Materialschlachten: Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899-1929 9783737004558, 9783847104551, 9783847004554


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Materialschlachten: Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899-1929
 9783737004558, 9783847104551, 9783847004554

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Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs

Band 30

Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums Osnabrück

Christian Meierhofer / Jens Wörner (Hg.)

Materialschlachten Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929

Mit 33 Abbildungen

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7416 ISBN 978-3-8471-0455-1 ISBN 978-3-8470-0455-4 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0455-8 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und des Strukturierten Promotionsprogramms der Universität Bonn. Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Rotations-Maschinen-Montagehalle 1912. Mit freundlicher Unterstützung der Koenig & Bauer AG Würzburg. Druck und Bindung: a Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Christian Meierhofer / Jens Wörner Der Weltkrieg und das Populäre. Ein interdisziplinärer Vorschlag

. . . .

9

Matthias Schöning »Zäsur«. Probleme einer historiographischen Angewohnheit . . . . . . .

67

Dirk Rose Kriegserklärungen. Polemisches Material 1882–1914 . . . . . . . . . . . .

83

I. Diskursgeschichtliche Formationen

Anna S. Brasch Kulturkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Christian Meierhofer Verdünnte Moderne. Strukturelle Übergänge von Weltkrieg, Weltanschauung und Populärwissenschaft 1899–1918 . . . . . . . . . . . 125 Jens Wörner Organische Konstruktionen. Kriegsdiskurs und Popularisierung im Umfeld der deutschen Lebenswissenschaften 1901–1926 . . . . . . . . . 161

II. Publizistik und Sachbuch Thomas F. Schneider Teufel Tank. Der Tank-Diskurs als Kulminationspunkt der Diskussion um den Ersten Weltkrieg in populären Medien (Literatur, Illustrierte, Photographie) 1914–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

6

Inhalt

Christian Haller Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918 – eine Materialschlacht und ihre militärjournalistische Perzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Manuel Köppen Werner Beumelburg und die Schlachten des Weltkrieges. Schreibkonzepte eines Erfolgsautors zwischen Historiografie und Fiktion

267

III. Aktion und Reaktion in der Literatur Alexander Honold Taugenichtse. Agency auf dem Schlachtfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Sarah Monreal »Grausig! Gewaltig! Groß!« Vitalistische Kriegskonzeptionen bei Stadler und Stramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Johannes Waßmer »Freilich, mein Sohn, ich werde von dir erzählen, von den Kameraden und von dem, was wir erlebt haben.« Strategien des Dokumentarischen in Henri Barbusses Le Feu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Fabian Beer Als dem Globus das Blut aus den Arterien lief. Der Erste Weltkrieg im Spiegel von Erich Kästners Lyrik, Erzählprosa und Publizistik 1914–1929

359

Uwe Spörl Wortmaterial-Schlachten. Emotionspsychologisch fundierte Untersuchungen zu Edlef Köppens Montage-Roman Heeresbericht . . . . 393

IV. Kriegsfilm und Kinokultur Daniela Kalscheuer Wider den Krieg oder Warten auf die Fortsetzung? Der Weltkriegsfilm der späten Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Thomas Althaus Kriegsgeschrei und filmischer Exzess. Georg Wilhelm Pabsts früher Tonfilm Westfront 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

Inhalt

7

Philipp Stiasny »Franzosen? Deutsche? Die Unterschiede verschwinden«. Verdun in der filmischen Erinnerung in Deutschland und Frankreich 1928–1933 . . . . 473 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Christian Meierhofer / Jens Wörner

Der Weltkrieg und das Populäre. Ein interdisziplinärer Vorschlag

Gegenwärtig bedarf die Popularität des Ersten Weltkriegs keiner Erklärung. Im Zuge der Erinnerung an seinen Beginn vor hundert Jahren erfährt er Aufmerksamkeit in den öffentlichen Medien und in den Wissenschaften. Schnell ist er zum Gegenstand neuer und etablierter Forschungszusammenhänge und Fachrichtungen geworden. Der Anlass des Gedenkens hat neben einer Zahl ergänzender Einzelarbeiten besonders zur Kulturgeschichte des Weltkriegs nicht nur neue, teils überfällige Gesamtdarstellungen motiviert,1 sondern längst ist verstanden, dass dieser Krieg grundsätzlich ein Nachdenken über die eigene Historizität und das Verhältnis von Zäsuren und Kontinuitäten historischer Erfahrung evoziert. In allen europäischen Erinnerungskulturen bildet der Erste Weltkrieg das wichtigste Ereignis im Rahmen einer langfristig anzusetzenden Transformationsphase (in) der Moderne, die das 19. Jahrhundert verabschiedet und in das 20. überführt. In der geschichtlichen Beschreibungskultur markieren die »Wellen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg«2 eine zyklisch verstärkte Beschäftigung, die neue Quellen vergleichend erschließt und alte Fragen neu kontextualisiert. Hier wird das heute friedlich zusammenwachsende Europa als Ganzes in seiner historischen Genese reflektiert, was nicht zuletzt zum Identitätskern dieses Europas beiträgt.3 1 Vgl. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Engl. übers. von Norbert Juraschitz. München: DVA 2013; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: C. H. Beck 2014; Herfried Münkler : Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin: Rowohlt 2013. Einen Forschungsüberblick gibt Matthias Schöning: Das Maschinengewehr und der ›kulturelle Faktor‹. Die aktuelle Historiographie zum Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 24 (2014) H. 3, S. 467–481. 2 Barbara Korte, Sylvia Paletschek u. Wolfgang Hochbruck: Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Essen: Klartext 2008, S. 7–24, hier S. 9. 3 Vgl. Gislinde Seybert u. Thomas Stauder (Hg.): Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2014 sowie Wolfram Pyta u. Carsten Kretschmann (Hg.): Burgfrieden

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Neben der aktuellen Popularität, die augenblicklich und in den nächsten Jahren zu beobachten ist, wächst dem Ersten Weltkrieg aber auch zeitgenössisch eine große, ihm eigentümliche Popularität zu. Im Vergleich zu früheren Kriegen erreicht sie eine neue Dimension und gehört fortan zu den Kennzeichen, die einen Weltkrieg mitdefinieren. Den Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes, der sich vorwiegend auf den deutschsprachigen Kontext konzentriert, bildet daher die nur auf den ersten Blick trivial anmutende Tatsache, dass eine unübersehbar große Menge an publiziertem Material den Krieg in vielen medialen Registern ankündigt, ihn mobilisierend und deutend begleitet und nach seinem Ende in der Öffentlichkeit präsent hält. Wie der Erste Weltkrieg als populäres Phänomen im Horizont kulturwissenschaftlicher Fragestellungen rekonstruiert werden kann und welche diskursgeschichtlichen Entwicklungslinien die Beiträge des Bandes betonen, sollen die folgenden Überlegungen verdeutlichen. Popularität soll nicht einfach nur die Bekanntheit, eine Beliebtheit oder den (ebenso fragwürdigen) Unterhaltungswert des Krieges bezeichnen, sondern der Begriff wird in diesem Kontext differenzierter gefasst. Spätestens um 1900 ist in der Öffentlichkeit ein von Experten und Laien verbreitetes Wissen (teils in Form detaillierter Analysen) verfügbar, dass ein Krieg unter europäischen Großmächten imperialistisch und mit industriellen Mitteln geführt werden wird.4 Während man daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Krieges zieht und die Folgen noch nicht ermessen kann, entsteht jedoch zunehmend ein Bewusstsein davon, dass in den kriegführenden Nationen von nun an die gesamte Bevölkerung den entscheidenden Faktor darstellt.5 Bevölkerungen sollten konkret auf Konflikte vorbereitet sein; man sollte sie möglichst umfassend und dauerhaft mobilisieren, als Masse homogenisieren und lenken können, so dass sie zu einem fest integrierten Teil der

und Union sacr¦e. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933. München: Oldenbourg 2011. 4 Vgl. die oft angeführte Studie von Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg. Mit einer Kartenskizze. Sechste Aufl. unter Berücks. d. veränd. militärischen u. politischen Verhältnisse neu bearb. Stuttgart, Berlin: Cotta 1913 [1912], die später Erich Ludendorff beeinflusst. In ihrer Wirkung wird sie aber überschätzt. Zum Verhältnis von Technologie und Imagination vgl. Antulio J. Echevarria: Imagining Future War. The West’s Technological Revolution and Visions of Wars to Come, 1880–1914. Westport, Conn. u. a.: Praeger Security International 2007. 5 Leonhard: Büchse der Pandora (Anm. 1), S. 67–74 weist auf die bemerkenswerte Vorhersage von Friedrich Engels aus dem Jahr 1887 (8 bis 10 Millionen Tote in einem Krieg von drei bis vier Jahren) und auf Johann Blochs sechsbändige Studie Der Krieg von 1898 hin (u. a. die Leere des Schlachtfeldes, soziale und wirtschaftliche Erschöpfung). Der Journalist Norman Angell: Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmacht und Wohlstand der Völker. Leipzig: Dieterich 1910 schätzt die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg aufgrund internationaler Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen gering ein.

Der Weltkrieg und das Populäre. Ein interdisziplinärer Vorschlag

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Organisation eines ›totalen Krieges‹ werden.6 Obwohl dies im Ersten Weltkrieg eine Idealvorstellung der Militärs bleibt, sind doch die Ursprünge einer sich steigernden Totalisierung von Krieg und Gewalt im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifellos dort zu suchen, wo die Bevölkerung als Ressource entdeckt und ernst genommen wird.7 Den Ersten Weltkrieg als populäres Phänomen in den Blick zu nehmen, erweitert diesen Aspekt um die historisch gegebenen Bedingungen der medialen Vermittlung und Aneignung. Zunächst kann jeder Krieg als ein diskursiv ausgehandeltes Medienereignis verstanden werden, das aus prospektiven und retrospektiven Zuschreibungen resultiert und nur als solches repräsentiert und darstellbar ist.8 In der Rede über den Krieg, im Kriegsdiskurs, und über die Medien seiner Repräsentation werden Ereignisse wahrnehmbar gemacht und mit Sinn belegt. Hier sind frühere Erfahrungen von Kriegen anwesend und mit aktuellen untrennbar verbunden: »Es gibt keinen Krieg ohne einen gesellschaftlichen Diskurs aus Reflexion, Imagination und Gedächtnis. Der Diskurs ist im Krieg. Zugleich ist auch der Krieg stets im Diskurs.«9 Jeder Krieg hat darüber hinaus einen Bezug zum Populären, mindestens in dem denkbar voraussetzungslosen Sinne, dass Kriege im Namen eines Volkes 6 Wegen der allgemeinen Wehrpflicht rechnen Militärtheoretiker zwar mit größeren Heeren. Ludwig Freiherr von Falkenhausen: Der große Krieg der Jetztzeit. Eine Studie über Bewegung und Kampf der Massenheere des 20. Jahrhunderts. 2., durchges. u. verb. Aufl. Berlin: Mittler 1911 gibt ein ›Schulbeispiel‹, das einen Bewegungskrieg europäischer Großmächte von wenigen Wochen mit Entscheidungsschlacht vorstellt. Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven: Die Grundbedingungen kriegerischen Erfolges. Beiträge zur Psychologie des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Mittler 1914 argumentiert für eine Kriegführung nach volkspsychologischen Grundsätzen. Der Stellungskrieg und die lange Dauer werden aber nicht vorhergesehen. Eine Reflexion der Folgen der schwindenden Differenz von Militär und Zivilbevölkerung und der Rolle der Propaganda setzt auf breiter Front erst nach Ende des Krieges ein. Vgl. z. B. Sebald Rudolf Steinmetz: Soziologie des Krieges. Zugleich zweite, vollst. umgearb. u. erw. Aufl. der »Philosophie des Krieges«. Leipzig: Barth 1929 [1907], S. 509–514. 7 Der ›totale Krieg‹ ist keine unproblematische historiographische Kategorie, weshalb auf sie noch zurückzukommen sein wird. Vgl. Roger Chickering: Der totale Krieg. Vom Nutzen und Nachteil eines Begriffs. In: Ders.: Krieg, Frieden und Geschichte. Gesammelte Aufsätze über patriotischen Aktionismus, Geschichtskultur und totalen Krieg. Stuttgart: Steiner 2007, S. 241–258 und David Welch: Germany, Propaganda and Total War, 1914–1918. The Sins of Omission. London: Athlone Press 2000, S. 76–104. Eine instruktive Liste von Merkmalen für den Ersten Weltkrieg gibt Hans-Ulrich Wehler : Der erste totale Krieg. In: Die Zeit, Nr. 35 vom 20. 8. 1998. 8 Vgl. Jürgen Wilke: Krieg als Medienereignis. Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit. In: Heinz-Peter Preußer (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam, New York: Rodopi 2005, S. 83–104 und Matthias Karmasin: Krieg – Medien – Kultur: Konturen eines Forschungsprogramms. In: Ders. u. Werner Faulstich (Hg.): Krieg – Medien – Kultur. Neue Forschungsansätze. München: Fink 2007, S. 11–34. 9 Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. Bielefeld: transcript 2013, S. 32. Unterschieden werden drei Ebenen: Ereignisse, Diskurse und die Kulturgeschichte des Krieges (vgl. ebd., S. 24–28).

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und vermeintlich zum Wohl desselben von seinen Repräsentanten oder dem Souverän erwartet, geplant und geführt werden. In vielen Fällen, man denke an die Kabinettskriege des Hochabsolutismus, ist dieses Volk nicht mehr als eine Chiffre für die Adressierung eines Kollektivs, unabhängig von dessen politischer Verfasstheit und der Interessenlage einzelner sozialer Gruppen, die in hohem Maße divers sein kann. Welche Themen, Argumente und Figuren im Diskurs über den Krieg vor, während und nach den Kampfhandlungen eine Rolle spielen, von welcher Konjunktur und Intensität sie sind und welche Intentionen ihnen zugrunde liegen, ist ohne die genaue Kenntnis der historischen und medialen Rahmenbedingungen weder vorherzusagen noch zu erklären. Kriegsdiskurse erreichen aber insbesondere dann eine populäre Qualität, wenn sie aus einer unübersichtlichen Gemengelage an Informationen (auf deren Verlässlichkeit es vorab nicht ankommt) bewusst einfache, sofort verständliche Interpretationen herstellen, die alle adressieren sollen und den Krieg unmittelbar in ein Verhältnis zu den Bindekräften des sozialen Kollektivs setzen. In der Moderne sind Kollektive nicht mehr als stabile Entitäten denkbar, sondern sie benötigen für ihre Identitätsbildung eine öffentliche Sphäre als Medium der Selbstreflexion. In der Öffentlichkeit treffen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen von Individuen, Gruppen und Institutionen aufeinander und müssen ausgehandelt werden. Worin das Gemeinsame aller besteht, was das Volk oder die Nation zu einem gegebenen Zeitpunkt darstellt, kann nur in einem solchen unabschließbaren Prozess der Aushandlung näherungsweise bestimmt werden, da in der Moderne die Einsicht in die Kontingenz und damit in die prinzipielle Veränderlichkeit jedes sozialen Gefüges grundlegend geworden ist.10 Unter diesen Voraussetzungen ist für die Popularität des Ersten Weltkriegs entscheidend, dass der Kriegsdiskurs in allen europäischen Staaten bereits im Vorfeld ein zentraler Bestandteil der nationalen Selbstverständigung ist. In einer Phase des gesteigerten Modernisierungsdrucks und einer sich verschärfenden sozialen Differenzierung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die vielfach als problematische Zersplitterung der eigenen Kultur wahrgenommen wird,11 bietet die populäre Rede vom Krieg eine entlastende Orientierung. Sie strukturiert Wirklichkeit und überführt sie in die Dimension des aktiven Tuns, der Planbarkeit und der existentiellen Prüfung, die die bis dato gemachten fortschrittlichen Entwicklungen einer Bilanz unterzieht. Es wird in dieser Lage attraktiv, 10 Vgl. Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz. München: Fink 1997 und für eine Übersicht Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart, Weimar : Metzler 1999. 11 Vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996 sowie Michel Grunewald u. Uwe Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Reich. Bern, New York: Lang 2010.

Der Weltkrieg und das Populäre. Ein interdisziplinärer Vorschlag

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für die innere Stabilität möglicherweise sogar notwendig, öffentlich in den Krieg zu investieren, der so zum populären Sachwalter eigener und fremder Identität avanciert. Die Forschung hat zahlreiche Faktoren angeführt und gute Gründe genannt, die eine hohe publizistische Produktivität dieser Art vor allem im deutschen Kaiserreich entstehen lassen. Neben Untersuchungen zum radikalen Nationalismus und dessen Kriegslehren12 haben Studien zur »Herleitung des Ersten Weltkrieges« und zur »Kriegsmentalität«13 um 1900 einen in der Bevölkerung weitverbreiteten ›defensiven Patriotismus‹ nachgewiesen, der Kriege als Mittel der Auseinandersetzung im Ernstfall nicht fürchtet, sondern akzeptiert.14 Die Umstände des Kriegseintritts führen zu einer Steigerung der publizistischen Aktivität, die teils langfristig auf das Augusterlebnis und die daraus hervorgehenden ›Ideen von 1914‹ bezogen bleibt. Militärstrategisch mag der SchlieffenPlan den Eindruck erweckt haben, dass ein Krieg bis ins Detail geplant sei. Tatsächlich wird das Deutsche Reich im Juli und August 1914 vom eskalierenden Verlauf der Ereignisse überrascht. Die unerwartete Situation und die medial erfolgreich inszenierte Mobilisierung begeisterter Massen erzeugt in der Öffentlichkeit einen plötzlichen Rechtfertigungsbedarf, der Streitfragen und politische Interpretationsspielräume thematisieren muss: Unklar ist nicht nur, welche Ziele die Deutschen aus ihrer geopolitischen Mittellage heraus verfolgen sollen, sondern auch, welche Nation eigentlich als Hauptfeind anzusehen sei.15 Bereits dies allein führt zu einer Flut an Vorträgen, Denkschriften und Eingaben, die ohne Rücksicht auf die militärische Situation öffentlich zirkulieren. Die ›Ideen von 1914‹ begrüßen das Erscheinen des Krieges. Sie sehen darin die Einforderung der eigenen Aufstiegsambitionen und versuchen, ihn für die ersehnte ›innere‹ Versöhnung des Reiches zu halten, die nach der ›äußeren‹ politischen Einigung 1871 ausgeblieben war. In einschlägigen Studien ist de12 Vgl. Roger Chickering: We men who feel most German. A cultural study of the Pan-German League, 1886–1914. Boston: Allen & Unwin 1984 und Thomas Lindemann: Die Macht der Perzeptionen und Perzeptionen von Mächten. Berlin: Duncker & Humblot 2000. 13 Jost Dülffer : Einleitung: Dispositionen zum Krieg im wilhelminischen Deutschland. In: Ders. u. Karl Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 9–19, hier S. 10f. Von einer kriegsbegeisterten »mentalen Einstellung großer Teile der Gebildeten« spricht zudem Wolfgang J. Mommsen: Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg. In: Ders. (Hg.): Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg 1996, S. 1–15, hier S. 8. 14 Diesen Punkt betont im Kontext von Presse und Öffentlichkeit auch Clark: Schlafwandler (Anm. 1), S. 298–315, hier S. 312 mit Hinweis auf William Mulligan: The Origins of the First World War. Cambridge u. a.: Cambridge UP 2010, S. 159–176. 15 Vgl. Leonhard: Büchse der Pandora (Anm. 1), S. 236–250 und Münkler : Der Große Krieg (Anm. 1), S. 215–241.

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tailliert analysiert worden, welche Bevölkerungsschichten der populäre Mythos von der allseitigen Vergemeinschaftung erfasst, wie stabil er im Krieg geblieben ist und mit welchen Konsequenzen er über die Niederlage hinaus in die Weimarer Republik hinein fortgewirkt hat.16 Das Konglomerat an Ordnungsvorstellungen, das die ›Ideen von 1914‹ bilden, bestimmt die Öffentlichkeit in Deutschland auch nach der für viele überraschenden Niederlage im November 1918 maßgeblich. Denn hier sind die ebenso vielfältigen wie widersprüchlichen Zukunftserwartungen des Kaiserreichs, die befestigten Feindbilder und die Debatten über die Kriegsziele in nicht zu entkräftender Form, als sinnhafter Deutungshorizont der Geschichte und als bald wieder in Angriff zu nehmendes politisches Programm, gleichsam ›aufgehoben‹.17 Nimmt man die krisenhafte ökonomische, politische und soziale Gegenwart der Weimarer Republik hinzu, lässt sich verstehen, warum jede Erinnerung an und jede Darstellung des Weltkriegs in Literatur, Publizistik und populären Medien – so sehr Erinnerung und Darstellung perspektivisch gebrochen sein mögen – zu einem reflexhaften Aufbrechen von Konflikten um die jüngste Vergangenheit führen.18 Der Popularitätszugriff – so der Vorschlag dieser Einführung – knüpft an die Ergebnisse der Weltkriegsforschung an, fragt aber konsequenter nach den Produktions- und Rezeptionsmechanismen populärer Kommunikation im Zeitalter der Massenmedien. Dies erweitert nicht nur den Horizont für die Erschließung von Publikationsmaterial, das aufgrund der oft anzutreffenden Gleichförmigkeit der ideologischen Aussage den Eindruck der Redundanz vermittelt oder in Formaten erschienen ist, denen abseits jeder ästhetischen Innovationskraft eine weite Verbreitung zukommt. Popularität erweitert die Untersuchung der Kriegspublizistik auch um die Dimension der Herstellungsbedingungen des Populären, womit im weitesten Sinne die technischen, ökonomischen und sprachlich-literarischen Prämissen, Traditionen und Verfahren der Popularisierung gemeint sind. Die Öffnung der Forschung zum Ersten

16 Vgl. Jeffrey Verhey : Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Engl. von Jürgen Bauer u. Edith Nerke. Hamburg: Hamburger Ed. 2002; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie 2003; Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 17 Vgl. Matthias Schöning: Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der ›Ideen von 1914‹. In: Natalia Borissova, Susi K. Frank u. Andreas Kraft (Hg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2009, S. 41–57 und Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933. München: Oldenbourg 2008. 18 Vgl. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 und Moritz Föllmer (Hg.): Die ›Krise‹ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt/M., New York: Campus 2005.

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Weltkrieg im Hinblick auf eine Kulturgeschichte wird damit fortgesetzt.19 Zugleich kann die Begriffs- und Konzeptgeschichte des Populären diese interdisziplinäre Öffnung anleiten, weil sie produktive und hinreichend konkrete Ansatzpunkte für kulturwissenschaftliche Fragestellungen liefert, ohne mit der etablierten quellenkritischen Zuverlässigkeit der Geschichtswissenschaft etwa in der Ideologie-, Militär-, Regional- und Ursachenforschung unvereinbar zu sein. Drei Aspekte des Populären sollen zunächst systematisch vorgestellt und auf den Ersten Weltkrieg bezogen werden (1.). Im Anschluss illustrieren historische Abschnitte diesen Zusammenhang exemplarisch an populären Publikationen und ihren Wirkungsabsichten: In der unmittelbaren Vorkriegszeit wird dabei auf die Leistungen und Folgen der im 19. Jahrhundert entstehenden Wissenschaftspopularisierung besonders hingewiesen (2.). In den Kriegsjahren selbst bildet dann das publizierte Material eine nicht zu unterschätzende Ressource im Kampf gegen die ideologische Erschöpfung (3.). In der Nachkriegszeit vervielfältigen sich noch einmal die medialen Register, durch die eine umfassende Deutungsarbeit einsetzt und in denen eine kaum mehr zu entkräftende, zwanghafte Popularität erzeugt wird (4.). Abschließend wird der Aufbau des Bandes, der in vier Sektionen gegliedert ist, erläutert (5.).

1.

Aspekte des Populären

Unter Berücksichtigung des etymologischen Kerns, den das Volk (populus) bildet, lässt sich die Begriffs- und Konzeptgeschichte des Populären systematisch auf drei Aspekte hin auswerten, die in diesem historischen Kontext wichtig sind. Da Popularität ohne Volkstümlichkeit nicht denkbar ist, gerät erstens die politische Dimension in den Blick, Bedingungen und Kontexte, die die politische Subjektwerdung des Volkes im 19. Jahrhundert bestimmen. Zweitens verweist das Populäre notwendig auf einen Kommunikationsbereich, die Öffentlichkeit, deren massenmediale Ausprägung von sozialen, technischen und ökonomischen Faktoren bestimmt ist. Das Populäre ist drittens im analytischen Zugriff auf das Material als ein spezifischer Modus der Kommunikation aufzufassen, der in sprachlichen und bildlichen Verfahren der populären Adressierung und Emotionalisierung von zu übermittelnden Inhalten besteht. Alle drei Aspekte bleiben eng aufeinander bezogen und ergänzen sich wechselseitig. 19 Vgl. als Überblick zu Themen und Forschungssträngen seit Beginn der 1990er Jahre Gerhard Hirschfeld u. Gerd Krumeich: Wozu eine »Kulturgeschichte« des Ersten Weltkriegs? In: Arnd Bauerkämper u. Elise Julien (Hg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 31–53.

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1. Zur politischen Einheit des Volkes gehören Menschen nie ohne Weiteres dazu. Ein Volk benötigt eine kulturell und symbolisch gestützte Identität und Regeln der Inklusion und Exklusion, die seine Grenzen definieren, selbst wenn es keine Staatlichkeit besitzt. Als ›Individuum‹ mit Sprache, Seele und Charakter bildet das ›deutsche Volk‹ im Zuge der Nachwirkungen der Französischen Revolution lange eine imaginäre Kompensation des nicht existenten Nationalstaats und wird nostalgisch im Zeichen einer geschichtslosen Volkstümlichkeit idealisiert.20 Je mehr es den Status eines modernen politischen Subjekts gewinnt, desto manifester rückt ein politischpopuläres Management von Identität und Zugehörigkeit ins Zentrum.21 Die lexikalischen, ästhetischen und philosophischen Definitionsversuche von ›Volk‹ im 18. Jahrhundert erzeugen bereits ein Spannungsfeld, das neben den Volksbegriff die Nation (gens) und den Pöbel (vulgus) stellt. Kant, der in seinen Vorlesungen über Anthropologie in pragmatischer Absicht (1800) Einund Ausschluss ordnungspolitisch zu fassen sucht, rechnet allein den Teil einer unbestimmten Menschenmenge in einem Territorium der Nation zu, die sich »für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt«, nicht aber den Pöbel, »dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottieren […] ist.«22 Moderne Kollektive benötigen eine symbolische Ordnung, die die Individuen durch ein soziales Band miteinander verknüpft und für sie bestimmte »Werte, Verhaltensweisen und Kristallisationen von Wünschen und Ängsten transportiert.«23 Dem Populären haftet je nach Beobachtungsperspektive und Auslegung ein positiver oder negativer Sinn an: positiv, wenn etwa die 20 Vgl. Hermann Herlinghaus: Art. »Populär/volkstümlich/Popularkultur«. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart, Weimar : Metzler 2002, S. 832–884, hier S. 841–851. 21 Vgl. zu den literarisch-ästhetischen Prozessen der Inszenierung und des In-Form-Setzens des Politischen Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza u. Albrecht Koschorke: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München: Fink 2003. Zum theoretischen Hintergrund vgl. Thomas Bedorf: Das Politische und die Politik – Konturen einer Differenz. In: Ders. u. Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 13–37 und Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp 2010. Vgl. aus der älteren Forschung bes. Herfried Münkler : Politische Bilder, Politik der Metaphern. Frankfurt/M.: Fischer 1994 und Francesca Rigotti: Die Macht und ihre Metaphern. Über sprachliche Bilder der Politik. Frankfurt/M.: Campus 1994. 22 Immanuel Kant zit. n. Manfred Schneider: Humaniora. Eine Kolumne. Was ist ein Volk? In: Merkur 44 (1990) Nr. 494, S. 320–326, hier S. 322. Schneider hat 1990 aus damals aktuellem Anlass die »Unklarheiten und das Gewimmel von Bedeutungen in der Semantik des Volksbegriffs« aufgeführt (ebd., S. 321). 23 Vgl. das Kapitel »Imagination, Symbol und Ordnung. Zum Verhältnis zwischen Phantasie und der Produktion und Reproduktion von Ordnung« bei Peter Berghoff: Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse. Berlin: Akademie 1997, S. 63–76, hier S. 69.

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bürgerliche Emanzipation und begleitendende aufklärerische Bildungsinitiativen gemeint sind, die das Volk in den Status eines politischen Subjekts erheben; negativ, wenn die Volksfreundlichkeit im demagogischen Sinne kritisiert wird und das Verlogene, das Pöbelhafte und die Unberechenbarkeit der Masse des ›einfachen‹ Volkes überwiegt.24 Kriege intensivieren das Problem von Identität und Zugehörigkeit und drängen zur Vereinfachung in Form anschaulich-populärer Stereotype. Man greift auf das kulturelle Gedächtnis, auf ethnische Traditionen und lang gepflegte Semantiken sowie Narrative zurück, definiert Vergangenheit und Gegenwart neu und nimmt Hypotheken auf die Zukunft auf.25 Zum Volk gehören dann kurz gesagt diejenigen, die »eine gemeinschaftliche Noth empfinden«, wie Richard Wagner 1849 in Anlehnung an Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) formuliert.26 Aufrufe zur Identifikation mit volkstümlichen Heldenfiguren stellen eine Opferbereitschaft her und kompensieren Ängste: »Je größer die heroische Sterbebereitschaft in einem Kollektiv ist, desto stärker erscheint die Lebenskraft des als vital vorgestellten Kollektivs. Deshalb bedarf es der Appelle an die vielen.«27 Für ausgeprägt heroische Gesellschaften ist die Abwesenheit des Krieges gefährlicher als dieser selbst; sie »bedürfen der Kriege, weil sich in ihnen das symbolische Kapital der Ehre erneuern und aufstocken läßt.«28 Alles Fremde und Feindliche wird kategorisch ausgeschlossen – was nicht heißt, dass die Unterscheidung von Freund und Feind im Krieg unveränderlich bleibt und der Feind nicht auch im Innenraum der Nation aufzufinden wäre. Die Moderne ist insgesamt 24 Vgl. Hans-Otto Hügel: Art. »Populär«. In: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart, Weimar : Metzler 2003, S. 342–348, hier S. 343. Vgl. auch die informative Übersicht zur Populismus-Forschung von James Retallack: Demagogentum, Populismus, Volkstümlichkeit. Überlegungen zur »Popularitätshascherei« auf dem politischen Massenmarkt des Kaiserreichs. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000) H. 4, S. 309–325. 25 Für eine kulturwissenschaftlich informierte Erforschung des Zusammenhangs von Krieg und Nationalismus plädieren auch Jörg Echternkamp u. Sven Oliver Müller : Perspektiven einer politik- und kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. München: Oldenbourg 2002, S. 1–24, hier S. 15f. Modelle und Krisen politischer Inklusion erörtert aus systemtheoretischer Sicht Rudolf Stichweh: Zur Theorie der politischen Inklusion [1998]. In: Ders.: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2005, S. 67–81, hier S. 74–81. 26 Richard Wagner zit. n. Schneider: Humaniora (Anm. 22), S. 321. Vgl. zur positiven Traditionserfindung im Zeichen der Befreiungskriege Bruendel: Volksgemeinschaft (Anm. 16), S. 61–74. 27 Berghoff (Anm. 23), S. 154. Zum Doppelsinn von ›Opfer‹ vgl. ebd., S. 159–162 und Münkler : Der Große Krieg (Anm. 1), S. 225–229 u. 238–241. 28 Herfried Münkler : Heroische und postheroische Gesellschaften. In: Merkur 61 (2007) Nr. 700, S. 742–752, hier S. 748.

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durch die Radikalität und Wandelbarkeit ihrer Ein- und Ausschlussprozesse gekennzeichnet worden. Folgt man Giorgio Agamben, oszilliert der Volksbegriff immer »zwischen zwei entgegengesetzten [extremen] Polen«: »der Gesamtheit Volk [Popolo] als dem integralen politischen Körper« einerseits und »der untergeordneten Gesamtheit Volk [popolo] als der fragmentarischen Vielheit bedürftiger und ausgeschlossener Körper« andererseits.29 Der Erste Weltkrieg markiert bekanntlich eine Hochphase des Nationalismus und der retrospektiven Traditionserfindung. Populäre nationale Stereotype und ihre Verbreitung allein aber erklären noch nicht ihre dauerhafte Wirkung, die für den deutschen Kontext so charakteristisch ist. Man muss daran erinnern, dass Volk und Nation zunächst eben nur imaginäre Inklusionsmechanismen sind, die »kurzfristig und flexibel eingesetzt werden, um Probleme mit unmittelbarem Handlungsdruck zu handhaben.«30 Das Augusterlebnis 1914 liefert zwar einen initialen Bezugspunkt, da das deutsche Volk selbst, so der Mythos, den ›großen Krieg‹ unter Absingen patriotischer Lieder freudig und opferbereit begrüßt habe und ihn durch seine öffentliche Präsenz sofort hat populär werden lassen. Zu fatalen Folgekosten gerade für die imaginäre politische Dimension kommt es aber, weil der Staat auf den Plan tritt und dem Krieg eine manifeste und überaus effiziente Organisationsform gibt. Im Krieg ist es eben der Staat allein, der Volk und Nation repräsentiert und kollektives Handeln initiiert und reguliert. Entsprechend eng werden die bisher gepflegten populären Nationalstereotype mit dem Militär und dem planungsintensiven, strukturierten Einsatz von Gewalt verknüpft, der bis zur Erschöpfung aller Kräfte anhält. Die Beteiligung an der Ausübung von Gewalt an der Front erzeugt im Umkehrschluss neue Formen kollektiver Identität und nationaler Zugehörigkeit. Mit der Dauer des Krieges und der Zahl der Opfer wächst durch die Teilnahme am Krieg in einer neuen Generation ein (im buchstäblichen Sinne) demokratisch legitimierter Erfahrungsdruck heran, der auch nach der Niederlage lange nicht abgebaut ist. Die Weimarer Republik hat insofern eine doppelte Last zu tragen: zum einen die zentrale, aber gleichsam unlösbare Feststellung, dass Fronterfahrungen – trotz zahl29 Giorgio Agamben: Was ist ein Volk? [1996]. In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Aus dem Ital. von Sabine Schulz. 2. Aufl. Berlin, Zürich: diaphanes 2006, S. 31–36, hier S. 32. Agamben hat die Radikalität der Ausschlüsse bis in die Konzentrationslager des Nationalsozialismus, wo Menschen auf ihr ›bloßes Leben‹ reduziert sind, weiterverfolgt und mit Carl Schmitt die Grundfigur eines verdeckten Ausnahmezustands als das zentrale Moment der Moderne eingestuft. Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Ital. von Hubert Thüring. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 175–189. 30 Gerd Nollmann: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation. Zur Konfliktsoziologie der modernen Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 226, vgl. bes. S. 212–230.

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reicher Versuche – überhaupt nie adäquat darstellbar und zu versprachlichen sind. Der Krieg in seiner Eigenschaft als unzugängliche, verdichtete Zeit kann in gewissem Sinne nicht mehr unpopulär werden. Zum anderen die Frage, wie vor diesem Hintergrund die umso wirkmächtigeren Vergemeinschaftungsmythen mit den aus dem Kaiserreich ererbten politischen Figurationen von Volk und Nation vermittelt werden können, und dies in einer Situation, die vom Versailler Vertrag und der auferlegten Kriegsschuld bestimmt ist. Die Darstellungs- und Vermittlungsanliegen, die im Umgang mit diesem Erfahrungsdruck notwendig sind und bleiben, können darum auch nicht auf Popularität verzichten: Für das Imaginieren und Realisieren neuer politischer und gesellschaftlicher Konturen ist sie unabdinglich. 2. Popularität ist auf einen Kommunikationsbereich, auf Öffentlichkeit angewiesen. Seit den wortgeschichtlichen Ursprüngen im 18. Jahrhundert führt die Öffentlichkeit als Medium der politischen Partizipation bekanntlich idealisierende, fortschrittlich-freiheitliche Konnotationen mit sich.31 Als beschreibende Kategorie ist der Begriff schwer zu fassen.32 Im Hinblick auf das Populäre wird die Expansion und Differenzierung des Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsmarktes beginnend mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wichtig. Die Konsequenzen dieser mediengeschichtlichen Entwicklungsphase sind seltener als Teil der Weltkriegsforschung betrachtet worden. Für das hier verfolgte Interesse mag es genügen, die Öffentlichkeit als einen allgemein zugänglichen Raum, als public sphere zu bestimmen, deren massenmediale Kommunikationsstrukturen jeweils am Einzelphänomen konkret analysierbar sind. Als Merkmale können Transparenz und Permanenz der öffentlichen Sphäre, die Professionalität der in ihr wirksamen medialen Apparaturen und das abstrakte, nicht näher zu definierende Publikum als Adressat hervorgehoben werden. In der public sphere bildet sich eine öffentliche Meinung heraus, wenn sich Themen und Standpunkte verdichten und Handlungen anleiten.33 Für die Expansion und Differenzierung des Marktes bildet das Reichspressegesetz von 1874 eine Rechtsgrundlage. Es ermöglicht eine umfassende 31 Vgl. Lucian Hölscher : Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 118–121 und Joachim Westerbarkey : Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. 32 Vgl. die methodischen Vorschläge von Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analysen. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–32 und Karl Christian Führer, Knut Hickethier u. Axel Schildt: Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 1–38. 33 Vgl. Requate: Öffentlichkeit (Anm. 32), S. 8f. u. 13.

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Kommerzialisierung und fördert die weitere Liberalisierung der periodischen Presse, wobei der Staatsregierung über Notstandsverordnung und Sondergesetzgebung effektive Mittel zur Einschränkung der Pressefreiheit vorbehalten bleiben.34 Die politische Fraktionierung des Zeitungsmarktes schreitet voran und sorgt für eine starke Parlamentarisierung des öffentlichen Lebens. Für Beschleunigung und gleichmäßige Verteilung sorgen technische Erfindungen wie die Rotationspresse oder die Zentralisierung des Telegraphenwesens im Vorkriegsjahrzehnt. Diese Entwicklung lässt aufseiten der obrigkeitsstaatlichen Organe die Einsicht wachsen, dass politisches Wirken von einer koordinierten, verdeckt agierenden Pressepolitik und von Pressekampagnen begleitet sein muss. Der Staat operiert über ›öffiziös‹ lancierte Meldungen in Staatszeitungen und Kreisblättern und unterhält nonkonformistische Beziehungen zu Verbindungsmännern in möglichst vielen Zeitungsredaktionen, um die öffentliche Meinung günstig beeinflussen zu können.35 Diese ›Entfesselung der Massenkommunikation‹ (Jürgen Wilke) hat weitreichende soziale Folgen und fördert im Kaiserreich das Entstehen einer Populärkultur.36 Neben der einflussreich bleibenden Richtungspresse etabliert sich der Generalanzeiger als neuer, den Interessen der Leserschaft verpflichteter Zeitungstyp. In den 1890er Jahren ermöglichen neue Reproduktionstechniken den Aufstieg illustrierter Zeitungen, die in ihrer visuellen Medialität auf den Film vorbereiten.37 Im Zuge einer ›zweiten Leserevolution‹ um 1900 gehen Kommerz und Bildung, Kulturpolitik und Rundschaupublizistik, Werbung und Erotisierung, Wissenschaft und populäres Sachbuch neue Synthesen ein. Der öffentliche Angebotsmarkt bildet Unterhaltungsformate aus, die die ›hohe‹ Literaturszene und ihre Kunstzeitschriften mit den hohen Auflagenzahlen der Kolportage- und Trivialliteratur konfrontiert. In heftigen Debatten kommt die Sorge zum Ausdruck, dass die traditionellen Ideale des bürgerlichen Kanons durch ›Schmutz‹ und ›Schund‹ der rein 34 Dies zeigt sich während des Kulturkampfes und in der Phase der Sozialistengesetze. Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. 2. durchges. u. erg. Aufl. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 252–258. Zum kommerziellen Umbruch vgl. auch Andreas Schulz: Der Aufstieg der vierten Gewalt. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65–97, bes. S. 73–84. 35 Vgl. Gunda Stöber : Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, S. 60–71 u. die Zusammenfassung S. 263–276. 36 Zur Definition vgl. Kaspar Maase: Bewegliche Grenzen. Überlegungen zur Bestimmung von Populärkultur in der Weimarer Republik. In: Jessica Nitsche u. Nadine Werner (Hg.): Populärkultur, Massenmedien, Avantgarde 1919–1933. München: Fink 2012, S. 21–35, hier S. 24–27. 37 Vgl. Wilke: Grundzüge (Anm. 34), S. 267–270 u. 275–285.

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kommerziell orientierten Populärkultur, die den pejorativen und vulgären Sinn von populus erneuert, in Gefahr geraten.38 Die Gesamtbuchproduktion erzielt im Jahr 1913 einen Höhepunkt, der erst 1929 wieder erreicht wird.39 Den Weltkrieg auf die Entwicklung der Massenmedien zu beziehen, deren Spektrum nach 1918 um Rundfunk und Kino bereichert wird, klärt nicht nur die medialen Voraussetzungen der Mobilisierung von 1914. Nebenbei soll keineswegs unberücksichtigt bleiben, dass der Krieg die Entwicklung der Medientechnik direkt beschleunigt und ein enger Zusammenhang zur militärischen Technik besteht.40 Die Wahrnehmung des Krieges wird grundsätzlich von den ihn umgebenden und in ihm zur Anwendung kommenden Mediendispositiven (Photographie, Film, Funk, Luftaufklärung etc.) bestimmt, die entsprechende Beobachterpositionen zulassen oder ausschließen. Dadurch verändert er bestehende Wahrnehmungsdispositionen, was inzwischen im Umfeld von Intellektuellendiskursen als gut erforscht gelten kann. Die Unmittelbarkeit des Krieges in ihrer extremsten Form – in der Materialschlacht – führt dabei in Aporien von Darstellung und Beobachtung hinein.41 Gleichwohl lässt sich fragen, inwiefern der Krieg in seiner Eigenschaft als populäres Ereignis insgesamt zur Steigerung der Selbstreflexion massenmedialer Kommunikation und ihres politischen Potenzials beiträgt, obwohl 38 Vgl. Kaspar Maase: Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900. In: Ders. u. Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001, S. 9–28 und Patrick Major : ›Smut and Trash‹: Germany’s Culture Wars Against Pulp Fiction. In: Karl Christian Führer u. Corey Ross (Hg.): Mass Media, Culture and Society in Twentieth-Century Germany. Houndmills, New York: Palgrave Macmillan 2006, S. 234–250. Die Literaturwissenschaft hat dagegen oft nur die kanonischen »Höhenlagen der Literatur« im Blick (Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt: WBG 2003, S. 20). 39 Vgl. Georg Jäger : Medien. In: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München: C. H. Beck 1991, S. 473–499. Einen Überblick vermitteln Rudolf Stöber : Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3., überarb. Aufl. Konstanz, München: UVK 2014, S. 157–164 u. 267–292 und Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt/M., New York: Campus 2011, S. 143–170. 40 Vgl. Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung. München: Fink 1996. 41 Vgl. Manuel Köppen: Von Tolstoi bis Griffith. Krieg im Wandel der Mediendispositive. In: Preußer (Hg.): Krieg in den Medien (Anm. 8), S. 55–82 und Joachim Paech: Der Krieg als Form im Medium der Fotografie und des Films. In: Waltraud ›Wara‹ Wende (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Unter Mitarb. von Lars Koch. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 328–345. Bernd Hüppauf hat in zahlreichen Studien den Krieg unter medientheoretischen Gesichtspunkten immer wieder thematisiert, vgl. zuletzt: Medien des Krieges. In: Niels Werber, Stefan Kaufmann u. Lars Koch (Hg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart, Weimar : Metzler 2014, S. 311–339.

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oder gerade weil diese Kommunikation während des Krieges durch Kontrollmaßnahmen eingeschränkt ist. So ist beispielsweise festzustellen, dass nach der Niederlage eine Reflexion über die Wirkungsweise von Pressepolitik, Propaganda und Reklame verstärkt in Deutschland einsetzt. Zu den Ursachen für den Verlust des Krieges zählt jetzt auch die mangelhafte Beherrschung des ›Kriegsmittels‹ Propaganda, das seit dem Einmarsch in Belgien aus der Defensive heraus gehandhabt werden musste. Die Auffassung, dass die deutsche Kultur mit der Manipulation der öffentlichen Meinung unverträglich sei, hemmt anfangs eine pragmatische Einstellung.42 Doch bereits in den frühen 1920er Jahren erscheinen Studien, die Chancen und Gefahren der kriegsbedingt hervorgebrachten demokratischen Öffentlichkeit ergründen, ihre massenmediale Strukturiertheit verstehen und sie als neue Sphäre der (politischen) Einflussnahme, die potentiell allen zur Verfügung steht, entdecken.43 Die Entstehung der Zeitungswissenschaft gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Der Begriff der Propaganda ist dann nicht mehr auf die staatliche Lenkung beschränkt, sondern weitet sich zu einem generellen sprechakttheoretischen Analyseinstrument avant la lettre, das alle Formen und Wirkungen der »sozialen Antriebserteilung« in Sprache und Bild im öffentlichen Raum einschließt.44 42 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865. Frankreich 1871. Deutschland 1918. Berlin: Fest 2001, S. 256–273. Von der »Verhetzung als positives Kampfmittel«, das aus der kritisch beurteilten »Macht der Tagespresse« hervorgeht und von der Entente meisterhaft eingesetzt worden sei, spricht Steinmetz: Soziologie des Krieges (Anm. 6), S. 517 u. 514. 43 Hier wird freilich diskutiert, ob der Propagandadiskurs nur antidemokratischen Strömungen Vorschub leistet. Vgl. das Standardwerk von Corey Ross: Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society, and Politics from the Empire to the Third Reich. Oxford: Oxford UP 2008, bes. S. 191–222, der eine Reihe von zeitgenössischen Publikationen anführt. Jeffrey Verhey : Some Lessons of the War : The Discourse on Propaganda and Public Opinion in Germany in the 1920s. In: Bernd Hüppauf (Hg.): War, Violence and the Modern Condition. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 99–118 betont dagegen die entstehenden Impulse für die ›Dolchstoßlegende‹. Vgl. auch Peter Grupp: Voraussetzungen und Praxis deutscher amtlicher Kulturpropaganda in den neutralen Staaten während des Ersten Weltkrieges. In: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. München, Zürich: Piper 1994, S. 799–824. 44 Johann Plenge: Deutsche Propaganda [1922]. In: Hanns Linhardt (Hg.): Johann Plenges Organisations- und Propagandalehre. Berlin: Duncker & Humblot 1965, S. 119–173, hier S. 131. Plenge ordnet die »Lehre von der Propaganda« der Ideenlehre, der Organisationslehre und der »Lehre von der Konjunktur« zu (ebd., S. 130), die den Wiederaufstieg Deutschlands garantieren sollen. Die vorgeschlagene Typologie, die das Phänomen Propaganda zwischen Befehl, Anweisung, Bitte, Gesuch und Gerücht zu situieren versucht (vgl. ebd., S. 130–134), behandelt neben der Politik auch Werbung, Mode und Kunst, was ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der öffentlichen Kommunikation belegt. Zuletzt möchte der Autor aber die »große geistige Waffe, das Riesengeschütz, das weiter schießt als die bestkonstruierte ar-

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Die Aufmerksamkeit auf Popularität in den Massenmedien zu legen, bleibt daher nicht bei den medialen Apparaturen während des Krieges, beim technischen Apriori stehen, sondern empfiehlt eine theoretische Öffnung. Der Weltkrieg ist trotz seiner Zensurbestimmungen eine wichtige Phase der medialen Evolution, weil er eine politische Allinklusion des ganzen Volkes anstrebt und damit zugleich die Selbstreflexion der massenmedialen Kommunikation und deren Wirkungen stimuliert und fortschrittlich verändert. Die hier verfolgten Aspekte des Populären berühren sich in diesem Sinne mit dem Vorschlag für eine allgemeine ›historische Kommunikologie‹. Diese »behandelt gleichermaßen die Ebenen der medientechnischen Evolution, der sozialen und politischen Kommunikationsverhältnisse und der diese Ebenen in eine Beziehung setzenden Selbstthematisierungen« in der wichtigen Phase der Durchsetzung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, die als ›massenmediale Sattelzeit‹ bestimmt werden kann.45 3. Zuletzt ist das Populäre als Modus der Kommunikation aus der Begriffs- und Konzeptgeschichte herzuleiten, wobei im Kontext des Bandes der Bezug zum Forschungsfeld der (Wissenschafts-)Popularisierung explizit gemacht werden soll. Um 1850 meint ›populär‹ das Gemeinverständliche, leicht Fassliche von Sprache und Darstellung. Das etwas später belegbare Verb ›popularisieren‹ bezeichnet das Darstellen naturwissenschaftlicher Inhalte für das Volk, nicht mehr das in der Tradition der römischen Volkstribunen stehende Sich-beliebt-machen beim Volk.46 Popularisierung ist im 19. Jahrhundert vor allem Wissenschaftspopularisierung. Sie leistet Inklusion durch Wissen und zielt auf Volksbildung ab. Eine in Deutschland fest etablierte Vereins-, Versammlungs- und Vortragskultur im Grenzbereich von Fach- und Populärwissenschaft stellt dafür die sozial-, institutionen- und bildungsgeschichtlichen Strukturbedingungen bereit.47 Durch ihre Druckmedien (Zeitschriften,

tilleristische Überraschung« (ebd., S. 169), munitioniert mit wahren ›deutschen Ideen‹ wieder gegen die Briten in Stellung bringen. 45 Habbo Knoch u. Daniel Morat: Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit. In: Dies. (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960. München: Fink 2003, S. 9–33, hier S. 19. Die Einleitung bietet zugleich einen Abriss zu den Methoden der Medien- und Kommunikationsgeschichte mit guten Hinweisen zur Forschungsliteratur. 46 Vgl. Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg 1998, S. 33–41 und die begriffsgeschichtliche Fundierung bei Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). Stuttgart: Steiner 1999, S. 23–47. 47 Vgl. mit zahlreichen Beispielen zur populärwissenschaftlichen Formationsphase Andreas Daum: Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den An-

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Vereinsblätter und Jahrbücher) fertigt sie ihren Zielen gemäß eine Masse populären Text- und Bildmaterials mit innovativen Darstellungsmustern an; ergänzend hinzu kommen Vorträge, Publikumsdiskussionen, Ausstellungen und Museen.48 Angesprochen wird ein nichtakademischer, nichtspezialisierter Adressatenkreis, der als große Gruppe von interessierten Laien und Dilettanten einem kleinen Expertenkreis von Wissenschaftlern gegenübersteht. Für den Weltkrieg kann man die Wissenschaftspopularisierung als kulturellen Erfahrungsbestand und als funktionalen Prozess produktiv machen. Historisch betrachtet liegen hier erprobte Kenntnisse darüber bereit, wie Gemeinplätze illustriert und Schlagworte gebildet, Themen rhetorisch zugeschnitten, bildlich veranschaulicht und vereinfacht werden. Popularisierer bilden eine Profession darin aus, komplexes Wissen der Breite des Volkes anzubieten und es affektiv aufzuladen. Dennoch darf dieser Prozess nicht als unproblematische Vereinfachung von Wissensbeständen verstanden werden, die gleichsam automatisch für eine rationale Erziehung der Bevölkerung sorgte, Bildungsideale befestigte und die demokratische Partizipation erhöhte. Im Prozess der Popularisierung wird wissenschaftliches Wissen multipliziert und modifiziert, Intentionen und Motive der volkstümlichen Übertragung ändern sich, so dass das Produkt der Transformation »stets mehr als ein bloßes Derivat des Ausgangswissens« ist.49 Aus diesen Gründen ist popularisierende Publizistik oft im Umfeld von Krisen zu finden, denn sie leistet »Hilfestellung bei der konkreten Lebensbewältigung« und »bei der ideellen Orientierung und Sinnsuche«; sie bietet Mittel zur »emotionalen Stabilisierung inmitten einer sich verändernden Welt«.50 In den entsprechenden Vereinsmilieus ist die Grenze zur Weltanschauungsliteratur fliefängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848. In: Historische Zeitschrift 267 (1998) H. 1, S. 57–90. 48 Zu den Techniken der anschaulichen Vergegenwärtigung und ihren Institutionen vgl. Wilhelm Voßkamp, Jürgen Fohrmann u. Andrea Schütte (Hg.): Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln: DuMont 2001. 49 Carsten Kretschmann: Einleitung: Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld. In: Ders. (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin: Akademie 2003, S. 7–21, hier S. 15. Kretschmann gibt einen Forschungsüberblick und verallgemeinert die Wissenschaftspopularisierung hin zur Popularisierung von Wissen überhaupt. Fünf Kriterien dienen der Systematisierung: das Wissensgefälle, die Zahl der Produzenten und Rezipienten, die Größe des Adressatenkreises, die Intentionalität und die Medialität der Popularisierung (vgl. ebd., S. 14f.). 50 Angela Schwarz: Bilden, überzeugen, unterhalten. Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftskultur im 19. Jahrhundert. In: Ebd., S. 221–234, hier S. 227. Vgl. auch Volker Drehsen u. Walter Sparn: Kulturkrise und Konstruktionsgeist. In: Dies. (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Berlin: Akademie 1996, S. 11–29.

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ßend, die das Wissen ganzheitlichen Interpretationszwecken unterwirft und den Einsatz erhöht, indem sie den Zugang zur Welt insgesamt manipuliert und den Gedanken der individuellen Bildung durch Wissen subvertiert.51 Verfahren und Techniken der Popularisierung sind hier eingesetzt, um Überzeugungsgemeinschaften gegen den Rest der Gesellschaft zu immunisieren und auf Dauer zu stellen. Popularisierung als funktionalen Prozess zu definieren, blieb der Systemtheorie vorbehalten.52 Obwohl die Systemtheorie ihrem Selbstverständnis nach über keinen Begriff verfügen kann, der eine oder die Gesamtheit des Volkes oder der Gesellschaft theoriefähig machte, erhält der Modus der populären Kommunikation dennoch eine wichtige Funktion. Gerade weil unter den Bedingungen der modernen Differenzierung und ihrer medialen Konfiguration soziale Inklusion keine Selbstverständlichkeit (mehr) ist, muss um sie kommunikativ geworben werden. Urs Stäheli hat daher vorgeschlagen, das Populäre als eine Unterscheidung zu denken, die jedem Sozialsystem einzeln zukommt. Das verschiebt die Idee der Allinklusion eines Volkes in die imaginäre Dimension, bewahrt sie dort aber als Universalisierungstendenz der Systeme auf und entkleidet sie somit ihren moralischen und politischen Konnotationen. Notwendig für jedes Sozialsystem sind jetzt »Publikumskonstruktionen, mit denen Inklusionsprozesse reguliert werden.«53 Das Populäre ist diesem Vorschlag folgend »konstitutiv für Inklusionsprozesse: es organisiert ein affektives ›attachment‹ an Inklusionsvorgänge, und es bezeichnet den Ort, an dem um die Universalität von Publikumskonstruktionen gestritten wird.«54 Diese kommunikationstheoretische Definition hilft verstehen, wie sich diverse Popularisierungsstrategien im öffentlichen Raum überkreuzen und warum sie sich voneinander abgrenzen. Für die Weltkriegsforschung entsteht der Vorteil, die Kriegspublizistik rein auf ihre Formen und Modi vergleichend zu untersuchen, ohne dass das Thema des Krieges und die nationalen Implikationen eine Rolle spielten. Hier liegt die These zugrunde, dass sich 51 Den Weltbezug problematisiert Horst Thom¦: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts ›Weltanschauung‹ und der Weltanschauungsliteratur. In: Werner Frick u. a. (Hg.): Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 387–401. 52 Vgl. Rudolf Stichweh: Die vielfältigen Publika der Wissenschaft: Inklusion und Popularisierung [2003]. In: Ders.: Inklusion und Exklusion (Anm. 25), S. 95–111 und Markus Göbel u. Johannes F. K. Schmidt: Inklusion/Exklusion: Karriere, Probleme und Differenzierungen eines systemtheoretischen Begriffspaars. In: Soziale Systeme 4 (1998) H. 1, S. 87–117. 53 Urs Stäheli: Das Populäre als Unterscheidung – Eine theoretische Skizze. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe u. Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont 2005, S. 146–167, hier S. 156. 54 Ebd.

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Agitation und Mobilisierung für den Krieg in ihren performativen Mechanismen von anderen populären Strategien nicht wesentlich unterscheiden. Der Diversität der Medienformate entsprechend zielt jede populäre Kommunikationsstrategie darauf ab, möglichst große Aufmerksamkeit herzustellen, um aus der allgemeinen Unbestimmtheit aller Rezipienten ein passendes Publikum, eine interessierte Adressatengruppe zu formen und anzusprechen. Daraus ergeben sich typische Charakteristika populärer Kommunikation, die für die Analyse des Einzelfalls auf eine Vergleichsebene mit anderen Formen und Modi gebracht werden können, die zeitgleich präsent sind: An der Art der Adressierung, in der Wahl der Themen, an deren Zuspitzung – nicht zuletzt an der sprachlichen Form wird vor dem Hintergrund eines gegebenen Wissenshorizontes erkennbar, um wen geworben werden soll, wie spezifisch bestimmte Kreise und Milieus angesprochen sind. Zu diesem Zweck versucht populäre Kommunikation einerseits, durch ›Hyper-Konnektivität‹ eine gesteigerte Anschlussfähigkeit zu erreichen, andererseits lädt sie die vermittelten Inhalte affektiv auf und personalisiert sie, so dass sie Erlebnisqualität annehmen.55 Emotionale und körperliche Ressourcen jenseits von Kognition und Rationalität werden aktiviert, das auf Sinn berechnete Verstehen von Inhalten wird durch eine emotionale Komponente ergänzt, in extremen Fällen womöglich sogar völlig ersetzt. So verspricht das Populäre »ein imaginäres Zuhause in der unübersichtlichen Polykontexturalität funktional differenzierter Systeme«.56 Der Erfolg solcher Kommunikationsofferten ist nicht vorhersehbar, die Widerlegung durch ›vernünftige‹ Argumente aufgrund des affektiven Potentials eher zwecklos – es bleibt oft nur die Eskalation der Stilmittel und die publizistische Überbietung durch die Masse des Materials, also durch Auflage. Im Rahmen einer Archäologie der Popularität, die sich am Modus populärer Kommunikation orientiert, erschließen sich für den Beobachter zeittypische Muster : Was populär war und sein konnte, wo die Herstellung von Universalität und Zusammenhalt gelungen ist und wo dies scheiterte, zeigt sich an den Grenzen der Toleranz konkurrierender Akteure, am Maß polemischer Reaktionen, an Gegendarstellungen, die eine größere Sachkompetenz geltend machen und gegen Simplifizierungen Einspruch erheben. In letzter Instanz besitzt populäre Kommunikation, um auf Kaiserreich und Weimarer Republik zurückzukommen, daher durchaus die Fähigkeit, die Grenzen des Sag55 Vgl. ebd., S. 160–162. 56 Urs Stäheli: Das Populäre zwischen Cultural Studies und Systemtheorie. In: Udo Göttlich u. Rainer Winter (Hg.): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies. Köln: Halem 2000, S. 321–336, hier S. 332.

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und Darstellbaren in der Öffentlichkeit zu verändern, auch wenn diese unter staatlicher Kontrolle steht. Die drei genannten Aspekte des Populären, die politische Dimension, der Kommunikationsbereich der Öffentlichkeit und der Modus der Kommunikation, plädieren dafür, den Ersten Weltkrieg in einer historisch breit anzusetzenden Transformationsphase (in) der Moderne zu situieren. Der Krieg wird daher nicht in erster Linie als ›Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‹ und als eine epochemachende Zäsur der ›Weltwende‹ verstanden und vorausgesetzt, sondern es lässt sich im Rahmen einer allgemeinen Theorie des Populären57 grundsätzlicher nach den produktiven Darstellungsleistungen und Darstellungsressourcen fragen, die ein breit gefächertes Quellenmaterial aus Literatur, Publizistik und populären Medien bereithält. Ziel ist eine interdisziplinäre Verortung des Krieges als ein Geschehen, das maßgeblich in die alltäglich-populären, medial gesteuerten Funktions- und Wirkungszusammenhänge verflochten ist und denen es seine jeweils neu hervorgebrachte Ereignishaftigkeit erst verdankt. Darüber hinaus heben die drei Aspekte damit die transformativen Prozesse der Moderne selbst in die Reflexion. Die durch den Ersten Weltkrieg entfesselte Kriegführung hin zum ›totalen Krieg‹ einerseits und die gleichzeitig stattfindende massenmediale Durchdringung der Bevölkerung andererseits, die für diese Art Krieg die notwendige Ressource bildet, sind keine teleologisch aufeinander abgestimmten Entwicklungen. Denkbar sind Korrelationen verschiedenster Art, auch ein gegensätzliches Verhältnis: Während der ›totale Krieg‹ als grenzbegrifflicher Idealtypus zwar die ›Extensivierung‹, das »anwachsende Ausmaß der Kriegführung« in Anlehnung an Clausewitz’ Begriff des ›absoluten Krieges‹ beschreibt, besteht zugleich die Gefahr, dass die historische Ereignisund Erfahrungsvielfalt hinter der performativen Dynamik einer ins Maximale zielenden Kategorisierung – ›totale Mobilmachung‹, ›totaler Krieg‹, schließlich der ›totale Staat‹ – verschwindet.58 Der Verweis auf die politischen Folgen nach 1933 liegt nahe. Nicht zufällig ist es Erich Ludendorff, der in der Abhandlung Der totale Krieg (1935) die Perspektive der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) über 57 Dafür plädiert auch Jens Ruchatz: »Der Text ist meine Party« – sechs Punkte zum Theoriebedarf der Erforschung des Populären. In: Christoph Jacke, Jens Ruchatz u. Martin Zierold (Hg.): Pop, Populäres und Theorien. Forschungsansätze und Perspektiven zu einem prekären Verhältnis in der Medienkulturgesellschaft. Berlin: Lit 2011, S. 64–78, hier S. 72: »Der Begriff des Populären brächte […] eine Ebene ein, auf der man einerseits noch einmal aufs Neue über das nachdenken kann, was die Popularität des Populären, insbesondere der sogenannten Populärkultur, ausmacht, die aber als Folie andererseits […] auch die Spezifik der jeweiligen Phänomene zu konturieren erlaubt. Der Vorschlag könnte damit lauten, nicht eine Theorie der Populärkultur, der Popmusik oder der Populärwissenschaft anzustreben, sondern eine Theorie des Populären insgesamt zu wagen«. 58 Vgl. Chickering: Der totale Krieg (Anm. 7), S. 249–254, hier S. 253.

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den Krieg hinaus fortsetzt und sich selbst für zukünftige Aufgaben empfiehlt. Die mit populärem Gestus »für jedermann im Volke« verbreitete Schrift, die an »die physische, wirtschaftliche und seelische Stärke des Volkes« appelliert, weil im ›totalen Krieg‹ »unmittelbar Leben und Seele jedes einzelnen Mitgliedes der kriegführenden Völker berührt« sind, setzt stillschweigend eine Militärdiktatur voraus, die die Öffentlichkeit auch ›total‹ kontrolliert und ihr Potential zur freien politischen Selbstreflexion strikt unterbindet.59 Für Ernst Jünger ist die ›totale Mobilmachung‹ ein überall zu entdeckender, sich »in Krieg und Frieden« selbst vollziehender Prozess »im Zeitalter der Massen und Maschinen«, der Weltkrieg folgerichtig »einer der populärsten Kriege […], die die Geschichte kennt.«60 Auch hier gibt es keine Ebene der medialen Selbstreflexion mehr, Popularität geht auf in Akklamation. Prozesse der ›Medialisierung‹ sind aber eben keineswegs derart kontrollierbar. Sie verlaufen nicht eindimensional, auf eine ›totale‹ Vereinnahmung hin, sondern unterliegen ihrer eigenen Dynamik mit »Ambivalenzen«, »die in den medialen Vermittlungsformen selbst angelegt« sind.61 Negative Eingriffe durch die Zensur oder eine starke positive Lenkung durch Organe der staatlichen Propaganda im Krieg haben unvorhersehbare Auswirkungen auf Glaubwürdigkeit und Akzeptanz medialer Inhalte. Sie fördern letztlich subversive Formen der Aneignung und übersetzen sich später direkt in eine Reflexion über die Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen von Popularität. So ließe sich diskutieren, inwiefern die populären Massenmedien durch die Etablierung neuer Formate und Verbreitungsstrukturen von sich aus demokratische »Partizipation, Volkssouveränität und Pluralismus« zu befördern vermögen62 und ob diese Entwicklung durch den Weltkrieg und in der Erinnerung an ihn beschleunigt worden ist oder nicht. Argumente und Beispiele lassen sich sowohl für den Krieg als Modell der Partizipation und Chance auf Pluralisierung als auch für das Gegenteil finden. Einerseits ist vielen zeitgenössischen Beobachtern schon vor der Novemberre59 General Ludendorff: Der totale Krieg. München: Ludendorffs Verlag 1935, S. 3, 11 u. 4f. Wie Hans-Ulrich Wehler : »Absoluter« und »Totaler« Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff. In: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1980, S. 474–510, hier S. 496 ausführt, stellt Ludendorff Clausewitz »auf den Kopf«, da für den General der 3. OHL der Krieg den Normalzustand darstellt und »ohne Unterlaß die Politik« regiert. 60 Ernst Jünger : Die totale Mobilmachung [1930]. In: Ders.: Politische Publizistik 1919–1933. Hg., komm. u. mit einem Nachw. von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 558–582, hier S. 564f. 61 Frank Bösch u. Norbert Frei: Die Ambivalenz der Medialisierung. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2006, S. 7–23, hier S. 8. Vgl. auch Frank Bösch: Katalysator der Demokratisierung? Presse, Politik und Gesellschaft vor 1914. In: Ebd., S. 25–47. 62 Bösch u. Frei: Ambivalenz (Anm. 61), S. 16.

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volution 1918 klar, dass die rein zahlenmäßig hohe Beteiligung am Krieg zu einer Demokratisierung des Volkes führen würde im Sinne einer politischen Mündigwerdung der Einzelnen. Andererseits besteht lange eine recht erstaunliche Einigkeit auch darüber, dass der Krieg zugleich die Festigkeit der ›deutschen‹ Staatsform der Monarchie, zumindest aber das Prinzip der starken Führerschaft bewiesen habe. Da in der Weimarer Republik der Parlamentarismus allein keine hinreichende Popularität erzeugt und keine nationalen Inklusionssignale aussenden kann, bleibt der Erste Weltkrieg ein auch in der Abwesenheit zwanghaft anwesendes Thema: Ist der Krieg in der massenmedialen Öffentlichkeit populär, erhebt sich sofort die Frage, wer in legitimer Weise von ihm sprechen darf, wer zur Nation gehört und wer nicht. Gerät der Krieg in Vergessenheit durch neue populäre Themen, wird der Vorwurf laut, dass die rein kommerziell funktionierenden Massenmedien keinen neuen populären Gründungsmythos herstellen können und daher einer Fragmentierung oder ›Zersetzung‹ des politischen Kollektivs Vorschub leisten. Zuletzt sensibilisieren die drei Aspekte des Populären daher für Zäsurbildungen innerhalb des geschichtlichen Kontinuums. Sie stehen zwar in einem engen begriffs- und konzeptgeschichtlichen Zusammenhang, bleiben aber historisch dennoch gegeneinander verschiebbar, so dass sich für unterschiedliche populäre Kontexte und Materialbestände völlig andere Entwicklungs- und Diskurslinien ergeben, die keinesfalls mit dem Anfang und dem Ende des Krieges identisch sind, sondern in ihn hinein- und aus ihm hinausführen.

2.

Vor dem großen Krieg: 1899–1914

Während früher der ›Machtstaat vor der Demokratie‹ und die Sozialstruktur des Kaiserreichs untersucht wurden,63 wird dieses seit kurzem häufiger in der »polykontexturalen Vielgestaltigkeit und Differenziertheit« seiner Selbstbeschreibungsdiskurse und unter medienfunktionaler Perspektive erschlossen.64 63 Vgl. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. Mit einem Nachw. von Paul Nolte. München: C. H. Beck 2013 [1992]; Wolfgang J. Mommsen: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt/M.: Fischer 1990; Rüdiger vom Bruch: Kaiser und Bürger : Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900. In: Ders.: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich. Hg. von Hans-Christoph Liess. Stuttgart: Steiner 2005, S. 25–51; ders.: Kulturimperialismus und Kulturwissenschaften. In: Ders.: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Björn Hofmeister u. Hans-Christoph Liess. Stuttgart: Steiner 2006, S. 95–106. 64 Benjamin Ziemann: Das Kaiserreich als Epoche der Polykontexturalität. In: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 51–65, hier S. 62.

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Zwei Beispiele können in diesem Forschungskontext populäre Kommunikationsstrategien und ihre Effekte im Hinblick auf den Krieg in der unmittelbaren Vorkriegszeit illustrieren, die von einem starken Wirtschaftswachstum geprägt ist. An Ernst Haeckels Schrift Die Welträthsel wird erkennbar, wie langfristig gewachsene, völlig unterschiedliche Interessen plötzlich für einen Krieg leicht zu synchronisieren sind. Populäre Jubiläumsbücher wie Unser Kaiser (1898) und Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. (1913) ziehen eine idealisierte Bilanz der kaiserlichen Regentschaft und leiten daraus eine krisenfreie Zukunft ab, die kein Krieg erschüttern kann. Der populäre Darwinismus, den in Deutschland Ernst Haeckel tonangebend prägt, bildet innerhalb der Wissenschaftspopularisierung die Hauptströmung. Im Vorfeld des Krieges ist sein Potential als politisches Deutungsmuster diskutiert worden. Der Darwinismus bereitet als »weltanschauliche Matrix« die nationale Vergemeinschaftung vor, er erklärt die Fortschrittsdynamik im Kaiserreich entwicklungsgeschichtlich und trägt zur Radikalisierung des politischen Klimas bei.65 Im Darwinismus ist der Zusammenhang zwischen Krieg und Natur angelegt. Schon in den 1860er Jahren sind entsprechende Denkfiguren durch Familienzeitschriften und Illustrierte wie Die Gartenlaube und Das Ausland populär.66 Darwins Metapher vom ›Kampf ums Dasein‹ sorgt für eine unendliche Zahl an Analogieschlüssen und der Letzthintergrund des ›Daseinskampfes‹ unter Menschen fördert die Kriegsbereitschaft. Major Goltz, der 1883 ein Volk in Waffen verlangt, findet schon nicht mehr bei Clausewitz, sondern in Darwins Abstammung des Menschen von 1871 »[d]ie beste Erklärung für die Disciplin«, die bei den bald zu erwartenden Volksheeren jetzt nämlich soziobiologisch, im gegenseitigen Vertrauen der Soldaten, verankert sein muss.67 Die geradezu epidemische Verbreitung des Darwinismus wird durch die fließenden Grenzen des Wissenschaftsdiskurses in den Lebenswissenschaften begünstigt.68 65 Peter Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«: Nationalismus, Sozialdarwinismus und Imperialismus im wilhelminischen Deutschland. In: Echternkamp u. Müller (Hg.): Die Politik der Nation (Anm. 25), S. 131–148, hier S. 133. Vgl. auch ders.: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 304–342. 66 Vgl. nur Ludwig Büchner : Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein. In: Die Gartenlaube (1861) Nr. 6, S. 93–95 und Gustav Jäger: Naturwissenschaftliche Betrachtungen über den Krieg. In: Das Ausland 43 (1870) Nr. 49, S. 1161–1163. 67 Colmar Freiherr v. d. Goltz: Das Volk in Waffen. Ein Buch über Heerwesen und Kriegführung unserer Zeit. Berlin: Decker 1883, S. 176. Hatte Darwin an der zitierten Stelle lediglich die »socialen und moralischen Fähigkeiten« von Tieren und Stämmen von »Urmenschen« im Blick, die sich in einer Konkurrenzsituation »gegenseitig beim Angriff oder bei der Vertheidigung geholfen haben«, nutzt Goltz dies zur mythischen Verklärung der »wunderbare[n] Macht« der Disziplin (ebd.). 68 Vgl. Paul Ziche: Wissenschaft als Weltanschauung, Weltanschauung als Wissenschaft. Der Darwinismus und die Verallgemeinerung von Wissenschaft um 1900. In: Kurt Bayertz,

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Die Anfänge der Wissenschaftspopularisierung, und daran gilt es zu erinnern, sind jedoch unpolitisch. Die Natur, ein für den populärwissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt zentrales Bildungsorgan, resümiert 1861 im zehnten Jahrgangsband seine Gründung: Als wir vor neun Jahren unsere Zeitschrift begannen, war es ein unbestimmtes Sehnen, welches die Geister zur Flucht trieb aus der trostlosen Oede und Leere des politischen Lebens und sie einen Ersatz suchen ließ für die mit dem öffentlichen Leben erstarrende PoÚsie in den Armen der immer heitern, immer freien und befreienden Naturwissenschaft. Jetzt, wo so Vieles anders geworden ist in unserm Vaterlande, ist es die reine Liebe zu dieser Wissenschaft selbst, welche die Gemüther gefesselt hält, und mit Bewußtsein erquicken sie sich an ihren sonst ungeahnten reichen Schätzen.69

Volksmäßigkeit entsteht hier in bewusster Abgrenzung zur »Leere des politischen Lebens«. Als dessen Gegenteil und »Ersatz« bildet die Natur einen Ort der Vergemeinschaftung, der keine Anforderungen stellt. Dieser Ort muss durch Präsentations- und Darstellungstechniken aber ästhetisch aufbereitet werden – Naturwissenschaft allein, die ihren Erkenntnisinteressen folgt, leistet dies nicht. Daher entsteht zwischen den Techniken der Popularisierung und der Ästhetik im 19. Jahrhundert eine Nähe, die als Koevolution zu beschreiben ist. Anschauungsformen der Natur helfen dabei, eine ästhetische Wissenschaft zu begründen, die nicht mehr (nur) der idealistischen Philosophie, sondern auch den Gegenständen und Stoffgebieten der Naturwissenschaften zugewandt ist. Das ›verstandene Lebensbild‹ Friedrich Theodor Vischers ist ein synthetisches Konzept dieser Art, ein »Entwurf eines eigenständigen Genres der Naturdarstellung«, das das Naturschöne nicht metaphysisch zu begründen sucht, sondern eine »ästhetische Auffassung und Darstellung des Realen« zum Ziel hat.70 Die Formate der Popularisierung fordern in ähnlicher Absicht zur Erkundung und liebevollen Versenkung in die ungezählten Wunder der Natur auf. Sie sind engagiert in der Investition und Verteilung von Gefühlswerten und etablieren ein ganzheitliches Harmoniedenken. Haeckels Bestseller Die Welträthsel von 1899 verbindet nun populärwissenschaftliche und weltanschauliche Interessen geschickt. Texte der Weltanschau-

Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Der Darwinismus-Streit. Hamburg: Meiner 2007, S. 186–205. 69 Otto Ule u. Karl Müller : An den Leser. Beim Beginn des zehnten Jahrgangs. In: Die Natur. Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntniß und Naturanschauung für Leser aller Stände 10 (1861) H. 1, S. 1f., hier S. 1. 70 Jutta Müller-Tamm: »Verstandenes Lebensbild«: Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Verstandenes Lebensbild. Ästhetische Wissenschaft von Humboldt bis Vischer. Eine Anthologie. Berlin: Lit 2010, S. 7–28, hier S. 23.

