechtliche Mißachtung von freien Entscheidungen 53 54 55

Nur Zipf, GA 1969, S. 234, 243 f. Dazu Stree, DÖV 1958, S. 172 ff., 174. Naucke, Hellmuth Mayer-FS, S. 565 ff.

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sein.“56 Aus Freiheit folgt Verantwortung. Der Einzelne wird als mündiges und verantwortungsvoll handelndes Wesen betrachtet, seine Erwägungen werden nicht hinterfragt. Damit erledigt sich jeder Argwohn gegenüber zweifelhaften Motivationen. Es bleibt dabei: Der Strafantrag dient selbst dem Schutz der Rechtszuweisungsordnung.

6. Ausweitung des Antragsprivilegs? Es scheint sich anzudeuten, dass manches sogar für die Ausweitung des Strafantragserfordernisses spricht. Vielleicht muss darüber nachgedacht werden, dem Verletzten ein generelles Veto gegen die Durchführung des Verfahrens einzuräumen, wenn und soweit er Risiken für seine Privatsphäre befürchtet. Tatsächlich ist das eigene Leben oder die körperliche Unversehrtheit nicht weniger privat als das Eigentum oder ähnliche antragsfähige Rechte. Allerdings würden Offizial- und Legalitätsprinzip de facto aufgegeben, wenn die Einzelperson die unumschränkte Befugnis hätte, unliebsame Verfahren von sich abzuwenden. In diesem Falle würde erreicht, was durch den Inquisitionsprozess gerade verhindert werden soll. – Der Schutz der Rechtszuweisungsordnung soll nicht den Schwankungen des individuellen Willens unterliegen. Genau dieser Missstand würde durch die Einführung eines allgemeinen Verletzten-Vetos jedoch heraufbeschworen. Selbst elementarste Rechte, die für den Bestand einer Rechtszuweisungsordnung zwingend erforderlich sind, würden der Beliebigkeit preisgegeben. Die Rechtsordnung könnte ihrer Schutzfunktion nicht länger genügen. Die Ideen des staatlichen Strafverfahrens würden unterwandert und konterkariert. Der Strafantrag eignet sich folglich nur für die Bewältigung der minderschweren Kriminalität, deren Nichtahndung die Rechtszuweisungsordnung (noch) verkraften kann, oder präziser: Der Strafantrag eignet sich in erster Linie für solche Verhaltensweisen, deren weitere Aufklärung und rechtliche Beurteilung für den Bestand der Rechtsordnung nicht von existentiellem Interesse ist. Allein die Randbereiche der Kriminalität können mit Hilfe des Strafantragsrechts vor gewissen Wertungswidersprüchen in Bezug auf die Gewährleistung von Freiheit bewahrt werden. Das Antragsprivileg etwa im Bereich der Tötungsdelikte zu implementieren, ist damit unbedingt ausgeschlossen. Nichts anderes gilt mit Rücksichtnahme auf die gerade hier zu verzeichnenden schwersten Viktimisierungen für den Bereich der sexuellen Selbstbestimmung.57 So ausdrücklich Zielinski, H. Kaufmann-GS, S. 875, 887. Als Beispiel sei die Sexualdelinquenz innerhalb der Ehe herausgegriffen, die in der rechtspolitischen Diskussion immer wieder die Gemüter erhitzt hat. Ein rücknahmefähiger Strafantrag (oder jede andere nachträgliche Widerspruchsmöglichkeit) würde darauf hinauslaufen, die sexuelle Selbstbestimmung als teilbar einzustufen; sie wird durch die Eheschlie56 57

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Die genauere Grenzziehung zwischen antragsfähigen und nicht-antragsfähigen Delikten richtet sich nach der Einschätzungsprärogative des den allgemeinen Willen repräsentierenden Gesetzgebers. Er ist aufgefordert, sachlich zu beurteilen, was innerhalb der Sozietät zu tolerieren oder noch verkraftbar ist und was nicht mehr. Starre Kriterien können insofern nicht geliefert werden.

7. Fazit: Einheitliche Begründung ohne flächendeckende Dimension Es zeigt sich, dass das Antragsprivileg auf einen einheitlichen Kern reduziert werden kann. Der Strafantrag legt die Entscheidung über die Verträglichkeit des Strafverfahrens sowie über die Zumutbarkeit amtlicher Ermittlungen in die Hände des von der staatlichen Tätigkeit in seinen Freiheitsrechten betroffenen Bürgers. Die Rechtsnatur des Instituts ist mitnichten gleichgültig. Nimmt man die freiheitssichernde Funktion des Strafantrags ernst, so dürfen die an sie geknüpften Erwägungen nicht unterminiert werden. Wird auf die Antragstellung verzichtet, so ist jeder weiteren staatlichen Ermittlungstätigkeit ein Riegel vorgeschoben; anderenfalls ginge verloren, was gerade erhalten werden soll. Schon das Verfahren dokumentiert öffentlich-rechtliche Wehrhaftigkeit und greift in die Freiheit der Beteiligten ein. Es bedarf keiner abschließenden Entscheidung, um einem Sachverhalt die Privatheit zu nehmen. Soll diese gewahrt bleiben, so bedingt dies die Notwendigkeit, den Strafantrag nicht lediglich als Sachurteilsvoraussetzung, sondern als Verfahrenshindernis zu begreifen. Jede andere Sichtweise ermöglicht die Art von Einmischung, zu deren Verhinderung das Antragsprivileg konstituiert ist. Ein davon abweichendes Ergebnis lässt sich auch nicht mit den Aufgaben des materiellen Rechts begründen, denn die Nicht-Durchführung des Verfahrens schlägt auf die materiellen Rechtsnormen durch. Ihre Verletzung ist ohne ordnungsgemäßen, rechtsstaatlichen Prozess nicht feststellbar. ßung in keiner Weise eingeschränkt. Demgegenüber mutet es befremdlich an, schlicht auf das angebliche Wesen der Ehe als Hort geschlechtlicher Beziehungen zu verweisen, weshalb eine schrankenlose Strafverfolgung die Chance zur Rettung der Ehe erheblich verringere; so aber noch der Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform von 1973, BT-Drucks. VI / 3121, S. 39; vgl. auch BT-Drucks. 13 / 7324, S. 5; ähnlich Schünemann, Pawlowski-FS, 294 ff. Eine Beeinträchtigung der Gewährung gleicher Freiheiten stellte sich auch ein, wenn Vorschläge aufgegriffen würden, die für den Bereich der Ehegattendelinquenz Strafmilderungsmöglichkeiten in Betracht ziehen. Deshalb ist auch die in der Rechtsprechung erkennbare Tendenz gefährlich, die Ehe zum Anknüpfungspunkt zu nehmen, um die von § 177 Abs. 2 StGB ausgehende Indizwirkung verwirklichter Regelbeispiele zu entkräften, vgl. BGH StV 2001, S. 453; BGH NStZ-RR 2002, S. 9; zu Recht ablehnend: MK-Renzikowski, § 177 Rn 103. Das geltende Sexualstrafrecht sieht deshalb zu Recht keine Ausnahmemöglichkeiten vor. Die strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte ermöglichen eine ausreichende Rücksichtnahme und gehen mit zusätzlichen Problemen einher, denn die Motivation zur Zeugnisverweigerung bleibt freilich unklar. Zur Diskussion anlässlich des 33. StrÄndG vom 1. 7. 1997 Otto, Jura 1998, S. 210 ff.

II. Das Privatklageverfahren

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Der Strafantrag kann also durchaus in das strafrechtssystematische Umfeld eingebettet werden. Klärungsbedürftig und zweifelhaft bleibt allerdings, ob der Antrag zu Vorteilen im Hinblick auf die Gewährung von Opferrechten führt. Diesbezüglich sind starke Bedenken anzumelden. Der Strafantrag umfasst nicht gerade die Delikte, in denen das Viktimisierungsproblem besonders akut ist. Das Antragsprivileg erfasst einen Teilbereich der leichten bis mittleren Kriminalität; oft ist hier die Erlangung einer Versicherungsnummer für das „Opfer“ (oder besser: den Geschädigten) wesentlich wichtiger als die Mitwirkung am Strafprozess. Demgegenüber erweisen sich solche Deliktsgruppen als nicht antragsfähig, in denen sogar eine Wahrscheinlichkeit für tendenziell schwerere Viktimisierungen besteht. Der Strafantrag folgt zwar einem einheitlichen Prinzip, lässt sich aber nicht für Bereiche fruchtbar machen, die sich unter opferspezifischen Gesichtspunkten als besonders sensibel herausgestellt haben. Mithin ist das Strafantragserfordernis nicht geeignet oder bestimmt, neue Lösungen innerhalb der Opferdebatte aufzuzeigen.

II. Das Privatklageverfahren Für die effektivere Berücksichtigung von Opferinteressen erscheint das Privatklageverfahren prädestinierter als das Strafantragsrecht. Die §§ 374 ff. StPO statten den Verletzten mit weitreichenden Initiativ- und Mitwirkungsbefugnissen aus. Der Staat zieht sich demgegenüber zurück und stellt sogar die Verfolgungslast dem einzelnen Bürger anheim. Das individuelle Bedürfnis nach der Wiederherstellung von Anerkennung und Subjektivität nimmt einen besonderen Stellenwert im Privatklageverfahren ein. Diesen Eindruck vermittelt zumindest ein oberflächlicher Blick in die insofern maßgeblichen Vorschriften und insbesondere in § 380 StPO, der einen Sühneversuch anordnet, ohne den bei den meisten Privatklagedelikten die Erhebung der Klage nicht in Betracht kommt. Insofern gilt der Aussöhnungsgedanke sogar als Spezifikum des Privatklageverfahrens. Aus Opferperspektive problematisch stellt sich allenfalls die Beschränkung der Privatklage auf einige wenige Delikte dar. Gegenwärtig können nur eher geringfügige Verletzungen zum Anknüpfungspunkt gemacht werden, um die Bestrafung ausgewählter Verhaltensweisen im Sinne eines persönlichen Anliegens voranzutreiben. Es nimmt daher wunder, dass die Opferdebatte – soweit ersichtlich – nicht in der Forderung mündet, die Privatklagebefugnisse deutlich auszubauen. Schließlich drängt sich das Institut als Vorlage für einen modifizierten Parteienprozess geradezu auf. Die Opferfreundlichkeit der letzten Jahre kulminiert bemerkenswerter-

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weise nicht in entsprechenden Vorschlägen. Sie orientieren sich jedenfalls nicht an der Privatklage. Im Schrifttum erfreut sich das Institut seit jeher keiner großen Beliebtheit58 und auch die Praxis begegnet dem Privatkläger mit Argwohn.59 Gelegentlich äußerte sich die Ablehnung der Verfahrensart sogar im Urteil. So wurde die Privatklage vom LG Bonn als Ausnahmeerscheinung umschrieben, die der Durchsetzung eines vermeintlichen Strafanspruchs diene. In der Regel würden bagatellartige private Auseinandersetzungen „mit großem emotionalen Engagement einer gerichtlichen Prüfung zugeführt.“60 Als subtilere Form der Geringschätzung ist die dilatorische Behandlung von Privatklagen durch die Gerichte aufzufassen.61 Es wäre daher ganz falsch, im Privatklageverfahren eine wirksame Rechtseinrichtung zu sehen, deren Inanspruchnahme sinnvoll ist.62 Gewöhnlich ist der Verweis auf den Privatklageweg mit der „Beerdigung“ des Verfahrens gleichzusetzen. Die erfolgreich durchgeführte Privatklage ist inzwischen eine echte Rarität. Das wäre freilich ein berichtigungswürdiger Zustand, wenn eine genauere Untersuchung die Legitimität der Privatklagebefugnis ergäbe. In diesem Falle müsste die gegenwärtige Handhabung des Instituts als Rechtsverweigerung eingestuft werden. – Das wiederum setzt aber voraus, dass es ein irgendwie geartetes Recht zur Privatklage überhaupt gibt. Würde sich herausstellen, dass Privatklage und Strafantragsrecht eng verwandte Einrichtungen sind, so spräche hierfür einiges. Ein derartiger Zusammenhang ist etwa von Maiwald behauptet worden.63 Vor ihm hatten Coenders64 und Gerland65 angenommen, dass im Privatklageverfahren die Fortsetzung des dem Strafantragsrecht zugrunde liegenden rechtspolitischen Gedankens erkannt werden müsse. Auf die hiesige Konzeption übertragen müsste sich das Privatklageverfahren als Instrument zum Schutze subjektiver Rechte bzw. als Mechanismus zur Verhinderung von Wertungswidersprüchen innerhalb der Rechtszuweisungsordnung gerieren. Die nachfolgende Betrachtung soll hierüber Aufschluss geben. 58 Zur kontrovers geführten Diskussion schon Kronecker, GA 33 (1885), S. 1, 2 ff.; von Liszt, Lehrbuch, S. 410, beschrieb die Privatklage sogar als „unglückselig“. Auch von Töwe, GS 106 (1935), S. 145, 147, mit Würdigung der Kritik Bindings, von Liszts und Naglers; vgl. ferner die Reformdiskussion bei Hintze, DStrR 8 (1941), S. 163 ff., mit Erwiderung von Schröder, DStrR 9 (1942), S. 26 ff. sowie Hartung, DStrR 9 (1942), S. 43; Weigend, Deliktsopfer, S. 491 ff.; Koewius, Rechtswirklichkeit, S. 166 f.; Rieß, Schäfer-FS, S. 155, 204. 59 Dazu vor allem der Überblick bei Koewius, Rechtswirklichkeit, S. 157 ff. sowie SKStPO-Velten, Vor § 374 Rn 10. 60 LG Bonn NStZ 1991, S. 205. 61 Koewius, Rechtswirklichkeit, S. 161 f.; Hirsch, Lange-FS, S. 815, 816; auch SK-StPOVelten, Vor § 374 Rn 10. 62 Rehbinder, Vorwort zu Koewius, Rechtswirklichkeit. 63 Maiwald, GA 1970, S. 33, 48 ff. 64 Coenders, GS 83 (1915), S. 286 ff., 293. 65 Gerland, GS 60 (1902), S. 157 ff., 191.

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1. Charakter und Typizität der Privatklage Nicht selten wird die Privatklage dahingehend charakterisiert, dass der Einzelne in einer aktiven Prozessrolle auf die Bestrafung des Täters hinwirken könne, um sich auf diese Weise „sein Recht“ zu verschaffen. Populär ist auch die Formulierung, dass in der Privatklagebefugnis die Anerkennung eines berechtigten privaten Genugtuungsbedürfnisses zu sehen sei, welches von dem allgemeinen Interesse aller Staatsbürger an der Erhaltung der Rechtsordnung unterschieden werden müsse.66 a) Gefahrenpotential privater Verfolgungsinitiative Tatsächlich wird dem Individuum ein leitender Einfluss zugebilligt. Der Verletzte ist plötzlich Prozesssubjekt mit selbstständigen Handlungsmöglichkeiten. Demgegenüber bleibt der Strafantrag ohne prozessuale Bedeutung. Er ermöglicht zwar eine gewisse Rücksichtnahme auf Individualbelange, steht jedoch außerhalb des eigentlichen Verfahrens.67 Er tangiert die Prozessrechtsmaximen marginal. Eine Störung der strafrechtssystematischen Bedingungen findet nicht statt. Insofern aber begründet die Statuierung der Privatklagebefugnis ein ganz anderes Gefahrenpotential: Anders als der Staat unterliegt der Private keiner umfassenden rechtlichen Bindung. Eine unsachgemäße Handhabung der Strafbefugnis beeinträchtigt die Legitimität staatlichen Handelns. Nicht zuletzt die historische Erfahrung mahnt die Notwendigkeit maßvollen Strafens an.68 Umso risikobehafteter mutet es an, ein von der Staatsanwaltschaft unabhängiges, prinzipales Klagerecht des Bürgers zu implementieren. Die Ausübung der Strafbefugnis verbleibt auch hier im Bereich der staatlichen Tätigkeit, jedoch ist sie regelmäßig von den Ergebnissen der privaten Ermittlungstätigkeit und dem jeweiligen Verfolgungseifer des Klägers abhängig, der den Erfolg seiner Bemühungen nicht gerade durch die Herbeischaffung entlastenden Materials in Frage stellen wird.69 Solche Einschnitte bedürfen der dogmatisch-systematischen Begründung, zumal das Strafprozessrecht sonst ganz am Bestreben größtmöglicher Objektivität ausgerichtet ist. Wenn sich die Privatklage als in diesem Sinne „prinzipienwidrig, überflüssig und gefährlich“70 erwiese, so würde dies den Ruf nach den richtigen kriminalpolitischen Konsequenzen nochmals lauter werden lassen. Dazu SK-StPO-Velten, Vor § 374 Rn 2. Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 158. 68 Wobei insofern nichts dramatisiert werden sollte. Schließlich urteilt auch im Privatklageverfahren der Richter. 69 Das ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil die Privatklage ein hohes Kostenrisiko in sich trägt. Der Kläger ist insbesondere bei weniger umfänglichem finanziellen Spielraum mehr oder minder gezwungen, alles zu tun, damit sich die investierten Kosten und Mühen auszahlen – und das im besten Sinne des Wortes! 70 So von Liszt, Aufsätze I, S. 21. 66 67

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b) Privatklage als staatliches Strafverfahren Dabei verliert das Privatklageverfahren zu keiner Zeit seine Identität als staatlicher Strafprozess.71 Anstelle der Staatsanwaltschaft tritt der einzelne Bürger als Kläger auf. Die erfolgreiche Durchführung des Verfahrens führt zur Verhängung einer Kriminalstrafe gegen den Beschuldigten. Die Strafe wird nicht anders vollstreckt, als es im Zuge des Offizialverfahrens geschehen würde. Sie wird ins Strafregister eingetragen wie die aus öffentlicher Klage resultierende Strafe.72 Die Privatklage bewirkt demnach eine Durchbrechung des Legalitätsprinzips, was jedoch nichts daran ändert, dass sie der öffentlichen Strafverfolgung dient.73 Daraus folgt der Schluss: Die Privatklage bleibt letztlich eine öffentliche Angelegenheit, der Privatkläger ist als öffentlicher Kläger Organ der Strafverfolgung analog dem Legalkläger.74 Etwas anderes kann schlechterdings nicht vertreten werden, denn Gegenstand der Klage ist ein Verstoß gegen strafrechtliche Verhaltensnormen, eine Auflehnung gegen die Normen des materiellen Rechts. Das Ansinnen des Privatklägers ist auf die gerichtliche Feststellung des staatlichen Strafanspruchs im konkreten Fall gerichtet. Der Kläger macht geltend, dass sich ein Verhaltensnormverstoß zugetragen habe, der die Anwendung der Sanktionsnorm nach sich ziehen müsse.75 Das aber lässt den Schluss zu, dass eine Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Interesse dem Grundsatz nach nicht besteht.76 Es wird sich zwar kaum bestreiten lassen, dass der maßgebliche Antrieb für die Erhebung der Privatklage im Vergeltungswunsch bzw. in Genugtuungsbedürfnissen zu suchen ist, jedoch stellt dies nur eine tatsächliche Nebenwirkung der Verfahrensart dar.77 Ein Recht auf Genugtuung wäre überdies rein privatrechtlichen Charakters. Es müsste dem Dafürhalten des Einzelnen überlassen werden, inwieweit der Anspruch tatsächlich realisiert wird. Insofern hätte sich die individuelle Willensbestimmung Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 374 Rn 5, Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 171 ff. KK-Senge, Vor § 374 Rn 1; Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 374 Rn 5. 73 Explizit Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 171; vgl. auch Meyer-Goßner, Vor § 374 Rn 1. 74 Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 171. 75 Insoweit liegt sogar der Schluss nahe, dass der Privatkläger gewissermaßen als „Beliehener“ auftritt. Es stellt sich sodann die weitergehende Frage, warum nur der Verletzte für privatklagefähig befunden wird und nicht jeder Anzeigenerstatter, der ein vitales Interesse an der Rechtsdurchsetzung hegt. So würde ein Weg geebnet, der es letztlich jedem ermöglicht, sein Interesse an öffentlichen Belangen zu dokumentieren. Hiermit würde freilich eine verschleierte Popularklage geschaffen. 76 Anders wohl Grebing, GA 1984, S. 1, 14 f. 77 Nach Auffassung Nierwetbergs, NStZ 1989, S. 212 ff., 213, sucht der Privatkläger die Offensive, um die Interessenverfolgung in eigener Sache voranzutreiben. In diesem Sinne nehme er ein persönliches Interesse wahr. Aus der subjektiv gefärbten, einseitigen Falldarstellung folge die teleologische Problematik der Privatklagebefugnis. Die Tücke des Privatklageverfahrens liege in seiner „Doppelgesichtigkeit“. Die Verfolgung des staatlichen Strafanspruchs beruhe auf der individuellen Bedürfnisbefriedigung des Privatklägers. 71 72

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in der Rechtsfolge widerzuspiegeln.78 Daran aber fehlt es bei Verhängung der Strafe. Es kommt schlicht zur Anwendung der festgelegten und durch den Einzelnen nicht beeinflussbaren Sanktionsnorm. Das vermeintliche Privatrecht würde durch den Staat also regelmäßig und kraft gesetzlicher Anordnung vereitelt bzw. unmöglich gemacht. Der Staat würde – bei einer derartigen Sicht der Dinge – ein Privatrecht einräumen und dessen Realisierung dem individuellen Willen zugleich wieder entziehen.

2. Zum Zweck der Privatklagebefugnis Der Zweck der Privatklage ist indessen anders gelagert. Es konnte bereits herausgearbeitet werden, dass die Normen des materiellen Rechts erst durch das Verfahren ihre vollständige Wirkung entfalten können. Die Anwendung der Sanktionsnorm kommt ohne Prozess auf keinen Fall in Betracht. Dieser Zusammenhang wird auch durch die Privatklage nicht aufgelöst. Aus dem Verhaltensnormverstoß folgt der staatliche Strafanspruch. Einen Anspruch auf private Genugtuung gibt es nicht. Schon gar nicht ist ein Individualrecht auf Bestrafung anzuerkennen.79 Es mag dahinstehen, ob privaten Genugtuungsbedürfnissen mit Hilfe des Zivilrechts zur Durchsetzung verholfen werden kann. Festzuhalten ist, dass die Mechanismen des Strafrechtssystems erst dort in Gang gesetzt werden, wo sich die Tragweite des Geschehens nicht auf einen individuellen Rechtskreis beschränkt. Das Strafrecht befasst sich mit Sachverhalten, die die Rechtszuweisungsordnung in ihrer Gesamtheit erschüttern. Schon die Eröffnung des Verfahrens dokumentiert die Wehrhaftigkeit und Geltungskraft der Rechtsordnung. Wird schlussendlich sogar auf Strafe erkannt, so liegt hierin die Aussage, dass ein für den Bestand der Rechtszuweisungsordnung elementares subjektives Recht verletzt wurde.

a) Privater Strafverfolgungseifer vs. öffentliches Interesse In diesem Befund aber liegt die Wurzel aller Widersprüche, die sich mit der Privatklagebefugnis verbinden. So legt § 376 StPO fest, dass die öffentliche Klage wegen privatklagefähiger Delikte überhaupt nur dann erhoben wird, wenn dies dem öffentlichen Interesse entspricht. Wird ein solches verneint, so bleibt nur der Privatklageweg. Umgekehrt ist die Staatsanwaltschaft nach § 377 Abs. 2 StPO in jeder Lage des Verfahrens berechtigt, die Sache an sich zu ziehen. Das wird entweder dann geschehen, wenn plötzlich die etwaige Verwirklichung eines Offizialdelikts im Raume steht oder aber, wenn sich nachträglich abzeichnet, dass die weiVgl. auch Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 172. Es existiert lediglich ein allgemeiner Anspruch auf Rechtsschutz, der durch die Zivilgerichtsbarkeit verwirklicht wird. Dazu auch Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 178. 78 79

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tere Verfolgung einer der in § 374 Abs. 1 StPO genannten Delikte im öffentlichen Interesse geboten ist.80 Aus den genannten Alternativen ergibt sich zwangsläufig, dass die Durchführung der Privatklage überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn ein öffentliches Interesse an der weiteren Aufklärung des betreffenden Sachverhalts jedenfalls nicht (mehr) besteht, was wiederum zu dem merkwürdigen Ergebnis führt, dass im Privatklageverfahren ausschließlich nicht-öffentliche Belange verfolgt werden, respektive private Interessen zum Gegenstand des Strafverfahrens gemacht werden. Dazu aber passt die durch den Privatkläger angestrebte Rechtsfolge ganz und gar nicht. Aus dem Auftrag an das Strafrecht, die Rechtszuweisungsordnung zu schützen folgt, dass Strafe ausschließlich verhängt werden kann, um die Durchsetzungsmacht des allgemeinen Willens zu verdeutlichen. Aus der Auflehnung gegen das allgemeine Interesse resultiert eine Reaktion im allgemeinen Interesse. Die Rechtsordnung macht ihren Erhalt im Bestande gerade nicht von positiven oder negativen Willensbekundungen Einzelner abhängig. Aus dieser Skepsis gegenüber individuellen und emotionalen Befindlichkeiten lässt sich die komplette strafprozessuale Aufgabenverteilung herleiten. Aus dem (vermuteten) Zuwiderhandeln gegen die im öffentlichen Interesse erlassenen strafrechtlichen Verhaltensbefehle resultiert eine im öffentlichen Interesse liegende Verfolgungstätigkeit, die im Zuge der Anerkennung des Legalitätsprinzips zum Verfolgungszwang gegen jeden Verdächtigen wird. Das Legalitätsprinzip stellt insofern „eine Aktualisierung des Willkürverbots als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Grundgesetzes dar.“81 Zur Vervollkommnung im Sinne der Wahrung der Gleichmäßigkeit der Verfolgungstätigkeit gelangt man dabei nur, wenn man den Verfolgungszwang im Verbund mit dem Anklagezwang sieht. Die Einheit der Rechtsordnung ist ausschließlich dann gewährleistet, wenn die Staatsanwaltschaft sämtliche strafbewehrten Verhaltensweisen auch zur Anklage bringt.82 Damit verbindet sich freilich die Schlussfolgerung, dass alle Verhaltensweisen, die von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt werden, nicht nur außerhalb des öffentlichen Interesses stehen, sondern in Ermangelung seines Vorliegens gar kein strafwürdiges Unrecht darstellen. Anderenfalls würde die Staatsanwaltschaft mit jedem Verweis auf das Privatklageverfahren gegen ihre verfassungsmäßig-rechtsstaatlichen Pflichten verstoßen. Mehr noch: Erfolgreiche, mit einem Strafausspruch endende Privatklageverfahren dürfte es bei konsequenter Anwendung der einschlägigen strafrechtssystematischen Prinzipien gar nicht geben. Schließlich offenbart die Verhängung der Strafe, Zum Ganzen Meyer-Goßner, § 378 Rn 10. KK-Pfeiffer, Einl. Rn 5. 82 BGHSt 15, S. 155, 159; KK-Pfeiffer, Einl. Rn 5. Anderenfalls würde die Gleichheit vor dem Gesetz beseitigt, vgl. BGHSt 15, S. 155, 159; KK-Pfeiffer, Einl. Rn 5. 80 81

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dass Verfolgungs- und Anklagezwang bestanden hätten. Bei sachgemäßer Handhabung der Verfahrensmaximen muss die Staatsanwaltschaft das bisherige Privatklageverfahren also an sich ziehen, wenn sich die ursprünglich allein vom Kläger erhobenen Vorwürfe während der Beweisaufnahme erhärten und sich tatsächlich einmal die Bestrafung des Beschuldigten abzeichnet. Umgekehrt liegt in jedem erfolgreichen Privatklageverfahren zugleich die Feststellung des Versagens der Staatsanwaltschaft. – Diese hat ihrer rechtsstaatlichen Verpflichtung nicht Genüge getan! Die Entscheidung über Vorliegen oder Nichtvorliegen des öffentlichen Interesses ist mithin strafrechtssystematisch elementar. Führt man den Gedanken zu Ende, so liegt in ihr die Abschichtung des strafwürdigen vom nicht-strafwürdigen Verhalten. Insofern hat die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens die Aufgabe und die Verpflichtung, dem ultima-ratio-Prinzip nach rechtsstaatlichem Ermessen zur Durchsetzung zu verhelfen, womit ein Themenbereich angesprochen ist, dem eine eigene Arbeit gewidmet werden müsste und der hier nicht weiter verfolgt werden kann. Da die Entscheidung über die Strafwürdigkeit nicht ohne Blick auf die Normen des materiellen Rechts erfolgen kann, liegt in der Verneinung des öffentlichen Interesses an der öffentlichen Klageerhebung zugleich die Verneinung einer strafrechtlich relevanten Auflehnung gegen die im betreffenden Zusammenhang maßgeblichen Verhaltensnormen. Der staatlichen Anklagebehörde kommt insofern kraft der Betroffenheit des allgemeinen Interesses die Einschätzungsprärogative zu. Wurde von dieser im Zuge der Ablehnung des öffentlichen Interesses an der Klageerhebung Gebrauch gemacht, so ist der Weg zu einer gleichwohl erfolgenden Bestrafung der Idee nach verschlossen. In zugespitzter Formulierung lässt sich resümieren, dass das dem Inquisitionsprozess verpflichtete Legalitätsprinzip Ausnahmen nicht gestattet. § 377 Abs. 2 StPO umschreibt mithin eine Selbstverständlichkeit. Im Übrigen lässt sich aus der Norm ableiten, dass die Staatsanwaltschaft selbst dann Prozesssubjekt im Privatklageverfahren bleibt, wenn sie sich an ihm gar nicht beteiligt. Sie hat in jeglicher Phase des Verfahrens ein prozessuales Verfügungsrecht inne, welches nicht einmal mittels förmlicher Eintrittserklärung oder erläuternder Begründung wahrgenommen werden muss.83 Das Verfügungsrecht erstarkt zur Übernahmepflicht, sobald Grund zu der Annahme besteht, dass ein Verstoß gegen die öffentlich-rechtliche Verhaltensnorm die Anwendung der Sanktionsnorm erwarten lässt. Diese Situation umschreibt die Strafprozessordnung als öffentliches Interesse. Fehlt es hieran, so mutet es absurd an, dem einzelnen Bürger selbst die Verfolgungslast aufzubürden. Mit dem Verweis auf den Privatklageweg wird die Fruchtlosigkeit jedweder Bemühungen indiziert.84 83 Dazu auch Gerland, GS 60 (1902), S. 163; Meyer-Goßner, § 377 Rn 10; vgl auch KKSenge, § 377 Rn 5. 84 So aber Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 164 f.