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ungsliteratur richten oft im Vorwort eine privilegierte Autorposition auf.71 Haeckel wendet sich an »die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände« und präsentiert das Buch als Summe seiner Lebenserfahrung.72 Eine Photographie zeigt den 66-jährigen, vierfach promovierten Professor der Zoologie am Schreibtisch, die eigenen Publikationen studierend. Durch »eifriges Forschen« und »unablässiges Nachdenken« sei ihm der Monismus als »›reife Frucht‹ vom Baume der Erkenntniß« zugefallen, eine Weltanschauung aus kosmologischer Perspektive, die in vier Kapiteln (Mensch, Seele, Welt und Gott) mit Hilfe von Lehrsätzen und durch Kompilationen vieler Quellentexte erläutert wird.73 Hinzu tritt – schon aus dramaturgischen Gründen – die kritische Gegenwartsdiagnose der Zerrissenheit, auf die der Monismus heilend antwortet. Wie aus den Zeitungen zu ersehen, befinde sich das Kulturleben im ›Zustand der Barbarei‹. Werden diese Widersprüche nicht gelöst, droht die »Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und socialem Gebiete«.74 Die monistische Weltanschauung fordert eine Rückkehr zur Natur und fußt auf zwei Prinzipien. Entdeckungen in Chemie und Physik legen es nahe, ein für das Universum grundlegendes Axiom zu formulieren. Haeckel nennt es das Substanz-Gesetz. Es soll die Erhaltung des Stoffs in chemischen Reaktionen und die Erhaltung der Kraft im physikalischen Experiment beschreiben, womit Ergebnisse der Thermodynamik aufgegriffen werden.75 Das zweite Prinzip ist die Entwicklungslehre, deren Stammvaterschaft auf Darwin, Goethe und Lamarck aufgeteilt wird und die auch die Psychologie umfasst. Aus beiden Prinzipien leitet Haeckel ein eigenes teleologisches Modell her, das für die Welträthsel ein Erzählmuster bereitstellt.76 Das Buch vertritt die Ansicht, dass Seele (Bewusstsein) und Welt (Kosmos) die gleichen Stufen der Höherentwicklung durchlau71 Vgl. Horst Thom¦: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 338–380, hier S. 351–355. 72 Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Neue unveränd. Aufl. Bonn: Strauß 1899, S. III. 73 Ebd., S. V. Der exzessive Rückgriff auf andere Autoren ist ebenfalls ein typisches Verfahren und hilft die »Pseudoempirizität« der Texte zu konstituieren. Vgl. Thom¦: Weltanschauungsliteratur (Anm. 71), S. 353. 74 Haeckel: Welträthsel (Anm. 72), S. 5. 75 Vgl. ebd., S. 243–268. Es gehen aber bewusst nur die progressiven Teile des thermodynamischen Weltbildes in die Welträthsel ein. Vgl. Elisabeth Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915. Freiburg/Br.: Rombach 2006. 76 Zur Entfaltung gebracht findet sich dieses Stufenmodell schon in der ersten populären Gesamtschau. Vgl. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Zweite, verb. u. verm. Aufl. Berlin: Reimer 1870 [1868].

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fen, so dass die Einheit der Natur in nicht zu überbietender Abstraktionshöhe demonstriert ist. Diese kosmologische Perspektive führt zu einer doppelten Frontstellung, die zum populären Erfolg beiträgt. Scharf attackiert Haeckel den Dogmatismus der Kirchen, die an Gott, Willensfreiheit und Unsterblichkeit festhalten, obwohl der Monismus dies doch als »anthropistische[n] Größenwahn« entlarvt.77 Das Fundament des Glaubens soll nun die wissenschaftliche Theoriebildung selbst bereitstellen,78 so dass man, anstatt Metaphysik oder christlicher Theologie anzuhängen, sich lieber »an den gewaltigen realen Fortschritten [erfreuen sollte], welche unsere monistische Natur-Philosophie thatsächlich errungen hat.«79 Der Monismus löst das Christentum ab, was der Bibelmetaphorik im Text ihre Spitze gibt: »Die wahre Offenbarung […] ist nur in der Natur zu finden« und der »Real-Monismus« erschließt »uns [diesen] wundervollen Tempel der Natur«.80 Die Frontstellung ist eine doppelte, weil die Welträthsel mit dieser theistischen Wende auch für eine progressive Revolution im Inneren der Wissenschaft sorgen wollen. Haeckel erklärt jene epistemologischen Vorbehalte für nichtig, die Emil Du Bois-Reymond rund zwanzig Jahre früher in Gestalt von sieben zeitlos gültigen Welträtseln für die Naturwissenschaften aufgestellt hatte. Er ›befreit‹ so die Wissenschaft ein zweites Mal von den ihr (vermeintlich) angelegten Fesseln und führt sie für das kommende 20. Jahrhundert zurück in das Feld der ›freien Forschung‹.81 Die Welträthsel befeuern die weltanschaulichen Deutungskämpfe in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor 1914, ein Phänomen, das man als subkutanen Vorkrieg bezeichnen kann. Hier steht nicht weniger auf dem Spiel als die Attraktivität und die Wissenschaftsfähigkeit von einheitstheoretischen Erkenntniskonzepten, die das pluralisierte Wissen aus dem Nebeneinander der akademischen Disziplinen – gegen die Tendenz zur Spezialisierung – wieder überschaubar machen und die von verschiedenen Lagern mit immer neuen Streitschriften exhaustiv verteidigt werden. In dieser publizistischen Materialschlacht ist der »Kampf um die Wahrheit« »ein langwieriger«, gerade weil sich dieser Kampf vom tagespolitischen Geschäft weit entfernt glaubt: »[V]on Generation setzt er sich fort auf Generation; er wird so lange dauern, als die Erde Haeckel: Welträthsel (Anm. 72), S. 17. Vgl. ebd., S. 346. Ebd., S. 438. Ebd., S. 354 u. 438. Vgl. auch Bernhard Kleeberg: Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 239–263. 81 Vgl. Ernst Haeckel: Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow’s Münchener Rede »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat«. Stuttgart: Schweizerbart’sche Verlagshandlung 1878 sowie Kurt Bayertz, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg: Meiner 2007. 77 78 79 80

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Menschen trägt,« so ein einflussreicher Widersacher Haeckels, der im Preußischen Herrenhaus sitzende Botaniker Johannes Reinke.82 Die Wirkung der populären Schrift ist im Ausland und im Deutschen Reich verschieden. Aus britischer Sicht sind die Welträthsel ein typisches Beispiel von ›Germano-Darwinism‹, der für die deutsche Weltpolitik und den Kulturbegriff das evolutionstheoretische Fundament liefert.83 Haeckel steht in einer Reihe mit Nietzsche, Treitschke und Friedrich von Bernhardi, die zusammen eine materialistische, von moralischen Rücksichten freie Weltsicht befördern. Der wissenschaftlich hergeleitete Theismus erhält kein spirituelles Eigenrecht, sondern erscheint als progressiver Technizismus, der dem Imperialismus nützt. Für britische Beobachter sorgt Haeckels Seele-und-Welt-Entwicklungsgeschichte nicht für eine heilsame Entrümpelung religiöser Dogmatik, sondern stellt stattdessen als Projekt der Dehumanisierung jene Barbarei in Wirklichkeit erst her, die sie zu bekämpfen vorgibt. Zwischen »Darwinism« und »Kaiserism« besteht kein Unterschied.84 Das Buch ist tatsächlich nicht frei von gezieltem Chauvinismus. Haeckel greift die christliche Verbrämung des britischen Empire an, da die »vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England« in Wahrheit in »schneidende[m] Widerspruch […] zu allen Grundlehren der christlichen Liebe« stehe, was die deutsche Führung nicht erkenne und sich daher regelmäßig übertölpeln lasse.85 Neben diesen Offensichtlichkeiten ist es aber das Stufenmodell selbst, das – trotz aller Kosmologie – die Nation versteckt enthält. In den 1860er Jahren war Haeckel auf August Schleicher gestoßen, einen Philologen, der Darwin für die Sprachwissenschaft auswerten und die menschliche Spezies anhand von Sprachen klassifizieren wollte. Haeckel übernimmt den Gedanken, dass die Nation im Evolutionsprozess eine biologisch relevante Größe bildet und ihr eine Entwicklungsstufe zugesprochen werden muss.86 Eine Radikalisierung des ›Ger82 Johannes Reinke: Die Welt als Tat. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Dritte Aufl. Berlin: Paetel 1903 [1899], S. 73. 83 Vgl. Gregory Moore: Darwinism and National Identity, 1870–1918. In: Fred Bridgham (Hg.): The First World War as a clash of cultures. Columbia: Camden House 2006, S. 167–182, hier S. 168–172. 84 Vgl. hierzu das Buch des schottischen Anthropologen Robert Munro: From Darwinism to Kaiserism. Glasgow: Maclehose & Sons 1919, auf das Moore: Darwinism (Anm. 83), S. 171 hinweist. 85 Haeckel: Welträthsel (Anm. 72), S. 408. Den Gipfel des patriotischen Chauvinismus wird der 80-jährige Haeckel im Krieg zusammen mit Werner Sombart und Max Scheler erklimmen. Vgl. Ernst Haeckel: Englands Blutschuld am Weltkriege. Eisenach: Kayser 1914. 86 Haeckel hat das in seiner Generellen Morphologie von 1866 erstmals reflektiert. Vgl. zu diesem Kontext Mario A. Di Gregorio: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 98–106 u. 124: »Within this typological framework [der Generellen Morphologie], the Nation became an individual. Men were individuals with respect to the Nation, which, in turn, was an individual with respect to the

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mano-Darwinism‹ ist bei Haeckel ab den Lebenswundern (1904) zu beobachten.87 In der deutschen Öffentlichkeit wirken die Welträthsel indessen ganz anders. Anziehend ist der große Abstand zu Politik und Kaisertum, da im Kampf um die geistige Freiheit von Wissenschaft und Weltanschauung der Staat ein Gegner ist. Für die Zeitgenossen klar erkennbar geißelt Haeckel in Anspielung auf den Caligula-Skandal von 1894 die spätabsolutistischen Attitüden Wilhelms II., der vom Gottesgnadentum nicht abrückt.88 Weltanschauungen brauchen Gegensätze, um Gemeinschaften zu formen und sie polemisch zu verteidigen. Die Opposition zum Staat ist eine Grundbedingung, auf die Haeckel, aber auch viele liberale Initiativen wie etwa der Berliner Goethebund, in dem sich namhafte Schriftsteller und Wissenschaftler für die Pressefreiheit organisieren, angewiesen sind.89 Mit Kriegsbeginn fällt die Opposition zum Staat plötzlich fort. Vor dem Schicksal der Nation treten ältere Gegnerschaften zurück, was die rhetorischen Energien aber nicht vermindert. Im Populären überlagern sich die Idee der politischen Allinklusion und andere Inklusionsangebote, um aufeinander abgestimmt zu werden. Es kommt zu einer kommunikativen Vergemeinschaftung der Gemeinschaften, wenn zuvor strikt voneinander getrennte und rhetorisch scharf bewachte Teilöffentlichkeiten abrupt füreinander durchlässig werden. So ist erklärbar, »daß ausgerechnet bewährte Vertreter des kulturliberalen Lagers zu den ersten gehörten, die sich der deutschen Kriegspropaganda zur Verfügung stellten.«90 Im Krieg ändern sich die Adressaten sofort, Haltungen dagegen langsam. Zudem sollte man eine wichtige Motivation aller Popularisierer nicht vergessen, die auch Universitätsprofessoren teilen: den reinen Genuss an der Rede vor großem Publikum, das diese Rede kritiklos und begeistert aufnimmt. Zu Laien und Nichtspezialisten kann durch das Wissensgefälle »in extremer Weise voraussetzungslos« gesprochen werden, weshalb die »volkstümliche Darstellerfähigkeit«91 zu den Voraussetzungen für den ›Krieg der

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Race, an individual in its own right with respect to the human species, itself an individual with respect to Mammals.« Zur gleichen Zeit werden die persönlichen Kontakte zu den Rasseanthropologen Otto Ammon und Alexander Tille sowie zum Rassehygieniker Wilhelm Schallmayer intensiver (vgl. ebd., S. 520–525). Vgl. Haeckel: Welträthsel (Anm. 72), S. 17: »Der lächerliche Caesaren-Wahn des Caligula ist eine spezielle Form [der] hochmütigen Selbstvergötterung des Menschen«. Vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg u. Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation. Stuttgart: Steiner 1996, S. 42–46. Ebd., S. 46. Wilhelm Bölsche: Wie und warum soll man Naturwissenschaft ins Volk tragen? In: Ders.: Stirb und Werde! Naturwissenschaftliche und kulturelle Plaudereien. Siebentes bis zehntes Tausend. Jena: Diederichs 1921 [1913], S. 294–324, hier S. 321f.

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Geister‹ zählt. In dieser Konsequenz hat die Popularisierung auf der Ebene der Rhetorik dem Weltkrieg gerade auch dort vorgearbeitet, wo er am wenigsten Thema gewesen ist.92 Das zweite Beispiel der Jubiläumsbücher befasst sich mit der populären Präsenz von Wilhelm II. Ergänzend zur institutionellen Ebene des Staates ist das öffentliche Bild des Kaisers ein zunehmend wichtiger Machtfaktor. Wilhelm II. hat durch verschiedene Mittel versucht, eine stabile Popularität in der Bevölkerung zu erlangen. Da aber seine politische Rolle im Gefüge des Staates schwankend ist und er selbst zuweilen versucht, sich durch beherztes Eingreifen in die Regierungsgeschäfte und über Prestigeprojekte eine größere Machtfülle zu sichern, pendelt auch die symbolische Repräsentation des Kaisertums zwischen einem populären Absolutismus und einem bürgernahen, konstitutionellen Verständnis hin und her. Die Einschätzungen zur Machtfülle des Kaisers reichen bekanntlich vom »persönlichen Regiment« bis zum »Schattenkaiser«, Wilhelm II. ist in einer »Dialektik der Ermächtigung und Einschränkung« gefangen.93 Zu den Mitteln, mit denen der Kaiser populär werden will, gehören die Programmrede, seine Reisetätigkeit und Veränderungen im Hofzeremoniell, die die Zugangsmöglichkeiten zum Monarchen volksnaher gestalten.94 An Wilhelm II. sind auch die Gefahren zu beobachten, die die verstärkte Medialisierung der politischen Repräsentation mit sich bringt: Reden bieten nicht nur bündige Information, sondern sie entgleisen.95 Der hektische, sprunghafte Charakter des Kaisers, den unter Druck aber Unentschlossenheit und Wankelmut ergreifen, lässt Selbstdisziplin und Objektivität vermissen. Öffentlich wird ihm »Reisewut, Arbeitsscheu und Frivolität« vorgeworden,96 und die Zuschreibungen greifen ins Pathologische aus: Den Kaiser »als ›nervös‹ zu bezeichnen war mitunter ein respektvoller Euphemismus solcher Beobachter, die eigentlich ›Größenwahn‹

92 Dazu passt, dass in Studien zur Presselandschaft der Vorkriegszeit ebenfalls die Selbstreferentialität der Medien und ihre internationale Verflechtung betont werden, zwei Faktoren, die auf die Diplomatie großen Einfluss gewinnen. Vgl. Bernhard Rosenberger : Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998, S. 325 und Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912). München: Oldenbourg 2007, S. 421–437. 93 Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Aus dem Engl. von Norbert Juraschitz. München: Pantheon 2009, S. 115. 94 Vgl. Martin Kohlrausch: Zwischen Tradition und Innovation. Das Hofzeremoniell der wilhelminischen Monarchie. In: Andreas Biefang, Michael Epkenhans u. Klaus Tenfelde (Hg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918. Düsseldorf: Droste 2008, S. 31–51, hier S. 39–42. 95 Vgl. Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie. Berlin: Akademie 2005, S. 75–78. 96 Clark: Wilhelm II. (Anm. 93), S. 125.

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oder ›pseudologia phantastica‹ meinten.«97 Schließlich bringt eine lange Reihe von Skandalen, insbesondere die Daily-Telegraph-Affäre von 1908, die Monarchie an den Rand des Zusammenbruchs.98 Skandale fördern, da sie eine unkontrollierbare öffentliche Dynamik entfalten, ein kritisches Politikbewusstsein und drängen indirekt auf Reformen, indem sie die Anforderungen an den Thron verändern.99 Vor diesem Hintergrund sind die aufwändig hergestellten populären Bücher zu sehen, die anlässlich von Regierungsjubiläen erscheinen. Ähnlich wie der Kaisergeburtstag, der adlige Huldigung und öffentliches Spektakel zugleich ist,100 kommt den Festbüchern eine integrative Funktion zu, indem sie die Einheit von Kaiser und Volk veranschaulichen und eine Bilanz ziehen. In den Büchern soll erwiesen werden, auf wie vielen Gebieten der Kaiser ein persönliches Interesse entwickelt, wo überall »seine fördernde und helfende Hand« zum Wohle des deutschen Volkes eingreift.101 Die reich bebilderten Publikationen bieten ein klar geordnetes Panorama, in dem sich die Biographie Wilhelms II. und der wissenschaftliche und technische Fortschritt durchdringen. Photographien aus der kaiserlichen Wohnung, Familien- sowie Reisebilder öffnen Einblicke in die Entourage des Monarchen und suggerieren intime Nähe, die abschließende Chronik bewahrt wegweisende Kaiserworte auf.102 Die populäre Darstellung präsentiert Wilhelm II. beim ›Durchregieren‹ eines ihm dankbaren Volkes, ohne dass mediale Störgrößen und Skandale diese Eintracht entstellen. Mehr Sinn für das Tatsächliche zeigt das dreibändige Kompendium Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., entstanden zum 25-jährigen Thronjubiläum unmittelbar vor dem Krieg unter der Schriftleitung des Kronsyndikus und Fürstenerziehers Philipp Zorn. Die konservative Gesamtschau hat den An97 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Darmstadt: WBG 1998, S. 276. 98 Laut Kohlrausch: Der Monarch (Anm. 95), S. 293f. gehört es zu den Wirkungen der DailyTelegraph-Affäre, dass der Gedanke an eine Abdankung Wilhelms II. populär wird. 99 Vgl. Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München: Oldenbourg 2009, S. 474 u. 487. Skandale werden nicht allein von der politischen Linken ausgelöst, sondern entstehen auch im konservativen Milieu (vgl. ebd., S. 397). Veränderte Anforderungen sind etwa im Unterwerfen von Wilhelm II. unter bürgerliche Leistungsethiken zu sehen. Vgl. dazu Kohlrausch: Der Monarch (Anm. 95), S. 466. 100 Vgl. Frank Bösch: Das Zeremoniell der Kaisergeburtstage. In: Biefang, Epkenhans u. Tenfelde (Hg.): Das politische Zeremoniell (Anm. 94), S. 53–76, hier S. 67–70. 101 Georg W. Büxenstein: Unser Kaiser. Zehn Jahre der Regierung Wilhelms II. 1888–1898. Berlin u. a.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J. [1898], Vorwort unpag. Der erfolgreiche Verleger Richard Bong etabliert ein weit verzweigtes Verlagsnetz, das eine Fülle populärer Publikationen betreut, u. a. die Zeitschrift Für Alle Welt. 102 So bei Adolf v. Achenbach u. a. (Hg.): Unser Kaiser. Fünfundzwanzig Jahre der Regierung Kaiser Wilhelms II. 1888–1913. Berlin u. a.: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 1913.

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spruch, Zeitgeschichte objektiv zu dokumentieren. Eingelöst wird er durch Rechenschaftsberichte von 81 Experten, die zentrale Bereiche und Institutionen von Staat und Gesellschaft resümieren. Obwohl die Schriftleitung das Kaiserreich als eine gewachsene, sich selbst ermächtigende Nation vorstellt, die sich ihrer Vormachtstellung sicher sein kann, wird zugegeben, dass der Prozess der nationalen Selbstfindung nicht abgeschlossen ist. Nie zuvor sei die Gegenwart für die Mehrheit der Deutschen derart schwankend, »Wesen und Wert der eigenen Zeit« so unklar gewesen.103 Die Publikation ist bemüht, überall Fortschritte nachzuweisen und Rückschläge immerhin nicht sinnlos erscheinen zu lassen.104 Charakteristisch ist, dass Geschichte als ein fortgesetzter Arbeitszusammenhang begriffen wird, der von Krisen unerschüttert bleibt. Wilhelm II. führt das Werk Bismarcks bruchlos fort, allerdings mit dem Unterschied, dass die Großmachtstellung Deutschlands jetzt die Berufung zur Weltpolitik enthalte.105 Entsprechend weitet sich die Volkswirtschaft zur ›Weltwirtschaft‹, nationales Leben zum ›Weltleben‹ und das Deutsche Reich tritt mit der Thronbesteigung Wilhelms II. trennscharf in den Prozess der Globalisierung ein.106 Die populäre Zuspitzung strukturiert und bündelt den Lauf der Geschichte, da der »Übergang zur Weltpolitik […] [zwar] die Eröffnung neuer politischer Wege, die Erschließung neuer nationaler Aufgaben [bedeute], aber kein Verlassen aller alten Wege, keinen grundstürzenden Wechsel unserer Aufgaben.«107 Mit diesen in ihrer Komplexität weit unterschätzten ›Aufgaben‹ steigt die Erwartung an ihre Lösbarkeit, und man ersehnt eine Bewährung. Die Androhung von Kriegen – explizit wird das vor dem Hintergrund der Balkan-Krisen lapidar vertreten – führe in diplomatischer Hinsicht oft zum guten Verhandlungsergebnis, das sogar »für die Dauer die gefährlichen Gegensätze beseitigt. Kriegswolken gehören zum Bilde des politischen Himmels. Aber die Zahl derer, die sich entladen, ist ungleich geringer als die Zahl der Wolken, die sich verziehen.«108

103 Vorwort. In: Philipp Zorn u. Herbert Berger (Hg.): Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. 3 Bde. Berlin: Hobbing 1914, Bd. 1, S. V–VII, hier S. VI. »Selbsterkenntnis, Erkenntnis der zeitlichen Stärken und Schwächen, der Vollkommenheit und Unvollkommenheit der eigenen Leistungen und deshalb der künftigen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten: das ist es, was unserer Gegenwart vor allem fehlt. Wir bedürfen eines Maßstabes unserer Kräfte, um unser Wollen zu lenken, zu bändigen, zu spornen.« (Ebd.). 104 Sorgen bereitet die kostspielige Unterdrückung, Bewirtschaftung und Verwaltung der kolonisierten ›Schutzgebiete‹. Hier winkt bisher nur ein ideeller Gewinn, die Stählung des Willens. Vgl. Friedrich von Lindequist: Die Kolonien. In: Ebd., Bd. 1, S. 415–449. 105 Vgl. Bernhard Fürst von Bülow: Deutsche Politik. In: Ebd., Bd. 1, S. 5–136, hier S. 24–26. 106 Vgl. Sebastian Conrad: Globalisierungseffekte: Mobilität und Nation im Kaiserreich. In: Müller u. Torp (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich (Anm. 64), S. 406–421. 107 von Bülow: Deutsche Politik (Anm. 105), S. 25. 108 Ebd., S. 46.

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Am wenigsten selbstbewusst sind die Diagnosen zum Innenleben des Reiches. Eine Einheit von Volksgeist, Sitte und staatlichem Gesetz ist in der Moderne ausgeschlossen; es regiert der Partikularismus, wobei »alles Differenzieren [eben auch] ein Fortschreiten und Verfeinern« sei.109 Die Presse, das Vereinsleben, Kunst und Literatur werden gewürdigt. Korrekturbedarf besteht trotzdem, da das Differenzieren in Nivellierung und Zerrissenheit umschlagen kann: Das öffentliche Leben ist heute der große Leviathan, wie Hobbes den Staat genannt hat, das Übergreifende und Allgewaltige, das alles verschlingt und demgegenüber sich der einzelne nur mühsam in seiner Existenz und seinem Recht behauptet. Wer sich von ihm nicht völlig verschlingen und um Schwungkraft, Initiative und Selbständigkeit bringen lassen will, der muß alle Kraft aufbieten, um als einzelner zu bleiben und immer mehr zu werden, der er ist, eine Persönlichkeit, die sich neben dem Allgemeinen noch einige Sonderrechte vorbehält.110

Die Metapher vom Leviathan ist bemerkenswert. Sie rechtfertigt, dass gegen die Übermacht der Öffentlichkeit der starke Staat antritt, der für die politische Willensbildung wirklich zuständig sein soll. Notwendig sind aristokratische Elemente, die die öffentliche Sphäre und das Parlament einschränken. Man setzt nicht auf ein Aushandeln, sondern auf das ›Abschleifen‹ gesellschaftspolitischer Unterschiede. Im Ruf nach dem ›großen Mann‹ zeige sich zuletzt wieder das unverkennbar Deutsche: »[D]ifferenzierte Persönlichkeiten«, »Individuen, die anders und mehr sind als die Masse und die Menge der Vielen und Vielzuvielen,«111 heben die soziale Diversität nämlich in sich auf. Wahlrecht und Wehrpflicht kommen daher »auf dasselbe hinaus«, weil Uniformierung und Demokratisierung nur zwei Ausdrucksformen der gleichen Tendenz des Zeitalters sind.112 Im ›Ausblick‹ liest sich die Quintessenz der drei Bände im Jahr 1913 so: Reicher ausgestattet mit allen Mitteln, die ein Volk bereit stellen kann, sind wir Deutsche nie vor unsere Zukunft getreten. Wenn es schwere und große Aufgaben sind, die unser warten, so sind wir selten besser für sie vorbereitet worden als während der ersten 25 Jahre der Regierung unseres Kaisers.113

Im Laufe des Krieges wird die Popularität des Kaisers bis zu seiner Abdankung im November 1918 kontinuierlich abnehmen. Konkurrenz erwächst ihm durch neue Führerfiguren, allen voran durch Hindenburg, dessen Geburtstag bereits 109 Theobald Ziegler : Das öffentliche Leben. In: Zorn u. Berger (Hg.): Deutschland (Anm. 103), Bd. 3, S. 1653–1693, hier S. 1654. 110 Ebd., S. 1692f. 111 Ebd., S. 1658. 112 Ebd., S. 1657. 113 Friedrich Wilhelm von Loebell: Rückblick und Ausblick. In: Ebd., Bd. 3, S. 1697–1701, hier S. 1701.

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1917 wie ein neuer Nationalfeiertag begangen wird.114 Populäre Schriften, die auf den Darstellungsmodus einer zäsurlosen Kontinuität abonniert sind, tragen dazu bei, dass während des Krieges die Verbindung zwischen Monarch, Nation und Krieg nie hinterfragt wird.115

3.

Ressourcen des Krieges: 1914–1918

Mit dem Eintritt in den Krieg dominiert in Deutschland anfangs ein weit gefasster, integrativer Sinn von Volksgemeinschaft, der in erster Linie als ein Effekt mündlicher Kommunikation gelten kann und durch das Mittel der öffentlichen Ansprache und Proklamation hergestellt wird. Augenzeugenberichte und Zeitungsmeldungen sorgen für eine unmittelbare und weite Verbreitung.116 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht einmal mehr die ambivalente Figur des Kaisers, von der ein vielgelesener Sachbuchautor und Biograph wie Emil Ludwig später schreiben wird, dass sie die Gestalt eines »mädchenhaften Knaben« hat und jedem Versuch widersteht, »das innere Wesen in eine bestimmte Form zu zwängen«.117 In seinen beiden Balkonreden vom Berliner Stadtschloss am 31. Juli und 1. August und in der Thronrede vor dem Reichstag am 4. August 1914 verfolgt Wilhelm II. eine populäre Adressierungsstrategie, die auf die Allinklusion der im Deutschen Reich lebenden Untertanen setzt. Dabei hilft auch die »Bündnispflicht«, die eine Erneuerung »der alten Kulturgemeinschaft« zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn »gegen den Ansturm feindlicher Kräfte« von außen erwirkt. Der Volkskörper ist symbolisch in Form einer Menschenmenge und durch Repräsentationsorgane anwesend. Wilhelms Aufruf ergeht an »die Völker und Stämme des Deutschen Reichs«, die im Moment des Vortrags vereinigt und als erneuerte Volksgemeinschaft im Reichstag zu Protokoll gegeben werden: »Sie haben gelesen, meine Herren, was Ich an Mein Volk vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Hier wiederhole Ich: Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche. (Langanhaltendes brausendes Bravo.)«118 Wilhelm II. greift auf rhetorische Strategien eines absolutistischen Souveräns zurück: Die politisch-monarchische Gewalt der Rede (als potestas) 114 Vgl. Bösch: Zeremoniell (Anm. 100), S. 75 und Wolfram Pyta: Paul von Hindenburg als charismatischer Führer der deutschen Nation. In: Frank Möller (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation. München: Oldenbourg 2004, S. 109–147, hier S. 125–135. 115 Vgl. Kohlrausch: Der Monarch (Anm. 95), S. 310. 116 Vgl. zu den medialen Umständen des Augusterlebnisses Verhey : Der »Geist von 1914« (Anm. 16), S. 116–125. 117 Emil Ludwig: Wilhelm der Zweite. München: Rütten + Loening 1964 [1925], S. 12. 118 Wilhelm II.: Thronrede [4. 8. 1914]. In: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Bd. 306. Berlin: Norddt. Buchdruckerei u. Verlags-Anstalt 1916, S. 1f.

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erteilt die Befugnis zur militärisch-körperlichen Gewalt gegen die äußere Bedrohung (als violentia). Gleichzeitig soll jedwede soziale und gesellschaftliche Differenz nach innen ab-, nach außen jedoch radikal aufgebaut werden. Das wird auch juristisch gestützt. Denn mit der Versetzung des Reichs in den Kriegszustand wird das ›Gesetz über den Belagerungszustand‹ wirksam, mit dem die ›Suspension‹ der freien Meinungsäußerung in Wort, Schrift, Druck und Bild in Kraft tritt. Dadurch wird verhindert, dass militärtaktische Belange wie die Aufstellung und Verteilung der Truppen und des Kriegsgeräts preisgegeben werden.119 Die von Wilhelm II. behauptete Inklusion aller Volksteile bedient sich in weitestem Umfang an der Semantik des Volksbegriffs, wobei die Thronrede ihr Überzeugungspotential aus einer mindestens doppelten Bezogenheit schöpft. Eine latente Vorgeschichte der nationalen Identitätsbildung, die archaische und mythopoetische Ursprünge liefert, ist verknüpft mit Rückgriffen auf politische Ereignisse wie die Befreiungskriege oder die Reichsgründung 1870/71, die konkrete Beispiele eines erfolgreichen kollektiven Zusammenschlusses unter den Bedingungen der »Noth« beisteuern sollen und die in der zeitgenössischen Erinnerung noch präsent sind. So reaktiviert der Aufruf zur Bündnispflicht nach Wilhelm Wundt die »geschichtlichen Erlebnisse einer Volksgemeinschaft« des Deutschen Reiches, das aus der vorstaatlichen und vorvertraglichen »Willensgemeinschaft der deutschen Stämme« hervorging, »die diese Vereinigung erstrebte«,120 und verbindet sie mit der Vorstellung des einheitlich organisierten Kollektivkörpers, der nun erneut einem Verteidigungskrieg ausgesetzt ist.121 Mit der Kriegserklärung verbindet sich sofort die Rede von einer schicksalsreichen »Erschütterung«, die »über jede Seele in Deutschland« gekommen ist und unweigerlich zu der Annahme verleitet: »ein anderes Deutschland, als das in diesen Krieg hineinging, wird aus ihm hervorgehen.«122 Kaum bemerkbar 119 Vgl. Kurt Koszyk: Entwicklung der Kommunikationskontrolle zwischen 1914 und 1918. In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg. Texte und Quellen. Berlin: Spiess 1973, S. 152–193, hier S. 152–156. 120 Wilhelm Wundt: Über das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft [1891]. In: Ders.: Reden und Aufsätze. Leipzig: Kröner 1913, S. 36–65, hier S. 52. 121 Die Adressierung der in wirksamen Ursprungsnarrativen wurzelnden Volksgemeinschaft oder Volksnation kann sich 1914 auf die Tradition der Befreiungskriege berufen. Begründet wird sie mit der Proklamation »An Mein Volk« Friedrich Wilhelms III. vom 17. März 1813. Erstmals in der preußischen Geschichte wendet sich ein Regent direkt an ›das‹ Volk und beschwört dessen Einheit gegen die »Uebermacht Frankreichs«, die im Oktober desselben Jahres mit der Völkerschlacht bei Leipzig ein Ende finden wird: »Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer! Ihr wißt was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt, Ihr wißt was euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden.« (Friedrich Wilhelm III.: An Mein Volk [17. 3. 1813]. In: Schlesische privilegirte Zeitung, Nr. 34 vom 20. 3. 1813, unpag.). 122 Georg Simmel: Deutschlands innere Wandlung [1914]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 15.

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macht sich allerdings eine klare Enttäuschung über die »weltbeherrschenden Nationen«, die ihre »Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte« nicht ohne kriegerische Mittel auszutragen imstande sind.123 Diese Ausgangslage verhilft nicht nur den historischen Einordnungsversuchen zu Kriegsbeginn, sondern auch der späteren Forschungsgeschichte zu einer narrativen Einkleidung, die sich am zeitgenössischen Begriffsmaterial bedient oder dessen Semantik weiterführt. Zudem werden die beiden Weltkriege häufig zu einer sich totalisierenden, gewaltintensivierenden »Erfahrungseinheit«124 mit dem Endpunkt Hiroshima verbunden. Davon abweichende, nicht minder wirkungsreiche Beschreibungsversuche verstehen den Krieg »als Kulminationspunkt und Katalysator der Aggressions- und Vernichtungspotenziale des wissenschaftlichtechnischen Zeitalters der Hochindustrialisierung, das auf den Schlachtfeldern von 1914 bis 1918 zu sich selber fand.«125 Unter dem Eindruck dieser forschungsrelevanten Voraussetzungen, die oftmals zwischen dem Krieg als ›Urkatastrophe‹ oder als ›Katalysator‹ changieren, kann die Neuschöpfung der ›Darstellungsressource‹ als Beschreibungskategorie hilfreich sein. Sie ermöglicht eine wechselseitige Bezugnahme zwischen 1. Literatur, Publizistik und populären Medien, die eine Kulturgeschichte des Krieges betreiben, 2. dem Kriegsdiskurs und 3. dem Krieg als militärisches Geschehen. In der Diskussion um Popularisierungsprozesse und um das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit oder auch von Wissenschaft und Politik ist der Ressourcenbegriff seit einiger Zeit implementiert. Dort geht er über die »gängige, ökonomische Bedeutung hinaus«: »Die Ressourcen, die hier gemeint sind, können wohl finanzieller, aber sie können auch kognitiver, apparativer, personeller, institutioneller oder rhetorischer Art sein.«126 Die Wissenschaftsfor-

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Hg. von Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis u. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 273–285, hier S. 273. Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 4 (1915) H. 1, S. 1–21, hier S. 2. Bruno Thoß: Die Zeit der Weltkriege – Epochen als Erfahrungseinheit? In: Ders. u. HansErich Volkmann (Hg.): Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Paderborn: Schöningh 2002, S. 7–30. Vgl. auch Chickering: Der totale Krieg (Anm. 7), S. 254: »Die Erzählung des totalen Krieges hat dennoch die steigende Kriegsintensität seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hervorgehoben. In den meisten Untersuchungen fehlt aber der Hinweis auf die Begriffsdefinition der Intensität, geschweige denn auf einen Intensivierungsmaßstab.« Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator? In: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 12. 7. 2004, Nr. 29–30: 90 Jahre Erster Weltkrieg, S. 30–38, hier S. 38. Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands. In: Jürgen Büschenfeld, Heike Franz u. FrankMichael Kuhlemann (Hg.): Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte 2001, S. 117–134, hier S. 118.

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schung versucht damit, das Beziehungsgeflecht zwischen dem Wissenschaftssystem und anderen gesellschaftlichen Bereichen freizulegen. Sie fragt darum nach den »gegenseitigen Ressourcenmobilisierungen« und nach der Vielschichtigkeit der »Ressourcenensembles«, die dabei kombiniert werden können.127 Neben der rein inhaltsbezogenen, thematisch oder motivisch verstandenen Ressource von Krieg, die das agenda setting im öffentlichen Raum prägt, sind es insbesondere form- und repräsentationsbezogene Ressourcen, die in einer wechselseitigen Bezugnahme zum Krieg stehen.128 Diese Ressourcen der Darstellung umfassen Gattungsdispositionen, medienästhetische Formgebung sowie Darbietungsabsichten, -funktionen und -verfahren. All das wird aber nicht im Sinne einer kathartischen Reinigung gelöscht und durch ganz anderes abgelöst, sondern unter den gewandelten historischen Bedingungen und im Sinne der Totalität des Weltkriegs neu besetzt. Je nach Ressourcenensemble lassen sich dementsprechend andere Entwicklungs- und Diskurslinien ziehen oder Zäsurbildungen vornehmen, für die das Populäre insgesamt sensibilisiert. Gerade deswegen kann das Populäre aber auch nicht auf Darstellungsressourcen verzichten. Sie verhelfen ihm zu seiner medialen und textlichen Realisation. Freilich bleibt die ökonomische Erstbedeutung des Ressourcenbegriffs mit dem Krieg und zumal in der Materialschlacht unumstößlich. Vor Kriegsbeginn gelten »die Beschaffenheit des Landes«, das umkämpft werden soll, und »seine Ressourcen« für das militärische Vorgehen als äußerst bedenkenswert.129 Mit der englischen Seeblockade, bei der knapp die Hälfte aller deutschen Importe aus Übersee plötzlich entfällt, und der darauffolgenden Gründung der Kriegsrohstoffabteilung im August 1914, die Walther Rathenau leitet und Verbrauchssenkungen sowie eine radikale Zwangsbewirtschaftung einzuführen hat, gewinnt die Knappheit von wirtschaftlichen Ressourcen schnell eine hohe Brisanz für die deutsche Bevölkerung an der Heimatfront. Im ›Kohlrübenwinter‹ 1916/ 17 müssen nach dem geringen Ertrag der Kartoffelernte »Ersatzmittel« zur Ernährung gefunden werden: »Überall wo die Kartoffelversorgung Schwierigkei127 Mitchell G. Ash: Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander. Weiterführende Bemerkungen zur Beziehungsgeschichte. In: Sybilla Nikolow u. Arne Schirrmacher (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York: Campus 2007, S. 349–362, hier S. 352. Zur weiteren Diskussion vgl. auch Arne Schirrmacher : Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 73–95, hier S. 88–90. 128 Damit kann freilich auch das Verhältnis von politischer und semiotischer Repräsentation Berücksichtigung finden. Vgl. dazu W. J. Thomas Mitchell: Repräsentation. In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 17–33. 129 Major a. D. Max von Schreibershofen: Führung und Verpflegung der Millionenheere. In: Die Grenzboten 72 (1913) Bd. 2, S. 540–550, hier S. 546.

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ten bietet, sollte man deshalb zur Kohlrübe greifen«,130 so die Maßgabe in der Lebensmittelkrise. Zudem erlässt die 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff Ende August 1916 und als Reaktion auf die für Deutschland verlustreichen Schlachten an der Westfront das Hindenburg-Programm, mit dem die Mobilisierung aller noch verfügbaren Reserven zum Krieg eingefordert wird. Eine letzte »Steigerung der Waffen- und Munitionsbeschaffung«131 soll binnen sechs Monaten die Munitionsproduktion verdoppeln, und die Zufuhr von Maschinengewehren und Geschützen gar verdreifachen, kann bis zum Frühjahr 1918 den Rohstoffmangel jedoch nicht umgehen. Zu den kriegswirtschaftlich verstandenen Ressourcen zählt endlich auch der quantitative Einsatz von Medientechnik. Die »modernen technischen Verbindungs- und Nachrichtenmittel«, wie sie mit der Telegraphie und dem Telefon im Kampf erprobt werden, bringen es mit sich, dass deren einzelne »Unterkunftsorte« »reichlich mit Personal und Material ausgerüstet« sein müssen.132 Hiermit ist allerdings nur die vordere Sinnebene von Ressourcen angesprochen. Denn anders als Rohstoffe, wirtschaftliche, kriegs- und medientechnische Ressourcen, die entweder natürlich vorhanden sind oder industriell gefertigt werden und deren Knappheit die OHL wie im Falle des ›Stahlmangels‹ beklagen kann, gehen Darstellungsressourcen allererst aus einem kulturellen Herstellungs- und Formungsprozess hervor. Deswegen sind sie praktisch unerschöpflich und unaufbrauchbar. Im Gegenteil: Jeder neue Gebrauch aktualisiert die Repräsentationsformen und Deutungsmuster, die sich diskursgeschichtlich bereits angelagert haben. Diese hintere Sinnebene von Ressourcen als Darstellungsressourcen setzt der Krieg mit der vorderen kongruent. Vor allem die medientechnischen Ressourcen an der Front werden mit den darstellerischen Ressourcen eng abgestimmt. Denn die OHL bemüht sich nicht nur, die geschaffenen Kommunikationsstrukturen zur Verbreitung von militärisch relevanten Sachinformationen zu nutzen. Auch die moralische Verfassung des Heeres, sein Siegeswille und seine Kampfentschlossenheit müssen bei zunehmender Kriegsdauer gefestigt und aufrechterhalten werden. Ludendorffs »Leitsätze für den vaterländischen Unterricht unter den Truppen« vom 29. Juli 1917 geben in diesem Zusammenhang einen detaillierten Aufschluss über die qualitativen Gebrauchsvorschriften von Medienangeboten an der Front. Durch die Armeeoberkommandos fernzuhalten sind etwa »Flugblätter vom Feind und 130 Württembergische Landeskartoffelstelle: Kohlrübe statt Kartoffel. [Flugblatt mit Anweisungen für Kommunalverbände zum Kohlrübengebrauch. Oktober 1916], unpag. Abrufbar unter https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/d2a04241 (Stand: 15. 12. 2014). 131 Erich Ludendorff: An das Kriegsministerium [6. 2. 1917]. In: Ders. (Hg.): Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18. Zweite, durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Mittler & Sohn 1921 [1920], Nr. 1, S. 158f., hier S. 158. 132 von Schreibershofen: Millionenheere (Anm. 129), S. 541.

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aus der Heimat«, die »auf die Stimmung der Truppe nachteilig« wirken. Weiterhin sollen »nicht erklärliche Stimmungen« durch »Aufklärung« von Ranghöheren festgestellt und zerstreut werden. Und auch die Beschaffung des Unterrichtsmaterials ist genauestens geregelt: »Den Stoff zum vaterländischen Unterricht besorgt das Kriegspresseamt und leitet ihn den Bedarfsstellen zu«, wobei die Inhalte für Inklusionsleistungen funktionalisiert und insoweit popularisiert werden. Das Material – Wochenschauen, Kriegsnachrichten, Broschüren, Bilder, Plakate und Flugblätter – wird »dem Verständnis der Mannschaften angepaßt«. Seine Verwertung geschieht durch »Vorträge, Unterhaltungsabende, Feldkinos und Theateraufführungen«, »Feldpredigten«, »Armeezeitungen«, »Feldbüchereien« und »Feldbuchhandlungen«. Eine Diskussion beim »Abhalten des vaterländischen Unterrichts« ist untersagt. Zur Anschlusskommunikation »empfiehlt sich die Einrichtung von Fragekästen und Auskunftsstellen für alle Fragen, die den einzelnen Mann in bezug auf seine heimatlichen Verhältnisse betreffen.«133 Damit sollen der Intention nach die Sozial- und Vermittlungszusammenhänge gestiftet werden, in denen die Gegenstände des vaterländischen Unterrichts »dauernd mit Nachdruck« verhandelt, die Kampfmoral gefördert und auch die wirtschaftlichen Ressourcen, »Rohstoffe und Munitionsersatz« als »gesichert« ausgewiesen werden können.134 An derartigen Bilanzen aus der zweiten Hälfte des Krieges lässt sich für die beiden Bedeutungsebenen des Ressourcenbegriffs eine umgekehrte Proportionalität ausmachen. Je deutlicher die äußere Bedrohung durch die Schlagkraft der Alliierten und die geringer werdenden eigenen Wirtschaftsressourcen vor Augen tritt, desto entschiedener muss auf populäre Darstellungsressourcen zurückgegriffen werden und desto stärker sind »die verschiedenen Mittel der Aufklärung […] zu vereinigen.«135 Das gilt für die Kriegs- wie für Heimatfront, die in gleicher Weise vom Kriegspresseamt ›unterrichtet‹ werden soll. Gegenüber dem kleineren Teil von einfachen Schützengrabenzeitungen mit Titeln wie der Drahtverhau oder Der bayerische Landwehrmann, die von und für Soldaten und mit eigensinnigem Humor selbst hergestellt werden, überwiegen die zahlreichen Armeezeitungen, die hinter der Front entstehen, in hohen Auflagen erscheinen und ab März 1916 unter die völlige Aufsicht der neu eingerichteten Feldpressestelle gestellt sind. Für die Bekämpfung von Kriegsmüdigkeit, die nach den Großoffensiven in den eigenen Reihen auftritt, wird der so »verordnete Kriegsdiskurs«136 zum wichtigsten Instrument zur Erhaltung des Durchhalte133 Erich Ludendorff: Leitsätze für den vaterländischen Unterricht unter den Truppen [29. 7. 1917]. In: Ders. (Hg.): Urkunden der Obersten Heeresleitung (Anm. 131), S. 271–279, hier S. 273. 134 Ebd., S. 274. 135 Ebd. 136 Julien Collonges u. Carine Picaud: Erlebnisberichte und Propaganda: die Frontzeitungen

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Abb. 1: Produktion der Zeitung der 10. Armee in Wilna

Abb. 2: In der Buchbinderei. Bildquelle: Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek, IAH 53

des Ersten Weltkriegs. In: Christophe Didier (Hg.): In Papiergewittern. Die Kriegssammlungen der Bibliotheken. Paris: Somogy 2008, S. 104–108, hier S. 105. Zu Struktur und

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willens. Bereits im Oktober 1915 wird aufgrund der englischen Seeblockade und der daraus erwachsenden sozialen und wirtschaftlichen Spannungen ein Kriegspressebüro eingerichtet, das die Stimmung im Inneren zu kontrollieren und positiv zu beeinflussen hat.137 Doch auch unabhängig von derartigen zentralistischen Organisationsplänen und schon vor und zu Beginn des Krieges stehen entsprechende Darstellungsressourcen bereit. Sobald der volkserzieherisch motivierte Popularisierungsdiskurs auf die neuen ereignisgeschichtlichen Voraussetzungen des Krieges trifft, geraten die populären Schreibvorhaben unter einen Sachzwang, der die inhaltliche Bezugnahme auf das Geschehen unausweichlich macht. Eine Abhandlung wie Händler und Helden (1915) des Soziologen und Volkswirts Werner Sombart führt diesen Zwang in polemische Extreme. Sombart stellt außerdem eine wirkungsreiche, popularisierende Verbindung zwischen der wirtschaftlichen und der darstellerischen Dimension des Ressourcenbegriffs her. Er kritisiert den »Handels- und Geldkrieg« der Engländer, die am eigentlichen »Waffenkampf« kein wahres Interesse zeigen, ihn allenfalls »nach dem Grundsatze des Söldnerheeres« führen.138 Hierdurch entsteht eine pauschalierte Verurteilung des englischen ›Händler- und Krämertums‹, das als begriffliche und motivische Ressource ein Feindbild zu konturieren hilft, wie es im weiteren Verlauf des Krieges pausenlos abgefragt werden kann. Ausschlaggebend hierfür ist Sombarts universalistischer Deutungsanspruch. Der Krieg zwischen Deutschland und England umfasst mehr als das bloße Aufeinandertreffen zweier Soldatenheere. Vielmehr stoßen – der Titel verdeutlicht das hinlänglich – eine ganze »händlerische und heldische Weltanschauung und dementsprechende Kultur« zusammen.139 Dieser für die Bewertung der Ereignisse gewählte Abstraktionsgrad ist derart hoch, dass alle Folgeargumente in eine semantische Opposition gezwungen werden. Nichts anderes hatte schon Ernst Haeckel in seinen Weltanschauungsschriften des späten 19. Jahrhunderts im Kampf gegen Dualisten und Theisten versucht. Als Darstellungsressource gehen die dort generierten Deutungsmuster und Verbreitungsmechanismen aus dem Popularisierungs- in den Kriegsdiskurs über. Der Krieg erweist sich schließlich als medialer »Kampf um die Meinungshoheit«,140 der sowohl gegen die militärischen Feinde als auch innerhalb der eigenen Reihen an der Front und in der Heimat geführt werden muss. Doch ebenso wie die Medien der Kriegspropaganda die zunehmende

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Funktion der Pressestellen vgl. auch Koszyk: Kommunikationskontrolle (Anm. 119), S. 156–162. Vgl. Leonhard: Büchse der Pandora (Anm. 1), S. 583. Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1915, S. 44f. u. 42. Ebd., S. 4. Leonhard: Büchse der Pandora (Anm. 1), S. 583.

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Knappheit von wirtschaftlichen Ressourcen tabuisieren und ein stetes Bild ökonomischer Stärke entwerfen, kann sich in diesem zweiten Kampf die gesellschaftliche Komplexität insgesamt auch nur scheinbar in klare Dichotomien auflösen.141

4.

Nachkämpfe und Kriegslehren: 1918–1929

Die kontinuierliche Mobilisierung und Verwendung des Krieges als Darstellungsressource fällt nach Kriegsende nicht sonderlich schwer. Sie kann sich unter den mediengeschichtlichen Bedingungen eines rasch ausdifferenzierten Literaturbetriebs in der Weimarer Republik trotz der wirtschaftlichen Krise ohne große Hindernisse vollziehen. Zudem bringt der verlorene Krieg – perspektiviert man ihn mentalitäts- und bewusstseinsgeschichtlich – die Konsequenz mit sich, auch noch »Kontinuität, Perspektive und Sinn der Existenz verloren zu haben.«142 Diese paradoxe Ausgangslage hat Folgen für das öffentliche Bild von Autoren. Es changieren der Eindruck und die Erwartung einerseits zwischen den alten und neuen Dichtergrößen von Walther von der Vogelweide bis zu George, die mit politischen und kulturellen Führungsfunktionen versehen werden und – sofern noch lebend – entsprechende Karrieren machen können, und andererseits den vielen Produzenten von Unterhaltungs- und Massenlesestoffen, die der kommerzialisierte Buchmarkt permanent verlangt.143 In diesem ständig wachsenden »Zauberwald der Neuerscheinungen«,144 wie Carl von Ossietzky 1929 kritisch resümiert, zählt vor allem der Verkaufserfolg. Von einer allgemeinen »Lesemüdigkeit«,145 die bisweilen auf die mediale Konkurrenz zwischen Literatur, Publizistik, Rundfunk und Kino zurückgeführt wird, oder 141 Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf: Droste 2003, S. 53 spricht in diesem Kontext von einer »schleichenden Entlegitimierung des Staates«, die »Anfang 1918 unumkehrbar« wird. Wenn der Staat für die grundlegendsten Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Sicherheit) nicht mehr sorgen kann, erhält schließlich nur noch die Hoffnung auf einen erfolgreichen militärischen Ausgang die innere Ordnung aufrecht. 142 Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik. München: Fink 1986, S. 186. 143 Vgl. jeweils Ulrich Fröschle: Dichter als Führer und Ingenieure der menschlichen Seele. Zur literarischen Verhandlung von Führung in der Zwischenkriegszeit. In: Ute Daniel u. a. (Hg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren. München: Oldenbourg 2010, S. 205–231 sowie Walter Delabar : Klassische Moderne. Deutschsprachige Literatur 1918–33. Berlin: Akademie 2010, S. 23–38. 144 Carl von Ossietzky : Ketzereien zum Büchertag [1929]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 5: 1929–1930. Texte 830–968. Hg. von Bärbel Boldt, Ute Maack u. Gunter Nickel. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994, S. 73–78, hier S. 75. 145 Anton Kaes: Schreiben und Lesen in der Weimarer Republik. In: Bernhard Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. München: Hanser 1995, S. 38–64, hier S. 51.

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einer speziellen ›Kriegsliteraturmüdigkeit‹ zur Mitte der 1920er Jahre, die mit einer ›Hausse der Kriegsliteratur‹ ab 1929 und dem Erscheinen von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues und Ludwig Renns Krieg endet, kann daher keine Rede sein.146 Die Kriegsliteratur dominiert stattdessen – wie die Statistik mittlerweile belegt – auf einem gleichbleibend hohen quantitativen Niveau während der Weimarer Jahre. Diese »Überproduktion von Druckwerken« kann in einem engen Wechselverhältnis zur »Demokratisierung der Lektüre« gesehen werden.147 Anders als die nach Kriegsbeginn schnell zurückgehenden »Massen feldgrauer Lyrik«148 bewahrt sich die Erzähl-, Roman- und Tagebuchprosa, auch mit Blick auf ihre Darstellungsressourcen, eine weitreichende publizistische Kontinuität mit großen Auflagenzahlen. Für die eher kurzlebige, formal limitierte populäre Lyrik bildet vor allem die Dichtung der Befreiungskriege von 1813 ein Text- und Formreservoir, auf das im Zuge der Hundertjahrfeiern ein emphatischer historischer Rückbezug stattfindet. Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner, Friedrich Rückert oder Max von Schenkendorf avancieren zu Vorbildern nationalen Dichtertums. Begeisterte Epigonen wie Ernst Lissauer, der mit seinem vielzitierten »Haßgesang gegen England« (1914) so etwas wie die literarisierte Vorlage für Sombarts Pamphlet liefert, erneuern die kriegerische Volkspoesie, beschwören von dort eine »Durchblutung aus der Tiefe des Volkes«,149 um dessen Gemeinschaftswillen wiederzubeleben und diesen von der Kulturlosigkeit der Feindnationen und den Oberflächenphänomenen einer sich als zersetzend wahrgenommenen Moderne insgesamt abzugrenzen. Zu Kriegsende ist der Wechsel vom Vers zur Prosa längst vollzogen. Die Prosa der Weimarer Jahre erweitert das Spektrum einer breit angelegten und um Faktizität bemühten Sachbuchliteratur150 ebenso wie das der zahllosen Regi146 Vgl. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi 2003, S. 11–16, hier S. 12. Zur älteren Annahme, dass nach 1918 »das Bedürfnis nach berichtender Kriegsliteratur wie das Interesse an fiktionalen Kriegsromanen und -novellen fast völlig versiegen« musste, vgl. Hans-Harald Müller : Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler 1986, S. 20. 147 Marion Janzin u. Joachim Güntner : Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. 2., verb. Aufl. Hannover: Schlüter 1997, S. 321. 148 Carl Busse: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Aus den Tagen des großen Krieges. Deutsche Kriegslieder 1914/15. Bielefeld, Leipzig: Velhagen & Klasing 1915, S. V–XXII, hier S. XV. Zur Kriegslyrik vgl. mit zahlreichen Beispielen Nicolas Detering, Michael Fischer u. AibeMarlene Gerdes (Hg.): Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Münster u. a.: Waxmann 2013. 149 Ernst Lissauer : 1813 und Wir. In: Die Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur 5 (1913/14) Bd. 1, S. 90–98, hier S. 92. 150 Vgl. gesondert dazu Christian Meierhofer, Michael Schikowski u. Jens Wörner (Hg.): Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg im Sachbuch. Non Fiktion 8/9 (2013/14) H. 2/1.

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mentsgeschichten und soldatischen Erfahrungsberichte, die weniger »kriegswissenschaftliches Werk« sein wollen, sondern »in erster Linie für die große Masse der Frontkämpfer« bestimmt sind und noch lange den »Austausch der Kriegserinnerungen« zu befördern haben.151 Der Weltanschauungskampf trägt sich auch in dieses Genre ein. Als Darstellungsressource wahrt der Krieg alle Deutungsoptionen für eine politisch totalitäre Zuspitzung, etwa in den militärischen Nachgängen, denen sich eine Anthologie des Generalleutnants Max Schwarte zu den Kriegslehren (1925) verschreibt. Die gefechtsstrategischen »Lehren und Anregungen, die daraus zu schöpfen sind, verlieren« – zumindest für die Offiziere als Beiträger der Sammlung – »nichts von ihrer Bedeutung«. Denn sie zeigen, »wie es nicht hätte gemacht werden sollen«,152 und damit implizit, wie es künftig zu machen wäre. Ein früherer Sammelband Schwartes gewährt dagegen einen Blick auf die politisch und sachlich durchaus gegenläufigen Einschätzungen und Lehren, die 1918 aus dem Krieg gezogen werden und in der Publikation gleichberechtigt nebeneinander zu stehen kommen. Bereits einige Monate vor Kriegsende erscheint in Leipzig und an recht prominenter Stelle bei Quelle & Meyer Der Weltkrieg in seiner Einwirkung auf das deutsche Volk. Der Band versucht Aufschluss über die Zeit nach dem Krieg zu geben, genauer : über »die Wirkungen des Weltkrieges in den wichtigsten Lebens- und Kulturgebieten unseres Volkes, in seinen Ständen und Berufen, in seiner körperlichen und geistigen Arbeit«. Man verspricht sich disziplinenübergreifende Hinweise auf die »Daseinsnotwendigkeiten und Zukunftshoffnungen«, die aus der drohenden, aber noch nicht direkt thematisierten Niederlage erwachsen.153 Die dann folgenden Abhandlungen beschäftigen sich mit militärgeschichtlichen Fragen der Kriegführung, der deutschen Innen- und Außenpolitik, der Volkswirtschaft und Volkswohlfahrt, der Rechtspflege und zuletzt auch mit dem sogenannten geistigen Leben. Der Eröffnungsaufsatz bleibt Ernst Troeltsch über »Das Wesen des Weltkrieges« vorbehalten. Und während das Geleitwort des Bestsellerautors 151 Karl Liedgens: Das Reserve-Infanterie-Regiment 65 im Weltkrieg 1914–1918. Köln: Ganter 1938, S. 4. Vor allem in der NS-Zeit kann »kriegsgeschichtliches Wissen« aus diesem Textfeld herangezogen werden, um der »jüngere[n] Generation« einen »Ersatz der fehlenden Anschauung« zu geben und ihr »zum Verständnis des wahren Wesens und zur Vorstellung des wirklichen Gesichtes des Krieges« zu verhelfen (Hein Greiner u. Eberhard Ebeling: Truppenkriegsgeschichte. Zwölf Beispiele aus dem Weltkriege 1914/18. Berlin: Mittler & Sohn 1939, S. 5). 152 Generalmajor von Borries: Nachtgefecht. Der Nachtangriff der deutschen 5. Armee in der Nacht vom 9./10. September 1914. In: Max Schwarte (Hg.): Kriegslehren in Beispielen aus dem Weltkrieg. Erster Band. Berlin: Mittler & Sohn 1925, S. 1–62, hier S. 2. 153 Max Schwarte: Vorbemerkung. In: Ders. (Hg.): Der Weltkrieg in seiner Einwirkung auf das deutsche Volk. Leipzig: Quelle & Meyer 1918, S. Vf., hier S. VI. Den Hinweis auf diese Publikation entnehmen wir der Studie von Barth: Dolchstoßlegenden (Anm. 141).

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Rudolf Herzog als wichtigste Kriegswirkung das im Kampf geformte »deutsche Volk«, die »Zusammenfassung seiner Deutschheit« und seine mythopoetische Wiederauferstehung geradewegs beschwört,154 zieht Troeltsch schon früh eine differenzierte Bilanz. Die führenden politischen Entscheidungsträger, die allein ein Ende des Krieges herbeiführen können, sind durch die allgemeine Wehrpflicht in Großbritannien und den USA abhängig von »populären Massenleidenschaften«, die »nicht mehr zu lenken sind, sondern immer neu aufgepeitscht werden müssen«. Daraus ergeben sich für Troeltsch zweierlei Rückschlüsse: Zum einen sei ein solcher Krieg prinzipiell zeitlich unbegrenzt, er kann »endlos dauern«. Zum anderen avanciere »die Verhetzung«, also der »Hang der Massen zum groben Moralisieren und die Beschränkung des Verständnisses der Kriegsgründe«, zur unausbleiblichen Voraussetzung der Kriegführung. Die Pointe bei Troeltsch lautet: Die Popularität des Krieges geht in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension grundlegend aus Mitteln hervor, die der »sich selbst vermehrende demokratische Radikalismus« zum Einsatz bringt. Dieser »moderne demokratische Krieg« hat die »Massenpsychologie« als sein »Gesetz« zu befolgen.155 Dieser Krieg war und ist aber außerdem ein »Wirtschaftskrieg«, der die beteiligten Staaten in einen internationalen »Konkurrenzkampf der geeinigten Nationalwirtschaften« zwingt.156 In diesem komplexen geopolitischen Geflecht bedarf es einer korrigierten, bescheideneren Idee der deutschen »Selbstbehauptung«, nämlich der »gleichberechtigte[n] und gesicherte[n] Einfügung Deutschlands in ein System nicht mehr der kontinentalen, sondern der planetarischen Mächtegruppierung«.157 Es überrascht nicht, dass sich sowohl überblickshafte als auch sehr themenspezifische Publikationen wie die beiden Anthologien Schwartes auf einem demokratisierten Buchmarkt, für den der Krieg ein Verkaufsgarant darstellt, tausendfach vertreiben lassen. Hier entscheidet allein das Interesse oder die »Uninteressiertheit des Publikums«,158 wie der Kunstdozent Arthur Kampf in seinem Beitrag zum Band ähnlich über die letzte Ausstellung von Schützengrabenbildern in der Berliner Akademie der Künste 1917 festhält. Klagen wie von Johann Georg Sprengel, der 1912 den Deutschen Germanistenverband mitbegründet und Schwartes Sammlung beschließt, über jene Publikationsfluten, die sich ausschließlich »weltbürgerlichem Ästhetentum und Geschmackskitzel, unvölkischem Kunst- und Literaturklüngel und blutlosem Geschäfts154 155 156 157

Rudolf Herzog: Zum Geleit. In: Schwarte (Hg.): Der Weltkrieg (Anm. 153), S. 1–4, hier S. 4. Ernst Troeltsch: Das Wesen des Weltkrieges. In: Ebd., S. 7–25, hier S. 10f. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 23. Vgl. dazu auch Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh 2004, S. 274f. 158 Arthur Kampf: Kunst. In: Schwarte (Hg.): Der Weltkrieg (Anm. 153), S. 439–445, hier S. 442.

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geist« zurechnen lassen, sind eine unabdingliche Folge. Allerdings lässt sich kaum übersehen, dass ein beachtlicher Teil insbesondere der Erzählprosa nach Kriegsende gerade von den Möglichkeiten des so geöffneten Buchmarktes profitiert, um jene weltanschauliche, volkstümelnde »Kraft der Selbstbesinnung« aufrechtzuerhalten oder zurückzugewinnen,159 die dem Weltkrieg auch nach seinem Ende immer noch zugesprochen wird. Beachtenswert bleibt hierbei, dass vor allem literarische »kriegskritische Texte« in Deutschland »eine nur als marginal zu bezeichnende Rolle« spielen,160 wenngleich »der literarische Protest jener Generation, die in der Blüte ihrer Jugend vom Krieg erfaßt und aufs Grausamste dezimiert wurde«,161 zeitgenössisch durchaus Notiz findet. Zugleich erweist sich die Kriegsliteratur »als wichtiges Material zur Problematisierung der Beziehung zwischen der ästhetischen Moderne und den Aporien kultureller Modernisierung« wie auch als »Schauplatz der Vermittlung von Erfahrung und Ideologie«.162 Die Vermittlungsanliegen und Schreibverfahren der Prosa, ihre textlichen Organisationsformen und Darstellungsressourcen im Umgang mit dem Kriegsgeschehen sind jedoch oft konservativ, mitunter sogar einfältig. Aus narratologischer Sicht ergibt sich dementsprechend eine Auffälligkeit: Während die Texte auf der Ebene des discours durchaus heterogene Erzähltechniken anwenden, verschiedene Deutungen des Krieges anbieten und sie mit politischen Wirkungsabsichten versehen, stimmen sie auf der Ebene der histoire, der Erzählgegenstände in aller Regel miteinander überein und leisten dort einen ontologisch gemeinten »Rekurs auf die tatsächliche Realität des Krieges«.163 Die Erzählinstanzen der Kriegsprosa folgen einer »soldatischen Form«164 des Ausdrucks. Als beliebter,

159 Johann Georg Sprengel: Literatur. In: Ebd., S. 457–477, hier S. 476f. 160 Thomas F. Schneider: Einleitung. In: Ders. u. a.: Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 7–14, hier S. 8. Speziell zur Perpetuierung des kriegskritischen Images von Remarque vgl. ders.: Das virtuelle Denkmal des unbekannten Soldaten. Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues und die Popularisierung des Ersten Weltkriegs. In: Korte, Paletschek u. Hochbruck (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur (Anm. 2), S. 89–98. 161 Franz Carl Weiskopf: Bücher vom Krieg [Magazin für Alle (Berlin) (1929) H. 4]. In: Bärbel Schrader (Hg.): Der Fall Remarque. ›Im Westen nichts Neues‹ – Eine Dokumentation. Leipzig: Reclam 1992, S. 70–72, hier S. 72. 162 Matthias Schöning: Programmatischer Modernismus und unfreiwillige Modernität. Weltkrieg, Avantgarde, Kriegsroman. In: Sabina Becker u. Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin, New York: de Gruyter 2007, S. 347–366, hier S. 349f. 163 Schöning: Versprengte Gemeinschaft (Anm. 16), S. 261. 164 Hans Carossa: Tagebuch im Kriege. Rumänisches Tagebuch. 23.–27. Tsd. Leipzig: Insel o. J. [1924], S. 13. Signifikant sind auch die ideologischen Wirkungseffekte, die sich in der handschriftlichen Widmung des Verfasserexemplars abzeichnen: »Über unserer persön-

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populärer Gegenstand des Erzählens bildet der Krieg sozusagen eine kaum zu erschöpfende thematische Ressource, mit der der literarische Diskurs seine Strategien, Formen und Techniken des Erzählens, seine Ressourcen der Darstellung freisetzen und nachhaltig erproben kann. Hierdurch kann die Prosa ihre ubiquitären Ausmaße annehmen, auch wenn sie erzählerisch kaum Innovatives hervorbringt. Nur einige Schlaglichter auf das dabei entstehende Spektrum und die literarischen Konstruktionsmöglichkeiten von je anderen Kriegserlebnissen seien an dieser Stelle geworfen. Neben immer wiederkehrenden Motiv- und Symbolgruppen wie den Schilderungen von der Ankunft der Figuren im Feld, den Handlungen in der Frontgemeinschaft als Sozialform sowie den Beschreibungen des gewaltsamen Kampfalltags, der Langeweile im Feld oder den Differenzerfahrungen im Heimaturlaub ziehen die Prosatexte nicht selten kulturgeschichtliches Wissen ein, um die eigene Form zu bestimmen oder den eigenen Erzählzusammenhang zu strukturieren. Walter Flex’ frühe und bis in die 1940er Jahre aufgelegte autobiographische Novelle Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916) etwa, die »zum Kultbuch der konservativen politischen Rechten«165 aufsteigt, nutzt die Chiffre Goethe, den Entwicklungsroman und einen neoromantischen Gestus zur erzählerischen Initiation. Der vorbildhafte Kamerad der Erzählerfigur ist bereits zu Beginn »ganz in Schauen und Schreiten versunken«, »ging aus Vergangenheit in Zukunft, aus den Lehrjahren ging er in seine Meisterjahre hinüber.«166 Das schult auch die volkstreue Wahrnehmung und Weltanschauung des ErzählerIchs, das den gesamten Akt der dann folgenden Narration von der Front unter die Prämisse männlicher Geistesführung stellt: »Als ein Wissender an Kopf und Herzen stieg der junge Kriegsfreiwillige von den lothringischen Bergen herab, um Führer und Helfer in seinem Volke zu werden.« Die in der Prosa früh ausgestellte Erfahrung von »Not und Armseligkeit der Vielen« im Feld autorisiert nach Kriegsende das massenhafte Schreiben über den Krieg.167 Allein die Teilnahme am Geschehen rechtfertigt seine schriftstellerische und publizistische Ver- oder Aufarbeitung, zumeist durch bis dato unbekannte Autoren. Die Konsequenz daraus ist wie schon bei der ›feldgrauen Lyrik‹ eine signifikant expandierende Textproduktion. Es braucht allerdings einige Jahre, bis das Mitteilen von Kriegserfahrungen in seinen Extensionen möglich wird. lichen Welt steht die Idee, für die wir uns opfern müssen. In innerer Verbundenheit dem lieben Arnold von seinem Georg. Krefeld, den 10. Aug. 1935«. 165 Hans Wagener: Wandervogel und Flammenengel. Walter Flex: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis (1916). In: Schneider u. ders. (Hg.): Von Richthofen bis Remarque (Anm. 146), S. 17–30, hier S. 18. 166 Walter Flex: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis. 45. Aufl. München: C. H. Beck 1919 [1916], S. 6f. 167 Ebd., S. 8.

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Schreibanlässe sind nach 1918 freilich genug geboten. Der nationalistische Franz Schauwecker bestimmt den Krieg im Abschnitt »Deutsche Sprache« seines Debutromans Im Todesrachen (1919) als »den großen Gegenstand, den gewaltigen Inhalt«, der den Autoren »unnachsichtlich die Federhand wie die Schwertfaust« führt. Paradoxerweise votiert Schauweckers Roman unmittelbar im Anschluss gegen die eigene Gattung und deren vielleicht wichtigstes Merkmal, die Fülle und das Ornamentale des Sprachmaterials. Der Krieg nämlich »duldet keine Wortverschleuderung, keine Dunkelheit und keine mißverständliche Nachlässigkeit und verträgt keine Gesuchtheit und Wortziererei.«168 Schauweckers Invektive richtet sich gegen die äußere Form und die Oberflächlichkeit solcher Texte, die als »müßige Erfindung« nicht »bei voller Wahrheit und Wirklichkeit des Dargestellten« bleiben.169 Der Krieg ist gewissermaßen zu ›heilig‹, als dass er in extenso beschrieben werden könnte. Die Ereignisse werden von allein Literatur, und die Kriegsautoren sind bereits ›reines‹ Medium, mit dem sich wiederum maximale Popularität erreichen lässt. Mit der Erfahrung aus dem brennenden Bad der Front wandeln sich langsam Urteil und Forderung. Meine Kameraden und ich – wir haben bei den meisten Romanen und vielen wissenschaftlichen, namentlich kunst-, musik- und literaturwissenschaftlichen Werken, als störenden Hauptfehler eins empfunden: die Verfasser reden zu viel. Mit andern Worten: der Stoff ist zu geringfügig, das Buch ist zu lang oder aber es ist zu wichtigtuerisch geschrieben.170

Angemahnt wird eine radikale Kürze und Klarheit der Darstellung, die sich orientiert am Knappheitsideal des Heeresberichts. Hier umschließt schon ein »einziger Satz« eine ganze »Welt von Menschenschicksalen«. Darüber hinaus verzichtet er fast ausnahmslos auf Fremdwörter, setzt stattdessen auf die »vorschriftsmäßigen Bezeichnungen der Truppengattungen und Einteilungen«.171 Schauwecker beklagt ein mangelndes »Sprachreinigungsstreben« und eine übertriebene »Fremdwörterei« der fiktionalen und nichtfiktionalen Kriegsliteratur sowie die Unfähigkeit oder auch Unlust ihrer gelehrten Verfasser, »volksverständlich zu schreiben«. Um dieser »Irreführung des Volkes zu entgehen«, bedarf es im Umkehrschluss einer neuen »Volkstümlichkeit«, für die die fachwissenschaftliche, esoterische Begriffssprache noch viel weniger taugt als die nicht genauer verhandelten populärwissenschaftlichen Klärungsversuche. »Das nach Belehrung verlangende Volk« findet in beidem keine Befriedigung 168 Franz Schauwecker : Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege. Halle: Diekmann 1919, S. 204. 169 Ebd., S. 205. 170 Ebd., S. 206f. 171 Ebd., S. 205.

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mehr.172 Es lässt sich – dies die Suggestion – nur noch mit militärischen Darstellungsressourcen adressieren und bilden. Die militärfunktionalen Textsorten und Sprachpraktiken des gerade beendeten Weltkriegs sollen die Maßstäbe für die Artikulation auch kommender Welterfahrung und Weltverarbeitung setzen. Die Publikationsflut der 1920er Jahre vermag Schauwecker, der selbst in schöner Regelmäßigkeit Romane produziert, jedoch nicht einzudämmen. Auch aus politisch gemäßigten Lagern wird moniert, dass »in der Kriegsliteratur eine kitschige ›Ueberproduktion‹ eingetreten« sei, die den »Büchermarkt« »überschwemmt«. Die von Frontsoldaten ursprünglich aus der »Tiefe ihres seelischen Erlebens« verfasste Romanprosa werde »heute verzerrt und verunstaltet, weil das Schreiben von Kriegsbüchern ein Geschäft geworden ist.« Neben den Ausnahmen Renn und Remarque stehe Schauwecker in der »nationalistischen Darstellung« allerdings mit Ernst Jünger »auf beachtlicher Höhe«.173 An Wortund Metaphernreichtum mangelt es den Texten jedenfalls nicht, wenn etwa in der Eröffnungssequenz von Aufbruch der Nation (1929) der bezugs- und tatenlose Schulalltag und die dort als pathologisch empfundene Langeweile den Krieg nachträglich als feierliche Erlösung denken lässt: »Es war nur Brotstudium, Beruf, Liebelei, Tennis, Mensur, Kneipe, Spezialarbeit, Pflicht, Vergnügen, Examen. Ein Gedicht des Vogelweiders wurde im Seminar auf Ablaut und Umlaut seziert und lag als Schauleiche mit enthäuteten Versfüßen auf dem Streckbett des Katheders.«174 Solche sentimentalischen Rückblicke sollen den kathartischen Effekt des Krieges plausibilisieren, der die deutsche Niederlage gänzlich überblenden hilft, sobald die Romanprosa für politische Extreme funktionalisiert wird, und dies nicht zuletzt unter Zuhilfenahme des Daseinskampfes als anthropologischer Konstante.175 Die Prosa pflegt zwar noch, wie es Schauwecker ursprünglich fordert, einen authentischen, objektivierten Umgang mit den kriegerischen Geschehnissen. Sie fungiert aber außerdem als »Vermächtnis« und »Erbe der Front« und soll die »heranwachsende[] Jugend« qua Lektüre »Auf den Weg« dorthin zurückbringen.176 Die populäre Deutungsarbeit am Krieg wird jedoch nicht nur auf dem Buchmarkt verrichtet. Auch die Entwicklung des Films ab 1895 und das Kino als 172 Ebd., S. 208. 173 Ernst Lemmer : Schluß mit den Kriegsbüchern! [Berliner Tageblatt vom 27. 6. 1930]. In: Schrader (Hg.): Der Fall Remarque (Anm. 161), S. 72–75. 174 Franz Schauwecker : Aufbruch der Nation. Berlin: Frundsberg 1930 [1929], S. 11f. 175 Vgl. unter »Rückversicherung einer autorintentionalen Analyse« Ulrich Fröschle: »Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln«? Franz Schauwecker : Aufbruch der Nation (1929). In: Schneider u. Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque (Anm. 146), S. 261–298, hier S. 265 u. 279f. 176 Adolf Hitler : Auf den Weg! In: Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz. 14. Aufl. München: Zentralverlag der N.S.D.A.P. 1935 [1931], S. 8.

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neue »populäre Institution« nehmen enormen Einfluss auf die öffentliche Diskussion und passen sich seit Beginn des ›nervösen‹ 20. Jahrhunderts den »alltäglichen Massenbedürfnissen« ihres großstädtischen Publikums an.177 Das Kino begleitet und treibt die »zivilisatorischen Umbrüche«178 der Moderne mit voran und dokumentiert in den Wochenschauen regelmäßig das Weltgeschehen. Schon vor dem Krieg gilt es als »der Unterhalter der breiten Volksschichten«, als ihr »Lehrer und Erzieher«179 und wird darum auch mit Trivialitätsvorwürfen belastet. Medienästhetisch vollzieht es eine rasch bemerkbare »neue Wendung zum Visuellen«,180 »dehnt sich […] mit seinem lebenden Material aus« und stillt einen omnipräsenten »Bilderhunger«.181 Aufmerksamkeit generieren insbesondere gewaltsame Inhalte. Es entwickelt sich eine »schaurige Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod«, »die das Volk wie besessen in den Kino reißt.«182 Diese Schaulust geht in den Weimarer Jahren nicht verloren. Gleichwohl bedarf es, folgt man aktuellen filmgeschichtlichen Darstellungen, neuer Repräsentationstechniken und symbolischer Aufladungen, um den traumatischen Erfahrungen des Grabenkriegs im Nachhinein filmisch zu begegnen. Das Massensterben findet nicht selten eine nur implizite, mentalitätsgeschichtliche Verhandlung, etwa wenn der Vampir Graf Orlok – die Nähe des Namens zum mittelniederländischen Orlog (Krieg) ist schlagend – in Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) die Pest von den Karpaten in die kleine Hafenstadt Wisbourg trägt und das Leid allein durch das Selbstopfer der weiblichen Hauptfigur abgewendet werden kann.183 177 Jörg Schweinitz: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914. Leipzig: Reclam 1992, S. 5–12, hier S. 7. Eine neuere Sammlung zeitgenössischer Theoriekonzepte stammt von Christian Kiening u. Heinrich Adolf (Hg.): Der absolute Film. Dokumente der Medienavantgarde (1912–1936). Zürich: Chronos 2012. Eine frühe wissenschaftliche Auseinandersetzung leistet die zuerst bei Eugen Diederichs verlegte Dissertation von Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Neu hg. von Andrea Haller, Martin Loiperdinger u. Heide Schlüpmann. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld / Roter Stern 2012 [1914]. 178 Klaus Kreimeier : Dispositiv Kino. Zur Industrialisierung der Wahrnehmung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Harro Segeberg (Hg.): Mediengeschichte des Films. Bd. 3: Die Perfektionierung des Scheins. Das Kino der Weimarer Republik im Kontext der Künste. München: Fink 2000, S. 17–34, hier S. 17. 179 Franz Pfempfert: Kino als Erzieher [1911]. In: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verständnis von Literatur und Film 1909–1929. Tübingen: Niemeyer 1978, S. 59–62, hier S. 61. 180 B¦la Bal‚zs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachw. von Helmut H. Diederichs u. zeitgenössischen Rezensionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 [1924], S. 16. 181 Anonym: Neuland für Kinematographentheater [1910]. In: Kaes (Hg.): Kino-Debatte (Anm. 179), S. 41. 182 Walter Serner : Kino und Schaulust [1913]. In: Ebd., S. 53–58, hier S. 54. 183 Zu dieser Deutung der »mental and emotional aftershocks« im Weimarer Kino vgl. Anton

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In Ergänzung zu diesen fiktionalen, experimentellen Narrativierungsversuchen dient das Genre der »Militärfilme«, einer Bemerkung Siegfried Kracauers zufolge, nach wie vor der »Volkserziehung«.184 Hier wird ganz unterschiedlichen Ansprüchen gefolgt, die sich meist im Grenzbereich von dokumentarischen und inszenatorischen Darbietungsgesten bewegen. Nicht selten sollen die entwickelten Präsentationstechniken das Gezeigte als authentisch bezeugen und es außerdem in einen nachkonstruierten Sinn- und Deutungszusammenhang heben. So können Szenen mit Kriegsveteranen an den militärischen Schauplätzen vor allem der Westfront im re-enactment nachgestellt, erklärende Zwischentitel oder trickanimierte Landkarten eingefügt und historische Filmaufnahmen einmontiert werden, um historische Echtheit zu suggerieren. All das kann sowohl mit Schauspielern komplettiert werden, die symbolisch besetzte Figuren mimen, als auch mit Veteranen, die sich selbst spielen und dem Geschehen eine ideologisierende Richtung verleihen. Mit dem verstärkten Übergang vom Stumm- zum Tonfilm um 1929 erfährt der schnelle Transformationsprozess des Kinos und der Bildmedien noch einmal einen entscheidenden Wendepunkt. Denn erst jetzt wird die verheerende akustische Dimension des Stellungskrieges in Ansätzen darstellbar – der gewaltige Gefechtslärm, dem sich niemand entziehen kann und der zuvor und nicht zuletzt im Tagebuch als »Einbruchsstelle des Traumas«185 oder als »Schule des Horchens«186 beschrieben wurde. In den filmischen Präsentationen der Front, Etappe und Heimatfront, des Kampfalltags und der Langeweile im Feld, wie sie am Ende der Weimarer Jahre etwa die Kassenschlager Westfront 1918 oder Im Westen nichts Neues liefern, lehnen sich die Kriegsfilme zudem an ein großes Kontingent populärer Spielfilme an, das seit kurzem wiederentdeckt wird, aber nur in Bruchteilen überliefert ist. Von hier lassen sich noch einmal neue Darstellungsressourcen mobilisieren, um weitere »Szenarien des Zukunftskrieges« filmisch zu entwerfen und um die weit vor dem Krieg etablierte »Tradition populärer Genres« fortzuschreiben.187

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Kaes: Shell Shock Cinema: Weimar Culture and the Wounds of War. Princeton, Oxford: Princeton UP 2009, S. 94–98 u. 216. Siegfried Kracauer : Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino [1927]. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachw. von Karsten Witte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009 [1963], S. 279–294, hier S. 287. Helmut Lethen: »Knall an sich«: Das Ohr als Einbruchstelle des Traumas. In: Inka MülderBach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges. Wien: WUV 2000, S. 192–210. Vgl. dazu Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2005. Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1938. Paderborn u. a.: Fink 2006, S. 152. Philipp Stiasny : Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914–1929. München: Ed. Text + Kritik 2009, S. 238.

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5.

Christian Meierhofer / Jens Wörner

Zum Aufbau des Bandes

Der Band enthält Untersuchungen aus dem Bereich der Literatur-, Kultur- und Wissensgeschichte, der historischen Presseforschung sowie der Medien- und Filmwissenschaft. Die Aufsätze sind in vier Sektionen angeordnet, die auf eine Balance von diskursbeobachtenden Beiträgen und materialerschließenden Fallstudien abzielen. Die ersten fünf Beiträge der Abteilung »Diskursgeschichtliche Formationen« gruppieren sich um die Frage nach den historischen Rahmenbedingungen und kontextualisieren den Weltkrieg mit je unterschiedlichem Akzent. In seinem Eröffnungsbeitrag sucht Matthias Schöning nach einem metahistoriographischen Zugang zum Gebrauch und zur Funktion der Zäsur, die geschichtlichen Ereignissen zugemessen wird, dabei Zeiträume trennt und Epochen konstituiert. Der Beginn des Ersten Weltkriegs rückt als ›Zeitenbruch‹ in eine vergleichbare Nähe mit den Einschnitten von 1945, 1989 oder 2001. Zäsuren zeigen einen permanenten Bedarf der Bestimmung von historischen Unterschieden an, um Zeitdiagnosen anzustellen. Als Einschnitt bedeuten sie aber auch einen gewaltsamen Akt in der historiographischen Darstellung. Mit dem polemischen und seiner Wortherkunft nach kriegerischen Schreiben setzt sich Dirk Rose auseinander. Ausgangspunkt sind die radikalen, kulturkritischen ›Kriegserklärungen‹ der späten Nietzsche-Texte gegen das Deutsche Reich. Sie begleiten eine Entstehung von Moderne, die zuallererst auf den Bruch mit Traditionen und Autoritäten setzt und insoweit maßgeblich von Polemik bestimmt ist. In seiner performativen Logik weiterverfolgt wird dieser Prozess bei den politischen Schreibmotivationen der Brüder Hart, den Manifesten des Futurismus und dem diplomatischen Schriftverkehr im Sommer 1914. Die Kriegserklärung ist seit der Vormoderne ritualisiert und kann immer noch als Zeremoniell abgerufen werden, das jetzt über die medialen Verbreitungswege Eingang in die kulturelle Moderne findet. Der Kulturkritik um 1900 wendet sich auch Anna S. Brasch zu, richtet den Blick aber auf die Verhältnisse, die Kolonialismus und Imperialismus dabei erzeugen. Die Kulturkritik verschiebt sich im Zuge dessen auf eine Zivilisationskritik, die sich in der weltanschaulich-konservativ orientierten Publizistik eines Paul de Lagarde und Julius Langbehn ebenso niederschlägt wie im Kolonialroman des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen sind sozialdarwinistische Denkfiguren und soziologisch grundierte Konzepte von Vergemeinschaftung vorzufinden, die auf den kulturkritischen Diskurs in den Kriegsjahren hinüberwirken und hier schließlich die ›Ideen von 1914‹ narrativ auszukleiden helfen. Der Kolonialroman, der Konflikte und Aufstände in Übersee zur Darstellung bringt, bildet insofern jene therapeutischen Funktio-

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nen zur Profilierung einer deutschen Kulturnation vor, die von der späteren Kriegspublizistik abgefragt und an den Kontinentalkrieg angepasst werden. Die populärwissenschaftliche und weltanschauliche Schauseite des fach- und naturwissenschaftlichen Diskurses untersucht der Beitrag von Christian Meierhofer. Hierzu wird Popularität als graduelle Texteigenschaft etabliert, um jene Übertragungsleistungen beschreiben zu können, die der Popularisierungs- und Weltanschauungsdiskurs zur publikumswirksamen Durchsetzung seiner Konzepte erbringen muss. Der ›Kampf der Weltanschauungen‹ zwischen Darwinisten und Antidarwinisten, Monisten und Dualisten erweist sich als das Ergebnis einer langen populärwissenschaftlichen Diskursgeschichte, die sich im Weltkrieg über ihre publizistischen Vermittlungsformen recht problemlos fortschreibt und von den politischen Umständen kaum irritiert ist. Dem Verhältnis von Kriegsdiskurs und Lebenswissenschaften widmet sich Jens Wörner anhand von populären Vorträgen, Artikeln und Schriften, die Biologen vor, während und nach dem Krieg verfassen. Organisch-politisches Denken, der ›Zellenstaat‹ und der Darwinismus sind primäre Ressourcen für die Deutung des Weltkriegs und sie werden genutzt zur Begründung neuer ›Volksgemeinschaften‹. Inwiefern im Prozess der Politisierung die wissenschaftliche Forschungslage um die Jahrhundertwende fortwirkt, ist aber kaum untersucht. Darwins Theorie gerät in der Vorkriegszeit massiv in die Kritik und ein metaphysischer Lebensbegriff ist in der Biologie, die längst die Organisation des Lebens in Strukturen und Prozessen untersucht, keineswegs akzeptiert. Es zeigt sich, dass Fachexpertise und politische Ideologie im Weltkrieg nicht zwangsläufig fusionieren, sondern auf komplexe Weise sowohl durch Metaphern und Mythologeme als auch durch Konzepte und Argumente vermittelt sind. Die zweite Sektion zu »Publizistik und Sachbuch« stellt den diskursgeschichtlichen Fokus für die Analyse der militärischen und der medialen Materialschlachten während und nach dem Krieg scharf. Thomas F. Schneider beginnt mit einer Rekonstruktion des Tank-Diskurses und seinen populären Darstellungspotentialen in Literatur, Illustrierten und Bildbänden. Mit der zunehmenden militärstrategischen Bedeutung von Tanks an der Westfront in der zweiten Kriegshälfte etabliert sich sowohl eine sinnbildliche Maschinisierung des Krieges als auch eine materielle Überlegenheit der Alliierten gegenüber den deutschen Truppen. Diese Überlegenheit fordert zu einer breiten medialen Bearbeitung – nicht zuletzt in Text-Bild-Kombinationen – heraus, um die Deutungshoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, den ›Tankschrecken‹ einzudämmen und im Sinne der revanchistischen Ambitionen in den Weimarer Jahren möglichst ganz zu verharmlosen. Gegenüber solchen populären Darstellungsformen bringt Christian Haller die bislang kaum aufgearbeitete militärische Fachpublizistik in Stellung. Anhand der »Michael-Offensive«, die im Frühjahr 1918 in der Picardie stattfand,

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führt er exemplarisch vor, welche numerischen und statistischen Ausmaße die Materialschlachten im Detail tatsächlich angenommen haben. Materialgrundlage für die Kriegspresse, die den Verlauf der Offensive minutiös nachzeichnet, bilden die Tagesberichte der Obersten Heeresleitung. Ergänzt wird dieses Textaufkommen durch Aufsätze ›Zur Kriegslage‹ und durch Übersetzungen aus der internationalen Presse, deren Meldungen die deutschen Wochenblätter eingehend beobachten und analysieren. So ergibt sich eine diffuse fachpublizistische Gemengelage, die den Krieg in seinen einzelnen Vorkommnissen jenseits einer medial erzeugten Wirklichkeit nicht denken lassen. Ein nationalkonservativer Schriftsteller wie Werner Beumelburg, der ab den 1920er Jahren eine steile Karriere hinlegt, betreibt mit seinen Texten im Grenzbereich von historiographischem Sachbuch und fiktionaler Erzählprosa ex post eine intensive Sinngebungsarbeit. Manuel Köppen unternimmt den Versuch, die Schreibkonzepte und die mythopoetischen Verfahren des Erfolgsautors aufzuschlüsseln, dessen serielle Produktion auch nach 1933 noch darauf ausgerichtet ist, dem Publikum literarisierte Frontgemeinschaften vorzuführen und die historischen Erfahrungen von dort pathetisch zu überblenden und polemisch zuzuspitzen. Das Oszillieren zwischen traditioneller Geschichtsschreibung und emotiver Narrativierung ermöglicht zuletzt die Radikalisierung politisch-weltanschaulicher Positionen, wie sie am Ende der Weimarer Jahre im Trend liegen. Die Romane beschwören dann eine ›neue Zeit‹, die die nächste Generation in die soldatische Pflicht nimmt. Die Beiträge der dritten Sektion »Aktion und Reaktion in der Literatur« beobachten in werkgenetischer Perspektive, am Kriegsroman oder in der frühen Weltkriegslyrik, wie die Erfahrungsdimension des Krieges und sein Charakter in literarische Darstellungen übersetzt werden. Alexander Honold setzt in seinem Beitrag dazu Romane von C¦line und Hasˇek in Bezug zu Thomas Mann, der in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen ausgerechnet den Taugenichts von Eichendorff zu einer Reflexionsfigur für den Weltkrieg macht. Leitend ist der Gedanke, dass in Stellungskrieg und Materialschlacht durch die Leere des Schlachtfeldes der aktive Kampf und der Heroismus der Tat nutzlos werden, was zu Veränderungen der kulturellen Semantik des Handelns führt. Der Krieg wird hier mehrmals von seinem Gegenteil erschlossen: Die Texte suchen über Nichthandeln und Schock, über Irresein und Simulantentum einen unvordenklichen Ausnahmezustand drastisch zu zeichnen. In der personifizierten Umkehr der Tauglichkeit, im Taugenichts, findet Thomas Mann 1916 eine Identifikationsfigur, die für seine zögerliche, vorsichtig abwartende und wendungsbereite Haltung passend ist. Die Entfesselung aller vitalen Kräfte hingegen feiern die Expressionisten der ersten Stunde Stadler und Stramm, denen Sarah Monreal bei der poetologischen Verarbeitung der Erfahrungen an der Front nachspürt. Die im Gedicht

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ersehnte schöpferische Erlebnisquelle Krieg stellt sich in Tagebüchern und Briefen der beiden im Feld gebliebenen Dichter als harte, oft nur emotionslos und im Modus der sachlichen Chronik zu bewältigende Wirklichkeit dar. Während Stadlers »Aufbruch« schnell zur Abwendung vom Phantasma der vitalistischen Erneuerung einer ermüdeten Vorkriegszivilisation führt, zeigt sich Stramm ebenfalls stark angegriffen, aber auch optimistisch und siegesgewiss. Dem offenbaren Ungenügen konventioneller lyrischer Darstellungsmittel versucht Stramm durch das für ihn typische Reduktionsverfahren zu begegnen, ohne freilich die vitalistische Poetik gänzlich zu verlassen. Um Darstellungsmittel und ihre Rezeptionseffekte im Kontext von Henri Barbusses Le Feu geht es im Beitrag von Johannes Wassmer. Wie in der französischen und deutschen Kriegsliteratur verbreitet, erhebt der Text einen Anspruch auf Authentizität, indem er sich als Tagebuch eines Kriegsteilnehmers ausweist. Anfangs führte das zu der Einschätzung, der Text sei als sozialistisches und pazifistisches Bekenntnis zu lesen, die jedoch in der Folge vom Befund einer widersprüchlichen Positionierung abgelöst wird. Diese Lesarten können, wie der Beitrag zeigt, auf intelligente Textverfahren zurückgeführt werden, die fiktionale und faktuale Erzählelemente ununterscheidbar nebeneinander treten lassen. Barbusse, der seine Haltung zum Text mehrfach ändert, liefert so Anschlüsse einerseits an den Kriegsdiskurs, der die Nation während des Krieges zum Durchhalten aufruft, andererseits an den Pazifismus, der den Weltkrieg als allgemeine humane Katastrophe interpretiert, in der der einfache französische Soldat seine Menschlichkeit bewahrt habe. In einer breit angelegten Untersuchung arbeitet Fabian Beer intertextuelle und häufig gebrochene Bezüge zum Ersten Weltkrieg im Werk Erich Kästners heraus. Tatsächlich sind die ersten Gedichte des Autors bereits Kriegsgedichte in einer Schülerzeitung, die aber noch den ironischen Unterton vermissen lassen, wie das teils unveröffentlichte Material im Beitrag demonstriert. In den späten 1920er Jahren gehört Kästner zu den kompetentesten Kritikern von Kriegsdarstellungen in Literatur, Theater und Film, wobei er nicht müde wird, vor einer erschreckend schnell um sich greifenden Kriegsvergessenheit und Erfahrungsentwertung im Publikum, eingeübt durch unterhaltende Gelegenheitslektüren, zu warnen. Kästner vertraut nicht auf den oft beschworenen pazifistischen Effekt der Literarisierung des Krieges, sondern schreibt selbst im Bewusstsein einer jederzeit möglichen ideologischen Indienstnahme der Literatur. Das führt zuletzt auch im Roman Fabian zu komplexen Spiegelungen von Motiven und Figuren, die weit weniger autobiographisch gelesen werden sollten. Uwe Spörl wendet sich einem klassischen Sonderfall im Spektrum des Kriegsromans zu, Edlef Köppens Heeresbericht, dessen dokumentarische Montagetechnik ein hohes Maß an Einsicht in den Konstruktions- und Fragmentcharakter jeder Darstellung von Krieg verrät. In diesem Beitrag aber entfällt

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mit Hilfe von emotionspsychologisch fundierten Ansätzen endlich mehr Aufmerksamkeit auf die fiktive Erzählung um den Aufstieg und die Desillusionierung des Protagonisten Adolf Reisiger. Während das im Text eingefügte Fremdmaterial in der Sache beglaubigend oder widersprüchlich auf die Geschichte bezogen ist, kann doch erst die Erzählung für eine authentische Wirkung der Dokumente sorgen. Die ästhetische Inszenierung ist es, die zur emotionalen Identifikation und Reflexion herausfordert. Köppen gelingt es, so wird argumentiert, seinen Lesern die Freiheit zu lassen, das Erzählte mit eigenen Gefühlen in Verbindung zu bringen, ohne sie etwa sentimentalisch zur Empathie zu zwingen. Die vierte Abteilung »Kriegsfilm und Kinokultur« behandelt das populäre Massenmedium Film im Übergang vom Stumm- zum Tonfilm in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Eine systematische Übersicht zum Feld der Kriegsfilme im Spiegel der zeitgenössischen Kritik bietet Daniela Kalscheuer. Der Film wird, etwas anders als Literatur, Sachbuch und Publizistik, maßgeblich bereits im Produktionsstadium beeinflusst von kommerziellen Interessen, vom Publikumsgeschmack, von Fragen der technischen Machbarkeit und der Authentizität nachgestellter Szenen sowie von der Zensur. Im Kriegsfilm werden, wie der Beitrag eingehend vorführt, kontroverse Sinnstiftungen des Ersten Weltkriegs öffentlich am wirkmächtigsten ausgetragen; schnell entsteht eine Diskussion um »Hetzfilme«, aber das Genre unterstützt auch die militärstrategische Aufarbeitung und leistet Beiträge zur Kriegsschulddebatte. Die Kritik ist ideologisch grundiert, greift aber viele sachorientierte Aspekte zur Bewertung der keineswegs ›tendenzlos‹ zu nennenden Produktionen auf. So wird einsichtig, in welcher Weise der Film die unterschwellige Verlängerung des Krieges über sein Ende hinaus betreibt und bereitstehen kann, wenn es nach 1933 bald wieder darum geht, neue Frontgemeinschaften zu bilden. In seinem Beitrag unterzieht Thomas Althaus den Kriegsfilm Westfront 1918 einer detaillierten Analyse, die dem medientechnischen Umbruch vom Stumm- zum Tonfilm am Ende der 1920er Jahre Rechnung trägt. Ausführlich werden an diesem Beispiel und im Kontext der neusachlichen Ästhetik darstellungstheoretische Probleme diskutiert, die die Einführung des Tons begleiten und die Praxis seines Einsatzes bestimmen. Weit davon entfernt, als eine Komplettierung des Mediums zu wirken, tritt der Ton zum etablierten Ensemble erprobter ästhetischer Strategien im Film hinzu und führt zu Neuverhandlungen des Verhältnisses von Sprache und Bild. Der gesprochene Dialog unterliegt der ›Herrschaft der Phrase‹, er öffnet sich für Gerede und Klischees, er beeinflusst Kameraführung und Schnitttechnik. Im Kriegsfilm, wo das exzessive Ausreizen von Bild und Ton legitim ist, wird das Sprechen in der Schlacht zuletzt aber (wieder) bedeutungslos, eine Stilistik, die die Stummfilm-Ästhetik zitiert.

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Das Thema des Aufsatzes von Philipp Stiasny sind Darstellung und Veränderung des Erinnerungsortes Verdun im populären Weltkriegsfilm in Frankreich und Deutschland, wo sich verschiedene Gedenkkulturen gegenüberstehen. Am Beispiel des Stummfilms Verdun, visions d’histoire (1928) und weiterer Fassungen, die für das französische und deutsche Zielpublikum anders zugeschnitten werden, illustrieren Kürzungen und Einfügungen, eine verstärkte Didaktik und Modifikationen der nachfolgend hinzugefügten Tonspur die Arbeit am Gedächtnis der Materialschlacht. Seitenblicke auf die zeitgenössische kritische Rezeption der aufwändig hergestellten Filme rekonstruieren die politische Stimmungslage, die sich anfangs der 1930er Jahre zu verschärfen beginnt. Wird die Schlacht in Frankreich als Kriegswende hin zum Sieg interpretiert, legen deutsche Fassungen die tragische Lesart vom ›Opfergang‹ nahe. Der größte Teil der hier versammelten Beiträge geht auf eine Tagung zurück, die vom 28. bis zum 30. November 2013 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität stattfand. Für die finanzielle Unterstützung danken wir der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und dem Strukturierten Promotionsprogramm der Universität Bonn. Ferner gilt unser Dank Prof. Dr. Ingo Stöckmann für seine Hilfestellung bei diesem Projekt. Der reibungslose Ablauf der Tagung, die von den Herausgebern zusammen mit Michael Schikowski organisiert wurde, wäre ohne unsere studentische Mitarbeiterin Julia Mierbach nicht möglich gewesen. An der Einrichtung und Korrektur der Aufsätze beteiligt waren die Hilfskräfte Caroline Haupt, Clara Pauly und Celestina Trost. Für die Aufnahme des Bandes in die Schriftenreihe des Erich Maria Remarque-Archivs sind wir PD Dr. Thomas F. Schneider verbunden. Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck von Photographien danken wir Irina Renz von der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart sowie der Koenig & Bauer AG in Würzburg. Schließlich danken wir allen Beiträgerinnen und Beiträgern sehr herzlich für ihre kollegiale Zusammenarbeit.

I. Diskursgeschichtliche Formationen

Matthias Schöning

»Zäsur«. Probleme einer historiographischen Angewohnheit

1.

Mehr als nur ein Ereignis

Den Begriff »Zäsur« zu gebrauchen, ist für Zeitdiagnostiker und Historiker offensichtlich gleichermaßen reizvoll.1 Das gilt insbesondere dann, wenn man den Ersten Weltkrieg untersucht, und bestätigt sich, wenn vom Zweiten Weltkrieg bis hin zu 9/11 die Gewaltgeschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zum Thema wird. Doch auch in alltäglichen Zusammenhängen wird gerne auf den Begriff »Zäsur« oder sein vorrangiges Synonym »Einschnitt«2 zurückgegriffen, um einen qualitativen Unterschied zwischen zwei zeitlich getrennten Zuständen zu bezeichnen. Wer »Zäsur« sagt, nominiert ein Ereignis als historisches Datum, das zwei substantiell unterschiedliche Zeiten trennt.3 Die historische »Zäsur« ist insofern ein Sonderfall des Ereignisses. Jede »Zäsur« setzt ein realgeschichtliches Ereignis voraus, das durch die Bestimmung als »Zäsur« qualifiziert wird. Umgekehrt ist jedoch nicht jedes Ereignis eine »Zäsur«. Schreibt man dem Ereignis die konstitutiven Merkmale Nicht-Alltäglichkeit, Diskontinuität und Bedeutsamkeit zu,4 so hebt sich die »Zäsur« durch 1 Trotzdem »hat der Begriff der Zäsur gegenüber dem der Epoche und der Periodisierung eine nur vergleichsweise geringe theoretische Betrachtung erfahren« (Martin Sabrow: Deutungszäsur und Erfahrungszäsur. In: Ders.: Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2014, S. 160–177, hier S. 162). 2 Vgl. z. B. Günter Rohrmoser : Zäsur. Wandel des Bewußtseins. Stuttgart: Seewald 1980, S. 11: »›Zäsur – Wandel des Bewußtseins‹: der Titel meint einen Einschnitt, in diesem Fall einen Wandel der Epoche. Man ist gezwungen innezuhalten. Geschichtliche Erinnerung ist unerläßlich, wenn man den Andrang dessen bestehen will, was neu und anders ist.« 3 Besonders hilfreich für die Überprüfung des allgemeinen Wortgebrauchs ist die Nutzung des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das nicht nur verschiedene Wörterbücher auswertet, sondern auch ein grammatisch strukturiertes Wortprofil anbietet, das u. a. die typischen Attribute von »Zäsur« vor Augen führt. Abrufbar unter http://www.dwds.de/?qu=Zäsur (Stand: 26. 8. 2014). 4 Vgl. z. B. Hans Robert Jauß: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München: Fink 1973, S. 554–560, hier S. 555.

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Matthias Schöning

eine spezifische Steigerung aller drei Dimensionen hervor. Als Konsequenz fordert sie eine grundlegende Umwertung der bis dato geltenden NormalitätsAnnahmen. Indem das als »Zäsur« qualifizierte Ereignis Zeiten trennt, konstituiert es zugleich Epochen – oder, um genau zu sein, es konstituiert den Endpunkt einer älteren und den Anfangspunkt einer jüngeren Epoche. Goethes Kommentar zur Kanonade von Valmy – »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen« – ist dafür typisch.5 Als Ereignis ist die »Zäsur« jedoch zugleich ein Sonderfall der sogenannten ›Epochenschwelle‹, dem historiographischen Standardausdruck für die Bezeichnung von Übergangsphasen zwischen Epochen.6 Sie teilt mit dieser die Funktion der Trennung zweier grundlegend verschiedener Zeitphasen. Die Form der Trennung ist jedoch eine andere. Dem langsamen, gleitenden Übergang über die metaphorische ›Schwelle‹, die selbst eine räumliche, bzw. zeitliche Ausdehnung hat, steht die Plötzlichkeit gegenüber, die mit dem Begriff »Zäsur« betont wird. Mit einem Mal ist alles anders.

2.

Die »Zäsur« in zeitdiagnostischem Gebrauch

Die Implikation, dass eine paradigmatische Revision ›des Weltbildes‹ nötig sei, und zwar ohne Zeitverzug, unter dem bewegenden Eindruck des unerwarteten Ereignisses, dürfte die Anziehungskraft des »Zäsur«-Konzepts unter den Zeitgenossen eines entsprechenden Ereignisses ausmachen. Wer den Begriff zeitdiagnostisch gebraucht, verschafft sich – imaginär oder tatsächlich – einen Zeitvorsprung gegenüber den Adressaten seiner Rede. Er hat bereits erkannt, dass es umzudenken gilt, und kann verlangen, dass man ihm folgt. Schnelligkeit generiert Autorität. In markanter Weise zur Anwendung gekommen ist dieses »Zäsur«-Konzept zuletzt nach 9/11. Während die Bush-Administration sofort Pläne für ihren ›war on terror‹ schmiedet, rufen Intellektuelle das Ende der Postmoderne aus.7 Ge5 Er wird freilich erst in Goethes autobiographischem Text, »Campagne in Frankreich«, knapp dreißig Jahre nach der Nacht im Feldlager formuliert. Vgl. Nicolas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 2. München: C. H. Beck 1999, S. 167. 6 Zur Begriffsgeschichte von Epoche mit ihrer charakteristischen Bedeutungsverschiebung von der Bezeichnung eines Zeitpunkts zur Bezeichnung eines Zeitabschnitts vgl. Manfred Riedel: Epoche, Epochenbewußtsein. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt: WBG 1972, Sp. 596–599. 7 Besonders scharfkantig ausgefallen sind im deutschen Sprachraum die Einlassungen des Wahlamerikaners Hans Ulrich Gumbrecht im Merkur : In eine Zukunft gestoßen. Nach dem 11. September 2001. In: Merkur 55 (2001) H. 631, S. 1048–1054. Ähnlich wie der amerikanische Publizist Roger Rosenblatt im Time Magazine stellt er die Diagnose, dass das ›Zeitalter

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naue Beobachter haben anhand der Verortung der jeweiligen »Zäsur« sogar verschiedene Phasen des Diskurses über den Terroranschlag zu unterscheiden versucht, die allesamt aus der Diagnose einer »Zäsur« die Ermächtigung zu Veränderungen ableiten, während für die Zeithistoriker zunächst einmal in Frage steht, ob überhaupt eine Zäsur vorliegt.8 Urszenen der appellativen »Zäsur«-Diagnostik sind die intellektuelle Mobilmachung bei Beginn des Ersten Weltkriegs und die Kämpfe um dessen Deutung in der Zeit der Weimarer Republik. Für 1914 ist zum Beispiel an Thomas Mann zu denken, der seine »Gedanken im Kriege« im Novemberheft der Neuen Rundschau äußert. Mann begrüßt den Krieg nicht als Fortsetzung der 1871 begonnenen Geschichte des deutschen Kaiserreiches unter preußischer Führung, sondern als Umkehrpunkt. Die Epoche der Prosperität soll mit einem Krieg enden, der die Rückkehr zum Wesentlichen der Nation als zugleich deren weltgeschichtlicher Mission bringt. Die Prüfung der Nation und jedes Einzelnen werden daher ausdrücklich begrüßt. Unter den Schicksalsschlägen, so die implizierte Trivialpsychologie, fällt alles Äußerliche ab, so dass der Wesenskern der deutschen Nation freigelegt wird. Kern der Zeitdiagnose ist das Postulat einer kulturellen »Zäsur«, die so konstruiert ist, dass sie das aktuelle Zeitgeschehen und das persönliche Profil des Autors im literarischen Feld einander akkommodieren. Der Überraschung seines Umfelds zum Trotz bleibt Thomas Mann sich in gewisser Hinsicht treu: Weil der Autor die Hinfälligkeit der Welt, die 1914 einstürzt, seit seinen Buddenbrooks fortwährend beleuchtet hat, versteht er sich auf Sinn und Nutzen der allgemeinen »Not«9 und empfiehlt sich als Führer durch die Katastrophe.

der Ironie‹ an sein Ende gekommen sei. Die Zielscheibe von Rosenblatt und Gumbrecht ist offensichtlich das, was mit dem Schlagwort Postmoderne bezeichnet wird, mit der man wiederum einen nicht nur ästhetischen, sondern auch ethischen Relativismus assoziiert. Vgl. Michael C. Frank: 9/11 als Zäsur. Zur Karriere eines Topos in Politik, Medien und akademischem Diskurs. In: Stephan Packard u. Ursula Hennigfeld (Hg.): Abschied von 9/11? Distanznahmen zur Katastrophe. Berlin: Frank & Timme 2013, S. 15–34, hier insb. S. 18, der zur Frage der »Zäsur« urteilt, 9/11 sei nicht »an und für sich schon eine Wende« gewesen, sondern »wurde mit großem Aufwand zu einer solchen gemacht« (ebd., S. 16). 8 Zu den verschiedenen »Zäsur«-Setzungen vgl. ebd., S. 15f. Zur grundsätzlichen Infragestellung, dass es sich um eine »Zäsur« handele vgl. Michael Butter, Birte Christ u. Patrick Keller (Hg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte. Paderborn u. a.: Schöningh 2011, S. 7–12, hier S. 7f.: »Im Unterschied zu Studien, die fälschlicherweise darauf beharren, dass der 11. September eine Zäsur darstellt, relativiert dieses Buch die Bedeutung dieses Ereignisses.« Vgl. auch Thorsten Schüller u. Sascha Seiler (Hg.): Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung. Bielefeld: transcript 2010. 9 Thomas Mann: Gedanken im Kriege [1914]. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. u. textkr. durchges. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 27–46, hier S. 34.

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3.

Matthias Schöning

Auch die »Zäsur« kann eine Geschichte haben

Es ist allerdings weder Zufall, noch verdankt es sich dem ›Genie‹ des Autors, dass Thomas Mann bereits kurze Zeit nach Beginn des Ersten Weltkriegs den Sinn des Krieges als Wendemarke bestimmt. Vielmehr liegen die Deutungsmuster schon lange bereit: »Der Erste Weltkrieg überraschte die Zeitgenossen zwar in vielerlei Hinsicht: in seiner Dauer, seiner Grausamkeit und Hartnäckigkeit und vor allem in seiner demoralisierenden Wirkung auf die beteiligten Völker. Aber selbst noch in diesen unerwarteten Erscheinungsformen erfüllte sich eine Erwartungsstruktur, die zum Teil schon seit langem angelegt war.«10 Im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts mehren sich nicht nur in Deutschland die Stimmen, die einen größeren Krieg als den zuletzt zwischen Deutschland und Frankreich ausgetragenen kommen sehen. Von der politischen Zeitdiagnostik bis zu Zukunftsromanen werden Szenarien eines künftigen Krieges durchgespielt und selbst die anti-militaristische Prognostik rechnet mit der Gefahr eines einschneidenden Krieges.11 Dem erstrebten Neubeginn korrespondieren von Beginn an Abbruch von Entwicklungen und Umwertung von Werten. Dass dieser Vorgang schmerzhaft ausfallen kann, wird keineswegs ausgeschlossen – im Gegenteil. Einem sich selbst der Schwäche verdächtigenden Zeitalter12 beglaubigt der Schmerz vielmehr die Echtheit des Einschnitts. Es ist deshalb keineswegs bloß eine spontane Hypertrophie, wenn Thomas Mann ausdrücklich von einer »Utopie des Unglücks« spricht.13 Noch zehn Jahre nach dem Krieg verfolgt ein anderer Zögling aus der großen Gruppe emphatischer Nietzsche-Leser, Ernst Jünger, dieselbe Strategie und plädiert für Fortsetzung des Zerstörungswerks als Voraussetzung des nächsten, nunmehr ›echten‹ Neuanfangs.14 Nach dem Ende des Krieges müssen viele Hoffnungen begraben werden, doch das Schema wiederholt sich. So wie Heinrich Mann seinem jüngeren Bruder nur mit einer alternativen »Zäsur«, nicht 10 Lucian Hölscher : Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 200. 11 Vgl. ebd., S. 202ff. 12 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München, Wien: Hanser 1998, insb. S. 295–309 u. 389–407. 13 Mann: Gedanken (Anm. 9), S. 33 (Hervorh. M. Sch.). 14 Vgl. Ernst Jünger : Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung: Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. Stuttgart: Klett Cotta 1987, S. 95: »Man muß erkennen, […] daß wieder wie im 15. Jahrhundert der Rauch der Scheiterhaufen über der Landschaft steht. […] Die Beschäftigung des Deutschen zu dieser Zeit ist die, von allen Ecken der Welt Material herbeizuschleppen, um den Brand zu nähren, den er unter seinen Begriffen gestiftet hat. So ist es denn kein Wunder, daß alles, was brennbar ist, in vollen Flammen steht. […] [D]as Schreckliche dieses Vorgangs, der sich im menschlichen Bestande vollzieht, […] hat nichts Problematisches, sondern im Gegenteil etwas sehr Notwendiges«.

»Zäsur«. Probleme einer historiographischen Angewohnheit

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aber mit einer Zurückweisung des Denkmusters entgegentreten konnte,15 so antwortet auch Walter Benjamin auf Ernst Jünger nur mit einer Umcodierung. Der Diskurs ist stark. Es geht nur darum, in seinem Rahmen das am meisten bewegende Bild zu finden, um die Diagnose der »Zäsur« auf die eigene Seite zu ziehen. Walter Benjamin: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.«16 – Man sieht: Als Deutungsmuster für Ereignisse hat auch die »Zäsur« eine Geschichte.

4.

Belegstellen für den historiographischen Begriffsgebrauch

Der Eindruck, den der skizzierte Gebrauch des Konzepts »Zäsur« hinterlässt, schürt zweierlei Verdacht. Der Begriff »Zäsur« und seine Synonyme scheinen immer dann herangezogen zu werden, wenn es gilt, die Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher zu markieren und als besonders hervorzu15 Heinrich Mann antwortet genau ein Jahr später, im November 1915 in Die weißen Blätter, einerseits mit einer geschickten Inversion aller von seinem Bruder ins Feld geführten Begriffe und auch von dessen rhetorischer Strategie. Andererseits jedoch deutet auch er den Krieg als Zäsur. Der aufdringlichen Pose des Bekenners, der aus der Stimmung der Situation weltgeschichtliche Prognosen ableitet und sich ebenso sehr zum praeceptor germaniae aufschwingt wie er dem Begehren nach symbolischer Verschmelzung mit dem Volkskörper nachgibt, setzt Heinrich Mann in seinem Zola-Essay von 1915 die Haltung des Vermittlers entgegen, der nicht über sich, sondern über einen anderen spricht und Geschichtsziele und Utopien nicht für Einzelvölker reklamiert. Trotz der geschickten Inversion bleibt ein Denkmuster jedoch intakt. Auch Heinrich Mann erwartet vom Krieg einen einschneidenden Wandel, einen Einschnitt in die deutsche Geschichte. Zugespitzt könnte man sagen, dass wir es mit einem spiegelverkehrten Denken zu tun haben, das entlang der Achse einer tiefgreifenden Zäsurerwartung, die beide Texte gleichermaßen bestimmt, gespiegelt, bzw. Punkt für Punkt umcodiert wird. Der Krieg ist auch für diesen Intellektuellen eine Produktivkraft des gesellschaftlichen Fortschritts. Es werden nur andere Geschichtsziele ausgegeben. Oder noch weniger : Es werden nur farblich anders gestaltete Ziele proklamiert, die gemeinsam haben, dass nach dem Krieg eine stärker integrierte Gesellschaft stehen soll, sei es als Mitbestimmungsdemokratie, sei es als vorpolitische Gemeinschaft, die sich unmittelbar konstituiert. Die Metaphorik ist dann sogar nahezu identisch, wenn es heißt: »Reiche, die Schranken aufrichten vor dem Glück ihrer Völker, Reiche, die unter Panzern die Menschenliebe ersticken, verderbte und gewalttätige Reiche, sie mögen hinsinken, sie geben den besten Dünger für die Saat einer verjüngten Menschheit. […] Über den Tod hinweg gehen [sie] in das verjüngte Leben hinein, das Demokratie heißt« (Heinrich Mann: Zola [1915]. In: Ders.: Essays und Publizistik. Bd. 2: Oktober 1904 bis Oktober 1918. Hg. von Manfred Hahn. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 148–209, hier S. 179). 16 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut [1933]. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Bd. 1. Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 291–296, hier S. 291.

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heben, ohne sie genauer zu bestimmen. Die Verführungskraft erwächst eher aus dem strategischen Vorsprung, einen Bedarf als erster anzuzeigen, als dem Vermögen, diesen auch zu decken. Wer sich verspätet, dem bleibt die Möglichkeit, mit einer besonders dringlichen Version die nötigen Anhänger zu finden. In jedem Fall dominiert die appellative Funktion klar über den Erklärungswert des Konzepts »Zäsur«. Wie verhält sich zu diesem objektsprachlichen Gebrauch nun die Historiographie? Eine kurze Recherche zum Wortgebrauch im Bereich der Geschichtsschreibung bestätigt zunächst die enorme Rekurrenz dieser Begrifflichkeit, vor allem wenn man weitere gleichsinnig verwendete Begriffe wie »Zeitenbruch«17 und Umschreibungen mit einbezieht. So schreibt etwa Barbara Tuchman – mit The Guns of August. The Outbreak of World War I bzw. ihrem in der deutschen Fassung meist nur August 1914 betitelten Buch die Verfasserin eines populären Klassikers über den Ersten Weltkrieg – in ihrem anschließenden Werk, das sich mit der Vorgeschichte befasst: »Der Große Krieg von 1914 bis 1918 hat sich wie ein breiter Streifen verbrannter Erde zwischen uns und die Zeit davor geschoben.«18 Tuchman liefert ein Bild für das, was eine »Zäsur« typischerweise charakterisiert. Eine mit Tod assoziierte Linie trennt zwei Lebensformen voneinander, deren jüngere sich von der älteren durch einen nicht wieder gut zu machenden Verlust unterscheidet. Die existentielle Aufladung folgt dem Topos, den bereits Teilnehmer und Zeitgenossen am Ersten Weltkrieg konstituiert haben. Ein ähnliches Pathos der Bilder findet man auch im Umkreis von 9/11. Typisch für die historiographische Literatur ist dagegen weniger, das Konzept neuerlich aufzuladen, als vielmehr dessen Existentialität stillschweigend zu beerben. Der eigene Forschungsgegenstand hat ein größeres Gewicht, wenn er nicht nur als Ereignis, sondern als »Zäsur« angesprochen wird. Explizit von »Zäsur« sprechen in der jüngsten Literatur zum Ersten Weltkrieg u. a. Benjamin Ziemann und Ulrich Sieg.19 Ebenso starke Kandidaten für entsprechende Zu17 Vgl. Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkriegs. Wien: WUV 2000. Vgl. auch Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: C. H. Beck 2014, S. 11: »Der tiefe Bruch wurde zum prägenden Merkmal – ob in stilisierten Kindheitserfahrungen oder als Orientierungspunkt einer Generation, die nach 1918 die Konsequenzen des Krieges erfuhr.« 18 Barbara W. Tuchman: Der stolze Turm. Ein Porträt der Welt vor dem Ersten Weltkrieg 1890–1914. München u. a.: Knaur 1969, S. 11. 19 Vgl. Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Essen: Klartext 2013, S. 8: »[…] Frage […], ob der Schock und die traumatische Zäsur des Weltkriegs zur Konstituierung und Formierung von Subjektivität beitrugen und in welchen symbolischen Formen sich diese Suche nach einem mit dem Krieg kompatiblen Subjekt vollzog.« Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München: Hanser 2013, S. 126: »Gleichwohl markiert [die sogenannte

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schreibungen sind die oft als »Zivilisationsbruch« bezeichnete Shoa(h)20 und das Jahr 1945, das gerne auch als »Stunde Null« betitelt wurde.21 Weniger gewaltsam als vergleichsweise friedlich waren dagegen die demokratischen Revolutionen in Osteuropa 1989.22 Beispiele für den Gebrauch des »Zäsur«-Begriffs angesichts historischer Geschehnisse von geringerer Reichweite finden sich z. B. bei Aleida Assmann, in eigens den »Zäsuren« der deutschen Geschichte gewidmeten Sammelbänden, einem Lehrbuch zur Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990 und sogar im Titel einer Interpretation der Bundestagswahlen des Jahres 2005.23 – Das letzte Beispiel zeigt, wie gering

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Judenzählung des deutschen Heeres 1916] eine Zäsur in der deutschen Geschichte«. Prominent auch Michael Stolleis: Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert. Die Zäsur von 1914 aus rechtshistorischer Perspektive. Berlin, New York: de Gruyter 1997. Zäsuren in der nichtwissenschaftlichen Sachbuchliteratur zum Ersten Weltkrieg auf der Spur ist Jens Wörner : Geist – Macht – Krieg. Perspektiven auf die Moderne in ihrer fremden Vertrautheit. In: Christian Meierhofer, Michael Schikowski u. ders. (Hg.): Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg im Sachbuch. Non Fiktion 8/9 (2013/14) H. 2/1, S. 147–177. Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/M.: Fischer 1988. Vgl. auch Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, darin insb. die Aufsätze »Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik« und »Vom öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf«, S. 159–179 u. 243–255. Vgl. auch Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: Winter 1999 und Ashraf Noor (Hg.): Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne. Freiburg/Br.: Rombach 1999. Im Unterschied zu den bisher genannten Ereigniskomplexen Erster Weltkrieg und Shoa/ Holocaust, die nach wie vor als »Zäsuren« bezeichnet werden, hat sich bezüglich des Jahres 1945 die Überzeugung durchgesetzt, dass eine Betitelung als »Stunde Null« angesichts starker Kontinuitäten im Bereich der administrativen Eliten, aber auch in der Kunst und Literatur allzu irreführend ist. Vgl. Bernd Hüppauf: Einleitung: Schwierigkeiten mit der Nachkriegszeit. In: Ders. (Hg.): »Die Mühen der Ebenen«. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft 1945–1949. Heidelberg: Winter 1981, S. 7–20 und Peter Davies, Stephen Parker u. Matthew Philpotts: The Modern Restoration. Re-thinking German Literary History 1930–1960. Berlin, New York: de Gruyter 2004. Vgl. Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: C. H. Beck 2007, S. 53f.: »Nicht jeder Generation ist es beschieden, ihren geschichtlichen Auftritt und Abtritt als eine historische Zäsur zu markieren. Die 68er Generation unterscheidet sich von allen anderen Generationen des 20. Jahrhunderts dadurch, dass ihre Identität nicht an historische Vorgaben geknüpft ist (wie den ersten oder zweiten Weltkrieg), sondern dass sie selbst eine historische Zäsur setzte. 1968 wurde nicht erst nachträglich zu einer Zäsur, diese wurde auch von innen heraus durch eine Bewegung forciert – nicht nur in Deutschland, sondern gesamteuropäisch und transkontinental. Der epochale Bruch wurde erlebnisnah auf Teach-ins, Straßendemonstrationen und Popkonzerten vollzogen und war begleitet von einem Diskurs, in dem man (vielfach im Schulterschluss mit den 45ern) das Ende des Bestehenden und Geltenden deklamierte«; Alexander Gallus (Hg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006; Martin Broszat (Hg.): Zäsuren nach 1945: Essays zur Peri-

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die Halbwertzeit der Empfindung, einem historischen »Einschnitt« beizuwohnen, sein kann. Was vor zehn Jahren als »Zäsur« betitelt werden konnte, ist heute kaum mehr als einschneidend rekonstruierbar.24

5.

Etymologie

Der dokumentierte Verbreitungsgrad des historischen Konzepts25 »Zäsur« und die daraus abzuleitende Tendenz zur schrankenlosen Verwendung macht seinen Erklärungswert zweifelhaft und erneuert die Frage nach den Gründen für den häufigen Gebrauch. Zunächst ist an die Begriffsgeschichte zu erinnern. Zum festen Sprachgebrauch gehört der Ausdruck »Zäsur« erst in der Musiktheorie26 und dann in der Verslehre, wo er »Einschnitte« entweder »im Inneren eines Versfußes«27 oder – heute gebräuchlicher – nach einer festgelegten Silbenzahl, die ein Metrum konstituiert, bezeichnet.28 Im spezielleren Fall der Deklamation von Lyrik wer-

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odisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. München: Oldenbourg 1990; Ulrich Lappenküper : Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990. München: Oldenbourg 2008, S. 27: »Die Wahl Willy Brands zum vierten Bundeskanzler am 21. Oktober 1969 markiert in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine tiefe historische Zäsur. Erstmals seit ihrem Bestehen leite ein Sozialdemokrat die Regierungsgeschäfte«; Frank Decker : Die Zäsur. Konsequenzen der Bundestagswahl 2005 für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems. In: Berliner Republik. Das Debattenmagazin 6 (2005). Abrufbar unter http ://www.b-republik.de/b-republik.php/cat/8/aid/928/title/Die_Zaesur (Stand: 22. 8. 2014). Der Name von Angela Merkel, die in Konsequenz dieser Wahl zum ersten Mal zur deutschen Bundeskanzlerin gewählt wurde, fällt in dem Artikel von Frank Decker nicht! Zur Zeit- und Standpunktabhängigkeit vgl. auch Sabrow: Deutungszäsur (Anm. 1), S. 167: »Zäsuren sind […] perspektivenabhängig, wie sich nicht nur zwischen den verschiedenen nationalen Meistererzählungen zeigt, sondern mehr noch zwischen Mit- und Nachwelt. Besonders im Medienzeitalter und der mit ihm verbundenen kommunikativen Verdichtung werden sie oft ausgerufen und schnell wieder vergessen, wie es etwa der Jahrhundert- und Jahrtausendzäsur erging, die von einem starken Bewusstsein der Zeitenwende begleitet wurde und rückblickend ihren Zäsurencharakter rasch wieder eingebüßt hat. Nicht selten werden zunächst dramatisch erscheinende Einschnitte durch den wachsenden Abstand wieder eingeebnet«. Sabrows Aufsatz verdanke ich auch die Hinweise auf Lappenküper und Decker (Anm. 23). Ich spreche im Weiteren vom »Konzept ›Zäsur‹«, um den historiographischen Gebrauch des Begriffs »Zäsur« und seiner Synonyme und Hyponyme zu bezeichnen – im Unterschied z. B. zum auch in der Lyrikanalyse verwendeten Begriff »Zäsur«. Vgl. den Artikel »Caesura« im Zedlerschen Universallexikon, Bd. 5, Sp. 107. Abrufbar unter http://www.zedler-lexikon.de (Stand: 26. 8. 2014). Im Unterschied zur »Diärese«: Kristin Felsner, Holger Helbig u. Therese Manz: Arbeitsbuch Lyrik. Berlin: Oldenbourg 2009, S. 48. Vgl. zum Verhältnis Diärese/Zäsur auch Jost Schneider : Art. »Zäsur«. In: Klaus Weimar

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den »Sprechpausen oft generell als Zäsuren bezeichnet.«29 Der Duden online nennt explizit den alltäglichen, wenngleich »bildungssprachlich[en]« Wortgebrauch zur Bezeichnung eines »Einschnitt[s] (besonders in einer geschichtlichen Entwicklung)«. Als Synonyme kennt der Duden: »Bruch, Einschnitt, markanter Punkt, Unterbrechung«.30 Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) betont den »scharfe[n], einschneidende[n]« Charakter der »politische[n], historische[n], weltgeschichtliche[n] […] Zäsur«.31 Dazu passt die Wortherkunft. »Zäsur« stammt von lateinisch caesu¯ra ab, eigentlich »das Hauen, Fällen, Einschneiden«, abgeleitet vom Verb caedere »(um-, nieder) schlagen, hauen, (ein-, auf-, heraus)schneiden«,32 dessen Bedeutungsspektrum gemäß der einschlägigen Wörterbücher des Lateinischen damit allerdings noch keineswegs erschöpft ist.

6.

Nachhaltigkeit und Veränderungsintensität

Die semantische Aura des Gewaltsamen lässt das Konzept »Zäsur« besonders angemessen dafür erscheinen, solche geschichtlichen Ereignisse zu bezeichnen, bei denen das (Über-)Maß der angewendeten Gewalt den wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen Vorher und Nachher ausmacht und damit zugleich den Interpretationsbedarf hinsichtlich grundlegender Annahmen über die Natur des Menschen und die Grundlagen des Zusammenlebens hervorruft. Wenn es angesichts des Ereignisses auf Schnelligkeit ankommt, dann ist nun, im (zeit-)historischen Nachgang, Beharrlichkeit gefordert. Weil sich die historische Bedeutung der »Zäsur« nicht so leicht abgelten lässt, muss man immer wieder interpretatorisch zu ihr zurückkehren. Dabei kommt es nicht zuletzt darauf an, die vergangenen Schrecken in Erinnerung zu behalten und gerade nicht zu normalisieren. Eine »Zäsur« bleibt das historische Ereignis in der historiographischen Perspektive nur, wenn es in der Erinnerung weiter schmerzt, wenn es als ›Wunde‹ fungiert, die sich nicht gänzlich schließt.33

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(Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. 3., neubearb. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 2003, Sp. 869f., hier Sp. 869. Felsner, Helbig u. Manz: Arbeitsbuch Lyrik (Anm. 27), S. 49. Duden online. Abrufbar unter http://www.duden.de/rechtschreibung/Zaesur (Stand: 28. 8. 2014). Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (Anm. 3). Ebd. Vgl. auch Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Aufl. Bearb. von Elmar Sebold. Berlin, New York: de Gruyter 1999, S. 904. Keinen Artikel »Zäsur« enthalten das Grimmsche Wörterbuch und das Historische Wörterbuch der Philosophie. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 1999, S. 241ff.

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Angesichts der dominierenden Verknüpfung des »Zäsur«-Konzepts mit den Schrecken der Geschichte des 20. Jahrhunderts wirkt es daher unangemessen, wenn für ephemere Veränderungen wie Fernsehformate der Begriff der »Zäsur« bemüht wird.34 Will man sich trotzdem nicht auf ›maßlose Gewaltanwendung‹ als Kriterium für Ereignisse, die als »Zäsur« bezeichnet werden können sollen, festlegen, so könnte alternativ z. B. folgender Substitutionstest vorgenommen werden: Alle Ereignisse, die sich – metaphorischer Gebrauch eingeschlossen – als Revolutionen bezeichnen lassen, weil sie plötzlich und veränderungsintensiv in das Leben vieler Menschen eingreifen und deren Alltag gleichsam ›umkrempeln‹, kommen zugleich als Kandidaten für historische »Zäsuren« in Frage.35 Dann wären z. B. »mediengeschichtliche Zäsuren« denkbar,36 die Veränderungen bezeichnen, die das kulturelle Leben ›revolutionieren‹, während einzelne Veränderungen innerhalb eines kulturellen Feldes, eines Mediums oder gesellschaftlichen Teilsystems, seien sie auch noch so markant, nicht als »Zäsur« in Frage kämen. Das wäre vereinbar mit der eingangs vorgenommenen Bestimmung von »Zäsuren« als Untergruppe von Ereignissen, die einen transgressiven Charakter in dem Sinne haben, dass sie mehrere Lebensbereiche gleichermaßen stark auf den Kopf stellen und ein entsprechend fundamentales Umdenken erfordern.

7.

Geschichte im Singular

Trotzdem sollte man an die Synchronisierung der Veränderungen in den von einer »Zäsur« betroffenen Teilbereichen nicht zu große Erwartungen haben. Nimmt man z. B. den Ersten Weltkrieg, so lassen sich die Jahre 1914, 1916, 1917 und 1918 gleichermaßen gut als ›eigentliche‹ »Zäsur« nominieren, je nachdem ob man die Geschichte der Arbeiterklasse, die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, die Geschichte Amerikas oder die Verfassungsgeschichte verschiedener europäischer Staaten ins Zentrum stellt. Auch gesellschaftsgeschichtlich steckt der Teufel im Detail. Was macht man, wenn das groß angelegte, auf Befriedigung eines womöglich grundlegenden »Zäsurbedarfs«37 abzielende 34 Vgl. Joachim Michael: Telenovelas und kulturelle Zäsur. Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika. Bielefeld: transcript 2010. 35 Wenig distinktiv ist dagegen der Eingrenzungsversuch von Broszat: Zäsuren (Anm. 23), S. 10: »Die Frage nach Zäsuren der Geschichte geht […] davon aus, daß nicht jedes Jahr der Geschichte gleich zu Gott ist, sondern daß es dicht beschriebene, aber auch ziemlich leere Blätter der Geschichte gibt«. 36 Vgl. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 37 Einen solchen diagnostiziert Odo Marquard: Temporale Positionalität. Zum geschichtlichen

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Konzept sich mit zunehmender Beobachtungsgenauigkeit sukzessive verflüchtigt? Man kann zwar nachträglich an als »Zäsur« bestimmten Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg Differenzierungen vornehmen, wenn sich herausstellt, dass »die Zäsuren der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und ebenso der Kulturgeschichte […] anderen Logiken und Rhythmen des Wandels« folgen.38 Sicher lassen sich als »Zäsur« bereits etablierte Ereignisse derart auffächern. Fraglich ist jedoch, ob es Sinn hat, nach der Erkenntnis der Unverträglichkeit des »Zäsur«-Konzepts mit der historiographischen Differenzierung von Teilgeschichten am liebgewonnenen Begriff festzuhalten und ihn für allerhand historische Kleinphänomene und Spezialgeschichten freizugeben. Trotz der tatsächlichen Ubiquität des Begriffsgebrauchs sperrt sich der Begriff seinem Sinn nach gegen allzu freigiebige Pluralisierung von Geschichte in Geschichten. Vielmehr scheint dem historiographischen Konzept »Zäsur« eine umgekehrte Richtung eigen zu sein, die es weniger für immer kleinere als vielmehr für die Generierung immer größerer Orientierungsmarken der europäischen oder sogar Globalgeschichte disponiert.39 Das Konzept »Zäsur« tendiert damit zu einer ›Geschichte im Singular‹ und impliziert einen Rest Geschichtsphilosophie. Insofern fragt es sich, inwiefern es überhaupt die Geschehnisse selbst sind, die den Gebrauch des Konzepts »Zäsur« bestimmen.

Zäsurbedarf des modernen Menschen. In: Reinhard Herzog u. Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München: Fink 1987, S. 343–352. 38 Sabrow: Deutungszäsur (Anm. 1), S. 166. Vgl. auch Stolleis: Abschied (Anm. 19), S. 5: »Die […] These vom ›langen Abschied‹ [vom 19. Jh.] lautet: Zäsuren sind auf Plausibilität angelegte Merkzeichen der Historiographie. Es sind Hilfskonstruktionen zur Bewältigung von Datenmengen. Um ihre Ungleichzeitigkeit geht es in den folgenden sechs Abschnitten. Denn Rechtsgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Verfassungsgeschichte und politische Geschichte datieren den Abschied vom 19. Jahrhundert unterschiedlich.« Vgl. weiter Michael Prinz u. Matthias Frese: Sozialer Wandel und politische Zäsuren seit der Zwischenkriegszeit. Methodische Probleme und Ergebnisse. In: Dies. (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 1996, S. 1–31. 39 Von der Möglichkeit weltgeschichtlicher Zäsuren geht eine Ringvorlesung der Universität Hildesheim aus. Abrufbar unter http://www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/weltgeschicht liche-zaesuren-in-gesellschaft-und-politik-1989-2001-2011 (Stand: 31. 8. 2014). Vgl. auch Angela Siebold: 1989 – eine Zäsur von globaler Reichweite? In: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 10. 6. 2014, Nr. 24–26: Aufbruch ’89, S. 3–9. Für gesamteuropäische Zäsuren vgl. Florath: Revolutionsjahr (Anm. 22) und Andreas Thier, Guido Pfeifer u. Philipp Grzimek (Hg.): Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1999.

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8.

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Affinität von »Zäsur« und Gewalt

Zieht man die für die Pragmatik des »Zäsur«-Konzepts initialen Ereignisse heran, dann fällt allen Vorbehalten gegenüber Gewaltereignissen als Epochengrenzen zum Trotz die Affinität von »Zäsur« und Gewalt auf. Insbesondere bei Bezugnahme auf den Ersten Weltkrieg und die Shoa ist es das als irrational, ja als verstörend unverständlich qualifizierte Verhältnis zwischen der von großen geschichtlich konstituierten, staatlich organisierten und insofern ›rationalen‹ Gruppen aufgewendeten Gewalt und deren Nutzen, der die Rede vom »Zeiten-« oder »Zivilisationsbruch« motiviert. Im Falle des Ersten Weltkriegs sind es vor allem die in das Jahr 1916 fallenden Schlachten an der Westfront, namentlich der deutsche Angriff auf Verdun und die britisch-französische Somme-Offensive, nach deren jeweiligem Scheitern zu vernachlässigende Geländegewinne exorbitanten Opferzahlen gegenüberstehen. Im Fall der Shoa ist es die zweckspezifische Rationalität der zunehmend systematischen Vernichtung der europäischen Juden, die der Unbegreiflichkeit des Zwecks selbst gegenübersteht. In beiden Fällen ist es die Form der Gewalt, die die nachträglichen Interpreten vor Probleme stellt. Weil es sich nicht um quasi-natürliche Gewaltausbrüche, nicht um spontane, situative ›Eruptionen‹ von Hass und Tötungslust handelt, sondern um Ereignisse, die ein ausgesprochen hohes Maß an langfristiger Planung und arbeitsteiliger Koordination voraussetzen (Qualitäten also, die in anderen Zusammenhängen als systemische Rationalitäten beschrieben werden und Gesellschaften als modern kennzeichnen), irritieren sie die Beobachter. Während Lynchjustiz und Pogrom noch als historische Rückstände innerhalb moderner Gesellschaften beschrieben werden können, die darauf verweisen, dass die Ausbreitung der als Zivilisationsprozess begriffenen Moderne schrittweise und lückenhaft vonstattengeht, setzen die beiden Weltkriege und die nationalsozialistische Judenvernichtung die spezifischen Kräfte und Potentiale moderner Gesellschaften gerade voraus.

9.

Differenz von Erwartung und Erfahrung

Trotzdem ist es nicht die Form der Gewalt allein, die den Begriffsgebrauch reguliert. Die Geschichte der Moderne ist offensichtlich nicht zugleich eine Zivilisationsgeschichte oder der Zivilisationsprozess ist nicht als Prozess des Rückgangs, sondern nur als Formwandel der Gewalt zu beschreiben.40 Wer aber 40 Vgl. zum Komplex Moderne, Zivilisationsprozess und Gewalt Peter Imbusch: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.

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erkennt, dass Modernisierung nicht zugleich Pazifizierung ist, muss seine Geschichtsvorstellung revidieren, denn sie könnte bis dato allzu optimistisch gewesen sein. Um diese Umschrift nun wiederum zu rechtfertigen, attribuiert der Interpret dem Ereignis den einschneidenden Charakter, den eigentlich erst die dem Ereignis gegenüber notwendigerweise späteren – und zum Teil reichlich verspäteten41 – Neuinterpretationen zum Ausdruck bringen. Untersucht man also die Ursache der Irritation, die die Gewaltanwendung bei den Beobachtern hervor- und den »Zäsur«-Begriff auf den Plan ruft, genauer, so wird man auf deren Erwartungshorizont verwiesen. Nicht das Ereignis allein macht den Unterschied, sondern das Verhältnis zwischen dem, was sich ereignet, und dem, was im weltanschaulich gerahmten Erwartungshorizont als erwartbar gegolten hat.42 Das Zusammenspiel von Erwartung und Erfahrung eint zeitgenössische und historiographische Perspektiven. Sieht man von marxistisch inspirierten Geschichtsphilosophien ab, die sich selbst freilich nicht als philosophisch, sondern als wissenschaftlich bezeichnen würden, dann dürfte sich schnell Einigkeit darüber herstellen lassen, dass historische »Zäsuren« historiographische Kategorien sind und nicht objektive ›Einschnitte‹ in der Geschichte selbst. Allein das Merkmal der Singularität der Shoa bzw. des Holocaust, das im Historikerstreit eine zentrale Rolle gespielt und die Hauptparteien unversöhnlich hat gegenüberstehen lassen,43 stellt eine Ausnahme dar. Die Konsequenz daraus ist in gewissem Sinne paradox: Weil die Tatsache der Judenvernichtung selbst die »Zäsur« ist (und nicht die Differenz zwischen Geschehen und Erwartungshorizont), beherrscht das Problem der Repräsentation (und ihrer Grenzen) die akademischen Diskussionen und die Debatten kreisen um die Frage, »welche formalen Erfordernisse für die verantwortungsvolle Darstellung des Holocaust erfüllt sein müssen.«44 Auch das größte Beharren darauf, dass die

41 Vergleicht man die Deutungsgeschichte der Judenvernichtung mit der intellektuellen Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, dann kann man die öffentliche Diskussion des Holocaust bzw. der Shoa als ›verspätet‹ bezeichnen, ohne zu vergessen, dass bereits die öffentliche Diskussion über den Ersten Weltkrieg in der Breite erst zehn Jahre nach Kriegsende Fahrt aufnimmt. 42 Vgl. den klassischen Aufsatz von Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [1976]. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 349–375. 43 Vgl. u. a. Ernst Nolte: Zwischengeschichtslegende und Revisionismus? sowie ders.: Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: Rudolf Augstein u. a.: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München: Piper 1987 S. 13–35 u. 39–47. Vgl. dagegen Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. In: Ebd., S. 62–76 und z. B. Jürgen Kocka: Hitler sollte nicht durch Stalin und Pol Pot verdrängt werden. In: Ebd., S. 132–141. 44 Frank R. Ankersmit: Die postmoderne Privatisierung der Vergangenheit. In: Herta Nagl-

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Geschehnisse selbst und nicht erst deren Darstellung – d. h. je nach Konzeption: Erinnerung, Bezeugung – die Bedeutung des Ereignisses konstituiert, zieht eine metahistorische Diskussion nach sich, die notwendigerweise von der historischen auf die historiographische Ebene führt – und darüber hinaus.

10.

Eine limitierte Sprechmöglichkeit

Die methodologische Überzeugung, es in Konzepten wie der »Zäsur« mit historiographischen ›Anschauungsformen‹ zu tun zu haben, die sich durch wissenspragmatische Funktionalität rechtfertigen, erübrigt nicht die Frage nach der je spezifischen Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Begriff und Sache. Zieht man zum Vergleich den Begriff »Epoche« heran, mit dem ein Zeitabschnitt der Geschichte als in je spezifischer Hinsicht temporär selbstidentisch bezeichnet wird, dann erscheint beim Gebrauch des Begriffs »Zäsur« die performative Seite stärker ausgeprägt. Bei Verwendung des »Zäsur«-Begriffs dominiert die Sozialdimension über die Sachdimension. Wer »Zäsur!« sagt, bezieht sich stärker auf das Welt- und Geschichtsbild seiner Adressaten als auf das Geschehen, das seinem Appell als Anlass dient. Die eine Epoche ist anders als die andere, »Romantik« etwas anderes als »Realismus«. Objektive Unterschiede dieser Art muss jede Geschichtsschreibung, die mit Epochen arbeitet, als grundsätzlich möglich voraussetzen. Nach »Zäsuren« dagegen ist die Welt nicht im gleichen ›objektiven‹ Sinne anders wie nach dem Eintritt in eine neue »Epoche«. Sie ist anders anders. Vor die normalgeschichtlichen Unterschiede, die der Wandel und die Fortschritte im Laufe der Jahre mit sich bringen, hat sich ein einziger gewaltiger Unterschied geschoben. Die Setzung einer »Zäsur« konstruiert eine andere Alterität als es Epochen tun. Sie holt eine Gewalt zurück in die Historiographie, die historisch spezifische Formen kennt, aber vielleicht gar nicht durch und durch geschichtlich ist. Als historiographischer Terminus ist der Begriff »Zäsur« jedenfalls weitgehend leer. Er zeigt den Bedarf an Bestimmung eines eklatanten Unterschieds an, kann diesen aber nicht selbst befriedigen. Deskription ist nicht seine Domäne. Wo er gebraucht wird, schwingt vielmehr eine moralische Dringlichkeit mit, die den Begriff »Zäsur« kommunikativ riskant oder eben reizvoll macht. Wird die Dringlichkeit allgemein empfunden, erscheint der Begriffsgebrauch angemessen. Ist das nicht der Fall, kann der Verdacht entstehen, dass die eigene Sache brisanter erscheinen soll als sie ist. In beiden Fällen hat der Gebrauch eine Docekal (Hg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Frankfurt/ M.: Fischer 1996, S. 201–234, hier S. 216.

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symptomatische Qualität, die es nahe legt, ihn weniger zu verwenden als sein Vorkommen zu untersuchen. Die Rede von der »Zäsur« stellt insofern eine limitierte, aber notwendige Sprechmöglichkeit dar, die besondere Situationen markiert. Einige Merkmale lassen sich aus dem Sprachgebrauch rekonstruieren. Anwendungsregeln zu formulieren, ist sinnlos. Zu bedenken bleibt nur, dass es auch als vergesslich erscheinen kann, jeden neuen Akt der Unmenschlichkeit zur »Zäsur« zu erklären.

Dirk Rose

Kriegserklärungen. Polemisches Material 1882–1914

1.

»Nietzsche militans«

Zu den letzten Texten, die Friedrich Nietzsche schrieb, gehören Kriegserklärungen an das Deutsche Reich und dessen regierende Dynastie. Einer davon ist überschrieben Todkrieg dem Hause Hohenzollern. In ihm heißt es: [I]ch will das Reich in ein ehernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskampf herausfordern. Ich werde nicht eher die Hände frei bekommen, als bis ich den christlichen Husaren von Kaiser, diesen jungen Verbrecher sammt Zubehör in den Händen habe – mit Vernichtung der erbarmungswürdigsten Mißgeburt von Mensch, die bisher zur Macht gelangt ist.1

Und in dem etwa zur selben Zeit, Ende 1888 bzw. Anfang 1889, entstandenen Fragment Die große Politik erklärt er :2 Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit. (KSA 13, 637)

Diese nicht nur auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Texte sollen hier zunächst in ihrem werkgeschichtlichen Kontext betrachtet werden, bevor sie eine weitergehende polemiktheoretische Einordnung im Rahmen einer sich radikalisierenden Rhetorik in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erfahren. Sie stehen in engem Zusammenhang mit dem autobiographischen 1 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 13. 2., durchges. Aufl. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv 1988, S. 643. Im Folgenden mit der Sigle KSA sowie Band- und Seitenzahl in Klammern nachgestellt. 2 Der Begriff der ›großen Politik‹ hat vor allem in der französischen Nietzscheliteratur aus dem Umfeld des Poststrukturalismus große Aufmerksamkeit erfahren. Zur Begriffsgeschichte vgl. die betreffenden Quellen bei Markus Wirtz: Der Begriff der »großen Politik« bei Nietzsche. Reflexionen zur Globalisierung des Übermenschen. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 13 (2004) H. 1, S. 43–60, hier S. 43f.