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Man wird daher nicht einmal sagen dürfen, dass der Einzelne im Privatklageverfahren die materielle Herrschaft über den Strafanspruch erlangt. Vielmehr wird mit dem Verweis auf den Privatklageweg das Nichtbestehen des Strafanspruchs durch die Staatsanwaltschaft verbindlich festgelegt. Die zur Überwachung der Aufrechterhaltung der Rechtszuweisungsordnung tätige Staatsanwaltschaft kann sich ihrem Auftrag nur entziehen, wenn feststeht, dass eine strafrechtlich relevante Läsion gleicher Freiheitssphären nicht vorliegt. Eine Fortsetzung der Verfolgungstätigkeit zur Wahrung nicht-öffentlicher Interessen gehört nicht der strafrechtlichen Materie an und darf im verfassungsmäßigen Rechtsstaat nicht stattfinden. Die Privatklage ist daher nicht lediglich eine außergewöhnliche Verfahrensart, sondern bedeutet einen Systembruch, der mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht zu beheben ist. b) Privatklagebefugnis als Kontrollinstrument Etwas anderes ließe sich nur dann behaupten, wenn man in der Privatklagebefugnis ein Korrekturmittel neben dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft erblicken würde. Es wäre in diesem Fall dem betroffenen Bürger überantwortet, zur Verwirklichung des Legalitätsprinzips beizutragen. Dazu aber müsste die Privatklage eine subsidiäre Zuständigkeit des Individuums vorsehen. Allerdings ist der Privatklageweg nach dem eindeutigen Wortlaut auch ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft beschreitbar. Ein nachträgliches Tätigwerden des Einzelnen ist in praxi durchaus die Regel, wird vom Gesetz jedoch nicht erzwungen. Die Privatklage ist nicht subsidiär, sondern prinzipal. Es tritt hinzu, dass nach dem Willen der StPO das Klageerzwingungsverfahren dafür konzipiert ist, die angedachte Korrekturfunktion zu verwirklichen. Wenn die Erhebung der Privatklage zu einer nachträglichen Übernahme durch die Staatsanwaltschaft führt, so erfolgt zwar eine Korrektur eventueller abweichender vorheriger Strategien, jedoch kann in diesem Zufall nicht das Zweckmoment eines ganzen Instituts gefunden werden.85 Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Kontrollfunktion der Bürger den Stein des Anstoßes für die Aufnahme der Privatklage an die StPO lieferte. „Die Privatklage sollte der Durchsetzung des allgemeinen Interesses an der Bestrafung notfalls gegen eine untätige Staatsanwaltschaft, nicht aber der Durchsetzung individueller Genugtuungsinteressen dienen [ . . . ]. Hier schimmerte erhebliche Skepsis gegenüber dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft durch.“86 Dem entsprach am ehesten die subsidiäre Privatklage, welche dann sollte erhoben werden können, wenn die Staatsanwaltschaft nicht anklagt. Insofern war tatsächlich eine Beschränkung und Kontrolle des Anklagemonopols intendiert. Die subsidiäre Privatklage 85 86

So auch Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 181. SK-StPO-Velten, Vor § 374 Rn 3.

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als Ausdruck eines konstitutionellen Bürgerrechts wurde schlussendlich nicht in die Strafprozessordnung aufgenommen, da sich ihre Befürworter nicht durchsetzen konnten. Zwischenzeitlich war sogar die Implementation einer subsidiären Popularklage vorgeschlagen worden. Schließlich wurde dem Anliegen einer Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit in anderer Form – dem Klageerzwingungsverfahren – Rechnung getragen.87 Die Privatklage dient somit allenfalls faktisch der Korrektur staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen, dafür aber ist sie nicht geschaffen worden.

c) Privatklagebefugnis als Instrument zur Bewältigung von Bagatellen Eine praktischer orientierte Rechtfertigung der Privatklage könnte in der Erwägung gefunden werden, die Staatsanwaltschaft vor der Verfolgung von Bagatellsachen zu bewahren. Dem Institut käme dann eine reine Entlastungsfunktion zu.88 Hierin aber lag ein ganz entscheidendes Motiv für die Aufnahme des Instituts in die Strafprozessordnung: „Der öffentliche Ankläger sollte von zweierlei möglichen Vorwürfen freigestellt werden, die man damals offenbar als ernste Bedrohung der Reputation der Staatsanwaltschaft ansah: Auf der einen Seite befürchtete man, die neu geschaffene Institution würde, wenn sie ihrer Aufgabe gemäß auch den geringfügigsten Anzeigen nachginge, den Ruf kleinlicher Verfolgungssucht erwerben; auf der anderen Seite stand die Hoffnung, durch die Zulassung einer subsidiären Privatklage werde die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidungstätigkeit mit größerer Souveränität am Maßstab des öffentlichen Interesses ausrichten können, da bei Ablehnung der Verfolgung immer noch der Subsidiarankläger einspringen könnte. Die prinzipale Privatklage sollte die Staatsanwaltschaft also vom Vorwurf der allzu intensiven, die subsidiäre Privatklage von demjenigen der allzu zurückhaltenden Anklagetätigkeit entlasten.“89 Gemessen am üblichen Geschäftsanfall bei den Staatsanwaltschaften dürfte dieses Motiv inzwischen eher zweifelhaft sein. Privatklagerelevante Delikte sind von allenfalls randständiger Bedeutung. Überdies entspricht dem Maß an angedachter Entlastung bei den Staatsanwaltschaften ein Mehraufwand bei den Strafgerichten.90 Die Belastung wird nach der Konzeption der StPO also lediglich verlagert. De facto tritt der Entlastungseffekt durch den Verzicht auf die Privatklagemöglichkeit seitens der betroffenen Bürger ein. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit eines 87 88 89 90

Dazu Grebing, GA 1984, S. 1, 4 f. Vgl. Grebing, GA 1984, S. 1, 5 ff. So Weigend, Deliktsopfer, S. 115 ff. So auch Grebing, GA 1984, S. 1, 16.

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Misserfolges so hoch, dass sich das Kostenrisiko als schlicht unzumutbar erweist.91 Doch auch abseits der realen Befindlichkeiten erscheint fraglich, ob die intendierte Entlastung der Staatsanwaltschaft als legislatorisches Prinzip zur Fundierung eines Rechtsinstituts taugt.92 Reine Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte genügen nicht, den Staat von seiner unbedingten Pflicht, für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu sorgen, zu dispensieren.93 Velten meint hingegen, dass der Staat die Verfolgungslast nicht in jedem Falle tragen müsse. Nur das Erkenntnisverfahren im engeren Sinne sowie die Entscheidung selbst seien öffentliche Angelegenheiten, denen sich der Staat nicht entledigen könne. Es sei indessen zulässig, die Verfahrensinitiative und die Ermittlungslast dem Individuum anheimzustellen. Die Allgemeinheit stelle sich dann als Schiedsrichter zur Verfügung, gebe ihre Kernkompetenzen jedoch nicht auf.94 Freilich wird damit verkannt, dass der Staat in einzelnen Teilbereichen seine Kernkompetenzen gar nicht mehr ausübt bzw. nicht mehr ausüben kann, wenn er sich der Verfolgungstätigkeit begibt. Es leuchtet auch nicht ein, warum der Einzelne über die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen sollte verbindliche Vorentscheidungen treffen können. Die Aufweichung des Legalitätsprinzips führt zu einer Relativierung des Gleichheitssatzes, die der Rechtfertigung bedarf. Eine solche ist im Bagatellcharakter einzelner Delikte jedoch noch nicht gefunden. Strafrechtsdogmatisch unterscheidet sich die schwere Kriminalität nicht von Bagatellsachen. Im Kern handelt es sich bei der Straftat jeweils um eine institutionelle Verletzung eines subjektiven Rechts, die eine Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung heraufbeschwört. Dem ist hinzuzufügen, dass der Kreis sog. Bagatellen keineswegs genau zu bestimmen ist. Er ist von der Eigenschaft einiger Straftaten als privatklagefähige Delikte unabhängig. Überdies sind auch im Bereich der Offizialdelikte weniger schwerwiegende Begehungsweisen denkbar, die sich am Rande der Strafwürdigkeit bewegen. Das ultima-ratio-Prinzip entfaltet auch hier seine Wirkung. Es wäre mithin voreilig, Bagatell- und Privatklagedelikte einfach miteinander zu identifizieren. Insofern aber stellen die §§ 153 ff. StPO ein weitaus schlüssigeres Handlungsinstrumentarium zur Verfügung, als es die Privatklage zu leisten imstande ist. Das ist nun freilich nicht dahingehend misszuverstehen, dass sich aus dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes das Legalitätsprinzip im Sinne einer unumstößlichen Institutsgarantie herleiten ließe. Das Opportunitätsprinzip oder auch der Parteienpro91 92 93 94

Ebenso Grebing, GA 1984, S. 1, 8; Hirsch, Lange-FS, S. 816, 818 f. Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 204. Ausdrücklich Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 205. SK-StPO-Velten, Vor § 374 Rn 12.

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zess sind nicht kraft verfassungsmäßiger Entscheidung verboten. Jedoch ist der Gleichheitsverstoß nur im Stile eines kategorischen Entweder-Oder im Strafprozess zu vermeiden: Entweder man votiert für die flächendeckende und gleichmäßige amtliche Strafverfolgung, die Ausnahmen in der praktischen Ausführung nicht zulässt, oder aber man entscheidet sich konsequent für die Verfolgungstätigkeit nach dem jeweiligen Dafürhalten der betroffenen Bürger; letzteres würde die jetzigen Offizialdelikte mit einschließen. – Die Gleichheit wäre dann wiederum gewahrt, denn die Ausgangssituation ist immer und für jeden dieselbe. Ob dies dem entspricht, was wünschenswert ist, sei hier dahingestellt.95 Jedenfalls gehen prozessuale Mischformen mit einer Beeinträchtigung der gleichmäßigen Strafverfolgung einher. Als Ausweg bietet sich allenfalls die Statuierung einer jedermann treffenden Pflicht zur Privatklageerhebung an. Der lückenlosen Verwirklichung des Legalitätsprinzips wäre in diesem Falle gedient, freilich aber um den Preis einer jeweils nicht absehbaren Verfahrensdauer, einer dann tatsächlich eintretenden Überlastung der zuständigen Stellen sowie mit der Befürchtung, dass das Querulantentum zum Leitprinzip erhoben würde. Die Privatklage in ihrer gegenwärtigen Form stellt sich dann sogar als das geringere Übel dar.96 Darüber hinaus bleibt unklar, wo der Zusammenhang zwischen einer angedachten Entlastung der Staatsanwaltschaft und einem materiellen Verfügungsrecht des Verletzten über den staatlichen Strafanspruch bestehen soll.97

d) Privatklagebefugnis als Ausdruck eines bürgerlich-rechtlichen Genugtuungsanspruchs Möglicherweise muss man sich von der rein strafrechtlichen Betrachtungsweise des Privatklageverfahrens lösen. Vielleicht dient die Privatklage der Ausübung eines Privatrechts auf Genugtuung mit den Mitteln des öffentlichen Rechts.98 Das Institut hätte dann zu gleichen Teilen zivil- und öffentlich-rechtliche Funktionen. Man könnte etwa der Meinung sein, dass die Privatklage die Restitution gestörter Rechtsverhältnisse erreichen solle. Am Beispiel der Beleidigung sei dies demonstriert: Es entspricht der hergebrachten Rechtsauffassung, dass die Ehre im 95 Schließlich findet das Strafverfahren auch in den Staaten, die den Parteienprozess kennen, nicht entstaatlicht und allein mit Hilfe der Mitwirkung von Täter und Opfer statt. 96 Es sei die Vermutung gewagt, dass anderenfalls ein Rückfall in mittelalterliche Verhältnisse heraufbeschworen würde. Der Einzelne verfügt schließlich nicht über die erforderlichen Ressourcen zur Aufklärung von Verbrechen. Überdies hat sich die Strafanzeige als durchaus taugliches Instrument zu Eröffnung von Strafverfahren erwiesen. Schließlich sind die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, der Anzeige nachzugehen. 97 Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 182. 98 Entsprechende Erwägungen waren Gegenstand der Auseinandersetzung bei Konzipierung und Verabschiedung der RStPO. Übersicht bei Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 175.

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Falle ihrer Verletzung der Wiederherstellung bedarf. Das Strafgesetzbuch trägt diesem Umstand in § 200 Rechnung, wo ein Anspruch auf Publikation zum Zwecke der Rehabilitation vorgesehen ist.99 Tatsächlich dürfte die praktische Umsetzung der Norm im Interesse des Beleidigten liegen. Eventuell verbirgt sich dahinter ein verallgemeinerungsfähiger Gedanke: „In einem auf Verurtheilung wegen Beleidigung lautenden Erkenntniß liegt immer die Feststellung, daß der Verletzte zu Unrecht beleidigt, d. h. in dem Zustande seiner Ehre verletzt ist, negativ, daß der Verletzte nicht zu beleidigen gewesen ist.“100 Insofern aber habe ein Strafurteil in Beleidigungssachen denselben restitutiven Effekt wie ein zivilrechtliches Feststellungsurteil. Tendiert man gar zu der Auffassung, dass der zivilrechtliche Ehrenschutz unvollständig und nur bedingt lukrativ sei101, so könnte man Sympathien für die Privatklagebefugnis entwickeln. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass der Ehrenschutz den häufigsten Gegenstand des Privatklageverfahrens darstellt102, kann er nicht isoliert zur Legitimation des gesamten Rechtsinstituts herangezogen werden. Der Restitutionsgedanke mag daneben im Bereich der geringfügigeren Körperverletzungsdelinquenz noch als dogmatische Stütze tragfähig sein. Bei Delikten wie Haufriedensbruch, Sachbeschädigung oder Verletzung des Briefgeheimnisses bleibt hingegen unbeantwortet, worin die wiederherstellende Wirkung des Strafurteils liegen sollte. Der restitutiv-feststellende Effekt würde sich – wie bei jeder anderen Straftat – darin erschöpfen, dass die abgeurteilte Verhaltensweise gegen den Willen des Rechts erfolgt ist, also als Unrecht im strafrechtlichen Sinne aufzufassen ist. Es kommt hinzu, dass die postulierte restitutive Wirkung kraft der Ausübung öffentlichen Rechts erreicht würde.103 Sie mag im privaten Interesse des Betroffenen liegen, ist aber das Ergebnis der Ingeltungsetzung eines allgemeinen Willens. – Grundlage des Urteils ist die festgestellte Auflehnung gegen den einschlägigen Verhaltensbefehl, der die Anwendung der Sanktionsnorm nach sich zieht. – Jeder weitere Effekt ist eine bloße Begleiterscheinung, die zur legitimen Zweckfindung nicht beiträgt. Darüber hinaus wird einmal mehr nicht erklärt, wie ein strafrechtlich relevanter Genugtuungsanspruch plötzlich doch konstruierbar sein sollte. Der Ehrbegriff ist hierfür kein ausreichendes Ventil.

Dazu Binding, Handbuch I, S. 304 f.; auch Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 176. Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 176 f. 101 So Hirsch, Lange-FS, S. 815 ff., 820 ff.; Zivilrecht und Zivilverfahren seien im Verhältnis zur Privatklagebefugnis kein ausreichender Ersatz. Am Ehrenschutz werde dies besonders sinnfällig, weil Zivilklagen selten seien und in keinerlei Relation zur Beleidigungsdelinquenz stünden. 102 Hirsch, Lange-FS, S. 815, 820 f. 103 Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 177. 99

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e) Privatklagebefugnis als Schutzinstrument subjektiver Rechtspositionen? Wesentlich aussichtsreicher erscheint die Mutmaßung, dass das Privatklageverfahren selbst dem Schutz ausgewählter subjektiver Rechtspositionen dient. Hiermit wäre ein Weg zur Vermeidung von systematischen Widersprüchen eröffnet. Würde sich diese Vermutung bewahrheiten, so wären Strafantrag und Privatklage in der Tat verwandte Institute, deren Erhalt sinnvoll ist. Die gesetzliche Konzeption lässt entsprechende Rückschlüsse durchaus zu. Die Rechtfertigung der Privatklage wäre sodann in der besonderen Natur der privatklagefähigen Delikte zu suchen. Möglicherweise soll – wie beim Strafantrag – die Verträglichkeit der weiteren Strafverfolgung dem abwägenden Dafürhalten der betroffenen Bürger zur Entscheidung überlassen werden. Dazu müsste es sich bei den in § 374 StPO genannten Straftaten um solche höchstpersönlichen Charakters handeln, die die besondere Berücksichtigung von individuellen Bedürfnissen erforderlich machen. Die Persönlichkeit des Verletzten ist de facto von wesentlicher Bedeutung: So kann die Klage in Gemäßheit des § 391 Abs. 1 StPO in jeder Lage des Verfahrens nach freiem Ermessen zurückgenommen werden. § 393 Abs. 1 StPO legt sogar fest, dass der Tod des Privatklägers die Einstellung des Verfahrens zur Folge hat. Durchführung und Ausgang des Prozesses sind von der Mitwirkung der Beteiligten in hervorgehobenem Maße abhängig. Schließlich soll nach § 380 Abs. 1 StPO sogar ein Sühneversuch unternommen werden, bevor die Privatklage erhoben wird. Auf Strafe soll im Zeichen der Aufrechterhaltung persönlicher Bindungen also weitgehend verzichtet werden. Sogar nach erhobener Privatklage soll eine vergleichsweise Vereinbarung zwischen Kläger und Beschuldigtem zur sofortigen Verfahrensbeendigung führen können.104 Das Schicksal der Privatklage ist mithin untrennbar mit den beteiligten Personen verbunden.105 Dennoch verbirgt sich hinter diesem Befund nicht die zutreffende dogmatische Begründung. Denn anders als im Strafantragsrecht tritt das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nicht hinter Individualbelange zurück. – Ein öffentliches Interesse ist gar nicht vorhanden! Die Situation bei der Privatklage unterscheidet sich daher grundlegend von der beim Strafantrag und ist von völlig anderer Dimension. Das Unterbleiben des Strafantrags führt zur Einstellung der weiteren Strafverfolgung, obgleich hierzu ein ausreichendes öffentliches Interesse gegeben wäre. Dieses kann aber zur Vermeidung von Widersprüchen nicht gegen den Willen des Antragsberechtigten ausgeübt werden. Dies würde der Legitimität der staatlichen 104 Dazu SK-StPO-Velten, Vor § 374 Rn 35. Der Vergleich führt nach ganz herrschender Meinung nicht zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzesbindung, denn Art. 20 Abs. 3 GG beansprucht keine Geltung gegenüber Privatpersonen, vgl. dazu BGH NJW 1974, S. 900. 105 Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 183.

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Tätigkeit abträglich sein und sich wiederum nachteilig auf die Geltungskraft des allgemeinen Willens niederschlagen, der den Rechten sowie den diesen vorausgehenden Interessen des Einzelnen verpflichtet ist. Eine derartige Rücksichtnahme findet im Privatklageverfahren nicht statt; ein öffentliches Interesse, das zur Wahrung individueller Rechtspositionen hinter den Einzelwillen zurückzutreten hätte, ist gar nicht erst existent. Der Ausgangspunkt des Privatklageverfahrens entbehrt somit jeder öffentlich-rechtlichen Relevanz; es erfolgt ausschließlich im privaten Interesse, basiert hingegen nicht auf einer irgendwie gearteten Rechtsausübung. Im Strafantragsrecht steht der staatliche Strafanspruch als zumindest virtueller Bezugspunkt des Instituts im Raume. Rein persönlichkeitsbezogenen Sachverhalten fehlt diese Komponente. Daher fehlt es an jeder Verwandtschaft zwischen Privatklage und Strafantrag. – Auch die am engagiertesten vorgetragene Privatklage kann den staatlichen Strafanspruch nicht zur Entstehung bringen, denn dieser ist in seinem Bestande vom individuellen Willen unabhängig. Das Privatklageverfahren kann im Einzelfall die Übernahmepflicht der Staatsanwaltschaft anzeigen oder gar begründen. – Insofern hat sie die Wirkkraft eines Korrekturinstruments. Die gesuchte dogmatische Erklärung ist damit jedoch nicht geliefert. Die erfolgreiche Privatklage verhilft also zur Durchsetzung rein privater Interessen. Dann aber darf die Rechtsfolge nicht in der Verhängung einer Strafe bestehen. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung kann im Dienste der Wahrung individueller Bedürfnisse auch einmal nicht ausgeübt werden; jedoch führt kein noch so starkes Individualbedürfnis zur Strafverfolgung, wenn der eigentliche Inhaber des Strafanspruchs auf die ihm zustehende Rechtsausübung verzichtet (hat). Zumindest in ihrer bisherigen Form ist die Privatklage also nicht länger haltbar, insbesondere die Strafe sollte als Rechtsfolge schleunigst beseitigt werden.

3. Zur Daseinsberechtigung der Privatklage und verwandter Institute a) Privatklage aufgrund zivilrechtlicher Unzulänglichkeiten? Das deutet auf eine gewisse Daseinsberechtigung der Rechtseinrichtung hin. Hirsch hält es gar für „evident, daß die in § 374 StPO aufgezählten Beeinträchtigungen Rechtsfolgen haben müssen.“106 Zivil- und Zivilprozessrecht böten insoweit keinen ausreichenden Ersatz. Deshalb sei eine prozessuale Sonderregelung für den Rechtsschutz der „kleinen Leute“ unentbehrlich.107 106 107

Hirsch, Lange-FS, S. 815, 820 f. Hirsch, Lange-FS, S. 815, 827.

II. Das Privatklageverfahren

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Hirsch schlägt eine besondere Kategorie nicht-krimineller sanktionsbedrohter Delikte vor, die er als „Verfehlungen“ bezeichnet.108 Die verfahrensrechtliche Lösung solle volksnahe, friedensrichterliche Züge tragen. Nur auf diese Weise könne der Staat seinen Schutzaufgaben genügen.109 Auch Hirsch stützt sich in seiner Argumentation ganz maßgeblich auf Belange des Ehrenschutzes. Die zivilrechtlichen Instrumente seien diesbezüglich unzulänglich und für den einfachen Bürger ein vielfach ineffektives Hilfsmittel.110 Eine gewisse Aussicht auf Erfolg hätten nach den Erfahrungen lediglich wirtschaftlich günstig gestellte Kläger oder in der Öffentlichkeit stehende Personen, also Prominente. Hirsch spricht explizit einige Fälle an. Er nennt den Herrenreiter-, Valente-, Ginsengwurzel sowie den Soraya-Fall111 und zieht daraus den Schluss, dass „die praxisrelevante Errungenschaft des modernen zivilrechtlichen Ehrenschutzes bisher vor allem darin besteht, daß man den Ehrenschutz gehobener Volksschichten verbessert hat, und zwar vornehmlich gegenüber Auswüchsen im Bereich der Massenmedien und Werbung. Dem gewöhnlichen Bürger und damit dem Gros der Verletzten ist mit der Möglichkeit der Zivilklage bisher wenig geholfen.“112 Hirsch kritisiert, dass sich die Zivilverfahren deshalb auf einer im Verhältnis zu normalen Beleidigungsfällen zu hohen Ebene bewegten, die aufgrund der außergewöhnlichen Streitwerte und dem immensen Kostenrisiko nicht von jedem erklommen werden könne. Es bestehe daher die Notwendigkeit alternativer Konfliktlösungsmechanismen. Problematisch sind Hirschs Erwägungen deshalb, weil bereits der Tatbestand der Ehrverletzung in den von ihm herangezogenen Beispielen mehr als zweifelhaft ist. Die Grundlage der einschlägigen Zivilurteile bildete jeweils die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dieses wird in seiner Generalität vom Strafrecht aber gar nicht geschützt. Auch im engeren Sinne handelte es sich bei den genannten Konstellationen nicht um Beleidigungsfälle, sondern um Verletzungen des Rechts am eigenen Bild, des Namens oder der Privatsphäre. Insbesondere bei Prominenten steht das Moment der Rufausbeutung und somit eine vermögensrechtliche Komponente deutlich im Zentrum der rechtlichen Aufarbeitung und Beurteilung. Das schadensersatzrechtliche Konstrukt der sog. Lizenzanalogie führt sodann zur Liquidation unrechtmäßig erlangter Gewinne. Es liegt auf der Hand, dass der einfache Bürger für die Werbewirtschaft und die Boulevardpresse von randständiger Bedeutung ist (es sei denn als Kunde). Er trägt weder zum besseren Verkauf einzelner Produkte, noch zur Erhöhung der AuflagenHirsch, Lange-FS, S. 815, 828. Hirsch, Lange-FS, S. 815, 821. 110 Hirsch, Lange-FS, S. 815, 820. So seien Zivilklagen trotz der grundsätzlichen Anwendbarkeit der §§ 823, 847 BGB (jetzt § 253 Abs. 2 BGB) selten und wenig aussichtsreich. 111 Hirsch, Lange-FS, S. 815, 820 unter Bezugnahme auf BGHZ 26, S. 349; BGHZ 30, S. 7; BGHZ 35, S. 363; BGH NJW 1965, S. 685; OLG Frankfurt NJW 1966, S. 254. 112 Hirsch, Lange-FS, S. 815, 821. 108 109

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stärke bei. Bekannte Persönlichkeiten aus Film und Fernsehen befinden sich hier von vornherein in einer nicht vergleichbaren Situation. Das aber kann den Zivilgerichten sowie der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH nicht zum Vorwurf gereichen. Schon gar nicht kann dieser Umstand als Anknüpfungspunkt für Reformüberlegungen im Bereich der Privatklage bemüht werden. – Das Beispiel „passt“ nicht. Hirsch verweist auf Lücken im Rechtsschutz, die so nicht vorhanden sind.

b) Privatklage als Instrument zur Optimierung des gesellschaftlichen Lebens? Die Frage, ob eine unterhalb der Strafbarkeit anzusiedelnde Interessenverletzung der gerichtlichen Bewältigung bedarf, ist damit noch nicht beantwortet. Möglicherweise kann der in der Privatklagekonstruktion liegende Ansatz weiterentwickelt werden. Für entsprechende Bestrebungen hat sich bereits Gerland ausgesprochen. Er bezeichnet es als Fehler, aus der fehlenden Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweisen zu folgern, dass der Staat ihnen gegenüber gleichgültig sei.113 Die strafrechtliche Relevanz einzelner Sachverhalte sei von nur untergeordnetem Stellenwert. Vielmehr fließe es „aus dem obersten, primären Interesse des Staates, Handlungen, die er dem gesellschaftlichen Leben für nachteilig hält, in Zukunft nach Möglichkeit zu unterdrücken.“114 Wenn Strafe sich als ungeeignet erweise, erlösche zwar das staatliche Bestrafungsinteresse, nicht aber das an der Verhütung derartiger „Taten“ in Zukunft. Halte der Staat gewisse Handlungen für unvereinbar mit dem gesellschaftliche Leben, „so ergibt sich für ihn andererseits auch die Pflicht, sie zu verbieten, und, falls sie doch begangen werden, sich die geeigneten Präventivmaßnahmen vorzubehalten.“115 Ein solches Konzept liefe allerdings auf eine Bevormundung des Bürgers durch den Staat hinaus. Letzterer ist weder gehalten, den Einzelnen zu besseren Umgangsformen zu erziehen, noch fungiert er als selbsternannte moralische Instanz. Wenn eine Strafbarkeit ausscheidet und auch der Zivilrechtsweg nicht beschritten wird, so fehlt es insgesamt an der Rechtserheblichkeit eines Sachverhalts. Die Schaffung von „Privatdelikten“, „Verfehlungen“ oder „Injurien“ würde sich als ungerechtfertigter Eingriff in die Freiheit der Bürger darstellen. Überdies wäre die Ahndung entsprechender Tatbestände einmal mehr ganz maßgeblich vom Verfolgungseifer des Individuums abhängig, was in seiner negativen Kehrseite wiederum zu Ungleichmäßigkeiten in der praktischen Handhabung der Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 217. Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 218. 115 Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 218. Im Ergebnis ähnlich auch Hirsch, Lange-FS, S. 815, 829, der eine Deliktskategorie unter der Schwelle des Kriminalstrafrechts, parallel zu den Ordnungswidrigkeiten, für erforderlich und wünschenswert hält. 113 114

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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einschlägigen Normen führen würde. Dies gilt umso mehr, als Gegenstand der Diskussion regelmäßig ein Instrumentarium ist, welches die Disziplinierung des Täters zum Ziel hat. Andererseits gibt es Vorschläge, die Untersuchungsmaxime zum Leitprinzip zu erheben; sogar die Polizei soll gegebenenfalls bei der erforderlichen Ermittlungstätigkeit Unterstützung leisten.116 Die staatlichen Befugnisse würden über die im Zivilprozess bestehenden also weit hinausgehen und das, obwohl eine Rechtsverletzung verstanden als Verletzung des Rechts gar nicht im Raume steht. Der Staat ist hingegen nicht mit der Aufgabe betraut, eine bestimmte Anstandsvorstellung durchzusetzen. Dies zu versuchen, ist ihm durch das Grundgesetz untersagt; er ist keine Super-Erziehungsanstalt. Es mag also eine Reihe von Bösartigkeiten, Frechheiten oder Taktlosigkeiten geben, jedoch befindet sich der Staat nicht in der Rolle, diese beheben zu müssen. Hierzu sind die Bürger selbst aufgerufen. Aus Freiheit folgt Verantwortung. Macht man mit diesem Leitprinzip Ernst, so kann man nur die ersatzlose Streichung der Privatklagebefugnis fordern. Sie hat heute schlicht keine Funktion mehr. Es ist daher richtig, wenn sie gelegentlich als ein letztes Relikt der alten, privatrechtlichen Auffassung des Strafrechts bezeichnet wird.117 Es ist an der Zeit, den alten germanischen Rechtsgang im Zuge der Abschaffung der Privatklage vollständig zu überwinden. Ein Verlust tritt dadurch nicht ein. Es wäre falsch zu glauben, das menschliche Zusammenleben würde durch die Möglichkeit verbessert, dem missliebigen Gegenüber die Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens mittels staatlich geleiteter Verfahren vor Augen zu führen. Auch die Verhängung einer Buße oder sonstigen Sanktion führt nicht zu einer Entspannung der persönlichen Verhältnisse unter den jeweiligen Beteiligten. Selbst der (für eine Seite) erfolgreiche Injurienprozess dürfte dem sozialen Näheverhältnis – so denn ein solches im Einzelfalle bestanden haben sollte – regelmäßig den Garaus machen. Gerichte eignen sich nicht zur Beschwichtigung persönlicher Konflikte.