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bzw. ›autohagiographischen‹3 Projekt Ecce Homo, an dessen Ende sich ursprünglich zwei Kapitel befanden, deren Titel lauteten: »Kriegserklärung« und »Der Hammer redet« (KSA 6, 262). Das Kapitel »Kriegserklärung« ist vollständig vernichtet worden, entweder von Nietzsche selbst oder später von fremder Hand. Jedenfalls fehlen die betreffenden Seiten in dem durchpaginierten Manuskript, das sich heute im Nietzsche-Archiv in Weimar befindet und in einer Faksimileausgabe zugänglich ist.4 Mit hoher Wahrscheinlichkeit stellen die eingangs zitierten Nachlassfragmente Vorstufen bzw. Varianten dieses Ecce Homo-Kapitels dar. Es hätte vermutlich das ganze Buch in ein anderes Licht gerückt. Denn die Autorgeschichte, welche darin als Narrativ entfaltet wird, hätte in einer Kriegserklärung gegipfelt, die zugleich konsequente Fortsetzung von Nietzsches Werk wie dessen unüberbietbare Steigerung gewesen wäre.5 Das Schreiber-Ich, das hier auf seine Texte zurückblickt, sollte dabei offenbar als ein radikaler Polemiker positioniert werden. Polemos bedeutet bekanntlich Krieg6 – und so kann Nietzsche »als alter Artillerist […] schweres Geschütz vorfahren«,7 wie er in einem Brief an Georg Brandes über Ecce Homo schreibt. Autobiographische Selbstvergewisserung und exemplarische Selbstbehauptung münden so direkt in die Selbstermächtigung eines Polemikers, dessen Schreibbewegung aus den Texten heraus drängt, weil sie erst in der aggressiven Tat ihre Erfüllung findet.8 Entsprechend nennt er im selben Brief das Buch »ein Attentat ohne die 3 Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Stuttgart: Reclam 2012, S. 133 nennt Ecce Homo im Anschluss an Andreas Urs Sommer eine »Autohagiographie«. 4 Beide Teile, im Inhaltsverzeichnis des Manuskripts (von fremder Hand?) durchgestrichen, wurden für die Druckfahnen »auf Nietzsches Anweisung vom 29. Dezember 1888 wieder ausgeschieden«; die Seiten 45–47, auf denen sich vermutlich die Kriegserklärung fand, fehlen im Manuskript. Vgl. Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Faksimileausgabe der Handschrift. Hg. von Karl-Heinz Hahn u. Mazzino Montinari. Wiesbaden: Reichert 1985 (Herausgeberzitat S. 87). »Der Hammer redet« bildet hingegen den Abschluss der Götzen-Dämmerung. Vgl. KSA 6, 161. 5 Diese Annahme unterstellt eine Identifikation von Autor- und Textsubjekt, die in der Nietzscheforschung höchst umstritten ist. Vgl. etwa Daniela Langer : Wie man wird, was man schreibt: Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes. Paderborn, München: Fink 2005, S. 91–175. Sie geht von der polemiktheoretischen Engführung von »polemischem Subjekt« (nach Stenzel; vgl. Anm. 16) und der Person des Sprechers aus, da nur so die Wirksamkeit der Polemik im Sinne eines rhetorischen ¦thos garantiert werden kann. Ein Polemiker, der seine Polemik als Rollenrede markiert, macht sich dagegen lächerlich. 6 Zur Wortgeschichte vgl. etwa Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 8f. 7 Friedrich Nietzsche: An Georg Brandes in Kopenhagen [20. 11. 1888]. In: Ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Abt. III, Bd. 5: Briefe Januar 1887–Januar 1889. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter 1984, Nr. 1151, S. 482f., hier S. 482. 8 Vgl. dazu Dirk Rose: Zwischen Selbstermächtigung und Selbstzerstörung. Polemisches Schreiben im Spätwerk Nietzsches. In: Christian Benne u. Enrico Müller (Hg.): Ohnmacht des Subjekts – Macht der Persönlichkeit. Basel: Schwabe 2014, S. 237–249.

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geringste Rücksicht«;9 und sein Empfänger, Brandes, wird ein Jahr später ›Radikalität‹ als eine zentrale Kategorie zum Verständnis von Nietzsches Texten herausstellen.10 Im Grunde steht Nietzsches gesamtes Spätwerk unter dieser kriegerischen Haltung, die eine »jenseits der zufälligen Verschiedenheiten […] einzig notwendige Differenz«11 einzieht zwischen den »Cultur-Verbrechen« der zeitgenössischen Gegenwart und »einer höheren Ökonomik der Cultur« (KSA 13, 641), die von ihm zur Konfliktlinie für einen epochalen Entscheidungskampf erklärt wird.12 Schon der unmittelbar vor Ecce Homo entstandenen GötzenDämmerung bescheinigt er : »Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung« (KSA 6, 58). Und auch die Polemik im Fall Wagner ist weniger gegen den bereits fünf Jahre zuvor verstorbenen Komponisten gerichtet als vielmehr gegen »die Modernität«, die »durch Wagner […] ihre intimste Sprache [redet]« (KSA 6, 12). In diesen Schriften ist der Umschlag von einer Kulturkritik, wie sie Nietzsche bereits in seinen frühesten Baseler Schriften formuliert hat, in einen ›Kulturkrieg‹, der »voller Hochmut auf die zu vernichtenden Entarteten und Schwachen blickt«,13 bereits weitgehend vollzogen.14 Existentiell verstärkt wird das durch die Einsetzung des ›Lebens‹ als Letztinstanz, die von zeitgenössischen kulturellen Entwicklungen bedroht erscheint.15 So wird aus einer Kultur- eine Schicksalsfrage. Der Titel des Kapitels in Ecce Homo, das im Manuskript unmittelbar vor der »Kriegserklärung« stand und in der posthumen Buchausgabe den Schluss bildet, lautet bekanntermaßen: »Warum ich ein Schicksal bin« (KSA 6, 365–374). 9 Nietzsche: An Georg Brandes (Anm. 7), S. 482. 10 Georg Brandes: Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche. In: Deutsche Rundschau 63 (April–Juni 1890), S. 52–89. 11 Wirtz: Der Begriff der »großen Politik« (Anm. 2), S. 53. 12 Inwiefern Nietzsche hier auf einer theologischen Polemik aufbaut, die er »enttheologisiert«, ohne damit jedoch den theologischen Normbezug auf das Absolute aufzugeben, zeigt Andreas Urs Sommer : Zwischen Agitation, Religionsstiftung und »Hoher Politik«: Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde. In: Nietzscheforschung 4 (1998), S. 169–194, hier S. 188–191 (Zitat S. 188). 13 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günter Anders. München: C. H. Beck 2007, S. 193. 14 Ergänzend dazu Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: WBG 2000, S. 15: »Der ›Kulturkrieg‹ bildet meines Erachtens das Produkt einer sukzessiven zivilisationskritischen Radikalisierung, die sich aber erst im Ersten Weltkrieg aggressiv nationalisiert und politisch explizit Stellung bezieht«. Zumindest was Aggressivität und Radikalität angeht, ist mit Nietzsche bereits ein gewisser Endpunkt erreicht. 15 Zum ›Leben‹ als zentraler Denkkategorie Nietzsches vgl. Volker Gerhardt: Leben bei Kant und Nietzsche. In: Ders.: Die Funken des freien Geistes. Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft. Hg. von Jan-Christoph Heilinger u. Nikolaos Loukidelis. Berlin, New York: de Gruyter 2011, S. 87–105, bes. S. 102f.

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Damit wird zweierlei erreicht. Zum einen wird der konstatierte kulturelle Konflikt fundamentalisiert und bekommt selbst letztinstanzliches Gewicht. Zum anderen zielt die polemische Aggressivität auf alle Agenten einer als dem ›Leben‹ gefährlich eingestuften zeitgenössischen Kultur und kann entsprechend adressiert werden. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass sich eine Kriegserklärung innerhalb einer autobiographisch inspirierten Schrift befinden sollte: Denn das »polemische Subjekt« wird dadurch ebenso konkret zurechenbar wie das »polemische Objekt«, dem es den Krieg erklärt.16 Darüber hinaus stehen beide Positionen aber auch exemplarisch für die agonalen Zeitströmungen und sind deshalb trotz ihrer empirischen Konkretheit gewissermaßen nur stellvertretend von den jeweiligen Personen besetzt. In den sogenannten ›Wahnsinnszetteln‹ setzt Nietzsche fallweise den »Gekreuzigten« und »Dionysos« an seine Stelle; auf der Gegenseite kann im Prinzip jeder Vertreter der zeitgenössischen Kultur Opfer dieser Polemik werden. Auf einem der Zettel notiert »der Gekreuzigte«, er »lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen«,17 auf einem anderen erklärt »Dionysos«: »[A]lle Antisemiten erschießen«.18 In der späten Polemik Nietzsches waltet ein Vernichtungswille, der konkrete Individuen als Träger einer Kultur auslöschen will, um diese selbst zu Fall zu bringen. So teilt ein gewisser »Friedrich Nietzsche« zwei Tage nach den oben geschriebenen Zetteln mit: »Wilhelm[,] Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft«.19 Diese kaum noch eingrenzbare und dennoch auf konkrete Personen zielende Vernichtungslogik hat nicht zufällig Ernst Nolte hervorgehoben, der sie seinerseits in polemischer Absicht beschreibt:20 »Wenn ›Vernichtung‹ im Wortsinne verstanden wird, müßte das Ergebnis ein Massenmord sein, mit dem verglichen die später real gewordene ›Endlösung‹ der Nationalsozialisten geradezu mikroskopische Dimensionen aufwiese.«21 Mit anderen Worten und ohne die historische Relativierungsabsicht, die Noltes Einschätzung zu Grunde liegt: In Nietzsches Kriegserklärungen ist bereits ein Radikalitäts- und Absolutheitsanspruch angelegt, den vermutlich nur ein absoluter Krieg als reines Me16 Die Terminologie nach Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 3–11, hier S. 5f. 17 Nach dem Faksimile bei Detering: Antichrist (Anm. 3), S. 12. 18 Zit. n. ebd., S. 181. 19 Zit. n. ebd. 20 Bekanntlich drehte sich der sogenannte ›Historikerstreit‹, in dem Ernst Nolte als ein Protagonist fungierte, um die Vergleichbarkeit des Holocaust. Vgl. aus der reichhaltigen Literatur nur den Band von Steffen Kailitz (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der »Historikerstreit« und die deutsche Geschichtspolitik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Vor diesem Hintergrund ist Noltes Vergleich an dieser Stelle ein gezielter polemischer Affront. 21 Ernst Nolte: Nietzsche und der Nietzscheanismus. Durchges. u. erw. Neuaufl. München: Herbig 2000, S. 218.

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dium der Zerstörung hätte einlösen können. In den Fragmenten zur großen Politik heißt es: »Es giebt mehr Dynamit zwischen el und Erde als diese gepurpurten Idioten sich träumen lassen…« (KSA 13, 641). Mit derselben Metapher hat Nietzsche sein eigenes polemisches Schreiben seit Jenseits von Gut und Böse immer wieder charakterisiert und in Ecce Homo – den Titel der Schrift negierend – resümiert: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit« (KSA 6, 364).22 Eine so verstandene Polemik bricht mit jeder Form polemischer Kommunikation innerhalb einer, wie auch immer gearteten, Streit- und Debattenkultur, die über Jahrhunderte hinweg als ›Federkrieg‹ gelehrte Auseinandersetzungen bestimmt hat.23 Nietzsche waren diese Formen früh vertraut, wie seine Polemik gegen David Friedrich Strauss, den »Bekenner und Schriftsteller« (KSA 1, 157), zeigt. Mit seinen späteren Kriegserklärungen will er offensichtlich das Feld der Literatur hinter sich lassen und die polemische Aggressivität performativ in konkretes soziales Handeln übersetzen. Sie bedeuten die letzte Eskalationsstufe für ein polemisches Schreiben, das mit der Niederschrift der Kriegserklärungen seinen Gegnern die Möglichkeit einer diskursiven Antwort demonstrativ verwehrt, indem es sie zu Gegenreaktionen auffordert, die nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Schriftkommunikation liegen. Man kann sie, mit Friedrich Kittler, als eine »Machtergreifung« ansehen, welche »hinter die Diskursivität Literatur zurück[führt]«.24 Genau das erwartete Nietzsche als Reaktion auf seine brieflich verschickten Kriegserklärungen an Bismarck und Wilhelm II. In einem Brief an August Strindberg insistiert er : »[D]arauf dürfen Militärs nicht mit Polizei-Maßregeln antworten«.25 Eben das geschieht jedoch: »[D]araufhin hat die Macht, der Krieg erklärt werden sollte, nicht durch Gegenkriegserklärung ihrer Feldherrn, sondern durch Unzurechnungsfähigkeitserklärungen ihrer Beamten geantwortet«.26 Kittler sieht darin durchaus eine böse Ironie am Werk: 22 Die Dynamit-Metapher übernimmt Nietzsche aus einer Rezension zu Jenseits von Gut und Böse in der Berner Zeitschrift Bund vom 16./17. 9. 1886, wo die Sprengkraft seines Buches mit derjenigen beim Bau der Gotthartbahn verglichen und das Fazit gezogen wird: »Hier liegt Dynamit!« Zit. n. Werner Stegmaier : Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin). In: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 62–114, hier S. 80. Vgl. dazu jetzt auch Andreas Urs Sommer : »Glossarium«, »Commentar« oder »Dynamit«. Zu Charakter, Konzeption und Kontext von Jenseits von Gut und Böse. In: Marcus Andreas Born u. Axel Pichler (Hg.): Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, S. 69–86. 23 Vgl. zu dieser Tradition knapp unten, den Anfang von Kap. 2. 24 Friedrich Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht. Der Autor von ›Ecce homo‹. In: Jacques Derrida u. Friedrich Kittler : Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin: Merve 2000, S. 65–99, hier S. 93. 25 Friedrich Nietzsche: An August Strindberg in Holte [8. 12. 1888]. In: Ders.: Briefwechsel (Anm. 7), Nr. 1176, S. 507–509, hier S. 509. 26 Kittler : Wie man abschafft (Anm. 24), S. 95.

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»Die Kriegserklärung unterstellte eine jurido-politische Machtstruktur auch noch dort, wo unsere Kultur längst auf der Höhe ihres Philosophen war und wie er nur noch mit Gesundheit und Krankheit, Normalem und Anormalem operierte«.27 Die Kultur der Moderne, so ließen sich diese Überlegungen zusammenfassen, folgt selbst schon jener kulturellen Leitdifferenz, welche Nietzsche als fundamentale Konfliktlinie gezogen wissen wollte, und die seine Kriegserklärungen wenn nicht legitimierte, so doch motivierte. Gerade deshalb konnten sie eine solch erstaunliche Resonanz und Akzeptanz finden. Denn auch wenn die Zeitgenossen weder die vernichtete Kriegserklärung aus Ecce Homo noch die im Nachlass erhaltenen Texte zu lesen bekamen, so ließ sich doch ohne große Mühe das gesamte Spätwerk Nietzsches als eine einzige Kriegserklärung in dieser Hinsicht verstehen.28 Thomas Mann schreibt in den Notizen »Geist und Kunst« wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: »Unser Nietzsche ist der Nietzsche militans.«29 Und bei Ausbruch des Krieges ist dann sogar die Rede davon, dies sei »der Krieg Nietzsches«.30 Mit seinen Texten war die Option eines ›Kulturkrieges‹ als Vernichtungskrieges in der Welt, die auch Ergebnis eines sich selbst überschreitenden polemischen Schreibens war, das in der Textsorte ›Kriegserklärung‹ seinen rhetorisch kaum mehr überbietbaren Höhepunkt fand und seine performative Einlösung als Erlösung geradezu herbeizuschreiben schien.

27 Ebd. 28 Vgl. nur das Kapitel »Zarathustra in den Schützengräben« bei Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart, Weimar : Metzler 1996 [1992], S. 130–167. 29 Thomas Mann: Geist und Kunst. [Notizen zu einem Literaturessay]. In: Ders.: Aufsätze, Reden, Essays. Bd. 1: 1893–1913. Hg. von Harry Matter. Berlin, Weimar : Aufbau 1983, S. 268–325, hier S. 312. Diese Figur wird Thomas Mann dann in seinen eigenen Schriften zu Beginn des Ersten Weltkriegs weiter ausbauen. Vgl. Heinrich Detering: Im Krieg der Gedanken. Von Thomas Manns »Gedanken im Kriege« zur Republikrede. In: Merkur 58 (2004), S. 836–846, bes. S. 838–841. 30 Die Formulierung ist durch Werner Sombarts Buch Händler und Helden populär geworden, wo es zu Beginn des Kapitels »Der deutsche Geist« heißt: »Wenn Ausländer über den gegenwärtigen Krieg philosophieren, so kommen sie seltsamerweise immer auf den einen Gedanken zurück: der Krieg von 1914 ist der Krieg Nietzsches« (Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1915, S. 53). Sombart bezieht sich dabei offenbar auf englische Quellen. Vgl. das Kapitel »Nietzsches Krieg?« bei Peter Köster : Der verbotene Philosoph. Studien zu den Anfängen der katholischen Nietzsche-Rezeption in Deutschland (1800–1918). Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 167–180, hier S. 174f.

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2.

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Kritische Waffengänge

Geistige Auseinandersetzungen als ›Federkrieg‹ zu bezeichnen, ist ein uralter Topos.31 Dennoch lässt sich für die Moderne eine neue Qualität ausmachen. In den Hintergrund tritt ein Modus der Auseinandersetzung (methodus polemica), bei dem in einem abgegrenzten Feld ein Konflikt mit spezifischen Interessen und Regularien ausgetragen wird, welche auf allgemeine Akzeptanz innerhalb dieses Feldes rechnen können.32 Vielmehr gewinnen die intellektuellen Auseinandersetzungen nun einen grundsätzlichen, man könnte auch sagen: fundamentalen Charakter, der mit dem Geneseprozess der Moderne selbst und dessen zutiefst polemischer Natur verbunden ist.33 Das lässt sich bis in die Querelle des Anciens et des Modernes zurückverfolgen.34 Denn ›Moderne‹ in diesem Sinn kann sich weder auf Traditionen noch auf Autoritäten berufen, sondern legitimiert sich gerade in der Negation und im mehr oder weniger ostentativen Bruch mit ihnen.35 Nicht unter dem Signum der Konfliktvermeidung steht die Kultur der Moderne daher, sondern demjenigen der Konfliktverschärfung.36 Das annonciert bereits der Titel eines der ersten Zeitschriftenprojekte, mit dem die literarische Moderne in Deutschland einsetzt: die zwischen 1882 und 1884 von Julius und Heinrich Hart publizierten Kritischen Waffengänge.37 Ihr 31 Vgl. etwa Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Metaphorik von gelehrten Streitkulturen der Frühen Neuzeit. In: Kai Bremer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Zeitsprünge 15 (2011) H. 2/3, S. 158–175. 32 Vgl. den Artikel (bzw. dessen Querverweis) »POLEMICA METHODUS«. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses Vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 28. Halle: Zedler 1741, Sp. 1079. 33 So die Grundthese von Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, bes. S. 601–651 (»Aufklärung als Organisation von polemischem Wissen«). 34 Vgl. die Quellensammlung von Anne-Marie Lecoq (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes. Paris: Gallimard 2001. Dazu noch immer lesenswert: Werner Krauss: Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes. In: Ders.: Essays zur französischen Literatur. Berlin, Weimar : Aufbau 1968, S. 130–194, bes. S. 157–168. 35 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Art. »Modern, Modernität, Moderne«. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93–131, hier S. 126–128. 36 Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur [1918]. In: Ralf Konersmann (Hg.): Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt. Leipzig: Reclam 2001, S. 95–114, hier S. 97 hat diesen Konflikt als nicht auflösbare »latente Opposition« von Zerstörung und Formgebung beschrieben, welcher in seiner paradoxalen Zuspitzung die Kultur der Moderne wesentlich ausmache. 37 Zu Vorgängerpublikationen, die nicht zufällig im Umfeld des ›Jungen Deutschland‹ stehen, vgl. Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar : Metzler 2011, S. 15. Zum ›Jungen Deutschland‹ als »politische Avantgarde« vgl. die gleichnamige

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programmatischer erster Aufsatz ist mit einer Kampfansage überschrieben: »Wozu, Wogegen, Wofür?«38 In ihm wird eine auffällige Parallele zwischen kulturellen und kriegerischen Auseinandersetzungen gezogen, die schon Lessing bei der Publikation der Literaturbriefe im Siebenjährigen Krieg unternimmt.39 Allerdings unterscheidet sich die Situation am Ende des 19. Jahrhunderts hiervon in mindestens zwei Punkten. Zum einen fordern die Kritischen Waffengänge eine Art Entscheidungskampf agonaler »Weltanschauung[en]« (KW I, 4), in dem es um mehr als Ästhetik geht: »[U]nsere Kämpfe entscheiden nicht zwischen Häßlich und Schön, sondern zwischen Gut und Böse« (KW I, 4). Zum anderen soll – einen Impuls aus Nietzsches erster Unzeitgemäßer Betrachtung aufgreifend – jene Neugründung des Deutschen Reiches, die durch den Krieg 1870/71 auf politischem Gebiet erfolgt ist, nun auch im kulturellen Feld durchgesetzt werden.40 Dieser Anspruch wird in einem »Offenen Brief an den Fürsten Bismarck« (KW II, 3–8) formuliert, mit dem das zweite Heft der Waffengänge beginnt, und der ihre kulturpolitische Stoßrichtung deutlich zutage treten lässt: »Elf Jahre sind nunmehr vergangen, seit aus dem Chaos des großen Krieges das neue Reich emporstieg« (KW II, 4). Leider, so die Brüder Hart, hätte die kulturelle Entwicklung mit der politischen nicht Schritt gehalten; vielmehr würde die zeitgenössische Kultur von Akteuren dominiert, die dieser herausragenden historischen Situation nicht gewachsen seien. Daher müsse der Krieg von 1870/71 auf kulturellem Gebiet nachgeholt werden. Dieser Aufgabe verschreiben sich die Kritischen Waffengänge, bis hin zu der Forderung, jene Akteure auch physisch zu vernichten: Wir rufen den Kritikern zu: Helft uns kämpfen gegen die Tyrannei der Modedichterlinge und Poesiefabrikanten, denn die spekulative Mache und das Unkraut des Dilettantismus duldet man nicht, schont man nicht, wenn sie überhand nehmen, sondern man vernichtet sie. (KW V, 3)

Damit ist eine literarische Kriegserklärung ausgesprochen, die über die Sphäre des Ästhetischen hinaus und tief ins Politisch-Moralische zielt, eben weil sie Quellensammlung von Alfred Estermann (Hg.): Politische Avantgarde 1830–1840. Eine Dokumentation zum ›Jungen Deutschland‹. 2 Bde. Frankfurt/M.: Athenäum 1972. 38 Heinrich Hart u. Julius Hart: Kritische Waffengänge. Leipzig: Wigand 1882–84, Nr. I, S. 3. Zitiert wird nach der Originalausgabe mit der Sigle KW sowie Zeitschriftennummer (römisch) und Seitenzahl in Klammern nachgestellt. 39 Vgl. Dirk Rose: Lessings Krieg. Zum publizistischen und polemikgeschichtlichen Ort der Literaturbriefe. In: Stefanie Stockhorst (Hg.): Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover : Wehrhahn 2015, S. 93–111. 40 Nietzsche sieht bekanntermaßen in der Reichsgründung »eine grosse Gefahr«, nämlich »unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ›deutschen Reiches‹« (KSA 1, 159f.).

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nach Gut und Böse statt nach Schön und Hässlich unterscheidet. »Der überaus aggressive Ton«, so die Einschätzung von Ingo Stöckmann, muss »analog zum Titel der Zeitschrift als interventionistische Textpraxis verstanden werden, das heißt als eine ›kriegerische‹ Schreibbewegung, die unmittelbar in das literarische Feld eingreift und alle Autoren, die in ihm tätig sind, entlang der elementaren Unterscheidung von Freunden und Feinden orientiert.«41 Unter dieser Voraussetzung bricht sich in einigen Aufsätzen der Zeitschrift eine Polemik Bahn, deren bellizistische Rhetorik in einer Kriegserklärung gipfelt, die unter dem Zeichen der Kultur einen fundamentalen gesellschaftlichen Konflikt heraufbeschwört – und entschieden wissen will. Damit »reichen die Kritischen Waffengänge bereits in einen konzeptuellen Avantgardismus hinein«,42 der seinerseits programmatisch einen Durchsetzungsanspruch jenseits des Ästhetischen formulieren wird. Auch aus diesem Grund oszilliert ihr kriegerischer ›Vernichtungswille‹ betont unentschieden zwischen tradierter Metaphorik des ›Federkrieges‹ und sozialweltlichem Konfliktverhalten.

3.

Manifeste der Avantgarde

Im Jahr 1908 erschien die erste Ausgabe von Nietzsches Ecce Homo; und zwar, wie bekannt, ohne die geplante Kriegserklärung am Ende. Ein Jahr darauf folgte das erste Manifest des italienischen Futurismus,43 das als kulturelle Kriegserklärung verstanden sein wollte. Dass eine solche Textprogrammierung in der Logik einer politisch-kulturellen Avantgarde angelegt war, hatten schon fast dreißig Jahre früher die Kritischen Waffengänge gezeigt. Was sich änderte, waren Ton und Präsentation. Sind die Kriegserklärungen in den Waffengängen noch in der klassischen Form längerer Zeitschriftenabhandlungen mehr oder weniger versteckt, so stellen sie bei den Avantgardisten eine eigenständige und im Wortsinn plakative Textsorte dar : Die entsprechenden Texte erschienen entweder als Aufrufe in Tageszeitungen bzw. Zeitschriften oder als öffentlicher Anschlag. Sie imitieren damit genau jene Formen, welche im Druckzeitalter der Veröffentlichung politischer Verlautbarungen vorbehalten gewesen sind. Nicht zur sinnenden, kulturell abgesicherten Lektüre wollen sie einladen, sondern zur performativen Reaktion, das heißt zur öffentlichen Aktion. Mit ihnen ist die polemische Materialschlacht um die Moderne endgültig eröffnet.44 41 Stöckmann: Naturalismus (Anm. 37), S. 15. 42 Ebd. 43 Filippo Tommaso Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus [1909]. In: Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart, Weimar : Metzler 1995, S. 3–7. 44 Vgl. die folgende Abbildung aus Filippo Tommaso Marinetti u. a.: Futuristische Synthese des

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Ausschnitt aus dem Manifest Futuristische Synthese des Krieges

Dabei ist anfangs noch ein ästhetisch-spielerisches Element zu beobachten, das jedoch mehr und mehr in den Hintergrund zu treten scheint. Auf das berühmt gewordene ›erste futuristische Manifest‹ ließ Marinetti im April 1909 ein zweites folgen, das mit der Forderung anhebt: »Tod dem Mondschein!«45 Vordergründig soll damit natürlich ein romantischer Ikonoklasmus betrieben werden. Aber der Text geht weit darüber hinaus, wenn er die Vertreter der Tradition mit den Worten anspricht: Feiglinge! Feiglinge! … Was schreit ihr denn wie bei lebendigem Leibe geschundene Iltisse? … Fürchtet ihr, daß wir eure Hütten einäschern? … Noch nicht! Wir müssen uns doch wohl im nächsten Winter Heizmaterial besorgen! Inzwischen sprengen wir alle Traditionen in die Luft wie wurmstichige Brücken! … Krieg? Gewiß! … Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille … Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr zu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unseren Weg versperren! …46

Krieges [Faksimile]. In: Ebd., S. 89. Hier werden die unterschiedlichen kulturellen Positionen analog zur Kriegskartographie als Frontverlauf dargestellt, in den die Avantgarde einen Keilangriff hinein treibt. 45 Filippo Tommaso Marinetti: Tod dem Mondschein! [1909]. In: Ebd., S. 7–11. 46 Ebd., S. 8.

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Mit etwas gutem Willen kann das noch als radikale Neuerungsgeste im ästhetisch-kulturellen Feld verbucht werden – sofern man bereit ist, auch die Androhung der Einäscherung bzw. des Abrisses der Hütten metaphorisch zu lesen. Im Grunde zielt aber diese Kriegserklärung an den Mond auf eine condition humaine,47 welche sich nur noch durch einen Krieg revidieren lässt. An die Stelle des Mondscheins und seiner ›Mörder‹ konnten daher relativ leicht politische Akteure treten. Das sogenannte ›politische Programm des Futurismus‹ fordert gleich eingangs: ALLES IST ERLAUBT, NUR NICHT FEIGLING, PAZIFIST UND ANTIITALIENER ZU SEIN. EINE GRÖSSERE FLOTTE UND EIN GRÖSSERES HEER; EIN VOLK, DAS STOLZ DARAUF IST, ITALIENISCH ZU SEIN, FÜR DEN KRIEG, DIESE EINZIGE HYGIENE DER WELT […].48

Der politische Gegner wird nun präziser benennbar. So bekommt das diffuse Feindbild einer sozial differenzierten, ökonomisch-kalkulierenden sowie sozialstaatlichen Prinzipen verpflichteten Gesellschaft, mit einem Wort: der westlichen Zivilisation, einen konkreten Adressaten: »ZERSTÖRT Zuerst (aus Höflichkeit) ENGLAND«,49 fordert im Juni 1914 ein Manifest der englischen Gruppe ›Vortex‹. Angesichts dessen mag es nicht Wunder nehmen, wenn der russische Avantgardist Viktor Chovin kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Herbst 1914 einräumt: Ich fürchte, naiv zu wirken, aber ihm, Marinetti, dem Herold des italienischen Futurismus, bin ich bereit, eine verhängnisvolle Rolle im Weltkrieg zuzuschreiben, der Europa mit dem Rauch niedergebrannter »ehrwürdiger« Städte und »ehrwürdiger« Museen einhüllte. […] Noch unlängst streute der Marinettismus seine schreihalsigen Manifeste über Europa aus, in denen er Krieg forderte … den Weltkrieg!50

Ob und inwiefern die Avantgarde eine Mitschuld am Ersten Weltkrieg trägt, soll hier nicht diskutiert werden.51 Festzuhalten bleibt jedoch, dass angesichts des polemischen Materials, welches sie in Form ihrer Kriegserklärungen angehäuft hatte, überhaupt der Eindruck entstehen konnte, es gäbe einen eminenten Zusammenhang zwischen diesen Manifesten und dem Kriegsausbruch von 1914; ja, dass diese in bestimmter Hinsicht wirkungsmächtiger gewesen seien als die 47 Nicht zufällig der Titel eines der Avantgardebewegung verpflichteten Kriegsromans von Andr¦ Malraux: La Condition humaine. Paris 1933. 48 [Filippo Tommaso Marinetti u. a.:] Politisches Programm des Futurismus [1913]. In: Asholt u. Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen (Anm. 43), S. 65f., hier S. 65. 49 [Vortex:] Manifest [1914]. In: Ebd., S. 79f., hier S. 79. 50 Viktor Chovin: Futurismus und Krieg [1914]. In: Ebd., S. 87f., hier S. 87. 51 Das war eine der Fragen auf dem großen und perspektivenreichen Kongress 1914 – Mitten in Europa. Aggression und Avantgarde (Bonn, 23.–25. 9. 2013).

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realpolitischen Vorgänge selbst. Denn in ihnen war der Krieg, der 1914 ausbrach, längst erklärt worden und musste nun – ähnlich wie im Fall Nietzsches52 – als eine ›bloße‹ sozialweltliche Realisierung dieser literarischen Manifeste wirken.53 Man kann das natürlich als Selbstüberschätzung von Akteuren im kulturellen Feld abtun, die einen Kausalzusammenhang zwischen ihren performativen Sprech- bzw. Schreibakten und dem politischen Geschehen herstellen. Man kann es aber auch als Versuch einer atmosphärischen Konkretisierung begreifen, diesen Manifesten zu bescheinigen, einer polemischen Grundstimmung Ausdruck gegeben zu haben, welche die Kultur der kriegführenden Länder bereits vor dem Ausbruch des Krieges mitbestimmte, und die ihre symbolische Form in literarischen Kriegserklärungen fand, welche die politischen gleichsam vorwegnehmen sollten.54

4.

Diplomatie, Sommer 1914

Blickt man von den hier vorgestellten literarischen und philosophischen Quellen auf den diplomatischen Schriftverkehr am Vorabend des Ersten Weltkriegs, so wird sich unvermeidlich eine gewisse Ernüchterung einstellen. In der Diplomatie gilt grundsätzlich die Regel, dass Kriegserklärungen im Konfliktfall nach Möglichkeit vermieden werden. Zwar sind sie notwendig, »indem erst mit der Kriegserklärung die Anwendung der im Kriegsrecht erlaubten Gewaltmittel freigegeben [wird]«, wie eine militärhistorische Bonner Abhandlung aus dem Jahr 1935 zu den Kriegserklärungen von 1914 bemerkt.55 Dennoch sollte man eine Kriegserklärung zumindest nicht als erster aussprechen, weil damit unweigerlich Fragen nach Kriegsschuld und möglichen Reparationen berührt sind. So schloss beispielsweise 1910 der damalige Chef des deutschen Generalstabes, Helmuth Johannes Ludwig von Moltke, im bereits anschwellenden Balkankonflikt eine Kriegserklärung kategorisch aus. Zwar sei sie »das einzige Radikalmittel zur Entwirrung der kritischen Lage […], aber aus rechtlichen, politischen und allgemein menschlichen Gründen nicht anwendbar«.56 Ein französischer 52 Vgl. oben, den Schluss von Kap. 1. 53 Dazu passt die (nachträgliche) Einschätzung über den Beginn des Konflikts mit Frankreich: »Die Gewehre waren von selbst losgegangen« (Ernst Hemmer : Die deutschen Kriegserklärungen von 1914. Stuttgart: Kohlhammer 1935, S. 60). 54 Es gehört zu den Vorzügen der Arbeit von Christopher Clark, dass sie dieser Eskalationslogik bei allen Akteuren nachgeht, die etwa auf serbischer Seite bei Traktaten ihren Anfang nahm und in Terrorzellen endete. Vgl. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA 2013, S. 61–72. 55 Hemmer : Kriegserklärungen (Anm. 53), S. 66. 56 Brief General von Moltke an Feldmarschall Conrad [30. 01. 1910]. In: Graf Franz Conrad von Hötzendorf: Aus meiner Dienstzeit 1906–1918. Bd. 2: 1910–1912. Die Zeit des libyschen

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Diplomat brachte es im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auf den Punkt: »Man erklärt niemals den Krieg; man läßt ihn sich erklären.«57 War also der diplomatische Status von Kriegserklärungen schon problembehaftet genug, so trugen die Kolonialkriege um 1900 noch zusätzlich zur Verwirrung bei, da sie in der Regel ohne formale Kriegserklärung auskamen.58 Auch aus diesem Grund taucht in den militärrechtlichen Debatten um 1900 vermehrt die auf den ersten Blick unstrittige Frage auf: »Sind Kriegserklärungen vor Beginn der Feindseligkeiten in heutiger Zeit notwendig?«59 In dem Beitrag unter diesem Titel sind die Formen einer möglichen Kriegserklärung relativ weit gefasst und beinhalten »sowohl die förmliche – an den Gegner selbst gerichtete – Kriegserklärung als auch die Kriegsverkündigung jeglicher Art, wie sie z. B. durch ein Kriegsmanifest, eine Proklamation, ein Ultimatum usw. erfolgen kann«.60 Diese Textsorten werden jedoch nicht primär als staatsrechtliche Dokumente auf der Ebene völkerrechtlicher Verträge bewertet, sondern als Belege für eine eher diffuse Atmosphäre der Feindseligkeit, welche einen Krieg als unvermeidlich erscheinen und eine förmliche Kriegserklärung damit obsolet werden lassen; und zwar dergestalt, daß es nach dem bestehenden Recht nicht als eine Verletzung des Völkerrechts angesehen werden kann, wenn ein Staat, der in einen Interessenkonflikt mit einem anderen verwickelt wird, ohne besondere vorherige Ankündigung die Feindseligkeiten beginnt, nachdem die streitig gewordenen Interessen eine Zeitlang Gegenstand der diplomatischen Verhandlungen gewesen sind, diese einen immer feindseligeren Charakter angenommen haben und infolge der dadurch entstandenen Spannung der Übergang zur Gewalt unvermeidlich geworden zu sein scheint.61

Diese Einschätzung mag juristisch durchaus anfechtbar sein. Interesse gewinnt sie hier vor allem dadurch, dass sie an die Stelle der förmlichen Kriegserklärung die Anreicherung polemischen Materials setzt, dessen Eskalationslogik die Legitimation für eine gewaltsame Austragung von Konflikten liefern soll; und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der »Zwang zur Umsetzung einer einmal geäußerten Drohung auch dann greifen [kann], wenn die Drohungen ursprünglich auf

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Krieges und des Balkankrieges bis Ende 1912. Mit einem Anhang. Wien u. a.: Rikola 1922, S. 57–60, hier S. 59. Zit. n. Hemmer : Kriegserklärungen (Anm. 53), S. 99. Vgl. Thoralf Klein u. Frank Schumacher (Hg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus. Hamburg: Hamburger Ed. 2006, bes. den Beitrag von Susanne Kuss: Kriegführung ohne hemmende Kulturschranke. Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904–1907) und Ostafrika (1905–1908), S. 208–247. Raeder (Oberstleutnant zur See): Sind Kriegserklärungen vor Beginn der Feindseligkeiten in heutiger Zeit notwendig? In: Marine-Rundschau 15 (1904), S. 291–311. Mein Dank gilt Jens Wörner (Bonn), der mich auf diesen Text aufmerksam gemacht hat. Ebd., S. 292. Ebd., S. 306.

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beiden Seiten defensiv gemeint waren«.62 Eine solche Intensivierung auf der Ebene des Materials ließe sich ziemlich leicht auf die rhetorische Strategie etwa in Nietzsches Spätwerk übertragen. Schwieriger verhält es sich damit bei den diplomatischen Noten, die in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1914 zwischen den europäischen Regierungen ausgetauscht wurden, und bei denen teilweise nicht umsonst bis heute diskutiert wird, wie eindeutig sie als Kriegserklärungen verstanden werden können.63 In diesen Dokumenten fällt zunächst der sachliche, gehobenen Umgangsformen entsprechende Ton auf, der deutlich mit der Hektik der in ihnen verhandelten Ereignisse kontrastiert. Jede Spur von Polemik wird peinlich vermieden, um gerade keine kommunikative Konfliktverschärfung herbeizuführen. Zwei Beispiele können dennoch zeigen, wie polemisch aufgeladen auch die diplomatische Sphäre am Vorabend und bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war ; und wie unversehens aus vermeintlich ›neutralem‹ diplomatischem Material ein polemisches werden konnte, dessen konkretes Gefahrenpotential ungleich größer als dasjenige auf dem Gebiet der Literatur gewesen sein dürfte. Das erste Beispiel stammt vom potentiellen Opfer der Polemik Nietzsches: Wilhelm II.64 Seiner Gewohnheit gemäß, glossierte er mit handschriftlichen Notizen unter anderem einen Bericht des deutschen Botschafters in London über ein Treffen mit dem englischen Außenminister Grey am 29. Juli 1914.65 Thema dieser Unterredung war die Neutralität Englands bei einem möglichen Kriegseintritt Deutschlands, auf die Wilhelm II. aufgrund seiner eigenen verwandtschaftlichen Beziehungen zum englischen Königshaus gerechnet hatte, deren Zusage ihm aber verweigert worden war. Seine Glossen zu dem Bericht sind in einem unverkennbar aggressiven und wenig diplomatischen Ton gehalten. Bereits der einleitende, nahezu formelhafte Satz: »Sir E[dward] Grey ließ mich soeben nochmals zu sich bitten« wird mit der Notiz versehen: »Das stärkste und unerhörteste Stück Engl. Pharisäertum, das ich je gesehen! Mit 62 Barbara Kuchler : Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Frankfurt/M., New York: Campus 2013, S. 331. Zur »starken Komprimierung der […] Zeithorizonte« bei Kriegsausbrüchen vgl. ebd., S. 327f. (Zitat S. 327). 63 Zu den »Kriegserklärungen« im Ersten Weltkrieg und dem unklaren Rechtsverhältnis des »Kriegszustandes« im Reich vgl. die beiden gleichnamigen Artikel von Markus Pöhlmann in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich u. Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktual. u. erw. Studienausg. Paderborn u. a.: Schöningh 2009, S. 637f. u. 668f. 64 Vgl. auch die aktuelle Tagung Herrschaftserzählungen. Wilhelm II. in der deutschen Kulturgeschichte (Freiburg/Br., 17.7. –19. 7. 2014), die sich mit Wilhelm II. als Autor freilich nur am Rande beschäftigt hat. 65 Vgl. Erwin Hölzle (Hg.): Quellen zur Entstehung des Ersten Weltkrieges. Internationale Dokumente 1901–1914. Darmstadt: WBG 1978, Nr. 221, S. 434–436. Die handschriftlichen Notizen, die im Originaldokument an den Rand geschrieben sind, werden in dem Quellenband als Fußnoten wiedergegeben. Für die Einsichtnahme in das Original geht ein Dank ans Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

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solchen Hallunken mache ich nie ein Flottenabkommen!«66 So geht es munter weiter. Die »freundschaftliche und private Mitteilung« Greys, »er wünsche […] nicht, daß unsere so herzlichen persönlichen Beziehungen und unser intimer Gedankenaustausch über alle politischen Fragen mich irreführten und er möchte sich für später den Vorwurf der Unaufrichtigkeit ersparen«, wird mit den Worten kommentiert: »der bleibt!« und: »aha! Der gemeine Täuscher!!«67 Von besonderem Gewicht ist die Schlussnotiz, die Wilhelm II. dem Dokument beifügt, und in der es heißt: England dekouvriert sich im Moment, wo es der Ansicht ist, daß wir im Lappjagen eingestellt sind und so zu sagen erledigt! Das gemeine Krämergesindel hat uns mit Diners und Reden zu täuschen versucht. […] Gemeiner Hundsfott! England allein trägt die Verantwortung für Krieg und Frieden, nicht wir mehr! Das muß auch öffentlich klargestellt werden.68

Mit dem Bleistift in der Hand, der die körperliche Erregung fast unmittelbar in Schrift umsetzt – man achte auf die vielen Ausrufezeichen! –, verwandelt der Monarch den neutralen diplomatischen Bericht in ein polemisches Pamphlet und schreckt dabei auch nicht vor der Bezeichnung »Hundsfott« zurück, welche nach den Ehrbegriffen der Zeit eine Duellforderung fast zwingend nach sich ziehen musste.69 Das mag zunächst nur auf das persönliche Konto von Wilhelm II. gehen, da diese Notizen wie so oft ohne konkrete diplomatische Konsequenzen blieben.70 Bemerkenswert ist freilich die Forderung Wilhelms, die Öffentlichkeit in seinem Sinne zu instruieren.71 Die ›privatime‹ Kriegserklärung 66 67 68 69

Ebd., S. 434. Ebd., S. 435. Ebd., S. 436. Vgl. als eine zeitgenössische Quelle aus dem 19. Jahrhundert, die unter dem Protektorat des preußischen Ministers von Rochow erschien: Dr. Johann Georg Krünitz’s ökonomischtechnologische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung. Früher fortgesetzt von Friedrich Jakob und Heinrich Gustav Floerke, und jetzt von Johann Wilhelm David Korth. 177. Teil. Berlin: Pauli 1841, S. 20–32 (»Studentenwörter«), hier S. 24: »Hundsfott, die Beschimpfung eines Studenten, welche zum Duell nöthiget, oder ein Duell bedingt«. 70 Schon vor dem Krieg »[halten] Politiker und Militärs ihn aus der Tagespolitik weitgehend heraus«, und zwar wegen seiner »unberechenbaren Interventionen« (Tillman Bendikowksi: Wilhelm II. In: Zeit-Spezial 8 (Feb. 2014): Deutschland 1914, S. 6). 71 Die Bedeutung der »Publizität in politischen Dingen«, die letztlich gar an die Stelle formaler Kriegserklärungen treten könne, betonte schon die Abhandlung von Raeder : Kriegserklärungen (Anm. 59), S. 305 sowie dann noch einmal Hemmer : Kriegserklärungen (Anm. 53), S. 97, der sie das »oft maß-, ja ausschlaggebende Gebiet« nennt. Vgl. relativierend dazu die Feststellung, dass die öffentliche Meinung im Sommer 1914 nicht notwendig die tatsächliche Stimmungslage in der Mehrheit der Bevölkerung abgebildet hat, bei Wolfgang Kruse: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen. In: Marcel van der Linden u. Gottfried Mergner (Hg.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdiszi-

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eines glossierenden Staatsoberhaupts soll so unmittelbar übergehen in die Generierung polemischen Materials in der zeitgenössischen Publizistik, das sich dann nahtlos einreiht in das seit Jahrzehnten angehäufte Material einer kulturkritischen, antiwestlichen Polemik gegen »das gemeine Krämergesindel«.72 Das zweite Beispiel aus dem Bereich der Diplomatie bildet die deutsche Kriegserklärung an Frankreich vom 3. August 1914, die als ein Telegramm abgeschickt wurde, das in Paris »verstümmelt« ankam.73 Auf deutscher Seite vermutete man hinter dieser falschen Übertragung Absicht, da sie aus einer diplomatischen Note eine Art Nonsenspoesie machte. In Zeiten des Krieges wurde aus einem Übertragungsfehler ein feindlicher Akt, der – so die deutsche Interpretation – das Kaiserreich vor aller Welt lächerlich machen sollte. Der Text der Kriegserklärung, seinem Anlass nach Teil des diplomatischen Schriftverkehrs, erschien nun als polemisches Material, dessen Zweck allein darin bestand, den Gegner zu diskreditieren. Diese Provokation machte die formal korrekte Kriegserklärung nahezu überflüssig, die erst nachgereicht wurde, als sich Deutschland und Frankreich de facto schon im Kriegszustand befanden. Beide Beispiele machen deutlich: Erst die Verletzung der Regeln des jeweiligen Diskurses – genauer : des ›Spezialdiskurses‹74 –, sei es durch einen glossierenden Kaiser oder die Unbilden der Telegraphie, verwandelt diplomatische in polemische Quellen. Das bedeutet aber auch, dass jeder Eingriff in das Material immer schon unter dem Verdacht einer polemischen Umcodierung stand. Offenbar nistete der reservierte Ton der Diplomatie äußerst nah an der überhitzten und aggressiven Rhetorik jener kulturellen Kriegserklärungen, welche in der öffentlichen Debatte längst in Umlauf waren, und von der sich vor allem die Notizen Wilhelms II. nicht unbeeindruckt zeigen. Mit dem Persönlichnehmen staatlicher Konflikte bringen diese eine polemische Aggressivität gegen konkrete Individuen ins Spiel, die auf das jeweilige Staatswesen in kollektiver Absicht plinäre Studien. Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 73–87, bes. S. 75: »Es handelte sich tatsächlich zuerst weniger um Kriegsbegeisterung als vielmehr um eine wachsende Erregung, die die verunsicherten Menschen ergriff«. 72 Hölzle: Quellen (Anm. 65), S. 436. Zur Englandpolitik des Kaiserreichs, die bereits durch die erste Flottennovelle von 1900 »eine Stoßrichtung gegen vitale englische Interessen« erfuhr, vgl. knapp Hans-Ulrich Wehler : Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. 7. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 187–189, Zitat S. 189. 73 Vgl. das entsprechende Dokument: Verstümmelter Text der Kriegserklärung an Frankreich. In: Karl Kautsky, Max von Montgelas u. Walther Schücking (Hg.): Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Bd. 3: Vom Bekanntwerden der russischen allgemeinen Mobilmachung bis zur Kriegserklärung an Frankreich. Charlottenburg: Dt. Verlagsges. f. Politik u. Geschichte 1919, S. 186 (Dokument Nr. 734a). Zur diplomatischen Verstimmung und den Folgen dieses Schreibens vgl. Hemmer : Kriegserklärungen (Anm. 53), S. 61f. 74 Diese Präzisierung nach Jürgen Link: Interdiskurstheorie/Interdiskursanalyse. In: Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2008, S. 202–206.

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rückprojiziert wird. Das ähnelt auf fatale Weise jener Polemik, die Friedrich Nietzsche unbekannterweise gegen Wilhelm II. geführt hat. Hier wie dort wird dadurch eine Unbedingtheit der Auseinandersetzung beschworen, die sich nur noch im konkreten Gewalthandeln auflösen lässt. Dazu bedarf es dann keiner formellen Kriegserklärung mehr ; es genügt, wie der kriegsrechtliche Diskurs auf deutscher Seite zeigt, die Anhäufung und Radikalisierung des entsprechenden polemischen Materials.75

5.

Kriegserklärungen – ein polemisches Genre?

Legt man einen engen Textsortenbegriff von ›Kriegserklärung‹ an, wie es in einer linguistischen Perspektive geschieht, die zwischen Kriegsbotschaften und Kriegserklärungen unterscheidet,76 so wäre in diesem Beitrag von anderem die Rede. Denn eine solche Begriffsdefinition bezieht sich ausschließlich auf formaljuristisch vollgültige Kriegserklärungen zwischen souveränen Staaten. Zwei gewichtige Gründe sprechen im Fall des Ersten Weltkriegs gegen eine solche Begriffsverengung. Zum einen werden so die kulturellen Dynamiken, die an der Eskalation der Gewalt mitwirkten und sich beispielsweise in literarischen Manifesten artikulierten, kaum sichtbar. Nietzsches Kriegserklärungen etwa dürften gar nicht als solche behandelt werden, da ihnen die institutionelle Rahmung fehlt.77 Zum anderen, und dies scheint ein mindestens ebenso gewichtiger Einwand zu sein, zielt die zeitgenössische kriegsrechtliche Debatte, die den diskursiven Handlungsrahmen für die Diplomatie im Sommer 1914 abgibt, auf einen viel weiteren Begriff von ›Kriegserklärung‹ ab, der auch Manifeste, Ultimaten etc. einschließt und ihnen eine ähnliche Wirkmacht und Legitimität wie formalen Kriegserklärungen zwischen Einzelstaaten zuspricht. Da gerade hier die Berührungen mit dem literarisch-polemischen Diskurs der Zeit besonders 75 Für das dann natürlich permanent Nachschub geliefert werden muss, so dass im Ersten Weltkrieg »die entfesselte Lage auf dem Buchmarkt […] zu einer Materialschlacht der zweiten Ordnung [wird], die den Krieg in die Latenz hebt und ihn gleichsam fortsetzt« (Christian Meierhofer, Michael Schikowski u. Jens Wörner : Editorial. In: Dies. (Hg.): Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg im Sachbuch. Non Fiktion 8/9 (2013/14) H. 2/1, S. 7–14, hier S. 9). 76 So etwa Martin Wengler : Von den kaiserlichen »Hunnen« bis zu Schröders »uneingeschränkter Solidarität«. Argumentative und lexikalische Kontinuitäten und Veränderungen in deutschen »Kriegsbotschaften« seit 1900. In: Dietrich Busse, Thomas Niehr u. ders. (Hg.): Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 209–232, hier S. 217f. 77 Dass Nietzsche dies dadurch zu kompensieren sucht, indem er sich selbst zum Souverän erklärt, ist dann schon Teil einer diskursiven Verschiebung, die nur noch als Krankengeschichte erzählt werden kann. Vgl. Kittler: Wie man abschafft (Anm. 24), S. 94f.

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zahlreich sind, folgt der vorliegende Beitrag keinem linguistisch-engen, sondern einem weiteren, kulturellen Textkonzept von ›Kriegserklärung‹.78 Schließlich trifft man im Bereich von Literatur und Philosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit häufiger Kriegserklärungen an als im Bereich der Diplomatie. Möglicherweise war es gerade die diffuse Rechtslage, die zudem noch durch die ersten Erfahrungen asymmetrischer Kriege (in einem modernen Sinn) unterminiert wurde,79 welche die Transposition der Textsorte ›Kriegserklärung‹ aus dem politischen ins kulturelle Feld erleichterte – von wo aus sie freilich auf das politische Handeln zurückwirken konnte. Jedenfalls lässt sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Indienstnahme der Kriegserklärung insbesondere im Umfeld des ›Jungen Deutschland‹ verfolgen, dessen Texte bekanntermaßen mindestens ebenso stark literarische wie politische Intentionen verfolgten. Schon der ›Gründungstext‹ der Bewegung, die »dem jungen Deutschland« gewidmeten Ästhetischen Feldzüge (1834) von Ludolf Wienbarg, macht auf der ersten Seite deutlich, dass er »allem altdeutschen Philistertum den Krieg erklärt«.80 Und die auf den ersten Blick harmlose Monographie der deutschen Postschnecke (1821) von Ludwig Börne endet damit, dass der Erzähler sein »schreibendes Hauptquartier« in Bruchsal aufschlägt, wo er unfreiwillig strandet, und von dort aus in den noch ironisch verbrämten Krieg gegen das Postwesen – und damit ›die Verhältnisse‹ im zersplitterten Deutschland – zu ziehen verspricht.81 Der junge Ferdinand Lassalle entwirft dann deutlich expliziter in einem Brief von 1845 einen geistigen wie politischen Feldzugsplan: Ich habe den Willen zur Vernichtung und die Mittel dazu, Weh zu verbreiten und Unheil über die Menschen, die mein Atem berührt. […] Aber dies mein Vernichtungsrecht gilt nur gegen das Sodom und Gomorra der gott- und substanzlosen Welt.82 78 Zum Konzept des ›kulturellen Textes‹ vgl. Andreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin: ESV 1995, bes. die Einleitung des Herausgebers, S. 1–58, hier S. 38–48. 79 Zu asymmetrischen Kriegen der Gegenwart vgl. Herfried Münkler : Die neuen Kriege. 4. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2003, S. 48f., der sie vor allem im Unterschied zu zwischenstaatlichen Kriegen profiliert. Die damit verbundene Frage der Legitimität (unerklärter) »Kriege gegen den Terror« diskutiert kritisch Michael Walzer : Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Aus dem Amerikan. von Christiana Goldmann. Hg. von Otto Kallscheuer. Hamburg: Europ. Verl.-Anst. 2003. 80 Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge. Hg. von Walter Dietze. Berlin, Weimar : Aufbau 1964 [1834], S. 1 u. 3. 81 Ludwig Börne: Monographie der deutschen Postschnecke [1821]. In: Ders.: Monographie der deutschen Postschnecke. Skizzen, Aufsätze, Reisebilder. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1967, S. 3–31, hier S. 31. 82 Ferdinand Lassalle an Arnold Mendelssohn, Alexander Oppenheim und Albert Lehfeldt, September 1845. In: Gustav Mayer (Hg.): Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 4/1: Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften. Briefe von und an Lassalle bis 1848. Stuttgart, Berlin: DVA 1921, S. 213–231, hier S. 231.

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Treffend nennt Lassalle seinen Brief »mein Kriegsmanifest gegen die Welt«.83 Er zeigt, was die Textsorte ›Kriegserklärung‹ für den literarischen Diskurs so attraktiv macht. Carl Schmitt hat das später auf die Formel gebracht: »Eine Kriegserklärung ist immer eine Feind-Erklärung; […] und bei einer Bürgerkriegserklärung versteht sich das erst recht von selbst.«84 Literarische Kriegserklärungen und -manifeste ziehen eine ›harte‹85 Konfrontationslinie in den grundsätzlich polyvalenten kulturellen Diskurs ein, indem sie eine fundamentale Freund-Feind-Unterscheidung etablieren.86 Ihre Legitimation beziehen sie nicht zuletzt daraus, dass es sich bei ihnen fast immer um die Deklaration von Bürgerkriegen innerhalb der res publica litteraria handelt. Freilich zielen sie oft über deren Grenzen hinaus, ohne dabei notwendigerweise an Radikalität einzubüßen.87 Es dürfte kaum Zufall sein, dass sich Kriegserklärungen vor allem in Texten von Autoren finden, die auch dezidiert politische Absichten mit ihrem Schreiben verbinden. Sie setzen dabei auf jene performative Logik, die in der Kriegserklärung als Sprechakt angelegt ist; schließlich tritt in dem Moment, in dem sie verkündet wird, der Kriegszustand tatsächlich ein.88 Damit ist nicht zuletzt eine Verwandlung von Schrift in Aktion verbunden.89 Auf einen solchen Akt der 83 Ebd. 84 Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 87. Genau diese Situation sieht Schmitt zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht gegeben: »Im Jahre 1914 sind die Völker und Regierungen Europas ohne wirkliche Feindschaft in den ersten Weltkrieg hineingetaumelt. Die wirkliche Feindschaft entstand erst aus dem Kriege selbst, der als ein konventioneller Staatenkrieg des europäischen Völkerrechts begann und mit einem Weltbürgerkrieg der revolutionären Klassenfeindschaft endete« (ebd., S. 96). 85 Diese Strategie war schon bei Fichtes Polemik – wenn auch noch in einem stärker metaphorischen Sinn – sprichwörtlich gewesen. Vgl. Carlos Spoerhase: »Harte Kriege« – Johann Gottlieb Fichtes ›Theorie‹ der Polemik. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2005) H. 2, S. 71–92. 86 Vgl. aktuell die theologisch inspirierte Deutung des Schriftstellers Martin Mosebach: Der Feind. In: Sinn und Form 66 (2014) H. 1, S. 5–20, hier S. 5: »Mit diesem Person gewordenen Mysterium iniquitatis gibt es keine Verhandlungen und keine Kompromisse, keinen Waffenstillstand und schon gar keinen Frieden«. 87 Vgl. Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner : Von der »Gelehrtenrepublik« zur »Guerre ouverte«. Aspekte eines Dissoziationsprozesses. In: Dies. (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, Weimar : Aufbau 1989, S. 13–38, welche die innere Logik dieser Transgressionsbewegung anschaulich nachzeichnen. 88 Das ist in Verben wie ›erklären‹ oder ›verkünden‹ als »explizit performativen Verben« bereits angelegt (John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearb. von Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam 1979 [1955], S. 81). 89 Ich habe das am Beispiel von Karl Kraus näher ausgeführt. Vgl. Dirk Rose: Polemische Transgression. Karl Kraus zwischen Schrift und Aktion. In: Studia theodisca 21 (2014), S. 5–30.

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Transgression und Entäußerung arbeiten die literarischen Kriegserklärer in ihren »schreibenden Hauptquartieren« (Börne) hin. Ihre Kriegserklärungen bilden eine äußerste Grenze und zugleich eine Kernzone innerhalb eines literarischen Modernediskurses, der ›aktionistisch‹ die Schreibbewegung unmittelbar in ›Leben‹ übersetzen und damit seine Schriftgebundenheit hinter sich lassen will. Das gilt schon für Börne, Wienbarg und Lassalle, findet aber bei Nietzsche und der Avantgarde zweifellos seinen Kulminationspunkt.90 Als polemisches Genre bildet die Kriegserklärung die letzte Stufe innerhalb der Steigerungslogik einer literarischen Polemik, die auf solche Kommunikationsabbrüche und performativen Überschreitungen bis zum Übergriff auf den Körper des Gegners zielt.91 Gerade weil ihre Performativität elementar mit der Überschreitung von Schrift und der von ihr etablierten diskursiven Ordnung zusammenhängt, kann die literarische Kriegserklärung in modernen Gesellschaften, die auf Informationstechnologie und nicht mehr auf Interaktionsriten basieren, eine besonders nachhaltige Wirkung entfalten. Es genügt, an Romane von Jünger oder C¦line zu erinnern, um zu erkennen, dass die Kriegserklärung zum festen Repertoire der kulturellen Moderne und ihrer Strategien einer »ästhetischen Ermächtigung«92 gehört; während sie im diplomatischen Verkehr weiterhin mit äußerster Vorsicht gebraucht wird.93 90 Vgl. Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900. Berlin, New York: de Gruyter 2009, S. 157: »Nietzsches nach-ästhetische Ästhetik zielt auf eine ›große Substitution‹, in der die ästhetischen Potentiale der Kultur nicht mehr in Kunstwerke, sondern in die Gestaltung des Lebens entäußert werden sollen«. 91 Diese Eskalationslogik der Polemik beschreibt treffend Artur Greive: Comme fonctionne la Polemique? In: Georg Roellenbleck (Hg.): Le Discours pol¦mique. Aspects th¦oretiques et interpretations. Tübingen, Paris: Narr 1985, S. 17–30, bes. S. 29: »C’est ce qui fait de la lutte verbale une communication qui a pour vocation de se d¦truire elle-mÞme. Cette lutte atteint alors une limite o¾ elle menace de basculer en un conflit physique«. 92 Vgl. Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne. Paderborn, München: Fink 2009, S. 22, der als Leitthese formuliert, »daß die deutschsprachige Literatur der Klassischen Moderne in einer ihrer wichtigen, jedoch bis heute marginalisierten Ausrichtungen horizontbildend für den politischen Totalitarismus hat wirken können, und zwar aufgrund ihrer ästhetischen Struktur«. 93 Das ändert sich freilich im Nationalsozialismus, etwa in der berühmten ›Sportpalast-Rede‹ von Joseph Goebbels, wo im Sinne der dort eingeforderten Totalität diese diskursive Unterscheidung aufgehoben wird, um die unmittelbare Wirkungskraft eines ›Volkswillens‹ zu suggerieren. Wenn die Menge auf die Frage »Wollt Ihr den totalen Krieg?« mit »stürmischen Rufen: ›Ja!‹« antwortet, scheint der polemische Diskurs des Schrift- und Gauleiters unmittelbar in ein politisches und militärisches Handeln überzugehen, das sich um die Regeln diplomatischer Konfliktaustragung nicht mehr zu kümmern braucht (Joseph Goebbels: [Rede vom 18. 2. 1943]. In: Ders.: Goebbels-Reden. Bd. 2: 1939–1945. Hg. von Helmut Heiber. Düsseldorf: Droste 1972, Nr. 17, S. 172–208, hier S. 205). Zu dieser rhetorischen Strategie vgl. auch Albrecht Koschorke: Lust am Machtwort. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. 12. 2013, S. 11.

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Wie aus der Zeit gefallen mutet demgegenüber das alteuropäische Ritual an, das sich am 31. Juli 1914 vor dem Berliner Schloss vollzieht: Gegen 16 Uhr war schließlich das Warten vorbei. Einer alten preußischen Tradition gemäß trat ein von 28 Soldaten begleiteter Offizier aus dem Schloß. Nach einem kurzen Marsch über die Brücke hielten die Männer vor dem Zeughaus […] an, nahmen im Quadrat Aufstellung und ließen ihre Trommeln in alle vier Himmelsrichtungen ertönen. Das Publikum begleitete die Verlesung der Proklamation des »Zustands drohender Kriegsgefahr« durch Oberleutnant von Viebahn mit jubelndem Applaus.94

Diese Szene erinnert noch einmal daran, dass das Recht zur Kriegserklärung beim Souverän liegt und einen festen Ort hat, in diesem Fall seine Residenz, von wo aus sie mittels Trommelschlag »in alle vier Himmelsrichtungen« gesendet wird. Die Medien dieser alteuropäischen Kriegserklärung sind der Schall und die Stimme, und ihre Resonanz findet sie in den zustimmenden Rufen der Anwesenden. Es ist ein Zeremoniell, vor dem alle literarischen Kriegserklärungen ihre Gültigkeit verlieren, schon weil sie im falschen Medium erscheinen. Aber die Zeiten sind längst andere: Erst als am nächsten Tag alle Zeitungen von diesem Zeremoniell berichten und die Proklamation abdrucken, hat dieser moderne Krieg, von dem man in ihnen schon seit Jahrzehnten lesen konnte, tatsächlich begonnen.

94 So die Schilderung anhand verschiedener zeitgenössischer Zeitungsberichte bei Jeffrey Verhey : Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Engl. von Jürgen Bauer u. Edith Nerke. Hamburg: Hamburger Ed. 2000, S. 109.

Anna S. Brasch

Kulturkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884–1918

»Aber im Existenzkampf handelte es sich mit dem Leben auch um den Geist«,1 schreibt Ernst Troeltsch 1916. Es ginge um die »Behauptung von Leben und Existenz gegen eine ungeheure Übermacht«2 der Gegner, darum, »bei der großen Weltverteilung nicht verschluckt zu werden«,3 um »die Selbstbehauptung nicht im kontinentalen, sondern im planetarischen Rahmen«,4 kurz: den »imperialistischen Kampf ums Dasein«.5 Damit deuten sich zwei eng aufeinander bezogene, jedoch nicht deckungsgleiche Argumentationstraditionen an, aus denen sich die Kriegspublizistik ab 1914 wesentlich speist: Zum einen wird der Krieg zum Kampf des ›Geistes‹, zum ›Kulturkrieg‹ erklärt. Diese Argumentation greift auf die weltanschaulich-konservative Kulturkritik der Jahrhundertwende und ihre Unterscheidung von (französischer) Zivilisation und (deutscher) Kultur zurück.6 Zugleich wird der 1 Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914. Rede, gehalten in der »Deutschen Gesellschaft 1914« [1916]. In: Ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden. Hg. von Hans Baron. Neudruck d. Ausg. Tübingen 1925. Aalen: Scientia 1966, S. 31–58, hier S. 31. 2 Ernst Troeltsch: Der Kulturkrieg. Berlin: Heymann 1915 (Deutsche Reden in schwerer Zeit, H. 27), S. 26. 3 Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Anm. 1), S. 53. 4 Ebd., S. 51. 5 Ebd., S. 40. 6 Vgl. hierzu Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, hier insb. den Abschnitt »Reformulierungsversuche: die stärkere Differenzierung zwischen ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹«, S. 268–272; ders.: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München: C. H. Beck 2007, hier insb. das 5. Kapitel »Die entzauberte Moderne«, S. 199–232. Für die weltanschaulich-konservative Kulturkritik exemplarisch ist Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Leipzig: Hirschfeld 1890. Es handelt sich um die 28. Auflage, somit um die zweite Fassung des Rembrandtbuches. Langbehn hat das Buch für die 13. und die 37. Auflage überarbeitet. Die Überarbeitungen betreffen im Wesentlichen eine Anpassung an politische Verhältnisse, eine Vermehrung und Verschärfung antisemitischer Äußerungen und eine immer positiver werdende Darstellung des Katholizismus. Vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«. In: Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht

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Krieg zum ›Existenzkampf‹, in dem der militärische wie geistige Kampf zur (Über)Lebensfrage der Nation wird.7 Der Krieg wird insofern auch aus dem größeren Zusammenhang des Imperialismus und seiner nationaldarwinistischen Deutung von Krieg hergeleitet. Zu den ›Ideen von 1914‹ gibt es eine breite Forschung. Auch der Rückgriff auf die Zivilisationskritik der Jahrhundertwende ist von der Forschung durchaus wahrgenommen und untersucht worden. Im Zuge des cultural turn hat sich sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Literaturwissenschaft die Perspektive verschoben: In den Blickpunkt geriet nun der Zusammenhang von Krieg und Kultur. Stefan Bruendel etwa hat in seiner Dissertation Volksgemeinschaft oder Volksstaat die intellektuelle Kriegspublizistik einer Neuinterpretation unterzogen; Barbara Beßlich hat in ihrer gleichnamigen Studie Wege in den ›Kulturkrieg‹ nachgezeichnet und auf die Zivilisationskritik der Jahre 1890 bis 1914 als Darstellungsressource der Kulturkriegspublizistik aufmerksam gemacht; Nils Bruhn hat Paul Natorps Weg Vom Kulturkritiker zum »Kulturkrieger« untersucht, um nur einige Arbeiten exemplarisch anzuführen.8 Die nachfolgenden Ausführungen schließen an die skizzierte Forschungslage an, um zugleich ausgehend von einigen Beobachtungen am Material der Weltkriegspublizistik eine der Darstellungsressourcen der Kulturkriegspublizistik stärker zu konturieren: Das Augenmerk soll auf die Deutung des Kriegs in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik und der Literaturproduktion aus ihrem Umfeld, hier insbesondere der kolonialen Kriegsliteratur, gelegt werden, um so weltanschauliche und literarische Darstellungsressourcen der Kulturkriegspublizistik des Ersten Weltkriegs herauszustellen und die spezifische Verbindung von Kulturkritik, Imperialismus und Krieg stärker als bisher herauszuarbeiten. Die Kulturkriegspublizistik schließt damit auch und gerade an die Beobachtung und Beschreibung der Moderne als Verlust vermeintlich vorgängiger Ganzheitlichkeit (und als solcher auch: Gemeinschaftlichkeit9) und (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München: Saur 1999, S. 94–113, hier S. 96. 7 Vgl. etwa Troeltsch: Kulturkrieg (Anm. 2), S. 23. Die Verbindung von Lebensbegriff und Nation ist in der Kulturkriegspublizistik omnipräsent; exemplarisch bei Troeltsch auch: »Lebenswillen der Nation« (ebd., S. 26) oder die Aussage, dass man die »Kultur einer Nation« in der »Gesamtheit ihrer Lebenserscheinungen« suchen müsse (Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur. In: Otto Hintze (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg. Leipzig, Berlin: Teubner 1915, S. 52–91, hier S. 58). 8 Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie 2003; Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: WBG 2000; Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum »Kulturkrieger«. Paul Natorps Weg in den »Krieg der Geister«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 9 Der Begriff der Gemeinschaft verweist auf die Tönniessche Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Hierauf wird im Abschnitt »Re-Vergemeinschaftung« noch im Detail zu-

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Sinnhaftigkeit der Kulturkritik der Jahrhundertwende an, die in eine säkularisierte Erlösungslehre eingelassen ist. Innerhalb dieser Konstellation kommt dem Krieg ein Erlösungspotential mit Blick auf den Sündenfall Moderne zu, insofern er eine Möglichkeit der Rücküberführung von moderner Gesellschaft in Gemeinschaft darstellt. Diese Figur wird im kulturkritischen Denken des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorbereitet und in der Literaturproduktion aus ihrem Umfeld, insbesondere im kolonialen Kriegsroman, narrativ entfaltet. Bekanntlich ist die Quellenlage der Weltkriegspublizistik im Allgemeinen und der Kulturkriegspublizistik im Besonderen – vorsichtig formuliert – umfangreich. Da der Begriff aber vor allem von Ernst Troeltsch popularisiert wurde,10 wurden für den vorliegenden Aufsatz schwerpunktmäßig diejenigen seiner Schriften und verschriftlichten Reden als Textgrundlage gewählt, auf die der Begriff zurückzuführen ist und die maßgeblich zu seiner Popularisierung beigetragen haben.11 Diese sollen enggeführt werden mit der weltanschaulichkonservativen Kulturkritik namentlich Paul de Lagardes (Deutsche Schriften) und Julius Langbehns (Rembrandt als Erzieher) sowie der Literaturproduktion aus ihrem Umfeld.12 Dazu gehört zunächst die Heimatkunstbewegung: Die Programmatik der Heimatkunst, wie sie Adolf Bartels und Friedrich Lienhard ausformulieren, ist von Julius Langbehn her zu verstehen.13 Das gilt in der

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rückzukommen sein. Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Nachdruck der 8. Aufl. 1935. Darmstadt: WBG 1970; ders.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen. Leipzig: Fues 1887. Vgl. Beßlich: Wege (Anm. 8), S. 2, die darauf verweist, dass sich Karl JoÚls alternativer Bezeichnungsvorschlag »Kulturkampf« wegen der prominenten Begriffsbelegung im Zusammenhang mit Bismarcks Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche nicht durchgesetzt hat. Für die Konjunktur des Begriffs ›Kulturkrieg‹ spreche zudem eine bereits im Sommer 1915 herausgegebene kommentierte Bibliographie. Vgl. Woldemar von Seidlitz: Das erste Jahr des Kulturkrieges. München: Callwey 1915 (150. Flugschrift des Dürerbundes). Das sind insb. Troeltsch: Kulturkrieg (Anm. 2); ders.: Der Geist der deutschen Kultur (Anm. 7); ders.: Die Ideen von 1914 (Anm. 1). Heute aus guten Gründen weitgehend vergessen, sind Paul de Lagarde und vor allem Julius Langbehn um die Jahrhundertwende breit rezipiert worden – dafür spricht schon die schnelle Abfolge an Neuauflagen nach der Erstauflage 1890. Bereits zehn Jahre nach der Ersterscheinung geht das Rembrandtbuch in die 45. Auflage. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Behrendt: Langbehn (Anm. 6). Vgl. zur Heimatkunst die nach wie vor einschlägigen Arbeiten von Karlheinz Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Klett 1975; ders.: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung. Möglichkeiten sozialgeschichtlicher und soziologischer Analyse. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts.: Athenäum u. a. 1981, S. 123–144; daneben auch Kay Dohnke: Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung. In: Diethart Kerbs u. Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal: Hammer 1998, S. 481–493. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman,

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Verlängerung damit auch für den deutschen Kolonialroman, jedenfalls insofern es sich bei ihm um heimatkünstlerische Texte handelt. Bereits die Heimatkunst im engeren Sinn weist Affinitäten zum Kolonialismus auf, der Kolonialroman ist seinerseits wenigstens in Teilen Heimatliteratur.14 Herausgearbeitet werden sollen im Folgenden zwei Darstellungsressourcen der Kulturkriegspublizistik. In einem ersten Zugriff sollen Genese und Semantik des Begriffs ›Kulturkrieg‹ ausgelotet und das Erlösungspotential, das Krieg im kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende zugeschrieben wird, vermessen werden (1.). Ausgehend hiervon soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden, wie in der Literaturproduktion aus dem Umfeld kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende, genauer im kolonialen Kriegsroman, das Erlösungspotential des Kriegs mit Blick auf die Moderne narrativ ausgestaltet wird. Hier werden zentrale Argumente und Figuren – die nationaldarwinistische Deutung des Kriegs und seine Funktionalisierung zur Re-Vergemeinschaftung – präfiguriert (2.), die in der Kulturkriegspublizistik wenige Jahre später wieder aufgegriffen werden (3.).

1.

Kulturkriege und Kulturkritik. Genese und Semantik eines Begriffs

Die Legitimation des Ersten Weltkriegs als eines (vermeintlich von außen an Deutschland herangetragenen) ›Kulturkriegs‹ ist eine spezifisch deutsche – das ist bekannt.15 Lotet man in einem ersten Zugriff Genese und Semantik des Begriffs ›Kulturkrieg‹ aus, so muss man weit ins 19. Jahrhundert zurückgehen – die Verbindung von Kultur und Krieg lässt sich wenigstens bis zum Beginn des langen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Bereits bei Kant ist die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Krieg und Kulturfortschritt formuliert (noch mit einem anders gelagerten Kulturbegriff).16 Ebenfalls bis zum Beginn des S. 42 weist etwa darauf hin, dass der Persönlichkeitskult der Heimatkunst Nietzsche-Denken aus dritter Hand sei: »Ist Langbehn schon ein Verflacher Nietzsches, so sind Lienhard und Bartels Verflacher Langbehns.« 14 Vgl. Rossbacher : Programm und Roman (Anm. 13), S. 136: »Die Politik des deutschen Imperialismus, der Flottenbau, die Einbindung der sogenannten Schutzgebiete kumulierten bei Lienhard im Ratschlag an junge Dichter, die Welt zu der ihren zu machen, sie – zunächst jedenfalls – literarisch-stofflich zu erobern, als organisch erweiterte Heimat zu sehen, auf die man Anspruch hat.« Zugleich hat die Forschung gelegentlich darauf verwiesen, dass Kolonialliteratur Heimatliteratur sei. Vgl. etwa Wolfgang Struck: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen: V& R unipress 2010, S. 111. 15 Vgl. etwa Bollenbeck: Bildung und Kultur (Anm. 6), S. 277. 16 Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795/1796]. In:

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19. Jahrhunderts lassen sich ›Kulturkriege‹ im Sinne einer die militärische Mobilmachung vorbereitenden und begleitenden geistigen Mobilmachung zurückverfolgen. Wolf Lepenies hat darauf hingewiesen, dass ›Kulturkriege‹ stets den Kern deutsch-französischer Auseinandersetzungen gebildet hätten: Wann immer in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich ein Land auf dem Schlachtfeld besiegt worden war, wurde die Kulturpolitik zum Terrain, auf dem die kommende Revanche geplant wurde. Geistige Mobilmachungen bereiteten die militärische Aufrüstung vor und begleiteten sie.17

Lepenies führt unter anderem die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Napoleon und den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 an. Im Zeitalter des Imperialismus18 steht die Verbindung von Krieg und Kultur dann maßgeblich unter nationaldarwinistischem Vorzeichen. Krieg zwischen Kolonialherren und Kolonisierten wird im imperialistischen Kontext als Auseinandersetzung zwischen Völkern unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen dargestellt. Zugleich gilt mit Blick auf die europäischen ›Kulturvölker‹ und ihre vermeintliche Konkurrenz im Daseinskampf der Nationen das ›Gesetz‹ ›Weltmacht oder Untergang‹ – auch in diesem Kontext wird Krieg als kulturgeschichtlicher Faktor begriffen.19 Es ist diese Argumentationstradition, aus der sich die Kriegspublizistik speist, wenn sie den Krieg als Notwenigkeit im »imperialistischen Kampf ums Dasein«20 begreift. Die Verbindung von Kultur(fortschritt) und Krieg ist also lange vorbereitet und liegt bei Ausbruch des Weltkriegs zum Abruf bereit. Seine spezifische semantische Kontur erhält der ›Kulturkrieg‹ jedoch durch die bereits skizzierte

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19 20

Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WBG 1975, S. 191–251. Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München, Wien: Hanser 2006, S. 213. Nationalismus und Imperialismus sind mit Beginn des deutschen Engagements in Übersee ab den 1880er Jahren eng aufeinander bezogen. Hier lässt sich ein Wandel des Nationalismus hin zu einem »neuen, expansiven Nationalismus« verzeichnen (Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 65). Die enge Verbindung zwischen Nationalismus und Imperialismus zeigt sich auch in der Genese des (radikalen) Nationalismus in den 1890er Jahren, genauer in der Neuformierung der radikalnationalistischen Kräfte vor dem Hintergrund des grundlegenden Strukturwandels des politischen Systems in der nachbismarckschen Zeit: 1891 wird unter maßgeblicher Beteiligung des Kolonialisten Carl Peters der Allgemeine Deutsche Verband (ab 1894 Alldeutscher Verband) gegründet, der seinerseits unter anderem das »Deutschtum im Ausland« zu unterstützen sich zur Aufgabe gemacht hat (ebd., S. 71). Vgl. Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus. Mit einem Geleitw. von Winfried Baumgart. Paderborn u. a.: Schöningh 2000. Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Anm. 1), S. 40.

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Leitdichotomie deutsche Kultur versus französisch-englische Zivilisation.21 Der Krieg wird als »Krieg des Geistes und Charakters«22 gedeutet, in dem das »deutsch[e] Wese[n]«23 verteidigt werden müsse, der große Streit steht nicht bloß zwischen Völkern, sondern zwischen Weltanschauungen, und nicht bloß zwischen verschiedenen Richtungen der Gegenwart, sondern im Grunde zwischen verschiedenen Epochen. Der Weltkrieg ist ein Kampf zwischen 1789 und 1914; ersteres vertreten durch Frankreich-England, letzteres durch Deutschland.24

Mit der leitenden Differenzkonstruktion – (französisch-englische) Zivilisation und die ›Ideen von 1789‹ auf der einen, (deutsche) Kultur und die ›Ideen von 1914‹ auf der anderen Seite – ist dann eine Reihe weiterer Dichotomien verbunden. Der »in allzuviel Freiheit aufgelöste[n] Gesellschaft«, die »ihrem Untergang zusteuer[t]« (ID 33), wird als Gegenentwurf deutsche ›Ordnung‹ entgegengestellt: »Nach Ordnung haben wir gehungert und gedurstet in unseren aufgelösten Gesellschaften« (ID 34). Deutlich wird die moderne Gesellschaft als Verlust von Ganzheitlichkeit beschrieben, die durch den Krieg wieder hergestellt werden kann: »Dies ist unsere Lage, und dies ist eine der tiefen Notwendigkeiten des Weltkrieges.« (ID 33) Darüber hinaus wird auf der Grundlage eines Persönlichkeitskultes französischer »Gleichheit«, der der Vorwurf gemacht wird, dass sie »wirklichen Persönlichkeiten« Zwang antue (ID 35ff.), das Prinzip der »Gerechtigkeit« entgegengestellt (ID 37). Schließlich wird französischer »Brüderlichkeit« (ID 38) vor dem Hintergrund der Vorstellung eines »neuen Organismus« die »Kindschaft in einem Vaterhause« entgegengesetzt (ID 37f.). Der atomisierenden und zersplitternden Demokratie Frankreichs und Englands25 wird eine ständisch-monarchische Staats- und Gesellschaftsordnung26 und damit verbunden das Ideal organischer Ganzheitlichkeit und Gemeinschaftlichkeit Deutschlands gegenübergestellt27 – letzteres wird auch zu den Leitkonzepten der Kriegspublizistik gehören. Die ›Ideen von 1914‹ schließen damit auch – mal mehr, mal minder explizit – an die grundlegende Dichotomie von vormoderner Gemeinschaft und moderner Gesellschaft an, mit der etwa Fer21 22 23 24

Vgl. zum Kulturbegriff insb. Bollenbeck: Bildung und Kultur (Anm. 6). Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Anm. 1), S. 32. Troeltsch: Kulturkrieg (Anm. 2), S. 11. Rudolf Kjell¦n: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive. Leipzig: Hirzel 1916, S. 6. Im Folgenden unter der Sigle ID und mit Seitenzahl. Der schwedische Universitätsprofessor, dessen Text in Leipzig in der Reihe »Zwischen Krieg und Frieden« erschien, gehört zu den Vertretern der ›Ideen von 1914‹. 25 Vgl. Troeltsch: Kulturkrieg (Anm. 2), S. 12. 26 Vgl. ebd., S. 7. 27 Vgl. auch ID 37: »Wir sehen auf der anderen Seite eine Menschheit, welche den mechanischen Atomismus der Gleichheitsschwärmerei in einem neuen Organismus überwunden hat, in dem die verschiedenen Teile je nach ihrer Bedeutung für das Ganze verschiedenen Wert haben.«

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dinand Tönnies die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts beschreibt.28 So bezieht sich Troeltsch in den ›Ideen von 1914‹ wohl auf Tönnies, wenn er den Gegensatz von Intellektuellen auf der einen und Volk auf der anderen Seite wie folgt theoretisch zu fundieren sucht: Dieser Gegensatz gehört freilich überall zur modernen Entwicklung von Staat und Gesellschaft; es ist, mit einem unserer gedankenreichsten Soziologen zu reden, die Trennung der abstrakt rationalisierten und subjektivierten Gesellschaft von der großen, in Blut und Instinkt, Sitte und Symbol geeinten Gemeinschaft.29

Die ›Ideen von 1914‹ und die Kulturkriegspublizistik stützen sich damit maßgeblich auf Begriffe und Konzepte, wie sie in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik geprägt werden. Der »Mensch will Ganzes haben«,30 schreibt Paul de Lagarde 1875 in seinen kulturkritischen Deutschen Schriften, und Julius Langbehn beklagt ausführlich den »demokratisierende[n] nivellierende[n] atomisierende[n] Geist des jetzigen Jahrhunderts«, das Fehlen »epochemachende[r] Individualität«,31 frönt dem Persönlichkeitskult schon im Titel seiner Abhandlung und fordert eine ständisch-monarchische Gesellschaftsordnung: »Der neue deutsche Mensch wird aristokratisch sein«.32 – »Uralter Aristokratismus besiegt neumodischen Demokratismus.«33 Eng mit den Leitkonzepten verbunden ist schließlich ein gegen die Moderne gerichtetes, dialektisch angelegtes Geschichtsmodell, dass die Kriegspublizistik – wie zu zeigen bleibt – ebenfalls strukturieren wird. Die weltanschaulichkonservative Kulturkritik teilt mit der lebensreformerischen Ausprägung kulturkritischen Denkens um 1900 ein Verständnis von Geschichte, das nach dem Modell Paradies – Sündenfall Moderne – Erlösung organisiert ist. Die lebensreformerische Kulturkritik etwa beinhaltet, so Wolfgang R. Krabbe, im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre. Ihr dialektisches Geschichtsmodell verläuft nach dem Dreierschritt Paradies – Sündenfall – Erlösung, wobei die Abkehr von den natürlichen Grundlagen des Daseins als der fundamentale Sündenfall angesehen wurde. Die quasi-naturgesetzliche Struktur dieser

28 Vgl. auch Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900. Berlin, New York: de Gruyter 2009, hier insb. das 4. Kapitel »Wille zur Gemeinschaft«, S. 250–345. 29 Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Anm. 1), S. 41f. 30 Paul de Lagarde: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht. Geschrieben zu Borth vom 31. August bis 12. September 1875. In: Ders.: Deutsche Schriften. Gesamtausgabe letzter Hand. 5. Aufl. Göttingen: Dieterich 1920, S. 106–182, hier S. 115. 31 Langbehn: Rembrandt (Anm. 6), S. 1. 32 Ebd., S. 296. 33 Ebd., S. 297.

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Dialektik bedingte den Anspruch exakter Extrapolation auf die zukünftige Entwicklung.34

Die säkularisierte Erlösungslehre ist in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik in ein Geschichtsmodell eingelassen, dass nach dem Modell These – Antithese – Synthese organisiert ist. Besonders augenfällig ist dies in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. Ausgangs- und Referenzpunkt sind hier eine Reihe kultureller und gesellschaftlicher Verfallsdiagnosen, die entsprechend dem strukturierenden Modell den Sündenfall Moderne beschreiben – beklagt werden etwa der »rapide Verfall« des »geistige[n] Leben[s] des deutschen Volkes«, der »Spezialismus« der Wissenschaft usw.35 Eingeordnet werden die Einzelbeobachtungen in ein Geschichtsmodell, das auf das vorgängige Zeitalter des »Idealismus« (gekennzeichnet durch transzendentes Denken) das aktuelle Zeitalter des »Spezialismus« (gekennzeichnet durch materielles Denken) folgen lässt,36 mithin das Zeitalter der Wissenschaft mit ihrem Interesse für einen »Schwall von wissenschaftlich geordneten Einzelheiten«.37 Gesellschaftliche Moderne und ihre ›falsche‹ Kultur38 wird mithin beobachtet und beschrieben als Verlust vermeintlich vorgängiger Ganzheitlichkeit und einer damit verbundenen Sinnhaftigkeit.39 Die weltanschaulich-konservative Kulturkritik Julius Langbehns belässt es jedoch nicht bei einer Statusbeschreibung. Sie versteht den aktuellen Status vielmehr als »Durchgangsstufe«40 und fordert: »[D]er Riß, welcher durch die moderne Kultur geht, muß sich wieder schließen.«41 Was folgen wird, sei – und in dieser Figur führt der Text Erlösungslehre und Synthese-Prinzip eng – das Zeitalter der »künstlerische[n] Weltanschauung«,42 das das Denken Kants und Ludwig Büchners, mithin das transzendente mit dem materiellen Denken, verbinden werde: »Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Extremen, bei dem Individualismus, stehen bleiben.«43 34 Wolfgang R. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform. In: Kerbs u. Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen (Anm. 13), S. 73–75, hier S. 74. 35 Langbehn: Rembrandt (Anm. 6), S. 1. 36 Vgl. ebd., S. 5. 37 Ebd., S. 18. 38 Vgl. ebd., S. 32. 39 Deutlich wird dies unter anderem im Vorwurf an die Wissenschaft, dass dieser das »Gefühl für den direkten Zusammenhang der einzelnen und einzelsten natürlichen wie menschlichen Erscheinungen mit dem großen und einheitlich ausstrahlenden Weltganzen […] durchgängig verloren gegangen« sei (ebd., S. 57). 40 Ebd., S. 4. 41 Ebd., S. 9. 42 Ebd., S. 5. 43 Ebd., S. 4f.

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Schon das kulturkritische Denken der Jahrhundertwende misst also dem Krieg vor dem Hintergrund des dargelegten Geschichtsmodells mit Blick auf den Sündenfall Moderne ein Erlösungspotential zu. Sowohl Paul de Lagarde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch Julius Langbehn gegen Ende des Jahrhunderts greifen diese Verbindung auf und stellen sie ausgehend von ihren Verfallsdiagnosen in den Dienst ihrer säkularisierten weltanschaulichen Erlösungslehre: Geistiges Leben – und politisches Leben ist geistiges Leben – erwacht durch die Nothwendigkeit des Kampfes. […] Ein Volk erwirbt durch den Krieg (dieses Wort im weitesten Sinne genommen) die Uebung und volle Ausbildung der ihm eingeborenen Eigenschaften […],44

heißt es bei de Lagarde, und auch Langbehns Abschnitt zu »Krieg und Kunst«, in dem die »jetzig[e] kriegerisch[e] Entwicklungsperiode« als notwendige Ergänzung zur »künstlerisch[en]«45 Erziehung der Deutschen verstanden wird, ist vor dem Hintergrund dieses Argumentationszusammenhangs zu verstehen.

2.

Kolonialer Kriegsroman. Zur kathartischen Funktion des Kriegs und ihrer literarischen Ausgestaltung

Die Literatur, die im Umfeld des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende entsteht, gestaltet das Erlösungspotential des Kriegs mit Blick auf den Sündenfall Moderne narrativ aus. Im kolonialen Kriegsroman werden zentrale Figuren – die nationaldarwinistische Deutung von Krieg ebenso wie die Deutung des Kriegs als Möglichkeit der (Re-)Vergemeinschaftung – narrativ erprobt und vorweggenommen, die in der Kulturkriegspublizistik wenige Jahre später aufgegriffen werden: Das Erlösungspotential des Kriegs wird hier mit Blick auf die Moderne ausgelotet und inhaltlich mit dem Narrativ der Re-Vergemeinschaftung gefüllt. Über eine schlichte Setzung des Kriegs an die Gelenkstelle zwischen Sündenfall Moderne und Erlösungshoffnung hinaus bietet der (koloniale) Kriegsroman damit zugleich ein Verlaufsmodell an.

44 de Lagarde: Ueber die gegenwärtige Lage (Anm. 30), S. 119. 45 Ebd., S. 200.

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Der deutsche Kolonialroman46 entsteht im Wesentlichen ab 1884, also während der Jahre des deutschen Engagements in Übersee. An dieser Stelle sind vor allem jene kolonialen Kriegsromane von Bedeutung, die die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Folge des Aufstandes der Herero 1904 zum Thema haben. Zwar hat es bereits vorher gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen indigener Bevölkerung und Kolonialmacht gegeben, die ihrerseits in der Kolonialliteratur Widerhall fanden; der Aufstand der Herero und der nachfolgende Kolonialkrieg kann jedoch im Unterschied zu früheren wie auch späteren Aufständen im Anschluss an Medardus Brehl als Diskursereignis gewertet werden.47 Zunächst ist festzuhalten, dass der vom kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende her zu verstehende Kolonialroman wesentlich auch nach dem Geschichtsmodell der Kulturkritik strukturiert ist. Europa wird beobachtet und beschrieben als Ort der Moderne, in dem vorgängige Totalität und Sinnhaftigkeit verloren gegangen und Gemeinschaft in Gesellschaft übergegangen ist.48 Die Kolonie wird dann – nicht erst im Kriegsroman, sondern auch und gerade im Siedlungsroman – als Ort wahrgenommen, an dem ein Leben in vormodernen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen noch oder wieder möglich ist. Vor dem Hintergrund dieses grundlegenden Schemas kolonialer Literatur kann dann im 46 Die Gattung ›deutscher Kolonialroman‹ ist aufgrund der Heterogenität des Gegenstandes nicht ganz einfach zu bestimmen. Die Romane sind in so unterschiedlichen Regionen wie Afrika, China, der Südsee situiert. Die Themen, denen sich die Texte widmen, variieren extrem, angefangen bei Reisen emanzipierter Frauen über das Phänomen des Tropenkollers bis hin zur literarischen Darstellung von Aufständen und Kolonialkriegen. Genauso wenig lassen sich die Texte einer Literaturströmung zuordnen. Ein Teil, jedoch keinesfalls alle Texte, muss vom kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende her begriffen werden. Gemeinsamer Nenner ist ausschließlich die Situierung der Handlung in den deutschen Kolonien, woraus sich dann eine Reihe klassischer kolonialer Topoi ableiten. Je nach inhaltlichem Schwerpunkt können die Romane dann weiter unterteilt werden. Sibylle Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. Bremen: Übersee-Museum 1983 unterscheidet etwa in ihrer stark gattungsorientierten Arbeit Abenteuerromane, Feldzugberichte, Siedlungsromane und Jugendbücher. An dieser Stelle werden unter ›kolonialen Kriegsromanen‹ daher jene Texte verstanden, deren Handlung erstens in der Kolonie situiert ist und die zweitens Aufstände und Kolonialkriege literarisch behandeln. 47 Vgl. Medardus Brehl: Diskursereignis »Herero-Aufstand«. Konstruktion, Strategien der Authentifizierung, Sinnzuschreibung. In: Ingo H. Warnke (Hg.): Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884–1919. Berlin, New York: de Gruyter 2009, S. 167–202. Brehl arbeitet heraus, dass der Herero-Aufstand ein regelrechtes Diskursereignis gewesen sei, wohingegen der Nama-Krieg bei weitem nicht denselben Widerhall in der Öffentlichkeit des Kaiserreiches gehabt habe. Gleiches gelte auch für den sogenannten ›Maji-Maji-Aufstand‹. Der Herero-Aufstand löste eine Flut von Publikationen unterschiedlicher Textsorten aus, darunter auch und gerade Romane und Erzählungen (vgl. ebd., S. 173f.). 48 Zu den zentralen Topoi des Überseeromans gehört der Verlust des ererbten Hofes (Sphäre der Gemeinschaft, ›ganzes Haus‹) und die Beschreibung der Stadt als Sphäre der Gesellschaft.

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kolonialen Kriegsroman insbesondere ab 1904 das Erlösungspotential, das dem Krieg mit Blick auf den Sündenfall Moderne im kulturkritischen Denken zugeschrieben wird, narrativ ausgestaltet werden. Erstens wird im Kolonialroman die nationaldarwinistische Kriegsdeutung in allen Konsequenzen bis hin zum Genozid entfaltet. Und zweitens wird Krieg sowohl vor der Folie moderner Vergesellschaftung als auch mit dem Argument einer nicht erfolgten inneren Reichsgründung schon im Kolonialroman für eine Re-Vergemeinschaftung der Deutschen nicht nur in der Kolonie, sondern auch in Deutschland selbst funktionalisiert.

Kulturkriege – Daseinskämpfe Im Kern der skizzierten Verbindung von Kultur und Krieg steht im Imperialismus zunächst die Überzeugung unterschiedlicher Entwicklungsstufen der Menschheit, die eine grundlegende Differenz zwischen vermeintlich ›unterentwickelten‹ indigenen Bevölkerungen und der eigenen kulturellen ›Höherentwicklung‹ postuliert. Sowohl in theoretischen als auch in literarischen Texten wird hieraus die Rechtfertigung europäischer Expansion abgeleitet. Es ist einer der klassischen kolonialen Topoi, dass vermeintlich unterentwickelten ›Naturvölkern‹ ›Kultur‹ gebracht werden solle. Zugleich wird ihnen vorgeworfen, aufgrund ihrer ›Unterentwicklung‹ den Boden nicht kultiviert zu haben, woraus die Berechtigung zur Kolonisation abgeleitet wird. Dies lässt sich exemplarisch an Jonk Steffens (d. i. Maximilian Bayer) Roman Im Orlog (1911) aufzeigen, in dem die Figur Regnitz im Gespräch mit dem Protagonisten über die Frage der Rechtmäßigkeit einer Verurteilung der indigenen Bevölkerung äußert: »[…] Da, schau Dir das Land an! Was hat die schwarze Bande in Jahrhunderten daraus gemacht? Nichts! Verludern hat sie’s lassen! Wo tausend Menschen ihr Brot bequem finden könnten, da leben jetzt kaum ihrer zehn. Und die hungern auch noch. – Bei uns zu Hause, in Europa, da drängeln sich die Menschenmassen und nützen jedes Eckchen sorgfältig aus; hier hingegen liegen Meilen des Landes unbenützt und brach. – Das wäre eine kuriose Weltordnung, wenn das recht und billig wäre!«49 49 Jonk Steffen [d. i. Maximilian Bayer]: Im Orlog. Südwestafrikanischer Roman. Berlin: Verl. Kolonialpolit. Zeitschr. 1911, S. 195f. Maximilian Bayer war – im Gegensatz etwa zu Gustav Frenssen – während des Kriegs 1904–1907 Offizier in der ›Schutztruppe‹. Später publizierte er zu dem Land und schrieb mehrere Romane unter dem Pseudonym Jonk Steffen. 1909 begründete er den Deutschen Pfadfinderbund. Vgl. Medardus Brehl: »Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient«. Der Völkermord an den Herero 1904 und seine zeitgenössische Legitimation. In: Irmtrud Wojak u. Susanne Meinl (Hg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York: Campus 2004, S. 77–97, hier S. 90 u. 96.

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Darüber hinaus wird in den zahlreichen kriegerischen Konfrontationen in Übersee, insbesondere aber im Diskursereignis um den Aufstand der Herero, der Krieg zur Auseinandersetzung zwischen Kulturvolk und Naturvolk, mithin zum ›Kulturkrieg‹ stilisiert. Auch in diesem Zusammenhang wird der Krieg für den Kulturfortschritt in Dienst genommen. Dies lässt sich ebenfalls an Steffens Roman verdeutlichen, der den »Krieg […] im Gang der Menschheitsentwicklung [als einen] wichtige[n] Faktor des Fortschritts«50 auffasst. Auf dieser Grundüberzeugung fußt die Deutung der Kolonialkriege insgesamt. Folgerichtig wird die Niederlage der Herero als kulturhistorische Notwendigkeit wahrgenommen und erhält so zugleich ihre Legitimation: Die Herero »fühlten unbewusst die seelische Überlegenheit der höheren Rasse und fanden sich stumpf in das Schicksal der Besiegten. – Wie so oft im Kriege gab nicht die Zahl der Toten den Ausschlag, sondern der Geist der Truppe.«51 Der Ausgang des Kriegs ist somit vorherbestimmt: Der koloniale Kriegsroman folgt dem Verlaufsmuster Ausbruch des Kriegs – Bewährung gegen den Feind und widrige Umstände – notwendiger Sieg der Deutschen. Der ›Kulturkrieg‹ zwischen Natur- und Kulturvolk ist damit zugleich ›Daseinskampf‹, in dem ausschließlich das ›Recht des Stärkeren‹ gilt.52 Es ist bekannt, dass im Sozialdarwinismus Darwinsche Vorstellungen, hier insbesondere die Metapher des Kampfes ums Dasein, auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Der ›Nationaldarwinismus‹ (Werner Conze)53 seinerseits 50 Steffen: Im Orlog (Anm. 49), S. 214. 51 Ebd., S. 238. 52 Dies ist eine der Legitimationsstrategien für den Genozid an den Herero in der Kolonialliteratur. Vgl. hierzu insb. Medardus Brehl: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. München, Paderborn: Fink 2007; ders.: Erzählen im Kolonialstil – Zur Kontinuierung kolonialer Erzählmuster in der deutschen Literatur über den »Hererokrieg«. In: Christof Hamann (Hg.): Afrika – Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur. Iserlohn: Verlag für Kirche und Gesellschaft 2005, S. 141–158; Jörg Wassink: Auf den Spuren des Deutschen Völkermordes in Südwestafrika. Der HereroNama-Aufstand in der deutschen Kolonialliteratur. Eine literarhistorische Analyse. München: M-Press 2004. 53 Zum ›Nationaldarwinismus‹ vgl. Werner Conze u. Antje Sommer : Art. »Rasse«. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart: Klett 1984, S. 135–178, hier im Abschnitt »Darwin, Darwinismus, Sozialdarwinismus« von Werner Conze insb. S. 165. Daneben auch Peter Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«: Nationalismus, Sozialdarwinismus und Imperialismus im wilhelminischen Deutschland. In: Jörg Echternkamp u. Sven Oliver Müller (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. München: Oldenbourg 2002, S. 131–148. Die Übertragung darwinistischer Metaphern auf das internationale Staatensystem fällt dabei auf fruchtbaren Boden. Bereits seit den 1850er Jahren, also vor Erscheinen von Darwins Hauptwerk, werden Expansion bzw. Grenzkolonialismus etwa in Paul de Lagardes Deutschen Schriften zur Lebensfrage der deutschen Nation stilisiert. Vgl. Paul de

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überträgt das darwinistische Selektionsprinzip und die Metapher des Daseinskampfes auf Völker, ›Rassen‹ und Nationen. Im Kolonialdiskurs wird das Deutungsmuster des ›Nationaldarwinismus‹ dann in allen denkbaren Konsequenzen entfaltet. Friedrich Fabri, der gemeinhin als einer der Begründer des deutschen Kolonialdiskurses gilt, erklärt bereits 1879 in seiner Abhandlung Bedarf Deutschland der Colonien? die Organisation deutscher Auswanderung, d. h. den Besitz von Kolonien und die imperiale Expansion, zur »Lebensbedingung des Deutschen Reiches«.54 Dieser Auffassung liegt die Vorstellung eines allgemeinen »Gesetzes der Selbsterhaltung, einer ungehinderten, freien und allseitigen Entwicklung, welches jedes große nationale Gemeinwesen als die Grundbedingung seines Bestandes und seiner Zukunft zu betrachten und zu ehren hat«,55 zugrunde. Diese Vorstellung prägt die Kolonialliteratur, die den allgemeinen Entwicklungsgedanken mit der Metapher des Daseinskampfes verbindet, wie etwa in Steffens Im Orlog:56 »›Den Kampf ums Dasein wirst du nicht wegphilosophieren können. Den hat ein Größerer gemacht, damit die Menschheit nicht versauert.‹ ›Und doch hat es etwas furchtbares, dieses ewige Verdrängen, um neuem Leben Platz zu machen – das Recht des Stärkeren‹«.57 Der »Daseinskampf« der Nationen wird dabei in doppelter Hinsicht zur zentralen Legitimation imperialistischer Expansion.58 Erstens wird aus der bereits skizzierten kulturevolutionären Argumentation die Daseinsberechtigung bzw. eben NichtDaseinsberechtigung eines Volkes abgeleitet und auf dieser Grundlage werden dann die Besetzung außereuropäischer Territorien ebenso wie Kolonialkriege und schließlich der Genozid an den Herero legitimiert. Und zweitens werden nationaldarwinistische Vorstellungen auf das innereuropäische Staatensystem übertragen: Die Rivalität der Großmächte wird zum Kampf ums Dasein der Nationen, imperialistische Expansion wird in diesem Deutungsmuster, darauf hat die Forschung hingewiesen, zum existenziellen Erfordernis für den Fortbestand der deutschen Nation, ja zur welthistorischen Notwendigkeit.59 Es ist diese Argumentationstradition, die die Kulturkriegspublizistik ab 1914 wieder aufgreifen wird. Neben der Auslegung des Kriegs als Daseinskampf, die gewissermaßen nach außen gerichtet ist, umfasst das nationaldarwinistische Deutungsmuster auch

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Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. Ein Vortrag gehalten im November 1853. In: Ders.: Deutsche Schriften (Anm. 30), S. 18–39, hier S. 30; ders.: Programm für die konservative Partei Preußens. In: Ebd., S. 350–403, hier S. 391. Friedrich Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? Gotha: Perthes 1879, S. 24 u. 28. Die Frage der Auswanderung wird mit der Kolonialfrage gleichgesetzt; vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 90. Vgl. Steffen: Im Orlog (Anm. 49), S. 196. Ebd. Vgl. auch Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes« (Anm. 53), hier S. 140f. Vgl. ebd. sowie Neitzel: Weltmacht oder Untergang (Anm. 19).

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eine nach innen gerichtete Dimension: Der ›Nationaldarwinismus‹ bereitet zugleich die Indienstnahme des Kriegs zur nationalen Vergemeinschaftung vor.60

Re-Vergemeinschaftung Vorbereitet in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik, wird in der Kolonialliteratur dann ein Topos literarisch erprobt, auf den die ›Ideen von 1914‹ und die Kulturkriegspublizistik ab 1914 zurückgreifen können: die Re-Vergemeinschaftung durch Krieg. Bereits in Paul de Lagardes Deutschen Schriften werden Grenzkolonisation und also das expansive Ausgreifen des Staates auf fremde Territorien und die nationale Einigung, mithin die nationale Vergemeinschaftung, enggeführt: »Deutschland kann nur einig werden durch gemeinsame Arbeit, vorausgesetzt, daß diese Arbeit die ganze Nation in Anspruch nimmt.«61 – »Die Arbeit, welche ich uns Deutschen zumuthe, ist gemeinsame Kolonisation. Erschrecken Sie nicht: den Schauplatz dieser Kolonisation denke ich mir nicht in fremden Welttheilen, sondern in unserer nächsten Nähe.«62 Im kolonialen Kriegsroman wird dieser Zusammenhang systematisch entfaltet und der Krieg für die nationale Re-Vergemeinschaftung in Dienst genommen: Wenn ich [Peter Moor] hundert Jahre alt werde, so vergesse ich doch niemals diese nächtliche Stunde, als Tausende von Menschen mit uns zogen und in unsere Sektionen drangen, uns anriefen, grüßten und winkten, und Blumen auf uns warfen und unsere Gewehre trugen und uns zum Bahnhof brachten. Der Platz vor dem Bahnhof war schwarz von Menschen.63

60 Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes« (Anm. 53), S. 135 hat darauf hingewiesen, dass die »evolutionistische Deutung der Selektionstheorie […] zugleich den Ausgangspunkt für die diskursive Konstruktion einer dynamischen Nationenvorstellung [darstellt], denn sie ermöglichte es, die Krisen, Brüche und Diskontinuitäten der ›nationalen Entwicklung‹ als Voraussetzung und Bedingung nationaler Vergemeinschaftung darzustellen.« Es ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend, dass die Befreiungskriege und das Jahr 1813 einer der wichtigen Bezugspunkte der Kriegspublizistik werden. Vgl. etwa den Titel der Rede von Alois Riehl: 1813 – Fichte – 1914. Rede am 23. Oktober 1914. Berlin: Heymann 1914 (Deutsche Reden in schwerer Zeit, H. 7). 61 de Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben (Anm. 53), S. 23. 62 Ebd., S. 27. 63 Gustav Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest. Berlin: Grotesche Verlagsbuchhandlung 1906, S. 9. Frenssen ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts breit rezipiert worden. Nach Werken wie Jörn Uhl (1901) und Hilligenlei (1905) hat er sich mit Peter Moors Fahrt nach Südwest der Kolonialthematik zugewandt. Vgl. auch Kay Dohnke u. Dietrich Stein (Hg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide: Boysen 1997.

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Was sich wie eine Beschreibung aus dem Jahr 1914 liest, wurde knapp zehn Jahre zuvor verfasst; nicht in den Weltkrieg, sondern in den Kolonialkrieg in DeutschSüdwestafrika zieht der Protagonist. Die Darstellung entstammt dem wohl auflagenstärksten, sicher bekanntesten Kolonialroman der Zeit, Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest. Die literarische Ausgestaltung vom Januar 1904 nimmt in einem zentralen Aspekt das sogenannte ›Augusterlebnis‹ vorweg. Die Leistung des Kolonialkriegs ist hier, die deutsche Gesellschaft in Gemeinschaft zurückzuüberführen. Nicht zufällig wird das Ideal der Einigkeit an anderer Stelle im Roman zur »Lebensfrage« des Deutschen Reichs erklärt.64 Voraussetzung für die Vergemeinschaftung der Deutschen im ›Januarerlebnis‹ ist die grundlegende Differenzkonstruktion von Eigenem und Fremden. Angesichts der Bedrohung von außen rücken die Deutschen wieder zur Gemeinschaft zusammen, verteidigen die Soldaten in Übersee Deutschland und die Deutschen. Peter Moor fragt: »Sind diese Ermordeten deutsche Menschen?« »Natürlich,« sagte er : »Schlesier und Bayern und aus allen andern deutschen Stämmen, und auch drei oder vier Holsteiner. Und nun, was meinst Du, wir vom Seebataillon…« Da erkannte ich plötzlich in seinen Augen, was er sagen wollte. »Wir müssen hin!« sagte ich. […] Und ich freute mich. Und ich sah im Weitergehn die Leute an, die des Weges kamen, ob sie vielleicht schon wüßten und uns anmerkten, daß wir nach Südwest gingen, um an einem wilden Heidenvolk vergossenes deutsches Blut zu rächen.65

Abgrenzung nach außen und Einigung nach innen sind dabei konstitutiv aufeinander bezogen.66 Der Krieg gegen die Herero wird zum einheitsstiftenden Moment, was im Zusammenhang mit der Projektion einer nationalen Zukunft zu verstehen ist.67 Neben der Gemeinschaft der Deutschen in Deutschland umfasst die Re64 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest (Anm. 63), S. 14: »›[…] Da hinter den hohen Kreidefelsen wohnt doch das erste Volk der Erde [die Engländer], vornehm, weltklug, tapfer, einig [!] und reich. Wir aber? Eine einzige ihrer Eigenschaften haben wir von alters her: die Tapferkeit. Eine andere gewinnen wir langsam: den Reichtum. Ob wir den Rest jemals bekommen: das ist unsere Lebensfrage.‹« 65 Ebd., S. 6. 66 Brehl: Vernichtung der Herero (Anm. 52), S. 188 hat auf den Zusammenhang von innerer Einigung und Kolonialkrieg hingewiesen: »Erst im Kampf gegen die feindlichen Eingeborenen wird schließlich diese Zersplitterung der deutschen Nation – zumindest im kolonialen Raum – überwunden. Dem Krieg mit den ›Eingeborenen‹, der in den Texten gemeinhin als unvermeidlicher ›Rassenkampf‹ geschildert wird und der somit als welthistorische Notwendigkeit erscheint, wird also, im zeitgenössischen Diskurs über kollektive Identität in Deutschland durchaus konventionell, eine sozialintegrative Kraft zugeschrieben.« 67 Vgl. Orla Holm: Pioniere. Ein Kolonialroman aus Deutsch-Südwest-Afrika. Berlin: Fontane 1906, S. 267: »Der wirklich großdenkende Mensch erstarkt im Kampf, ein nationaler Krieg hebt das Volksbewußtsein, vereinigt alle Klassen der Bevölkerung«. Orla Holm gehört zu den genuin kolonialen Autoren. Vgl. Brehl: »Diese Schwarzen haben vor Gott« (Anm. 49), S. 81.

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Vergemeinschaftung in der Kolonialliteratur außerdem die Gemeinschaft der Soldaten im Feld – in Peter Moors Fahrt nach Südwest etwa wird diese erzählerisch durch die konsequente Verwendung des kollektiven »Wir« realisiert.68 Schließlich bietet der Kolonialkrieg drittens ein Bewährungsfeld für die Soldaten, das diese zu vollwertigen Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft reifen lässt: »Einer, eines Tagelöhners Sohn aus Pommern […] sagte, er könne nun in Wahrheit singen, was sie in der Dorfschule so oft gesungen hätten: ›Alles was ich bin und habe, dank’ ich dir, mein Vaterland.‹«69 Auch auf individueller Figurenebene scheint das Projekt der Re-Vergemeinschaftung der Deutschen durch den Krieg geglückt, der Soldat kehrt als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft am Ende des Romans zurück in die Heimat. Im Übrigen weist bereits die Deutung dieses Kriegs ein kathartisches Moment70 in Bezug auf die Gemeinschaft auf. Ausdrücklich wird etwa in Orla Holms Pioniere der »läuternd[e] Einfluß, den oft ein Krieg mit sich bringt«,71 hervorgehoben. In Friede Krazes Heim Neuland überleben ausschließlich diejenigen Personen, die gemeinschaftsfähig sind, wohingegen alle der Sphäre der modernen Gesellschaft im Tönniesschen Sinn zugeordneten Figuren im Krieg ums Leben kommen.72 Die Figur des Krotte in Steffens Im Orlog funktioniert analog.73 Es werden hier mit dem Narrativ der Re-Vergemeinschaftung durch Krieg und der kathartischen Funktion des Kriegs in Bezug auf Gesellschaft und Gemeinschaft also Versatzstücke wirksam, die sich rund ein Jahrzehnt später in den ›Ideen von 1914‹ zu dem, wie Matthias Schöning herausgestellt hat, »wohl wir68 Vgl. etwa Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest (Anm. 63), S. 38. 69 Ebd., S. 207. 70 Vgl. u. a. Albrecht Koschorke: Moderne als Wunsch. Krieg und Städtebau im 20. Jahrhundert. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart, Weimar : Metzler 1999, S. 656–674; daneben Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. 2 Bde. Konstanz: Verl. am Hockgraben 1994/95. 71 Holm: Pioniere (Anm. 67), S. 267. 72 Friede H. Kraze: Heim Neuland. Stuttgart, Leipzig: Deutsche Verlags-Ges. 1909. Krazes Werk – 20 Romane, neun Novellen, 17 Erzählungen, drei Kinderbücher und drei Theaterstücke sowie zahlreiche Gedichte – behandelt »kulturgeschichtliche, histor., soziale u. religiöse Probleme« (Gisela Brinker-Gabler u. Arno Bamm¦: Art. »Kraze, Fried[erike] H[enriette Marie]«. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Killy Literaturlexikon. Bd. 7. 2. vollst. überarb. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 2010, S. 34). Sie gehört entsprechend nicht zu den genuin kolonialen Autoren, sondern wie Gustav Frenssen auch zu jener Gruppe von Schriftstellern, die sich dem Kolonialismus als aktuellem Zeitthema widmen. 73 Vgl. Steffen: Im Orlog (Anm. 49), S. 168: »›[…] Es wird dem Herrn sehr gesund sein, mal ein bisschen frisches Orlogleben mitzugenießen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dir Krotte entführe, was?‹« Die auf der Ebene der Figurensprache implizierte Hoffnung, der Krieg (›Orlog‹, ursprünglich aus dem Niederländischen abgeleitet und heute veraltet, bedeutet ›Krieg‹) könne aus Krotte einen gemeinschaftsfähigen Menschen formen, erfüllt sich nicht. Das kathartische Moment liegt in seinem Fall in der Eliminierung, sprich: im schicksalhaften Tod im Krieg begründet.

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kungsmächtigsten Deutungsmuste[r]« formieren, »mit dem die deutsche Gesellschaft zwischen 1914 und 1933 Bilder von sich selbst entwirft«.74 Was Schöning für die Kriegspublizistik des Ersten Weltkriegs diagnostiziert, kann bereits für den Kriegsroman über den Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika gelten: Der beginnende Krieg hat […] vor allem einen Sinn: Er soll die deutsche Gesellschaft in eine Gemeinschaft zurückverwandeln. In einem Zug will sich die moderne, auf typische Weise zerrissene, verunsicherte und sich selbst unübersichtlich gewordene Gesellschaft mittels Krieg therapieren und das weltgeschichtliche Profil Deutschlands als Kulturnation schärfen.75

Der Unterschied zu den ›Ideen von 1914‹ ist dabei ein gradueller – viele der ›Ideen von 1914‹ führen hier ein Vorleben, müssen für die Kriegspublizistik des Weltkriegs nur noch abgerufen und an den Kontinentalkrieg angepasst werden.

3.

Die ›Ideen von 1914‹ und der ›Kulturkrieg‹. Modernebewältigung und Erster Weltkrieg

Wie bereits dem Kolonialkrieg kommt dann auch dem Weltkrieg die Funktion zu, Gesellschaft wieder in Gemeinschaft zurückzuverwandeln. Troeltsch schreibt: In der Kriegsarbeit schmolzen alle, Hoch und Niedrig, Gebildete und Ungebildete, zusammen und die Gliederungen wurden wieder die natürliche Gliederung der Arbeit und der Leistung. […] Es ist die ungeheure Bedeutung des August, daß er unter dem Druck der Gefahr das gesamte Volk zu einer inneren Einheit zusammenpreßte, wie es niemals vorher gewesen war.76 Es sind die gesunden Elemente des ständischen und organischen Gemeinschaftsgedankens, die damit an Stelle eines künstlichen und theoretischen Gesellschaftsaufbaues treten und die von da ab zum mindesten in der Gesinnung weiterleben werden. […] Der Rückgang vom Abstrakten, Künstlichen und Zerteilten auf die organische Lebenseinheit im Individuum wie im Volksganzen wird die Wirkung des August auf eine weite Zukunft sein.77 74 Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 7. Schöning arbeitet die Geschichte des Deutungsmusters der ›Ideen von 1914‹ heraus und verfolgt ihre Entwicklung über verschiedene Bruchstellen hinweg von den frühesten Äußerungen Intellektueller über eine Radikalisierung nach den ersten beiden Kriegsjahren bis in die Weimarer Republik und den Kriegsroman. 75 Ebd. 76 Troeltsch: Die Ideen von 1914 (Anm. 1), S. 42f. 77 Ebd., S. 44.

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Freilich müssen die in den skizzierten weltanschaulich-kulturkritischen und literarischen Darstellungsressourcen bereitstehenden Topoi für den Transfer in den Bereich der Kriegspublizistik an den Kontinentalkrieg, den Weltkrieg angepasst werden. Dies erfolgt wesentlich über eine Anpassung der leitenden Dichotomie von Eigenem und Fremden, mithin jener grundlegenden Alteritätskonstruktion, die nicht nur die weltanschaulich-konservative Kulturkritik (ländliche Gemeinschaft versus fremde städtische Gesellschaft) und den Kolonialdiskurs (Deutsche versus indigene Völker, aber ebenso ländliche Gemeinschaft versus fremde städtische Gesellschaft), sondern auch die Kulturkriegspublizistik (eigene Kultur versus fremde Zivilisation, zugleich die Rücküberführung des modernen Gesellschaftlich-Fremden ins Gemeinschaftlich-Eigene durch den Krieg) organisiert. Die grundlegende Dichotomie von Eigenem und Fremden bleibt also erhalten, angepasst wird die jeweilige inhaltliche Bestimmung der komplementären Begriffe. Mit dem Rückgriff auf Leitkonzepte der Kulturkritik übernimmt die Kriegspublizistik auch das Geschichtsmodell des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende. Am Beispiel Rudolf Kjell¦ns lässt sich besonders deutlich aufzeigen, wie dieses auch die Deutung des Weltkriegs strukturiert. Die ›Ideen von 1914‹ stellen hier eine Synthese zwischen dem ancien r¦gime und den ›Ideen von 1789‹ dar, die es im Krieg zu erringen gilt. Der »Gegensatz zwischen dem Liberalismus von 1789 und dem ›ancien R¦gime‹ [ist] ein kontradiktorischer. Sie schließen einander vollständig aus. Sie sind Antithese und These. Aber 1914 verhält sich zu 1789 wie Synthese zu Antithese.« (ID 43) Mit den Schlagworten ancien r¦gime und 1789 sind verschiedene Gesellschaftsformen verbunden – Kjell¦n spricht an anderer Stelle explizit von der »Gesellschaft von 1789« (ID 37). Die moderne Gesellschaft wird als Überwindung der absolutistischen Gesellschaftsordnung des ancien r¦gime nun anerkannt – ihre Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit jedoch werden scharf kritisiert. Vor dem Hintergrund dieser Deutung wird der Weltkrieg als »tief[e] Notwendigkeit« (ID 33) begriffen, die Ordnung und Ganzheitlichkeit wieder herzustellen vermag: »Eine Welt, die drauf und dran war, mit ihren aufgelösten kleinen Elementen in alle Winde zerstreut zu werden, wurde in die Schützengräben hinabgesandt, um sich zu bessern und Buße zu tun.« (ID 33f.) Insofern Kjell¦n also mit jenen Schlagworten an die Beschreibung der Moderne als Verlust von Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit anschließt und den Weltkrieg und die ›Ideen von 1914‹ als Gegenmittel einführt, schließt auch er an das Erlösungspotential des Kriegs an. »Schon lange genug haben wir auf die Erlösung gewartet«, schreibt er, und: »Von diesem Krieg erwarten wir, wie er auch enden möge, eine Betonung der neuen Werte, welche 1789 ersetzen und für sein Übel Heilung bringen sollen.« (ID 41) Es handelt sich mithin auch hier um Denkfiguren, die im größeren Kontext der Bewältigung der Moderne entfaltet werden. Die in der Kulturkritik wie auch

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in der Literaturproduktion aus ihrem Umfeld erprobten Topoi gehören zum mentalen Haushalt der Jahrhundertwende, aus dem sich die Weltkriegspublizistik ihrerseits speist. Schließlich wurde auf die wechselseitige Bezogenheit von Nationalismus und Imperialismus bereits verwiesen, ebenso auf die Gründung etwa des Allgemeinen Deutschen Verbandes (ab 1894 Alldeutscher Verband).78 Insofern Nationalismus und Imperialismus ab den 1880er Jahren eng aufeinander bezogen sind und Agitationsverbände sowohl in nationalistischen als auch in imperialistischen Kontexten eine zentrale Funktion für die Verbreitung ihrer Ideen einnehmen, lässt sich schließlich vermuten, dass diesen auch eine Brückenfunktion nicht nur zwischen Literatur und Publizistik, sondern auch zwischen Kolonial- und Kriegspublizistik zukommt. Jedenfalls haben bereits die frühen germanistischen Arbeiten zum deutschen Kolonialroman auf die Rolle der »kolonialen Verbände und Vereine für die Verbreitung der Kolonial-Literatur« hingewiesen.79 Neben der Deutschen Kolonialgesellschaft gehören der Deutsche Flottenverein und der Alldeutsche Verband in diesen Kontext.80

78 Vgl. Anm. 18. 79 So ein Unterabschnitt in der Dissertation von Joachim Warmbold: Deutsche Kolonial-Literatur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas. Lübeck: Univ. Diss. 1982, S. 125–136. 80 Vgl. Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane (Anm. 46), S. 25.

Christian Meierhofer

Verdünnte Moderne. Strukturelle Übergänge von Weltkrieg, Weltanschauung und Populärwissenschaft 1899–1918

Zehn Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs erscheint 1904 mit dem Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie ein neues Zeitschriftenprojekt, um die Rassenhygiene als jungen Zweig der Wissenschaft auch gegenüber der fachpublizistischen Öffentlichkeit dauerhaft sichtbar werden zu lassen. Für den Wissenschaftsdiskurs der Jahrhundertwende hat dieses Periodikum exemplarische Bedeutung, weil es einerseits im Zuge disziplinärer Ausdifferenzierung für eine strikte Trennung von Fach- und Populärwissenschaft eintritt und weil es andererseits einen dezidiert interdisziplinären Anspruch erhebt, mit dem die Übertragbarkeit genuin naturwissenschaftlicher Theoreme und Konzepte auf gesellschaftspolitische und sozialwissenschaftliche Beobachtungszusammenhänge erreicht werden soll. In seiner Ankündigung zum ersten Heft sieht sich der Hauptherausgeber, der Mediziner Alfred Ploetz (1860–1940), dazu veranlasst, »die Grundlagen der menschlichen Gruppirungen […] einer biologischen Betrachtung zu unterziehen« und damit einem Laien- und Dilettantentum entgegenzuwirken, das ohne »festen Erkenntnisgrund« und methodische Fertigkeiten lediglich eine Fülle von »Tatsachenmaterial« anhäuft. Stattdessen beabsichtigt das Archiv »[z]ahlreiche tüchtige Untersuchungen allgemein-biologischer, medizinischer, anthropologischer, soziologischer, nationalökonomischer, juristischer, historischer und verwandter Art« zu versammeln.1 Doch auch wenn die Zeitschrift als offenes Diskussionsforum verschiedener Fächer angelegt ist und sich ausdrücklich davor verwahren möchte, sich »von vornherein für eine bestimmte wissenschaftliche, sozial- oder rassenpolitische Richtung festzulegen«,2 werden mit ihr – und dies freilich zurecht – all jene fatalen Konsequenzen verbunden, die die wissenschaftshistorische Forschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht nur mit Blick auf die ›erste‹ Zäsur von 1914, sondern auf 1 Alfred Ploetz: Vorwort. (Unsere Ankündigung.) In: Archiv für Rassen- und GesellschaftsBiologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 1 (1904) H. 1, S. III–VII, hier S. III. 2 Ebd., S. VI.

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jene ›zweite‹ von 1933 und auf den ideologisch-technokratischen Ausbau der Eugenik nachhaltig beschäftigen.3 Aber unabhängig von diesem übergreifenden fachwissenschaftlichen und gesellschaftspolitisch brisanten Forschungsprogramm sind am Archiv die Strukturbedingungen eines modernen Wissenschaftsdiskurses ablesbar, der im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zunehmend selbstreflexive Aussagen über die immer größeren Wissenslasten treffen muss, die eine mehr und mehr verzweigte Erkenntnisproduktion unweigerlich erzeugt. Bereits im vierten Heft des ersten Jahrgangs beklagt Wilhelm Schallmayer (1857–1919), der gemeinsam mit Ploetz die Rassenhygiene in Deutschland begründet, die vermeintlich unterlegene Stellung der Naturwissenschaft – im Kollektivsingular – gegenüber den Geisteswissenschaften innerhalb arbeitsteiliger Organisationsstrukturen. Der ursprüngliche Zweck wissenschaftlichen Fortschritts wird durch seine Mittel verfehlt. Eine »vielfältige Detailarbeit«, die eigentlich »das Material zum einheitlichen Bau menschlichen Wissens« zu liefern hat, endet »schon länger« in »getrennten Wissensdomänen«4 – ein Problem, das an Vertrautheit bis heute ebenso wenig eingebüßt hat wie es bis 1904 über Jahrzehnte hinweg bereits gewinnen konnte. Schallmayers Argument einer verloren gegangenen Einheit und Zusammengehörigkeit der Disziplinen gründet auf einer Rede vom ›Kulturkampf‹ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die jedoch die inneren Bezirke des Wissenschaftsdiskurses überschritten hat und längst Teil einer öffentlichen, populären Kommunikation durch und über Wissenschaft geworden ist. An diesem Punkt vermag eine literatur- und wissensgeschichtliche Untersuchung neue Einsichten zu erlangen. Denn die Diversifizierung und Professionalisierung des modernen Wissenschaftsdiskurses, wie ihn das Archiv permanent thematisiert, verläuft nicht ohne einen Popularisierungs- und Weltanschauungsdiskurs, der diese Selbstthematisierung überhaupt erst ermöglicht und insofern über ein nicht unerhebliches Beschreibungs- und Reflexionspotential gegenüber den Fachwissenschaften verfügt. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wird – so der leitende Befund – dieses Potential unter dem Vorzeichen seiner historischen Beweiskraft pausenlos abgefragt und zur Narrativierung des ›großen‹ Ereignisses entfaltet. Die Reden und Aufrufe zur 3 Vgl. dazu umfassend Peter Weingart, Jürgen Kroll u. Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 188–215 u. 367–395 sowie Paul Weindling: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870–1945. Cambridge u. a.: Cambridge UP 1989, S. 489–503. 4 Wilhelm Schallmayer: Zum Einbruch der Naturwissenschaft in das Gebiet der Geisteswissenschaften. In: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 1 (1904) H. 4, S. 586–597, hier S. 587.

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sogenannten »intellektuellen Mobilmachung«5 ab August 1914 dokumentieren zunächst eine große äußere, institutionelle Geschlossenheit der Fachwissenschaftler. Der gemeinsame Aufruf an die Kulturwelt durch die »Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst«6 vom 4. Oktober oder die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches zwölf Tage später sind dafür einschlägig. Außerdem aber belegen die Einzeläußerungen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, wie schnell und einhellig die Argumente – zumindest in der großstädtischen und akademischen Bevölkerung7 – von Verteidigungskrieg und Opferbereitschaft, von deutschem Sendungsbewusstsein oder von der technischen und geistigen Überlegenheit gegenüber den Feinden aufgebracht und konsensfähig werden können. Dabei greifen gerade die geisteswissenschaftlichen Redner und Autoren unausgesetzt und ostentativ auf populäre Denkfiguren und Konzepte zurück, die entweder einen idealistisch-romantischen Hintergrund haben oder in den Naturwissenschaften entwickelt und insbesondere im intensiv geführten deutschsprachigen Weltanschauungsdiskurs um den Darwinismus angelagert wurden. Nur einige Beispiele seien genannt: Der Berliner Jurist Otto von Giercke sieht das deutsche »Dasein auf dem Spiel«, begrüßt aber dennoch den »furchtbare[n] Daseinskampf«, der »uns aufgezwungen wurde« und nun zu nationaler Gemeinschaft und kultureller Einheit führen soll.8 Durchaus sentimentalisch sieht der klassische Philologe Ulrich von WilamowitzMoellendorff den Zeitpunkt gekommen, »auf den Urgrund der Natur zurückzusteigen, sich zurückzuempfinden in die ersten und echtesten Stimmungen einfacher Größe.«9 Und der Münchner Historiker Erich Marcks fordert im »Kampf der Wirtschaften und Mächte« die »Anerkennung unseres eigenen Daseins« durch die anderen europäischen Nationen, um »Verkümmerung und Tod« zu entgehen.10 Marcks verweist zudem auf die historischen Voraussetzungen des Krieges, die die imperialistische, sozialdarwinistische Wirtschaftspolitik geschaffen hat: »Insofern leben wir seit einem halben Jahrhundert in stillem, alltäglichem Kriege«,11 der nun ins Offene ausbricht. Von den jeweiligen 5 Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest 2000, S. 15. 6 Aufruf an die Kulturwelt (4. 10. 1914). In: Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. 2. Aufl. mit einem Nachw. von Hartmann Wunderer. Stuttgart: Reclam 2014 [1975], S. 47–49, hier S. 47. 7 Zur Differenz von großstädtischen und ländlichen Reaktionen vgl. Jeffrey Verhey : Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Engl. von Jürgen Bauer u. Edith Nerke. Hamburg: Hamburger Ed. 2000, S. 116–125. 8 Otto von Giercke: Krieg und Kultur [1915]. In: Böhme (Hg.): Aufrufe (Anm. 6), S. 65–80, hier S. 65 u. 70. 9 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Krieges Anfang [1914]. In: Ebd., S. 56–65, hier S. 64. 10 Erich Marcks: Wo stehen wir? Die politischen, sittlichen und kulturellen Zusammenhänge unseres Krieges [1914]. In: Ebd., S. 80–88, hier S. 84 u. 87f. 11 Ebd., S. 84.

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Heimatfronten wird jedoch auch weiterhin »ein zweiter, aber nicht minder erbitterter Kampf« geführt, der als internationaler ›Krieg der Geister‹ schon früh zu begrifflicher Setzung findet,12 der so allerdings die nationalen Friktionen überblendet, die den Weltanschauungsdiskurs hierzulande um und ab 1900 auszeichnen. Die vielfach verwendete Analogie und Überhöhung zum Daseinskampf der Völker kleidet die Ereignisse in den ersten Kriegsmonaten narrativ aus und suggeriert auf dieser spezifischen, national-öffentlichen Ebene der Wissenschaftskommunikation eine fächerübergreifende Homogenität nach außen, die nach innen längst nicht gegeben ist. Der Krieg schreibt eine modernetypische »Beziehungsgeschichte von Wissenschaft und Öffentlichkeit«13 und insoweit von Fach- und Populärwissenschaft fort, die jedoch vielschichtiger ist, als es die ersten einträchtigen Reaktionen aus den deutschen Universitäten vermuten lassen. Der Freilegung und – wenigstens ausschnitthaften – Rekonstruktion dieser nicht konfliktarmen Beziehungsgeschichte in ihren strukturellen Verflechtungen und ihrer eingeschriebenen Kommunikationsmechanismen gelten die folgenden Überlegungen. Gefragt wird nach der kontinuierlichen Vielzahl populärwissenschaftlicher und weltanschaulicher Publikationen, nach ihrer Legitimationsgrundlage vor und während des Krieges sowie nach den diskursiven Verfahrensregeln und Ordnungsmustern, denen die Einzeltexte Folge zu leisten haben, wollen sie öffentlichkeitswirksam werden.

1.

Struktur- und begriffslogische Vorbemerkungen

Das, was im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ›Weltanschauungen‹ hervorbringt und was seit einiger Zeit als genuine Textmenge, nämlich als ›Weltanschauungsliteratur‹ zu identifizieren versucht worden ist, verfügt auch mit Blick auf die in diesem Band verhandelten Materialschlachten über ungeahnte, zunächst quantitative Ressourcen. Die massenhafte Produktion der unter dem Stichwort der Anschauung firmierenden Texte gewinnt um und nach 1900 eine besondere Dynamik, deren Herkunft jedoch viele Jahrzehnte zurückreicht und den Prozess der Moderne mit kennzeichnet. Die bloße Menge der Texte legt im Übrigen schnell nahe, den Anspruch der Weltanschauungsliteratur weniger 12 Hermann Kellermann: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914. Weimar : Duncker 1915, unpag. 13 Sybilla Nikolow u. Arne Schirrmacher : Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte. Historiographische und systematische Perspektiven. In: Dies. (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York: Campus 2007, S. 11–36, hier S. 20.

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darauf zu fokussieren, »die ›Weltanschauung‹ des Verfassers argumentativ darzustellen«14 oder einen »Hang zum Autobiographischen«15 auszumachen. Vielmehr sind die Autoren von Weltanschauungsliteratur, ganz gleich welcher Couleur und sachlicher Positionierung, Teilhaber an einem Diskurs, dessen Steuerungsmechanismen sie eher zu folgen haben, als dass sie sie beherrschen. Und umgekehrt ermöglichen die diskursiven Schemata wieder jene Massierung von Texten, deren Serialität durch die Professionalisierung publizistischer Angebotsformen zudem begünstigt wird. Im Zuge dieser Professionalisierung kann es dann freilich dazu kommen, dass sich einige ohnehin schon bekannte Autoren und wissenschaftlich auch international anerkannte Autoritäten wie der Biologe Ernst Haeckel (1834–1919), der Chemiker Wilhelm Ostwald (1853–1932) oder der Philosoph Rudolf Eucken (1846–1926) als Wort- und Meinungsführer hervortun, ihre fachwissenschaftliche Karriere mitunter gegen eine publizistische und kulturpolitische eintauschen oder beide Seiten zu gleichen Teilen bedienen. Der so entstehende Weltanschauungsdiskurs geht eine nicht folgenlose Verbindung mit der populären Schauseite fachwissenschaftlicher Differenzierungsverläufe ein. Anschauung, Anschaulichkeit und Allgemeinverständlichkeit geraten schon früh – in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa – zu Leitvokabeln entsprechender populärwissenschaftlicher Textunternehmen. Dass der Diskurs dabei keine explizite oder gesonderte Theorie von Popularisierung oder Weltanschauung aus sich entlässt, liegt an seinem zeitgenössisch denkbar breiten Vollzug. Popularisierung wurde und wird nicht selten als ein recht linearer Diffusions- oder Übersetzungsvorgang verstanden von einer geschlossenen, esoterischen, spezialistischen in eine offene, exoterische, dilettantische Hemisphäre. Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird auf die »Gefahren« hingewiesen, die die »Popularisierung der Wissenschaft« mit sich bringt. 1909 heißt es in einer Schrift des Keplerbundes: In den letzten Jahrzehnten haben wir auf fast allen Gebieten des Geisteslebens Beispiele genug dafür gehabt, daß nicht nur Dilettanten, sondern auch anerkannte Forscher voreilig und geräuschvoll ihre Gedanken ins Volk warfen und als die wissenschaftliche Wahrheit ausgaben, was doch im besten Falle unbewiesene Hypothese war, oft auch von der gesamten Fachwissenschaft als gänzlich unhaltbar abgelehnt wurde. Leicht entsteht auch ein ungesundes Wechselverhältnis zwischen Forschung und Popularisierung, wir meinen: die beabsichtigte Popularisierung weist der wissenschaftlichen Arbeit schon bis zu einem gewissen Grade den Weg, und die Form der Darstellung wird 14 Horst Thom¦: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 338–380, hier S. 338. 15 Horst Thom¦: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In: Christine Maillard u. Michael Titzmann (Hg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Stuttgart, Weimar : Metzler 2002, S. 193–212, hier S. 209.

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nicht mehr in erster Linie notwendig bestimmt durch den Stoff selbst, sondern durch die Absicht, auf möglichst breite Volksschichten Eindruck zu machen. Die Wissenschaft wird von ihrer stolzen Firnenhöhe in den Staub der breiten Straßen gezogen, wird degradiert zu einer Tagesneuigkeit.16

Erst weit im Nachhinein wird unter dem Einfluss der Sozialgeschichte und der angelsächsischen science studies der 1970er und 80er Jahre das Desiderat theoretischer Zuordnung von Popularisierungsverfahren ausgemacht.17 Korrekturen an simplen Linearitätsvorstellungen sind insbesondere von der neueren Wissenssoziologie vorgenommen worden, die Popularisierung als wechselseitige Inklusions- und Exklusionsbewegung begreift, von der immer wieder andere Publika erfasst werden und die einen »elementare[n] Vorgang« beschreibt, »der der wissenschaftlichen Kommunikation selbst inhärent ist.«18 Das hat vor allem in der Formationsphase des Popularisierungsdiskurses auch schlichtweg damit zu tun, dass Fach- und Populärwissenschaft in Personalunion betrieben werden: Justus von Liebigs Chemische Briefe von 1844, die für ein breites »Bewußtwerden der Ursachen und Kräfte«19 von Naturphänomenen beim Publikum Sorge tragen wollen, und viele Folgeprojekte anderer Einzeldisziplinen in Briefform wären ein früher Beleg dafür.20 Fachwissenschaft und Populärwissenschaft bilden im Nebeneinander ihrer diskursiven Genese die Einheit einer auch wissensgeschichtlich bedeutsamen Differenz. Doch erst wenn die Popularisierungsbemühungen über ein bloßes Abspiegeln disziplinärer Wissensbestände hinausgehen, wenn die fachwissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse nicht nur in ihrer terminologischen und methodischen Komplexität reduziert und vereinfacht zur Darstellung gelangen und wenn Po16 Carl Mützelfeldt: Allerlei Mißbrauch der Naturwissenschaft. Godesberg b. Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1909 (Schriften des Keplerbundes, H. 4), S. 1f. 17 Vgl. stellvertretend Kurt Bayertz: Spreading the Spirit of Science. Social Determinants of the Popularisation of Science in Nineteenth-Century Germany. In: Terry Shinn u. Richard Whitley (Hg.): Expository Science: Forms and Functions of Popularisation. Dordrecht, Boston, Lancaster : Reidel 1985, S. 209–227. 18 Rudolf Stichweh: Die vielfältigen Publika der Wissenschaft: Inklusion und Popularisierung [2003]. In: Ders.: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2005, S. 95–111, hier S. 99. Zur Kritik an linearen Wirkungsmodellen und vorschnellen Simplifizierungen vgl. auch Stephen Hilgartner : The Dominant View of Popularization: Conceptual Problems, Political Uses. In: Social Studies of Science 20 (1990) H. 3, S. 519–539 sowie Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg 1998, S. 25–29. 19 Justus von Liebig: Chemische Briefe. Dritte umgearb. u. verm. Aufl. Heidelberg: Winter 1851 [1844], Vorrede, S. IX. 20 Vgl. dazu Christian Meierhofer : Naturwissenschaftliche Repräsentationsformen nach 1848. In: Ders. u. Eric Scheufler (Hg.): Turns und Trends der Literaturwissenschaft. Literatur, Kultur und Wissenschaft zwischen Nachmärz und Jahrhundertwende im Blickfeld aktueller Theoriebildung. Zürich: germanistik.ch 2011, S. 222–240.

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pularisierung per definitionem nicht einfach nur bedeutet, so etwas wie eine leicht fassliche Version der jeweiligen Einzeldisziplin für ein disperses Publikum anzubieten, – erst dann sind die Bedingungen für das Aufkommen von Weltanschauungen gegeben. Im Umkehrschluss und als literaturwissenschaftliche Konsequenz aus all dem lässt sich behaupten, dass Popularität in ihrer Begriffslogik und als graduell zu bemessene Texteigenschaft eine wissenspoetische Funktion inne hat, sofern sie eine Übertragung leistet von einem fachwissenschaftlichen, paradigmatischen Begriffs- und Argumentationshaushalt in eine sich verselbstständigende kultursemiotische, weltanschaulich akzentuierte Verweisstruktur.21 Die Synergien des Popularisierungs- und des Weltanschauungsdiskurses kommen dabei der von der Geschichtswissenschaft entlehnten Kontinuitätsthese durchaus zupass. Denn beide Diskursverläufe lassen sich komplementär ins Verhältnis setzen zu einer beschleunigten Wissensproduktion der sich ausdifferenzierenden Spezialwissenschaften und damit zu einer »progressive[n] Verkürzung jener Zeiträume, für die von stabilen Wissensbeständen, Handlungsorientierungen und Praxisformen ausgegangen werden kann«.22 Die so veränderte Zeitstruktur soll demnach als ein typisches Merkmal ›der‹ Moderne dienen. Blickt man allerdings auf die Weltanschauungsliteratur, die im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs kursiert, und auf ihre diskursive Ordnung, so lässt sich geradewegs vom Gegenteil, nämlich von einer recht großen Stabilität der Argumentationsund Bewertungsmuster sprechen. Denn der Anspruch der populären Wissenschaftsprosa ist es, auch noch neueste fachwissenschaftliche Forschungsergebnisse und vor deren Hintergrund die aktuellen Veränderungen im Sozialgefüge mit den je bewährten Deutungsschemata medial bearbeitbar zu halten. Der kathartische Effekt der ›Ideen von 1914‹, die Bewältigung einer in den funktional sämtlich differenten Gesellschaftsbereichen gesehenen »Krisis, die dem Kriege vorherging«,23 mit den Augustereignissen gelöst scheint und den Aufbruch in eine bedeutungsvolle Phase des kollektiven, volksgemeinschaftlichen Neuanfangs ermöglichen soll, greift als dreistufiges Narrativ24 im weltanschaulichen, 21 Vgl. dagegen die weniger scharfe Begriffskontur bei Philipp Sarasin u. Michael Hagner : Wilhelm Bölsche und der »Geist«. Populärer Darwinismus in Deutschland 1887–1934. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4 (2008), S. 47–67, hier S. 49, die »argumentieren, dass Populärwissenschaft eine trading zone ist, ein luftiger, weiträumiger Handelsplatz ohne klare Grenzen, ein großer, von niemandem regierter Bereich im Schnittfeld von Wissenschaft im engen, universitären bzw. akademischen Sinne auf der einen und dem Alltagswissen auf der anderen Seite.« 22 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 433. 23 Anonym: Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 74 (1915) Bd. 4, S. 385–392, hier S. 385. 24 Vgl. dazu Matthias Schöning: Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung

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populärwissenschaftlichen Diskurs eben deswegen nur in Ansätzen, weil die Überwindung seiner ganz eigenen Krisis diesen Diskurs an ein Ende brächte und den dann unterlegenen Teil seiner Trägergruppe sozial bedeutungslos machte. Der Anspruch einer Weltanschauung begründet sich ja gerade mit ihrer universellen Deutungshoheit. Um 1900 ist die Gemengelage konkurrierender Anschauungen allerdings derart unübersehbar, dass einfache Dichotomien zwischen eher progressiv-naturwissenschaftlichen und eher konservativgeisteswissenschaftlichen Positionen forciert werden, um zumindest an der Diskursoberfläche für strukturelle Klarheit zu sorgen und um nach außen kommunikative Anschlussfähigkeit zu sichern. In der Sach- wie in der Sozialdimension führt das freilich zu lang anhaltenden Konflikten, die auch im kriegseuphorischen August 1914 nicht überwunden werden können.

2.

Kampf der Weltanschauungen

Wenn Ernst Haeckel in seinen Welträthseln 1899 einen letzten »Kampf der Weltanschauungen«25 ausruft, dann erreicht die popularisierende Darstellung naturwissenschaftlicher Kenntnisse und Theoreme die oberste Grenze ihrer Übertragungskapazität. Der biologische, eigentlich vom Nationalökonomen Thomas Robert Malthus eingeführte Daseinskampf liefert als Denkfigur und als Schlagwort ein »geeignetes symbolisches Material«,26 mithin ein originär fachwissenschaftliches Paradigma, mit dem Haeckel zum ersten und wiederholt ein »Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts« in emphatischer Rückschau herstellen will, das sich in Anlehnung an die zeitgenössisch promider »Ideen von 1914«. In: Natalia Borissova (Hg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2009, S. 41–57. 25 Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie [1899]. In: Ders.: Gemeinverständliche Werke. Bd. 3. Hg. von Heinrich Schmidt. Leipzig: Kröner 1924, S. 1–422, hier S. 7. 26 Ingo Stöckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese der literarischen Moderne um 1900. In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 263–291, hier S. 263. Vgl. dazu Ferdinand Fellmann: Darwins Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 285–297 sowie für den angelsächsischen Kontext Paul Crook: Darwinism, war and history. The debate over the biology of war from the ›Origin of Species‹ to the First World War. Cambridge: Cambridge UP 1994, S. 130–152. Darwin rekurriert mit seiner Metapher auf Thomas Robert Malthus: An essay on the principle of population; or, a view of its past and present effects on human happiness […]. Vol. 1. The fourth edition. London: Johnson 1807 [1798], S. 21f.: »in countries either naturally unhealthy, or subject to a great mortality, from whatever cause it my arise, the preventive check will prevail very little. In those countries, on the contrary, which are naturally healthy, and where the preventive check is found to prevail with considerable force, the positive check will prevail very little, or the mortality be very small.«

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nente Bildhaftigkeit der Prosa dem »denkenden und unbefangenen Beobachter« als »eines der merkwürdigsten Schauspiele«27 darbietet. Zum zweiten ist der Kampf der Weltanschauungen in seiner narrativen Zurichtung notwendig angewiesen auf mindestens zwei Parteien, die Haeckel von Beginn an und nicht erst in den Welträthseln mit der Dichotomie von Monismus und Dualismus identifiziert. Diese binäre Opposition zeigt auch nach 1900 langanhaltende Wirkung: »Ein drittes gibt es nicht.«28 An beide Konzepte kann sich je Verwandtes und Ähnliches anlagern: Materialismus und Darwinismus auf der einen Seite, die in der Wahrnehmung der Zeit eine »Wesensgemeinschaft«29 bilden, Theismus und Spiritismus auf der anderen. Die langfristig gewachsene Verweisstruktur, die der Weltanschauungsdiskurs ausgebildet hat und die sich so nachhaltig über semantische Oppositionen organisiert, kann und will Haeckel 1899 freilich nicht mehr zurücknehmen. Seine Texte sind das Kondensat einer doppelt codierten Moderne, die um 1900 in der Rede vom fin et d¦but de siÀcle, von Progression und Regression, Optimismus und Pessimismus, Vitalität und Erschöpfung geradezu topisch durchmustert ist. Am Sterbelager des Jahrhunderts, so die symptomatisch titulierte Abhandlung Ludwig Büchners (1824–1899), die 1898 ein Jahr vor seinem eigenen erscheint, kann all das bedacht und reflektiert werden, ohne dass eine Alternative zu jenen Doppelcodierungen bereitstünde. Zwar lässt sich eine »Fülle der wichtigsten Entdeckungen, Erfindungen und Fortschritte des menschlichen Wissens und Könnens«30 resümieren, gleichwohl ergeben sich Zweifel, »daß wir, abgesehen von materiellen Verbesserungen des Lebens […], irgend etwas vor unseren Altvorderen voraus haben.«31 Speziell der Materialist Büchner zeigt sich beklommen darüber, schon bei den Atomisten der Antike »die ganze materialistische Philosophie der Neuzeit enthalten«32 zu finden. Im Ergebnis gibt es keine Möglichkeit, sich dieser prekären Grundspannung der Moderne zu entheben. Sie kann lediglich getragen, ausgehalten und beschrieben werden von und in ihren Extremen, von der zweiseitigen Beobachtung, dass der »Gipfel-

27 Haeckel: Welträtsel (Anm. 25), S. 7. 28 Jakob Baron von Uexküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze. Hg. u. eingel. von Felix Groß. München: Bruckmann 1913, S. 123. 29 Albert Wigand: Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers. Beiträge zur Methodik der Naturforschung und zur Speciesfrage. Bd. 2. Braunschweig: Vieweg 1876, Vorrede, S. VII. 30 Ludwig Büchner : Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blicke eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit. Gießen: Roth 1898, S. 9. Vgl. auch Paul Ziche: Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der nichtreduktive Szientismus. Zürich: Chronos 2008, S. 38f. 31 Büchner : Sterbelager (Anm. 30), S. 5. 32 Ebd., S. 6.