III. Das Klageerzwingungsverfahren Die prinzipiengetreue Umsetzung des Inquisitionsprozesses und der sich mit ihm verbindenden Forderungen verschafft der Staatsanwaltschaft eine exponierte Stellung im Strafrechtssystem. Als Herrin des Ermittlungsverfahrens beurteilt sie die Strafwürdigkeit konkreter Verhaltensweisen aus eigener Machtvollkommenheit. Hirsch, Lange-FS, S. 815, 820. Gerland, GS 60 (1902), S. 157, 202: „Sie ist der letzte Ausläufer der ursprünglichen Rechtsauffassung, wonach bei einem Delikt stets der Verletzte klagt, da nur der Verletzte betroffen erscheint, einer Rechtsauffassung, die wir bei allen Völkern am Anfang der Rechtsentwicklung finden.“ 116 117

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Diese Situation gab frühzeitig Anlass zu der Befürchtung, dass „die herrschende Partei mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bis zum äußersten ausnutzt, daß die StA über höhere Weisung mit maßloser Strenge gegen die Minorität vorgeht, auch die größten Ausschreitungen der ministeriellen Partei dagegen unbeachtet und unverfolgt läßt, mit einem Worte, das Strafverfolgungsrecht des Staates den politischen Leidenschaften dienstbar macht.“118 Die historischen Erfahrungen sind ein ausreichender Beleg dafür, eine derartige Äußerung nicht als übertrieben ängstlich aufzufassen. Das Misstrauen gegenüber gänzlich unreglementierter staatlicher Tätigkeit war insofern das Ventil für das Bedürfnis nach Kontrolle. Die kontrovers geführte Diskussion mündete schließlich in dem Kompromiss eines verselbstständigten Zwischenverfahrens, mit Hilfe dessen bestimmten Personen die Möglichkeit zugestanden wurde, die Überprüfung von Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft zu erreichen.119 Namentlich dem Verletzten wird im Klageerzwingungsverfahren nach den §§ 172 ff. StPO die Befugnis zuerkannt, auf die Erhebung der öffentlichen Klage zu drängen.

1. Zum Sinn des Klageerzwingungsverfahrens Die tatsächliche Bedeutung des Klageerzwingungsverfahrens ist freilich gering120, weshalb es mitunter als schwächliches Konstrukt bezeichnet worden ist.121 Erstaunlicherweise ist solche Kritik jedoch vereinzelt geblieben.122 Üblicherweise wird darauf abgestellt, dass allein schon die Existenz des Klageerzwingungsverfahrens eine präventive Ausstrahlungswirkung auf die Staatsanwaltschaft und die pflichtgemäße Wahrnehmung der ihr zustehenden Kompetenzen habe.123 Damit verbindet sich die Frage, warum gerade dem Verletzten die Rolle überantwortet ist, im Konfliktfalle die ordnungsgemäße Handhabung der Strafverfol118 Von Liszt, Aufsätze I, S. 30 f.; vgl. auch Maiwald, GA 1970, S. 33, 51 f. sowie Weigend, Deliktsopfer, S. 142 ff. und Jans, Aushöhlung, S. 26 ff. 119 Zum Entstehungsprozess des Klageerzwingungsverfahrens und den teilweise irrational begründeten Argumenten sowie den unterschiedlichen politisch-ideologischen Randerscheinungen im Gesetzgebungsverfahren Görg, Entstehung, S. 104 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 142 ff.; auch Wehnert, Aspekte, S. 10 ff. 120 Vgl. dazu Wehnert, Aspekte, S. 106 ff., 127 ff. sowie die empirische Analyse von Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 87 ff., 96 ff., 167 ff.; ders., NStZ 1988, S. 63 f.; ferner Jans, Aushöhlung, S. 15 ff. 121 Gössel, Dünnebier-FS, S. 121, 143: „ein reichlich unvollkommenes, wenn nicht ein der Bedeutungslosigkeit nahekommendes Kontrollinstrument.“ 122 Vgl. dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 491 ff., der darauf hinweist, dass das Klageerzwingungsverfahren sogar im Ausland eine gewisse Vorbildwirkung erlangen konnte. 123 Maiwald, GA 1970, S. 33, 50 f.; Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1166; Weigend, Deliktsopfer, S. 492; Bischoff, NStZ 1988, S. 64; Küpper, Jura 1989, S. 281; Rieß, Gutachten, C 27 Rn 29; Hefendehl, GA 1999, S. 584.

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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gungstätigkeit sicherzustellen. Die einfachste Begründung könnte einmal mehr in der Behauptung eines individuellen Genugtuungsanspruchs gefunden werden.

a) Nochmals: Zur Existenz eines Genugtuungsanspruchs als Fundament der Klageerzwingung Zuletzt hat Hefendehl angenommen, dass der Verletzte durch die unrechtmäßige Einstellung des Verfahrens beschwert sei.124 In dem völlig berechtigten Anliegen, Staatsverfassung und Staatstätigkeit vom Menschen her zu konzipieren, gelangt er zu dem Schluss, dass der einzelne Bürger einen Anspruch darauf habe, die rechtmäßige staatliche Tätigkeit durchzusetzen.125 Hefendehl spricht freilich nicht explizit von einem „Genugtuungsanspruch“, sieht das Klageerzwingungsverfahren aber dennoch im Zusammenhang mit der durch das Grundgesetz statuierten Justizgewährung, die die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der individuellen Bedürfnisse des Verletzten im Strafverfahren gebiete.126 Noch pointierter hatte vor Hefendehl bereits Maiwald formuliert, dass der „Verletzte das Betreiben der Strafverfolgung ja aus gänzlich unsachlichen und willkürlichen Motiven heraus unterlassen mag und zudem ein kundiger Dritter, der die Sachlage durchschaut, u.U. objektiv eine sehr viel sachgemäßere Kontrolle ausüben könnte als gerade der Verletzte.“ Deshalb müsse die gesetzliche Regelung mit den persönlichen Interessen erklärt werden und insbesondere mit der Respektierung seines Willens.127 Es sei daher nur konsequent, das gem. § 172 StPO artikulierte Verlangen nach Strafverfolgung auf ein als berechtigt anerkanntes Vergeltungsbedürfnis zurückzuführen.128 Umgekehrt müsse in Kauf genommen werden, wenn ein objektiv gebotenes Klageerzwingungsverfahren mit Rücksichtnahme auf den Willen des Verletzten nicht durchgeführt werde. Stelle man den Verletzten als Person in den Vordergrund, so sei er der „geborene Wächter“ über die Verfolgungstätigkeit der Staatsanwaltschaft.129 In eine ähnliche Richtung argumentierte auch Hellmuth Mayer, der die Strafe als Instrument zum Schutze des Verletzten begreift. Mit ihrer Hilfe werde das Vertrauen des Betroffenen in die Wiederherstellung von Rechtssicherheit gestärkt. Insofern sei der Verletzte „irgendwie mitberechtigt am natürlich-rechtHefendehl, GA 1999, S. 584, 587. Hefendehl, GA 1999, S. 584, 592. 126 Hefendehl, GA 1999, S. 584, 586. 127 Maiwald, GA 1970, S. 33, 51 f., 52. 128 Maiwald, GA 1970, S. 33, 52. Das spezifische Betroffensein im Zuge der Tat verschaffe dem Verletzten einen über den lediglich anonymen Strafanspruch hinausgehenden, persönlichen Genugtuungsanspruch, der nicht mit dem zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch identisch sei. 129 Maiwald, GA 1970, S. 33, 52. 124 125

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lichen Strafanspruch.“130 Dieser Umstand finde in § 172 StPO seinen plakativen Ausdruck. Die Norm selbst erkenne das prozessuale Strafklagerecht des Verletzten an.131 Weigend weist zutreffend darauf hin, dass die §§ 172 ff. StPO nicht als Beweis für die Existenz eines Genugtuungs- oder Kontrollanspruchs des Verletzten herangezogen werden können. Über das Vorhandensein „eines solchen subjektiven Rechts läßt sich aus dem Bestehen des Klageerzwingungsverfahrens nämlich nur dann etwas ablesen, wenn man den Anspruch zuvor in dieses Rechtsinstitut hineininterpretiert hat.“132 Es ist bereits ausgeführt worden, dass auch der aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. dem Rechtsstaatsprinzip folgende Justizgewährungsanspruch kein Recht des Verletzten auf Durchführung des Strafverfahrens einräumt. Jede gegenteilige Annahme beruht auf einer bloßen Fiktion oder einer nicht weiter reflektierten Unterstellung.133 Ein Genugtuungs- oder Vergeltungsanspruch würde darüber hinaus der gesetzlichen Konzeption nicht gerecht. Schließlich ist es ja nicht der einzelne Bürger, der das Gerichtsverfahren gegen den Verdächtigen in Gang setzt. § 172 StPO weist zwar die Antragsberechtigung des Verletzten aus, jedoch ist es nach dem Willen des § 175 StPO das entscheidende Gericht, welches die Erhebung der öffentlichen Klage anordnet. Seine Einschätzung des zugrundeliegenden Sachverhalts führt gegebenenfalls zum Erfolg des Klageerzwingungsverfahrens. Eine irgendwie geartete Bindung an den Willen oder die Interessen des Individuums findet nicht statt. Die Annahme eines Genugtuungsanspruchs ist daher haltlos. Ein solcher würde sich überdies in der Gewährung der Beschwerdebefugnis erschöpfen, denn eine darüber hinausgehende Mitwirkungsbefugnis des Verletzten ist durch die Strafprozessordnung nicht vorgesehen. Ginge es um die Durchsetzung eines gerade ihm zustehenden Anspruchs, so läge es in der Natur der Sache, den Einzelnen über Art und Umfang eines zu seinen Gunsten gewährten Rechts mitbestimmen zu lassen. Das ist indessen nicht der Fall. Auch der erfolgreiche Klageerzwingungsantrag führt lediglich zu der Anordnung des zuständigen Oberlandesgerichts, dass die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage zu erheben habe.134 b) Das Klageerzwingungsverfahren als Institut zur Wahrung des Legalitätsgrundsatzes Nicht einmal das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft wird also durchbrochen.135 Der Verletzte bleibt ohne eigene Zuständigkeit. Er liefert allenfalls den Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 604. Wobei § 172 StPO im Zusammenhang mit dem Recht zur Nebenklage und dem Adhäsionsverfahren gesehen werden müsse, Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 604. 132 Weigend, Deliktsopfer, S. 493. 133 So auch Weigend, Deliktsopfer, S. 493. 134 SK-StPO-Wohlers, § 172 Rn 1; AK-StPO-Moschüring, § 172 Rn 1. 130 131

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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Impuls für weitere bzw. neuerliche Verfolgungsbemühungen. Sinn und Zweck des Klageerzwingungsverfahrens können mithin nicht in der Anerkennung eines subjektiven Klageanspruchs gefunden werden. Alleiniger Gegenstand der §§ 172 ff. StPO ist die Frage um die Notwendigkeit der öffentlichen Klageerhebung. Es geht um die Gewährleistung einer gleichmäßigen und willkürfreien Strafverfolgungstätigkeit. Insofern aber ist der herrschenden Meinung zuzustimmen, wonach das Klageerzwingungsverfahren die Durchsetzung des Legalitätsprinzips ermöglichen soll.136 Das persönliche Genugtuungsverlangen des Verletzten eignet sich trefflich als Motor, um die Einhaltung des Anklagezwangs durch eine gerichtliche Entscheidung in einem Teilbereich der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit überprüfbar zu machen. Die daraus resultierende disziplinierende Wirkung hat sich der Gesetzgeber nutzbar gemacht.137 Gleichwohl dient die Ausführung des Kontrollmechanismus ausschließlich dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung des Legalitätsprinzips; alles andere ist bloßer Reflex. Die Anordnung der öffentlichen Klageerhebung durch das zuständige Gericht enthält die Aussage, dass die Rechtszuweisungsordnung ihre Wehrhaftigkeit zu demonstrieren habe und sei es nur im Zuge der nochmaligen Überprüfung der Umstände. Der Zweck des Strafverfahrens wird also für weiterhin verfolgbar erklärt. Die Bedürfnisse des Individuums sind hierbei nur von Legitimität stiftender Bedeutung. Das Klageerzwingungsverfahren setzt somit die strafrechtssystematischen Vorgaben ins Werk bzw. ist dabei behilflich, diese zu verwirklichen.

2. Alternativen zur gegenwärtigen Konzeption a) Psychologische Ausstrahlungswirkung der Befugnis zur Klageerzwingung Dennoch lässt sich in Zweifel ziehen, ob die gegenwärtige Konzeption der §§ 172 ff. StPO in jeder Hinsicht sinnvoll ist. So bezeichnete es Maiwald als ein psychologisches Manko, dass die Staatsanwaltschaft im Anschluss an eine entsprechende Entscheidung des OLG wider Willen die Anklägerrolle annehmen müsse. Man müsse sich darüber klar sein, „daß man dem StA mit der Verpflichtung, eine SK-StPO-Wohlers, § 172 Rn 3; Meyer-Goßner, § 172 Rn 1; KK-Schmid, § 172 Rn 1. KK-Schmid, § 172 Rn 1; Meyer-Goßner, § 172 Rn 1; Weigend, Deliktsopfer, S. 492, der die Behauptung eines subjektiven Klageanspruchs richtigerweise als unhistorisch bezeichnet. Auch SK-StPO-Wohlers, § 172 Rn 1, hält eine derartige Auffassung für unvereinbar mit der Entstehungsgeschichte der Norm. Vgl. ferner BayObLG NJW 1953, S. 714; OLG Bremen NStZ-RR 2000, S. 270; OLG Düsseldorf wistra 1993, S. 200; Küpper, Jura 1989, S. 281; auch Schorn, NJW 1965, S. 1517 ff. 137 So Rieß, Gutachten, C 26 Rn 27. 135 136

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Anklage auf Anordnung des OLG zu erheben, in letzter Konsequenz ansinnt, unter Umständen einen seiner Meinung nach Unschuldigen zu verfolgen.“138 Die Staatsanwaltschaft könne unmöglich gezwungen sein, sich die Beurteilung der Rechtsfrage nach der Verfahrenseinstellung durch ein Gericht zueigen zu machen.139 Die Suche nach denkbaren Alternativen fällt freilich nicht leicht. Maiwald selbst hatte erwogen, ob es nicht zweckmäßiger sei, den privaten Einzelnen an die Stelle des öffentlichen Anklägers treten zu lassen.140 Dies spräche für die Schaffung einer subsidiären Privatklage, deren Einführung dereinst gerade verhindert werden sollte.141 Tatsächlich erscheint eine solche Lösung unbefriedigend: „Denn mit der Möglichkeit einer subsidiären Privatklage wäre dem StA jedenfalls psychologisch ein Stück Verantwortung abgenommen. Er würde sich bei der Frage der Einstellung sagen, der Verletzte könne ja seinerseits das Verfahren betreiben, wenn er sich bei der Einstellung nicht beruhige.“142 Mit der Einstellung wäre die Staatsanwaltschaft der Verfolgungslast enthoben, was die jeweilige Einstellungsentscheidung erleichtern würde. Die Gefahr, nochmals mit derselben Angelegenheit befasst zu werden, wäre eliminiert.143 Eine Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit wäre dann erst recht ernsthaft in Betracht zu ziehen; die präventive Kraft des Klageerzwingungsverfahrens würde aufgegeben und das Legalitätsprinzip einer gewissen Beliebigkeit anheimgestellt. Der rechtspolitische Gedanke dieser besonderen Verfahrensart erweist sich dagegen als durchaus vorteilhaft.

b) Ausweitung des Klageerzwingungsverfahrens zur Stärkung seiner Präventivkraft Zugleich wird ein konzeptionelles Defizit offenbar: Wenn sich aus der Umsetzung des Legalitätsprinzip das Bedürfnis nach einer „Außenkontrolle“144 ergibt, so erhebt sich die Frage, warum das Klageerzwingungsverfahren sich auf einen Ausschnitt der Kriminaldelikte beschränkt. Gegenwärtig bleiben wesentliche Bereiche der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit unkontrolliert. Bemerkenswerterweise beMaiwald, GA 1970, S. 33, 50 f. Maiwald, GA 1970, S. 33, 51. Die Lösung der deutschen StPO sei deshalb abzulehnen. 140 Dieser Vorschlag wird von Maiwald, GA 1970, S. 33, 51, im Ergebnis allerdings selbst verworfen. 141 Dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 142 ff.; hierdurch wäre das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft tatsächlich durchbrochen worden, siehe auch Görg, Entstehung, S. 115 ff. 142 Maiwald, GA 1970, S. 33, 53. 143 So Maiwald, GA 1970, S. 33, 53. Angesichts der nicht-obligatorischen Wahrnehmung der subsidiären Privatklagebefugnis ist mehr als zweifelhaft, ob Fehler in der Ermessensausübung der Anklagebehörde wirklich korrigiert werden würden. Umgekehrt würde eine Verpflichtung zur Privatklage im Zeichen der Lückenlosigkeit des Legalitätsprinzips dem betroffenen Individuum kaum zumutbar sein, vgl. dazu Görg, Entstehung, S. 116. 144 Begriff von Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1165. 138 139

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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trifft diese Situation genau die Tatbestände, bei denen die Gefahr unsachgemäßer politischer Einflussnahme und fadenscheiniger Rücksichten am größten ist.145 Genannt seien nur die Amts-, Wirtschafts- und Staatsschutzdelikte. Hefendehl konstatiert darüber hinaus im Bereich der Umweltstraftaten sowie bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität chronische Verfolgungsdefizite.146 Das Klageerzwingungsverfahren versagt also ausgerechnet im weiten Feld der gemeinschaftsbezogenen Delinquenz und lässt Kontrollmöglichkeiten gerade dort nicht zu, wo die gleichmäßige Handhabung des Legalitätsprinzips am ehesten in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Es wäre ein Leichtes, diese Befindlichkeit schlicht als den Preis aufzufassen, den die Rechtsgemeinschaft dafür zu zahlen hat, dass die Staatsanwaltschaft sich auch selbst als verantwortlicher Schutzwächter der Rechtsordnung begreift.147 Schließlich wird die StA gern als die „objektivste Behörde der Welt“ bezeichnet. Andererseits ist die Literatur in der jüngeren Vergangenheit darum bemüht, den Begriff des Verletzten in § 172 StPO möglichst extensiv auszulegen, um auf diese Weise eine umfassende gerichtliche Nachprüfbarkeit von Einstellungsentscheidungen zu erreichen.148 aa) Zur Sinnhaftigkeit einer Popularklagebefugnis Es scheint manches dafür zu sprechen, das Klageerzwingungsverfahren nicht auf den Verletzten zu begrenzen, sondern jedermann eine entsprechende Befugnis einzuräumen. Die §§ 172 ff. StPO wären dann im Sinne einer modifizierten Popularklage auszugestalten. Möglicherweise würde auf diesem Wege die Präventivwirkung der Klageerzwingung effektuiert. Allerdings stößt ein derartiges Modell auf heftigen Widerstand. Schon Dalcke wies auf das Risiko hin, dass die Triebfedern für die Inanspruchnahme von Rechtsinstituten ganz unterschiedlicher Natur sein können.149 In der Tat steht zu befürchten, dass nur ein Teil der potenziell Antragsberechtigten sich von dem Motiv würden leiten lassen, eine Kontrolle der Staatsanwaltschaft zu erreichen. Es ist nicht lediglich eine Unterstellung, dass undurchsichtige Leidenschaften, ein gewisser Hang zum Querulantentum oder subtile Eigennutzerwägungen die wirklichen Impulse für eigene rechtliche Anstrengungen sind. Es kommt hinzu, dass der Beschuldigte im Rechtsstaat redlicherweise erwarten darf, vor ungerechtfertigten und schikanösen Verfolgungen geschützt zu wer145 So der Befund von Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1166; in diesem Sinne auch Hefendehl, GA 1999, S. 584, 585. 146 Hefendehl, GA 1999, S. 584, 585. 147 Maiwald, GA 1970, S. 33, 52 f. 148 Beispielhaft Hefendehl, GA 1999, S. 584 ff., 590 ff. Übersicht zum Meinungsstand auch bei Küpper, Jura 1989, S. 281 ff. 149 Dalcke, GA 7 (1859), S. 734, 743.

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den.150 Die Popularklage erscheint insbesondere aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch. Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ist vor allem dem Beschuldigten gegenüber zu wahren151, zumal er bis zum Zeitpunkt der Verhängung einer Strafe in den Genuss der Unschuldsvermutung kommt. Mancherlei Ausschweifungen ließen sich sicherlich durch eine Reihe flankierender Regelungen und Kautelen abfangen, jedoch würde dadurch wiederum das Risiko heraufbeschworen, dass die Erweiterung der Antragsbefugnis in praxi zu keiner Änderung des status quo führte. Damit aber wird die Sinnhaftigkeit langwieriger Reformbemühungen schlechthin in Zweifel gezogen. – Worin läge die Verbesserung?152 Es zeigt sich, dass ein formalisiertes Begrenzungskriterium zweckmäßig und wünschenswert ist.153 Trotzdem ist fraglich, warum gerade der Verletzte der geeignete Antragsberechtigte im Klageerzwingungsverfahren sein sollte. Die Wahrung des Legalitätsprinzips ist dem Anliegen einer gleichmäßigen und gerechten Strafverfolgungstätigkeit verpflichtet. Sie ist damit Ausdruck des allgemeinen Willens, einen effektiven Schutz der Rechtsordnung in ihrem Bestande zu gewährleisten, wodurch schlussendlich die Akzeptanz in die Mechanismen der staatlichen Strafverfolgung gesteigert wird.154 Der gesellschaftliche Rückhalt des Strafrechtssystems wird hierdurch gestärkt.155 Es wäre widersprüchlich, wenn dies um den Preis der Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Prinzipien geschähe. Die Popularklage lässt Anträge aus beliebiger Richtung zu. Der Kreis denkbarer Klageerzwingungswilliger ist unbestimmt und gegebenenfalls unabschätzbar groß. Das zieht die Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des als Kontrollinstrument ausgestatteten Klageerzwingungsverfahrens in Mitleidenschaft. Schlimmstenfalls sähen sich das entscheidende Gericht wie auch der Beschuldigte einer Vielzahl unabsehbarer Monita konfrontiert, was vermeidbare Verzögerungen und Rechtsunsicherheit mit sich brächte.

So auch Gössel, Dünnebier-FS, S. 121, 144; ähnlich Weigend, Deliktsopfer, S. 495. Wobei die formellen Erfordernisse des Klageerzwingungsverfahrens durchaus zu einer Eindämmung des Querulantentums geeignet sind. Mutwillige Übertreibungen werden etwa durch die Einschaltung eines Anwalts in verträgliche Bahnen gelenkt, § 172 Abs. 3 StPO. Auch das Kostenrisiko (§ 177 StPO) sowie weitere Formen und Fristen (§ 172 Abs. 2, 3 StPO) tragen zur Versachlichung des Verfahrens bei, dazu Maiwald, GA 1970, S. 33, 51. 152 In diesem Bereich ist vieles diskutiert und vorgeschlagen worden. Angedacht wurden etwa Initiativbefugnisse für öffentliche Mandatsträger oder die Schaffung einer Verbandsklage. Anregungen wie diese tragen freilich von Anfang an das Risiko in sich, dass rechtliche Belange zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht werden. Dazu Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1165. 153 So auch der Schluss von Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1165. 154 Küpper, Jura 1989, S. 281. 155 SK-StPO-Wohlers, § 172 Rn 2, bezeichnet diesen Aspekt gar als einen ohne weiteres anerkennungswerten Nebeneffekt des Klageerzwingungsverfahrens. 150 151

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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bb) Der Verletzte als Sachwalter des allgemeinen Interesses Solche Szenarien können freilich unterbunden werden, wenn man den Verletzten zum Sachwalter des allgemeinen Interesses macht. Im Klageerzwingungsverfahren ist er dann der Geschäftsführer der Allgemeinheit, deren Interesse an gleichmäßiger Anwendung der Strafgesetze er zur Durchsetzung verhilft. Wie Weigend richtigerweise feststellt, wird die Effektivität der Kontrolle dadurch in vernachlässigbarem Umfang gemindert. Schließlich ist der sich als verletzt begreifende Einzelne derjenige mit dem im Zweifel intensivsten Begehren nach nochmaliger Prüfung der rechtlichen Lage.156 In seiner Person repräsentiert sich die Auflehnung gegen die Verhaltensnormen der Rechtsordnung. Es ist deshalb nur plausibel, ihn zum Stellvertreter eines generellen Kontrollbedürfnisses zu erheben. Zudem bleibt das Klageerzwingungsverfahren in diesem Rahmen eine für alle Beteiligten überschaubare Angelegenheit, die rechtsstaatlichen Kriterien mühelos genügt. Dies darf allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass es sich hierbei in erster Linie um eine rechtspolitische Entscheidung handelt. Es gibt keine wirklich tragfeste dogmatische Begründung, die ausgerechnet dem Verletzten die exklusive Befugnis zuweist, sich als Sachwalter des öffentlichen Interesses gerieren zu müssen. Im Vordergrund steht weniger das Votum für den Verletzten als vielmehr die Ablehnung jeglicher Erscheinungen der Popularklage. Dem lässt sich gegenwärtig wenig entgegensetzen. cc) Überwindung der starren Trennung von Opportunitäts- und Legalitätsfragen Der Gedanke ist sogar einer gewissen Verallgemeinerung zugänglich. Zentral ist insofern der dargelegte Kontrollbedarf. Es mutet demgegenüber merkwürdig an, das Klageerzwingungsverfahren zusätzlichen wesentlichen Einschränkungen zu unterziehen. Die praktisch relevanteste Ausschlussnorm ist hier § 172 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach die Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen für Ermessensentscheidungen der Staatsanwaltschaft in Gemäßheit der §§ 153 ff. StPO der gerichtlichen Nachprüfbarkeit entzogen wird. Mehr als ein Drittel der staatsanwaltschaftlichen Verfolgungstätigkeit ist damit vor jedweder rechtlichen Beanstandung gefeit.157 – Das ist im Einflussbereich des Grundgesetzes durchaus eine bemerkenswerte Rarität. Hierzu wird von einigen158 recht pauschal dargelegt, dass die dem geltenden Recht zugrunde liegende Zweckbestimmung des Klageerzwingungsverfahrens das Charakteristikum einer begrenzten Reichweite unmittelbar zueigen sei. Das KlaWeigend, Deliktsopfer, S. 493, 494. Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 255. 158 Löwe-Rosenberg-Gralmann-Scherer, § 172 Rn 1; Meyer-Goßner, § 172 Rn 3; KKSchmid, § 172 Rn 41. 156 157

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geerzwingungsverfahren sei ein Mittel zur Gewährleistung der dem Legalitätsprinzip entsprechenden Anklagepflicht. Daraus aber folge seine Unanwendbarkeit für alle Durchbrechungen des Legalitätsprinzips, insbesondere also für die richtige Handhabung des Opportunitätsgrundsatzes.159 Legt man diese Sichtweise zugrunde, so hat § 172 Abs. S. 3 StPO lediglich deklaratorischen Charakter. Tatsächlich wurde die Norm erst spät ins Gesetz aufgenommen, so dass sich eine klarstellende Funktion vermuten ließe. Bereits vorher hatte sich eine griffige Formulierung im Meinungsbild von Rechtsprechung und Lehre durchgesetzt: „Das dem Verletzten gewährte Antragsrecht soll die Durchführung des Legalitätsprinzips sichern. Daher reicht dasselbe nur eben so weit, als die Herrschaft des Prinzips reicht; insoweit die Verfolgung strafbarer Handlungen in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt ist [ . . . ], greift das Antragsrecht nicht Platz; die Gerichte sind nicht zur Entscheidung von Opportunitätsfragen berufen.“160 Dadurch wird suggeriert, dass zwischen Opportunitätsgrundsatz und Legalitätsprinzip eine strikte Trennung bzw. Trennbarkeit möglich und nach festen Kriterien vornehmbar sei. Dabei orientiert sich die Unterscheidung an Termini wie „geringe Schuld“ oder „öffentliches Interesse“. Bei Lichte betrachtet ist es allein die Staatsanwaltschaft, die über die Abgrenzung von Opportunität und Legalität befindet. Auf diese Weise ist sie ohne weiteres in der Lage, das Opportunitätsprinzip in einem Umfang auszudehnen, der die Legalitätsmaxime zur Ausnahmeerscheinung verkümmern lassen kann; zumindest gilt dies für einen überwiegenden Bereich der Strafverfolgung, namentlich für alle Vergehen. Somit betrifft die Beschreibung des § 172 Abs. 2 S. 3 StPO nicht nur einen Randbereich von untergeordneter Bedeutung. Zugleich wird offenbar, dass in jeder Entscheidung über die zutreffende Verwirklichung des Legalitätsprinzips stets auch ein Hinweis für die Verfolgungspraxis nach dem Opportunitätsgrundsatz enthalten ist. Die Reichweite des Klageerzwingungsverfahrens lässt sich mithin nicht nach starren Gesichtspunkten abstecken. Vielmehr trägt die ihm beigemessene Präventivwirkung gerade im Bereich der Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen. Die Regelung des § 172 Abs. 2 S. 3 StPO ist deshalb verfehlt und schafft eine Machtvollkommenheit der Staatsanwaltschaft, der durch das Klageerzwingungsverfahren im Zeichen einer legitimen Verfolgungstätigkeit Einhalt geboten werden sollte. Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die Staatsanwaltschaft – quasi als einzige Behörde überhaupt – keiner gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden sollte.

159 Löwe-Rosenberg-Gralmann-Scherer, § 172 Rn 1; OLG Celle NdsRpfl 1963, S. 258; OLG Nürnberg MDR 1965, S. 845; auch OLG Düsseldorf wistra 1993, S. 200; ebenso KKSchmid, § 172 Rn 41. 160 Zu dieser dereinst sehr populären Formulierung des Kommentators Löwe-Rosenberg Mayer, JZ 1955, S. 601, 602 f.

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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Gelegentlich ist behauptet worden, dass eine richterliche Nachprüfung bereits im Zuge der Einstellungsverfügung erfolgt sei. Schließlich setzten die §§ 153 ff. StPO die Zustimmung des zuständigen Gerichts voraus.161 Allerdings wird damit verkannt, dass die in Rede stehende Zustimmungsverfügung überhaupt keine eigene, das Verfahren sachlich beendende Entscheidung des Gerichts darstellt, sondern lediglich der Weg für eine eigene Entschließung der Staatsanwaltschaft eröffnet wird.162 Darüber hinaus kann der Richter seine Zustimmung nur aufgrund der ihm von der StA vorgelegten Akten treffen. Es gibt also hinreichend Potenzial für eine leichte Manipulierbarkeit163, was wiederum indiziert, dass präventive Sicherungsmechanismen sehr sinnvoll sind. Erschwerend kann davon ausgegangen werden, dass in der Praxis die Zustimmung des Gerichts nach nur kursorischer Prüfung des Sachverhalts erteilt wird. De facto wird sie nur in seltenen Ausnahmefällen verweigert.164 Das richterliche Zustimmungserfordernis kann daher nicht als nennenswertes Korrektiv oder gar als Äquivalent für eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung aufgefasst werden.165 Es lässt sich resümieren, dass das Klageerzwingungsverfahren auf Verfahrenseinstellungen im Sinne der §§ 153 ff. StPO erweitert werden sollte. Die grundlegenden Erwägungen, die seine Existenz rechtfertigen, treffen auch hier zu.166 dd) Zur richterlichen Kontrolldichte bei staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidungen Gleichwohl wird eine obergerichtliche Überprüfung staatsanwaltschaftlicher Ermessensentscheidungen für systemwidrig und kaum praktikabel erachtet. So hält etwa Weigend die Einstellungsvoraussetzungen der Praxis für so unbestimmt, dass die richterliche Kontrolle angesichts der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsspielräume leerliefe.167 Er schlägt daher vor, das Ermessen der Staatsanwaltschaft gesetzlich zu regulieren, wobei die Indikationen und Gegenindikationen der Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen ausdrücklich festzulegen seien.168 Erst dann mache eine gerichtliche Kontrolle überhaupt Sinn. So etwa OLG Frankfurt, GA 1970, S. 213. Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 603. 163 Ebenso Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 603; auch Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 258. 164 Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 258. 165 Ähnlich Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 603 sowie Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 258, der zusätzlich daran erinnert, dass im Rahmen der §§ 153 ff. StPO eine richterliche Zustimmung nicht bei sämtlichen Einstellungsmöglichkeiten vorgeschrieben wird. 166 Für eine Erweiterung auch SK-StPO-Wohlers, § 172 Rn 5 und Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 602 ff.; Rieß, Gutachten, C 26 Rn 28; Küpper, Jura 1989, S. 281, 285. 167 Weigend, Deliktsopfer, S. 500; skeptisch auch Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1166. 168 Weigend, Deliktsopfer, S. 500, 501, unter Berufung auf ähnliche Anregungen von Zipf, Peters-FS, S. 487, 500 ff. sowie Rieß, NStZ 1981, S. 2, 7. 161 162

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Es ist indessen zweifelhaft, ob solcherlei legislatorische Maßnahmen den gewünschten Erfolg bringen. Es ist schon fraglich, wie ein Katalog der Voraussetzungen von Verfahrenseinstellungen beschaffen sein sollte. Angesichts der Vielzahl denkbarer Kriterien würden sich selbst umfangreiche Leitlinien auf Dauer als Torso herausstellen. Zudem würde ein gutes Stück an Flexibilität und Einzelfallorientiertheit aufgegeben. Es ist weder notwendig noch wünschenswert, die Staatsanwaltschaft in ein Gerüst zahlreicher Kautelen zu zwängen. Man würde so dem eigentlichen Anliegen auch nicht gerecht werden. Intendiert ist lediglich die Unterbindung von Missbrauch sowie die Vermeidung politisch motivierter Einflussnahme auf die Rechtsanwendung. Nicht beabsichtigt ist aber die Eindämmung oder Verkürzung der gegenwärtigen Ermessensausübung. Vielmehr stellt sich das Problem der vom Gericht wahrzunehmenden Kontrolldichte. Gerade im Anwendungsbereich der §§ 153 ff. StPO bedient sich die Strafprozessordnung schon auf Tatbestandsseite einer ganzen Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen169, was die Nachprüfbarkeit nicht eben erleichtert. Deswegen ist sie aber nicht ausgeschlossen. Die Tatbestandsseite einer Norm ist ohnehin in vollem Umfang einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Die Überprüfung der eigentlichen Ermessensentscheidung ist im Rechtsstaat des Grundgesetzes aber ebenso selbstverständlich. Im öffentlichen Recht bzw. bei verwaltungsrechtlichen Sachverhalten ist sie seit jeher gang und gäbe. Die dort entwickelten Grundsätze lassen sich auch für Opportunitätsentscheidungen der Staatsanwaltschaft fruchtbar machen.170 Das gilt umso mehr, als die Staatsanwaltschaft in ihrem Handeln keineswegs autark ist. Sie übt keine Kompetenz aus, die gewissermaßen ihrer unumschränkten Einschätzungsprärogative unterliegt; eine den Gerichten überlegene Sach- und Fachkompetenz, die zu respektieren und daher unantastbar wäre, ist nicht ersichtlich. Überlegungen, die für die Staatsanwaltschaft im Rahmen zu treffender Opportunitätsentscheidungen anzustellen sind, haben für die Gerichte üblicherweise bei der Strafzumessung ihre Relevanz.171 Natürlich ist die Verteilungsstruktur der unterschiedlichen Funktionen von Gericht und Staatsanwaltschaft aufrechtzuerhalten. Das aber ist per se noch nicht geeignet, die Richtigkeit von Kontrollmechanismen schlechthin in Zweifel zu ziehen. Die gesetzliche Kompetenzverteilung soll gerade unterstrichen werden. Dazu aber gehört, dass es der Staatsanwaltschaft nicht möglich ist, die zur Entscheidung berufenen Gerichte im Zuge von Opportunitätseinstellungen ihrer Aufgaben zu entheben, um auf diese Weise Urteile zu vereiteln, die im Dienste der Legalität zu fällen gewesen wären. Es ist mithin kein Nachteil für die Strafrechtspflege zu befürchten. Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 264. So auch Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 263. 171 Vgl. Hellmuth Mayer, JZ 1955, S. 601, 603 sowie Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 266. 169 170

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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Wie im öffentlichen Recht üblich, würden die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft auf Ermessensüberschreitung, Ermessensmissbrauch sowie unterbliebene Ermessensausübung hin überprüft werden. Das entspricht auch der Interessenlage im Klageerzwingungsverfahren. Es wird nachvollzogen, ob die gesetzlichen Grenzen der Ermessensentscheidung eingehalten worden sind. Hierdurch tritt weder eine strafprozessuale Zweckvereitelung ein, noch sind Risiken hinsichtlich der Strafverfolgung im Allgemeinen zu befürchten.172 Dagegen lassen sich auch justizökonomische Bedenken nicht vorbringen. Es ist nicht zu erwarten, dass das Klageerzwingungsverfahren mit der Erweiterung seines Anwendungsbereichs an praktischer Bedeutung erheblich zunähme oder gar eine Überlastung der Gerichte provoziert würde. Der Präventiveffekt stünde auch weiterhin im Vordergrund. Insofern bliebe die Existenz des Klageeerzwingungsverfahrens von überwiegend psychologischer Tragweite. Diese würde sich indessen auf die meisten Bereiche der Strafrechtspflege erstrecken und nicht mehr nur auf einen Ausschnitt. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO sollte deshalb gestrichen werden.

3. Die Klageerzwingung als Forderung der EMRK a) Ermittlungsmaßnahmen als Bestandteil der unbedingten staatlichen Aufgabenwahrnehmung Eventuell wird die Forderung nach einer umfassenden Möglichkeit der Klageerzwingung sogar durch das Völkerrecht determiniert. In diesem Kontext ist vor allem die EMRK zu nennen, deren praktische Relevanz in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Namentlich der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt eine Verpflichtung zur staatlichen Strafverfolgung angemahnt. Den Ausgangspunkt bildete dabei Art. 2 EMRK, der jedem Menschen das Recht auf Leben zusichert. Aus dem Zusammenhang mit den allgemeinen Verpflichtungen des Staates aus Art. 1 EMRK, allen staatlicher „Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I dieser Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten“ zuzusichern, ergebe sich die Pflicht, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, wenn Gewaltanwendung den Tod eines Menschen zur Folge habe.173 Art. 2 EMRK verpflichtet also dazu, im Falle der Tötung eines Menschen von Amts wegen zu ermitteln.174 Bemerkenswerterweise bildete ein erfolgloses Klageerzwingungsverfahren den Gegenstand der Entscheidung im Fall Grams gegen Deutschland.175 Bischoff, Klageerzwingungsverfahren, S. 264. EGMR NJW 2001, S. 1989 (Grams vs. Deutschland). 174 EGMR (Große Kammer) NJW 2001, S. 2001 (Salman vs. Türkei); zum Ganzen auch Lagodny, Schutz, S. 83 ff. 175 Das OLG Rostock hatte in letzter Instanz über den Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage entschieden. Es ging um die Tötung des Terroristen Grams im Zuge des Versuchs der GSG 9, ihn festzunehmen. 172 173

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Gleichwohl ist klärungsbedürftig, zu wessen Gunsten die ausgesprochene Verpflichtung wirkt. Schließlich ist die EMRK zunächst ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag, der dementsprechend seine Wirksamkeit nur zwischen den Vertragsparteien bzw. den Unterzeichnerstaaten entfaltet.176 Insofern aber statuiert er nur die kollektive Garantie eines gemeinsamen Standards hinsichtlich bestimmter Menschenrechte.177 Die Konvention etabliert daher eine objektive Ordnung.178 Das Ziel besteht zwar darin, jeden Menschen vor Konventionsverletzungen zu schützen, jedoch sind die unmittelbaren Adressaten der EMRK nicht Privatpersonen. Freilich hat der EGMR stets betont, dass die Auslegung der Konventionsvorschriften im Sinne eines möglichst effektiven Rechtsschutzes erfolgen müsse. Die Vertragsregelungen sind demnach so auszulegen, dass ihnen die jeweils größte Wirksamkeit zukommt. Deshalb aber dürfe die Garantie der verbürgten Rechte nicht theoretisch bleiben oder als bloße Illusion auf dem Papier stehen.179 Die Rechte müssen praktische Beachtung finden. Nur so sei eine Festigkeit im Menschenrechtsschutz überhaupt zu erreichen.180 Folglich sind die Konventionsgarantien mit einer mittelbaren Drittwirkung ausgestattet. Es besteht mithin Anspruch auf Schutz durch den Staat auch gegenüber Eingriffen durch Private. Man ist sich darüber einig, dass die Mitgliedstaaten zur Schaffung einer Staatsordnung verpflichtet sind, die die Person unter den angemessenen Schutz des Staates stellt. Diese Auffassung wird in Bezug auf das Lebensrecht nach Art. 2 EMRK mit Nachdruck befürwortet. Dazu gehört, dass der Staat tatsächlich dafür Sorge trägt, dass alle gewaltsamen Tötungen in seinem Hoheitsbereich unverzüglich und von Amts wegen von seinen Organen effektiv verfolgt werden, ganz gleich, wer sie begangen hat.181 Wenn in diesem Kontext von entsprechenden Ansprüchen die Rede ist182, sind allerdings keine Leistungsrechte zu Gunsten Einzelner gemeint, denn solche ge176 Kieschke, Praxis, S. 35; Frowein / Peukert, EMRK, Einführung Rn 4; A. Peters, Einführung, S. 12. 177 Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, MRK-Einf. Rn 37. 178 A. Peters, Einführung, S. 12. 179 EGMR EuGRZ 1979, S. 626 ff. (Ayreg vs. Irland). 180 EGMR HRLJ 16 (1995), S. 15, 23 f. (Loizidou vs. Türkei): „The object and purpose of the Convention as an instrument for the protection of individual human beings requires that its provisions be interpreted and applied so as to make its safeguards practical and effective.“ 181 Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, MRK Art. 2 / Art. 6 IPBPR Rn 4. 182 In dieser Richtung etwa die Entscheidung im Fall EGMR NJW 2001, S. 1989 (Grams vs. Deutschland), wo zumindest implizit von einem Recht der Angehörigen auf Strafverfolgung gegen Dritte die Rede ist; é contrario aus: „Diese Verpflichtung unterscheidet sich von der aus Art. 6 EMRK, der ein Recht auf Strafverfolgung gegen Dritte nicht garantiert.“ Gemeint ist die Strafverfolgungspflicht, die dem Staat aus Art. 2 EMRK erwächst. Vgl. auch Meyer-Ladewig, Art. 6 Rn 27.

III. Das Klageerzwingungsverfahren

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währt die EMRK nicht. Die Konvention erzwingt auch keine bestimmte Gerichtsverfassung oder enthält die Anerkennung eines individuellen Genugtuungsanspruchs. Jede andere Interpretation würde die Festlegungen des Vertragstextes überstrapazieren und hierfür gibt es nach den zulässigen Auslegungsmethoden auch keinen Hinweis. Dies aber schließt die Existenz von Gewährleistungsrechten nicht aus. Die Bezeichnung „Recht“ verdient eine Verbürgung nur dann, wenn sie sich in einem geordneten Verfahren auch durchsetzen lässt; wenn sie sich also als justiziabel erweist. In diesem Sinne kann die Aufrechterhaltung der Konventionsgarantien unter bestimmten Umständen das Tätigwerden des Staates erfordern183, was die Notwendigkeit einer wirksamen Umsetzung dieser Forderung im Zuge von Kontrollmechanismen gleichsam nahelegt. Das Klageerzwingungsverfahren ist hierfür ein geeignetes Instrument.

b) Zur Reichweite der Konventionsforderungen Präzisierungsbedürftig ist indessen die Reichweite der Konventionsforderungen. Der EGMR hat die einschlägigen Gewährleistungsrechte vor allem mit Bezug auf Art. 2 EMRK formuliert. Gleichzeitig ließ er aber keinen Zweifel daran, dass die staatliche Pflicht zum Lebensschutz bereits im Vorfeld einer möglichen Tötung besteht.184 Art. 2 EMRK ist schon dann verletzt, wenn die zuständigen Behörden die nach den Umständen gebotenen und ihnen nach der Sachlage möglichen Vorkehrungen zum Lebensschutz nicht getroffen haben, obwohl bekannt war oder nach den Umständen hätte erkannt werden können, dass eine entsprechende Gefährdung des Lebens einer bestimmten Person mit Sicherheit oder aller Wahrscheinlichkeit nach zu befürchten war.185 Damit wäre das Klageerzwingungsverfahren auf sämtliche Tatbestände zu erstrecken, deren Vorliegen vom Eintreten einer Lebensgefahr abhängig ist.186 Hiervon sind nicht wenige Vergehen betroffen, deren prozessuale Behandlung nach den §§ 153 ff. StPO erfolgen könnte. Man denke nur an den weiten Bereich der Straßenverkehrsdelikte. Doch auch abseits des Lebensschutzes bestehen staatliche Schutzpflichten, deren Durchsetzung die Konvention einfordert. So sind auch aus Art. 3 EMRK umfangreiche Gewährleistungen hergeleitet worden. Dieser verbietet jede Form unmenschlicher oder erniedrigender sowie grausamer Behandlung, wobei unbeNur A. Peters, Einführung, S. 14. EGMR ÖJZ 1996, S. 233 (McCann vs. Großbritannien). Dazu auch Löwe-RosenbergGollwitzer, Art. 2 EMRK / Art. 6 IPBR Rn 4 ff. 185 Dazu Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, Art. 2 MRK / Art. 6 IPBR Rn 5. 186 Dazu auch Esser, Europ. Strafverfahrensrecht, S. 108, 109 f., mit dem Hinweis, dass Ermittlungsmaßnahmen freilich vom Vorliegen eines bestimmten Tatverdachts oder einer positiven Erfolgsprognose abhängig gemacht werden dürfen, z. B. § 170 Abs. 2 StPO: „genügenden Anlass“. 183 184

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absichtigte Verhaltensweisen und die Zufügung seelischen Leids mit eingeschlossen sind.187 Erfasst sind also sämtliche nach den Umständen mit den allgemeinen Geboten der Menschlichkeit unvereinbaren Handlungen.188 Dabei ist eine besonders extensive Auslegung angebracht, denn die Konvention ist nicht statisch. Sie wird als lebendiges Übereinkommen verstanden, das sich in Analogie zu den Anschauungen des täglichen Lebens und dem stetig ansteigenden Menschenrechtsstandard fortentwickelt.189 Positive staatliche Schutzpflichten sind mithin überall dort existent, wo Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Personen seelisch oder körperlich misshandelt werden. Die Herabwürdigung zum bloßen Objekt ist mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterbinden, was neben entsprechenden Regelungen und einer ausreichenden Strafbewehrung auch die laufende Kontrolle der staatlichen Organe erforderlich macht.190 Führt man den Gedanken zu Ende, so spricht viel dafür, das Klageerzwingungsverfahren ohne Einschränkung auch im Bereich der Sexualstraftaten und Körperverletzungsdelikte zuzulassen. Die Konvention trägt die bereits herausgestellte Forderung nach Abschaffung des § 172 Abs. 2 S. 3 StPO quasi in sich. Dieser Trend setzt sich bei den Freiheitsdelikten noch fort. Art. 5 EMRK lässt sich zwar nicht im Sinne der Gestattung einer allgemeinen Handlungsfreiheit interpretieren, jedoch sichert die Vorschrift die umfassende körperliche Bewegungsfreiheit zu, für deren Gewährleistung kein anderer Maßstab gilt als bei den Artikeln 2 und 3 der EMRK.191 Es lässt sich resümieren, dass die Konvention kein allgemeines Recht des Einzelnen auf staatlichen Schutz vor jeglicher Gefährdung oder gar Sicherheit vor Kriminalität enthält192, jedoch führt die Gesamtschau der niedergelegten Garantien zu weitreichenden Konsequenzen für die innerstaatliche Strafrechtspflege. Insbesondere werden Kontrollmechanismen eingefordert, die eine Überprüfbarkeit der staatlichen Strafverfolgungstätigkeit zulassen. Das Klageerzwingungsverfahren ist hierfür prädestiniert, wobei auf die Abschaffung der in § 172 Abs. 2 S. 3 StPO festgeschriebenen Beschränkung bestanden werden muss. Abseits aller dogmatischen 187 Vgl. dazu Esser, Europ. Strafverfahrensrecht, S. 382; auch BGHSt 46, S. 292, 303; Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, Art. 3 MRK / Art. 7 IPBR Rn 17. 188 EGMR NJW 1990, S. 2183 (Soering vs. Großbritannien), wo auf Leiden gewisser Dauer und Intensität abgestellt wird. 189 EGMR EuGRZ 1979, S. 149 (Irland vs. Großbritannien); Frowein / Peukert, Art. 3 EMRK Rn 1. 190 So Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, Art. 3 EMRK / Art. 7 IPBR Rn 12. 191 EGMR EuGRZ 1976, S. 224 (Engel vs. Niederlande); Frowein / Peukert, Art. 5 Rn 2; auch Trechsel, EuGRZ 1980, S. 515. 192 Siehe nur Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, Art. 5 EMRK / Art. 9, 11 IPBR Rn 7. Einzig Nowak, Art. 9 Rn 7, plädiert für die umfassende Anerkennung eines Grundrechts auf Sicherheit, wofür er allerdings keine fundierte Begründung abzugeben vermag. Historisch gibt es hierfür auch keinen Beleg. Ferner sprechen die systematische Auslegung sowie der Regelungskontext des Art. 5 EMRK gegen eine derartige Annahme.

IV. Die Nebenklage

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Überlegungen ist dies eine aus den Vorgaben der Menschenrechtskonvention resultierende Verpflichtung, welche im Zuge der Antragstellung durch den betroffenen Bürger im Einzelfall aktualisiert wird.

IV. Die Nebenklage Das Bild des nach Genugtuung verlangenden Verletzten ist im strafrechtlichen Bewusstsein tief verankert. Es ist zwar weithin anerkannt, dass nicht Tatvergeltung oder Sühne, sondern General- und Spezialprävention die relevanten Bezugspunkte des Kriminalrechts sein sollten, jedoch wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit herausgestellt, dass der Staat das individuelle Vergeltungsbedürfnis der von Straftaten Betroffenen nicht ignorieren dürfe. Hinsichtlich der in der StPO auffindbaren Verletzteninstitute gilt dies umso mehr. Vor diesem Hintergrund wird meist auch die Nebenklagebefugnis i. S. d. §§ 395 ff. StPO diskutiert.193 Aus der an den Staat gerichteten Aufgabe, die Individualität und Subjektivität seiner Bürger zu gewährleisten, folgt jedoch nicht automatisch die rechtliche Anerkennung eines vor Gericht durchsetzbaren Genugtuungsanspruchs. Der Strafanspruch ist unumschränkt öffentlich-rechtlichen Charakters, wodurch von vornherein eine gewisse Antinomie zu individuellen Genugtuungserwägungen angezeigt wird.194 Gerade in Bezug auf die Nebenklage scheinen die Gerichte gleichwohl von durchaus anderen Prämissen auszugehen.

1. Genugtuungsidee als Basis von Auslegung und Reichweite der Nebenklagebefugnis Dies wurde jüngst anhand der wissenschaftlichen Debatte um die Zulässigkeit der sog. angreifenden und verteidigenden Nebenklage offenbar.195 So wurde etwa behauptet, eine Nebenklage, die ausschließlich darauf gerichtet sei, den Freispruch des Angeklagten zu erreichen, sei unzulässig.196 Schließlich bedeute dies die 193 Etwa Maiwald, GA 1970, S. 33, 53 ff.; ablehnend Prinz, ZRP 1971, S. 128; kritisch auch Altenhain, JZ 2001, S. 791 ff.; für die Genugtuungsidee aber Fabricius, NStZ 1997, S. 257 ff., 260. 194 Anders aber Schulz, Beiträge, S. 182. 195 Zum Ganzen nur Altenhain, JZ 2001, S. 791 ff. 196 OLG Schleswig, NStZ-RR 2000, S. 270. Gegenstand des Verfahrens war die Brandstiftung an einem Asylantenwohnheim, bei der zehn Menschen ums Leben kamen. Die StA klagte den Libanesen Safwan Eid an, die Tat begangen zu haben. Einige der überlebenden Bewohner schlossen sich dem Verfahren als Nebenkläger an, wobei sie von Anfang an ihre Überzeugung bekundeten, dass der Angeklagte nicht der Täter sei und daher sein Freispruch erreicht werden müsse. Dazu Altenhain, JZ 2001, S. 791, 797.

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zweckwidrige Wahrnehmung eingeräumter Kompetenzen. Weil die Nebenklage vom Gesetzgeber geschaffen worden sei, damit der Verletzte sein Genugtuungsinteresse befriedige, komme eine Verfahrensbeteiligung nicht in Betracht, wenn das einzige Anliegen des Mitwirkungswilligen darin bestehe, den Angeklagten vom Tatvorwurf zu befreien.197 Umgekehrt komme ein Anschluss als Nebenkläger auch dann nicht in Frage, wenn das Institut dazu missbraucht werde, sich selbst von einem im Raume stehenden Tatvorwurf zu reinigen. Es könne nicht sein, dass jemand die Opferrolle vor Gericht einnehme, der selbst im Verdacht stehe, die verhandelte Tat begangen zu haben.198 Dies gelte selbst dann, wenn der Anschlusswillige nicht die förmliche Stellung als Beschuldigter oder Angeklagter innehabe. Die Angeklagtenposition sowie die des Nebenklägers seien lediglich die prozessualen Gegenstücke zu Täterund Opferstellung im materiell-rechtlichen Sinne. Da aber mitunter nicht feststehe, wer Opfer und wer Täter sei, dürfe vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens kein Präjudiz kraft Einräumung besonderer verfahrensrechtlicher Befugnisse erzeugt werden. Insbesondere dann, wenn ein auf der eigenen Person liegender Tatvorwurf durch gezielte Belastung des Angeklagten beseitigt werden soll, stelle sich eine Situation ein, die ausschließlich die Bestrafung des Angeklagten um jeden Preis zum Ziel habe. Gerade dann aber bestehe das Interesse des Nebenklägers nicht mehr im legitimen Bedürfnis nach Genugtuung, sondern nur noch darin, sich selbst der Verantwortung zu entziehen. Das Recht dürfe dem Einzelnen hierfür nicht auch noch die adäquaten Instrumente in die Hand legen.199 Insoweit erfolgt die nähere rechtliche Ausformung der Nebenklagebefugnis in praxi zwanglos mittels einer funktionalen Betrachtung im Lichte eines angeblich berechtigten Genugtuungsstrebens.

197 Insofern wird der Anwendungsbereich der §§ 395 ff. StPO teleologisch reduziert, wie Altenhain, JZ 2001, S. 791, 797, zutreffend feststellt. Das OLG Schleswig NStZ-RR 2000, S. 270 hatte zudem ausgeführt, dass derjenige seine Verletzteneigenschaft im betreffenden Verfahren selbst verneine, der einen Dritten für den wahren Täter halte. 198 Maeffert, StV 1998, S. 461 ff., 462. 199 So mit einiger Vehemenz Maeffert, StV 1998, S. 461 f. Den Hintergrund bildet das berühmt gewordene Strafverfahren gegen Monika Weimar, die wegen der Ermordung ihrer beiden Kinder angeklagt worden war. Ursprünglich richtete sich der Tatverdacht der Staatsanwaltschaft auf beide Elternteile. Die Staatsanwaltschaft klagte schlussendlich nur die Mutter an, woraufhin sich ihr Ehemann dem Verfahren als Nebenkläger anschloss. Eine Anklage blieb ihm erspart, unter Tatverdacht stand er gleichwohl. Dazu vor allem Altenhain, JZ 2001, S. 791, 793. Monika Weimar war vom LG Fulda wegen Mordes verurteilt worden. Die dagegen gerichtete Revision wurde vom BGH (BGHSt 36, S. 119) verworfen. Das Verfahren wurde später wiederaufgenommen (OLG Frankfurt StV 1996, S. 138) und endete mit einem Freispruch durch das LG Gießen. Nach Aufhebung dieses Urteils durch BGH StV 1999, S. 5, wurde Monika Weimar vom LG Frankfurt erneut verurteilt. Die nochmalige Revision blieb erfolglos.