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punkt in der Krone der Schöpfung« durch »titanenhafte Menschen«33 erreicht ist und dass gleichzeitig alle wissenschaftliche und technische Entwicklung nur eine entelechische Entfaltung bedeutet, die vom »Schoße der Kulturnationen«34 eher passivisch empfangen als aktiv ausgeführt wird. »Die Auflösung des antiken Kulturprinzips in das moderne«, schreibt Büchner, »hat Ähnlichkeit mit der Verdünnung einer stark wirkenden Flüssigkeit, wobei dasjenige, was an Kraft verloren, an Menge gewonnen wird.«35 Mit dieser Analogie der Verdünnung scheint zugleich das Basisnarrativ einer Moderne auf, das sich bei Büchner zwischen zwei Bezugspunkten ausmessen lässt: dem (nach wie vor gültigen) Verdünnungsgesetz Wilhelm Ostwalds, des Begründers der physikalischen Chemie und späteren Chemie-Nobelpreisträgers von 1909, und der Entropie als physikalischer Zustandsgröße. In seiner Abhandlung von 1885, in der er das Verdünnungsgesetz aufstellt, fragt Ostwald zunächst ganz fachwissenschaftlich, »ob nicht der Einfluss der Verdünnung, der bald so überaus gross, bald sehr gering ist, sich selbst gesetzmässig darstellen lässt.«36 Das Gesetz beschreibt »die Zunahme des molecularen Leitvermögens mit der Verdünnung«37 und insofern den Dissoziationsgrad von Elektrolyten. Damit gemeint ist der Anteil von freien Materieteilchen in einer Lösung, womit sich die notwendige Energie zum Spalten chemischer Bindungen feststellen lässt. Bei steigender Verdünnung nimmt die Konzentration der Lösung ab bzw. ihre Dissoziation zu. In Büchners populärer Übertragung entsteht daraus die kulturgeschichtlich motivierte Kritik an einer ›verdünnten Moderne‹, die gegenüber der Antike wissenschaftsphilosophische Konzentrationsverluste hinnehmen und außerdem mit der stets wachsenden Menge von Erkenntnisgegenständen umgehen muss. Die Entropie wiederum bildet bei der thermodynamischen Beschreibung von reversiblen und irreversiblen Prozessen des physikalischen Energieaustauschs eine begriffliche Neuschöpfung. Rudolf Clausius (1822–1888) verwendet sie 1865, um Änderungen von Wärmeenergie in einem geschlossenen physikalischen System zu bezeichnen. Jedoch lässt Clausius’ generalisierte Feststellung, dass die ›Entropie der Welt‹ einem Maximum und gleichzeitig die noch nutzbare Energie einem Minimum zustrebt, auch außerhalb esoterischer Wissensbezirke schnell die »Grenze der umkehrbaren Prozesse«38 erkennen und generiert al33 34 35 36

Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Wilhelm Ostwald: Elektrochemische Studien. Zweite Abhandlung. Das Verdünnungsgesetz. In: Journal für praktische Chemie. Neue Folge 31 (1885) H. 10/11, S. 433–462, hier S. 433. 37 Ebd., S. 462. 38 Elizabeth Neswald: Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Entropie. In: David Oels u. Tim Sparenberg (Hg.): Entropie. Non Fiktion 9 (2009) H. 2, S. 21–32, hier S. 25.

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lerhand Sinn- und Deutungsüberschüsse. Die »tendenzielle Unumkehrbarkeit von Veränderungen in der Welt«,39 wie sie der Entropiesatz behauptet, macht die originär physikalische Rede vom ›Wärmetod‹ (Boltzmann) und vom ›Zustand ewiger Ruhe‹ (Helmholtz) als dem Abschluss aller energetischen Austauschprozesse innerhalb eines Systems übertragungsfähig für ganz andere Kommunikationszusammenhänge. Wie beim Darwinschen ›Kampf ums Dasein‹ werden aus einer naturwissenschaftlichen Argumentation inhärente populäre Darstellungspotentiale abgeführt, um eine weltanschauliche Kulturdiagnose begrifflich und strukturell auszukleiden, um also die Diskurslage der Jahrhundertwende insgesamt narrativ zu regulieren. Max Planck äußert sich 1887 in seinem Aufsatz »Ueber das Princip der Vermehrung der Entropie« zur Umkehrbarkeit und Unumkehrbarkeit ›natürlicher Prozesse‹ wie folgt: Im Fall eines irreversiblen »natürlichen Processes« »hat die Natur ›mehr Vorliebe‹ für den Endzustand als für den Anfangszustand, im anderen Fall [eines reversiblen Prozesses] hat die Natur die ›nämliche Vorliebe‹ für den Endzustand wie für den Anfangszustand.« Gleichwohl folgt auch aus diesem Prinzip, »dass alle Processe, die in der Natur stattfinden, in einem bestimmten Sinn, nach einer bestimmten Richtung hin verlaufen, sodass die Welt in einem gewissen steten Fortschreiten begriffen ist«40 – zumindest bis sie ihr entropisches Maximum erreicht hat. In die ohnehin schwer überschaubare Ausgangssituation um 1900 schreiben sich über die weltanschauliche Adaption dieses zunächst physikalischen Fortschrittskonzepts zahlreiche kulturelle Erfolgs- und Verlust-, Aufstiegs- und Niedergangsgeschichten her. Doch ob man über den denkbaren Verlust der Energie- und »Kraftvorräthe unseres Planetensystems« erschrecken soll oder nicht, bleibt unentschieden. Das thermodynamische Grundgesetz droht »mit einem Tage des Gerichtes, dessen Eintrittszeit es glücklicher Weise noch verhüllt.« Das Menschengeschlecht hat deswegen »vor anderen untergegangenen Lebensformen höhere sittliche Aufgaben voraus, deren Träger es ist und mit deren Vollendung es seine Bestimmung erfüllt.«41 Die Artikulation und korrekte Erfüllung dieser sittlichen, grundlegend existentiellen ›Aufgaben‹ birgt so allerdings ein Konfliktpotential, das überhaupt erst durch den generalistischen Anspruch der physikalischen Wärmetheorie zustande kommt.

39 Ebd., S. 26. 40 Max Planck: Ueber das Princip der Vermehrung der Entropie. Erste Abhandlung [1887]. In: Ders.: Physikalische Abhandlungen und Vorträge. Bd. I. Hg. von dem Verband Deutscher Physikalischer Gesellschaften u. der Max-Planck-Gesellschaft. Braunschweig: Vieweg 1958, S. 196–216, hier S. 197f. 41 Hermann von Helmholtz: Ueber die Wechselwirkungen der Naturkräfte und die darauf bezüglichen Ermittelungen der Physik [1854]. In: Ders.: Vorträge und Reden. Bd. 1. Fünfte Aufl. Braunschweig: Vieweg 1903 [1865], S. 49–83, hier S. 82f.

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Versteht man Entropie zudem im Rückgriff auf ihre später folgende informationstechnische und sozialwissenschaftliche Definition, nämlich als Störgröße und als Maß für Informationsmangel,42 dann verschafft das nachträglich eine gewisse Aufklärung über die kommunikativen Voraussetzungen, unter denen sich der Weltanschauungsdiskurs vor dem Ersten Weltkrieg formiert. Entropie in diesem Verständnis und ergänzend zu ihrer thermodynamischen Bedeutung bezeichnet den Aufwand, der betrieben wird, um Informationsmängel und fehlende technische Übertragungsfunktionalitäten abzubauen und somit ungleiche Wissensbestände zu nivellieren. Büchners populäre, an Planck, Ostwald und anderen geschulte Rede von einer ›verdünnten Moderne‹ leitet ihre rhetorische Anschaulichkeit aus jenem zunächst physikalisch begründeten Entropiekonzept ab und weitet es zu einer globalen diagnostischen Beschreibungskategorie. Der pausenlose Zuwachs weltanschaulicher Abhandlungen, Artikel und Vorträge kennzeichnet demgemäß einen publizistischen Aufwand, der aus zweierlei Gründen zu leisten ist: einerseits um denjenigen wissensgeschichtlichen Informationsmangel zu beseitigen oder auch zu bestätigen, der sich spätestens seit Emil du Bois-Reymonds erkenntniskritischer, allerdings metaphysisch gemeinter Zuspitzung auf das Ignorabimus und Dubitemus lexikalisiert findet; andererseits um jene kulturund wissensgeschichtliche Durchmischung und Verdünnung, die physikalisch gesehen auch mit Unordnung gleichgesetzt werden kann – etwa beim Auflösen eines kristallin geordneten Eiswürfels im Getränk –, vielleicht doch noch reversibel zu machen. Der wissenschaftliche Fortschritt, den Büchner im Anschluss an du Bois-Reymond zugesteht, ist lediglich ein materieller oder technischer, aber kein philosophisch gedachter Erkenntnisfortschritt. Und die fortschreitende Differenzierung schafft immer weniger die Bedingungen für 42 Zur Berechnung der informationstechnischen »Signalleistung« (signal power) bzw. der »Leistung der Störung« (noise power) dient die Entropie als mathematische Größe bei Claude E. Shannon u. Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. Übers. von Helmut Dreßler. München, Wien: Oldenbourg 1976 [1949], S. 110. Die Systemtheorie bestimmt Entropie als systemimmanente Kategorie. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 79f.: »Für einen Beobachter ist ein System entropisch, wenn eine Information über ein Element keinerlei Rückschlüsse auf andere zuläßt. Das System ist für sich selbst entropisch, wenn im Prozeß der Reproduktion, also des Ersetzens entfallener Elemente, jedes mögliche Nächstelement gleichwahrscheinlich ist.« »Informationen sind mithin Ereignisse, die Entropie einschränken, ohne damit das System festzulegen.« (Ebd., S. 103) Kommunikation wiederum »schließt unbestimmte Beliebigkeit des jetzt noch Möglichen (Entropie) aus.« (Ebd., S. 204) Luhmann bezieht sich dabei auf die Kybernetik und Klaus Krippendorff: Introduction. In: Ders.: Communication and control in society. New York, London, Paris: Gordon and Breach 1979, S. 439–443, hier S. 439: »Information has always been the most important concept in cybernetics where it is conceptualized as a constraint on entropy, and in C. E. Shannon’s work, it is a constraint that is transmitted across time and space.«

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einen Blick auf die Ordnungsstrukturen des so erhobenen Wissens von einer hinreichend begründeten Reflexionshöhe aus. Das Ziel von Weltanschauung soll es demzufolge sein, ein letztes Mal Entdifferenzierung, Einheit und Verdichtung herzustellen. Allein, es gehört zu den aporetischen Bedingungen von Entropie, dass sie in der physikalischen Praxis wie bei der kultursemiotischen Übertragung immer ungleich Null ist. Vor diesem Hintergrund ist die mit einem thermodynamischen System verglichene Bezugslogik des Weltanschauungsdiskurses in sich geschlossen und bewirkt zusehends dessen Entkopplung von den Fachwissenschaften. Neu hinzukommende weltanschauliche Positionen können zwangsläufig nur auf der Innen- oder Außenseite des je eigenen Anschauungskonzepts verortet werden. Wenn etwa der Botaniker Eberhard Dennert (1861–1941) in gezielter Anlehnung an Büchners Titel seinen Bericht Vom Sterbelager des Darwinismus (1903) veröffentlicht, dann schreibt er gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vierstufige Verfallsgeschichte mit einem Anfangs-, Blüte-, Übergangs- und Schlussstadium, wobei er den Darwinismus in das vorletzte einsortiert. Hierzu heißt es: »Der Jubel der Begeisterung ist verflogen, dem Rausch folgt der Jammer, die Jungen sind selbst älter und damit nüchterner geworden, manches sieht man jetzt in einem anderen Licht als früher«.43 Das darwinistische Prinzip der natürlichen Auslese wendet Dennert gegen den Darwinismus selbst und folgt darin implizit Ernst Mach, der schon 1871 in einem Vortrag die Selektivität wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse beschrieben hatte: »Das Ziel der Naturwissenschaft ist der Zusammenhang der Erscheinungen. Die Theorien aber sind wie dürre Blätter, welche abfallen, wenn sie den Organismus der Wissenschaft eine Zeit lang in Athem gehalten haben.«44 Dennert setzt folgerichtig einen theoretischen und weltanschaulichen Kontrapunkt, indem er vier »Grundgedanken« für eine »Descendenzlehre der Zukunft« formuliert. Das sind 1. eine Teleologie von Entwicklung, also das Streben »nach einem Ziel hin«, 2. Ausschluss von Zufall und Regellosigkeit in der Natur, 3. die Zurückdrängung von »Egoismus und Kampf« im »Naturleben« zugunsten einer »genossenschaftliche[n] und harmonische[n] Verknüpfung aller Naturwesen« und 4.: »Der Geist des Menschen ist ein Ding für sich und allein als höhere Entwicklungsstufe des tierischen Instinktes schlechterdings unerklärlich.« Daran geknüpft ist außerdem die Forderung nach einem »Schöpfer und Erhalter der Welt und ihres Lebens«, der für Dennert der »Kern« des »wunderbaren Genesisberichtes«,45 43 Eberhard Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus. Ein Bericht. Stuttgart: Kielmann 1903, S. 17. 44 Ernst Mach: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Vortrag gehalten in der K. Böhm. Gesellschaft der Wissenschaften am 15. Nov. 1871. Prag: Calve 1872, S. 46. 45 Dennert: Sterbelager (Anm. 43), S. 8.

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wahlweise auch der »Urgrund« allen Lebens ist,46 für Haeckel und die Monisten dagegen die Keimzelle eines radikal auszumerzenden Dualismus. Die Folge ist keineswegs eine Beilegung des Weltanschauungskampfes, sondern die Etablierung institutioneller Strukturen, eine »vereinsmäßige[] Gruppenbildung«,47 in der die jeweilige populärphilosophische Überzeugung frei zelebriert werden kann und sich die weltanschauliche Spannung der beiden verfeindeten Lager in einer rigiden Darstellungssyntax aufs Neue entlädt.

3.

Formung von Überzeugungsgemeinschaften

1906 gründet Haeckel den Deutschen Monistenbund in Jena, der rund 6.000 Mitglieder besaß und dessen Gründungsaufruf im Januar des Jahres auch im eingangs erwähnten Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie abgedruckt wird. 1907 zieht Dennert mit dem Keplerbund nach, der auf etwa die Hälfte an Mitgliedern kam und dessen Sitz die ersten Jahre in Godesberg, ab 1920 in Detmold lag.48 Zahlenmäßig handelt es sich bei den beiden Vereinen – wie bei den wissenschaftlichen und sozialreformerischen Gesellschaften insgesamt – also um alles andere als Massenbewegungen. Entscheidender sind dagegen die sozialen Verflechtungen der Lehrer, Privatgelehrten, Schriftsteller, Mediziner, Naturforscher und Geistlichen, die als Redner in den Ortsvereinen auftreten und die organisatorischen Abläufe konkretisieren. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessiert besonders der medial hergestellte inhaltliche »Minimalkonsens«49 dieser heterogen zusammengesetzten Berufs- und Funktionsgruppen. In den publizistischen Organen der beiden Vereinigungen schreibt sich der Weltanschauungskampf fort und etabliert zwei oppositionelle »Überzeugungsgemeinschaften«.50 Es steht dahin, ob Ferdinand Tönnies als 46 Eberhard Dennert: Gott – Seele – Geist – Jenseits! Volkstümliche naturphilosophische Betrachtung für unsere Feldgrauen und jedermann. Godesberg b. Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1917 (Schriften des Keplerbundes, H. 11), S. 12. 47 Horst Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß bürgerlichweltanschaulicher Reformvernunft in der Monismusbewegung des 19. Jahrhunderts. Kastellaun: Henn 1976, S. 102. 48 Zur Geschichte des Monistenbundes vgl. umfassend Rosemarie Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung? Die Gründung und Entwicklung des Deutschen Monistenbundes. In: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 3 (2007), S. 19–67; zum Keplerbund JochenChristoph Kaiser : Christlicher Glaube und Naturwissenschaften: Der Keplerbund. In: Ebd., S. 240–256. 49 Gangolf Hübinger : Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger. In: Ders., Rüdiger vom Bruch u. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Bd. 2: Idealismus und Positivismus. Stuttgart: Steiner 1997, S. 246–259, hier S. 251. 50 Hans Jörg Sandkühler : Wissenskulturen, Überzeugungen und die Rechtfertigung von

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Soziologe den Monisten- und den Keplerbund tatsächlich als Gemeinschaften tituliert hätte. Der Versuch jedenfalls, wie eine organisch gewachsene, provinzielle Gruppe »durch ein geistiges Band verbunden« zu sein und »an einem Werke arbeitend«51 aufzutreten, lässt sich in beiden Fällen nicht bestreiten. Von dieser Arbeit wird auch zu Beginn des Krieges nicht abgelassen. Die weltanschaulichen Abhandlungen, Artikel und Pamphlete zeigen sich im Grunde völlig irritationsunfähig gegenüber den politischen und militärischen Geschehnissen. Die Identität der eigenen Überzeugungsgemeinschaft wird immer wieder neu gewonnen aus der beinahe ko-evolutionären Differenz zur anderen: »Haeckel ist nun einmal der geborene Gegner des Keplerbundes und umgekehrt«,52 bilanziert Dennert in seinen polemischen Monistenwaffen! von 1912. In der Zeitschrift Unsere Welt, die vom Keplerbund herausgegebene Illustrierte Monatsschrift zur Förderung der Naturerkenntnis, eröffnet Dennert als Schriftleiter die Ausgabe für den Oktober und November 1914 mit einem Aufsatz über »Krieg und ›Kampf ums Dasein‹«. Darin wehrt er sich gegen eine Übertragung des Schlagwortes auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Denn während im Tierreich »ein völlig unblutiger Wettbewerb« herrscht, »der erst mittelbar zum Untergang des einen Teils führt«, vollzieht sich im Krieg »ein unmittelbarer blutiger Kampf.« Der »Menschenkrieg« pervertiert sogar den animalischen Daseinskampf. Gerade weil hier, im Menschenkrieg, »Muskelkraft und körperliche Ausdauer« entscheiden, werden die Kräftigen »in den Krieg gezogen« und »vernichtet«, wohingegen die »schwachen und elenden Individuen« kontraselektiv erhalten bleiben. »Das ist ja z. B. bei dem gegenwärtigen Krieg das furchtbare Verhängnis Frankreichs«, schreibt Dennert weiter, »in das es blind hineingelaufen ist und dem es verfallen wird, gleichgültig, wie der Krieg enden wird.« Über Sieg oder Niederlage entscheidet vielmehr »die geistige Führung des Krieges«, für die aber »in der Natur jede Analogie fehlt.«53 Das Argument der Kontraselektion ist im populärwissenschaftlich grundierten

Wissen. In: Ders. (Hg.): Repräsentation und Wissenskulturen. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2007, S. 25–38, hier S. 35. Zum Verhältnis der Weltanschauungsvereine vgl. zudem Paul Ziche: Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Differenzen monistischer und anti-monistischer Bewegungen. In: Klaus-Michael Kodalle (Hg.): Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900–1940. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 63–88. 51 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Zweite erhebl. veränd. u. verm. Aufl. Berlin: Curtius 1912 [1887], S. 18. 52 Eberhard Dennert: Monistenwaffen! Ein Bericht für die Freunde des Keplerbundes und ein Appell an seine ehrlichen Gegner. 2. Aufl. Godesberg b. Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1912 (Schriften des Keplerbundes, H. 6), S. 56. 53 Eberhard Dennert: Krieg und »Kampf ums Dasein«. In: Unsere Welt. Illustrierte Monatsschrift zur Förderung der Naturerkenntnis VI (Oktober–November 1914) H. 10/11, Sp. 593–596, hier Sp. 594f.

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öffentlichen Diskurs ein weitverbreitetes und wirkt noch Jahrzehnte fort.54 Aufseiten der Pazifisten markiert es etwa in Bertha von Suttners Zukunftsvorlesungen schon 1889 den »Höhepunkt der Unvernunft«. Die Auslese der »Besten«, der Tod der »Jungen, Starken, Tüchtigen« erwirkt eine »künstliche Degeneration«, die nicht weniger bedeutet als ein »von den Menschen von heute an den Menschen von morgen begangener Riesenfrevel.«55 Aufseiten der Kriegsbefürworter dagegen lässt ein anderer Artikel aus Unsere Welt vom Dezember 1914 verstehen, wie sehr der Krieg als Sinngebungserlebnis erwartet wird: Der Krieg – trotz der Leiden, die er bringt; trotz des Leides, das er bereitet – ist der große Erwecker, der große Befreier. Der Krieg, der den Pazifisten als eine Sinnlosigkeit gilt oder wenigstens galt (heute denken sehr viele unter ihnen auch anders), der Krieg läßt uns gerade einen Sinn des Weltgeschehens ahnen: einen Sinn, in dem alles, was in uns ist, Raum und die letzte Erfüllung findet.56

Der Grund für die euphorische Begrüßung des Krieges hier ist die Hoffnung, die naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Grenzziehungen des Ignorabimus aufzuheben, das die Dualisten anders als Haeckel für gültig erklären: »Es gibt kein Wissen, sondern nur ein geordnetes Nichtwissen von Dingen, deren letzte Voraussetzungen durchaus hypothetisch sind.« Gewährsmann für solche Erkenntniskritik ist Schopenhauer, aus dessen Welt als Wille und Vorstellung der Artikel sogleich das Kapitel »Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen« zitiert: Welche Fackel […] wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag: stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgrenzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Rätsels der Welt müßte notwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden.57

Noch Wilhelm Diltheys (1833–1911) Weltanschauungslehre basiert auf dieser Denkfigur und beschreibt daraufhin die Auflösungsversuche gegenüber dem 54 Vgl. etwa Sebald Rudolf Steinmetz: Soziologie des Krieges. Zugleich zweite, vollst. umgearb. u. erw. Aufl. der »Philosophie des Krieges«. Leipzig: Barth 1929 [1907], S. 426: »Die über alle Klassen, d. h. Begabungsgruppen, gleichmäßig verteilte Tötungschance im Kriege betrachte ich als unverkennbare Kontraselektion.« 55 Jemand [d. i. Bertha von Suttner]: Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit. Zürich: Verlags-Magazin 1889, S. 249. Vgl. dazu Werner Michler : Kriegsbiologien. Zwischen Natur (von 1859) und Idee (von 1914). In: Karl Wagner, Stephan Baumgartner u. Michael Gamper (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich: Chronos 2014, S. 169–183, hier S. 172. 56 Gustav Friedrich: Der Krieg – das Erlebnis. In: Unsere Welt. Illustrierte Monatsschrift zur Förderung der Naturerkenntnis VI (Dezember 1914) H. 12, Sp. 623–628, hier Sp. 628. 57 Ebd., Sp. 625. Vgl. Arthur Schopenhauer : Sämtliche Werke. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Textkr. bearb. u. hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 [1844], S. 240.

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»Lebensrätsel«,58 die ein Dauerproduzent wie der Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner (1861–1925) im Laufe des Krieges in Abhandlungen wie Vom Menschenrätsel (1916) oder Von Seelenrätseln (1917) ausschreibt und dort »im geistigen Ringen zugleich das Wesen der deutschen Volkheit«59 sich offenbaren sieht. Doch mit dem Krieg erhält die einfache Opposition zwischen Dualisten und Monisten, die sich gerade institutionell fixiert hatte, eine neue Komplexität. Das Argument der Kontraselektion erzeugt eine neue Differenz, nämlich die zwischen Pazifisten und Militaristen, die quer liegt zur Vereinsorganisation von Monistenund Keplerbund. Die Einstellung für oder gegen Krieg hängt nicht von den bislang vertretenen weltanschaulichen Positionen ab. Auch wenn es sonst an Gegenreden zu den Dualisten vonseiten des Monistenbundes nicht mangelt, kommt es hinsichtlich der Frage nach der Befürwortung oder Ablehnung des Krieges durchaus zu argumentativen Überschneidungen zwischen beiden Lagern. Wilhelm Ostwald, der zwischen 1911 und 1915 Vorsitzender des Bundes ist, versammelt beispielsweise jährlich seine Monistischen Sonntagspredigten, die vorab als vierzehntägige Beilage zu Das monistische Jahrhundert erscheinen, der Monats-, später der Wochenschrift des Bundes. Neben den Vereinsinterna verschreibt sich die Zeitschrift ganz der ›monistischen Kulturarbeit‹ in einer eigens so benannten Rubrik, missbilligt jedoch auch in anderen Artikeln jene »verheuchelte Scheinkultur«, die den »Krieg ganz aufs geistige Gebiet« schieben will,60 ohne nach naturwissenschaftlichen Grundlagen zu fragen. Die Sonntagspredigten nehmen als komplementäres Medienangebot zur Zeitschrift diese Schreibabsicht auf. Sie sind all denen gewidmet, »die sich unter den Ansprüchen und Zerstreuungen des Tages ein inneres Bedürfnis nach Klarheit in den großen und allgemeinen Fragen des Menschlebens bewahrt haben.«61 Der zum geistigen Führer des Monismus avancierte Ostwald kommt aber zu derselben Bewertung des Krieges wie der theistische Botaniker Dennert. Bereits während der Balkankriege 1913 predigt Ostwald: 58 Wilhelm Dilthey : Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen [1911]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hg. von Bernhard Groethuysen. 4., unveränd. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 73–118, hier S. 80f. 59 Rudolf Steiner: Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. Dornach: Verlag d. Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung 1957 [1916], S. 7. Vgl. dazu umfassend Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik. Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 148–150 u. 277. 60 Sigmar Mehring: Die Überwindung des Krieges. In: Das monistische Jahrhundert. Wochenschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 4 (1915) H. 1/2, S. 1–9, hier S. 8. 61 Wilhelm Ostwald: Monistische Sonntagspredigten. Erste Reihe. Leipzig: Akad. Verlagsgesellschaft 1911, unpag. Vorwort.

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[D]erjenige, welcher auch im Sinne des Militarismus ein minderwertiger Mensch ist, hat bessere Aussicht darauf, seine Haut unverletzt durch den Krieg zu bringen als der mit allen militärischen Tugenden ausgestattete, tapfer und unter Verachtung seines eigenen Lebens auf den Feind stürmende »wahre Soldat«.62

Allerdings bleibt die Begründung für dieses Urteil bei Ostwald notwendig eine andere. Ihm geht es bei der Kontraselektion nicht wie Dennert darum, den Daseinskampf oder den Darwinismus argumentativ auszuhebeln, sondern 62 Wilhelm Ostwald: Krieg. In: Ders.: Monistische Sonntagspredigten. Dritte Reihe. Leipzig: Akad. Verlagsgesellschaft 1913, S. 145–151, hier S. 150.

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darum, seine eigene Spielart des Monismus in die Diskussion zu bringen. Als bekennender Pazifist leitet Ostwald seine Anschauung aus dem von ihm propagierten ›energetischen Monismus‹ bzw. aus dem sogenannten ›energetischen Imperativ‹ ab.63 Der Krieg muss deswegen »in allen seinen Formen«64 verworfen werden, weil er nur »ein Überrest aus barbarischer Zeit ist«65 und nicht mehr der modernen Kultur entspricht. Die »sinnlose Grausamkeit des Krieges« orientiert 63 Vgl. mit zahlreichen Verweisen Eckard Daser : Ostwalds energetischer Monismus. Konstanz: Univ. Diss. 1980, S. 122–133 u. 207–216. 64 Ostwald: Krieg (Anm. 62), S. 146. 65 Ebd., S. 150.

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sich nicht an einer naturgeschichtlichen Rangfolge der Lebewesen oder an einer sozialen Hierarchie. Stattdessen erzeugt sie eine Situation, in der die Kugel nicht wählt, ob sie den höchststehenden und für die Kultur wertvollsten oder irgendeinen geringen Menschen trifft, ob sie das in jenem gesammelte große, ja unersetzliche Kapital zerstört oder jene verhältnismäßig kleine Menge Energie, welche in einem Bauern oder Hirten konzentriert ist.66

Aus den vorigen Predigten wird ersichtlich, dass der sich selbst als fortschrittlich bezeichnende Ostwald anschreibt gegen konservative Tendenzen und das »verwirrte[] Treiben der Tagespolitik«, das der »monistische[n] Gesamtarbeit«67 entgegensteht. Der Arbeitsbegriff ist seiner physikalischen, thermodynamischen Herkunft dabei keinesfalls beraubt. Ostwald rekurriert auf eine bestimmte »Energiemenge«, die sukzessive gebunden oder »zerstreut und daher weiterer Wirkung entzogen wird«. Die Konsequenz daraus ist eine Handlungsökonomie, die darauf angelegt ist, die Zerstreuung, um nicht zu sagen: den Grad der Dissoziation so gering wie möglich zu halten. »Vergeude keine Energie!«68 lautet Ostwalds Credo, denn »alle Bewegung« strebt unumkehrbar »der Ruhe«69 und damit dem entropischen Maximum zu. Ostwalds Schlussfolgerung lautet darum: So ist ein jeder von uns zum Mitverwalter jenes einzigen Arbeitskapitals, jenes täglichen Brotes unserer gesamten Lebensmöglichkeit berufen und sein Wert für den Gesamtberuf der Menschheit entscheidet sich nach dem Anteil der freien Energie, den er aus dem allgemeinen Strome entnehmen und der Menschheit nutzbar machen kann.70

Der damit formulierte energetische Imperativ soll freilich nicht weniger bewirken – da gibt sich Ostwald ganz unbescheiden – als eine naturwissenschaftliche Umschrift des kategorischen. Die thermodynamischen Grundsätze erfahren im Prozess ihrer Popularisierung eine ethische und anthropologische Sinndimension, die »im Gegensatz zum unheimlichen Dunkel jener alten Theologie« eine »viel größere ›Menschlichkeit‹ der Naturgesetze« bezeugen.71 Das »allmähliche Entbehrlichwerden der Religion«,72 die sich bislang die letztgültige Deutungshoheit zugewiesen hatte, steht somit nicht weiter im Zweifel. Frieden, das ist Ostwalds Überzeugung, wird nur im Diesseits religionsäqui66 Ebd., S. 149. 67 Wilhelm Ostwald: Kulturkonvergenz. In: Ders.: Sonntagspredigten. Dritte Reihe (Anm. 62), S. 73–79, hier S. 75. 68 Wilhelm Ostwald: Der energetische Imperativ. In: Ders.: Sonntagspredigten. Erste Reihe (Anm. 61), S. 97–104, hier S. 97. 69 Ebd., S. 98. 70 Ebd., S. 99. 71 Ebd., S. 100. 72 Wilhelm Ostwald: Religion und Wissenschaft. In: Ders.: Sonntagspredigten. Erste Reihe (Anm. 61), S. 25–32, hier S. 32.

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valenter Wissenschaft gestiftet. Dass Ostwald trotz all dieser wissenschaftlich begründeten Friedensaufrufe zu den 93 Personen zählt, die im August 1914 den nationalistischen Aufruf an die Kulturwelt unterzeichnen, gehört wohl zu den Paradoxien einer sich über semantische Widersprüche und Oppositionen etablierenden Moderne. Gegen Ostwalds Ansicht, sämtliche natürlichen wie gesellschaftlichen und soziokulturellen Abläufe auf das Prinzip der »Energieumwandlung« als dem »Urphänomen alles Geschehens« kausal zurückzuführen und dabei das »Güteverhältnis« von roher und nutzbarer Energie möglichst günstig zu gestalten,73 regt sich schon früh Widerstand, und dies nicht nur von strengen Theisten. In seiner Rezension zu Ostwalds Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft (1909), in denen diese Variante des Monismus zunächst publik wird, geht kein Geringerer als Max Weber (1864–1920) hart mit dem Nobelpreisträger ins Gericht. Ostwalds Überlegungen gehörten »zum übelsten«, was er »je geschrieben« habe.74 Weber moniert, dass Ostwald 1. »bestimmte naturwissenschaftliche Abstraktionsformen zum Maßstab wissenschaftlichen Denkens überhaupt« verabsolutiert, 2. in persönlicher Hinsicht »heterogene Denkformen […] als Unvollkommenheiten und Rückständigkeiten empfindet«, 3. in sachlicher Hinsicht »ein möglichstes Maximum alles Geschehens überhaupt zu Spezialfällen ›energetischer‹ Beziehungen einzustampfen trachtet« und dass er 4. die »Umstülpung des ›Weltbildes‹ einer Disziplin in eine ›Weltanschauung‹« versucht.75 Mit dieser minutiösen Kritik zielt Weber zugleich auf alle Facetten von Popularisierung als einem Verfahren, das genuin fachwissenschaftliche, paradigmatische Bestandteile in einen syntagmatischen, weltanschaulichen Verweiszusammenhang überführt. Weber argumentiert gegen die methodische Inkonsistenz des Ansatzes und Ostwalds selbstüberschätze Autorisierungsstrategie ebenso wie gegen den so artikulierten disziplinären Erklärungs- und Deutungsanspruch der Chemie innerhalb eines ausdifferenzierten Wissenschaftsgefüges, in dem 1909 auch Weber als Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie einen institutionellen Platz mit seinem jungen Fach sucht. Weniger vielschichtig, aber nicht minder eindringlich fällt eine Kritik der energetischen Weltanschauung aus, die in der freireligiösen und sozialrefor73 Wilhelm Ostwald: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. Leipzig: Klinkhardt 1909, S. 23f. 74 Max Weber : »Energetische« Kulturtheorien [1909]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Aufl. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr 1988 [1922], S. 400–426, hier S. 406f. Zur Kritik an Ostwald vgl. auch Paul Ziche: Wilhelm Ostwalds Monismus: Weltversicherung und Horizontöffnung. In: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 3 (2007), S. 117–134. 75 Weber: Kulturtheorien (Anm. 74), S. 400f.

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merischen Monatsschrift Die Tat (1909–1938) publiziert wird. Die Zeitschrift erscheint ab 1912 im Jenaer Verlag von Eugen Diederichs, der auch sonst über ein breites Angebot an Weltanschauungsliteratur verfügt und damit einen hohen kulturpolitischen Einfluss in Deutschland ausübt.76 Gegründet und herausgegeben wird das Blatt von Ernst Horneffer, der 1911 noch ein Jahr lang hinter Ostwald den zweiten Vorsitz im Monistenbund innehat. Der Artikel in der Tat wiederum stammt vom Philosophen Julius Reiner und richtet sich gegen Ostwalds Bemühen, das Prinzip der Energieumwandlung auf »das Gebiet des Geistes und seiner Manifestationen« zu übertragen: Für die Entstehung der Ilias oder des Faust gibt es keine adäquate und mathematisch formulierbare Ursache. Wir wissen trotz des Energieprinzips noch immer nicht, welche Prozesse im Gehirne vorgehen bei dem Zustandekommen eines Kunstwerkes, einer genialen Erfindung oder eines klassischen Dramas.77

Die »Geltungssphäre«78 des Ostwaldschen Energieprinzips wird mit geistesgeschichtlicher Verve auf die Naturwissenschaften begrenzt. Darüber hinaus jedoch deutet der Artikel die intellektuelle Sprengkraft an, die sich bis zu Beginn des Krieges im Monistenbund bündelt und sich in Unstimmigkeiten zwischen Ostwald und Haeckel äußert. Ostwald wird als ›Kriegsfreiwilliger‹ vom Auswärtigen Amt »mit persönlichen Instruktionen« nach Schweden beordert, wie er Haeckel in einem Brief vom 28. Dezember 1914 aus seinem »Landhaus Energie« in Großbothen mitteilt, und dies nicht ohne »ein gewisses patriotisches Wohlgefühl« dabei zu empfinden, wenn er einen »kleinen Teil der allgemeinen Kriegslast persönlich« übernimmt.79 Anders als Haeckel, dessen »Gesundheit und Arbeitsfähigkeit« in seiner Jenaer »Villa Medusa« bereits stetig abnimmt und der im Krieg »um die barbarische Zerstörung von unermesslicher Kulturarbeit« sowie um »die schweren Verluste in Familien und Freundes-Kreisen« trauert,80 ist Ostwald jedoch der Auffassung, dass »eine derartige durch Jahrhunderte festgesetzte Sachlage« »sich nicht auf einmal verändern« lässt. Als »Aufgabe des 20. Jahrhunderts« formuliert er Anfang 1915 eine »wahre Völkerfreiheit, die in einer 76 Vgl. dazu Christian Meierhofer : Die Gemeinschaft der Bücher und der Große Krieg. Strategien kulturpolitischer Erneuerung im Verlag Eugen Diederichs. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 25 (2015) H. 2, S. 408–413. 77 Julius Reiner : Energetische Weltanschauung. In: Die Tat. Wege zu freiem Menschtum 4 (1912/13) Bd. 1, S. 183–187, hier S. 184. 78 Ebd., S. 186. 79 Wilhelm Ostwald: [Brief an Haeckel vom 28. 12. 1914]. In: Rosemarie Nöthlich u. a.: »Substanzmonismus« und/oder »Energetik«: Der Briefwechsel von Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald (1910 bis 1918). Zum 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Monistenbundes. Berlin: VWB 2006, S. 119. 80 Ernst Haeckel: [Brief an Ostwald vom 30. 12. 1914]. In: Ebd., S. 120f., hier S. 121.

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organisato[r]ischen Zusammenfassung sämtlicher Nationen liegt«, die »dem maritimen Zwang der englischen Weltherrschaft« widersteht.81 Am 14. Mai 1915 erklärt Ostwald wegen des wachsenden Widerstandes der »internationale[n] Judenschaft« unter den Mitgliedern und »persönliche[r] Unterströmungen« seinen Rücktritt,82 und noch im Dezember mahnt er »tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten« und den »Puppenzustand« des Bundes »mit höchst reduziertem Stoff- und Energiewechsel« an.83 Als Meinungsführer und Schlüsselfigur im Weltanschauungsdiskurs changiert Ostwald auf merkwürdige und paradoxe Weise zwischen Pazifismus und Militarismus. Denn schnell nach seinem Austritt aus dem Monistenbund kann er sich »führend an der pazifistischen Gründung des Bundes Neues Vaterland um Kurt von Tepper-Laski und Georg Graf von Arco«84 beteiligen, der nach 1918 in seinen Flugschriften die außenpolitischen »Einschüchterungsmittel«85 Deutschlands und die »diktatorische Gewalt«86 des Militärs während des Krieges anklagt und für eine sozialistische »Grundlage des Gemeingeistes«87 eintritt. Bei Ostwald selbst ist das populäre Anschauungskonzept des ›energetischen Imperativs‹ so flexibel einsetzbar, dass es sowohl die (vermeintlichen) Kriegsverursacher in der Weltpolitik als ›barbarische Energieverschwender‹ als auch die Kriegsgegner im Monistenbund als ›nationaluntreue Energiesparer‹ verunglimpfen kann.

4.

Krieg als Darstellungsressource

Es leuchtet ein, dass der von Ostwald für die Entropie derart affin gemachte Weltanschauungsdiskurs seine kostbaren freien Energien nicht allein für pazifistisches Predigtgebaren verbraucht, so ernst das auch gemeint sein mag. Der 81 Wilhelm Ostwald: [Brief an Haeckel vom 23. 2. 1915]. In: Ebd., S. 121–123, hier S. 122. 82 Wilhelm Ostwald: [Brief an Haeckel vom 14. 5. 1915]. In: Ebd., S. 125f. Zum Hintergrund des sich radikalisierenden Antisemitismus vgl. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin: Akademie 2001, S. 174–194. 83 Wilhelm Ostwald: [Brief an Haeckel vom 21. 12. 1915]. In: Ebd., S. 131f., hier S. 131. 84 Hübinger : Die monistische Bewegung (Anm. 49), S. 258. Zum Bund vgl. auch Dieter Fricke: Bund Neues Vaterland (BNV) 1914–1922. In: Ders. u. a. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Bd. 1. Köln: Pahl-Rugenstein 1983, S. 351–360. 85 Heinrich Ströbel: Durch zur Wahrheit. Berlin: Berger 1919 (Flugschriften des Bundes Neues Vaterland, Nr. 11), S. 12. 86 Wilhelm Blöcke: Deutschlands neue Wehrmacht. Berlin: Berger 1919 (Flugschriften des Bundes Neues Vaterland, Nr. 13), S. 13. 87 Walther Schücking, Helene Stöcker u. Elisabeth Rotten: Durch zum Rechtsfrieden. Ein Appell an das Weltgewissen. Berlin: Berger 1919 (Flugschriften des Bundes Neues Vaterland, Nr. 2), S. 18.

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Diskurs ist ähnlich dem thermodynamischen System aber auch nicht ›energiedicht‹, wie sich mit Ostwald sagen ließe. Der Krieg kommt als Ressource von außen hinzu und spendet zumindest bis 1918 eine gewissermaßen erneuerbare Energie, die Vertreter aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in eine Auseinandersetzung mit- und gegeneinander zwingt und die sich insbesondere im ›Mikrokosmos‹ Jena entlädt, jener damaligen »Hochburg deutscher Gelehrsamkeit und Freiheit wissenschaftlichen Denkens und Forschens«.88 Schon vor dem Krieg gibt es dort nicht unerhebliche Konfrontationen zwischen dem neoidealistischen Philosophen Rudolf Eucken, dem 1908 auf nicht unumstrittene Weise der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wird,89 und dem Substanzmonisten Ernst Haeckel. Der August 1914 befriedet dieses Spannungsverhältnis der beiden Autoritäten kurzzeitig, die nun in gemeinsamen Aufrufen, auch an die amerikanischen Universitäten, die deutsche Position eines Verteidigungskrieges klarstellen.90 In großer Eintracht und ganz ohne fach- oder populärwissenschaftliche Zwänge wettern sie gegen die »unauslöschliche Schande«, dass England »zugunsten einer slawischen, halbasiatischen Macht gegen das Germanentum« kämpft, damit der »Barbarei« verfällt, einen Akt »moralischen Unrechts« ausführt und politisch allein von »schrankenlose[m] Egoismus« getrieben ist.91 Diese einseitige Fokussierung auf England als Hauptschuldigen am Krieg hat allerdings nicht den Effekt schneller publizistischer Ermüdung, im Gegenteil: Hier kann sich argumentativ noch erheblich gesteigert werden. Bereits am 12. August 1914 verfasst der »greise Naturforscher«92 Haeckel, mittlerweile 80-jährig, das Pamphlet Englands Blutschuld am Weltkriege. Mit populärreligiöser, apokalyptischer Symbolik wird der Krieg hier zu einem »universalen Weltbrande« stilisiert, »der die ganze, in sechs Jahrtausenden mühsam errungene Kultur zu verschlingen droht.« Diese neue Qualität eines anbrechenden Weltkriegs in seinen Extremen führt Haeckel auf das andere Extrem der zahlreichen Fortschritts- und Modernisierungsprozesse zurück: auf 88 Hermann Kellermann: [Kommentar zu Haeckel und Eucken]. In: Ders. (Hg.): Krieg der Geister (Anm. 12), S. 27f., hier S. 27. 89 Vgl. dazu grundlegend das Kapitel »Die Faszination des Nobelpreises« bei Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München: Hanser 2013, S. 59–102. Zur philosophischen Positionierung Euckens vgl. umfassend Friedrich Wilhelm Graf: Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration. In: Hübinger, vom Bruch u. ders. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften (Anm. 49), S. 53–85. 90 Vgl. mit vielen Belegen Uwe Dathe: Der Philosoph bestreitet den Krieg. Rudolf Euckens politische Publizistik während des Ersten Weltkrieges. In: Herbert Gottwald u. Matthias Steinbach (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert. Jena: Bussert & Stadeler 2000, S. 47–64. 91 Ernst Haeckel u. Rudolf Eucken: [Erklärung von Mitte August 1914]. In: Hermann Kellermann (Hg.): Krieg der Geister (Anm. 12), S. 27f. 92 Kellermann: [Kommentar] (Anm. 88), S. 28.

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»die moderne Vervollkommnung der Waffen aller Art«, »die Ueberwindung von Zeit und Raum durch die moderne Elektrik und Maschinenausbildung« und »die gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft«.93 Die in den ersten Kriegsmonaten häufig verwendete Narration apokalyptischen Niedergangs und kultureller Auslöschung erhält erst durch die kontrastive Vorgeschichte eines umfassenden linearen Aufstiegs ihre rechte Anschaulichkeit. Mit diesem Setting stellt sich Haeckels Kampfschrift die rhetorische Frage, »welchem von den drei gewaltigen Gliedern jener fluchwürdigen Räuberbande« der Triple Entente »der größte Teil der Blutschuld zufällt«.94 Die Antwort darauf liefert bereits der Titel. Großes Unverständnis löst die Abkehr Englands von seiner »gewaltige[n] Kulturarbeit« aus, die sich mit der Kriegserklärung an Deutschland eine Woche zuvor vollzieht. Die Blutschuld Englands sieht Haeckel darin begründet, dass es seine »Energie und Schaffenskraft« nicht zur Wahrung des politischen Gleichgewichts zwischen den »beiden germanischen Schwesternationen« – markanterweise ohne Erwähnung Österreichs – einsetzt.95 Wieder einmal und jetzt auch bei Haeckel ist das energetische Prinzip am Werk, hier jedoch in syntagmatischer Kombination mit dem Daseinskampf und mit der tragischen Pointe, dass die physikalisch begründete Gewalt (vis oder fortitudino) der Kulturarbeit in eine kriegerische und körperliche Gewalt (violentia) »gegen ein stammverwandtes Volk«96 umschlägt. Im Jahr darauf lässt Haeckel die Abhandlung Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre folgen, deren »Reinertrag« »für die Unterstützung der Hinterbliebenen der deutschen Krieger« bestimmt ist.97 Der drohende »Rückfall in die Barbarei der Vorzeit« und »der jähe Wechsel von Leben und Tod«, den der Krieg täglich vorführt, veranlasst Haeckel dazu, drängende Fragen »nach der Ewigkeit des Daseins und der Unsterblichkeit der Seele« aus monistischer und entwicklungsbiologischer Perspektive zu beantworten und insbesondere für das ›richtige‹ Weltanschauungskonzept Überzeugungsarbeit zu verrichten.98 Weil aber diese Anschauung an bzw. gegen mehrere Publika zu wenden ist, kann der Text keine klare Argumentationslinie durchhalten. Einerseits muss Haeckel gegen die Dualisten und Theisten die 93 Ernst Haeckel: Englands Blutschuld am Weltkriege. Eisenach: Kayser 1914, S. 3. Zur Symbolik von Weltenbrand und Weltgericht vgl. auch Klaus Vondung: Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik. In: Ders. (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 62–84. 94 Haeckel: Englands Blutschuld (Anm. 93), S. 5. 95 Ebd., S. 13f. 96 Ebd., S. 10. 97 Ernst Haeckel: Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre. Berlin: Reimer 1915, unpag. 98 Ebd., unpag. Vorwort.

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Beliebigkeit und Kontingenz der Kriegsgeschehnisse behaupten, bei denen ein »einziger gut gezielter oder durch blinden Zufall geglückter Treffer einer Granate oder Bombe oder eines der modernen Riesengeschütze« »in einer Sekunde Dutzende von Menschenleben grausam vernichten« kann.99 Andererseits muss Haeckel als Popularisator auch nationalpatriotische Erwartungen bedienen und (populär)wissenschaftlich begründen. Dabei allerdings können Versatzstücke von Entwicklungs-, Vererbungs- und Rasse- oder Völkerlehre mit politischen Parolen kombiniert und zu einem durchaus kuriosen Amalgam miteinander verschmolzen werden: Ein einziger feingebildeter deutscher Krieger, wie sie leider jetzt massenweis fallen, hat einen höheren intellektuellen und moralischen Lebenswert als hunderte von den rohen Naturmenschen, welche England und Frankreich, Rußland und Italien ihnen gegenüberstellen. Nun ist es ja richtig, daß unser teures Vaterland diesen ungeheuren Existenzkampf nur dann siegreich durchführen kann, wenn wir alle einmütig und mit Begeisterung jene Opfer bringen. Das geschieht auch mit einem Heldenmute und einem Erfolge, der in der Staatengeschichte diesen Befreiungskrieg zu einem Ehrendenkmal ersten Ranges für uns erhebt.100

Das selektive Ausscheiden der Deutschen aus dem nationalen Daseinskampf, mit dessen anthropologischem Anspruch eigentlich »das ganze individuelle Leben des Menschen nach denselben Grundsätzen wie das der übrigen Wirbeltiere«101 beurteilt wird, hindert Haeckel nicht daran, eine vorgegebene natürliche Hierarchie der Völker anzunehmen, in der die Deutschen als opferbereite, befreiungswillige und unverstandene Kulturnation an oberster Stelle rangieren. Letztlich bleibt die Abhandlung auch wieder ein Text, der sich von seinen Extremen herschreibt. Die Weltkriegsgedanken können in der Konkretion des politischen Kommentars die Schrecknisse des Krieges benennen oder wegen »der Überbevölkerung des Deutschen Reiches dringend einer Erweiterung und Stärkung seiner höchst ungünstigen Grenzen«102 beipflichten und gleichzeitig in der Abstraktion weltanschaulichen Überzeugens die »unzähligen Wunder dieses ewigen Lebensprozesses«103 bestaunen, die die moderne Entwicklungslehre vor Augen führt. Die Kontinuität des Weltanschauungskampfes ergibt sich dann durch antimonistische Positionen, die ebenso resolut ausfallen können wie Haeckels Einheitslehre. In seiner Streitschrift Ernst Haeckels Kulturarbeit (1916) traktiert der jesuitische Insektenkundler Erich Wasmann (1859–1931) die »Ewigkeits99 100 101 102 103

Ebd., S. 26. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 122. Ebd., S. 128.

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gedanken«104 seines Kontrahenten. Wasmann hatte sich schon früh gegen die »haeckelistische Weltanschauung«105 ausgesprochen und kann auch bei Haeckels aktueller Publikation nur »die alten monistischen Phrasen«106 erkennen, die nicht weniger bedeuten als »einen Rückfall in die Ideen der heidnischen Barbarei«.107 Die christlichen Ewigkeitshoffnungen und Unsterblichkeitsvorstellungen dürften nicht – zumal im Weltkrieg – entleert werden. Umgekehrt vermag ebendieser Krieg in seiner Gegenwärtigkeit und physischen Präsenz den »Haeckelismus« zu widerlegen: Und vielleicht ist es gerade dieser Weltkrieg, der die ganze Hohlheit und Hoffnungslosigkeit des monistischen Gottesbegriffes vielen armen Verblendeten, die durch die sozialdemokratische Popularisierung des Monismus verführt worden waren, draußen in den Schützengräben im Angesichte des Todes handgreiflich gezeigt hat.108

Die Irritationsunfähigkeit des monistischen und antimonistischen Lagers führt dazu, dass auch der Krieg noch als Darstellungsressource zur Stärkung der je eigenen Argumentation genutzt werden kann. Das Vokabular der inhaltlich gegenläufigen Vorwürfe überschneidet sich dabei durchaus und ist nicht selten identisch mit dem, das zur offiziell gesamtdeutschen Herabwürdigung der militärischen Gegner verwendet wird. Während Wasmann die unchristliche Barbarei des atheistischen Monismus verurteilt, polemisiert Haeckel gegen die Irrwege des Glaubens an einen extramundanen »Schulgott«109 und dessen persönliche Allmacht. Mit dem Krieg kann beides in Abrede gestellt werden: das gott- und seelenlose Wirken der Natur ebenso wie der wissenschaftlich unbewiesene Ballast religiöser Tradition. Ebenfalls unnachgiebig in der Produktion seiner Texte, die zudem in diversen Feldpostausgaben verbreitet wurden,110 aber beweglicher in seinen Argumenten gibt sich Rudolf Eucken. Zu Beginn des Krieges trauert er dem möglichen »Verlust von Gut und Blut«111 und der »Kulturarbeit« nicht lange hinterher : »Wo alles auf dem Spiele steht«, heißt es 1914 im Sonderdruck seiner kämpferischen Rede Die sittlichen Kräfte des Krieges, die zuvor in der Zeitschrift Daheim erschienen ist, 104 Erich Wasmann: Ernst Haeckels Kulturarbeit. Freiburg/Br.: Herder 1916, S. 1. 105 Erich Wasmann: Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie. Dritte, stark verm. Aufl. Freiburg/Br.: Herder 1906 [1901/03], S. 271. 106 Wasmann: Haeckels Kulturarbeit (Anm. 104), S. 1. 107 Ebd., S. 8 108 Ebd., S. 2. 109 Haeckel: Ewigkeit (Anm. 97), S. 49. 110 Vgl. mit weiteren Hinweisen zu Euckens Kriegspublizistik Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: WBG 2000, S. 93–113. 111 Rudolf Eucken: Die sittlichen Kräfte des Krieges. Leipzig: Gräfe 1914, S. 3. Vgl. dazu Flasch: Mobilmachung (Anm. 5), S. 18–23.

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da scheiden sich deutlich Haupt- und Nebensachen; da kann sich als wertvoll nur behaupten, was uns in dem großen Kampfe fördert. So geht mit dem Ernst Hand in Hand eine starke Konzentration. Die Kulturarbeit mit ihrer reichen Verzweigung kann bei allem sonstigen Wert im Augenblick uns nicht fesseln, über Wissenschaft, Kunst, Technik usw. hinaus eröffnet sich jetzt eine Aufgabe des ganzen Menschen.112

Als Antidarwinist sieht sich Eucken zunächst – konzeptuell allerdings in eher loser Bindung – vom Daseinskampf »eines ganzen Volkes für seine Selbsterhaltung«113 erfasst und arbeitet in der euphorisierenden Gegenwärtigkeit der Geschehnisse gegen sittliche Aufmerksamkeits- und Ordnungsverluste an, also gegen das, was Ostwald unter energetischen Zerstreuungs- und Dissoziationseffekten verbuchen würde. Doch ganz anders als der Biologe Haeckel streitet der Philosoph Eucken ohne Unterlass gegen die »Gefahr […] eines Verkümmerns unserer Seele, eines Materialismus in der Gestaltung des Lebens und schließlich auch in der Weltanschauung«.114 Eucken vollzieht eine Volte zur um 1900 ohnehin kaum übersehbaren Lebensphilosophie. Er kann deswegen auf die Seele keinen Verzicht leisten, weil das Leben erst »im Ringen von Seele und Welt sich uns bildet«.115 Der akute »Kampf für das Vaterland« erweist sich dabei als »ein Kampf für die idealen Güter der Menschheit«,116 zu denen er neben der idealistischen Philosophie ab 1917 auch die Bibel als Kulturträger rechnet, mit der soziale »Unterschiede und Abstufungen« aufgelöst werden können. Die Bibel dient dem »Aufrechterhalten einer inneren Gleichheit alles dessen, was menschliches Angesicht trägt«.117 Haeckels naturwissenschaftlich grundiertem Anschauungskonzept hält Eucken eine lebensphilosophisch-geistesgeschichtliche Variante entgegen, die auch nach Kriegsende die »geistige Freiheit« und »den inneren Stand der Seele« unmissverständlich gegen monistische Übernahmeversuche wie auch gegen übermäßige demokratische oder sozialistische Reformbemühungen in Stellung bringt.118 Für Euckens Schüler Max Scheler (1874–1928) hingegen, der 1897 in Jena promoviert, sich 1899 habilitiert und als Kriegsuntauglicher (ebenfalls) von der sicheren Heimatfront aus schreibt, ist schon die sprachliche Analogie zum biologischen Daseinskampf im zeitgenössischen Diskurs völlig deplatziert. In

Eucken: Die sittlichen Kräfte (Anm. 111), S. 4. Ebd., S. 3. Rudolf Eucken: Die Träger des deutschen Idealismus. Berlin: Ullstein 1915, S. 237. Rudolf Eucken: Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes. Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1914 (Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, H. 8), S. 18. 116 Eucken: Träger (Anm. 114), S. 247. 117 Rudolf Eucken: Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Bibel. Leipzig: Kröner 1917, S. 20f. 118 Rudolf Eucken: Deutsche Freiheit. Ein Weckruf. Leipzig: Quelle & Meyer 1919, S. 6f.

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der Abhandlung Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1915) erhebt Scheler gleich zu Beginn seine Einwände: Der Krieg ist nicht – wie uns eine naturalistische Auffassung des Krieges einreden will – bloße physische Gewaltäußerung, die sich aus Ohnmacht des vernünftigen Geistes an dessen Stelle setzt; er ist Macht- und Willensauseinandersetzung der geistigen Kollektivpersönlichkeiten, die wir Staaten nennen.119

Der Krieg der Menschen ist »wesensverschieden von allen Daseins-, Beute- und Erhaltungskämpfen der untermenschlichen Natur«. Er ist stattdessen »der Kampf um ein Höheres als Dasein, der Kampf um die Macht und die mit ihr fallende oder stehende politische ›Freiheit‹.«120 Indem Scheler den Krieg als Kampf um politische Macht (potestas) definiert und damit die dritte Bedeutungsdimension des Gewaltbegriffs aufmacht, entkräftet er die biologistischen Argumente der Kriegsbefürworter und Kriegsgegner gleichermaßen. Als symbolisches Material taugt weder das selektive ›Überleben der Stärksten‹ noch das kontraselektive ›Überleben der Schwächsten‹ zur Beschreibung der Geschehnisse. Der Krieg ist ein ›Kampf um das höhere Erlebnis‹, der sich einer naturwissenschaftlichen und monistischen Beobachtungssprache entzieht. Jenseits der verschiedenen Analogisierungsversuche zeigt Scheler dann aber durchaus, etwa mit seiner Forderung nach der »endgültige[n] Zerstörung jenes Anspruchs Englands auf seine Allgeltung zur See und des ihr entsprechenden Prestiges in der Welt«,121 inhaltliche Linientreue. Die äußeren staatlichen Konkurrenzen überwiegen bis zum Ende der Abhandlung die inneren weltanschaulichen Nuancierungen deutlich. Doch nicht nur von Jena aus findet eine Beteiligung am politisch ambitionierten, populärwissenschaftlichen Schrifttum statt. Dass der »Schwerpunkt des Krieges« »in dem Kampf zwischen Deutschland und England« liegt,122 steht auch in den Biologischen Grundlagen der Kulturpolitik (1915) des Bonner Physiologen Max Verworn (1863–1921) außer Frage. Allerdings ist der Krieg wiederum ein, wenn auch einschneidendes, Oberflächenphänomen des Weltanschauungsdiskurses. Verworn diagnostiziert am Ende seiner Überlegungen: »England steht vor einer schweren inneren Krise. Gelingt diese Korrektur der inneren 119 Max Scheler : Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1915, S. 10. Vgl. dazu die Diskussion von Schelers Standpunkt bei Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn u. a.: Schöningh 2004, S. 404: »Bei den Deutschen komme dem Staat der Primat vor der Nation zu, während es in Frankreich sich genau umgekehrt verhalte und in England das ›Empire‹ Bezugspunkt des Denkens sei.« 120 Scheler : Genius (Anm. 119), S. 11f. 121 Ebd., S. 349. 122 Max Verworn: Die biologischen Grundlagen der Kulturpolitik. Eine Betrachtung zum Weltkriege. Jena: Fischer 1915, S. 38.

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Kulturwerte nicht, dann sinkt England über kurz oder lang von seiner Machtstellung herab auf das Niveau eines kleinen Seeräuberstaates. Tertium non est.«123 Diesem abschließenden Befund geht eine umfängliche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Diskussion voraus. Die Kultur, die Verworn »als die Gesamtheit der vom Menschen selbst für seine Zwecke geschaffenen Werte«124 bestimmt, wird als »ein biologisches Naturprodukt behandelt.« Der Krieg ist dabei nur »ein spezieller Fall des Kampfes ums Dasein.« Verworn unterscheidet jedoch einen direkten Kampf, der die unmittelbare, kriegerische Eliminierung des Gegners bedeutet, und einen indirekten Kampf, bei dem »die friedliche Konkurrenz der Individuen und Völker« im Idealfall zu einer stetigen Kulturentwicklung und zu einem harmonisierten, »einheitlichen Kulturorganismus« »der gesamten Menschheit« führt.125 Diese Entwicklung setzt eine Denkökonomie voraus, ein Konzept, das Verworn von Ernst Mach bezieht und mit der Darwinschen Entwicklungslehre kombiniert: »Die gesamte Kulturentwicklung ist bei genauerem Zusehen nichts anderes als ein spezieller Ausdruck des einen großen und allgemeinen Entwicklungsprozesses der Anpassung unseres Denkens und Handelns an die Wirklichkeit auf dem Wege der Gedankenselektion.«126 Im Ergebnis steht Verworn anders als Haeckel für einen psychophysisch akzentuierten Monismus, der die kulturelle Entwicklung immer an eine geistige Entwicklung koppelt. Der direkte, kriegerische Daseinskampf, für den wie schon bei Haeckel und Eucken England verantwortlich gemacht wird, muss vor diesem Hintergrund notwendig scheitern, weil er ohne Rücksicht auf den »Gesamtorganismus« und nur »in egoistisch nationalem Interesse« geführt ist.127 Wie schon alle früheren »Weltherrschafts-Bestrebungen« von den Babyloniern bis zu Alexander dem Großen scheitern mussten, so ist »dem englischen Weltreichsphantom« »dasselbe Schicksal« beschieden,128 sofern keine Anpassung im Denken stattfindet. Erst wenn die »brachliegende[n] Schätze an inneren potentiellen Kulturwerten«, über die auch England verfügt, »durch geeignete Reformen gehoben und aktiviert werden«,129 besteht die Chance auf einen indirekten, friedvollen Konkurrenzkampf und politischen Fortschritt. Verworns verfeinerter Bezug auf Darwin jenseits von natürlicher Auslese und Kontraselektion ermöglicht insoweit eine naturwissenschaftlich begründete Perspektive auf das, was als kulturgeschichtliche und staatspolitische Rahmenbedingung zu

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Ebd., S. 54. Ebd., S. 9. Ebd., S. 16f. u. 19. Ebd., S. 9. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 54.

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leisten ist, damit ein 1915 noch unabsehbares Kriegsende nicht gleich den nächsten Kriegsanfang vorausdenken lässt. Den Begriff des »Kulturorganismus« übernimmt im Laufe des Krieges der Berliner Physiologe und Pazifist Georg Friedrich Nicolai (1874–1964) in seiner zweibändigen Biologie des Krieges, die in einer unautorisierten Fassung 1917 und zwei Jahre darauf in einer ersten Originalausgabe erscheint.130 In fünf Großkapiteln wendet sich Nicolai den natürlichen Bedingungen des Krieges zu, diskutiert aber zugleich kultur- und philosophiegeschichtliche Verknüpfungen zu Militarismus und Patriotismus, um im zweiten Band ideelle und reelle Optionen abzufragen, mit denen der Krieg überwunden werden kann. Die Schlussfolgerung ist der Erhalt eines europäischen Kulturraums, der vom »Hineinwachsen einer Kulturzone in die andere« geprägt ist, das »gerade in neuerer Zeit durch die intensivere Möglichkeit eines internationalen Verkehrs immer größere Wichtigkeit gewonnen« hat. Wenn also etwa »Deutschland Frankreich vernichtete, würde es gewisse Blüten seiner eigentlichsten Kultur unwi[e]derbringlich mit vernichten.«131 Die Kritik an den Beschimpfungen aus den ersten Kriegsmonaten, die »deutscher Gedankenfreiheit« völlig »unwürdig« sind,132 manifestiert sich nicht zuletzt im Aufruf an die Europäer, den Nicolai mit dem Philosophen Otto Buek, dem Geheimrat Wilhelm Förster und dem »Gesinnungsgenossen« Albert Einstein als Gegenschrift zum Aufruf an die Kulturwelt verfasst. Der Text wird der Biologie des Krieges noch einmal vorangestellt und mahnt vor der »mangelhaften Gesamtorganisation« Europas, die durch einen rückständigen »Bruderkrieg« nicht weiter beeinträchtigt werden soll.133 Neben dem eindringlichen Appell an die Zugehörigkeit aller Kriegsparteien zum genus humanum wird hier aber noch eine weitere Darstellungsressource des Krieges gewonnen: Aus den biologischen Grundlagen der organischen Entwicklung von Lebewesen leitet Nicolai über zu einer soziologischen Begriffsbildung der organisatorischen Verbesserung von Staaten. In dieser konzeptuellen Übertragungsleistung bemisst sich die Popularität seiner überblickshaften Abhandlung. Derartige Popularisierungsversuche, naturwissenschaftliche Konzepte auf soziologische Problemzusammenhänge zu übertragen, können jedoch auch – zumindest noch 1914 – einen ganz anderen Ausgang nehmen. Weil nämlich »der praktische Pazifismus zwar den Krieg als solchen verabscheut, im übrigen aber nicht verkennt, von welchem Werte machtvolle Heer- und Flottenbestände sind, 130 Georg Friedrich Nicolai: Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung. 2 Bde. Erste Originalausg. (2. Aufl.). Zürich: Füssli 1919 [1917], S. 488 [Paginierung fortlaufend]. Vgl. auch Michler : Kriegsbiologien (Anm. 55), S. 169f. 131 Nicolai: Biologie des Krieges (Anm. 130), S. 489. 132 Ebd., S. 313. 133 Ebd., S. 12f.

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um für den Notfall gedeckt zu sein«,134 stellt sich die Frage nach dem ›kulturellen Faktor‹ des Krieges. Zur Beantwortung zieht etwa ein Artikel aus Das monistische Jahrhundert mit Bezug zu Goethes Wahlverwandtschaften die altbekannte Analogie zwischen chemischen und gesellschaftlichen Verbindungen. Der Krieg ist demnach ein soziologisch wirksamer »Reaktionsfaktor«, sofern er ein »Völkergemenge« wie Österreich-Ungarn bereits zu »nationaler Begeisterung zusammenschmolz«. Daran schließt sich die Vision von »einer wirklichen Friedenskultur« »westeuropäischer Völker« – freilich nach deutschem Sieg – an, die sich »zu neuen kulturgewaltigen Einheiten zusammenschließen« und des Krieges als Reaktionsfaktor nationaler Bindung nicht mehr bedürfen.135 Die Analogie zwischen Chemie und Soziologie hat in solcher Rede den doppelten Zweck, einerseits ganz im monistischen Vereinsethos des Monistenbundes »die materiellen Wissenschaften« erneut zum »Fundament für die ›geistigen‹, die Kulturwissenschaften«136 zu erklären und andererseits das Narrativ von Krise, Ereignis und Aufbruch einigermaßen abwechslungsreich zu lancieren und den vormals zwielichtigen Pazifismus als nun aufrichtig gemeintes Kulturprogramm künftig wieder aufzulegen. Es wird Oswald Spengler (1880–1936) und seinem großen Untergangsprojekt vorbehalten bleiben, die kriegerische Startenergie der ›Ideen von 1914‹, die »im blutigen Dunst des Daseinskampfes aufgestiegen sind«,137 nach Kriegsende, ab 1918, noch einmal mit großem Arbeitsaufwand zu kanalisieren, nachdem die »außerordentlichen Verhältnisse«138 das Erscheinen des Bandes verzögert haben. Für seinen morphologischen, an Goethe orientierten geschichtsphilosophischen Entwurf sind Darwins Lehre ebenso wie die deutsche Ausprägung des Darwinismus allerdings wenig hilfreich. Mit dem »seelenlosen, entseelenden Freilicht der Generation Haeckels«139 setzt sich lediglich eine Variante der »Entwicklungsidee« durch, die »ein Oberflächensystem von Zweckmäßigkeiten« 134 Hans Janke: Der Krieg als Reaktionsfaktor. In: Das monistische Jahrhundert. Wochenschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 3 (1914) H. 25/26, S. 561–568, hier S. 561. 135 Ebd., S. 568. 136 Ebd., S. 563. 137 Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914. Rede, gehalten in der »Deutschen Gesellschaft 1914« [1916]. In: Ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden. Hg. von Hans Baron. Neudruck d. Ausg. Tübingen 1925. Aalen: Scientia 1966, S. 31–58, hier S. 58. 138 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Mannheim: Albatros 2011 [1918/22], Vorwort, S. IX. Vgl. mit weiteren Hinweisen zur Rezeption und Forschungsdiskussion Heinz Dieter Kittsteiner : Oswald Spengler zwischen »Untergang des Abendlandes« und »Preußischem Sozialismus«. In: Wolfgang Hardtwig u. Erhard Schütz (Hg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner 2005, S. 309–330. 139 Spengler : Untergang (Anm. 138), S. 325.

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etabliert: »Bei Goethe ist sie erhaben, bei Darwin flach, bei Goethe organisch, bei Darwin mechanisch, bei jenem Erlebnis und Sinnbild, bei diesem Erkenntnis und Gesetz.«140 Spengler bedient sich der Analogie als einem Prinzip morphologischer Verwandtschaften, um »lebendige Formen zu verstehen«,141 so dass der Weltkrieg mit »dem Übergang der hellenistischen in die Römerzeit« vergleichbar wird und dort »ein beständiges alter ego der eignen Wirklichkeit« findet.142 Spengler geriert sich insofern als ein Autorsubjekt, das von einem übergeordneten Standpunkt aus seine Anschauung auf den Weltkrieg »als die bereits unvermeidlich gewordene äußere Form der historischen Krisis« darbietet und einen discours »aus dem Geiste der voraufgehenden Jahrhunderte – nicht Jahre –« organisiert.143 Damit erhält Spengler zugleich als Erzähler-Ich den Status eines Geschichtspropheten, der ex post behaupten kann, dass der damals gegenwärtige, direkt vor Augen stehende Weltkrieg keine »einmalige Konstellation zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen und wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen« gewesen ist, sondern »der Typus einer historischen Zeitenwende, die innerhalb eines großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen biographisch seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz hatte.«144 Unter der strukturellen Vorgabe eines ›späten‹, alles überblickenden Erzählers lässt der Text auf der Sachebene der histoire eine abstrakte Grundspannung zwischen schicksalhafter, verstehbarer Weltgeschichte und mechanischer, erklärbarer Naturgeschichte entstehen. Sie konkretisiert sich in einer nationalkulturellen Konkurrenz der beiden Erzfeinde Deutschland und England und in den beiden Identifikationsfiguren zweier konträrer Anschauungskonzepte: »Zwischen den Begriffen der Goetheschen Formvollendung und der Evolution Darwins liegt der ganze Gegensatz von Schicksal und Kausalität, aber auch der zwischen deutschem und englischem Denken und zuletzt deutscher und englischer Geschichte.«145 Die Pointe daraus ist jedoch nicht die im Diskurs seit Ernst Haeckel, Werner Sombart und Thomas Mann so intensiv gepflegte Opposition, das Nebeneinander von Kultur und Zivilisation, Heldentum und Händlertum, sondern ein »notwendiges organisches Nacheinander«: »Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur.«146 Mit der Zäsur von 1914 verschafft sich der organisch-logische Ge140 141 142 143 144

Ebd., S. 475. Ebd., S. 4. Ebd., S. 36f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 67. Zu Spenglers Darstellungsverfahren vgl. auch Thom¦: Geschichtsspekulation (Anm. 15), S. 203–210. 145 Spengler : Untergang (Anm. 138), S. 590f. 146 Ebd., S. 43. Vgl. auch Thomas Mann: Gedanken im Kriege [1914]. In: Ders.: Essays. Bd. 1. Nach d. Erstdrucken, textkr. durchges., komm. u. hg. von Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 188–205, hier S. 188: »Kultur ist Geschlossenheit,

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schichtszyklus neue Evidenz. Denn hier aktualisiert sich »die dynamische Form der kämpfenden Staaten in ihrem ersten Jahrhundert« – genauer seit 1789 –, die »mit der Entladung des Weltkriegs« an ein Ende kommt.147 Analog zur »Energie« oder »Lebensdauer« von organischen Formen im Tier- und Pflanzenreich prognostiziert das Erzähler-Ich für die militärische Organisation ebenfalls ein »Verlöschen der Art«.148 Das Ende des Krieges 1918 gerät zum Umschlagspunkt für eine neue, schicksalsvolle Phase im zivilisatorischen Geschichtszyklus: An Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der Millionen wieder die Hunderttausende, aber eben damit wird dieses zweite Jahrhundert wirklich das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein der Heere ist kein Ersatz des Krieges. Sie sind für den Krieg da und sie wollen ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Wille stärker ist als der aller Ruhebedürftigen.149

Die Aktualität des Ersten Weltkriegs bedingt Spenglers Vorausschau auf die Potentialität eines zweiten, auch wenn die Konturen seiner dynamischen Form und willentlichen Ausprägung nicht vollends mit dem übereinstimmen, was ab 1933 tagespolitische Gegenwart sein wird. Zu kulturphilosophischen Spekulationen leitet das zirkuläre morphologische Geschichtsmodell offenbar noch eher an als ein lineares natürliches Entwicklungs-, Fortschritts- oder auch Schöpfungsmodell. Ungeachtet dessen ist aber auch das Untergangsprojekt mit Spenglers Darwin- und Darwinismus-Kritik angewiesen auf mindestens einen weltanschaulichen Kontrapunkt, um sich in der diskursiven Ordnung Immunität zu verschaffen. Insofern bewahrt der Weltanschauungsdiskurs, der bei Ostwald und Büchner über ein Basisnarrativ der Entropie begründet und erklärbar wird, seine permanente Umkehrbarkeit, weil die in ihm jeweils artikulierten Weltanschauungen sich in permanenten Selbstwiederholungen ihrer ›energetischen‹, evidentiellen Unumkehrbarkeit und argumentativen Unumstößlichkeit versichern. Im Zuge dessen werden immer neue dilatorische Einreden der Gegenseite herausgefordert – zumindest solange in der ›verdünnten Moderne‹ ein öffentliches metaphysisches Bedürfnis besteht, der gesellschaftlichen Zersprengung grundlegend entgegenzuwirken und nationale Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen. Der Weltanschauungsdiskurs gerät nach innen, hinsichtlich seiner Präsentationsverfahren und Autorisierungsstrategien in einen ganz eigenen ›Zustand ewiger Ruhe‹, der formal wenig Überraschendes produziert, obwohl er nach außen, Stil, Form, Haltung, Geschmack«. »Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist.« 147 Spengler : Untergang (Anm. 138), S. 1098. 148 Ebd., S. 591f. 149 Ebd., S. 1098.