IV. Die Nebenklage

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2. Genugtuung als wünschenswerter Nebeneffekt In der Vergangenheit bekundete die Literatur überwiegend ihre Zustimmung zu den in der Rechtsprechung getroffenen Erwägungen. Namentlich Schulz hält die individuelle Genugtuung für einen erwünschten Nebeneffekt von Strafe und Strafverfahren, mit deren Hilfe die Beteiligung des Verletzten am Offizialverfahren aus rechtspolitisch-theoretischer Sicht umfassend begründbar sei. Dies gelte jedenfalls solange, wie der Schutz individueller Positionen in Rede stehe.200 Erkenne man in der Befriedigung des Genugtuungsverlangens nicht mehr als eine Nebenfunktion des Strafverfahrens, so komme es auch nicht zu einer Kollision mit dem heutigen Verständnis über Sinn und Zweck des Strafverfahrens sowie der Aufgabe des Strafrechts schlechthin.201 Schließlich bleibe die dem Staat überantwortete Befugnis, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen, unangetastet.202 Genau hier aber liegt der Grund für die Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit der Genugtuungskonzeption: Auch die Nebenklagebefugnis nimmt dem Gericht nicht die Verfahrensherrschaft. Zwar werden dem Nebenkläger eine Reihe von Teilhaberechten eingeräumt, jedoch ermöglicht dieser Umstand allein in keiner Weise die allseitige Befriedigung eines eventuellen Genugtuungsverlangens. Denn es handelt sich dabei um ein subjektives Empfinden, das nach objektiven Kriterien nicht messbar ist und von Person zu Person sehr stark differieren kann. Schwerer aber wiegt, dass die verfahrensmäßige Ausgestaltung der Nebenklage von vornherein nicht darauf angelegt ist, die Befriedigung der Verletzteninteressen im Sinne einer umfassenden Genugtuung zu erreichen. Das „Genug“ der statthaften Mitwirkungshandlungen ist gesetzlich reglementiert und folgt nicht dem jeweiligen Anliegen des Nebenklägers. Eine gewisse Dispositionsfreiheit wäre aber erforderlich, wenn man die Regelhaftigkeit der Genugtuungsidee ins Werk setzen wollte. Anderenfalls bleibt sie ein bloßes Postulat. Das gilt umso mehr, als das Gericht jegliche sachfremden Gesichtspunkte aus dem Verfahren herauszuhalten hat. So entspricht es dem Willen von § 244 Abs. 3 StPO. Eben solche sachfremden Belange mögen für das subjektive Empfinden des Nebenklägers jedoch von besonderer Wichtigkeit sein. Hierauf nimmt das Gesetz keine Rücksicht. Das darf es auch nicht, wenn das im Inquisitionsprozess durchzusetzende Legalitätsprinzip gleichmäßig und willkürfrei verwirklicht werden soll. Freilich ist davon die Rede, dass der Genugtuung lediglich eine Nebenfunktion zuerkannt werden soll. Damit ist angedeutet, dass sie nicht in jedem Fall erreicht werden muss und wohl auch gelegentlichen Beschränkungen zugänglich sein solle.203 Eine beschränkte Genugtuung ist aber keine Genugtuung mehr. Wenn es 200 201 202

Schulz, Beiträge, S. 184, 185; so auch Fabricius, NStZ 1994, S. 257, 260. Schulz, Beiträge, S. 183. Schulz, Beiträge, S. 182.

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zudem ausreichen soll, wenn sie nur hin und wieder befriedigt wird, ist sie der Zufälligkeit anheimgestellt. Überdies bleibt völlig offen, worin eigentlich der Hauptzweck der Nebenklage zu suchen ist, wenn der Genugtuung nur eine Nebenfunktion zukommt. Geradezu zynisch stellt es sich dar, ein Verlangen als berechtigt anzuerkennen, um es im gleichen Atemzug als zweckwidrig zu verwerfen. Darin aber liegt die Konsequenz der Anwendung von § 244 Abs. 3 StPO. Individuelle Genugtuung ist einer Verobjektivierung nicht zugänglich. Möglicherweise tritt sie als Nebeneffekt wirklich auch einmal auf. Jedoch ist sie nicht in der Lage, die dogmatische Begründung eines ganzen Instituts auf ihre Schultern zu nehmen. Die Funktionsbestimmung wird sich daher auf andere Weise zu vollziehen haben.

3. Nebenklagebefugnis als Instrument zur Kontrolle der Staatsanwaltschaft Bringewat hat vorgeschlagen, das Wesen der Nebenklage im Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Strafverfolgungstätigkeit und privativem Bestrafungseifer zu erblicken.204 Das Nebeneinander von Staatsanwaltschaft und Nebenklage vor Gericht enthalte bereits bestimmte Funktionsmerkmale. Zwar sei der Nebenkläger mit einer Reihe von Rechten ausgestattet, die sonst nur der Staatsanwaltschaft zustehen, jedoch lasse dies nicht auf eine nach einheitlichen Gesichtspunkten vorzunehmende Einschätzung der verfahrensmäßigen Position schließen. Eine in diesem Sinne festgestellte formale Gleichheit dürfe nicht mit einer materiellen Einheitlichkeit verwechselt werden. So sei die Staatsanwaltschaft ein dem Gericht funktionell gleichgeordnetes Organ der Rechtspflege und als solches mit weitreichenden Kompetenzen betraut.205 Der Staatsanwaltschaft obliege dabei nicht allein die irgendwie geartete Mitwirkung im Strafverfahren, sondern auch „dessen Vorbereitung insofern, als erst sie durch Ermittlungen und Anklageerhebung die Voraussetzungen für die Spruchtätigkeit der Strafgerichte schafft.“206 Schlussendlich aber sei der Staatsanwalt seiner Stellung und Funktion nach unabhängig und befinde über das öffentliche Interesse nach freiem Ermessen. 203 In diesem Sinne etwa Fabricius, NStZ 1994, S. 257, 261, der den Nebenkläger in einer besonderen Verantwortung sieht und sich von ihm „wünscht“, sein Genugtuungsinteresse in der Rolle eines Prozesssubjekts nach abwägenden, an Objektivität orientierten Kriterien wahrzunehmen. 204 Bringewat, GA 1972, S. 289, 292. 205 Gegen eine mit der Staatsanwaltschaft vergleichbare Befugnis spricht sich Gruhl, NJW 1991, S. 1874 f. aus. Einer Kontrollfunktion der Nebenklage stehe dies aber nicht im Wege. Zudem habe die Beteiligung an der Sachverhaltsaufklärung eine gewisse Befriedungsfunktion. Vgl. auch Wendisch, NJW 1987, S. 1175, der der Meinung ist, die Zulassung zur Nebenklage bringe eine „Doppelbesetzung der Anklage“ mit sich. 206 Bringewat, GA 1972, S. 289, 291.

IV. Die Nebenklage

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Hieraus resultiere der Gegensatz zur Interessenlage des Nebenklägers: Betrachte man die Nebenklage aus „funktioneller Perspektive, so ist von besonderer Wichtigkeit die Tatsache, daß die Initiative zur Beteiligung am Strafverfahren gerade nicht in den Kreis amtlicher oder gerichtlicher Tätigkeit fällt, sondern von dem Verletzten selbst auszugehen hat.“207 Mithin solle die Nebenklage die zur Durchsetzung eigener Interessen erforderliche Beteiligung am Strafverfahren ermöglichen. Zu diesem Zweck weise die StPO dem Nebenkläger die Position eines weiteren „Prozeßsubjekts auf der Aktivseite“ zu.208 Die durch die Staatsanwaltschaft bereits erhobene öffentliche Klage werde regelmäßig vorausgesetzt und sei dem Funktionsbereich staatlicher Pflichterfüllung zuzurechnen. Hier müsse die Aufgabe des Nebenklägers ansetzen. Wenn sich seine Mitwirkung als vorteilhaft erweisen solle, dann sei es notwendig, seine Rolle im Zeichen der Verbesserung der Rechtsprechung zu interpretieren. Werde der Nebenkläger nun aber unabhängig vom Staatsanwalt tätig und sei er von diesem durch die Verschiedenheit des Strafverfolgungsinteresses getrennt, so sei es naheliegend, in der Nebenklage ein Mittel zur privaten Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgung zu sehen. Mittelbar würden durch die Nebenklage rechtliche Erwägungen in den Prozess eingeführt, die geeignet seien, die Beurteilungsgrundlage hinsichtlich des jeweiligen Delikts zu verändern, zu ergänzen, zu korrigieren oder aber zu bestätigen.209 Bringewats Konzept ist zuzugeben, dass es sich auf Überlegungen stützen kann, die den historischen Gesetzgeber dereinst dazu veranlasst hatten, die Nebenklage mit in die Strafprozessordnung aufzunehmen. So lag die Ursache jedweder Verletztenbeteiligung letztlich in einem generellen Argwohn gegenüber dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft. Die Bedenken verdichteten sich in der Forderung, eine einheitliche, nicht an den Opportunitätserwägungen der Regierenden orientierte Strafverfolgung sicherzustellen.210 Dies wurde in erster Linie im Zuge der Einführung von Privatklage und Klageerzwingungsverfahren bewerkstelligt. Die Nebenklage fiel eher als „Nebenprodukt“ mit ab und stellte sich als eine Art fortgesetzte Privatklageberechtigung bzw. fortgesetzte Klageerzwingung dar. Die Nebenklage war lediglich Annex der genannten Institute.211 Einerseits war man Bringewat, GA 1972, S. 289, 294. Bringewat, GA 1972, S. 289, 291, der seine Erläuterungen vor dem Hintergrund einer deutlichen Sympathie für ein subjektiv-öffentliches Recht des Verletzten auf Bestrafung des Angeklagten trifft. Er begreift die Nebenklage als rechtlich anerkannten Ausdruck des Selbstbehauptungswillens. 209 Bringewat, GA 1972, S. 289, 292 f. 210 Zuletzt Altenhain, JZ 2001, S. 791, 795; zum Ganzen Weigend, Deliktsopfer, S. 116 ff., 131 ff., 133. 211 Altenhain, JZ 2001, S. 791, 795; Weigend, Deliktsopfer, S. 133: „Betrachtet man die Diskussion des 19. Jahrhunderts, so erscheint auch das Nebenklagerecht nicht als Relikt der Prozeßstellung des Verletzten aus früheren Tagen, sondern lediglich als materiell kaum durchdachter Annex des seinerseits wenig motivierten Privatklagerechts. Bei der Ausgestaltung des Rechtsinstituts, insbesondere bei der Definition seines Anwendungsbereichs, scheint 207 208

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der Auffassung, dass die Privatklagebefugnis durch Erhebung der öffentlichen Klage nicht einfach erlöschen dürfe und andererseits blieb das Kontrollbedürfnis auch und gerade dann erhalten, wenn die öffentliche Klage durch den einzelnen Bürger erzwungen worden war. Grundgedanke der Nebenklage war somit das Ansinnen, durch die Verdoppelung der Klägerrolle die Energie der Strafverfolgung zu stärken.212 Die prozessuale Mitwirkung des Verletzten war folglich in den Dienst des staatlichen Strafverfahrens gestellt. Inzwischen hat sich das Bild gewandelt. Die Nebenklage ist von Privatklageund Klageerzwingungsverfahren mittlerweile weitgehend abgekoppelt. § 395 Abs. 1 Nr. 3 StPO sowie § 395 Abs. 2 Nr. 3 StPO sehen zwar entsprechende Beteiligungsmöglichkeiten vor, jedoch sind diese nicht mehr deckungsgleich mit den durch die RStPO eingeräumten Kompetenzen. Die Nebenklage kommt vor allem bei schwerer Kriminalität gegen höchstpersönliche Rechte in Betracht und wählt nicht den jeweiligen Verfolgungseifer des Betroffenen zum einzig relevanten Anknüpfungspunkt. Damit aber kann die Nebenklage nicht länger auf eine eventuelle (fortgesetzte) Kontrollfunktion reduziert werden. Sie gewährt Anschlussmöglichkeiten des Verletzten primär im Bereich von Deliktsgruppen, in denen es an ausreichendem Engagement seitens der Strafverfolgungsbehörden nur selten mangelt.

4. Nebenklage als Instrument zur Bündelung mehrdimensionaler Interessenverwirklichung Die Funktionsbestimmung und dogmatische Verortung der Nebenklage ist dadurch nicht erleichtert worden. Es wird daher zu fragen sein, was der Nebenkläger abseits einer etwaigen Genugtuungs- oder Kontrollfunktion zu leisten bzw. zu erreichen imstande ist. Ein wenig tut sich der Eindruck auf, als hätten sich Rechtsprechung und Lehre schlicht an den Nebenkläger gewöhnt. Das Institut sieht sich gegenwärtig keinen nennenswerten Einwänden ausgesetzt; schon gar nicht wird seine Existenzberechtigung in Frage gestellt.213 Die Nebenklagebefugnis wird im Gerichtsalltag gern wahrgenommen. Offensichtlich wird sie also durchaus als sinnvolles Instrument empfunden. Umso mehr nimmt es wunder, dass ein Teil der einschlägigen Kommentarliteratur eine Funktionsbestimmung gar nicht erst vornimmt.214 nicht ein wohldurchdachtes Gesamtkonzept, sondern eine Mischung aus Zufälligkeiten und Augenblicksentscheidungen Pate gestanden zu haben.“ 212 Dazu auch Altenhain, JZ 2001, S. 791, 795 f. 213 Zuletzt hatte Sauer, DRiZ 1970, S. 348 ff., 351, angenommen, die Nebenklage sei wegen eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfassungswidrig. 214 Etwa Meyer-Goßner, Vor § 395 Rn 1 ff., der eher erläutert, was die Nebenklage alles nicht ist. Selbst das OpferschutzG von 1986 bezeichnet den Nebenkläger nur als Zusatzbeteiligten neben der Anklagebehörde und verweist auf seine Stellung als ein mit selbstständigen

IV. Die Nebenklage

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Gelegentlich wird auf eine Häufung der Motive abgestellt. So hebt Senge darauf ab, dass der Nebenkläger zur Wahrung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung nicht berufen sei, bejaht aber dennoch eine Kontrollfunktion gegenüber der staatsanwaltschaftlichen Verfolgungstätigkeit.215 Daneben gehe es um die Befriedigung des persönlichen Interesses auf Genugtuung. Einigkeit scheint allein darin zu bestehen, dass sich aus der Bezeichnung des Instituts als Neben-“Klage“ keinerlei Rückschlüsse auf den Sinn der Beteiligungsform ziehen lassen. In der Vergangenheit hat man berichtigend von Mitpartei, Nebenpartei, Streitgenossen, Parteigehilfen und Nebenintervenienten gesprochen.216 Fest steht, dass die Nebenklage keine Klage im prozesstechnischen Sinne darstellt. Tatsächlich statuiert das Gesetz lediglich eine Anschlussmöglichkeit. Das Individuum klagt also nicht in eigener Person an, sondern macht geltend, durch die Tat verletzt worden zu sein, die die Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten zur Last legt.217 Die StPO fordert nicht die Bestätigung oder Erhärtung des Vorwurfs seitens des Verletzten. Noch weniger muss er ein Bestrafungsbegehren vortragen oder sich in die Klärung des Tatverdachts intensiv einbringen. Die Rolle des Nebenklägers kann sich in einem stillschweigenden Dabeisein erschöpfen. Tatsächlich ist diese Situation in der Praxis nicht einmal selten anzutreffen. – Warum also sollte es sich empfehlen, die §§ 395 ff. StPO auch in Zukunft beizubehalten?

5. Die Nebenklagebefugnis im Lichte der Prozessrechtsmaximen Bedeutung erlangt die Nebenklage möglicherweise vor dem Hintergrund des Amtsermittlungsgrundsatzes. Die Sachverhaltsaufklärung ist nicht selten vollständig von den Wahrnehmungen des Verletzten abhängig. Insofern ist er unmittelbares und unverzichtbares Informationsmittel. 218 Klärungsbedürftig bleibt aber, warum ihm eine Position eingeräumt werden sollte, die über die des Zeugen hinausgeht. Hier ist in Rechnung zu stellen, dass der Nebenkläger ohne weiteres in der Lage ist, kraft eigenen Antriebs die Einbringung von Beweismitteln voranzutreiben. Er kann die Sachverhaltsaufklärung auf Umstände ausdehnen, die er für übersehen, unausgeschöpft oder vergessen erachtet. Die Nebenklage erschließt also neue Beweisreserven.219 Rechten ausgestatteten Prozessbeteiligten. Das Ziel seiner Mitwirkung bleibt indessen schillernd, BT-Drucks. 10 / 5305, S. 13 ff. 215 KK-Senge, Vor § 395 Rn 1. 216 Zur Gemengelage der Begrifflichkeiten Bringewat, GA 1972, S. 289, 290. 217 Explizit Altenhain, JZ 2001, S. 791, 798. 218 Nur Schulz, Beiträge, S. 179. 219 Schulz, Beiträge, S. 180.

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Der Verletzte ist nicht länger auf die Zuschauerbank verwiesen, sondern genießt ein Anhörungsrecht und kann gewissermaßen „mitreden“. Er ist nicht mehr bloßes Informationsobjekt oder quivis ex populo, der als einfacher Zeuge „nicht einmal das Recht hat, während der gesamten Hauptverhandlung im Sitzungsraum anwesend zu sein und zuzuhören, §§ 58 Abs. 1, 243 Abs. 2 S. 1 StPO.“220 Hieraus die Funktion der Nebenklage abzuleiten wäre indessen zirkulär: Die Beteiligung des Verletzten rührt nicht daher, dass er sich eben beteiligen kann. Teilhabe- und Mitwirkungsrechte sind nicht bloßer Selbstzweck. Anderenfalls könnte man auf sie leicht verzichten. Die Nebenklage kann auch nicht als vervollkommnender Teil des Amtsermittlungsgrundsatzes begriffen werden. Dies nämlich würde die obligatorische Beteiligung des Verletzten nahelegen, was dessen Position wiederum zum bloßen Informationsobjekt degradieren würde. Der Vorschlag liefe letztlich auf eine Zeugenstellung mit besonderer Pflichtengebundenheit hinaus. Derartiges ist weder angedacht noch Bestandteil des geltenden Strafprozessrechts. Einer Instrumentalisierung der Betroffenen würde zudem eher Vorschub geleistet. Die Nebenklagebefugnis ist fakultativ und das muss sie auch bleiben. Schließlich ist auch nach den gegenwärtigen Bestimmungen der Nebenkläger nicht in der Situation, sich zu irgendetwas zwingend äußern oder in sonstiger Weise zur Sachaufklärung gesteigert beitragen zu müssen. Abseits davon stellt sich die Frage, welchen Nutzen der Nebenkläger aus dem jeweiligen Verfahrensergebnis soll ziehen können. Selbst eine in seinem Sinne erreichte Bestrafung wirkt sich auf ihn bestenfalls reflexiv aus. Unmittelbare Folgen leiten sich daraus hingegen nicht ab. Nun ist freilich mehr als zweifelhaft, ob eine Rechtseinrichtung der Hoffnung auf eventuelle Nebeneffekte wegen geschaffen wird. Insbesondere aber wird nur einmal mehr das Problem unterstrichen, worin eigentlich der Haupteffekt der in Rede stehenden Beteiligungsform zu suchen ist.

6. Viktimisierungsvermeidung als Leitprinzip Um fündig zu werden, wird man sich mit den Motiven des Gesetzgebers befassen müssen. Denn die hinter den §§ 395 ff. StPO stehenden Erwägungen scheinen einem grundlegenden Richtungswandel unterzogen worden zu sein. Umso wichtiger ist dieses Vorgehen deshalb, als die Nebenklage das einzige Verletzteninstitut mit nennenswerter praktischer Relevanz ist. Sie hat sich zunächst kraft tatsächlicher Übung und später durch legislatorische Entscheidung von ihrem ursprünglichen Charakter emanzipiert. 220 Schulz, Beiträge, S. 184; vgl. auch RGSt 48, S. 211 sowie BGH bei Dallinger MDR 1955, S. 396.

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a) Nebenklage zur Sicherung von Subjektivität und Individualität Den Ausgangspunkt bildet die Einsicht, „daß es nicht mehr angeht, das Individuum im Strafverfahren, in dem seine Verletzung verhandelt wird, weiterhin in der Rolle eines Dieners des staatlichen Strafverfolgungsinteresses, sei es als Zeuge oder als Gehilfe oder Kontrolleur der Staatsanwaltschaft, zu belassen.“221 Insoweit kann man mit einiger Berechtigung von einer Rückbesinnung darauf sprechen, dass der Schutz des materiellen Strafrechts letztlich der Einzelperson zugute kommen muss. „Es ist das Subjekt, dessen Verletzung der Staat mit dem materiellen Strafrecht verhindern will und auf dessen trotzdem erfolgte Verletzung er nun im Strafverfahren gegen den Täter reagiert.“222 Es ist nun folgerichtig, die Nebenklagebefugnis anlässlich solcher Delikte zu eröffnen, die die Subjektivität des Einzelnen in besonderer Weise berühren. Gemeint sind damit Personen, die vor dem Hintergrund kriminologischer und viktimologischer Erkenntnisse besonders schutzwürdig erscheinen.223 Die Vergangenheit hat allzu deutlich gezeigt, dass diverse Zeugenschutzprogramme nicht ausreichen, um den Betroffenen eine Situation zu ersparen, in der ihnen seitens des Angeklagten plötzlich eine Mitverantwortung zugeschoben oder eine Verharmlosung des Geschehens betrieben wird.224 Hier aber liegt die Ursache für den Tatbestand der sekundären Viktimisierung, der mit dem Gefühl der Isolation, der Hilflosigkeit und rechtlichen Desorientiertheit einhergeht. Die Tatfolgen werden hierdurch perpetuiert und sogar intensiviert. – Soweit der kriminologische Befund. Es bedarf trotzdem der näheren Untersuchung, warum Privatpersonen eine gesicherte Beteiligungsbefugnis im Offizialverfahren zuerkannt werden sollte. Im Kern ist intendiert, Viktimisierungen soweit irgend möglich zu vermeiden oder zumindest einzudämmen. Dieses Anliegen ist ins strafprozessuale Beziehungsgeflecht einzubetten, wenn man eine schlüssige Begründung für spezielle Verfahrensgestaltungen finden will. Die Bedingungen sind bei vordergründiger Betrachtung nicht günstig. Rechtsstaatliche Grundsätze müssen gewahrt bleiben. Im Strafprozess steht zuerst die Freiheit des Beschuldigten auf dem Spiel. Für ihn streitet die Unschuldsvermutung, als deren Kehrseite sich Misstrauen gegenüber demjenigen ergibt, der sich in der Verletztenposition sieht. Täter und Opfer stehen erst mit der Verkündung des die Tat bestätigenden Urteils fest, also mit dem verAltenhain, JZ 2001, S. 791, 795. So anschaulich Altenhain, JZ 2001, S. 791, 795, vor dem Hintergrund von BT-Drucks. 10 / 5305, S. 8 sowie BT-Drucks. 10 / 6124, S. 11, wo nochmals erläutert wird, dass „das überkommene Straf- und Strafverfahrensrecht die Position des Verletzten vernachlässigt und seine eigenhändige Rolle im Strafprozeß nicht hinreichend berücksichtigt“ habe, weshalb der Verletzte als selbstständiger Prozessbeteiligter anerkannt werden müsse. Freilich wird die Frage nach dem Warum nicht beantwortet. 223 BT-Drucks. 10 / 5305, S. 11, 19. 224 BT-Drucks. 10 / 5305, S. 2, 8, 10, 11, 12. 221 222

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bindlichen Verfahrensergebnis. Die Auferlegung der Strafe stellt sich für den Täter als Einbuße, als Minus in seiner Freiheit dar, woraus für das Opfer jedoch mitnichten ein automatisches Plus resultiert. Ein solches mag gelegentlich im Sinne einer subjektiven Empfindung zu verzeichnen sein, bei nüchterner Betrachtung aber gibt die dem Täter auferlegte Strafe dem Verletzten nichts zurück; insbesondere ist sie nicht geeignet, die im Zuge der Tat eingetretene Viktimisierung automatisch und verlässlich zu beheben. Das gilt mit besonderem Nachdruck für all jene Delikte, denen die Nutzbarmachung, Demütigung und Instrumentalisierung des Betroffenen als Objekt ihrer Natur nach zueigen ist. Namentlich sind das – in erster Linie – sämtliche Missachtungen höchstpersönlicher Rechte und Freiheiten. An diesem Punkt muss ein präventives und an Resozialisierung interessiertes Strafrecht ansetzen. Die Rechtsordnung kann es nicht dabei bewenden lassen, ihre Wehrhaftigkeit und Durchsetzungsmacht gegenüber dem identifizierten Straftäter zu demonstrieren. Denn die Straftat erfährt ihren Charakter durch den Defekt einer Zelle der Rechtszuweisungsordnung, die nichts anderes ist als die Summe der sie tragenden Individuen. Eine an Freiheitssicherung interessierte Sozietät hat das Substrat eines gedeihlichen Zusammenlebens aufrechtzuerhalten und das ist die Subjektivität des einzelnen Rechtsgenossen. Wenn die Strafe sich hierfür als untauglich erweist, muss nach Alternativen Ausschau gehalten werden. b) Nebenklage als antizipiert-sozialrechtliches Institut Die Wiedereingliederung des Einzelnen in die gesellschaftlichen Strukturen mit dem Ziel der umfassenden Ausübung von Freiheit ist die Materie des Sozialrechts. Freilich kommen die Strafgerichte nicht als Institutionen für die Bewilligung von Mittelzuschüssen und Rehabilitationsprogrammen in Betracht, jedoch sind sie als Teil des staatlichen Apparates dazu verpflichtet, ihren Beitrag im Hinblick auf die Effektuierung freiheitlicher Betätigung zu leisten. Die Nebenklage stellt hierzu das Instrumentarium bereit. So mag die gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung der eigenen Subjektqualität bei nicht wenigen Rechtsgenossen durch das Recht zur Mitsprache, durch eigene Frage- und Klarstellungsmöglichkeiten und die gezielte Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter erreicht werden. Das Verfahren dient in dieser Konstellation dem Begreifen und Verarbeiten des Erlebten, was Viktimisierungen in vielen Fällen lindern kann. Das Recht zur Teilhabe und Mitwirkung vermittelt zudem den Eindruck einer Solidarisierung und ist aus sich heraus eine gesellschaftliche Sympathiebekundung. In diesem Sinne ist die Nebenklage ein antizipiert-sozialrechtliches Institut. Das verträgt sich ohne weiteres mit der gesetzlichen Konzeption, denn das Recht zur Verfahrensbeteiligung knüpft an nichts anderes als den Verletztenstatus an und verlangt über die Anschlusserklärung hinaus keine besondere Aktivlegitimation. Man mag dem entgegenhalten, dass hierin ein Widerspruch zu vorherigen Feststellungen gesehen werden kann. Schließlich wurde mit Vehemenz betont, dass es

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„den Verletzten“ bzw. „das Opfer“ bis zum Verfahrensende nicht gibt. Es besteht keine Veranlassung, von diesem Grundsatz Ausnahmen zu gestatten. Die Beteiligung des Nebenklägers ist das Spiegelbild zur Position des Angeklagten. Nach dem Willen des § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig ist. Es muss mit anderen Worten wahrscheinlich sein, dass es zu einer Verurteilung kommt. Die Unschuldsvermutung gilt gleichwohl. Das Verfahrensergebnis wird in keiner Weise determiniert. Daraus folgt umgekehrt, dass es für die Nebenklagebefugnis der materiell-rechtlichen Opferstellung ebenso wenig bedarf. Es reicht also, dass ein zur Nebenklage berechtigender Tatbestand verhandelt wird.225 Maßstab ist „die dem hinreichenden Tatverdacht entsprechende Wahrscheinlichkeit der Verletzung durch ein nebenklagefähiges Delikt.“226 Ein Präjudiz wird nicht erzeugt.

c) Zur Befürchtung numerischer Verschiebungen im Strafprozess Trotzdem drängt sich die Befürchtung auf, dass die Zulassung der Nebenklage zu einer Verschiebung der Gewichte im Prozess führen könnte. Tatsächlich liegt die Vermutung nahe, dass sich der Angeklagte einer numerischen Überlegenheit aus Staatsanwaltschaft und Nebenklage gegenübersieht.227 Bei Vorhandensein anwaltlichen Beistands ließen sich weitere Verzerrungen des Kräftegleichgewichts annehmen. Schließlich ist der Nebenklagevertreter nicht Organ der Rechtspflege und unterliegt mithin keiner vergleichbaren Bindung. Dem Einzelnen steht ein juristisch geschulter Interessenvertreter zur Seite, der den Schranken, denen sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung beugen müssen, keinerlei Beachtung schenken muss.228 Die Frage ist folglich, ob man dem Nebenkläger zu viel gibt, wenn man ihm Beteiligungsrechte im Strafverfahren zugesteht.

Zum Ganzen auch Altenhain, JZ 2001, S. 791, 793. Altenhain, JZ 2001, S. 791, 794, mit dem zutreffenden Hinweis, dass die h. M. es sogar genügen lässt, wenn es rechtlich möglich erscheint, dass die angeklagte Tat einen zur Nebenklage berechtigenden Tatbestand erfüllt. Die Spiegelbildlichkeit von Angeklagtenposition und Nebenklagebefugnis wird dadurch freilich zu Gunsten niedrigerer Anforderungen aufgelöst. 227 Wobei verschiedene Konstellationen zu unterscheiden sind, denn die Befürchtung einer unzulässigen Schwächung der Angeklagtenposition ergibt sich vor allem in Situationen der angreifenden Nebenklage. Andererseits könnte man in der verteidigenden Nebenklage eine allzu weitgehende Stärkung der Stellung des Angeklagten sehen. Dazu Altenhain, JZ 2001, S. 791, 792. Beides läuft freilich auf die Annahme einer Störung der Balance im Strafprozessrecht hinaus. 228 Die Befürchtung einer unzulässigen numerischen Überlegenheit hegen mit der dargelegten Argumentation auch Schünemann, NStZ 1986, S. 193 ff., 198; Weider, StV 1987, S. 317; auch OLG Schleswig NStZ-RR 2000, S. 270, 272. 225 226

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Versteht man die Nebenklagebefugnis als antizipiert-sozialrechtliches Instrument mit dem Ziel der Resozialisierung, so indiziert dies eine strenge Trennung zwischen strafrechtlicher und sozialrechtlicher Ebene. Da das Strafverfahren Aufschluss darüber geben soll, ob Grund für die Anwendung der Sanktionsnorm besteht und der öffentlich-rechtliche Charakter des Strafanspruchs unzweifelhaft ist, lässt sich zwanglos resümieren, dass der Einzelne nicht berufen ist, an der Dokumentation der Wehrhaftigkeit der Rechtsordnung mitzuwirken. Das bedeutet zunächst, ihm keine Aktivbefugnisse hinsichtlich der zu verhängenden Rechtsfolge in die Hände zu legen. Dadurch wird aber nicht jedes Mitspracherecht im Strafverfahren ausgeschlossen. Die Vermeidung bzw. Eindämmung von Viktimisierungen zum Zwecke einer leichteren Resozialisierung verlangt danach, sich in Belange einbringen zu dürfen, die die eigene Persönlichkeit betreffen. Das Anwesenheitsrecht sowie die Befugnis zur Abgabe von Erklärungen sind deshalb einzuräumen. Doch damit nicht genug: Die antizipiert-sozialrechtliche Komponente erschöpft sich nicht in Kommunikationsmöglichkeiten beliebiger Art. Für die Verletzten steht die Vergangenheitsbewältigung im Mittelpunkt, das Begreifen der Tat und ihrer Umstände. Dazu gehört, sich ein umfassendes Bild über alle relevanten Gesichtspunkte zu verschaffen. Solange der Sachverhalt unerforscht bleibt, besteht die Gefahr einer Perpetuierung des außer Fugen geratenen Weltbildes. Die Wahrnehmung der rechtssystematischen Aufarbeitung des Geschehenen sollte auf den Rechtsgenossen keinen destruktiven Eindruck hinsichtlich der eigenen Position innerhalb der Gesellschaft hinterlassen. Das würde eine weitere Schwächung der Subjektivität heraufbeschwören; gerade hierin liegt das Risiko für sekundäre Viktimisierungen begründet. Wenn man die Dinge auf sich beruhen lässt, ohne Abhilfe zu schaffen, nagt dies letztlich an der Legitimität der Rechtsordnung. Insofern sind Frage- und Beweisantragsrecht zwar strafverfahrensrechtliche Instrumente, jedoch lediglich im Sinne eines bloßen Reflexes sozialrechtlicher Forderungen. Dem kann auch nicht der Einwand einer zweckwidrigen Verfahrensverzögerung entgegengehalten werden. Der mit der Wahrnehmung der Nebenklagebefugnis verbundene zusätzliche zeitliche Aufwand ist nicht mehr als die Kehrseite der sachverhaltsaufklärenden Bedeutung der Nebenklage.229 Zudem sind Prozessverschleppungen und sonstige sachwidrige Anträge durch das Strafgericht ohnehin abzulehnen, §§ 244 Abs. 2 bis 5, 245 Abs. 2 StPO.230 Eine eventuelle Zweckvereitelung müsste also dem zuständigen Gericht in Rechnung gestellt werden, nicht aber dem Nebenkläger. Überdies ist zu berücksichtigen, dass der Nebenkläger nur Ergänzungen anregen kann, die kraft des Amtsermittlungsgrundsatzes bereits durch die Staatsanwaltschaft hätten eingebracht werden müssen. Insofern entfaltet die sozialrechtliche Dimension der Nebenklage tatsächlich sogar so etwas wie eine 229 230

So auch Schulz, Beiträge, S. 194. Schulz, Beiträge, S. 180.

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Kontrollwirkung im Strafverfahren. – Im Sinne eines rein flankierenden Effekts wird man dies kaum als nachteilig auffassen dürfen.

d) Zur Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers Weitaus problematischer erscheint hingegen die Befugnis des Nebenklägers, unabhängig von der Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegen zu dürfen. So aber sieht es § 401 StPO vor. Die Vorschrift geht über die Gewährung reiner Anhörungs- und Mitspracherechte deutlich hinaus. Weigend hält es für unangebracht, den Verletzten in die Lage zu versetzen, den Prozess fortzuführen, obwohl sich alle übrigen Beteiligten mit der Entscheidung der Vorinstanz einverstanden erklärt hatten.231 Unzutreffende Urteilsgründe seien nicht als Beschwer ausreichend, um die Statthaftigkeit von Rechtsmitteln zu begründen.232 Begreift man die Nebenklage indessen als antizipiert-sozialrechtliches Institut, wird zu differenzieren sein. In der Revision geht es ausschließlich um die neuerliche Klärung von Rechtsfragen, also um Art und Umfang des staatlichen Strafanspruchs. Mit diesem hat der Verletzte nichts zu tun. Er ist weder Anspruchsinhaber, noch in der Rolle, die lückenlose Durchsetzung strafprozessualer Prinzipien zu betreiben. Eine Rechtsmittelbefugnis scheidet insoweit aus. Hiervon ist die Berufung ihrer Natur nach zu unterscheiden. Schließlich geht es bei ihr wesentlich um die wiederholte oder verbesserte Untersuchung des zu entscheidenden Sachverhalts. Für den Resozialisierungsprozess des Verletzten ist die zutreffende Rekonstruktion des Erlebten elementar. Insofern ist die Berufung gewissermaßen die Fortsetzung der richtigen Sachverhaltsermittlung auf der nächsthöheren Ebene und als solche wiederum bloßer Reflex einer sozialrechtlichen Zielbestimmung. Mit derartigen Kriterien hat jede Mitsprache in Bezug auf die Strafzumessung freilich nichts gemein. Deshalb ist die dem § 400 StPO immanente Aussage zu bekräftigen, wonach es dem Nebenkläger nicht gestattet ist, ein Urteil mit dem Ziel anzufechten, dass auf die Tat mit einer anderen Rechtsfolge reagiert werde.

7. Zum legitimen Anwendungsbereich der Nebenklage a) Zulässige Anschlusstatbestände Damit ist noch keine Entscheidung über den vernünftigen Anwendungsbereich der Nebenklagebefugnis getroffen. Es könnte etwa darüber nachgedacht werden, die Nebenklageberechtigung in einem umfassenden Sinne zu gewährleisten. So ist 231 232

Weigend, Deliktsopfer, S. 518. Weigend, Deliktsopfer, S. 517.

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vorgeschlagen worden, die Nebenklage bei sämtlichen Delikten zuzulassen, die dem Schutz von Individualinteressen dienen. Nebenklageberechtigt wäre dann jedermann, der durch ein strafrechtlich relevantes Verhalten verletzt oder geschädigt worden ist.233 Gegen derartige Bestrebungen ist frühzeitig eingewandt worden, dass eine erweiterte Anschlussmöglichkeit zu Gunsten jedes Verletzten die Zahl der Nebenklagen sprunghaft ansteigen lasse. Außerdem stehe zu befürchten, dass die strafrechtlichen Funktionen der Nebenklage gegenüber anderen Erwägungen ins Hintertreffen gerieten.234 Solche Mutmaßungen müssen nicht angestellt werden, wenn man einmal mehr auf den antizipiert-sozialrechtlichen Charakter der Nebenklagebefugnis rekurriert. Vergegenwärtigt man sich die Zielstellung, dem Verletzten die erfolgversprechendste Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft zu ermöglichen bzw. ihm diese zu erleichtern, so besteht kein Zweifel darüber, dass das weite Feld reiner Vermögensschädigungen aus dem Anwendungsbereich der Nebenklage herauszuhalten ist. Schließlich begründen rein materielle Einbußen keinen Viktimisierungstatbestand, der im Zuge besonderer Zugeständnisse behoben werden müsste. Das darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass jede vermögensrechtliche Dimension eines bestimmten Tatbestandes die Beteiligungsbefugnis gleichsam automatisch ausschließt. Verwiesen sei etwa auf Raub und Erpressung, deren Personenbezogenheit anhand der jeweils erforderlichen (qualifizierten) Nötigungshandlung sinnfällig wird. Zu verzeichnende Viktimisierungen können hier nicht mit dem lapidaren Hinweis auf den materiellen Gehalt der Tatbestände ignoriert werden. Die Betroffenen (d. h. die Nötigungsopfer) bedürfen hier gegebenenfalls nicht weniger der Resozialisierung als die in § 395 StPO schon jetzt genannten Personen. Der Gedanke ist freilich der Verallgemeinerung zugänglich und zeigt an, dass die in § 395 StPO vorgenommene Auswahl sich als recht konzeptlos darstellt.235 Kritikwürdig ist etwa, dass zwar die §§ 185 bis 189 StGB die Nebenklagebefugnis auslösen, die Brandstiftungsdelikte hingegen nicht. Die Betroffenen eines Brandstiftungsanschlags werden in aller Regel wesentlich schwerwiegendere Tatfolgen zu verkraften haben als Personen, deren Ehre gekränkt worden ist. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

233 So Berz, DAR 1978, S. 1, 5, vor dem Hintergrund der inzwischen überholten Fassung der §§ 395 ff. StPO. Allerdings ist sein Vorschlag bereits von der Forderung gekennzeichnet, die Nebenklage von der Privatklageberechtigung zu lösen. 234 So Schulz, Beiträge, S. 201. 235 Daran ändert auch die neuerliche Erweiterung des Anwendungsbereichs um weitere Delikte des Sexualstrafrechts (§§ 180 a, 181 a StGB sowie rechtswidrige Taten nach § 4 des Gewaltschutzgesetzes) nichts. Dazu Hilger, GA 2004, S. 478, 479 f.

IV. Die Nebenklage

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Im Kern ist die rechtspolitische Forderung zu erheben, die Nebenklagebefugnis mit den ihr beigemessenen Zielstellungen zu harmonisieren. Entsprechende Anschlussmöglichkeiten wären somit hinsichtlich sämtlicher Tatbestände zu schaffen, in denen Viktimisierungen – den viktimologisch-kriminologischen Erkenntnissen nach – häufig sind. Die Höchstpersönlichkeit der jeweiligen Rechtsverletzung ist hierfür ein wichtiges Indiz. Dass mitunter die Verletzung weiterer Rechtspositionen hinzutritt, ist dagegen unbeachtlich. Auch die lediglich fahrlässige Begehungsweise lässt keine Rückschlüsse darauf zu, dass Viktimisierungen nicht stattfinden. Die Höchstpersönlichkeit der Rechtsverletzung orientiert sich nicht am Gebaren des Täters. Insofern sollte auch bei § 229 StGB die Anschlussmöglichkeit gewährt werden, soweit das Risiko einer Viktimisierung zu verzeichnen ist. – § 395 Abs. 2 StPO erfüllt diese Voraussetzungen schon jetzt. Dabei sollte nicht Halt gemacht werden. Viktimisierungen sind nicht durch den Eintritt konkreter Beeinträchtigungen bedingt. Das wird mit Augenmerk auf die Straßenverkehrsdelikte offenbar. So setzen die §§ 315 b und 315 c StGB lediglich die konkrete Gefahr an Leib und Leben eines anderen Menschen voraus. Ein Erfolg ist nicht erforderlich und auch nicht nötig, um eine Viktimisierung zu provozieren. Daher sollte in Bezug auf die genannten Tatbestände eine dem § 395 Abs. 3 StPO vergleichbare Regelung getroffen werden. Maßstab muss in jedem Falle die Resozialisierungsbedürftigkeit des jeweils Betroffenen sein. Freilich dürfen sich die insoweit relevanten Kriterien nicht wiederum nachteilig auf das Befinden des Verletzten niederschlagen. Es wäre daher kontraproduktiv, die Nebenklagebefugnis an den im Einzelfall zu erbringenden Nachweis von Tatsachen zu knüpfen, die zweifelsfrei auf einen „ausreichend schwerwiegenden“ Viktimisierungstatbestand schließen lassen. Dadurch würde nur eine weitere Klippe geschaffen, die sekundäre Viktimisierungen schon im Vorfeld des Anschlusses als Nebenkläger heraufbeschwört. Es empfiehlt sich deshalb eine gesetzliche Regelung, die die Voraussetzungen der Nebenklageberechtigung in der Weise generalisiert, dass der Katalog der nebenklagefähigen Delikte, einem einheitlichen Konzept folgend, erweitert wird. Dies gilt in erster Linie für sämtliche zur Anklage gebrachten vorsätzlich verwirklichten Straftaten mit Bezug zu höchstpersönlichen Rechten. Bei sonstigen Straftatbeständen mit Viktimisierungsrisiko, wie etwa bei einigen Gefährdungsdelikten oder rein fahrlässigen Begehungsweisen, sollte die Nebenklagebefugnis an die schon jetzt in § 395 Abs. 3 StPO genannten besonderen Gründe, also namentlich die schweren Folgen der Tat und die Wahrnehmung berechtigter Interessen, geknüpft werden, wobei sich die Interpretation dieser Merkmale insoweit verschiebt, als das Resozialisierungsbedürfnis des Betroffenen zum entscheidenden Faktor wird. Ein gewisser Begründungsaufwand zu Lasten des zur Nebenklage entschlossenen Verletzten wird sich in diesen Konstellationen kaum vermeiden lassen, jedoch ist nur davor zu warnen, die Anschlussbefugnis von zu strengen Kaute-

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len abhängig zu machen. Die richterliche Kontrolldichte sollte sich in einer Schlüssigkeitsprüfung erschöpfen. b) Angehörigennebenklage Keine Schwierigkeiten bereitet indessen die Angehörigennebenklage236 im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Der antizipiert-sozialrechtliche Gedanke trifft auch auf die dort genannten Personen zu. Sie bedürfen vielfach selbst der Resozialisierung, da sie in eigener Person viktimisiert sind. Daneben versetzt sie Art. 6 GG in die Lage, kraft einer verfestigten und sogar herausgestellten subjektiven Rechtsposition vor Gericht auftreten zu dürfen. Die Vorschrift fungiert gewissermaßen als Transformationsnorm und ermöglicht eine Erweiterung des angesprochenen Personenkreises auf Angehörige, die kraft verfassungsmäßiger Entscheidung so zu behandeln sind, als seien sie selbst betroffen. c) Zur Gefahr einer Gemengelage aus straf- und zivilrechtlichen Motiven Zu untersuchen ist schließlich, ob man die Nebenklage mit der angedachten Erweiterung nicht überfrachtet. Möglicherweise erhöht sich das Risiko, dass sachfremde Erwägungen in den Strafprozess hineingetragen werden. Populär ist etwa der Einwand, dass eine zu starke Öffnung der Nebenklagebefugnis zu einer undurchsichtigen Gemengelage aus straf- und zivilrechtlichen Verletzteninteressen führe. Bereits Maiwald mahnte an, dass es nicht der Zweck des Strafverfahrens sei, dem „Nebenkläger die Wege der Geltendmachung etwaiger Ansprüche im Zivilprozess zu ebnen.“237 Man gebe dem Verletzten zu viel, wenn man ihm um der Feststellung seiner Schadensersatzansprüche willen die Stellung eines Nebenklägers im Strafprozess zubillige. Der BGH selbst leistete solch kritischem Widerspruch Vorschub, indem er in einem Urteil die Nebenklage als deshalb erwünscht darstellte, weil abweichende Entscheidungen zwischen Strafverfahren und anschließendem Zivilprozess zu vermeiden seien.238 Das ist auch nicht abwegig. Vom Boden der antizipiert-sozialrechtlichen Konzeption aus muss sogar in Rechnung gestellt werden, dass nicht zuletzt im Spießrutenlauf durch Gerichte und Behörden die Ursache für sekundäre und spätere tertiäre Viktimisierungen zu suchen ist. Es ist daher richtig, auf ein Verfahrensergebnis hinzuwirken, das die Rechtsdurchsetzung abseits des Strafprozesses zumindest nicht zusätzlich erschwert. Zweckwidrigen Erwägungen hat das Strafgericht ohnehin Einhalt zu gebieten. Darauf wurde bereits hingewiesen. Mithin ist aber auch eine intolerable Verquickung von straf- und zivilrechtlichem Regime nicht zu befürchten. 236 237 238

Kritisch Maiwald, GA 1970, S. 33, 54 ff., 56. Maiwald, GA 1970, S. 33, 55 f. BGHSt 6, S. 103, 105.

V. Das Adhäsionsverfahren

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Der antizipiert-sozialrechtliche Charakter der Nebenklage gebietet eine Rücksichtnahme auf die Belange und Interessen des Verletzten. Ein Übergriff in fremde Rechtsgebiete ist dafür nicht erforderlich. Es stellte vor dem Hintergrund der realen Befindlichkeiten schon eine Verbesserung dar, wenn das Strafurteil die eingetretenen Verletzungen sowie die zu ihr hinführenden Verhaltensweisen eindeutig beschriebe, um dem Verletzten ein erneutes Prozessieren um die tatsächlichen Grundlagen seiner weiteren Rechtsverfolgung zu ersparen. Eine ausdrückliche Regelung hierüber wäre wünschenswert und mit Bezugnahme auf eine eventuelle Opferentschädigung notwendig. Die Mechanismen des gegenwärtigen Strafverfahrens müssten dazu nicht einmal umgebaut werden. Auch der Verfahrenszweck würde nicht gefährdet oder auch nur einer geringfügigen Verschleppung unterworfen. Statuiert würde lediglich eine stichhaltige Dokumentationspflicht im Urteil, welche der Verletzte bzw. das in seinem Status anerkannte Opfer sodann als griffige Grundlage für alles sonstige heranziehen könnte. Dem Resozialisierungsprinzip wäre das nur zuträglich. Die ideelle Dimension der Vermeidung von Viktimisierungen wird leichter zu untermauern sein, wenn auch in materieller Hinsicht keine zusätzlichen Hürden geschaffen werden.

V. Das Adhäsionsverfahren Das Adhäsionsverfahren dient der zügigen Beseitigung der materiellen Tatfolgen. Zu diesem Zweck räumt § 403 StPO dem Verletzten das Recht ein, die aus der Straftat erwachsenen vermögensrechtlichen Ansprüche gegen den Beschuldigten bereits im Strafverfahren geltend zu machen. Auf diese Weise soll es gelingen, die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts hinsichtlich aller straf- und zivilrechtlichen Fragen einer einheitlichen Lösung zuzuführen.239 Die unterschiedliche Natur von Strafe und Schadensersatz hat allerdings stets Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung hervorgerufen und führte dazu, dass der Adhäsionsprozess seit seiner Einführung im Jahre 1943 praktisch kaum eine Bedeutung erlangen konnte.240 Polemisierend wurden die §§ 403 ff. StPO deshalb gelegentlich als „totes Recht“241 oder als „vergessener Winkel des Strafprozesses“242 bezeichnet. In ironischer Überspitzung wurde die wesentliche Funktion des Adhäsionsverfahrens dahingehend formuliert, immer wieder als Gegenstand akademischer Systematisierungsbemühungen herhalten zu müssen.243 Dazu Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 6. Kühler, ZStW 71 (1959), S. 617, 623, mit einem interessanten rechtsvergleichenden Überblick, der erkennen lässt, dass eine Verquickung von zivil- und strafrechtlichen Belangen nicht zwingend zu unlösbaren Problemen führen muss. Vgl. auch SK-StPO-Velten, Vor §§ 403 – 406 c. 241 Jescheck, JZ 1958, S. 591 ff., 593. 242 Vgl. SK-StPO-Velten, Vor §§ 403 – 406 c sowie Kühne, MschrKrim 1986, S. 102 und Jung, ZStW 93 (1981), S. 1147, 1170. 239 240

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Es muss nicht besonders betont werden, dass prozessuale Instrumente normalerweise nicht ihrer theoretischen Bedeutsamkeit wegen geschaffen werden. Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum die Relevanz des Adhäsionsprozesses in der Vergangenheit nicht über das wissenschaftlich-dogmatische – und immer wieder empirische – Interesse hinausreichte. Schließlich wird die Existenz des Instituts ganz überwiegend positiv bewertet.244 So entspreche die bereits im Strafverfahren erfolgende Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche des Verletzten gegen den Täter dem natürlichen Rechtsempfinden.245 Es sei nicht einzusehen, weshalb zwei Gerichte für ein und denselben Lebenssachverhalt nebeneinander zuständig sein sollten. Es recht müsse verhindert werden, dass Straf- und Zivilgericht divergierende Entscheidungen treffen. Überdies fordere der soziale Rechtsstaat eine transparente und widerspruchsfreie Rechtsordnung, die dem Bürger Rechtssicherheit und -verständlichkeit vermittle. Ein gut funktionierendes Adhäsionsverfahren sei mithin sogar verfassungsrechtlich geboten.246 Es trete hinzu, dass die Wiederherstellung des Sozial- und Rechtsfriedens unteilbar sei, weshalb auf eine einheitliche Konfliktregulierung zu drängen sei.247 Jede Zweispurigkeit führe zu einem vermeidbaren Arbeitsaufwand innerhalb der Rechtspflege. „Denn alles, was zur Feststellung des Sachverhalts erforderlich sei, müsse zweimal geschehen, wobei noch anzumerken sei, dass einmal das Strafverfahren besser geeignet sei, die Wahrheit festzustellen, und zum anderen die Beweismittel durch den wiederholten Gebrauch an Wert verlören.“248

1. Legislatorische Belebungsversuche Der Gesetzgeber teilt die Auffassung der Literatur und hat die Forderung nach einer Belebung des Adhäsionsverfahrens wiederholt aufgegriffen. Im Opferschutzgesetz 1987249 wurden erste zaghafte Schritte zu einer Verbesserung unternommen. Seither ist das Adhäsionsverfahren ohne Streitwertgrenze vor dem Amtsgericht zulässig. Ferner dürfen wie im Zivilprozessrecht Grund- und Teilurteile erlassen werden. Dem Antragsteller wurde darüber hinaus ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe eingeräumt.250 So Weigend, Deliktsopfer, S. 523. Jescheck, JZ 1958, S. 591, 592, 595; Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288 ff.; Brause, ZRP 1985, S. 103; Scholz, JZ 1972, S. 725, 726; Klaus, Adhäsionsprozess, S. 147 ff. 245 Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 289; Jescheck, JZ 1958, S. 592. 246 Scholz, JZ 1972, S. 725. 247 Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 289; auch Rössner / Wulf, Strafrechtspflege, S. 90. 248 So die Erwägungen, welche schließlich zur Einführung des Adhäsionsverfahrens beitrugen, dazu Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 4. 249 BT-Drucks. 10 / 5305, S. 1. 250 Dazu SK-StPO-Velten, Vor §§ 403 – 406 c; Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 12. 243 244

V. Das Adhäsionsverfahren

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Die Änderungen führten freilich nicht zu einer häufigeren Durchführung des Adhäsionsprozesses, sondern versandeten letztlich im Nichts. Das lag vor allem daran, dass der wichtigste Problempunkt nicht zum Gegenstand legislativer Anstrengungen gemacht wurde. Das offensichtlichste aller prozessualen Anwendungshindernisse wurde nicht beseitigt. So konnte das Gericht gem. § 405 S. 2 StPO a.F. von einer Entscheidung über den vermögensrechtlichen Anspruch absehen, wenn sich der Antrag zur Erledigung im Strafverfahren nicht eignete. „Diese wachsweiche Regelung stellte es de facto in das Ermessen des Gerichts, ob es sich die Mühe machen will, den Schadensersatzanspruch zu prüfen und sachlich zu bescheiden; und es ist leicht einzusehen, dass diese Regelung den zivilrechtsentwöhnten Strafrichtern eine willkommene Rückzugsmöglichkeit bei echten oder vermeintlichen zivilrechtlichen Problemen“251 bot. Das Gesetz selbst leistete der Erledigungsroutine Vorschub252, indem es die Entscheidung über die ausreichende Eignung zur Erledigung im Strafverfahren ganz in die Hände des Richters legte und die Gefahr einer Verzögerung des Strafverfahrens als adäquaten Ablehnungsgrund vorformulierte. Schließlich sind die Vorbehalte vieler Strafrichter und Staatanwälte gegen jede Befassung mit dem Zivilrecht nicht unbekannt. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass drei von fünf Justizjuristen das Adhäsionsverfahren als Fremdkörper im Strafprozess ablehnen.253 Das Gesetz lieferte insofern eine effektive Handhabe zum kollektiven Boykott des Instituts.254 Persönliche Ablehnung soll nach dem Willen des Opferrechtsreformgesetzes vom 1. 9. 2004 nunmehr kein hinreichender Grund für das Verwerfen von Adhäsionsanträgen mehr sein. Die Berücksichtigung der berechtigten Belange des Antragstellers wird jetzt in § 406 Abs. 1 S. 4 StPO n.F. explizit angemahnt. Die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch soll künftig zur Regel erhoben werden. Das Gericht kann sich einer Entscheidung nur entziehen, wenn der Antrag unzulässig ist oder unbegründet erscheint.255 Ergänzend wird in § 406 Abs. 1 S. 5 StPO n.F. klargestellt, dass Verfahrensverzögerungen nur noch dann zu einer fehlenden Eignung zur Verhandlung führen, wenn sie erheblich sind. Damit aber noch nicht genug: Gem. § 406 Abs. 1 S. 6 StPO ist die fehlende Eignung bei Ansprüchen auf Zuerkennung eines Schmerzensgeldes generell kein Anlass mehr für ein Absehen von der Entscheidung. Nach Meinung Ferbers dürfte „in diesen Fällen in Zukunft wohl tatsächlich für die Gerichte am Erlass jedenfalls eines Grundurteils kein Weg mehr vorbeifüh251

So Weigend in: Will (Hrsg.), Schadensersatz, S. 14; auch Dallmeyer, JuS 2005, S. 327,

329. Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 289. Kaiser, Stellung, S. 270; schon Jescheck, JZ 1958, S. 593. 254 Ähnlich Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 289. 255 Zur Neuregelung auch Dallmeyer, JuS 2005, S. 327 ff.; Ferber, NJW 2004, S. 2562 ff. sowie Hilger, GA 2004, S. 478 ff., 483. 252 253

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ren.“256 Es ist indessen zweifelhaft, ob die neuerlichen legislativen Bemühungen zu einem Umdenken bei den angesprochenen Juristen führen. Auch eine größere Vertrautheit im Umgang mit der zivilrechtlichen Materie wird durch eine Anpassung der einschlägigen Vorschriften nicht automatisch erzeugt. Bei näherer Betrachtung überlässt es die StPO nach wie vor dem mehr oder weniger „konstruktiven“ Willen der Beteiligten, ob es zum Adhäsionsverfahren kommt oder nicht. Auch die reformierten Regelungen gewähren insofern einen komfortablen Spielraum. Wie Hilger mutmaßt, wird das Gericht natürlich pflichtgemäß von der Eignung des Adhäsionsbegehrens ausgehen und erst während der Hauptverhandlung oder im Anschluss an die Beweisaufnahme feststellen, dass die Eignung doch nicht vorliegt. Hinweispflicht, Anhörung sowie die Möglichkeit zur sofortigen Beschwerde nützen dem Verletzten dann nichts mehr. Schließlich darf der Erlass der strafrechtlichen Entscheidung nicht verschleppt werden. Man muss also in der Tat kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich der Bedeutungszuwachs des Adhäsionsverfahrens auch in Zukunft in sehr überschaubaren Grenzen halten wird.257

2. Zur Sinnhaftigkeit des Instituts a) Kategorische Vorbehalte Noch nicht beleuchtet wurde freilich, ob die generelle Durchführung des Adhäsionsverfahrens überhaupt erstrebenswert ist. So ist etwa angenommen worden, dass man den Strafprozess überfrachte, wenn man in ihm auch noch die zivilrechtlichen Tatfolgen klären wolle. Es müsse in Rechnung gestellt werden, dass strafrechtliche Schuld und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche im deutschen Recht ganz verschiedenen, miteinander kaum zu vereinbarenden Kausalprüfungen und Beweisregelungen unterlägen.258 Eine Vermischung begründe Gefahren sowohl für die straf- wie auch für die zivilrechtliche Seite. In der Trennung der Rechtspflege nach Fachgerichtsbarkeiten liege letztlich die Einsicht, dass jedes Rechtsgebiet nach seinen eigenen Gesetzen lebe, deren Beherrschung den Richter ganz in Anspruch nehme und dessen ganze Konzentration abfordere.259 Zudem müsse beachtet werden, dass das Adhäsionsverfahren neben der Zuerkennung von Schadensersatzansprüchen auch die Gewährung von Bereicherungs-, Herausgabe- und Unterlassungsansprüchen erlaube, was von den eigentlichen Aufgaben des Strafverfahrens ablenke und zu rechtsstaatlich kaum erträglichen Verzögerungen führe. Im Interesse der Öffentlichkeit und des Angeklagten müsse der Strafprozess so 256 257 258 259

Ferber, NJW 2004, S. 2562, 2565. So Hilger, GA 2004, S. 478 ff., 485; Dallmeyer, JuS 2005, S. 327, 330. Amelunxen, GA 1974, S. 457, 461; auch Weigend, Deliktsopfer, S. 525. Baur, GA 1957, S. 339 ff., 346; dazu auch Köckerbauer, Adhäsionsverfahren, S. 53.