Verdünnte Moderne

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hinsichtlich seiner publizistischen Aufmerksamkeitsgenese – die quantitativ durchaus gelingt, nimmt man die stets hohen Auflagenzahlen als Beleg – ständig um die Verteidigung einzelner Inhalte und Konzepte zu ringen hat und darüber Legitimation zu erlangen sucht. Die weltanschaulichen Materialschlachten ufern gegen und nach Kriegsende auch deshalb so aus, weil sich Weltanschauungen nicht widerlegen, sondern nur überbieten lassen. Vielleicht nicht größere, aber andere Darstellungsressourcen des Krieges kann allenfalls der literarische Diskurs nutzen: Romane, Tagebücher und Gedichte. Die werden nämlich auch von solchen Autoren verfasst, die die Welt nicht nur von der Heimat aus – von Jena bis Godesberg – anschauen, sondern im Weltkrieg die Kriegswelt mit den eigenen Augen gesehen und die Materialschlachten am eigenen Leib – in der Frontgemeinschaft – erfahren haben.

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Organische Konstruktionen. Kriegsdiskurs und Popularisierung im Umfeld der deutschen Lebenswissenschaften 1901–1926

Eine Kriegserklärung, das zeigt der August 1914, kann Begeisterung oder Ernüchterung, Ratlosigkeit oder Angst auslösen – in jedem Fall entsteht unmittelbar die Forderung nach öffentlicher Rechtfertigung und Reflexion. Moderne Gesellschaften, die in einen Krieg eintreten, werden schlagartig aus der Unübersichtlichkeit ihrer Selbstzuschreibungen gerissen und alle Kommunikation in ihr wird fortan an der Unterscheidung von Eigenem und Fremdem ausgerichtet sein. Ein Krieg ist im öffentlichen Raum nie nur als ein Thema unter anderen präsent. Viel grundlegender ist ein alle Diskurse ordnender Effekt, der, ähnlich dem eines Magnetfeldes, das Bedürfnis nach innerer Homogenität und scharfer Abgrenzung nach außen bedient und erzeugt. Die Regeln der kulturellen und nationalen Zugehörigkeit stehen zur Disposition und müssen erneut begründet oder nachträglich als gegebene erfunden werden. So kann man den Kriegsdiskurs in einem perfiden Sinne schöpferisch nennen, da er mit der Dauer und in Abhängigkeit von der äußeren Lage eine Fülle an semantischen Differenzen hervorbringt, die einen zuerst kleinen Konfliktherd bearbeiten, ausdehnen, weiter entfachen.1 Kriegsdiskurse sind in ihren Strategien der Politisierung hegemonial und invasiv. Sie verhängen über jedes gegenständliche Sprechen eine Tauglichkeitsprüfung, ob denn der Redegegenstand im Dienste der eigenen Sache eskaliert, im Wortsinne also gesteigert und verschärft werden kann – über Mittel der Einhegung und Rücknahme verfügen sie nicht.2 1 Vgl. Albrecht Koschorke: Wie werden aus Spannungen Differenzen? Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik. In: Heinz Fassmann, Wolfgang Müller-Funk u. Heidemarie Uhl (Hg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 271–285 und Gerd Nollmann: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation. Zur Konfliktsoziologie der modernen Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 212–230. 2 Der Begriff Kriegsdiskurs wird hier im Sinne von Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. Bielefeld: transcript 2013, S. 32 verwendet: »Krieg ohne den Diskurs aus Zeichen und Medien wäre kein Krieg, wäre nicht wirklich. Erst der Diskurs verleiht ihm Wirklichkeit. Er ist unter Einschluss von Technologie, Tod und anderen Realien eine Konstruktion, die aus Denken, Handeln, Imaginieren und kulturellen

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Die deutsche Ausprägung für den Ersten Weltkrieg lässt sich an den ›Ideen von 1914‹, jenes von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern breit getragene Konglomerat an Lagebestimmungen und Zukunftsentwürfen, studieren.3 Als Fixpunkte dienen die mythische Verklärung des Augusterlebnisses und der in den ersten Kriegsjahren von Parlament und Kaiser verordnete Burgfrieden.4 Schnell entstehen jene Bedürfnisse, die der Kriegsdiskurs zu befriedigen hat: Es gilt zu bestimmen, wer sich der nationalen Vereinigung, der Volksgemeinschaft oder dem Volksstaat zugehörig fühlen darf und in welcher Form sie, da die Trennung von Staat und Gesellschaft im eruptiven Erlebnis der deutschen Kollektivseele wohl hinfällig wird, als Sozialmodell auf Dauer gestellt werden können.5 Zudem bedarf der Krieg einer abgesicherten Sinnstiftung, die ihn als Wendepunkt der Nationalgeschichte begrüßt und als Chance auf die innere Einigung des Deutschen Reiches begreift. Die so erzeugte Erwartungshaltung – nach Matthias Schöning gleicht die narrative Struktur der ›Ideen‹ einem invertierten Tragödien-Schema – wirkt über das Ende des Kaiserreichs hinaus und mahnt in der Weimarer Republik zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.6 Es erscheint vergeblich, genauer nach dem Verhältnis zwischen Kriegsdiskurs und den Lebenswissenschaften zu fragen. Die dort erborgten Denkfiguren, Konzepte und Wissensbestände haben ihren systematischen Charakter verloren und sind allenfalls in jenen Elementen noch zu ermitteln, die im Prozess der mobilisierenden Steigerung zur Deutschtumsmetaphysik (Ulrich Sieg) eine gewisse Kenntlichkeit bewahrt haben. Wovon alle zu reden beginnen: Leben, Kampf, Entwicklung, Wachstum, Organisation und organische Gemeinschaft –

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Interaktionen zusammengefügt wird.« Umgekehrt verleiht erst die Kriegserklärung dem Diskurs seine hegemoniale Präsenz, was nicht ausschließt, dass er schon in Friedenszeiten etabliert ist und über den Krieg hinaus wirksam bleibt. Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Akademie 2003 hat das in Aufrufen, Eingaben und Einzelschriften implizierte Weltbild, das Selbst- und Feindbild und das Zukunftsbild auf breiter Materialbasis untersucht. Vgl. zum 1. August Jeffrey Verhey : Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Engl. von Jürgen Bauer u. Edith Nerke. Hamburg: Hamburger Ed. 2002, S. 116–125. Vgl. Steffen Bruendel: Die Geburt der ›Volksgemeinschaft‹ aus dem ›Geist von 1914‹. Entstehung und Wandel eines ›sozialistischen‹ Gesellschaftsentwurfs. In: Zeitgeschichte-online. Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs. Mai 2004. Abrufbar unter http://www.zeitgeschichte-online.de/md=EWK-Bruendel (Stand: 28. 7. 2014). Vgl. Matthias Schöning: Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der ›Ideen von 1914‹. In: Natalia Borissova (Hg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2009, S. 41–57, hier S. 43. Vgl. auch Klaus Vondung: Deutsche Apokalypse 1914. In: Ders.: Das wilhelminische Bürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 153–171.

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und das unter Bedingungen, die Verstehen und Missverstehen ganz zweitrangig werden lassen –, da ist die kriegerisch beseelte Rede nicht mehr auf einen Ursprungskontext abzubilden.7 Die nationale Anverwandlung alles Wissenschaftlichen wird zudem massiv eingefordert, da das Selbstverständnis des Kaiserreichs als Kulturnation längst eng auf den Fortschritt der deutschen Wissenschaft und ihren Führungsanspruch in den Naturwissenschaften bezogen ist. Für Helmuth Plessner schlägt die ›Stunde der autoritären Biologie‹ bereits zur Reichsgründung. Als Vertreterin des »Spezialismus« sollte es ihr zukommen, einer Traditionslosigkeit Abhilfe zu schaffen, die »gewisse Neulandhaftigkeit Deutschlands« mit positivistischen Grundlagen zu versehen, da die Philosophie ihre Berufung für den bürgerlichen Geist verloren hat.8 Das hilft verstehen, welchen Stellenwert die Biologie in der populären Öffentlichkeit einnehmen und wie sie der ›Entdeckung‹ deutschen Wesens vorarbeiten kann: Statt eines idealen, obzwar fiktiven Ursprungs, welchen die Rechtsexistenz dem Menschen in seiner Freiheit verleiht, sind [die Deutschen] auf der Suche nach einem realen, obzwar mythischen Anfang ihrer geschichtlichen Existenz, der sich im Dunkel unergründlicher Vorzeit verliert. Deutsches Staatsbewußtsein sucht sich in der Geschichte zu verankern, in einer Perspektive auf die realen Anfänge, aber als Ankergrund bietet sich immer wieder nur naturhafte Ursprünglichkeit.9

Der emphatisch besetzte Naturgrund schließt ein, so Plessner, »daß der Zug in aller Entwicklung sich nicht im Nutzeffekt ihrer Ergebnisse erschöpft, weder biologisch in der Stufenleiter der Pflanzen und Tiere, noch geistig in der Entwicklungsgeschichte der Völker und ihrer Kulturen.« So führt die nationale Selbstversicherung dazu, dass »der Evolutionismus größere Freiheit in der Wahl seiner Maßstäbe« gewinnt und seine Zuständigkeit von selbst weit ins Politische ausdehnt.10 Plessner hat mit der ›autoritären Biologie‹ – 1935 im Exil in Groningen schreibend – die Folgen der radikalen Politisierung scharf im Blick und versteht implizit den Ersten Weltkrieg als deren erste Bewährung.11 In den 7 Es sei denn, man erweitert den zeitlichen Horizont nach vorn, isoliert einzelne Akteure des Diskurses und verfolgt ihren individuellen ›Weg‹ in den Krieg. Vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: WBG 2000. 8 Vgl. Helmuth Plessner : Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes [1935/1959]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 7–223, bes. S. 162–184, Zitat S. 106. 9 Ebd., S. 71. 10 Ebd., S. 111. 11 Vgl. Plessners verschärfte Gegenwartsdiagnose ebd., S. 163: »[Im 19. Jahrhundert] standen die Fortschrittskonstruktionen des Positivismus, der Darwinismus, die Entwicklungslehre in Blüte. Der Spezialismus hat auch hier die vorschnellen Dogmen aufgelöst und offene, fragmentarische Tatsachenreihen an Stelle schöner systematischer Erklärungen gebracht. Jetzt bilden Vererbungslehre und Rassenbiologie, Prähistorie und Anthropologie einen Mittelpunkt, zumal das pessimistische Lebensgefühl einer sterbenden Intelligenzschicht den

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Vorkriegsjahrzehnten gipfelt sie im plastischen Deutungsmuster vom ›Kampf ums Dasein‹, das besonders der Alldeutsche Verband aufzugreifen und in ›völkisch-darwinistischen Kriegslehren‹ zu funktionalisieren wusste. Hier scheint die Biologie in der Tat am deutlichsten verstrickt in ein politisches Programm, das sich im Zeichen von Homogenität, Macht und Effizienz einem »nationaldarwinistischen Welt- und Geschichtsbild« verpflichtet und in Erwartung des Krieges die Überwindung des Kaiserreichs in territorialer und sozialer Hinsicht zum Ziel hat.12 Sieht man die Biologie um 1900 genauer an, ist sie von einer klaren ideologischen Prägung weit entfernt – ihre Grenzen sind unscharf und die Lage äußerst komplex. Um Bezugspunkte zum Kriegsdiskurs und den ›Ideen von 1914‹ herauszuarbeiten, um Möglichkeiten und Grenzen der Politisierbarkeit lebenswissenschaftlichen Wissens näherungsweise zu bestimmen, wird im Folgenden eine Reihe von Aufsätzen, Vorträgen, Vorlesungen und Schriften herangezogen, die von naturwissenschaftlich geschulten Autoren der Biologie (Universitätsprofessoren, Ärzten, Semi-Professionellen und Gymnasiallehrern) verfasst wurden. Sie wenden sich mehrheitlich an ein nichtfachwissenschaftliches Publikum und erheben den Anspruch, die Legitimation für ihre Aussagen direkt aus der Wissenschaft zu beziehen. Zwei grundlegende, die Lage der Biologie um 1900 kennzeichnende Diskursstränge, der Darwinismus einerseits und die Rede von Organismus und Organisation andererseits, sollen vorab bedacht werden. Erstens spielt der Darwinismus unverkennbar eine Rolle – dies aber in populärer Form und als Gegenstand der wissenschaftlichen Theoriebildung. Der populäre Darwinismus ist ein dominantes Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gehört selbst wiederum in den größeren, früher einsetzenden Kontext der Wissenschaftspopularisierung.13 Der in Darwins Hauptwerk On the Origin of Species (1859) eingeführte ›Kampf ums Dasein‹ ist um 1900 zur entgrenzten Metapher geworden und das Ergebnis einer spezifischen, von Ernst Haeckel angestoßenen Rezeption in Deutschland, die die Theorie unterschiedlichen Auslegungsbedürfnissen unterwirft, sie willkürlich und unwillkürlich missversteht und das Werk den auch sonst wertgeschätzten Kulturgütern und dekadenzbiologischen Gedankengängen Gobineaus und seiner Nachfolger den günstigen Boden bereitet.« 12 Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 93 u. 304–342, Zitat S. 305. Zu den ›Kriegslehren‹ vgl. Thomas Lindemann: Die Macht der Perzeptionen und Perzeptionen von Mächten. Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 57–68. 13 Vgl. Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg 1998; Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). Stuttgart: Steiner 1999.

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Leitdiskursen synkretistisch anverwandelt.14 An der Popularisierung sind Wissenschaftler und eine Vielzahl anderer Akteure auf dem Publikationsmarkt beteiligt. Die jeweils aktuelle Verwendungsweise und weltanschauliche Attraktivität Darwins unterliegen beträchtlichen Schwankungen, so dass die politischsoziale Rezeption in mehrere Hauptströmungen gegliedert werden kann.15 Der Darwinismus geht erst ab 1890 unter Einfluss der Rassenanthropologie und -hygiene in den Sozialdarwinismus im engeren Sinne über, der Darwins Vokabular nicht wie in der Frühphase im humanistischen, bürgerlich-fortschrittlichen Sinne auswertet, sondern die ethischen Konsequenzen ›sorgfältiger‹ instrumentalisiert und auf das Selektionstheorem zuspitzt, um es in eine ›praktische Politik‹ der Auslese zu überführen.16 Davon zu trennen ist ein Sozialdarwinismus im weiten Sinne, der allgemein die Übertragung biologischer Konzepte auf das Soziale meint und maßgeblich auf Herbert Spencer zurückgeht, der bekanntlich vor Darwin die Ausdrücke struggle for existence und survival of the fittest »von Anfang an mit Bezug auf die Entwicklung und Fortbildung der menschlichen Gesellschaft formuliert hat«.17 Der populäre Darwinismus täuscht oft über die Tatsache hinweg, dass die Aufnahme der Theorie unter Wissenschaftlern alles andere als euphorisch und einhellig, sondern eher verhalten gewesen ist.18 Vor dem Hintergrund einer Fülle an Evolutionstheorien, die im 19. Jahrhundert eigene Konjunkturen und Ursprünge in diversen Wissenschaftskulturen haben, ist sie nur eine Variante,

14 Vgl. vor allem Philip Ajouri: Goethe, Darwin, Haeckel. Zur Denkfigur des Consensus in der deutschen Darwin-Rezeption des 19. Jahrhunderts. In: Iwan-Micheangelo D’Aprile (Hg.): Aufklärung, Evolution, Globalgeschichte. Hannover : Wehrhahn 2010, S. 131–154; Michael Weingarten: Von Darwins Evolutionstheorie zum Darwinismus. In: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Der Darwinismus-Streit. Hamburg: Meiner 2007, S. 83–105; EveMarie Engels: Darwins Popularität im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Die Herausbildung der Biologie als Leitwissenschaft. In: Achim Barsch u. Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 91–145. 15 Vgl. Kurt Bayertz: Darwinismus als Politik. Zur Genese des Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900. In: Erna Aescht (Hg.): Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel – Werk, Wirkung und Folgen. Ausstellung im Schloßmuseum Linz vom 13. Oktober 1998 bis 6. April 1999. Linz: OÖ. Landesmuseum 1998, S. 229–288. Eine instruktive Vergleichsperspektive zwischen Deutschland und Großbritannien eröffnet Gregory Moore: Darwinism and National Identity, 1870–1918. In: Fred Bridgham (Hg.): The First World War as a clash of cultures. Columbia: Camden House 2006, S. 167–182. 16 Vgl. Bayertz: Darwinismus als Politik (Anm. 15), S. 265–281. 17 Peter-Ulrich Merz-Benz: Soziologie und Sozialwissenschaften. In: Philipp Sarasin u. Marianne Sommer (Hg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar : Metzler 2010, S. 313–326, hier S. 314. 18 Vgl. dazu grundlegend Peter J. Bowler : The Non-Darwinian Revolution: Reinterpreting a Historical Myth. Baltimore, London: Johns Hopkins UP 1988.

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Entstehung und Entwicklung biologischer Arten zu denken.19 Zudem nimmt sie frühere Konzepte von Evolution auf, u. a. Vorstellungen von Lamarck, und sie besteht aus einer Verbindung einzelner Theorieelemente, was sich in Bezeichnungen wie Transmutations-, Abstammungs- oder Selektionstheorie widerspiegelt.20 Nicht einfacher wird die Lage dadurch, dass die Biologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als ein Gefüge von Einzeldisziplinen ohne integrierenden Diskurs zu gelten hat, weshalb für diesen Aspekt der Ausdruck Lebenswissenschaften treffender ist. Die Institutionalisierung der Biologie als Fach – seit um 1800 gibt es sie als Wissenschaft vom Leben – wird durch die Theoretische Biologie und die Synthetische Theorie der Evolution in den 1930er und 1940er Jahren maßgeblich von Theodor Dobzhansky vorangetrieben, da erst dann die Ergebnisse vieler Disziplinen, vor allem Genetik und Populationsforschung, später Ökologie, Ethologie und Paläontologie, zusammengeführt werden können.21 Für den hier entwickelten Zusammenhang fallen im Rückblick die Jahrhundertwende und der Erste Weltkrieg in eine epistemologisch offene Situation, in der Darwins Theorie und jede andere Evolutionstheorie je nach den Arbeitsund Problemkontexten der biologischen Einzeldisziplinen verschieden ausgewertet wird. Das Fehlen eines Theoriediskurses trägt dazu bei, dass man klare Grenzen zwischen der Wissenschaft und dem Populären nicht ausmachen kann und auf graduelle Einschätzungen angewiesen ist. Selbst der Wissenschaftler muss zur Popularisierung greifen, wenn er über sein Fachgebiet hinaus anderen Kollegen verständlich sein will.22 Der zweite wichtige Diskursstrang ist die Rede von Organismus und Organisation, die einer bis in die Antike zurückreichenden Begriffs- und Meta19 Vgl. Eve-Marie Engels (Hg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995; Rainer Brömer (Hg.): Evolutionsbiologie von Darwin bis heute. Berlin: VWB 2000. 20 Vgl. Eve-Marie Engels: Charles Darwin. München: C. H. Beck 2007, S. 91–111; Ernst Mayr : Konzepte der Biologie. Aus dem Engl. von Susanne Warmuth. Stuttgart: Hirzel 2005, S. 113–130. 21 Vgl. Konrad Senglaub: Neue Auseinandersetzungen mit dem Darwinismus. In: Ilse Jahn (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiografien. Unter Mitw. von Erika Krauße. 3. neu bearb. u. erw. Aufl. Sonderausg. Hamburg: Nikol 2004, S. 558–579, hier S. 571–579 und Manfred D. Laubichler : Mit oder ohne Darwin? Die Bedeutung der darwinschen Selektionstheorie in der Konzeption der Theoretischen Biologie in Deutschland von 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg. In: Uwe Hoßfeld u. Rainer Brömer (Hg.): Darwinismus und/als Ideologie. Berlin: VWB 2001, S. 229–262. Als Begründer der Theoretischen Biologie gelten u. a. Johannes Reinke und Jakob von Uexküll. 22 Rudolf Stichweh: Die vielfältigen Publika der Wissenschaft: Inklusion und Popularisierung. In: Ders.: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2005, S. 95–111, hier S. 100f. unterscheidet vier Modi der Popularisierung. Zur Notwendigkeit der Popularisierung für die Durchsetzung institutioneller Ziele vgl. Timothy Lenoir : Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich. Aus dem Engl. von Horst Brühmann. Frankfurt/M., New York: Campus 1992.

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pherngeschichte angehören; sie umfasst Philosophie, Theologie, Staatstheorie, Sozial-, und Lebenswissenschaften.23 In der Biologie werden beide Termini gegen Ende des 18. Jahrhunderts zentral, ändern aber im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung ab, erstens zueinander, und zweitens in Bezug auf das Leben oder Lebewesen. Nach Georg Toepfer steht Organismus nach 1800 emphatisch erstmals nur noch für das einzelne, individuelle Lebewesen und bleibt ab Mitte des Jahrhunderts semantisch darauf fixiert, während Organisation – vereinfacht gesagt – ein Leitbegriff für das Interesse an Prozessen, Strukturen und Funktionen des Lebens darstellt. Kant beispielsweise betont die autonome Selbstorganisation der Lebewesen und die Physiologie beobachtet die zweckmäßig organisierte Wechselwirkung der Teile für das Ganze im lebenden System.24 Ab ca. 1850 sind eine große Ausweitung des Bedeutungshorizonts von Organisation und eine Akzeptanz des Begriffs in vielen anderen Wissenschaftszweigen festzustellen. Im gleichen Zeitraum bildet der Organismus eine zentrale Metapher des politischen Imaginären, das auf die Biologie natürlich nicht beschränkt ist. Die Metapher bündelt seit der Antike auf den Körper bezogene Vorstellungen von Vergesellschaftung und vom Gemeinwesen (etwa des Staates) und sie wird gemeinhin der Fiktion einer künstlich von Menschen durch Vertrag hergestellten Gesellschaft gegenübergestellt.25 Davon bleiben umgekehrt jedoch die Lebenswissenschaften nicht unbeeinflusst, so dass Organismus-Konzepte noch lange in Anlehnung an aktuelle und ideale politische Verfassungen von Staat und Gesellschaft formuliert werden. Greifbar ist das besonders an Hand der Rezeption von Rudolf Virchows Modell des Zellenstaates seit Mitte des 19. Jahrhunderts, wo der physische und der politische Körper im Beschreibungsregister des Or23 Vgl. nur Ernst-Wolfgang Böckenförde u. Gerhard Dohrn-van Rossum: Art. »Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper«. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart: Klett 1978, S. 519–622; Dankmar Ambros: Über Wesen und Formen organischer Gesellschaftsauffassung. In: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 14 (1963), S. 14–32; Ahlrich Meyer: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 128–199; Georg Toepfer : Art. »Organismus«. In: Ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. Bd. 2. Lizenzausgabe. Darmstadt: WBG 2011, S. 777–842. 24 Vgl. Georg Toepfer : ›Organisation‹ und ›Organismus‹ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wortfamilie seit dem 17. Jahrhundert. In: Michael Eggers u. Matthias Rothe (Hg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld: transcript 2009, S. 83–106, hier S. 93–100. 25 Vgl. Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank u. Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/ M.: Fischer 2007 und Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München: Fink 2004.

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ganischen füreinander einstehen.26 In Soziologie und Nationalökonomie gilt hingegen ein zu strenger und wirklichkeitsfremder Organizismus, der an Hand von Analogien eine komplette soziale Physiologie des Staatskörpers entwerfen will, bereits zum Ende des Jahrhunderts nicht mehr als wissenschaftsfähig.27 Im Horizont des Ersten Weltkriegs und der ›Ideen von 1914‹, die die Volksgemeinschaft oder den Volksstaat zu verwirklichen streben, entstehen interessante, weil ungleichzeitige Konstellationen. Im Krieg werden politische Organismus-Metaphern älteren und anderen Ursprungs selbstverständlich ebenso aktiviert, etwa die verfassungspolitische Analogie vom Staat als geistig-sittlichem Organismus, der mit seiner zweckmäßigen Einrichtung für die Erhaltung, Ausbildung und Fortpflanzung des Volkes sorgt, oder der Organismusbegriff der Politischen Romantik bei Fichte oder Schelling, der eine naturhaft gewachsene, gegliederte Ganzheit betont und einen starken naturphilosophischen Rückhalt aufweist.28 So erwächst um den Organismus von verschiedenen Quellen her eine politische Aura, und in diese Emphase für das einheitliche, lebendige Ganze – es sei der Staat oder das deutsche Heer –, können Biologen im Krieg gewiss einstimmen. Ihre Fachexpertise, die sie häufig kalkulierter einsetzen, wird allerdings viel eher sichtbar an Konzepten und Argumenten, die die aktuell erforschte biologische Organisation des Lebens für vorbildlich erklären wollen, um aus ihr und der biologischen Theorie Richtlinien und Ziele zur Gestaltung abzuleiten, ja um überhaupt erst die Dimension der Gestaltbarkeit des Politischen festzulegen. Aufgrund dieser doppelten Gemengelage sind feste Interdependenzen zwischen der Wissenschaft, ihrer öffentlich-populären Seite und dem Kriegsdiskurs nicht zu erwarten. Trotzdem ist es legitim, in begründeten Perspektiven zu fragen, inwiefern lebenswissenschaftliche Diskurse in der Vorkriegszeit an der Entstehung von Ressourcen und Legitimationsräumen beteiligt waren, die politisch wirksam werden. Die Art des Fragens zielt nicht darauf ab, (populär)wissenschaftliche Einzelakteure zu identifizieren, ihre Geneigtheit zum patriotischen Bekenntnis zu beurteilen oder gar eine Mitverantwortung von Wissenschaftlern festzustellen. Stattdessen gilt es zu erörtern, warum Denkfiguren, Konzepte und Wissensbestände einerseits offenbar recht einfach politisierbar 26 Vgl. die wichtige, über Virchow hinausgehende Studie von Eva Johach: Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie. Freiburg/Br.: Rombach 2008. 27 Zu beobachten ist das etwa daran, dass ein wichtiger Vertreter des Organizismus in der frühen Soziologie, Albert Schäffle, im Vorwort zur zweiten Auflage seines Hauptwerkes der Kritik entgegenkommt, indem er die biologische Analogiebildung abschwächt und sie nur noch als »Mittel der Veranschaulichung« gelten lassen will (Albert Schäffle: Bau und Leben des Socialen Körpers. 2. Aufl. Tübingen: Laupp 1896, S. V). 28 Vgl. Ambros: Wesen und Formen (Anm. 23), S. 20–23 sowie Böckenförde u. Dohrn-van Rossum: Organ, Organismus (Anm. 23), S. 589–606.

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sind, und wo andererseits auch Grenzen der Übertragbarkeit in der Biologie selbst markiert werden. Es ist von Vorteil, mit einer charakteristischen Wende, dem sogenannten Antidarwinismus (1.) zu beginnen. Obwohl der Darwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungebrochen populär ist, gerät Darwins Theorie um 1900 noch einmal heftig in die Kritik. Im letzten Vorkriegsjahrzehnt arbeitet eine größer werdende Zahl an Wissenschaftlern und Popularisierern an der endgültigen Widerlegung. Wer vorgibt, die Forschung für die Öffentlichkeit zu referieren und politisch zu deuten, hat den veränderten Diskussionstand zur Evolution – bestimmend bleibt er auch für den Kriegsdiskurs – zu berücksichtigen. Zweitens lohnt ein Blick auf Texte, die Krieg und Biologie in Kriegsbiologien (2.) eng miteinander verbinden. Wie sich zeigt, reichen darwinistische Schlagworte allein dazu nicht aus. Texte dieser Art entwickeln aufwändige Konstrukte aus Theorieelementen und Mythologemen, um den Krieg naturgesetzlich zu rechtfertigen und seine Zugehörigkeit zu den Kulturphänomenen zu bestreiten. Drittens versuchen Biologen im und nach dem Weltkrieg den Staat als Organismus (3.) zu entwerfen, um Konsequenzen für den Aufbau der Nachkriegsgesellschaft zu ziehen. Sie reagieren mit Verzögerung auf den Kriegsausbruch und machen vom Standpunkt ihrer Disziplin Vorschläge zur staatlichen Organisation. Abschließend soll skizziert werden, welche Beiträge zur politischen Diskussion (4.) im Rahmen der ›Ideen von 1914‹ und ihrer Nachgeschichte diese (populär)wissenschaftlichen Texte aus dem Umfeld der Lebenswissenschaften leisten, oder besser : leisten wollen.

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Antidarwinismus

Im Bereich des populären Darwinismus zeichnet sich um 1900 ein Wandel ab. Hatte zuvor Ernst Haeckel das Feld weitgehend für sich behauptet und den Darwinismus in einer weltanschaulich-monistischen Variante als Ergebnis seriöser Naturwissenschaft dargestellt,29 treten nun Biologen hervor, die Protest einlegen. Als einer der ersten meldet sich 1901 der Zoologe Albert Fleischmann (1862–1942) zu Wort und legt dar, warum der Darwinismus nicht als Hypothese ernst genommen werden sollte, sondern in den Bereich des Mythos gehört.30 29 Zu Position und Methodik des Monismus in der Wissenschaftslandschaft um 1900 vgl. Olaf Breidbach: Alle für Eines. Der Monismus als wissenschaftsgeschichtliches Problem. In: Paul Ziche (Hg.): Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung. Berlin: VWB 2000, S. 9–22. 30 Vgl. Albert Fleischmann: Die Descendenztheorie. Gemeinverständliche Vorlesungen über den Auf- und Niedergang einer naturwissenschaftlichen Hypothese. Leipzig: Georgi 1901, S. III–VI. Grundlegend zur epistemologischen Situation vgl. Peter J. Bowler : The Eclipse of

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Seine Vorlesungen steigern ihre Wirksamkeit durch den Charakter einer conversio, denn der Verfasser hatte die Deszendenzlehre früher selbst vertreten. Neben der Zurückweisung von Haeckels Übertreibungen31 konzentriert sich die Argumentation auf die anatomischen Baupläne der Tiere und die Vorhersage Darwins, dass künftige Fossilienfunde als missing links interpretierbar wären und demgemäß die Unterschiede zwischen Tierstämmen das Ergebnis der natürlichen Zuchtwahl sind. Das aber sei nicht der Fall, so Fleischmann, denn Darwin begehe logische Fehler und argumentiere außerhalb der exakten Wissenschaften. Die paläontologischen Funde zeigten im Gegenteil eine konstante »tierische Stilistik«, die der Veränderlichkeit Grenzen setze. Man habe alle Organismen nur in wenige »Formenkreise« oder Typen einzuteilen, die nicht miteinander verwandt sind.32 Das Beweismaterial (z. B. für die »Entwicklung des Flossenskeletts«) sei oft unvollständig.33 Fleischmann setzt hier wissenschaftliche Redlichkeit mit der Selbstbeschränkung auf die exakte morphologische Beschreibung gleich und verbannt jede Art theoretischer Anstrengung aus der Biologie, ein radikaler Standpunkt. Ihm gelten alle Abstammungslehren als widerlegt, was Darwin und andere rückwirkend zu Naturphilosophen stempelt. Vielen Vertretern des Antidarwinismus liegt daran, mit ihren Positionen in der Wissenschaftsgeschichte der Biologie eine deutliche Zäsur zu markieren. Etwas anders fällt die Kritik bei Eberhard Dennert (1861–1942) aus, der in Anlehnung an Ludwig Büchner vom Sterbelager des Darwinismus spricht.34 Dennert gibt sich die Rolle eines seriösen Berichterstatters und referiert im Dienste der wissenschaftlichen Wahrheit Fachpublikationen. Der Darwinismus wird auf Kernthesen zurückgeführt und Punkt für Punkt zurückgewiesen. Wie Fleischmann wendet sich der Autor gegen Lehrstuhlinhaber, die noch auf Darwin vertrauen – und gegen Haeckel.35 Dennert sieht im Selektionstheorem den

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Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900. Baltimore, London: Johns Hopkins UP 1983 und Senglaub: Neue Auseinandersetzungen (Anm. 21). Vgl. das Kapitel »Der Entwicklungsgedanke und die logischen Gesetze« bei Fleischmann: Descendenztheorie (Anm. 30), S. 253–274, das gezielt Haeckels Fachpublikationen den populären Schriften gegenüberstellt und aufzeigt, dass in der Übertragung von einem ins andere aus Hypothesen plötzlich verlässliches Wissen wird. Ebd., S. 19 u. 27. Ebd., S. 60. Vgl. zur Biographie Olaf Selle: Antidarwinismus und Biologismus. Naturwissenschaft, Weltanschauung und Politik im Werk Eberhard Dennerts (1861–1942). Husum: Matthiesen 1986, S. 9–24. In der weltanschaulichen Kontroverse mit dem Monismus ist Dennert später als Vorsitzender des christlich orientierten Keplerbundes an einer »Ebene allgemeiner Reflexion über die Naturwissenschaften« interessiert, bemüht sich also deutlicher als die Monisten um eine Differenzierung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Vgl. Paul Ziche: Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Differenzen monistischer und antimonistischer Bewegungen. In: Klaus-Michael Kodalle (Hg.): Angst vor der Moderne. Phi-

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Inbegriff des Darwinismus, nicht in der Abstammungshypothese. Die Evolution vollziehe sich bei Darwin ohne Plan und Ziel in reiner Zufälligkeit. Der treibende Faktor sei »der Egoismus, ein erbitterter Kampf aller gegen alle«,36 und die Stellung des Menschen im Kosmos sei als ein höher entwickeltes Tier keine besondere. Das Beweisziel besteht in der Umkehrung und behält die Verträglichkeit mit dem Christentum im Auge: Entwicklungsvorgänge besäßen Plan und Ziel, Zufall und Regellosigkeit gebe es in der Natur nicht. Egoismus, Kampf oder Auslese spielten eine marginale Rolle, während die »genossenschaftliche[] und harmonische[] Verknüpfung aller Naturwesen« die Regel ausmache.37 Die Schrift soll durch viele Belegstellen den Nachweis erbringen, dass all diejenigen Forschungsergebnisse, die den modernen experimentellen Standards genügen, in neue Richtungen weisen und andere Interpretationen erfordern. Eine solche bietet z. B. der Tübinger Zoologe Theodor Eimer (1843–1898) an, dessen Orthogenesis-Theorie zwar äußere Umwelteinflüsse anerkennt, für die Evolution aber Entwicklungsgesetze verantwortlich macht, die im Inneren des Organismus lokalisiert sind.38 Eimer gehört zu den positiv Evaluierten, obwohl auch Defizite ausgemacht werden: Klima, Nahrung u. s. w. wirken […] auf den inneren Bau, auf das Plasma ein, ändern dasselbe und veranlassen so die Variation, die sich dann auf die Nachkommen vererbt. So wichtig auch diese Beeinflussung durch die Außenwelt ist, so scheint Eimer sie mir doch zu hoch zu werten. Eigentlich hätte die Analogie des Wachsens Eimer doch auf das richtige Verhältnis zwischen »inneren« und »äußeren« Ursachen bringen sollen: Wärme, Luft, Licht, Feuchtigkeit, Nahrung u. s. w. sind allerdings notwendige Faktoren beim Wachstumsvorgang, allein sie sind nur die auslösenden Bedingungen, nie und nimmer die veranlassenden Ursachen; letztere liegen in dem betreffenden Wesen selbst.39

Gestärkt wird in der populären Zuspitzung ein Eigenrecht des Organismus, der den Zeitpunkt des Wachstums und den Weg der evolutiven Entwicklung selbst bestimmt, ohne dass für die weitreichende These experimentelle Belege genannt werden. Besser aber ist es, das Feld des Nichtwissens einzunehmen, um es der

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losophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900–1940. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 63–87, hier S. 81. Eine Übersicht bietet Heiko Weber: Monistische und antimonistische Weltanschauung. Eine Auswahlbibliographie. Berlin: VWB 2000. Eberhard Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus. Ein Bericht. Stuttgart: Kielmann 1903, S. 7. Ebd., S. 8. Zur Orthogenesis und zum Neolamarckismus vgl. Bowler : Eclipse (Anm. 30), S. 141–181 u. 58–106. Eine konzise Darstellung zum Antidarwinismus und zu alternativen Evolutionstheorien findet sich bei Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Bd. 1: 1905–1920. Göttingen: Wallstein 2011, S. 240–254. Dennert: Sterbelager (Anm. 36), S. 42.

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Gegenseite nicht preiszugeben: »Die rohe und ziellose Manier der darwinistischen Auslese, die ja unbedingt mit dem ›Zufall‹ operieren muß, wird nie und nimmer die Vervollkommnung erklären, sie bleibt unter ihrer Hand eines der größten Rätsel der Natur.«40 Eine differenzierte Diskussionslage wird auf klare Fronten gebracht und 1910 spitzt Dennert seine Überzeugung für den Keplerbund weiter zu. Unter dem Einfluss des Neovitalismus von Hans Driesch soll die Evolution jetzt ausschließlich am Paradigma der Ei-Entwicklung (Epigenese) erforscht werden, um universell gültige Gesetze zu entdecken. Die äußeren Faktoren finden schon keine Erwähnung mehr : Die lebende Substanz enthält in sich die Möglichkeit zu[r] […] Umgestaltung, ja, nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Nötigung. In dieser Gesetzmäßigkeit des auf einen Zweck hinzielenden Entwicklungsganges liegt das begründet, was ich als Absicht zu bezeichnen mich berechtigt fühle. In der lebenden, sich entwickelnden Substanz wird diese Absicht selbstverständlich völlig unbewußt verfolgt, vorhanden ist sie aber deshalb doch, wie es der Erfolg zeigt, so daß wir also auch in diesem Sinne sehr wohl von einer zweckmäßigen, d. h. also von einer absichtsvollen Bewirkung in der Welt der Lebewesen bei ihrer Entwicklung reden dürfen.41

Damit ist in der Sache eine wirkungsvoll einfache und bekannte Gegenüberstellung erreicht, die anschlussfähig ist: Der zweckmäßige Organismus steht dem zufälligen Mechanismus entgegen.42 Die Selektion ist mechanisch, da sie nur »eine Verminderung einer fertigen Flora oder Fauna [erzielt], aber nicht die Erzeugung einer andern Form.«43 Darwins komplexes Bedingungsverhältnis zwischen Umweltfaktoren und den Merkmalen des Organismus, der sich diesen Faktoren anzupassen versucht, wird reduziert auf ein nur auszulösendes, schöpferisches Entwicklungsprogramm und verknüpft mit zweckmäßigem Verhalten, das auf die Nachkommen übergeht. Die Popularisierungsstrategie des Antidarwinismus setzt auf Harmonisierung und nimmt bereitwillig jene früheren Organismus-Vorstellungen in sich auf, die den Begriff auf individuelle natürliche Lebewesen und, in philosophischer Hinsicht, auf Subjekte bezogen 40 Ebd., S. 44. 41 Eberhard Dennert: Die Entwicklung, ihr Wesen und ihre Erforschung. Godesberg b. Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1910, S. 69. 42 Für eine wissenschaftlich-differenzierte Betrachtung des Gegensatzes, die auch die Entwicklungsmechanik von Wilhelm Roux einbezieht vgl. Oscar Hertwig: Zeit- und Streitfragen der Biologie. Bd. 2: Mechanik und Biologie. Mit einem Anhang: Kritische Bemerkungen zu den entwicklungsmechanischen Naturgesetzen von Roux. Jena: Fischer 1897. Zu den Positionen von Roux, Hertwig und Driesch zur Frage, ob von der Epigenese auf den Neovitalismus geschlossen werden kann, vgl. Lynn K. Hart: Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800–1900. Chicago, London: Chicago UP 1995, S. 288–298. 43 Dennert: Sterbelager (Anm. 36), S. 15. In der Konsequenz bedeutet das: »Die Transmutation ist […] einfach ein physiologischer Vorgang, phyletisches Wachsen.« (Ebd., S. 40).

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hat.44 Man kann davon sprechen, dass der populäre Darwinismus um 1900 zunehmend von einem populären Neolamarckismus unter Druck gesetzt wird, der die Phylogenie der Organismen als selbstbestimmte Entwicklung durch Wachstum begreift und einen ›neuen Kurs‹ in der Biologie etablieren will.45 Um die Widerlegung Darwins zu komplettieren, reflektieren die SterbelagerBerichte den Ort des eigenen Sprechens, die Unterscheidung von Wissenschaft und Populärwissenschaft. Dazu erklärt Dennert, wie die wissenschaftliche Forschung funktioniert. Da jede Hypothese eine begrenzte Lebensdauer habe, komme der Darwinismus jetzt an das Ende seiner Entwicklung. Löste Darwin unter jungen Forschern im ›Anfangsstadium‹ eine rauschhafte Begeisterung aus, die das Urteilsvermögen trübt, befinde man sich eine Generation später vor dem Eintritt in das ›Schlußstadium‹, für das der Autor manifeste Zeichen erblickt:46 Die letzten Anhänger der »neuen Lehre« sind tot oder wenigstens alt und nicht mehr maßgebend, sie sitzen auf den Trümmern einer Herrlichkeit, die nun schon der »guten alten Zeit« angehört. Die maßgebenden führenden Persönlichkeiten sind über jene einst so stolze und unbesiegbar erscheinende Lehre zur Tagesordnung übergegangen und der jüngeren Generation erscheint dieselbe nur noch als interessante Episode in der Geschichte der Wissenschaft.47

Indem Dennert dem Leser den Vorschlag macht, am Maß der populären Agitation durch die Darwinisten die wissenschaftliche Geltung zu ermessen, erscheinen die Berichte aus dem Inneren der Forschung seriöser – und bei einer kleinen Zahl an Gegnern mutiger.48 Fleischmann sekundiert entsprechend: »Die Zahl der offenen Gegner wird sich steigern, sobald der Terrorismus der phylogenetischen Schule noch mehr gebrochen ist.«49 44 Vgl. Toepfer : Organismus (Anm. 23), S. 794f. 45 Illustriert wird dadurch, dass Theorie und politische Präferenz unabhängig voneinander sind. Mit der Wachstums-Hypothese drängen zudem theistische Positionen in die Wissenschaft zurück. Vgl. Bowler : Non-Darwinian Revolution (Anm. 18), S. 90–104 u. 155. Zum Neolamarckismus vgl. Adolf Wagner : Der neue Kurs in der Biologie. Allgemeine Erörterungen zur prinzipiellen Rechtfertigung der Lamarckschen Entwicklungslehre. Stuttgart: Kosmos 1907 und August Pauly : Darwinismus und Lamarckismus. Entwurf einer psychophysiologischen Teleologie. Mit 18 Textfiguren. München: Reinhardt 1905. Für eine synkretistische Alternative vgl. Hermann Friedmann: Die Konvergenz der Organismen. Eine empirisch begründete Theorie als Ersatz für die Abstammungslehre. Berlin: Paetel 1904. 46 Vgl. Dennert: Sterbelager (Anm. 36), S. 16–18. 47 Ebd., S. 17. Bewusst wird mit der Ironie der Geschichte gespielt, dass der Darwinismus früher gegen religiöse ›Dunkelmänner‹ zu Felde zog, jetzt aber selbst auf den »Marktplatz der Weltanschauungen« gehöre (ebd., S. 74). 48 Vgl. ebd., S. 55–64 u. 76. 49 Fleischmann: Descendenztheorie (Anm. 30), S. 251. Zu den heftigsten, populären Kritikern gehört natürlich auch Hans Driesch, der ebenfalls von einer »Befangenheit im Zeitgeist« spricht. Vgl. Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. Leipzig: Barth 1905, S. 129.

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Natürlich verhallen diese Positionsnahmen nicht unwidersprochen. Ludwig Plate (1862–1937) etwa ist fest davon überzeugt, dass »mindestens 95 % aller […] Biologen auf dem Boden der Descendenzlehre stehen«;50 in der Fachzeitschrift Biologisches Centralblatt kritisiert er Fleischmann in langen Rezensionen scharf und plädiert stets für ein differenziertes Bild. Die Selektion sei als »ein wichtiges regulatorisches Prinzip der Natur anzusehen, welches zusammen mit anderen Kräften die Welt der Organismen regiert.«51 Plate, ab 1909 Nachfolger von Haeckel in Jena, konzipiert zu dieser Zeit eine eigene, die Selektionsthese integrierende Evolutionstheorie und lehnt die innere Zweckmäßigkeit ab.52 Am Phänomen des Antidarwinismus aber ist dennoch gut abzulesen, wie außerordentlich eng Wissenschaft und Populärwissenschaft miteinander verzahnt sind, wie stark sie sich gegenseitig über das Medium der Öffentlichkeit zu definieren versuchen. Das stellt einen Kommunikationsraum her, der in hohem Maße für Weltanschauung, Naturphilosophie und für andere sekundäre Verwendungszwecke aller Art offen ist. Es ist einerseits möglich, Begriffe wie Zweck, Substanz und bewusste Absicht – wie es Dennert betreibt – durch die Lebenskraft des Organismus zusammenzuführen, um diese Synthese dann mit wissenschaftlicher Seriosität auszustatten, während andererseits – und Plate wäre 50 Ludwig Plate: Ein moderner Gegner der Descendenzlehre. Eine kritische Besprechung. In: Biologisches Centralblatt 21 (1901), S. 133–172, hier S. 134. 51 Ludwig Plate: Prof. A. Fleischmann über die Darwin’sche Theorie. In: Biologisches Centralblatt 23 (1903), S. 601–613, hier S. 604. Vgl. auch Plate: Ein moderner Gegner (Anm. 50), S. 171. 52 Vgl. Ludwig Plate: Selectionsprincip und Probleme der Artbildung. Ein Handbuch des Darwinismus. Dritte, sehr verm. Aufl. Leipzig: Engelmann 1908, S. 420: »Gäbe es eine primäre absolute Zweckmäßigkeit, eine den Organismen immanente Fähigkeit, unter veränderten Bedingungen immer nur nach der nützlichen Seite abzuändern, so wäre eine Selection überflüssig. Aber eine solche existiert nicht; die zahllosen indifferenten oder unvollkommenen Einrichtungen, die rudimentären Organe, die Krankheiten und die exzessiven Bildungen, welche große Tierfamilien zum Aussterben brachten, beweisen dies.« Jedoch reagiert auch Plate auf die abnehmende Akzeptanz Darwins, wenn er den Evolutionsprozess auf mehrere Faktoren verteilt: »Variabilität, Vererbung [die Plate vorsichtig als unerforscht ausweist] und Selection [sind] die drei organischen Triebkräfte, deren Zusammenwirken das Ansteigen der Organismen von unten nach oben bedingt haben. Jede allein wäre hierzu nicht befähigt gewesen, und daher ist es unrichtig, die eine höher zu bewerten als die andre.« (Ebd., S. 466) Ausführlich werden hier Darwinismus und Lamarckismus genau auf ihre Stichhaltigkeit überprüft (vgl. ebd., S. 416–464). Der ›Kampf ums Dasein‹ ist als Konzept, nicht als entgrenzte Metapher verwendet (vgl. ebd., S. 465). Plate hegt als Vorsitzender des Alldeutschen Vereins in Jena, als Antisemit und Mitbegründer des Archivs für Rassen- und Gesellschafts-Biologie nach dem Krieg deutliche Sympathien für den Nationalsozialismus. Vgl. Uwe Hoßfeld u. Gregory S. Levit: Ludwig Plate: Haeckel-Nachfolger mit vielen Facetten. In: Biologie in unserer Zeit 41 (2011) H. 6, S. 412–413. Zum Forschungsprogramm der Orthoselektion vgl. dies.: The Forgotten »Old-Darwinian« Synthesis: The Evolutionary Theory of Ludwig H. Plate (1862–1937). In: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaft, Technik und Medizin. N.S. 14 (2006), S. 9–25.

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hierfür ein Beispiel – um die richtige, zulässige Definition der Fragestellung, um den Grad an Differenzierung und Spezialisierung, um Theorie, Methodik und Objektivitätskriterien gestritten werden muss. Durch diese Offenheit für Einsprüche aller Art erzeugt die epistemologische Lage der Wissenschaft geradezu aus sich selbst heraus Anknüpfungspunkte für ihre politische Verwertung im Krieg.

2.

Kriegsbiologien

Während der Antidarwinismus auf das Problem der Naturerkenntnis und deren theoretische Lenkung konzentriert bleibt, übertreten Texte, die eine Biologie des Krieges anbieten, bewusst die Grenze zwischen Natur und Kultur.53 Sie gehen vom ›Kampf ums Dasein‹ aus und führen Prozesse und Argumente vor, die kulturelle Phänomene möglichst vollständig in den Bereich der Natur einfügen sollen.54 Der Krieg ist nicht, wie bei Clausewitz, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern das Andere der Politik. Ist er als biologische Notwendigkeit gefasst, zieht das weitere Grenzverschiebungen nach sich, an die die Autoren, besonders jene der Rassenhygiene, praktische ›Lösungen‹ knüpfen. Je drastischer der Krieg als ein Verhängnis erscheint, das unterschwellig die Kultur bestimmt und sie bedroht, desto überzeugender sind soziale Steuerungsmaßnahmen zu begründen, die dem Krieg mit biopolitischen Mitteln begegnen. Texte aus dem Umfeld der Rassenhygiene und -anthropologie liefern immer eine Theorie der Kultur mit – und sie nutzen die Gelegenheit, den Ersten Weltkrieg zu reflektieren.55 Wilhelm Schallmayer (1857–1919), der Begründer der Rassenhygiene, nennt den Krieg 1907 einen »Züchter« und gibt ihm schöpferische Qualität.56 Er greift 53 Werner Michler : Kriegsbiologien. Zwischen Natur (von 1859) und Idee (von 1914). In: Karl Wagner, Stephan Baumgartner u. Michael Gamper (Hg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich: Chronos 2014, S. 169–183, hier S. 170 hat die Kriegsbiologien jüngst als »diskursiv-institutionelle[n] Zusammenhang« gefasst und ihre Valenzen für ein bürgerliches Heldenbild in der Literatur analysiert. 54 Die Argumentation profitiert von Albrecht Koschorke: Zur Epistemologie der Natur/KulturGrenze und zu ihren disziplinären Folgen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009) H. 1, S. 9–25. 55 Vgl. zum Hintergrund Peter Weingart, Jürgen Kroll u. Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 188–366, bes. S. 196–208 und Paul Weindling: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870–1945. Cambridge: Cambridge UP 1989, S. 291–298. Dass die Biologie vor und nach 1914 auch pazifistische Bestrebungen unterstützen kann, zeigt Paul Crook: Darwinism, war and history. The debate over the biology of war from the ›Origin of Species‹ to the First World War. Cambridge: Cambridge UP 1994, S. 98–129. 56 Wilhelm Schallmayer: Der Krieg als Züchter. In: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-

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Darwins Argumentationsgang auf, der die künstliche Zuchtwahl an Tauben erklärt, um auf die Verhältnisse der natürlichen Zuchtwahl überzuleiten.57 Schallmayer verlängert die Analogie und wendet sie in die Kultur zurück: Der Krieg tritt als Sachwalter der Natur unter die Menschen und selektiert – dem älteren Argument der ›Kontraselektion‹ muss dabei begegnet werden: Ist es nicht der Krieg, der die natürliche Selektion unterbricht, weil er die besser angepassten Individuen an der Front vernichtet und die Fortpflanzung der Schwachen begünstigt? Der Verfasser gibt dies gern zu, hält aber eine zweite, indirekte Form der Auslese dagegen, die »intersoziale Kollektivauslese«.58 Sie stehe der »Individualauslese« entgegen und könne sie bei entsprechender Handhabung neutralisieren.59 Die Übertragung auf Kollektive, Völker, ›Rassen‹ oder Staaten ist eine für alle Kriegsbiologien notwendige Entfernung von der Selektionstheorie.60 Der Vorteil liegt in der Einhegung sozialer und kultureller Elemente in die Domäne der Naturgesetze – in diesem Fall geschieht das direkt über den Mechanismus der Selektion: Die Auslesewirkungen des Krieges haben […] teils einen biologischen oder phylogenetischen Bereich, soweit sie direkt die Individuen, Völker und Rassen treffen, anderenteils einen sozial- und kulturgeschichtlichen Bereich, sofern sie soziale und kulturelle Schöpfungen, d. i. Traditionswerte, die nicht biologisch vererbbar sind, betreffen.61

Für den Einfluss auf das Sozialwesen Mensch bedarf es weiterer Rechtfertigung. Eine Ursprungserzählung wird eingefügt, die den Krieg als Bedingung der Menschwerdung darstellt. Während in unbestimmter Vorzeit der »Erfolg im

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Biologie einschliesslich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 5 (1908), S. 364–400. Vgl. zur Zeitschrift Uwe Hoßfeld: Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit. Stuttgart: Steiner 2005, S. 195–205. Vgl. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übers. von Carl W. Neumann. Nachw. von Gerhard Heberer. Stuttgart: Reclam 2007 [1859], S. 48–75. Der Text dieser Übersetzung folgt der 6. Auflage von 1872. Schallmayer: Krieg als Züchter (Anm. 56), S. 367. Die ›Kontraselektion‹ begleitet die Darwin-Rezeption seit dem Deutsch-Österreichischen Krieg von 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Vgl. Gustav Jäger : Naturwissenschaftliche Betrachtungen über den Krieg. In: Das Ausland 43 (1870) Nr. 49, S. 1161–1163 und Friedrich von Hellwald: Der Kampf ums Dasein im Menschen- und Völkerleben. In: Das Ausland 45 (1872) Nr. 5, S. 103–106 u. Nr. 6, S. 140–144. Sie geht von der simplen Vorstellung aus, dass der Stärkere klar erkennbar ist, z. B. an körperlichen Merkmalen, und damit sein ›Recht‹ durchsetzt. Schallmayer deutet die Auslese des Krieges dagegen immerhin als ein komplexes Wirkungsgefüge aus mehreren Faktoren. Darwin setzt die Konkurrenz nicht bei der Population an, sondern betont, dass der Kampf zwischen Individuen derselben Art und zwischen Varietäten derselben Gattung am heftigsten sei. Vgl. Darwin: Entstehung (Anm. 57), S. 116–119. Schallmayer: Krieg als Züchter (Anm. 56), S. 369.

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Gewaltkampf des Menschen gegen den Menschen« von der körperlichen Konstitution bestimmt gewesen sei, habe der Krieg mehr und mehr die Auswahl sozialer Erbanlagen bewirkt, die der »Entstehung, Erhaltung und Vergrößerung von sozialen Gruppen« dienten.62 Man soll verstehen, dass überhaupt erst der Krieg aus dem Menschen ein soziales Wesen gemacht hat; er tritt als »Vater« der Zivilisation auf und verspricht »weit höhere Entwicklungsmöglichkeiten für die soziale Organisation des Menschen«.63 Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verleitet diese ›tiefgründige‹ Verankerung des Krieges zu radikalen Diagnosen und Forderungen, die die Lebenswissenschaften weit überschreiten. So hält der Herausgeber der Politisch-Anthropologischen Revue bzw. Monatsschrift Otto Schmidt-Gibichenfels den Krieg 1912 für den einzig wirksamen »Kulturfaktor«, dem sich Gesellschaften aussetzen müssten, um ihre Sozialstruktur beizubehalten.64 Natur- und Gesellschaftszustand fallen hier in eins. Zivilisation und Kultur sublimieren Gewalt nicht mehr oder neutralisieren sie, sondern sie sind im Gegenteil ihre Steigerungsform. Der Staat bildet zwar die am höchsten entwickelte soziale Organisation, aber er legitimiert sich nicht (wie im Kontraktualismus von Rousseau oder Hobbes) über die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags seiner Bürger, die alle Gewalt an einen Souverän übertragen. Stattdessen erhält er äußere und innere Grenzen durch die periodische Einwirkung des Krieges, durch das Heer und seine Vorbildfunktion, durch Rüstung. Bleibt der Krieg zu lange aus, treten DekadenzPhänomene auf: [M]it dem Verschwinden aller Kriege und Kriegsmöglichkeiten [müsste] […] der Staat auseinanderfallen und der anarchische Zustand der Urzeit oder noch Schlimmeres hereinbrechen. Wenn die Wände des Gefäßes, das eine Flüssigkeit zusammenhält, zerspringen oder weich werden, so fließt eben die Flüssigkeit auseinander. Der Krieg ist also, ich wiederhole es, nicht nur der mittelbare Schöpfer, auf die Dauer auch der mittelbare Erhalter des Staates und jeder höheren, nur unter fester, streng gesetzmäßiger Ordnung möglichen Kultur.65

62 Ebd., S. 381. 63 Ebd., S. 382. 64 Otto Schmidt-Gibichenfels: Der Krieg als Kulturfaktor. In: Politisch-Anthropologische Revue. Monatsschrift für praktische Politik, für politische Bildung und Erziehung auf biologischer Grundlage 11 (1912/13) H. 8, S. 393–407 u. H. 9, S. 449–461. Der Autor wird 1911 Herausgeber der Zeitschrift, die 1902 von Ludwig Woltmann (1871–1907) gegründet worden war. Vgl. Hoßfeld: Geschichte der biologischen Anthropologie (Anm. 56), S. 185–189 und Gregor Hufenreuter : Wege aus den »inneren Krisen« der modernen Kultur durch »folgerichtige Anwendung der natürlichen Entwicklungslehre«. Die Politisch-Anthropologische Revue (1902–1914). In: Michel Grunewald u. Uwe Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Reich. Bern, New York: Lang 2010, S. 281–293. 65 Schmidt-Gibichenfels: Krieg als Kulturfaktor (Anm. 64), S. 402.

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So lässt sich krude warnen vor den nivellierenden Tendenzen von Demokratismus, Feminismus, Anarchismus, vor falscher Friedenssehnsucht und »kosmopolitischen Verwaschenheiten«,66 die nach Kriegsbeginn allen Feinden zugeschrieben werden. Texte dieser Art sind in hohem Maße anschluss- und propagandafähig, offen für beliebige Sekundärinteressen.67 Sobald die Grenze von Innen und Außen biologisch erzeugt ist, kann Schmidt-Gibichenfels unmittelbar Gewinn ziehen aus einer Gemengelage populärer Diskurse und Weltanschauungen, deren Ausbuchstabierung hier nicht weiter lohnt. Geprägt wird die hybride und für viele Texte typische Formel »Kampf um Dasein und Macht«, die weder Nietzsche noch Darwin genauer trifft, von beiden aber profitiert.68 Wo Argumente fehlen und der Staatsbiologismus in Gefahr ist, sich auf die Komplexitäten moderner Gesellschaften einzulassen, helfen völkische Mythologeme aus und beschwören instinktiv »die elementare Naturgewalt des gemeinsamen Blutes und der Rasse«.69 Enger bezogen auf den Wissenshorizont müssen Schallmayer und diejenigen Autoren bleiben, die sich vom Etikett der Wissenschaftlichkeit noch Vorteile versprechen. Die ›Kollektivauslese‹ des Krieges näher zu erklären, führt jedoch in unbequeme vulgärdarwinistische Aporien hinein. Die zuverlässig längsten Sätze dieser Texte behaupten zwar in metaphorischer Anlehnung an Darwin u. a., dass der Krieg in Friedenszeiten an vielen Stellen des sozialen Körpers kontrollierend eingreife und die Organisation verbessere.70 Die Übertragung aber bleibt unausgereift. Der natürliche Selektionsmechanismus kann allein dann greifen, wenn die bessere Anpassung des Organismus an seine Umweltbedingungen unmittelbar mit dem Fortpflanzungserfolg korreliert ist und ein Merkmal in einer Folge von Generationen vererbt wird. Tritt aber der Krieg als »Züchter« an, wäre vor seinem Ausbruch nicht klar, welche organisatorischen 66 Ebd., S. 398. Vgl. auch ebd., S. 393 u. 396f. 67 So rechtfertigt der Alldeutsche Verband durch Dekadenzängste Präventiv-, Eroberungs- und Rassenkriege. Schon Paul de Lagarde proklamiert in den 1850er Jahren, dass das Volk erst durch den Krieg »die Übung und volle Ausbildung der ihm eingeborenen Eigenschaften« erreicht (zit. n. Lindemann: Macht der Perzeptionen (Anm. 12), S. 65). 68 Schmidt-Gibichenfels: Krieg als Kulturfaktor (Anm. 64), S. 455. 69 Ebd., S. 456. 70 Sehr plastisch ausgeführt ist das z. B. bei Max von Gruber : Krieg[,] Frieden und Biologie. Rede am 28. Mai 1915. Berlin: Heymann 1915 (Deutsche Reden in schwerer Zeit, H. 30), S. 23: »Nichts wie diese Notwendigkeit der Kriegsbereitschaft entwickelt besser den Gemeinschaftssinn, fördert mehr das Gemeinschaftsleben, macht mehr die Anspannung aller Kräfte notwendig, die beste Organisation des Staats- und Gesellschaftslebens, die Ausmerzung aller Schäden und Unvollkommenheiten in den Einrichtungen, die Förderung der Volksbildung und Volkserziehung, die Förderung der Wissenschaft und Technik, die richtige Ausgestaltung der Wirtschafts- und Steuergesetzgebung, die richtige Ordnung der Staatsregierung, die Mitarbeit der Gesamtheit des Volkes an der Gesetzgebung und Verwaltung des Staates.« Vgl. auch Schallmayer : Krieg als Züchter (Anm. 56), S. 399.

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Strukturen von Vorteil sind, um den Ausgang günstig zu beeinflussen – was es also bedeutet, »in jeder Hinsicht kriegsbereit zu sein.«71 Nach dem Sieg würde das nicht klarer, da der Krieg zwischen den feindlichen Kollektiven insgesamt ›wählt‹, das unterlegene Kollektiv naturgesetzlich vernichtet und keine Möglichkeit der Differenzierung besitzt. Eine stufenweise Entwicklung der Organisation ist nicht denkbar, selbst eine Serie von Kriegen könnte ihr keine Richtung, kein Telos vorgeben. Hinzu kommt, dass die konkrete Kriegführung kaum als ein organischer Effekt der phylogenetisch-kulturellen Auslese vorgestellt werden kann. Die Texte vermeiden derartige Aussagen, was ein idealistisches Kriegsbild an der Heimatfront befördert. Der Freiburger Philosoph Georg Mehlis gehört zu den wenigen, die im ersten Kriegsjahr vulgärdarwinistische Deutungen mit Verweis auf den Charakter des modernen, industriellen Krieges zurückweisen. Wo einst Ritterlichkeit und gesteigertes Leben zu finden war, wüte jetzt ein von der Kultur selbst entfesselter »eiserne[r] Mechanismus der Maschinen«, »der von den klugen Rechnern der Technik und Führung aufgestellt ist, um weiches Menschenfleisch in Massen zu zerfetzen und von weiter kalter Ferne aus das Unbekannte der feindlichen Jugend […] dem Schreckenstode zu weihn.«72 Mehlis hält den Kriegsbiologen eine kulturpessimistische Gegengeschichte vor, die der organischen Erklärung des Krieges schroff widerspricht. Der Weltkrieg ist kein Phänomen einer wiedergekehrten Ermächtigung der Natur, sondern Ergebnis einer unaufhaltsamen Fortschrittslogik, mit der sich die Kultur die Natur für ihre selbstzerstörerischen Zwecke unterworfen und dienstbar gemacht hat.73 Man kann die Lage der Kriegsbiologie im Ersten Weltkrieg mit Bezug auf den ›Kampf ums Dasein‹ damit zum Teil als paradox beschreiben. Zum einen sichert das Schlagwort auf populärem Feld ungebrochene Aufmerksamkeit – nach 1914 kann die aggressive Rede vom ›Daseinskampf‹ nichts anderes als populär sein. Andererseits scheint die Selektionshypothese, obwohl sie den Vertretern der Rassenhygiene politische Eingriffsmöglichkeiten versprochen hat, nur mit Mühe eine Handhabe anzubieten für die jetzt nötige Deutung des Krieges. Dem Darwinismus fehlen offensichtlich Elemente, an die ein biologisch perspektiviertes Verstehen von kollektiven Kämpfen und von Prozessen der Vergemeinschaftung ansetzen könnte. Weil eine organische Deutung des Krieges unverzichtbar bleibt, tritt der Kerngedanke der Auslese signifikant zurück, die Zweckhaftigkeit und Entwicklungsfähigkeit des Organismus hervor. Bruno Bauch, der darüber hinaus Darwins Nationalität propagandistisch zu nutzen

71 von Gruber : Krieg[,] Frieden und Biologie (Anm. 70), S. 24. 72 Georg Mehlis: Der Sinn des Krieges. In: Logos 5 (1914/15), S. 252–266, hier S. 256 u. 258. 73 Vgl. ebd., S. 266.

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versteht, illustriert diese Verschiebung und den sie umgebenden weltanschaulichen Leitdiskurs: Im Kampf ums Dasein hat die Selbstsucht die beste Aussicht auf den Sieg, weil ihr alle Mittel dafür recht sind. Im Kriege dagegen sind gegenüber dem Einen gemeinsamen Zwecke alle selbstischen Eigen- und Nebenzwecke auszuschließen, da deren gegenseitige Reibung und Hemmung zugleich den einheitlichen Gesamtzweck stören müßte. […] Unterliegt in der Natur der Organismus der rein mechanisch stärkeren Gewalt, so muß im Kriege, je zweckbewußter und zielvoller gerade der Kampfesorganismus ausgebaut und ausgestaltet ist, dieser zum Siege über bloß mechanische Kräfteverhältnisse führen.74

Wie schon zu Beginn des Jahrhunderts in den Schriften der Antidarwinisten gehört der ›Kampf ums Dasein‹ zur »mechanische[n] Notwendigkeit«,75 und mehr noch: Der Weltkrieg entlarvt ihn als ein Produkt viktorianischer Moral.76 Darauf hat der für die biologischen Wissenschaften zuständige Chefideologe der Politisch-Anthropologischen Monatsschrift, Hermann Gustav Holle (1852–1926), zu reagieren.77 Er wählt für die Politisierung die Leitbegriffe Anpassung, Entwicklung und Organisation, da es gilt, den »Kampfesorganismus« nun in seiner inneren Dynamik zu analysieren.78 Die Auslese hingegen verliert ihre produktive Kraft und nimmt die Funktion eines rein negativen Prinzips an, das »durch Ausmerzung der ganz Untauglichen die Art auf der Höhe ihrer Ausbildung« erhalten soll.79 Holle geriert sich als Denker von Organisations74 Bruno Bauch: Der Krieg und der Kampf ums Dasein. In: Preußische Jahrbücher 162 (1915) H. 2, S. 193–199, hier S. 197. 75 Ebd. 76 Auf diesem Feld der ›Kritik‹ tut sich Jakob von Uexküll hervor und setzt gegen die englische ›Herdenmoral‹ einen deutschen »organischen Imperativ«. Vgl. Jakob von Uexküll: Darwin und die englische Moral. In: Deutsche Rundschau 173 (Oktober–Dezember 1917), S. 215–242, hier S. 234. 77 Vgl. Gerhard Wagenitz (Hg.): Göttinger Biologen 1737–1945. Eine biographisch-bibliographische Liste. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 83. Holle ist Botaniker, Gymnasiallehrer, Verfasser von Schulbüchern und führt ab 1899 den Professorentitel. Sein publizistisches Engagement, das später in Buchform verbreitet wird, ist bei Wagenitz nicht erwähnt. Vgl. Hermann Gustav Holle: Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanschauung, Lebensführung und Politik. München: Lehmann 1919. 78 Der erste Herausgeber Ludwig Woltmann hatte 1902 angenommen, dass sich der Darwinismus durchsetzt und dann die »entscheidende Tragweite des Prinzips der Auslese und Vererbung für die geistige Blüte und politische Macht eines Volkes überall erkannt und anerkannt« ist. Vgl. Ludwig Woltmann: Der wissenschaftliche Stand des Darwinismus. In: Politisch-anthropologische Revue. Monatsschrift für das soziale und geistige Leben der Völker 1 (1902) H. 1, S. 2–8, hier S. 4f. 79 Hermann Gustav Holle: Vom Kampf ums Dasein und seiner Bedeutung für Menschen und Völker. In: Politisch-Anthropologische Monatsschrift für praktische Politik, für politische Bildung und Erziehung auf biologischer Grundlage [= PAMS] 14 (1915/16) H. 6, S. 302–317 u. 364–376, hier S. 305.

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formen, die in Natur und Kultur anzutreffen sind und gleichen Gesetzen und Zwecken unterliegen. Da nur von »Lebenseinheiten höherer Ordnung« und der »Art« die Rede ist,80 soll bewusst unklar bleiben, ob Individuen oder Kollektive gemeint sind. Organisation umfasst beides und bedeutet Fortschritt, da sie abstrakt zu definieren sei als die gegenseitige Unterstützung zur Erreichung eines Gesamtzwecks. Das ist, wie die biologische Wissenschaft immer klarer erkennt, der Weg gewesen, wie durch Vereinigung von Einzellern, und zwar der Abstammung nach zusammengehörigen, die höheren Pflanzen und Tiere entstanden. Dadurch ging der Begriff der Wesenseinheit (Individualität) von der einzelnen Zelle auf den Gesamtkörper über. Jede Einzelzelle des Körpers arbeitet mit den anderen zusammen nur im Sinne des Gesamtkörpers; eine Einschränkung dieses Zusammenarbeitens ist »Krankheit«, das Aufhören »Tod«.81

Holle bezieht sich stillschweigend auf das von Virchow etablierte Modell des Zellenstaates, das dieser unter den Vorzeichen des Liberalismus in den 1860er und 1870er Jahren ausgeschrieben hatte.82 Die Auffassung, dass das menschliche Individuum das Ergebnis der Vergesellschaftung einzelner Zellen, selbst also ein Zellenstaat sei, ist ein von Virchow in die Diskussion gebrachtes zentrales Element, das im Weltkrieg weit verbreitet ist. Während Virchow jedoch die Autonomie der Zelle und des Individuums im kollektiven Verband betonen wollte, eröffnet Holle die Perspektive auf einen zugleich erbgleichen und freiwilligen Ursprung der Gemeinschaft; das Problem der Subordination innerhalb des »Gesamtkörpers« wird genauer nicht diskutiert.83 Wieder ist eine solche Ursprungserzählung praktisch, weil daran ein analogisierendes Sprechen geknüpft ist, das überall biologische Gesetzmäßigkeiten erzeugt, die sich nach Belieben propagandistisch aufbereiten lassen – und das unterlässt der Autor in kaum einem Absatz.84 Der Botaniker Holle unterstützt seine Vorstellung von der Anpassung durch ein Keimplasma, das als naturalisierter Ersatz, ›Grundstock‹ und »Träger der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland« den Volksgeist der politischen Theorie ersetzt und gelegentlich als ›Volksseele‹ bezeichnet wird.85 Hier fließen 80 Ebd., S. 309. 81 Ebd. 82 Die Schlüsselbegriffe der Zellenlehre, etwa Individuum oder Elementarteilchen, bezeichnet Eva Johach: Krebszelle (Anm. 26), S. 99 daher auch als »politisch-biologische Hybride«. 83 Gerade dieses Problem hatte Virchow beschäftigt. Vgl. ebd., S. 118–121 u. 130. 84 So wird die Demokratie als ›organische Krankheit‹ erwiesen und die Vorteile der politischen Verfassung des Reiches an der aktuellen Lage im Krieg demonstriert. Vgl. Hermann Gustav Holle: Kann man im Völkerleben von Entwicklung reden? In: PAMS 16 (1917/18) H. 6, S. 313–325, hier S. 320–325. 85 Hermann Gustav Holle: Mechanisches und biologisches Denken. In: PAMS 15 (1916/17) H. 6, S. 294–301, hier S. 300. Vgl. auch ders.: Leben und Beseelung. In: PAMS 13 (1914/15) H. 6, S. 292–306.