V. Das Adhäsionsverfahren

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schnell wie irgend möglich durchgeführt werden, was im Zuge der Beurteilung eventueller vermögensrechtlicher Ansprüche immer vereitelt werde.260 Das befürchtete Risikopotential ist durch den Gesetzgeber inzwischen minimiert worden, denn mittlerweile ist auch der Erlass eines Grund- oder Teilurteils möglich. Doch auch abseits davon kann nicht pauschal von ausschließlich nachteiligen Folgen für den Beschuldigten ausgegangen werden. Schließlich wird auch ihm die nochmalige Behandlung des Geschehens in einem weiteren Verfahren erspart. Auch aus Sicht des Schädigers wird eine gerichtliche Doppelbelastung vermieden.

b) Adhäsionsprozess als resozialierungshemmende Einrichtung? Das Adhäsionsverfahren muss nicht in allen Fällen zu einer dysfunktionalen Verschleppung führen. Gleichwohl hält Weigend den Adhäsionsprozess für unbefriedigend. Der Beschuldigte werde durch die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche im Strafverfahren „zusätzlich niedergedrückt“, was seiner Reintegration eine unüberwindliche Mauer aus materiellen Tatfolgen in den Weg stelle.261 Es ist allerdings nicht recht ersichtlich, warum sich die materiellen Verhältnisse des Schädigers verbessern sollten, wenn ihm ein und derselbe Schadensersatzanspruch in einem späteren Zivilverfahren zur Erfüllung auferlegt wird. Der Resozialisierungs- und Reintegrationsprozess wird durch den Gebrauch der üblichen Strukturen weder beschleunigt noch verlangsamt. Art und Umfang der zu erwartenden Belastung nach verhält sich das Adhäsionsverfahren dem Beschuldigten gegenüber indifferent. Es verschlechtert dessen Situation in materieller Hinsicht überhaupt nicht – oder zumindest nicht zusätzlich.

c) Befürchtung einer Übervorteilung des Verletzten Viel schwerer wiegt da der Einwand einer unangemessenen Übervorteilung des Verletzten. Denn der Betroffene muss nicht im Parteibetrieb eigenhändig dafür Sorge tragen, dass er zu seinem Recht kommt. Insbesondere im Beweisverfahren gelten im Adhäsionsprozess die Regeln der Strafprozessordnung, also die Untersuchungsmaxime. Als einzigen zivilprozessualen Grundsatz hat der Strafrichter zu beachten, dass er über das im Adhäsionsantrag zum Ausdruck gebrachte Begehren nicht hinausgehen darf („ne ultra petita“).262 260 261 262

Amelunxen, GA 1974, S. 457, 463. Weigend, Deliktsopfer, S. 526. Amelunxen, GA 1974, S. 457, 462.

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In gewisser Weise steht der Verletzte als Teil der Rechtsgemeinschaft auf der Seite des Staates. Die Vorzüge des Amtermittlungsgrundsatzes verschaffen dem Antragsteller insofern eine Privilegierung, als in Bezug auf die Durchsetzung des Reparationsinteresses plötzlich ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, ein Subordinationsverhältnis, gegenüber dem Antragsgegner begründet wird.263 Es fehlt an der zivilprozessualen Waffengleichheit.

d) Befürchtung einer qualitativen Beeinträchtigung von Rechten des Beschuldigten Man könnte annehmen, der Beschuldigte werde von vornherein in die Defensive gedrängt. Er könnte sich etwa genötigt fühlen, auf zivilprozessuale Verteidigungsmöglichkeiten zu verzichten, um die strafrechtliche Verteidigungsstrategie nicht ins Wanken zu bringen.264 Tatsächlich genießt das aus der Unschuldsvermutung fließende Recht auf umfassende Verteidigung verfassungsrechtlichen Schutz.265 Die Verbesserung der Stellung des Verletzten darf mithin nicht zu einer Beschränkung der strafprozessualen Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten führen. Vorteile des Verletzten dürfen nicht das Ergebnis spiegelbildlicher Nachteile des Angeklagten sein.266 Umgekehrt mag befürchtet werden, dass sich der Beschuldigte in der Hoffnung auf einen günstigen Ausgang des Strafverfahrens eher geneigt zeigt, die zivilrechtlichen Ansprüche zu begleichen und deshalb eine größere Bereitschaft zur Anspruchserfüllung erkennen lässt, als er es nach zivilprozessualen Grundsätzen tun müsste.267 Andererseits sind die Einlassungen des Beschuldigten weniger verlässlich, denn er unterliegt im Strafverfahren nicht der zivilprozessualen Wahrheitspflicht, was wiederum zu Gunsten des Amtsermittlungsgrundsatzes ins Feld geführt werden kann. Offenbar wird an der Diskussion vor allem eines: Die Kombination straf- und zivilrechtlicher Elemente in einem einheitlichen Verfahrenstyp bedarf der Rechtfertigung. Wenn sich das Adhäsionsverfahren als unvorteilhaft für alle Beteiligten, d. h. für Beschuldigte, Verletzte und zuständige Gerichte herausstellte, dann bestünde wenig Anlass, an dem ohnehin kaum gebräuchlichen Instrument festzuhalten. Es könnte abgeschafft werden, ohne dass sich in der praktischen Rechtspflege wahrnehmbare Änderungen einstellen würden.

Köckerbauer, Adhäsionsverfahren, S. 44; auch Peters, Strafprozeß, S. 1. Dazu auch Rieß, Gutachten, C 60 Rn 81, der deshalb eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Adhäsionsverfahren für empfehlenswert hält. 265 Vgl. auch Granderath, NStZ 1984, S. 399 ff.; Köckerbauer, Adhäsionsverfahren, S. 48. 266 So auch Köckerbauer, Adhäsionsverfahren, S. 48. 267 Rieß, Gutachten, C 60 Rn 81 und Köckerbauer, Adhäsionsverfahren, S. 48. 263 264

V. Das Adhäsionsverfahren

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3. Zum systematisch-dogmatischen Hintergrund des Adhäsionsverfahrens a) Historische Ausgangssituation Wer die Sinnhaftigkeit des Adhäsionsverfahrens untersuchen will, muss sich der ihm beigemessenen Funktion zuwenden und die Frage stellen, ob diese auch in der Gegenwart noch Gültigkeit beanspruchen kann. Seiner ursprünglichen Konzeption nach sollte der Adhäsionsprozess schlicht der Vereinfachung und personellen Entlastung der ordentlichen Gerichte dienlich sein.268 Den geschichtlichen Hintergrund bildete die Kompositionsidee, welche neben der ideellen Solidarisierung mit Opfer und Gemeinschaft auch die Entschädigung des Betroffenen intendierte.269 Man betrachtete es als eine positive Eigentümlichkeit des deutschen Rechtskreises, alle rechtlichen Belange im Zusammenhang mit einer Straftat in demselben Verfahren zu verhandeln.270 Die rasche Verurteilung des Schuldigen, seine Verpflichtungen gegenüber dem Verletzten aus strafbarem Verhalten zu erfüllen, wurde mit der Wirkung verbunden, die Akzeptanz des Urteils bei Täter, Opfer und Rechtsgemeinschaft zu steigern.271 Ein zusätzlicher Privatrechtsstreit sollte vermieden werden, um Aufwendungen an Zeit, Mühe und Kosten zu sparen. Letztlich also strebte man die Schonung der Ressource Recht an. Im Zuge des Wertewandels zu Gunsten einer freiheitlichen Rechtsordnung, in der die staatlichen Institutionen ihre Legitimation aus der Mehrung der Vorteile zum Wohle des Einzelnen herleiten, haben sich die Bezugspunkte jeglicher Rechtsdurchsetzung verschoben. Reine Praktikabilitätsgesichtspunkte genügen nicht mehr als tragfähige Grundlage einer Rechtseinrichtung. Die Bündelung divergierender Verfahrenstypen in einem einheitlichen Konfliktlösungsmechanismus muss vor dem Hintergrund der zu wahrenden Individualrechte erfolgen. Die schutzwürdigen Positionen des Beschuldigten sind mit denen des Verletzten in Ausgleich zu bringen, ohne dass rechtsstaatliche Prämissen darunter leiden.

b) Wertewandel: Rücksichtnahme auf Viktimisierungen als an den sozialen Rechtsstaat gerichtete Forderung Eine Straffung der rechtlichen Sachverhaltsbewältigung macht auf dieser Grundlage durchaus Sinn. So dienen sämtliche Bemühungen gesellschaftlicher und legislativer Art dem Anliegen, die Stellung des Verletzten zu stärken und desDazu Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288. Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288. 270 Dazu Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 3; vgl. auch Eser, A. Kaufmann-GS, S. 723 ff. 271 Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 3; Garde, DRiZ 1997, S. 253 sowie Eser, A. Kaufmann-GS, S. 723 ff. 268 269

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sen verfahrensmäßige Belastungen soweit wie möglich zu reduzieren. Ein Gemeinwesen, das sich als sozialer Rechtsstaat versteht, muss seinen Bürgern Rücksichtnahme und Hilfe anbieten. Das impliziert einerseits einen schonenden Umgang mit dem Betroffenen, fordert andererseits aber auch die Linderung psychischer und physischer Störungen. Unnötige Erschwerungen in der Rechtswahrnehmung sind zu vermeiden, was wiederum die Notwendigkeit aufzeigt, den Zugang zu Schadensersatz und sonstigen Reparationsleistungen nicht über Gebühr zu verkomplizieren. Und hier erweist sich das Adhäsionsverfahren als begrüßenswerte Alternative. Es soll einer wiederholten rechtlichen Aufarbeitung ein und desselben Sachverhalts vorbeugen. Gerade die ständig wiederkehrende Konfrontation mit dem Erlebten in unterschiedlichen Verfahren vor Gerichten und Behörden ist der Grund für sekundäre und tertiäre Viktimisierungen. Die Angst vor Perpetuierung und Intensivierung der anlässlich der Straftat zu verzeichnenden Belastungen hält viele Verletzte nachgerade davon ab, die weitere Rechtsdurchsetzung in eigener Sache zu betreiben. Es bedarf keiner zusätzlichen Begründung, dass das der Akzeptanz der Rechtsordnung abträglich ist und ihre Legitimität auch in den Augen der Öffentlichkeit auf Dauer in Mitleidenschaft zieht. Die gegenwärtig geführte und kontrovers diskutierte Opferdebatte dokumentiert dies anschaulich.

c) Adhäsionsverfahren als antizipiert-sozialrechtliches Institut Eine Rechtszuweisungsordnung, die ihren Schutzauftrag ernst nimmt, muss dafür sorgen, dass eingeräumte Rechtspositionen substanzielle Relevanz haben und nicht in Form inhaltsloser Gebilde leerlaufen. Die ideellen Beeinträchtigungen sind auch über die Gewährung vermögensrechtlicher Ansprüche nicht ohne weiteres zu beheben. Jedoch ist nicht ersichtlich, weshalb den Betroffenen die materielle Grundlage einer anzustrebenden Reintegration vorenthalten bleiben sollte. Damit aber erweist sich auch das Adhäsionsverfahren als antizipiert-sozialrechtliches Institut, denn der Staat nimmt sich gewissermaßen der bürgerlich-rechtlichen Anspruchssituation an. Es wird also nicht der eigentliche Zivilprozess vorweggenommen. Dieser erübrigt sich günstigstenfalls, indem das Strafgericht den Sachverhalt hinsichtlich der wesentlichen Rechtsfragen bereits geklärt hat. Es ist der Staat, der die rechtliche Bewältigung des Konflikts in Bezug auf sämtliche Gesichtspunkte wahrnimmt, die der Erhaltung und Verbesserung der Verletztensituation förderlich sind. Auf eine über den Adhäsionsantrag hinausgehende Initiative seitens des Betroffenen kommt es demgegenüber nicht mehr an. Eine eigenverantwortliche und offensive Rechtsdurchsetzung ist von ihm nicht zu erwarten; sie ist ihm auch nicht zuzumuten. Deshalb wird sie ihm durch die Organe des Gemeinwesens abgenommen, wenn er danach verlangt.

V. Das Adhäsionsverfahren

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d) Zum statthaften Anwendungsbereich des Adhäsionsverfahrens Das ist mit einigen Konsequenzen für den Anwendungsbereich des Adhäsionsverfahrens verbunden. Stellt man den Reintegrationsgedanken in den Vordergrund, so kommt eine gleichzeitige Bereinigung der zivilrechtlichen Problemlage nur dort in Betracht, wo Viktimisierungstatbestände zu verzeichnen sind, also bei Straftaten gegen höchstpersönliche Rechte. Die sonstigen Delikte und insbesondere die reinen Vermögenstatbestände sind hingegen nicht dem Adhäsionsprozess zugänglich. Merkwürdigerweise würde die Attraktivität des Instituts dadurch nicht zusätzlich gemindert, sondern – im Gegenteil – vergrößert. Die Scheu vor komplizierten zivilrechtlichen Fragestellungen könnte abgelegt werden, da sich die Beurteilung meist auf wenige Aspekte beschränken wird. Das BGB lässt Einwendungen und Einreden bei vorsätzlichen Verhaltensweisen anlässlich von Straftaten mit noch dazu schwerwiegenden Folgen generell nicht zu. Bei Vorsatz haftet auch kein Versicherer der Welt, sodass auch dieses gern bemühte Argument nicht gegen das Adhäsionsverfahren vorgetragen werden kann. Auf der Verletztenseite ließe sich an die Möglichkeit einer entsprechenden Abtretungsregelung zu Gunsten des Krankenversicherers hinsichtlich der erworbenen Ansprüche denken. Unüberwindliche Schwierigkeiten stellen sich insoweit jedenfalls nicht ein. Eine Mitwirkung Dritter im Strafverfahren muss dafür nicht implementiert werden. Deren Interessen lassen sich durch flankierende Vorschriften leicht abfedern. Das ist nur eine Frage des rechtspolitischen Willens.

e) Wider die Verweigerungshaltung gegenüber zivilrechtlichen Fragestellungen Abseits von solcherlei Erwägungen könnte man freilich noch immer behaupten, den Strafjuristen fehle es an einer ausreichenden Vertrautheit mit der bürgerlichrechtlichen Materie. Immerhin spielt bei Kausalitätsfragen das Adäquanzkriterium eine wesentliche Rolle. Die Trennung von haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität mag Irritationen heraufbeschwören. Daneben kennt das Zivilrecht die Gefährdungshaftung. – Noch immer ließe sich also vermuten, der Richter werde durch die Befassung mit vermögensrechtlichen Angelegenheiten überfordert. Indessen kann mangelnde Qualifikation in Zeiten der immer noch praktizierten Einheitsjuristenausbildung kein Grund sein, vom Adhäsionsverfahren Abstand zu nehmen. Der Richter hat das Recht zu kennen! Er ist ohnehin nicht in der Lage, zivilrechtliche Fragen bei der Beurteilung strafrechtlicher Fälle einfach auszuklammern. Selbst die Würdigung der Normen des materiellen Rechts macht die Bezugnahme auf privatrechtliche Probleme erforderlich. Man denke nur an die Schadensfeststellung beim Betrug oder die nähere Bestimmung des Missbrauchs-

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G. Verletzteninstitute

tatbestandes bei der Untreue. Tatsache ist, dass auch der Bereich des Nebenstrafrechts die rechtliche Beurteilung von der Beantwortung zivilrechtlicher Vorfragen abhängig macht. Als Beispiel sei nur das weite Feld der Wirtschaftskriminalität genannt, die ohne Klärung der mannigfachen zivilrechtlichen Facetten gar nicht zu bewältigen wäre. Es ist daher aber nicht einzusehen, weshalb den Strafgerichten in Ermangelung hinreichender fachlicher Kompetenz die Zuerkennung vermögensrechtlicher Ansprüche unmöglich sein sollte.272 Im Moment ist dafür schlicht nur kein Bewusstsein273 vorhanden! f) Bindung des Adhäsionsantrags an die Nebenklagebefugnis Wenn nach allem die Viktimisierung den Ausschlag für die rechtspolitische Bejahung des Adhäsionsprozesses gibt und sich dieses auch ins geltende Strafprozessrecht einbetten lässt, dann spricht das dafür, die Antragstellung an die Nebenklagebefugnis zu knüpfen. Das würde dem Adhäsionskläger Mitsprachemöglichkeiten in eigener Sache verschaffen. Überdies wäre es dem Gericht möglich, das Begehren des Antragstellers von Beginn an in geordnete Bahnen zu lenken. Zugleich wäre die Gefahr beseitigt, dass die bloße Anzeigenerstattung dazu missbraucht wird, die Aussicht auf die Gewährung zivilrechtlicher Ansprüche zu verbessern. Das Ziel der einschlägigen Verletztenposition wäre darauf konzentriert, spezifisch opferbezogenen Aspekten im Prozess Rechnung zu tragen. Abseits des Viktimisierungstatbestandes ist dies weder nötig noch wünschenswert. Im Bereich der leichten bis mittelschweren Kriminalität und speziell bei reinen Vermögensschädigungen liegt das Augenmerk der Betroffenen ohnehin nicht auf Reintegration oder Resozialisierung, sondern schlicht auf Reparation. In diesen Konstellationen erscheint der Verweis auf den Zivilrechtsweg jederzeit zumutbar. Es tritt hinzu, dass hier die Wahrscheinlichkeit komplizierter Sachverhalte mit haftungs- und versicherungsrechtlicher Relevanz ungleich größer ist. Derartige Schwierigkeiten lassen sich auch im Bereich eines reformierten Adhäsionsverfahrens nicht kategorisch ausschließen. Daher spricht vieles für die Beibehaltung einer Ablehnungsmöglichkeit wegen fehlender Eignung zur Klärung im Strafverfahren. Diese sollte jedoch nicht auf Schmerzensgeldansprüche oder Haftung aus unerlaubter Handlung erstreckt werden. Hinsichtlich der §§ 823 Abs 1, 2 sowie 253 Abs. 2 BGB sollte die Adhäsionsentscheidung verpflichtend sein. 272 Es entsprach auch den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers, dass das Strafgericht ohne weiteres mit bürgerlich-rechtlichen Problemen befasst werden könne. Mit dem Adhäsionsverfahren sollte zusätzlich erreicht werden, dass der Richter in der Strafrechtspflege keine allzu einseitige Herangehensweise entwickelt. Dazu Löwe-Rosenberg-Hilger, Vor § 403 Rn 4. 273 Oder keine Lust!

V. Das Adhäsionsverfahren

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g) Keine unangemessene Privilegierung gegenüber sonstigen Sachverhalten mit vermögensrechtlicher Tragweite Schließlich liegt darin auch keine unsachgemäße Privilegierung gegenüber üblichen Privatrechtsstreitigkeiten. Vielmehr stellt gerade der Amtsermittlungsgrundsatz eine Art Grundbedingung für die effiziente Anwendung des Instituts dar. Wenn es dem Antragsteller überantwortet bliebe, für die Beibringung allen erforderlichen Materials zu sorgen, würden die Vorteile gegenüber dem „normalen“ Zivilrechtsweg nivelliert und die sozialrechtliche Komponente in ihrer Umsetzung vernachlässigt. Auch sonst ist eine ungerechtfertigte Übervorteilung nicht erkennbar. Schließlich ist es für den üblichen Zivilrechtsstreit nicht charakteristisch, dass einer der beteiligten Parteien die Subjektivität genommen wird. Genau das aber ist für die hier diskutierten und relevanten Straftaten typisch. Hier liegt auch der maßgebliche Anknüpfungspunkt für die Statuierung und Implementierung einer Verletztenposition, die die wahrnehmbaren Probleme der praktischen (Straf-)Rechtspflege aufgreift. Dieser Art Resozialisierungsbemühung bedarf es nicht, wo eine Entsozialisierung oder ein Verlust an Subjektivität nicht zu verzeichnen ist. Wer seiner Verantwortung selbst gerecht werden kann, dem muss die Rechtsordnung nicht die Steigbügel für verbesserte Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten halten. Besonderer Instrumentarien bedarf es nur dort, wo der Einzelne nicht mehr ohne wesentliche Hindernisse fähig ist, die ihm durch das Recht eingeräumten Freiheiten ohne fremde Hilfe ins Werk zu setzen. Hierin liegt allemal ein zulässiges Differenzierungskriterium. Ein Rückbezug auf den schillernden Terminus der Wiedergutmachung ist demnach gar nicht angezeigt. Vereinzelt ist angenommen worden, in der zivilrechtlichen Restitution liege gewissermaßen der „unverzichtbare Grundstock“ der Strafe.274 Gestützt wird dieses Postulat auf kriminologische Erkenntnisse, wonach es den Straftatopfern primär um Schadenswiedergutmachung gehe.275 Der empirische Befund ist nicht einmal falsch. Allerdings gilt der ermittelte Wert im Verhältnis zum Maß der Gesamtkriminalität. Innerhalb dieser nimmt die leichte und mittelschwere Kriminalität den bei weitem größten Raum ein.276 Angesprochen sind damit jedoch vor allem Zueignungs- und Vermögensdelikte, nicht aber all jene Tatbestände, die Viktimisierungen in erster Linie heraufbeschwören. Das betrifft nicht die Mehrheit der Gesamtkriminalität, aber hier liegen die Probleme. – Und diese sind nicht primär auf vermögensrechtlicher Ebene zu finden. Die Wiedergutmachungsidee muss somit nicht fruchtbar gemacht werden, um zu einem positiven Votum im Zeichen des Erhalts oder Ausbaus des Adhäsionsverfahrens zu gelangen. 274 275 276

Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 290. Auch Dallmeyer, JuS 2005, S. 327, 328; Weigend in: Will, Schadensersatz, S. 21 f. Rössner / Klaus, NJ 1996, S. 288, 290.

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G. Verletzteninstitute

Eine sinnvolle Regelung des Adhäsionsprozesses sollte deshalb die Resozialisierungsbedürftigkeit des viktimisierten Individuums in den Mittelpunkt stellen und gewährleisten, dass dem betroffenen Einzelnen die materiellen Grundlagen einer erfolgreichen Rehabilitation und Reintegration zugesprochen werden.

VI. Informationsrechte Natürlich liegt eine Grundvoraussetzung der Wahrnehmung eingeräumter Befugnisse darin, über ihre Existenz zunächst einmal im Bilde zu sein. Die rechtliche Sicherstellung eines zuverlässigen Informationsflusses gegenüber dem (mutmaßlichen) Verletzten wird damit zur notwendigen Bedingung seiner Mitwirkung.

1. Kein genereller Informationsanspruch zu Gunsten aller Verletzten Indessen macht die Strafprozessordnung die Erteilung von Auskünften, die den Sachstand des Verfahrens betreffen, von vorher gestellten Anträgen abhängig. Vorschläge, die einen generellen und obligatorischen Informationsanspruch hinsichtlich der Eröffnung des Hauptverfahrens sowie in Bezug auf den allgemeinen Sachstand des Verfahrens vorsehen, haben sich bislang nicht durchsetzen können.277 Komfortabler ist die Situation derjenigen, die von nebenklagefähigen Delikten betroffen sind. Hier sieht § 406 h Abs. 1 StPO schon jetzt – bzw. jetzt endlich – eine entsprechende Unterrichtungspflicht hinsichtlich der einschlägigen Mitwirkungsmöglichkeiten vor. § 406 h Abs. 2 StPO statuiert überdies eine Hinweispflicht über die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche im Adhäsionsverfahren. § 406 Abs. 3 StPO vervollkommnet den Katalog durch den obligatorischen Hinweis auf die Möglichkeit, die Unterstützung von Opferhilfeeinrichtungen in Anspruch zu nehmen.278 Der Kanon des § 406 h StPO ist ebenfalls im Lichte der antizipiert-sozialrechtlichen Aufgabe der Strafgerichte zu interpretieren. Er hebt die Reintegrationsbedürftigkeit der Opfer hervor und dient als Vehikel zur praktischen Umsetzung der Verletzteninstitute. Da diese den Viktimisierungstatbestand zum relevanten Anknüpfungspunkt der Beteiligung erheben, leuchtet auch ein, warum Informationsansprüche nicht in allen Strafverfahren obligatorisch zuerkannt werden. Abseits der nebenklagefähigen Delikte besteht eben nicht die sozialrechtliche Notwendigkeit eines erhöhten Resozialisierungsaufwandes. Nicht alle Straftaten gehen mit einer Entsozialisierung einher, die den Staat dazu aufrufen würde, einem be277 278

Dazu Ferber, NJW 2004, S. 2562, 2563. Ferber, NJW 2004, S. 2562, 2563.

VI. Informationsrechte

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sonderen, herausgestellten Schutzauftrag gerecht werden zu müssen. Es ist daher allemal vertretbar, den allgemeinen Auskunftsanspruch des „normalen“ Verletzten an das Erfordernis eines entsprechenden Antrags zu binden.

2. Information über freiheitsentziehende Maßnahmen Aus denselben Gründen ist die Regelung zur Information des Verletzten über freiheitsentziehende Maßnahmen gem. § 406 d Abs. 2 StPO vernünftig. Sofern der Verletzte nicht Opfer eines nebenklagefähigen Delikts ist, wird die Auskunftserteilung auch hier von der Darlegung eines berechtigten Interesses abhängig gemacht. Darüber hinaus dürfen in diesen Fällen keine schutzwürdigen Belange des Verurteilten entgegenstehen. Zugleich genügte der Gesetzgeber mit der Verabschiedung der Vorschrift den Anforderungen des Rahmenbeschlusses der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, in dem die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen, um zumindest in Konstellationen, in denen die Opfer gefährdet sind, zu gewährleisten, dass zum Zeitpunkt der Freilassung der wegen der Straftat verfolgten oder verurteilten Person die Unterrichtung des Opfers beschlossen werden kann.279

3. Anwaltlicher Beistand Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ist vor dem Hintergrund der effektiven Wahrnehmung der Verletztenrechte selbstverständlich. Ein Opferanwalt kann gem. § 397 a Abs. 1 S. 1 StPO nunmehr auch von nahen Angehörigen Getöteter in Anspruch genommen werden. Dass dies auch auf Staatskosten geschehen kann, löst einen vorherigen Wertungswiderspruch auf.280

4. Dolmetscher und Vertrauensperson Gleichsam effizienzsteigernd wirkt sich die neu geschaffene Regelung des § 187 GVG aus, wonach das Gericht sprachunkundigen und behinderten nebenklageberechtigten Verletzten einen Dolmetscher oder Gehilfen zur Seite stellen kann.281 Die Dolmetscherkosten des Verletzten gelten als Teil der Gerichtskosten. Sie werden als Auslagen erhoben.282 279 AmtsBlEG Nr. L 82 vom 22. 3. 2001; dazu auch Ferber, NJW 2004, S. 2562, 2563, mit dem Hinweis, dass die StPO über die europarechtlichen Vorgaben sogar präzisierend hinausgeht, indem sie klarstellt, dass der Informationsanspruch auch für den Maßregelvollzug gilt. 280 Dazu Ferber, NJW 2004, S. 2562, 2563. 281 Vgl. Hilger, GA 2004, S. 478, 480. 282 BR-Drucks. 829 / 03, S. 46.

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G. Verletzteninstitute

Ins sozialrechtliche Konzept passt schließlich das Recht des Verletzten auf Anwesenheit einer Vertrauensperson, § 406 f StPO. Auf diese Weise werden letztlich Hilfsmechanismen zur erfolgversprechenden Vermeidung von Viktimisierungen installiert. Die zukünftige Rechtspraxis wird zeigen, inwiefern diese Instrumente und Institute zu verfeinern sind.

H. Schlussbetrachtung I. Der Viktimisierungsgrad als realer Bezugspunkt der rechtspolitischen Diskussion Wer eine opferfreundliche Gestaltung des Strafprozesses befürwortet, muss die realen Probleme der Betroffenen zum Leitprinzip seiner Bemühungen erheben. Das Augenmerk ist dabei zunächst auf die kriminologische Forschung zu lenken, wonach das Lager der Opfer in zwei Gruppen mit ganz unterschiedlichen Präferenzen zu unterteilen ist. Das weite Feld der leichten bis mittelschweren Kriminalität steht dabei denjenigen Delikten gegenüber, die zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Subjektqualität bei den betroffenen Personen führen. Insbesondere die Gewärtigung reiner Sachschäden lässt nicht den gesteigerten Willen auf Teilhabe und Mitwirkung entstehen. Im Gegenteil: Den Betroffenen geht es um eine schnelle Erledigung der Angelegenheit und vor allem um eine möglichst umfassende Reparation. Diese Opfergruppe betrachtet das Strafverfahren bei Befriedigung ihrer materiellen Interessen vielfach als gegenstandslos oder sogar lästig. Bedenkliche Folgeerscheinungen, die einen reformerischen Handlungsbedarf anzeigen, sind hier nicht erkennbar. Deshalb aber kann auch der Topos der Wiedergutmachung nicht in dem Sinne verallgemeinert werden, dass die Orientierung an ihm zu einer Neuordnung der Strafrechtspflege führen müsste. Die Vermögensdelikte sind angesichts ihrer Häufigkeit von wesentlicher Bedeutung für die Kriminalstatistik. Entsprechend oft wird der Wunsch nach Wiedergutmachung artikuliert. Dieser Umstand ist jedoch nicht repräsentativ für die Konstellationen, an denen sich die Debatte um die Verbesserung der Opferposition im Strafverfahren entzündet hat. Lösungen sind zu Gunsten derjenigen Betroffenen zu entwickeln, die durch das Erlebnis der Straftat tendenziell schwerere Viktimisierungen davongetragen und zu verarbeiten haben. Ein aus den Fugen geratenes Weltbild ist nicht allein durch die Zuwendung finanzieller Mittel wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Genau hier ist der Ausgangspunkt für die seit Jahrzehnten schwelende Diskussion um eine offensivere Opferbeteiligung zu verorten. Die Realität zeigt, dass psychische Belastungen und (daraus resultierende) physische Störungen nicht durch die Verabschiedung von Rechts- und Programmsätzen zu vermeiden sind. Das Strafrechtssystem ist deshalb gehalten, zusätzlichen Beeinträchtigungen durch sekundäre Viktimisierungen vorzubeugen bzw. solche auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Sensibilität und Einfühlungsvermögen können nicht gesetzlich verordnet werden, jedoch gilt es, die prozessualen Bedingungen zu schaffen, die der besonderen Situation kriminell vik-

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H. Schlussbetrachtung

timisierter Personen Rechnung tragen und einen behutsamen, rücksichtsvollen Umgang mit den Betroffenen gewährleisten helfen. Mit steigendem Viktimisierungsgrad nimmt das Bedürfnis zu, das Geschehene zu verstehen und sich in seine rechtliche Aufbereitung einzubringen. Generelle Aussagen lassen sich hier freilich nicht mit absoluter Bestimmtheit treffen; allerdings sollte mit Rücksichtnahme auf die Mannigfaltigkeit individueller Präferenzstrukturen eine adäquate verfahrensmäßige Handhabe bereitgestellt werden, die flexible Anpassungsmöglichkeiten zulässt und insofern einen gewissen Spielraum für individuelle Verarbeitungsstrategien eröffnet.

II. Verwirklichung subjektiver Rechte als Zielvorgabe In welchem Maße dies empfehlenswert ist, muss vor dem Hintergrund des strafrechtsdogmatischen Gerüsts beantwortet werden. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass die im Staat verfasste Allgemeinheit Destinatär der strafrechtlichen Verhaltensnormen ist. Strafrechtliche Relevanz erlangt ein Sachverhalt im Zuge des Angriffs auf die Rechtszuweisungsordnung. Das Individuum büßt deshalb jedoch nicht an Wichtigkeit ein. Vielmehr ist beachtlich, dass das Strafrecht als limitiert-akzessorisches Schutzrecht verstanden werden muss. Es ist anzuerkennen, dass eine freiheitliche Rechtsordnung dem einzelnen Bürger verpflichtet ist. Sein Wohl geht dem der Allgemeinheit bzw. dem des Staates voraus. Die Verfassung erkennt dies durch die Verbürgung subjektiver Rechte an. Sie fungieren als Legitimationsgrund und begrenzen zugleich den staatlichen Handlungshorizont. Insofern aber enthält die Gewährleistung von Freiheit ein umfassendes Zugeständnis an die Vielgestaltigkeit des individuellen Willens. Subjektive Beweggründe und Bedürfnisse werden vom Staat nicht hinterfragt. Daraus aber folgt, dass individuelle Interessen nicht gesetzlich zu fassen sind. Interessen und Bedürfnisse werden nicht zu Rechten gebündelt, sondern sie gehen der Rechtsausübung voraus. Ein Recht verkörpert also regelmäßig eine Vielzahl divergierender Handlungsmöglichkeiten, die nicht selbst Gegenstand der rechtssatzmäßigen Formulierung sind. Der Rechtsgutsbegriff, welcher einzelne, staatlicherseits ausgewählte Interessen als gesetzliche Schutzgegenstände identifiziert, ist daher kritisch zu hinterfragen. Er wird den Forderungen einer freiheitlichen, am Individuum ausgerichteten Gesellschaftsordnung nicht völlig gerecht. Er maßt sich an, festlegen zu können, was dem Wohle des Einzelnen am besten entspricht. Darüber aber hat der Bürger in eigener Zuständigkeit zu befinden. Er ist in seinen Entscheidungen unabhängig von jeder obrigkeitlicher Zustimmung. Ihm ist ein autonomer Bereich freiheitlicher Willensbetätigung zugewiesen. Die Lehre vom subjektiven Recht genügt dieser verfassungsmäßig verbürgten Ausgangssituation. Auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts wird dies unmittelbar sinnfällig. Der Einzelne regelt seine Lebensverhältnisse nach eigenem Gutdünken

II. Verwirklichung subjektiver Rechte als Zielvorgabe

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und verwirklicht so das Prinzip der Privatautonomie. Dieses korrespondiert mit dem Prinzip der Eigenverantwortung, was sich im Zivilprozess fortsetzt. Es wird die freie Rechtsausübung gewährleistet. Im Gegenzug wird erwartet, dass sich der Einzelne selbst um die Rechtsverfolgung und -durchsetzung in Konfliktsituationen bemüht. Das staatliche Gewaltmonopol zwingt ihn dazu, den Gerichtsweg zu wählen und auf Maßnahmen der privaten Selbsthilfe zu verzichten. Gleichwohl werden die in Streit stehenden subjektiven Rechtspositionen nur aufrechterhalten und durchgesetzt, wenn und soweit es den individuellen Präferenzstrukturen der Betroffenen entspricht. Von der Rechtsverfolgung Abstand zu nehmen, ist selbst Bestandteil der möglichen Rechtsausübung, was – gewissermaßen als Preis der Gewährleistung umfassender Freiheit – hingenommen und respektiert werden muss. Das darf den Bestand der Rechtszuweisungsordnung freilich nicht in Frage stellen. Die rechtliche Gewährleistung von Freiheit darf im Alltag nicht durch tatsächliches Verhalten aufgehoben werden. Anderenfalls erwiese sich die Rechtsordnung als instabil und wenig verlässlich. Um ihre Legitimität wäre es schlecht bestellt, da sie nicht imstande wäre zu garantieren, wozu sie statuiert wurde. Sie muss deshalb vor Angriffen geschützt werden und auf bereits durchgeführte Attacken reagieren können. Hier beginnt der Anwendungs- und Funktionsbereich des Strafrechts. Als limitiert-akzessorisches Schutzrecht erfüllt es eine Garantiefunktion im Hinblick auf die Erhaltung subjektiver Rechte in ihrem Bestande. Substanzielle Verletzungen subjektiver Rechtspositionen, die sie als Institute schwächen und die deshalb das Substrat der Rechtszuweisungsordnung in Mitleidenschaft ziehen, sind zurückzuweisen. Anderenfalls stünde die Gewährleistung von Freiheit nur auf dem Papier. Soll sie zu Leben erweckt und als Grundpfeiler eines gedeihlichen Zusammenlebens aufrechterhalten werden, so wäre es allzu unsicher, ihre Wahrung der Beliebigkeit des individuellen Willens anheimzustellen. Die Gewährleistung von Freiheit würde schutzlos gestellt und zum Privileg derjenigen, die mit den Instrumenten privativer Interessendurchsetzung am besten umzugehen wissen. Im Ergebnis würde die Freiheit ungleich verteilt, was der Legitimität der Gesamtrechtsordnung abträglich wäre und ihren Sinn in Zweifel ziehen müsste. Wo der Einzelne seiner Freiheit beraubt und eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung – und sei es nur in Teilbereichen – unmöglich gemacht wird, dort ist die Allgemeinheit aufgerufen, um der Erhaltung ihres eigenen Selbstverständnisses wegen einzuschreiten. Die materiellen Strafrechtssätze sollen derartige Übergriffe von Anfang an verhindern, was vergangene Straftaten jedoch nicht ungeschehen macht. Gleichwohl dokumentiert die Existenz des materiellen Strafrechts die allgemeine Übereinkunft, an den Grundbedingungen eines freiheitlichen Miteinanders auch in Zukunft festhalten zu wollen.

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H. Schlussbetrachtung

III. Mitwirkung im Prozess als Problem der Rechtsgrundebene Diese prospektive Einstellung spiegelt sich in den Strafzwecklehren wider. Die Lehre von der Generalprävention sucht das Insistieren auf die Erhaltung und Durchsetzung des Rechts zu unterstreichen. Die Spezialprävention verdeutlicht, dass dieses Ziel am erfolgreichsten zu verwirklichen ist, wenn auch der verurteilte Täter eines Besseren zu belehren ist. Da die Begehung der Straftat ihn als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft nicht disqualifiziert und auch die Strafe ihn als Bürger nicht für alle Zeiten zu disqualifizieren vermag, bleiben Reintegrationsanstrengungen ohne Alternative. Strafzweckerwägungen sind zwingend täterbezogen und zukunftsorientiert. Noch wichtiger aber ist der Umstand, dass sie ausschließlich die Rechtsfolgenebene betreffen. Ein auf Bestrafung lautendes Verfahrensergebnis wird also regelmäßig vorausgesetzt, wenn die Frage nach ihrem Sinn gestellt wird. Zur Diskussion um die prozessuale Einbindung des Verletzten können die gängigen Straftheorien daher nicht unmittelbar beitragen. Schließlich gilt es zu ermitteln, ob der Betroffene durch eigene Mitwirkung das jeweilige Verfahren und dessen Ergebnis soll beeinflussen können. Der damit angesprochene Problemkreis geht somit in seiner Art, in seinem Umfang sowie in seiner Bedeutung und Zweckmäßigkeit der Bestrafung voraus. Daraus erhellt: Man wird zwischen dem Zweck der Bestrafung und dem sie tragenden Rechtsgrund zu unterscheiden haben. Mitwirkungsrechte im Verfahren dienen gegebenenfalls der Offenlegung des Rechtsgrundes, der bei seinem Bestehen zur Verhängung der Strafe führt. Diese Konzeption folgt dem Schema der materiellen Strafrechtssätze. Die Anwendung des in der Sanktionsnorm festgelegten Strafrahmens resultiert aus der Auflehnung gegen die jeweilige primäre Verhaltensnorm, wobei Sicherheit über die Zuwiderhandlung gegen den Verhaltensbefehl bestehen muss. Der Prozess soll Zweifel über die Begehung der Straftat beseitigen oder zu Gunsten des Beschuldigten bestätigen. In jedem Falle aber ist er unverzichtbar.

IV. Reintegration der Opfer als Materie des Sozialrechts Nur bei unzweifelhaft positivem Befund ist auf Strafe zu erkennen. Diese greift in Freiheitsrechte des Täters ein, wirkt sich auf das Opfer jedoch nur mittelbar aus, wobei alle mittelbar-faktischen Effekte nicht intendiert werden und bestenfalls emotiven Charakters sind. In diesem Sinne nimmt die Bestrafung dem Täter etwas, ohne dass dem Opfer etwas (zurück-)gegeben würde. In tatsächlicher Hinsicht ist

IV. Reintegration der Opfer als Materie des Sozialrechts

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in Rechnung zu stellen, dass man der Strafe zu viel zutraut, wenn man ihr die Fähigkeit beimisst, verursachte Viktimisierungen zu lindern oder gar zu beseitigen. Derlei Erscheinungen treten mitunter auf, sind aber zufällig und nicht zu garantieren. Herausgestellte Beachtung verdient, dass jede Straftat zur Ausschaltung einer subjektiven Rechtsposition im institutionellen Sinne führt, zu einer Beeinträchtigung der individuellen Subjektqualität, die bei schweren Viktimisierungen besonders ausgeprägt ist. Der damit verbundene Freiheitsverlust wird durch die Bestrafung des verantwortlichen Täters nicht aufgewogen. Mit Hilfe eines bildhaften, äquilibristischen Modells lässt sich aussagen, dass der durch die Bestrafung herbeigeführte Verlust an Freiheit den Täter auf das Autonomieniveau des Opfers niederdrückt. Die Lehre von der Spezialprävention greift diese Situation auf und regt dazu an, den Täter durch bessernde Einwirkung in das gesellschaftliche Miteinander zu reintegrieren. Er ist auch weiterhin als Bürger zu behandeln und hat seine Chancen auf ein freiheitliches Dasein nicht etwa verspielt. Für die Opferseite gilt aber nichts anderes: Wenn die Betroffenen aufgrund der Straftat und der durch sie eingetretenen Viktimisierung nicht in der Lage sind, ihre Lebensverhältnisse in eigener Verantwortung zu regeln und von der ihnen formal gewährleisteten Freiheit materiell Gebrauch zu machen, dann sind Maßnahmen angezeigt, die ihnen eine Rückkehr in das soziale Beziehungsgeflecht ermöglichen. Da die Strafe Ausdruck der Auseinandersetzung mit dem Täter ist, eignet sie sich nicht als Instrument zur Reintegration der Opfer. Deren Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen Strukturen ist denn auch nicht Materie des Strafrechts, sondern sie ist Aufgabe des Sozialrechts. Der Zweck des Strafverfahrens stützt diese These. Er ist erreicht, wenn über das Bestehen oder Nicht-Bestehen des Rechtsgrundes zur Bestrafung Aufschluss gegeben ist. Gegenstand des Verfahrens ist daher die Frage, ob eine strafrechtlich relevante Auflehnung gegen die materiellen Verhaltensnormen vorliegt oder nicht. Es geht ausschließlich um die Würdigung einer Handlung des Beschuldigten, die bei Bestätigung ihrer Strafbarkeit die Anwendung der Sanktionsnorm auslöst. In diesem Sinne hat der Prozess das materielle Recht in positiver wie negativer Hinsicht zu bewähren. Ein Bedeutungsverlust des Verfahrensrechts wird dadurch nicht heraufbeschworen. Im Gegenteil: Der Strafprozess wird zum notwendigen Vehikel der Ingeltungsetzung der materiellen Strafrechtssätze. Mehr noch: Ohne Prozess lässt sich ein Sachverhalt nicht verbindlich als strafrechtliches Delikt identifizieren. Die allein gedankliche Subsumtion einer bestimmten Fallkonstellation unter den jeweils einschlägigen Tatbestand ist aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere aufgrund der stets zu berücksichtigenden Unschuldsvermutung ohne Relevanz. Die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Strafrechtsordnung ist von der Durchführung des Verfahrens abhängig. Hierin unterscheidet sie sich signifikant vom Zivilrechtssystem.

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H. Schlussbetrachtung

Das Strafverfahren spielt sich allein im Spannungsfeld zwischen Staat und mutmaßlichem Täter ab. Die individuellen Präferenzstrukturen des sich als Opfer begreifenden Einzelnen sind insoweit unerheblich, da sich keine der relevanten Fragestellungen auf seine persönliche Situation unmittelbar niederschlägt; seine Befindlichkeiten sind nur von Interesse, soweit sie die Erschütterung der Rechtszuweisungsordnung indizieren, über die wiederum nicht das Individuum zu entscheiden hat, sondern Repräsentanten der sie tragenden Allgemeinheit. Dieses Vorgehen ist zur Wahrung größtmöglicher Neutralität und Unvoreingenommenheit auch in Zukunft anzuraten. Überdies hat es sich historisch als sinnvollstes Prozedere bewährt.

V. Mitwirkungsrechte im Strafprozess als Ausprägung sozialrechtlicher Anforderungen Gleichwohl ist nicht sämtlichen Beteiligungsmöglichkeiten eine kategorische Absage zu erteilen. Das Strafrechtssystem muss als limitiert-akzessorischer Schutzapparat die klimatischen Bedingungen eines freiheitlichen Zusammenlebens berücksichtigen und gleichsam als Aufgabenstellung zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen verinnerlichen. So entledigt sich der Staat im Strafverfahren nicht seiner verfassungsmäßigen Bindungen. Individualität und Subjektivität des Einzelnen Bürgers genießen daher höchste Priorität. Ein Strafrechtssystem, das sich der Freiheitssicherung verschrieben hat, kann die persönlichen Lebensverhältnisse der Bürger nicht ignorieren und Entscheidungen fällen, die sich über ihre Köpfe hinwegsetzen. Der Schutz der Rechtszuweisungsordnung darf nicht Selbstzweck sein. Anderenfalls würde provoziert, was gerade vermieden werden soll. Ein Gemeinwesen, das wahllos in die Lebenskreise seiner Bürger eingreift und deren Präferenzen gänzlich vernachlässigt, muss um seine Legitimität fürchten. Es ist deshalb angezeigt, vom Strafrecht in einer Weise Gebrauch zu machen, die Konfliktsituationen nicht zusätzlich belastet. Es muss in Rechnung gestellt werden, dass der Einzelne sein Dasein gewöhnlich nicht in Isoliertheit fristet. Seine Lebensverhältnisse werden durch das jeweilige soziale Umfeld wesentlich mitbestimmt. Der Staat ist gehalten, nicht unangemessen in den sozialen Nahbereich des Individuums einzubrechen. Anderenfalls setzte er sich dem Vorwurf aus, seine Bürger zu bevormunden und die Gewährleistung von Freiheit zu unterminieren.

1. Begrenzter Nutzen des Strafantrags Dieser Gefahr gilt es, mit Hilfe der richtigen Instrumente vorzubeugen. Namentlich das Strafantragserfordernis sucht Widersprüche der beschriebenen Art zu Gunsten der Freiheit aufzulösen. Es wird erreicht, dass die Strafrechtspflege nur

V. Mitwirkungsrechte im Strafprozess

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dort betrieben wird, wo sie das gesellschaftliche Miteinander nicht nachteilig beeinflusst. Die Betroffenen sind am ehesten Lage, hierüber ein verlässliches Urteil zu fällen. In diesem Sinne ist die praktische Handhabe des ultima-ratio-Prinzips in einem Teilbereich der Kriminalität den betroffenen Individuen überantwortet. Sie entscheiden selbst, ob sie den Ausgangskonflikt in eigener Verantwortung beilegen oder den Mechanismen der Strafverfolgung den Vorzug geben wollen. Mithin folgt der Strafantrag einer einheitlichen Begründung. Seine Leistungsfähigkeit ist dennoch begrenzt, denn er eignet sich nur für einen überschaubaren Ausschnitt der Kriminalität. Würde man die Verfolgung aller Delikte vom Strafantragserfordernis abhängig machen, so wäre die Aufrechterhaltung und Durchsetzungsfähigkeit der Rechtszuweisungsordnung im Ergebnis dem Gutdünken des individuellen Willens überlassen. Damit aber würden die subjektiven Rechte ihrem Bestande nach der Beliebigkeit anheimgestellt. Eine staatlich geleitete Strafverfolgung soll Zufälligkeiten auf ein unvermeidliches Minimum reduzieren und gerade da Verlässlichkeit garantieren, wo Freiheiten nachhaltig beeinträchtigt werden. Insofern aber kommt das Strafantragserfordernis überall dort nicht in Betracht, wo das Risiko empfindlicher Viktimisierungen besonders hoch ist, also im Bereich der schweren Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter. Genau hier aber liegen die Probleme. Diesbezüglich lassen sich mit Hilfe des Strafantrages keine innovativen Lösungen anbieten. Die Position des Opfers lässt sich so nicht stärken.

2. Abschaffung der Privatklage Auch das Privatklageverfahren erweist sich nicht als Forum einer ausbaufähigen Verletztenbeteiligung. Das Institut ist ein Überbleibsel des alten germanischen Rechtsganges und birgt nach heutigen Gesichtspunkten einen nicht zu behebenden Widerspruch. Die Privatklage soll hergebrachter Auffassung nach die Befriedigung privater Genugtuungswünsche ermöglichen. Wird sie erfolgreich durchgeführt, so wird die in der Sanktionsnorm festgelegte Strafandrohung umgesetzt. Ein etwaiger Genugtuungsanspruch des Privatklägers würde also regelmäßig nicht verwirklicht. Einziger Gegenstand des Verfahrens ist und bleibt die Frage um das Bestehen eines staatlichen Strafanspruchs. Der individuelle Bestrafungseifer soll letztlich – wie das Strafverfahren insgesamt – der Bewährung des materiellen Rechts zu Gute kommen. Mithin stellt auch das Privatklageverfahren eine öffentliche Angelegenheit dar. Umso erstaunlicher ist es, dass der Privatklageweg nur dann erfolgreich eingeschlagen werden kann, wenn – nach Auffassung der Staatsanwaltschaft – ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht (mehr) besteht. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Privatklage privaten Interessen zur Durchsetzung verhelfen soll. Dann aber kann die Rechtsfolge nicht in der Verhängung der öffentlichen Strafe bestehen. Auf Strafe wird erkannt, um die Durchsetzungsmacht des allgemeinen Willens zu dokumentieren, nicht aber deshalb, weil den emotionalen Befindlichkeiten einer Einzelperson Genüge getan werden soll. Die Privatklage ist daher abzuschaffen.

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H. Schlussbetrachtung

3. Das Klageerzwingungsverfahren als Mittel zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Strafverfolgungspraxis Ganz anders das Klageerzwingungsverfahren: Es hat die Wahrung des Legalitätsprinzips sicherzustellen und dient einer gleichmäßigen Strafverfolgungspraxis. Schon seine Existenz hat eine präventive Ausstrahlungskraft auf die Staatsanwaltschaft und trägt zur pflichtgemäßen Wahrnehmung ihrer Kompetenzen bei. Zugleich wird das Risiko einer unangemessenen politischen Rücksichtnahme bei Ausübung der Strafverfolgung gemindert. In diesem Sinne wird der Verletzte bei Betreiben der Klageerzwingung zum Sachwalter des allgemeinen Interesses. Die Gewährleistung subjektiver Rechte zwingt dazu, deren Verletzung einer gerichtlichen Überprüfung und Aufarbeitung zugänglich zu machen. Die Garantie von Freiheit darf nicht lediglich von theoretisch-legitimatorischer Relevanz sein, sondern muss mit Leben erfüllt werden. Dem Staat kommt deshalb die uneingeschränkte Verpflichtung zu, vermuteten Rechtsverletzungen im Zuge amtlicher Ermittlungen nachzugehen. Vernachlässigt er diesen Schutzauftrag, so muss ein Instrument zur Verfügung stehen, das ihn an die elementare Bedeutung lückenloser Aufklärung im Zeichen der Rechtsstaatlichkeit erinnert. So entspricht es auch dem Willen der EMRK. Das Vorhandensein eines effektiven Kontrollmechanismus ist deshalb angezeigt. Zudem ist es nur zweckmäßig, die Antragsberechtigung demjenigen zu überantworten, dessen Rechtsposition durch den untersuchungsbedürftigen Sachverhalt am intensivsten betroffen ist, und das ist der Verletzte. Vor dem geschilderten Hintergrund erweist sich die Einschränkung des § 172 Abs. 2 S. 3 StPO als kontraproduktiv. Es ist nicht einzusehen, warum der Rechtsschutz bei staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidungen zurückgenommen werden sollte. Gerade die Einstellungsmöglichkeit aus Opportunitätsgründen verschafft der Staatsanwaltschaft ein Manipulationspotenzial, das der richterlichen Nachprüfbarkeit zugänglich sein sollte. Die dem Klageerzwingungsverfahren beigemessene Präventionswirkung könnte sich gerade an dieser Stelle entfalten und zu einer sachgemäßen und rechtlich einwandfreien Ermessensausübung beitragen. Insofern ist seine psychologische Tragweite von entscheidender Bedeutsamkeit. Darüber hinaus ist die richterliche Nachprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen im Einflussbereich des Grundgesetzes selbstverständlich. Außergewöhnlich ist allenfalls der Umstand, dass die Ermessenstätigkeit der Staatsanwaltschaft bislang keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Befürwortung einer Ausweitung des Klageerzwingungsverfahrens darf freilich nicht den Blick davor verstellen, dass die prozessualen Einflussmöglichkeiten des Verletzten kaum über die Antragstellung hinausgehen.

V. Mitwirkungsrechte im Strafprozess

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4. Die Nebenklage als echte Mitsprachemöglichkeit im Prozess Echte Mitwirkungsmöglichkeiten werden dem Verletzten durch die Befugnis zur Nebenklage verliehen. Sie ist am besten dazu geeignet, sekundäre Viktimisierungen zu vermeiden bzw. einzudämmen und fungiert als Zentralinstitut der Verletztenbeteiligung. Eine entsprechende Anschlussbefugnis ist für sämtliche Delikte zu fordern, die das Risiko einer Ausschaltung der Subjektqualität ihrer Natur nach in sich tragen. Mitsprache- und Fragemöglichkeiten verbessern die Aussicht, das Geschehene zu begreifen. Die Reintegration des Verletzten in das soziale Beziehungsgefüge wird bereits während des Strafverfahrens vorangetrieben. Die Nebenklage erweist sich deshalb als antizipiert-sozialrechtliches Institut. Eine Störung der Zwecke des Strafverfahrens steht demgegenüber nicht zu befürchten. Schließlich trägt die Beteiligung des Nebenklägers zur Erhellung des Sachverhalts bei. Zudem ergänzt der Betroffene nur, was aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes ohnehin von Staatsanwaltschaft und Gericht zu berücksichtigen gewesen wäre. Auch eine numerische Kräfteverschiebung zu Lasten des Angeklagten findet nicht statt, denn Offensivbefugnisse im Hinblick auf Art oder Umfang der Bestrafung stehen dem Verletzten nicht zu. Überdies klagt die Staatsanwaltschaft im Namen der Allgemeinheit an. Sie macht sich nicht dem Individuum dienstbar.

5. Das Adhäsionsverfahren als effektives Instrument zur schnellen Rechtsdurchsetzung Auch das Adhäsionsverfahren muss sich an den realen Problemen des Verletzten orientieren. Die wiederkehrende Konfrontation mit Tat und Täter in mehreren Verfahren vor Gerichten und Behörden im Zuge der Rechtsdurchsetzung trägt ein besonderes Gefahrenpotenzial in sich. Hier lag in der Vergangenheit ein maßgeblicher Grund für die Verursachung sekundärer und tertiärer Viktimisierungen. Das hohe Belastungspotenzial hält viele Opfer nachgerade von der Rechtsverfolgung in eigener Sache ab. Es besteht kein Grund, die Zuerkennung von Schadensersatzund Schmerzensgeldansprüchen allein der Zivilgerichtsbarkeit zu überlassen, wenn einer Klärung der vermögensrechtlichen Situation keine wesentlichen Hindernisse entgegenstehen. Die Anspruchsberechtigten werden auf diese Weise vor vermeidbaren Schwierigkeiten abgeschirmt. Freilich ist dies nur dort notwendig, wo den Betroffenen eine eigenverantwortliche Durchsetzung ihrer Ansprüche nicht zuzumuten ist. Mithin ist einmal mehr der Viktimisierungstatbestand zum Leitprinzip zu erheben. Es ist daher sinnvoll, das Adhäsionsverfahren an die Nebenklagebefugnis zu knüpfen. Es erweist sich ebenfalls als antizipiert-sozialrechtliches Institut. Nach allem muss man nicht auf subtile Genugtuungsansprüche zurückgreifen, um die Statthaftigkeit von Teilhaberechten zu begründen. Subjektivem Bestra-

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H. Schlussbetrachtung

fungseifer und Rachegelüsten ist eine klare Absage zu erteilen. Das lehrt nicht zuletzt die historische Erfahrung. Eine moderne Ausgestaltung des Strafprozesses wird sich an den Aufgaben des sozialen Rechtsstaates zu orientieren haben, der die Subjektivität und Individualität seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt und dem Prinzip gleicher Freiheiten verpflichtet ist. Revolutionäre Umbrüche sind dafür nicht nötig. Allerdings ist das dogmatische Gerüst dem heutigen Verständnis von Staatlichkeit anzupassen. Besondere Beachtung muss der Umstand finden, dass das Strafrecht – seinem Charakter als limitiert-akzessorisches Schutzrecht entsprechend – in das Gesamtgefüge der Rechtsordnung einzubetten ist. Die vorliegende Untersuchung konnte freilich nur einen Ausschnitt der vielfältigen Opferprobleme beleuchten. Wenn die Arbeit einen Beitrag zur Erhellung des rechtssystematischen Fundaments von prozessualen Mitwirkungsrechten leisten konnte, so hat sie ihren Zweck erfüllt.

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Sachwortregister Abwehrmechanismen 30 Adhäsionsverfahren 333 Akteneinsicht 232 Allgemeinwohl 222 Anpassungsleistungen 34 Bagatelldelikte 127 Beitragsprinzip 52 Bill of Rights 174 Dolmetscher 345 Ehrenschutz 296 Eigeninitiative 125 Eigenverantwortung 109, 123 Einstellungsvoraussetzungen 311 Equity-Theorie 51 fair-process-effects 51 Fairness 49 Fehde 131, 136, 146, 149, 154 – ritterliche Fehde 153 Friedensgeld 146 Gefährdungsdelikte 126 Generalprävention 214 Genugtuung 34, 181, 185, 194, 287, 288, 295, 317, 319 Gerechtigkeit 255 Gewaltmonopol 261 handhafte Tat 142 Hausgemeinschaft 132 Informationsanspruch 344 Injurienprozess 301 Inquisitionsmaxime 230 Interviewforschung 249 Justizgewährungsanspruch 236

Klageerzwingungsverfahren 302 Königsgericht 151 Kriminalitätsfurcht 28 Landfrieden 156 Legalitätsprinzip 229 – Durchbrechung 288 limitiert-akzessorisches Schutzrecht 95 Magna Charta 178 Mitwirkungswunsch 42 Moralwidrigkeit 119 naturalistisch-positivistische Rechtsschule 75 Naturrechtslehre 100 Nebenklage 317 – Angehörigennebenklage 332 Normgeltungsschaden 88 Nullsummenspiele 64 öffentliches Interesse, besonderes 277 Opferentschädigung 45 Opportunitätsprinzip 310 Popularklage 307 Privatklage 285 procedural-justice-effect 62 Prozessvoraussetzung 279 Rache 193 Rachewunsch 36 rechtliches Gehör 232 Rechtsgüterschutz 71 Rechtsgutsbegriff – naturalistisch-positivistischer 73 – personaler 85 Rechtskraft 245 Rechtsmittelbefugnis 329 Rechtszuweisungsordnung 84, 94, 99, 207

Sachwortregister Rehabilitation 222 Reintegrationsbemühungen 222 Rügeverfahren 152

Ur-Grundrecht 171 Utilitarismus 79 utilitaristische Ethik 78

Self-Interest-Model 53 Sippe 134 Sozialpsychologie 51 Sozialrecht 222 Spezialprävention 204 Spieltheorie 68 Strafantrag 270 – Missbrauchsrisiko 282 – Rechtsnatur 279 Streitschlichtung 238 subjektives Recht 101 Sühneversuch 285

Verfahren als Lernprozess 59, 61 Verfahrensziel 261 Verfehlungen 299 Vergeltung 141, 188 Verhaltensnorm 71, 87, 91, 103, 351 Versöhnung 162, 225, 241, 273 Versuchsstrafbarkeit 126 Verteilungsgerechtigkeit 52 Vertragsfreiheit 107 victim’s turn 190 Viktimisierungsstadium – primäres 31 – sekundäres 33 – tertiäres 44 Volksversammlung 138

Täter-Opfer-Beziehung 43 Tatverdacht 258 Terrorismus 257 Toleranzen 174 Toleranzgedanke 172 ultima-ratio-Prinzip 91, 118 Unschuldsvermutung 229

Wahrheit, funktionalisierte 253 Wahrheitssuche 247 Wiedergutmachung 140, 188, 223, 343 Zivilprozessrecht 109

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