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ererbte Triebe und Instinkte mit dem Unbewussten unentwirrbar zusammen und bilden einen in der Tiefe ruhenden, niemals vollständig zu konkretisierenden völkischen Kern, der das Zentrum der Texte der Rassenhygiene bildet.86 Jeder Autor prägt an dieser Stelle Hilfshypothesen aus, die Stabilität und Veränderlichkeit über die Zeit betreffen. Holle ›denkt‹ Lamarcks Theorie der Anpassung durch Umwelteinflüsse weiter und prägt den durchaus originellen Ausdruck »Erwerbung vererbbarer Eigenschaften«, der den Zugriffspunkt erblicher Variabilität in das Keimplasma verschiebt. An dieser Begrifflichkeit ist deutlich abzulesen, wie der Wunsch nach kontrollierter Steuerung der Vererbung in wissenschaftliche Terminologie übersetzt wird. Das Keimplasma sorgt politisch für stabile Verhältnisse: Diese Erwerbung […] ist ein außerordentlich lange Zeiträume verlangendes, durch das zusammenhängende Keimplasma vieler Generationen sich hinziehendes Geschehnis, dessen Tatsächlichkeit wir nach der Geschichte des Lebens auf der Erde (Palaeanthologie) [!] anerkennen müssen, aber nur durch eine finale, also psychische Kraft des Lebens erklären können.87

Biologische Stabilität, Zweckmäßigkeit sowie organische und geistige Anpassung sind synthetisch verbunden. In Abgrenzung zu August Weismann hält Holle das Keimplasma (wie der Neolamarckismus) für offen und gibt seiner Theorie einen Anstrich von Seriosität.88 In politischer Hinsicht sollen Handlungs- und Motivationsimpulse von Individuum und Kollektiv fest aneinander gekoppelt werden. Soziale Formen sind im Ernstfall schnell zu verändern, komplettieren aber trotzdem eine lange gewachsene Entwicklung – kulturelles und organisches Gedächtnis kommen im Prozess der Vererbung zur Deckung.89 86 Zum Zusammenhang zwischen den Völkischen und den Rassenhygienikern vgl. Stefan Breuer : Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt: WGB 2001, S. 61–68. 87 Holle: Vom Kampf (Anm. 79), S. 308f. 88 Vgl. die zeitgenössische Darstellung zu August Weismann bei Emanuel R‚dl: Geschichte der biologischen Theorien. Bd. 2. Leipzig: Engelmann 1909, S. 410–419. Zur Geschichte des Protoplasmas innerhalb der Zellenlehre vgl. Johach: Krebszelle (Anm. 26), S. 105–114. 89 August Weismann vertritt in den 1880er Jahren die These, dass Vererbungsprozesse durch eine direkte Weitergabe des Keimplasmas erklärt werden könnten. Die Bedeutung des Chromosoms als Trägerstruktur der DNA ist zu dieser Zeit nicht erkannt. Vgl. August Weismann: Die Continuität des Keimplasma’s als Grundlage einer Theorie der Vererbung. Jena: Fischer 1885, S. 56–69. Holle verbindet das mit einer weit verbreiteten These von Ewald Hering, der in einem berühmten Vortrag neben das kulturelle ein zweites, organisches Gedächtnis gesetzt hat: »Man hat die mündliche und schriftliche Überlieferung das Gedächtnis der Menschheit genannt, und dieser Spruch hat seine Wahrheit. Aber noch ein anderes Gedächtnis lebt in ihr, das ist das angeborene Reproduktionsvermögen der Gehirnsubstanz, und ohne dieses wären auch Schrift und Sprache nur leere Zeichen für das spätere Geschlecht.« Vgl. Ewald Hering: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen

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So gibt der Krieg den Deutschen »zur Fortzucht vorhandener Keimanlagen Gelegenheit und Anlaß«,90 während das Individuum über den biologischen Substantialismus der Volkszugehörigkeit bereits gleichartig disponiert ist, eine »innewohnende[] Tendenz zu bestimmten Reaktionen« verspürt, und das schon ganz »ohne Mithülfe des Bewußtseins«.91 Man sieht: Der Krieg schweißt auf ungewöhnliche Weise zusammen. Er löst (auch hier) einen Katharsis-Effekt aus und befreit, wie Max von Gruber im Mai 1915 frohlockt, »von der bedrückenden Enge unseres Eintagsfliegendaseins«, da »durch den Rassen-, Volks- und Staatsinstinkt« der lebensfeindliche »Individualegoismus« nun auf das Nötigste eingeschränkt ist.92 Der Krieg ist bei Holle folgerichtig nicht mehr Züchter, sondern »Lehrmeister«, der den Menschen zur richtigen Entwicklung von Institutionen anhält und die völkische Selbstzüchtung stimuliert. Weitreichende biopolitische Eingriffe bleiben für die Zukunft anzuraten, auch wenn sich die »einheitlich-autoritative Organisation« für den Moment »über die Maßen schön bewährt hat«.93 Wer im Krieg gleich seine biologische Substanz mit ins Feld führt, die in die eigene Nationalgeschichte hineinreicht (und umgekehrt), erwartet entschiedener Sieg oder Untergang: »Je nach den Umweltsbedingungen [!] können die einen oder andern unserer Anlagen sich entwickeln oder verkümmern, kann unsere ausgebildete Persönlichkeit in der erstaunlichsten Weise verschieden werden.«94

3.

Der Staat als Organismus

Ohne den Einfluss der Zellenlehre ist auch in der zweiten Hälfte des Krieges der organisch-politische Diskurs über den Staat nicht denkbar. Wie bereits angesprochen, entspringt er den akademischen Kreisen der 1850er Jahre und dient als Grundlage für Verbindungen zwischen Anatomie, Physiologie, Zoologie und Botanik, für alle Disziplinen, die Zellen untersuchen. Bekannt ist, dass der

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Akademie der Wissenschaften in Wien am 30. Mai 1870. 3. Aufl. Leipzig: Akad. Verlagsges. 1921, S. 20. Um politischen Nutzen aus der Vererbung zu ziehen, genügen natürlich vage Vorstellungen. Vgl. das Kapitel »Vererbung, Rasse und Eugenik« in Hans-Jörg Rheinberger u. Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 130–168. Holle: Vom Kampf (Anm. 79), S. 313. Holle: Leben und Beseelung (Anm. 85), S. 299 u. 298. von Gruber : Krieg[,] Frieden und Biologie (Anm. 70), S. 24f. u. 23. Hermann Gustav Holle: Der Krieg als Lehrmeister. In: PAMS 13 (1914/15) H. 10, S. 521–537, hier S. 536. In diesem Text ist zu beobachten, wie Holle mühelos Anschluss findet an die Kriegszieldebatte und in großem Einklang mit den Annexionisten argumentiert. Aus biologischen Rücksichten wird ferner zu Pflichterfüllung und zu Reformen in der Wirtschaft geraten. Vgl. ebd., S. 528–537. von Gruber : Krieg[,] Frieden und Biologie (Anm. 70), S. 22.

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Zellenstaat mentalitätsgeschichtlich mit dem Kaiserreich eng verbunden und dabei elastisch genug ist, auch gegensätzliche politische Überzeugungen zu transportieren.95 Virchows Liberalismus gegenüber steht Haeckel, der eine monarchistische Deutung des Zellenstaates liefert.96 Zwei Autoren, Otto Jaekel und Oscar Hertwig, die dem Antidarwinismus zuzurechnen sind und während des Krieges publizieren, zeigen einerseits Fortwirkungen gewohnter Deutungsmuster. Nachweisen lässt sich andererseits, dass das organisch-politische Denken nicht in Propaganda und Polemik aufgeht, sondern im Weltkrieg ein mehr oder weniger differenziertes Erkenntnisinteresse bewahrt. Der Greifswalder Professor der Paläontologie Otto Jaekel (1863–1929) veröffentlicht 1916 ein Buch unter dem Titel Die natürlichen Grundlagen staatlicher Organisation. Es erscheint im Selbstverlag und trägt den Zusatz »gedruckt im Felde«.97 Das Interesse, Natur und Kultur durch den Begriff der Organisation in Übereinkunft zu bringen, ist damit im Titel angekündigt. Geboten wird auf knapp 200 Seiten eine Abhandlung, die eine Fülle von Analogien über ein von Lamarck inspiriertes Formkonzept verbindet: Die Form ist überall der Ausdruck ihrer Funktionen, wo diese sich ändern, ändert sich zweckgemäss auch die Form. Durch diese Auffassung sind die Organismen viel lebendiger geworden, als sie uns vorher schienen. Der Sinn des Lebens ist uns vertieft worden, und in dieser Vertiefung liegt auch die Basis für das Verständnis staatlicher Bildungsvorgänge. (NG 4)98

Der Weltkrieg bringt eine ›erdnahe‹ Wirklichkeit des Staates in Erinnerung und ist für den Verfasser der Anlass, frühere Forschungen fortzuführen. Jaekel beobachtet innenpolitische Vorgänge und nimmt die »innere Klugheit der Organismen« (NG 32) zum Maßstab. Im Fokus steht nicht die äußere Grenze oder 95 Vgl. dazu grundlegend Paul Weindling: Theories of the Cell State in Imperial Germany. In: Charles Webster (Hg.): Biology, medicine and society 1840–1940. Cambridge: Cambridge UP 1981, S. 99–155, bes. S. 116–120 u. 135–143. 96 Vgl. Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen. In: Deutsche Rundschau 16 (Juli–September 1878), S. 40–59. 97 Otto Jaekel: Die natürlichen Grundlagen staatlicher Organisation. Kriegsausgabe. Im Selbstverlage des Verfassers. o.O.: 1916. Im Folgenden unter der Sigle NG und mit Seitenzahl. Der Autor weist sich auf der Titelseite als Professor und Hauptmann im Reserve-InfanterieRegiment 210 aus. Jaekel wird aus Altersgründen und seines Titels wegen vermutlich in der Etappe Dienst tun, ein Hinweis, den ich Christian Haller verdanke. 98 Vgl. auch ebd., S. 35–39, bes. S. 38: »Gegenüber Darwins Selektionsidee als Ursache der Neubildung, fasste ich meinen Standpunkt in den Satz ›Omnis transformatio ex vi et anima formæ‹, und möchte ihn nun deutsch formen in die Worte: Die Form ändert sich durch ihre Tätigkeit.« Eine Zusammenfassung seiner Ansichten gibt Jaekel nach dem Krieg in dem Vortrag »Funktion und Form in der organischen Entwicklung«, abgedruckt im Bericht über die Sitzung der palaeontologischen Gesellschaft zu Frankfurt a.M. vom 8.–10. August 1921. In: Palaeontologische Zeitschrift 4 (1922) H. 2/3, S. 147–166.

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(wie bei Holle) die genetische Einheit des Organismus,99 sondern die (unterstellte) Fähigkeit einzelner Organe, unter dem Druck von Umwelteinflüssen auf eine neue Lage zu reagieren – eigenverantwortlich und zweckmäßig. Es folgen ausgedehnte Referate, die belegen sollen, dass der Staat von Entwicklungsvorgängen geprägt ist, dass das Verhältnis der Teile zum Ganzen dem Organismus entspricht und dass er im Krieg eine großartige Anpassungsleistung vollführt. Auffällig ist bei Jaekel die Betonung der Sichtbarkeit: Wir sehen […] die Organismen ständig ihre Leistungen verstärken und ihre Organe entsprechend verbessern. […] Das gilt in gleicher Weise für die Natur wie für den Staat. […] Alles was in rühriger Bewegung ist, schreitet von selber fort. Das sehen wir gerade jetzt, wo unsere Organisation an allen Ecken und Enden Fortschritte macht […]. Die auffälligsten Fortschritte zeigt gegenwärtig der Ausbau der Heeresorganisation nicht nur in unserem, sondern in allen Ländern Europas. Ueberall sehen wir da zunehmende Arbeitsteilung, Spezialisierungen, an die vorher niemand gedacht hat, Anlage neuer Wege und Fabriken, Heranziehung anderer Einrichtungen in das Funktionsgebiet der Heeresverwaltung, Herstellung neuer Beziehungen verschiedenster Art zwischen den einzelnen Teilen. Alle diese Entwicklungsvorgänge kommen uns hier so klar zum Bewusstsein, weil sie sich vor unseren Augen vollziehen und förmlich überstürzen. (NG 151)

Für den 53-jährigen Paläontologen im Felde ist der Krieg unter wissenschaftlichem Blickwinkel ein Glücksfall. Er zwingt den Staatsorganismus zu beschleunigter Umformung, ein Prozess, der sich jetzt am lebenden Objekt studieren lässt und nicht mehr aus Reihen fossiler Formen aufwändig erschlossen werden muss. Diesen Prämissen gemäß versteigt sich Jaekel zu einer Interpretation der deutschen Geschichte samt vaterländischer Gegenwartsdiagnose – beides trägt, im populärwissenschaftlichen Register nicht ungewöhnlich, fast Züge einer mythischen Schau (vgl. NG 175–196), obwohl der Verfasser das als Ausdruck seiner Expertise verstanden wissen will. Um solch eine Deutung zu leisten, müsse man sich schließlich »jahrzehntelang […] in einzelne Gebiete der stammesgeschichtlichen Entwicklung vertieft […] und darin mit besonderen Augen zu sehen gelernt haben.« (NG 183) In politischer Hinsicht ist Jaekel, »der vielseitigste unter den deutschen Paläontologen, der kühn Voranstürmende, der stets mit den höchsten Problemen Ringende, dem die zähe mühsame Forschung zu langsam dünkte«,100 obrigkeitstreu. Das Militär gilt ihm als Beispiel gelungener Selbstverwaltung (vgl. NG 99 Nur selten gibt es Passagen, die auf eine exklusive Volksgemeinschaft hindeuten: »Fremdkörper duldet der gesunde Organismus nicht. […] Eine naturgesunde Kraftentfaltung wird fremde Keime bald unterdrücken und solche […] Krankheitsherde schnell beseitigen« (NG 18). 100 So ein kurzer, ambivalenter Nachruf von F. Drevermann: Otto Jaekel †. In: Palaeontologische Zeitschrift 11 (1929) H. 3, S. 183f., hier S. 183.

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71f.), die da zu enden hat, wo »das unmittelbare Zusammenwirken aller Teile« wie »im Gehirn« erforderlich wird. So dränge »auch im Staatskörper das Bedürfnis nach schneller Verständigung zu einer Zentralisierung der Regierungsfaktoren« (NG 89), denen zur Beratung ein »Ständehaus« angefügt werden soll (vgl. NG 90–97). Der Text ist von einer Tendenz zur Sachlichkeit bestimmt, die ohne propagandistische Feindbilder und Züchtungsprogramme auskommt. Das Organismus-Modell sorgt für einen ›gesunden‹ Interessenausgleich im Staat und dient der »natürliche[n] Rechtfertigung des konservativen Prinzipes.« (NG 152) Nicht reflektiert werden die Dimension der Zukunft und die Tatsache, dass der Krieg eine Ausnahmesituation ist, worauf zurückzukommen sein wird. Jaeckel bleibt bei einer Apotheose des Kaiserreichs stehen, da auch die optimale, zweckmäßigste Anpassung im Sinne der Selbstregulation keine Vorhersage für eine zukünftig ganz veränderte Umwelt des Staates zulässt. Auch Oscar Hertwig (1849–1922), Anatom und Zellbiologe an der Berliner Universität, legt in der zweiten Kriegshälfte eine Organisationslehre vor, verbindet sie aber mit scharfer Kritik. Akribisch unterscheidet Hertwig Darwins Theorie vom populären Phänomen, zu dessen gefährlichen Folgen der Weltkrieg zu zählen sei. Der ehemalige Haeckel-Schüler hatte schon lange vor 1900 in zahlreichen experimentellen Arbeiten zu einer eigenen Auffassung über Ursprung und Entwicklung biologischer Arten gefunden. Im Lehrbuch Das Werden der Organismen. Zur Widerlegung von Darwin’s Zufallstheorie durch das Gesetz in der Entwicklung sollen die Ergebnisse 1916 vorgelegt werden, um den Darwinismus vollständig zu ersetzen.101 Die Kritik ist von zentralem Interesse, da sie über die Grenzen der Biologie fortgesetzt wird und das Verhältnis von Wissenschaft und Populärwissenschaft für entscheidend erachtet. Schon der Titel Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus (1918) verlässt die Polemik und stellt eine differenzierte Analyse über die populäre Folgekomplexität wissenschaftlicher Theoriebildung in Aussicht. Im Ersten Weltkrieg ist das eine einzigartig zu nennende Rückkehr zur Faktendiskussion, die freilich eine politische Haltung erzeugen soll.102

101 Vgl. Oscar Hertwig: Das Werden der Organismen. Zur Widerlegung von Darwin’s Zufallstheorie durch das Gesetz in der Entwicklung. 2. verm. u. verb. Aufl. Jena: Fischer 1918 [1916]. 102 Vgl. Oscar Hertwig: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena: Fischer 1918. Im Folgenden unter der Sigle AD und mit Seitenzahl. Das Verhältnis von Biologie und Soziologie hatte den Autor schon früher interessiert. Vgl. Oscar Hertwig: Die Lehre vom Organismus und ihre Beziehung zur Sozialwissenschaft. Universitätsrede. Jena: Fischer 1899. Zum Gesamtwerk Oscar Hertwigs und zur darin transportierten Biologie als »Social Ideology« vgl. Paul Weindling: Darwinism and Social Darwinism in imperial Germany. The contribution of the cell biologist Oscar Hertwig (1849–1922). Stuttgart, Jena, New York: Fischer 1991, S. 254–303.

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Hertwig greift einige der von Dennert populär gemachten Sachverhalte auf. Wo die Axiomatik Darwins gezielt im Blick ist, ist der Anspruch höher, um die Untauglichkeit der Theorie als Paradigma der Biologie zu demonstrieren.103 Man finde allenfalls Wahrscheinlichkeitsbeweise, keine Naturgesetze. Die Argumentation lässt erkennen, dass ein professioneller Vertreter der Lebenswissenschaften auftritt, der die Wissenschaftsentwicklung mitreflektiert und den Status der Biologie neben Physik und Chemie zu festigen sucht. Da jetzt der »Bann einer vorgefaßten […] Lehrmeinung«104 gebrochen sei – erneut wird die Widerlegung als epochale Zäsur in Anspruch genommen –, gehe die Ausdifferenzierung des Faches ohne Bezug zu Darwin weiter und die Biologie rücke näher an ihre Nachbardisziplinen heran, wo sie ihren Anteil hat an der Lösung größerer Probleme. Hertwigs Darstellung weist diese konvergierende Entwicklung der Disziplinen explizit als eine Konsequenz der endlich erreichten Abkehr aus: »Also ist Gestaltung, Organisierung des Stoffes vermöge der ihm innewohnenden Kräfte das große allgemeine Problem auf allen Gebieten der Naturwissenschaft.« (AD 23f.)105 Nach der Klärung des Standpunkts ist das Gros der Abwehr-Schrift erstaunlich radikal darin, die Auswüchse des populär-weltanschaulichen Darwinismus zurückzuweisen. Die Missachtung der (preußischen) Geschichte durch das Prinzip ›Macht vor Recht‹ ergeht als Vorwurf an Nietzsche und an die Rasseanthropologen Ammon und Tille. Der Verfasser will in erster Linie aber die ›Entartungspropheten‹ und Proklamateure des Züchtungsstaates treffen, die von Haeckels unter dem Deckmantel freier Wissenschaft und Lehre etablierten »Ultradarwinismus« (AD 51) profitiert hätten.106 Der Fanatismus der Nationaleugenik und die rassenhygienischen Utopien eines Alfred Ploetz werden des 103 Hertwig hatte in der Evolutionsdebatte bereits vor dem Krieg öfters Stellung bezogen. Vgl. Oscar Hertwig: Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- und Vererbungslehre. Jena: Fischer 1909. 104 Hertwig: Werden der Organismen (Anm. 101), Vorwort, S. III. 105 Hertwig plädiert für einen kontrollierten Kräfte-Begriff und lehnt die metaphysischen Konsequenzen des Neovitalismus ab. Vgl. Hertwig: Werden der Organismen (Anm. 101), dort das Kap. »Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und zur mechanistischen Lehre vom Leben«, S. 19–45. 106 Vgl. auch AD 49–67. Angesprochen ist in der Tat ein Wendepunkt in der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung, der die politische Indienstnahme des Darwinismus stimuliert hat. Vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Jürgen Link u. Wulf Wülfing (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart: Klett-Cotta 1991, S. 212–236. Im angesehenen Gustav-Fischer-Verlag erscheint nach 1900 unter Beteiligung Haeckels eine Sammlung wichtiger Preisschriften unter dem Titel Natur und Staat. Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre.

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verfehlten Analogiegebrauchs überführt. Gegen die »Menschenzuchtbehörde« (AD 88), die wie ein »Gestütsdirektor« (AD 86) in die Ehe eingreift, werden das Kausalitätsgesetz und die organische Kontinuität der Entwicklung gestellt, die die »allgemeine humane Gesinnung« (AD 93) und den Familiensinn fördert und mit dem Sozialstaat verträglich ist (vgl. AD 85–97). Leitend müsse die Einsicht sein, dass ein moderner Kulturstaat nur divers und vielschichtig sein kann. So stellt Hertwig unmissverständlich klar, dass es die biologische Notwendigkeit oder die sittliche Forderung des Krieges nicht gibt. Offen weist er auf die Folgen der populären Agitation hin: Was lag […] näher, als im Krieg der Völker eine im großen durchgeführte Art des Kampfes ums Dasein zu sehen und durch die von Darwin verkündeten Naturgesetze nicht nur die Notwendigkeit der Kriege zu begründen, sondern auch ihre Rechtfertigung gegenüber pazifistischen Bestrebungen zu versuchen? Je mehr aber alle Kulturnationen sich so in die Gedankenkreise des Daseinskampfes und der natürlichen Auslese hineinlebten […], wurden diese Ideen selbst mit der Zeit eine Macht im Völkerleben; sie haben in Verbindung mit vielen anderen verwickelten Ursachen sozialer, kommerzieller, politischer und dynastischer Art nicht wenig mit dazu beigetragen, jene eigentümliche, gewitterschwüle Atmosphäre zu schaffen, welche dem gegenwärtigen Weltkrieg vorangegangen ist und durch ihn ihre Entladung erfahren hat, gerade so wie die Lehren der Enzyklopädisten, die Schriften von Voltaire und besonders von Rousseau in Verbindung mit den […] sozialen Mißständen die französische Revolution notwendig gemacht […] haben. (AD 98)

Das Zitat illustriert, wie konsequent der Naturwissenschaftler jetzt alles, was mit Darwin und Politik zu tun hat, ins Reich der Ideen verweist – er verschweigt zugleich, wie idiosynkratrisch deutsch die zur Gefahr des Friedens gewordene Rezeption Darwins gewesen ist und welchen Anteil die von Wissenschaftlern betriebene Popularisierung daran gehabt hat. Da die Äußerungen den Verdacht des Pazifismus oder Defätismus wecken könnten, beeilt er sich im Nachwort (»Das Gebot der Stunde«) zu versichern, dass über »[s]eine Stellung zu diesem großen Drama der Weltgeschichte kein Zweifel aufkommen kann.« (AD 116) Die ›Zentralmächte‹ führten einen »gerechten Krieg der notgedrungenen Abwehr zur Sicherung ihres Daseins in Gegenwart und Zukunft.« (AD 117) Es mag überraschen (der Schärfe der Kritik zum Trotz), dass Oscar Hertwig nicht dafür plädiert, die von Darwin nun ›befreiten‹ Lebenswissenschaften auf die Natur zu beschränken. Nach dem Krieg bleibt die Überzeugung, mit Hilfe biologischen Wissens die Entwicklung von Gesellschaftsorganismen und ihren Organisationsformen bewerten zu können, bestehen. Sie kann durch den Krieg hindurch und ›nach Darwin‹ sogar als gefestigt erscheinen. Hertwig legt selbst eine ›richtungweisende‹ Studie vor: Der Staat als Organismus (1922). Der im Kaiserreich verbreitete Fortschrittsoptimismus und die Erwartung an einen künftig zu festigenden ganzheitlichen Holismus, der alle Wissenschaften vereint,

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wirken fort und lassen für das Bewusstsein, dass der Weltkrieg ein fundamentaler Zivilisationsbruch sein könnte, keinen Raum. Ein Riss zwischen Natur und Kultur wird nicht entdeckt, um den Menschen (trotz allem) von der ins Höhere gerichteten Entwicklung profitieren zu lassen. In der Natur seien eben überall organisierende Kräfte wirksam, so Hertwig, nur wirkten sie auf verschiedenen Stufen, unter denen das Soziale eine eigene Stufe repräsentiert. Der Vorschlag für ein auszuarbeitendes Wissenschaftsprogramm lautet so: [W]ir können […] nur nach den Wirkungen forschen, die den verschiedenen Organisationsstufen eigen sind; wir können versuchen, dieselben unter allgemeine Regeln zu bringen und ihre Entstehung aus der Organisation des Stoffes und seinen Beziehungen zur Umwelt, also aus den gegebenen Systembedingungen, verständlich zu machen. Von diesem Standpunkt aus ordnet sich der Mensch mit seiner Geschichte und Kultur, mit seinen in ihr sich offenbarenden sittlichen und geistigen Kräften in das System der Natur ebenso vollständig und restlos ein, wie jedes andere Naturobjekt und kann zum Gegenstand der Naturforschung gemacht werden. (AD 36)

Hertwigs Optimismus gründet sich auf »Fundamentalgesetze«, die er aus der Forschung an Zellorganismen abgeleitet hat: Das Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung, das Gesetz der physiologischen Integration, das Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeit oder Korrelation der Teile und andere mehr.107 Obwohl politisch betrachtet nicht mehr der Obrigkeitsstaat das Ideal darstellt, ist auch hier wieder der Prozess der Vergesellschaftung (Gesetz der Assoziation von Elementar-Individuen zu Kollektiven) biologisch entlang der Prämissen des Zellenstaates erklärt.108 »[E]ine Art ›unbewußt[r] oder stillschweigende[r] Vertrag‹« (AD 44), beruhend auf Fühlen und Wollen, stellt den Zusammenhalt her. Mit Ferdinand Tönnies gelesen ist das die Quadratur des Kreises, eine undenkbare Identität von Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Vertrag als zweckhafte Beziehungsform, die der ›fremden‹ Gesellschaft zugeordnet ist, wird ins

107 Vgl. Oscar Hertwig: Der Staat als Organismus. Gedanken zur Entwicklung der Menschheit. Jena: Fischer 1922, S. 47–70, Zitat S. 47 und ders.: Werden der Organismen (Anm. 101), S. 119–173. 108 Vgl. ebd., S. 47–49. Der Gedanke, dass Fortschritt in einer zunehmenden Akkumulation und Assoziation bestehe, ist weit verbreitet und grundiert sowohl die Vergesellschaftungsidee als auch die Rüstung zum Krieg. Die Genossenschaftslehre von Schulze-Delitzsch verwendet ebenfalls das Konzept der Assoziation. Vgl. Weindling: Cell State (Anm. 95), S. 117f. Hertwig und von Gruber, so unterschiedlich ihre politischen Interpretationen sind, stehen sich in diesem Punkt nahe. Vgl. von Gruber : Krieg[,] Frieden und Biologie (Anm. 70), S. 11: »Wir können trachten, an die Stelle des Kampfes von einzelnen gegen einzelne den von Gemeinschaften gegen Gemeinschaften zu setzen, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte dieser Entwicklung der Assoziationen zu immer größeren Gebilden, innerhalb deren der Kampf tunlich vermieden oder doch in schonenden Formen geführt wird. Aber es gibt Grenzen für diese Assoziation, die unübersteiglich sind.«

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Unbewusste, in die Domäne des ›Wesenwillens‹ verlegt, der der organisch gewachsenen und durch Gewohnheit stabilisierten Gemeinschaft entspringt.109 So leistet Oscar Hertwig einen zustimmenden Beitrag zur politischen Diskussion um die Idee einer ›deutschen Freiheit‹, wie sie Ernst Troeltsch 1916 und Friedrich Meinecke 1917 formuliert haben. Die ›deutsche Freiheit‹ sollte den ›Ideen von 1789‹ nicht nur entgegentreten, sondern in einer neuen Synthese die historische Erfahrung der Französischen Revolution zugleich ›aufheben‹. An die Stelle des freien Zusammenspiels der Kräfte tritt der freie Zusammenschluss, da auf diese Weise der Freiheit überhaupt erst Dauer verliehen werden könne.110 Meinecke hält folgerichtig die mit Luther, Goethe u. a. hergeleitete »Freiheit des Ineinanders« im Vergleich mit der »Freiheit im Nebeneinander« und der »Freiheit im Gegeneinander« für die wertvollste.111 Bei Hertwig wirken die Abkehr von Darwin, die damit verbundene fortschrittliche Neuorientierung der Biologie und die politische Hintergrundüberzeugung direkt zusammen: Gerade zu Darwins Zeit wurde Konkurrenz und das freie Spiel der Kräfte als das Prinzip, auf welchem aller Fortschritt ökonomischer und sozialer Entwicklung beruht, nach allen Richtungen gepriesen. In unserer Gegenwart hat sich eine fast entgegengesetzte Ansicht geltend gemacht, welche durch Trusts, durch Syndikate und Staatsaufsicht die schädlichen Wirkungen der Konkurrenz beseitigen will und in der besseren Organisation das hauptsächliche Mittel zum Fortschritt sieht.112

Obwohl die Kontinuität zum Kaiserreich in vielen Aspekten offensichtlich ist, demonstriert Hertwig doch eine gewisse Wandlungsfähigkeit des organischpolitischen Denkens, das auch nach dem Weltkrieg nicht notwendig auf die reduktionistische Ethik der Rassenhygiene zulaufen muss. Im Staat als Organismus sind einzelne Organisationsstufen differenziert gefasst, einige Kapitel behandeln den modernen Wirtschaftsprozess. Bei diesen Themen reicht das 109 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Zweite erheb. veränd. u. verm. Aufl. Berlin: Curtius 1912 [1887], S. 9–56, 103–107 u. 127–129. Vgl. dazu Hertwig: »[W]enn in einer sozialen, sittlich und rechtlich geordneten Gemeinschaft die einzelnen ihre individuelle Lebensführung instinktiv oder gleichsam automatisch mit der geltenden Sitte und dem allgemein anerkannten Recht in Übereinstimmung bringen, dann befinden sie sich auch in ihrem Fühlen, Denken und Handeln unter keinem als lästig empfundenen, sondern höchstens als naturnotwendig anerkannten und selbstgewollten Zwang. Ihr Tun und Handeln wird ihnen aus ihrem freien Willen hervorgegangen erscheinen. An Stelle einer nur durch die unabänderlichen Gewalten der Umwelt beschränkten, sonst aber zügellosen Naturfreiheit des Wilden am Beginn jeder sozialen Entwicklung ist allmählich die selbst gewollte, durch Sitte und Recht geordnete Freiheit des sozialen Kulturmenschen getreten.« (AD 45f.). 110 Vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft (Anm. 3), S. 112–117. 111 Vgl. Friedrich Meinecke: Die deutsche Freiheit [1917]. In: Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. 2. Aufl. mit einem Nachw. von Hartmann Wunderer. Stuttgart: Reclam 2014 [1975], S. 157–172, hier S. 164. 112 Hertwig: Werden der Organismen (Anm. 101), S. 627f.

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eigene Fachwissen nicht aus, weshalb die Expertise von Ökonomen, Soziologen und Philosophen hinzugezogen wird.113 Immerhin sollen die »Systembedingungen« der organischen Stufen und ihre Umwelten unabhängig voneinander erforscht werden, Anzeichen für ein reflektiertes Emergenzdenken von Kultur aus Natur, das etwa die Leistung der Religion für den sozialen Zusammenhalt durchaus anerkennen kann.114 Wenn es auch der Philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners sowie dem Konstruktivismus vorbehalten bleiben wird, das Soziale und seine natürlichen Fundamente schlüssiger ins Verhältnis zu setzen, gehören Hertwigs Überlegungen zum Problem der Erfassung von Organisationsformen sozialer Kräfte zur Vorgeschichte auch der Systemtheorie. Es wäre zu einseitig, Hertwigs Arbeiten als letzte Ausläufer einer erst von Talcott Parsons mit Max Weber überwundenen sozialdarwinistischen Strömung einzuordnen.115 Wo die Grenzen der eigenen Zuständigkeit tatsächlich liegen oder liegen sollten, hat Oscar Hertwig trotzdem nicht ausreichend thematisiert. Im Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit der ›Naturforschung‹ gesteht er sich nicht ein, dass seine Terminologie zur Beurteilung von Strukturen und Prozessen der staatlichen Organisation keiner experimentalwissenschaftlichen Rückversicherung bedarf und dass die Untersuchung von Wirtschaftskrisen von deren Auffassung als ›Krankheiten‹ des Staatsorganismus nicht bereichert wird. Wenn er die Entwicklung der Wirtschaftsordnung der letzten zwei Jahrhunderte als ein evolutives Ringen um zweckmäßige Formen verstehen will oder Fabriken und Behörden wieder auf biologische Analogien (Organe, zentrales Nervensystem) bringt, führt das zu politischen Empfehlungen, die der Kontingenz des Sozialen nur eingeschränkt begegnen können.116

113 Unter den zitierten Autoren finden sich beispielsweise Walther Rathenau, Julius Wolf, Ferdinand Lasalle, Werner Sombart und Karl Marx. 114 Vgl. dazu das abschließende Urteil von Weindling: Darwinism (Anm. 102), S. 298: »The importance of Hertwig’s final theory of the state lies not in any conceptual innovation in sociological analysis, but in Hertwig’s ability to synthesize conflicting social ideologies, and to present the great intellectual as social leader. This glorification of the academic reveals the mainspring of Hertwig’s scientific endeavours and socially-oriented epistemology. It involved a broadened definition of organicist biology.« 115 Vgl. Uta Gerhardt: Darwinismus und Soziologie – Zur Frühgeschichte eines langen Abschieds. In: Michael Wink (Hg.): Vererbung und Milieu. Berlin u. a.: Springer 2002, S. 183–215. Ambros: Wesen und Formen (Anm. 23), S. 26 setzt Hertwig zu pauschal mit den Organizisten Albert Schäffle und Paul von Lilienfeld gleich. 116 Vgl. Hertwig: Staat als Organismus (Anm. 107), S. 134–139.

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4.

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Die ›Ideen von 1914‹ und das organisch-politische Denken

Das weist auf die Einschränkungen der Politisierbarkeit biologischer Staatsmodelle vor allem seit der zweiten Kriegshälfte und nach der Niederlage hin. Die ›Ideen von 1914‹ gruppieren sich in ihren Varianten und Forderungen um »eine sinnstiftende, Erlösung verheißende Ordnungsidee«, die von der Gegenwart auf die Zukunft gerichtet ist.117 Solange die militärische Lage (oder was von ihr an der Heimatfront bekannt ist) die Interpretation zulässt, dass der Krieg den bereits gut organisierten Staat zur beschleunigten Entwicklung und Anpassung anregt, behält das Prinzip der natürlichen Höherentwicklung ein annehmbares Maß an Plausibilität. Die Texte der Biologen können allgemein einem konservativen Register zugerechnet werden, das die naturgeschichtliche Vergangenheit für die Zukunft bewahren will und den Burgfrieden stützt, wenn der Einzelne im Staatsorganismus an seiner Stelle seine Pflicht tut.118 In der ersten Kriegshälfte, möchte man eine politische Positionsbestimmung versuchen, wird eine korporative Gesellschaftsordnung im weitesten Sinne befestigt, die zu dieser Zeit von den meisten Intellektuellen und Professoren eingefordert wird.119 Je mehr im Zuge der ›Ideenwende 1916‹ aber innenpolitische Konflikte aufbrechen, desto offenkundiger muss werden, dass den Texten hier differenzierte Anschlussstellen fehlen.120 Spannungen in der Kriegsgesellschaft erzeugen Debatten zur Wahlrechtsreform und zur Rolle des Parlamentarismus, es werden konstitutionelle Fragen zur Staatsform (Demokratie, Kaisertum oder Volkskönigtum) aufgeworfen, für die in der Biologie keine Äquivalente denkbar sind. In diesen Debatten erscheint die lange erfolgreich tradierte Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs unter dem Einfluss des Krieges zunehmend nicht mehr als natürliche Ordnung, sondern als ein kontingentes soziales Konstrukt. Die durch das Wissen der Lebenswissenschaften stark ›naturalisierte‹ Metapher vom Organismus bietet keine Deutungsperspektive für die Tatsache, dass der Weltkrieg eine Ausnahmesituation herbeigeführt hat, die die soziale Organisation nicht 117 Bruendel: Volksgemeinschaft (Anm. 3), S. 26. 118 Vgl. für eine Typologie verschiedener Konservatismen Johannes Roggenhofer : Philosophische Gedanken über ästhetischen Konservatismus. In: Jan Andres, Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann (Hg.): »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Frankfurt/M., New York: Campus 2007, S. 14–29, hier S. 19–22. 119 Die korporativen Ordnungsvorstellungen bilden nach Steffen Bruendel den Kern der von Johann Plenge auf die Formel gebrachten ›Ideen von 1914‹ und fordern einen organisatorischen Sozialismus, der Berufsparlamente und eine Reform der Wirtschaftsordnung einschließt. Zu den transportierten Werten gehören Kameradschaft, Disziplin, Opferbereitschaft und Staatsvertrauen. Vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft (Anm. 3), S. 111–141. Zur Organisation bei Plenge vgl. Beßlich: Wege (Anm. 7), S. 316–321. 120 Vgl. zur ›Ideenwende 1916‹ Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest 2000, S. 279–289.

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nur militärisch von außen unter Druck setzt, sondern sie von innen her durch Kämpfe um politische Repräsentation bedroht, und dass diese Kämpfe den Staat nicht gleich auflösen, sondern den Zusammenhalt gesellschaftlich stärken könnten. Es ist naheliegend, dass der organisch-politische Zweig des Kriegsdiskurses auf diese Herausforderung und den mit der Länge und den Opferzahlen des Krieges steigenden Rechtfertigungsdruck mit der Forderung reagiert, die Inklusion weiter zu stärken. Den Zusammenhalt (wie Schallmayer und Holle) im rassischen Pseudosubstantialismus zu suchen, dessen ›instinktiv‹ richtige Vererbung durch staatliche Eingriffe gesichert wird, ist die radikalste, auf eine exklusive Volksgemeinschaft hinzielende Variante – jedoch kein Automatismus.121 Grundlegend problematisch ist dennoch bei allen Autoren, die biologische Analogien und den Zellenstaat in Anspruch nehmen, dass die empfohlenen Maßnahmen zur Organisation des Staates blind sind für ein Zuviel an staatlichem Zugriff. Von biologischer Seite kann einem übersteigerten Etatismus, dem Monopolkapitalismus und der totalen Inklusion von Individuen nicht Einhalt geboten werden, besonders nicht unter den Bedingungen des Weltkriegs, der den Obrigkeitsstaat im Deutschen Reich schleichend in eine Militärdiktatur der 3. OHL transformiert, in deren Händen die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln liegt. Aus diesen Gründen sind die Texte der Krisenreflexion wenig gewachsen, ihnen fehlen Argumentationsfiguren für eine situationsbedingte ›Demobilisierung‹, die ein Teil der Intellektuellen in den Jahren 1916 und 1917 vorsichtig unternimmt und die aus der alternativlosen Drastik der Trias biologischer Zustände: Leben, Krankheit, Tod wirklich hinausführte. So hatte zwar auch Ernst Troeltsch in der Diskussion der ›deutschen Freiheit‹ davon gesprochen, dass die Bürger »Organe des einen souveränen Ganzen« seien und sich ihre Freiheit im »Dienst des Einzelnen an seinem Ort in der ihm zukommenden Organstellung« ausdrücke; zugleich konnte Troeltsch aber zu bedenken geben, dass der Staatssozialismus durch einen »Bildungsindividualismus« ergänzt werden sollte, durch »Selbstständigkeit und Individualität der freien geistigen Bildung«,122 was eine Abwendung von totalen Verpflichtungen und die spätere Wandlung zum Vernunftrepublikaner offenhält.123 Für die Biologen ist das

121 Vgl. Schöning: Eskalation (Anm. 6), S. 49–53 und Bruendel: Geburt der ›Volksgemeinschaft‹ (Anm. 5), S. 11–13. 122 Ernst Troeltsch: Die deutsche Idee von der Freiheit [1916]. In: Ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden. Hg. von Hans Baron. Neudruck d. Ausg. Tübingen 1925. Aalen: Scientia 1966, S. 80–107, hier S. 94 u. 103. 123 Vgl. dazu Matthias Schöning: »Demobilisierung der Geister«. Ernst Troeltsch, die »Ideen von 1914« und der Vernunftrepublikanismus. In: Gislinde Seybert u. Thomas Stauder

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schwieriger, wenn die fortschrittliche Entwicklung in der verstärkten Akkumulation und Assoziation von Einzelelementen gesehen wird. Das Individuum – es figuriert ja als ein Zellenstaat im Kleinen – markiert in dieser Logik ein Durchgangsstadium auf dem Weg fortschreitender Arbeitsteilung, der als Modell der politischen Partizipation das Ständehaus oder der Berufsstaat, nicht aber die freiheitliche Selbstorganisation beispielsweise in Parteien entspricht. Als Folge daraus kann exemplarisch ein letztes Beispiel belegen, dass der Zusammenbruch des Deutschen Reiches keineswegs zum Ende organisch-politischer Deutungsversuche führt, jedoch zur neuen Utopisierung biologischer Inklusion und zur Verschiebung des Bezugs auf Wissenschaft. Viele Texte der 1920er Jahre rücken ab vom Horizont der Forschung und tragen deutlicher einen populär-weltanschaulichen Charakter. Mitbedingt ist die Abkehr von der finanziellen Notlage und der internationalen Isolierung, in die die deutsche Wissenschaft für etwa ein Jahrzehnt nach Kriegsende gerät.124 Unter dem Einfluss der vielschichtigen Krisenphänomene der Weimarer Republik bleiben die Argumentationsfiguren dieselben, wenngleich die Souveränität der Analyse und ihre Passgenauigkeit auf die politische Lage starrsinnig behauptet werden. Adolf Wagner erklärt 1926 nun sogar den Staat als Organismus für eine unbrauchbare Metapher, um die Natur als Erkenntnisquelle noch ›ernster‹ zu nehmen und neben den »›konstruierten‹ Staaten« auch die Zelle abzulehnen.125 In der Folge des Weltkriegs wird verstärkt die Technik in den Entwicklungsgang der Natur einbezogen. Die »Schaffenstätigkeit des Menschen [sei schließlich] von der Plasmatechnik [des] Gehirnes mitabhängig, [die] also nur ein Endglied der naturgeschaffenen Technik ist!«126 Hier treffen die Schockwirkung des Krieges und eine ganzheitlich-weltanschauliche Verlusterfahrung zusammen, so dass Gegenwartsdiagnose und Maßnahmenkatalog völlig rhetorisch bleiben und in der Emphase aufgehen. In den Resten konzeptioneller Begrifflichkeit kommt das Begehren nach einer universalen Sozialutopie zum Vorschein, das dem politischen Diskurs der Weimarer Republik zur schweren Hypothek und der Rassenhygiene institutionell Vorschub leisten wird. Im Rückblick lässt das erkennen, wie beharrlich fern das organisch-politische Denken oft von einer

(Hg.): Heroisches Elend. Der Erste Weltkrieg im intellektuellen, literarischen und bildnerischen Gedächtnis der europäischen Kulturen. Frankfurt/M.: Lang 2014, S. 429–446. 124 Als Reaktion darauf wird die Notgemeinschaft (aus der später die DFG hervorgeht) in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründet. Vgl. Karin Orth u. Willi Oberkrome (Hg.): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Stuttgart: Steiner 2010, S. 41–52. 125 Adolf Wagner : Der »organische Staat«. Leipzig: Voigtländer 1926, S. 6. Die Schrift erscheint in der von Raoul H. Franc¦ herausgegebenen Ratgeberliteraturreihe mit dem Titel BIOS. Bücherei für erfolgreiches Leben. 126 Ebd., S. 39.

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›wirklichen‹ Analyse von Gemeinschaftlichkeit und Vergesellschaftung unter den Bedingungen des Krieges geblieben ist:127 [E]ine so große Gemeinschaft, wie […] ein moderner Großstaat, [ist] doch in wahrem Sinne eine Biozönose, in der die verschiedensten Elemente, seien es Einzelindividuen oder kleinere Gemeinschaftsverbände (Gesellschaftsklassen, Berufsgruppen, Parteien usw.) nicht durch Verdrängung oder Unterdrückung der anderen, sondern nur durch Ausgleich und Einordnung der Lebensforderungen im Sinne des Harmoniegesetzes einer wirklichen Biozönose den Bestand des Ganzen ermöglichen können.128

Zu denen, die nach 1918 mit Gewissheit verkünden, dass der Krieg den Fortschritt zwar aufgehalten, nicht aber unterbrochen habe, gehört schließlich auch Eberhard Dennert. Bevor er im völkischen Antisemitismus der Nationalsozialisten nach dem Bedeutungsverlust der Weltanschauungsvereine in den 1920er Jahren eine neue ›intellektuelle‹ Heimat findet, legt auch er Studien zum Staatsorganismus und zum Wiederaufbau vor und schwört seine Leser darauf ein, in den Anstrengungen zur Verwirklichung einer harmonischen Staats- und Gesellschaftsordnung am Beispiel der Natur keinesfalls nachzulassen.129 Die Unbeirrbarkeit auf diesem Feld wird bekanntlich dazu beitragen, den Ersten Weltkrieg zur ›Urkatastrophe‹ des 20. Jahrhunderts zu machen. Am Material sollte der Beitrag zeigen, wie die Lebenswissenschaften, die populären Texte aus dem Umfeld und der Kriegsdiskurs interagieren und politische Sinnstiftungen wechselwirkend befestigen. An Vorbehalten gegen solche Allianzen fehlt es nie. Insbesondere die methodisch reflektierte Soziologie um 1900 übt Kritik an naturalistischen Lesarten von Kultur.130 Ferdinand Tönnies steht über Jahre in polemischer Auseinandersetzung mit Wilhelm Schallmayer

127 Vgl. auch die Valenzen der nationalen Körpermetaphorik bei Moritz Föllmer : Der »kranke Volkskörper«. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 41–67, die um das Jahr 1926 in eine ›Gesundung‹ umschlägt (vgl. ebd., S. 58). 128 Wagner : Der »organische Staat« (Anm. 125), S. 125. Zum Ursprung der Biozönose bei Karl Moebius im Kontext des Denkens ökologischer Ganzheit vgl. Benjamin Bühler : Zukunftsbezug und soziale Ordnung im Diskurs der politischen Ökologie. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften: Politische Ökologie 2 (2009), S. 35–44, hier S. 38f. 129 Vgl. Eberhard Dennert: Not und Mangel als Faktoren der Entwicklung. Eine biologische Studie mit besonderer Berücksichtigung des Krieges. Godesberg b. Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1916; ders.: Der Staat als lebendiger Organismus. Biologische Betrachtungen zum Aufbau der neuen Zeit. Halle: Müller 1920; ders.: Sklave oder Herr? Der Weg zur persönlichen und völkischen Wiedergeburt. Witten: Westfäl. Volksdienst 1923; ders.: Vom Untergang der Kulturen zum Aufstieg der Menschheit. Betrachtungen über die Grundgesetze der Kulturbiologie. Witten: Westfäl. Volksdienst 1923. Zu Dennerts ideologischen Wandlungen vgl. Selle: Antidarwinismus (Anm. 34), S. 115–123. 130 Die Organismus-Metapher spielt allerdings auch bei einem Soziologen wie Êmile Durkheim eine zentrale Rolle, wie Lüdemann: Metaphern (Anm. 25), S. 107–126 herausgearbeitet hat.

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und widerlegt unermüdlich die Kernargumente der Rassenhygiene.131 Otto Jaekels ›artiges‹ Kriegsbuch hält er immerhin für gut lesbar – und wissenschaftlich für wertlos.132 Gegen Max Webers Objektivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis gehalten, die Kulturvorgänge in Wertsphären und »auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat«, erfassen soll, und nicht in der »Reduktion des Empirischen auf ›Gesetze‹«,133 sind die Sinnstiftungsversuche der Biologen dem Vorwurf ausgesetzt, weit jenseits von Wissenschaft eben doch nur die politische Ideologie ihrer Verfasser auszustellen. Das allerdings würde zu kurz greifen. Eine Kulturgeschichte des Weltkriegs muss die Vor- und Nachkriegszeit einbeziehen und bedenken, dass der Krieg als ontologisches Ereignis zunächst sinnlos ist und nichts beweist. Erst die perfide Produktivität des Kriegsdiskurses sorgt dafür, dass der Krieg in einem historisch gegebenen Horizont möglichen Wissens alles beweisen könnte. Indem er Gemeinplätze stabilisiert und zwischen differenzierten, fremden Gegenstands- und Sozialbereichen vermeintlich entlastende, tatsächlich aber parasitäre konkrete Kopplungen herstellt, wird auf eigentümliche Weise populärer Sinn und ›Erkenntnis‹ produziert. Besonders für einen Weltkrieg, der zunehmend alles und alle erfasst, trifft das schon in der Phase seiner Erwartung zu. Das Augusterlebnis und die ›Ideen von 1914‹ sind Momente, die diesen Prozess regulieren und sie unterstützen die Einübung von Haltungen. Zu irritieren oder gar zu widerlegen sind die abseits der Front beglaubigten, langfristig mit symbolischen Investitionen belegten und damit unbeherrschbar gewordenen Evidenzen dieser ›Erkenntnis‹ im populären Raum nicht oder nur sehr schwer. Selbst der Ort, von dem aus dies verlangt werden müsste, die Wissenschaft, hat ihre Denkfiguren, Konzepte und Wissensbestände, sogar ihre wissenschaftsinternen Lagebestimmungen und Zukunftsentwürfe, längst auf den Weltkrieg abgestimmt.

131 Vgl. Ferdinand Tönnies: Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung [sechs Teile 1905–1911]. In: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung. Jena: Fischer 1925, S. 133–329. Den Hinweis auf die Rezensionen, die die Diskussionslage anschaulich klären, entnehme ich Lüdemann: Metaphern (Anm. 25). Vgl. dort auch die Diskussion von Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff (ebd., S. 127–152). 132 Vgl. Ferdinand Tönnies: [Rez. zu Jaekel: Die natürlichen Grundlagen staatlicher Organisation]. In: Weltwirtschaftliches Archiv 11 (1917) H. 1, S. 135–137, hier S. 136. Tönnies sieht gewiss keinen Sinn darin, natürliche Äquivalente für den Staat zu erheben: »Sein unmittelbares und erstes (primäres) Dasein hat der Staat nur in den Köpfen seiner eigenen Subjekte, der Untertanen oder Staatsbürger. Sie können ihn denken als einen Organismus und sich als dessen Glieder ; abgelöst von ihrem Denken ist er in der Welt der Erscheinungen nicht anzutreffen.« 133 Max Weber : Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. 7. Aufl. Tübingen: Mohr 1988 [1922], S. 146–214, hier S. 180.

II. Publizistik und Sachbuch

Thomas F. Schneider

Teufel Tank. Der Tank-Diskurs als Kulminationspunkt der Diskussion um den Ersten Weltkrieg in populären Medien (Literatur, Illustrierte, Photographie) 1914–1938

Im Vorfeld des 2014 zu begehenden 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges und des damit zu erwartenden Medien-Hypes wurden von den deutschen populärwissenschaftlichen Medien bereits im Herbst 2013 die Pflöcke eingeschlagen, die den Diskurs und die ›Erinnerung‹ präformieren sollen und werden. Allen voran stand wieder einmal der Spiegel mit einer Ausgabe des Ablegers Spiegel Geschichte zum Ersten Weltkrieg vom September 2013.1 Das Heft ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, doch vor allem im Hinblick auf die Ursachen der Niederlage der Mittelmächte. Zwar wird auch und ganz im Sinne der Diskurse der letzten Jahrzehnte der Kriegseintritt der USA und das Auftreten US-amerikanischer Truppen auf dem westlichen Kriegsschauplatz als ausschlaggebend für die Niederlage dargestellt, doch mit einer kleinen, aber dennoch bemerkenswerten Erweiterung und – auf den ersten Blick – Modifikation: Gleich an mehreren Stellen wird der Zusammenbruch der deutschen Westfront explizit zurückgeführt auf den massenhaften Einsatz von Panzerwagen (hier und im Spiegel im Folgenden als »Tanks« bezeichnet) »bei Amiens« Anfang August 1918 durch die Alliierten und namentlich die US-Streitkräfte.2 Zudem wird im Verlauf des Heftes die eigentliche ›Erfindung‹ des Tanks explizit Winston Churchill zugeschrieben, der – eine geradezu klassische Narration – zunächst mit seiner Idee bei der britischen Führung auf taube Ohren gestoßen sei, sich schließlich aber habe durchsetzen können.3 Ob diese Darstellung den historischen Fakten entspricht, sei dahingestellt, steht hier nicht zur Debatte und ist letztlich auch irrelevant. In jedem Fall konstruiert Spiegel Geschichte im Jahr 2013 in der nun nicht unwesentlichen Frage nach den Ursachen der deutschen militärischen Niederlage eine Geschichte, die sowohl einem mit der Kriegführung des Zweiten Weltkrieges und 1 Spiegel Geschichte (Hamburg) 5 (Sept. 2013): Der Erste Weltkrieg 1914–1918: Als Europa im Inferno versank. 2 Ebd., S. 52 (»456 Kampfwagen«), S. 75 (»mit mehr als 500 Panzern«) u. passim. 3 Ebd., S. 100.

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gegenwärtiger Landkriege vertrautem Publikum grundsätzlich Anschlussmöglichkeiten bietet wie auch Vorstellungen von materieller Überlegenheit der Entente bedient und mehr noch die Ursachen der deutschen Niederlage an ein Individuum, Winston Churchill, anbindet, das wiederum auf den Zweiten Weltkrieg verweist und damit Kontinuität herstellt – dementsprechend auch bereits auf dem Umschlag prominent die Abbildung eines Tanks. »Nun wissen wir es also genau«, könnte man mit Friedrich Luft konstatieren, bliebe nicht die Irritation, dass in dieser Narration die sogenannte »Tankschlacht von Cambrai« vom November 1917 zwar erwähnt, aber nicht als kriegsentscheidend herhalten kann, und – weiter gefasst – diese Erzählung unmittelbar und nahtlos anschlösse an die noch während des Krieges in den populären Medien begonnene und in der Weimarer Republik bis ins »Dritte Reich« fortgeführte Narration über die deutsche Niederlage. Auf die ersten, vereinzelten Einsätze von Tanks an der Westfront reagierten die Medien des Kaiserreiches – in Wort und Bild weitgehend kontrolliert von den Zensurstellen und letztlich vom Bild- und Filmamt (BUFA) – ab 1917 zunächst mit Amüsement, dann, um des um sich greifenden ›Tankschreckens‹ unter den deutschen Truppen Herr zu werden, mit Verniedlichung. Wort und Bild sollten aufzeigen, dass Tanks nicht ganz so unbesiegbar seien wie angenommen, mehr noch, dass man sie sich aneignen könne und in eigenen Verbänden gegen den Gegner einzusetzen in der Lage sei. Zielsetzung war offensichtlich, die neue Waffe nahtlos in das bereits bestehende Arsenal vorhandener moderner Waffen zu integrieren, ihr keine exzeptionelle Bedeutung einzuräumen und so den ›Tankschrecken‹ erfolgreich zu bekämpfen. Wie sehr diese Strategie in der Propaganda auch für die Front wirksam geworden ist, verdeutlicht ein Bericht über einen vom Kriegspresseamt im Dezember 1917 ausgelobten Wettbewerb für »Plakatentwürfe zur achten Kriegsanleihe«. Unter den dann auch medial verbreiteten, vorgeblich von Frontsoldaten eingereichten Entwürfen findet sich eine Einsendung von einem ungenannten Frontsoldaten, die mehrere bedrohlich wirkende Tanks in Untersicht zeigt mit dem Insert »Wir schlagen sie – und zeichnen Kriegsanleihe!«4 Dieselbe Strategie wurde nur wenig später für die mediale Aufbereitung des Kriegseintritts der USA und des Erscheinens der ersten US-Truppen auf dem westlichen Kriegsschauplatz Anfang 1918 angewendet.5 Der Ausbildungsstand

4 Vgl. die »Plakatentwürfe zur achten Kriegsanleihe«. In: Der Weltkrieg. Illustrierte Kriegschronik des Daheim. Bd. 9. Bielefeld, Leipzig: Velhagen & Klasing 1918, S. 95 (ca. Ende März 1918). 5 Vgl. Thomas F. Schneider: »Then He Saw That the War Was Lost«. Modes and Methods of Representations of American Soldiers in German World War I Literature (1917–1934). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener (Hg.): Huns vs. Corned Beef. Representations of the

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Abb. 1: Leipziger Illustrirte Zeitung, Kriegsnr. 186 vom 21. 2. 1918, S. 185.

der amerikanischen Soldaten wurde gering geschätzt, mehr noch ihr Einsatz explizit auf den Status von ›Kanonenfutter‹ reduziert. Diese ersten Berichte fielen weitgehend zusammen mit der zunächst erfolgreichen deutschen Frühjahrsoffensive des Jahres 1918. Nach dem Scheitern der Operation »Michael« kommt es ab Frühsommer 1918 zu einem radikalen Wandel und einer Verknüpfung der Narration über die US-Truppen mit dem nun ebenfalls völlig gewandelten Tank-Diskurs. Beide Narrationen erscheinen verschränkt in einem Bild der materiellen Überlegenheit, die durch die Darstellung der gegnerischen Truppen als Masse geprägt ist sowie durch die Betonung der Überlegenheit der Maschine, deren Sinnbild der Tank wird: »Den Franzosen, Amerikanern und Engländern aller Farben bahnten wuchtig vorstoßende, dicht zusammengeballte Panzerwagengeschwader den Weg in die deutschen Stellungen hinein.«6 Obwohl trotz der nun Other in American and German Literature and Film on World War I. Göttingen: V& R unipress 2007, S. 85–114. 6 Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/1919 9 (1918), S. 53f.

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ausschließlich materiellen Überlegenheit des Gegners die deutschen Truppen als in der Lage geschildert werden, die Angriffe aufzuhalten, berichten ab diesem Zeitpunkt und unter den Vorzeichen dieser neuen Narration die deutschen Medien nun nicht mehr über Fortschritte. Die Berichte verzeichnen deutsche ›Rückzugsbewegungen‹ und ›Abmarschbewegungen‹, die jedoch weiterhin und konsequent mit dem ›Kanonenfutter‹-Image der US-Truppen verbunden bleiben: »Soissons wurde daher am 3. August geräumt, welcher Umstand die Franzosen – und noch mehr die Amerikaner, die sich diesen Sieg zuschrieben – in den größten Siegestaumel versetzte, was sie ihre unsagbaren Verluste vergessen ließ.«7 Mit der ihr eigenen zeitlichen Verzögerung erschien kurz vor Kriegsende in der Leipziger Illustrirten Zeitung ein Leitartikel, der nun auch dem breiten, nicht militärisch interessierten Publikum den Diskurs verdeutlichte. Unter dem Titel »Die Tanks in der Durchbruchsschlacht« rekapitulierte Generalleutnant Meyer die deutschen Erfolge gegen Tanks in der Schlacht von Cambrai Ende 1917. Nun aber habe der Gegner neue, bessere Tanks entwickelt, die er massenhaft einsetze, und: »Daß unsere Gegner imstande sind, eine bedeutend größere Anzahl Tanks einzusetzen als wir, ist bekannt.« Dem aktuellen massenhaften Einsatz hätten die Deutschen nichts entgegenzusetzen, so empfiehlt Meyer als »mittelbare Abwehrmaßregeln«, bis die »während des ganzen Weltkrieges bewiesene Anpassungsfähigkeit« der Deutschen ein wirksames Gegenmittel ergeben habe: »Wahl der Verteidigungsstellung hinter Wasserläufen, Kanälen, Schluchten, hinter Waldrändern usw.« – ein Offenbarungseid.8 Die Ursachen der Niederlage waren damit festgelegt und wurden bis Kriegsende auch nicht mehr revidiert: Dem massenhaften Einsatz von Truppen und dem massenhaften Einsatz von Tanks, die stets als Einheit gedacht wurden, hatten die deutschen Soldaten quantitativ nichts entgegenzusetzen. Der deutsche Soldat der Westfront sah sich vielmehr einer amorphen Verbindung von Stahl und Körper gegenüber, die im Gegensatz zu den ebenfalls seit Kriegsbeginn als Masse gezeichneten russischen Truppen nun zur seelenlosen Maschine verschwommen, die das Individuum mit seinen ›nackten Händen‹ schlichtweg zu besiegen nicht in der Lage ist. Damit waren zugleich die Fundamente für das ›Im-Felde-unbesiegt‹-Ideologem der Nachkriegszeit gelegt. Von 1921 bis 1930 publizierte das Reichsarchiv in Potsdam die schließlich in zweiter Auflage 36 Bände umfassende Reihe Schlachten des Weltkrieges.9 Die 7 Ebd., S. 97. Vgl. auch ebd., S. 162. 8 Generalleutnant Meyer: Die Tanks in der Durchbruchsschlacht. In: Leipziger Illustrirte Zeitung 151, 3930/Kriegsnr. 221 vom 24. 10. 1918, S. 436–438. 9 Vgl. Markus Pöhlmann: »Das große Erleben da draußen«. Die Reihe Schlachten des Weltkrieges (1921–1930). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi 2003, S. 114–131.

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Abb. 2: Leipziger Illustrirte Zeitung, Kriegsnr. 219 vom 10. 10. 1918, S. 386.

Intention der Publikation war auf einer ersten Ebene, einem breiten Publikum eine halb-offizielle Geschichte des Ersten Weltkrieges zu bieten, festgemacht an als vorab zentral angesehenen ›Schlachten‹. Auf einer zweiten Ebene – und nicht weniger explizit – fokussierte die Reihe nach den Worten des im Reichsarchiv für die Reihe Verantwortlichen, George Soldan, auf eine Neu-Interpretation des verlorenen Krieges, um »ein zusammengebrochenes Volk aufzurichten, ihm den Glauben an sich wiederzugeben« und »aus gemeinsam getragenem Glück und Unglück deutschnationales Empfinden erwachsen zu lassen.«10 Somit sollte die Reihe nicht nur einen historischen Überblick geben, sondern der Niederlage einen ›Sinn‹ zuschreiben als ein »Quell, aus dem neuer Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit und neue Kraft zur Mitarbeit an dem Wiederaufbau unseres zusammengebrochenen Vaterlandes fließen kann.«11 10 George Soldan: Die deutsche Geschichtsschreibung. Eine nationale Aufgabe. Manuskript, n.D., 64. Bundesarchiv Abt. Berlin, R 1506, Nr. 41, zit. n. Pöhlmann: »Das große Erleben da draußen« (Anm. 9), S. 117. 11 Erich von Tschischwitz: Antwerpen 1914. Oldenburg: Stalling 1921, S. 5.

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Diese revisionistische Zielsetzung und der damit verbundene Versuch, die Deutungshoheit über den Krieg zu gewinnen, repräsentieren eindeutig in einem semi-offiziellen Rahmen die politisch rechte, revanchistische, anti-demokratische Position zu Beginn der Weimarer Republik. Bekanntlich war die Reihe mit durchschnittlich 40.000 Exemplaren pro Band außerordentlich erfolgreich und hat mit ihrer eindeutigen Fokussierung auf die Westfront wesentlich sowohl zum Frontkämpfermythos des an der Westfront geborenen ›Neuen Menschen‹ beigetragen wie auch das Bild des Ersten Weltkrieges im deutschen kulturellen Gedächtnis bis auf den heutigen Tag geprägt.12 Von den 36 Bänden beschäftigen sich die letzten fünf Bände mit der deutschen Frühjahrsoffensive 1918, ihrem Scheitern und dem Zusammenbruch der Westfront im Sommer 1918.13 Die Monate zwischen Mitte August bis November 1918, in denen sich die völlige Auflösung des Heeres vollzog, werden bezeichnenderweise nicht thematisiert. In der Darstellung der Niederlage knüpfen die Schlachten des Weltkrieges nahtlos an die 1918 implementierte Narration an: die Verbindung von Masse und Material, von US-Truppen und Tanks: Die Lage der 7. Armee war kritisch. Noch immer war die zahlenmäßige Überlegenheit des mit großer Entschlossenheit angreifenden Gegners erdrückend. Wenn bei seinen weiteren Stößen auch das Überraschungsmoment wegfiel und wenn auch die eigene Truppe den »Tankschrecken«, der sie […] stellenweise erfaßt zu haben schien, allmählich verloren hatte, so bestand doch die Gefahr eines feindlichen Durchbruchs nach wie vor in hohem Maße.14

Die gesamte Darstellung des Zusammenbruchs der Frühjahrsoffensive und der Gegenangriffe der Entente namentlich bei Chateau-Thierry ist durchweg geprägt von dieser Kombination von (Menschen)Masse und (Tank)Material.15 Und der in diesem Zusammenhang des Nachkriegsdiskurses nicht mehr wie noch während des Krieges wegzuleugnende ›Tankschrecken‹ bedarf neben der Darstellung auch einer Erklärung:

12 Vgl. Thomas F. Schneider: »In Russland. Da ist ja kein Krieg mehr«. Vom Verschwinden der Ostfront aus dem deutschen kulturellen Gedächtnis. In: Bernhard Bachinger u. Wolfgang Dornik (Hg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2013, S. 437–450. 13 Thilo von Bose: Deutsche Siege 1918. Oldenburg: Stalling 1929; ders.: Wachsende Schwierigkeiten. Oldenburg: Stalling 1930; Alfred Stenger : Der letzte deutsche Angriff. Reims 1918. Oldenburg: Stalling 1930; ders.: Schicksalswende. Von der Marne bis zur Vesle 1918. Oldenburg: Stalling 1930; Thilo von Bose: Die Katastrophe des 8. August 1918. Oldenburg, Berlin: Stalling 1930. 14 Stenger : Schicksalswende (Anm. 13), S. 143. 15 Vgl. ebd., S. 33, 57–58, 90, 109, 114, 121, 151, 181 u. 200.

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Abb. 3: Thilo von Bose: Die Katastrophe des 8. August 1918. Oldenburg, Berlin: Stalling 1930 (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 36).

Von den übrigen Gründen, welche die Überraschung begünstigten, sei hier lediglich auf das in diesem Umfang noch nicht bekannte Auftreten neuartiger Tanks eingegangen. […] Die Menge der vorwärtsrollenden Sturmwagen hat auf den einzelnen Infanteristen vielfach verwirrend gewirkt, er hielt sich den feuerspeienden, schnell beweglichen Ungetümen gegenüber für verlassen und verlor die Nerven.16

Die Betonung des ›Tankschreckens‹ reiht sich damit nahtlos ein in die Narration der Überwindung der Angst im industrialisierten Krieg wie an anderen mythisierten Orten wie der Somme oder Verdun. Bernd Hüppauf hat gezeigt, dass gerade die Überwindung der Angst der Indikator für den ›Frontkämpfer‹ als Paradigma einer zukünftigen nationalistischen Gesellschaft ist.17 Überwindung 16 Ebd., S. 221. 17 Vgl. Bernd Hüppauf: Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«. In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich u. Irina Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…« Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 53–103 und zuletzt Markus Pöhlmann: Die Rückkehr an die Somme 1918. In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich u. Irina Renz (Hg.): Die Deutschen an der Somme 1914–1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde. Essen: Klartext 2006, S. 203–214.

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der Angst, Aushalten angesichts materieller und numerischer Überlegenheit sind die Kennzeichen für die aus den ›Stahlgewittern‹ des Ersten Weltkrieges geborenen ›Neuen Menschen‹. Neben dem Trommelfeuer vor Verdun oder anderen mythisierten Orten der Westfront wird ab Mitte der 1920er Jahre die Verbindung von US-Truppen und Tanks zum rechtsradikalen Stereotyp für die Leistungen des deutschen Soldaten im Krieg.18 So erscheint nicht die Niederlage als übergeordnetes soziales und ideologisches Problem der Nachkriegszeit, sondern die Gewinnung eines aus diesem Ereignis zu ziehenden neuen Selbstbewusstseins. Und genau dies war die Intention der Schlachten des Weltkrieges, die ausgerechnet die Niederlage gegenüber der aus Mensch und Stahl geschmolzenen Maschine zur Geburtsstunde einer die Weimarer Republik überwindenden neuen Gesellschaftsordnung stilisierten. Wie erfolgreich die Anstrengungen des Reichsarchivs letztlich waren, zeigt sich in dem Umstand, dass seit der Mitte der 1920er Jahre das massenhafte Auftreten von US-Soldaten in Kombination mit Tanks zum Stereotyp der allgemeinen Beschreibung der letzten Kriegsmonate in der deutschen Literatur wurde. Ob in fiktionalen oder in ›authentischen‹ Frontromanen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, das Auftreten der US-Soldaten markiert das Ende des Krieges oder das Ende der Kriegserfahrungen des Protagonisten. Dabei lassen sich keine Unterschiede dieses Stereotyps zwischen Texten pazifistischer Autoren oder jenen nationalistischer oder nationalsozialistischer Provenienz feststellen. In einigen dieser Texte gerinnt die Kombination aus US-Truppen und Tanks zum übergeordneten Symbol oder zur Metapher für das Ende des Krieges und für die Niederlage. In Edlef Köppens berühmtem und zweifellos pazifistischem Collageroman Heeresbericht19 beschreibt die letzte Frontepisode einen Angriff amerikanischer Soldaten und Tanks, die erneut zur Einheit verschwimmen: »Und die Tanks schießen. Und die Amerikaner schießen vor ihnen und die Deutschen schießen hinter ihnen.«20 Die Front steht wahrlich Kopf, und der Protagonist will nur noch entkommen. Das Ergebnis ist eine Szenerie der Apokalypse: Und die Tanks kommen. Und dahinter Amerikaner und Engländer und Franzosen. Es liegt da ein Wald. Er brennt. Aber er ist lebendig. Durch die Gassen seiner Stämme 18 Vgl. Bose: Die Katastrophe (Anm. 13), S. 200f. 19 Vgl. Edlef Köppen: Heeresbericht. Berlin-Grunewald: Horen 1930, S. 442–455 und dazu Roman Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten Weltkrieges. Edlef Köppen: Heeresbericht (1930). In: Schneider u. Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque (Anm. 9), S. 319–342; Jutta Vinzent: Edlef Köppen – Schriftsteller zwischen den Fronten. Ein literaturhistorischer Beitrag zu Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Innerer Emigration mit Edition, Werk- und Nachlaßverzeichnis. München: Iudicium 1997. 20 Köppen: Heeresbericht (Anm. 19), S. 453f.

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wälzt sich nach rückwärts in dicken Kolonnen die Infanterie. Es liegt da eine Chaussee. Auf ihr wollen Kolonnen mit Wagen und Pferden und Geschützen und Autos nach rückwärts. Über ihnen verfinstert sich der Himmel. Aus einer Höhe von wenigen Metern stoßen Scharen von Fliegern auf sie herab. Maschinengewehre mähen das Leben zu Boden.21

Die amerikanischen Soldaten und die Tanks haben jegliche gewohnte Ordnung zerstört, und konsequent führt diese Situation in den Wahnsinn – oder in die Selbstaufgabe wie in Georg Buchers Westfront 1914–1918. Dieser Autor symbolisiert das Ende des Krieges mit einem Tank-Angriff, in dem er und zwei Kameraden sich während eines Angriffs völlig abgeschnitten und verloren finden. Der Tank tötet und »zerbreit« die Kameraden, und der Protagonist wird beinahe in einem Nahkampf von einem einzelnen amerikanischen Soldaten getötet. Die symbolische Bedeutung der Szene ist mehr als offensichtlich: Der Tank…. der rasende, erbarmungslose Tank. Ich fasse noch einmal brüllend zu, zerre, zerre. Der Sterbende, mein Sterbender, darf nicht unter dem Tank…. darf nicht…. Ich bringe ihn nicht mehr ganz weg. Es rasselt wahnwitzig vor mir auf, das stinkende, rasselnde Monster ist da. […] Zermalmt, zerbreit sind Tonis Beine vom Urgrausen. Meine Kraft hatte nicht mehr ausgereicht, auch Riedels Beine dem walzenden Monster aus dem Weg zu zerren. […] Schon sind die säubernden Khakiklumpen da, meine aufglühenden Blicke sehen ein verzerrtes Gesicht, ein paar Lippen, die ein Streifschuß zerfetzt haben muß: dieser Amerikaner ist wahnsinnig vor Schmerz und…. Sein Kolben…. ich…. ich…. ICH!22

Die Maschine ist zum apokalyptischen Tier geworden, und der Amerikaner hat physisch seine Menschlichkeit verloren, er ›säubert‹ die Szene ohne Gesicht – und der Deutsche versucht, seine Individualität zu wahren. Das letzte, an das er denkt, bevor er das Bewusstsein verliert, ist seine Identität. Der radikale nationalsozialistische Autor Franz Schauwecker entwirft in Aufbruch der Nation die Szene eines kombinierten Angriffs von Amerikanern und Tanks mit einer eindeutigen Referenz auf den Nibelungen-Mythos.23 Die deutschen Soldaten finden sich eingekesselt von einem »Riesenmassenmeeting von erstklassigem Sportsmaterial«24 in einer erneut apokalyptischen Granattrichter-Landschaft, die inmitten eines Korn- und Kleefeldes liegt – das verlo21 Ebd., S. 455. 22 Georg Bucher : Westfront 1914–1918. Das Buch vom Frontkameraden. Wien, Leipzig: Konegen 1930, S. 356. 23 Vgl. Franz Schauwecker : Aufbruch der Nation. Berlin: Frundsberg 1928, S. 328–341 und dazu Bernd Hüppauf: Zwischen Metaphysik und visuellem Essayismus. Franz Schauwecker : So war der Krieg (1928). In: Schneider u. Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque (Anm. 9), S. 233–248. 24 Schauwecker : Aufbruch der Nation (Anm. 23), S. 337.

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Abb. 4: Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland. Oldenburg: Stalling 1935, S. 334.

rene Paradies. Den Deutschen gelingt es, der Einkesselung zu entfliehen, aber sie fühlen sich als letzte Deutsche auf Erden, und sich umwendend entdeckt der Protagonist eine Szenerie, wie sie ein Hollywood-Regisseur unserer Tage nicht besser hätte erfinden können: Das langgestreckte Feld ihres Rückzuges war unter einer unabsehbaren Masse verschwunden. Er sah lange Kolonnen von Infanterie geschlossen marschieren. Dahinter erfüllten unendliche Reihen von Tanks, Lastautos und Fuhrwerke die Landschaft, soweit sein Blick reichte. Von Horizont bis zu Horizont war alles mit Menschen und Material bedeckt. Es war kein Ton zu vernehmen. Die Entfernung war viel zu groß. Da sah er, daß der Krieg verloren war.25

Mit diesen metaphorischen und symbolischen Szenen versuchen die Autoren dieser vorgeblich ›authentischen‹ Kriegserinnerungen, die Niederlage zu erklären und zugleich das eine Bild für die Katastrophe zu entwerfen. Das Material erstreckt sich bis zum Horizont, und die amerikanischen Soldaten, zu Tieren entmenschlicht, erscheinen als Masse, die als »Khakiklumpen« bezeichnet wird.

25 Ebd., S. 341.

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Die einzigen Lebewesen in diesen Szenerien sind die deutschen Soldaten, die die Apokalypse aus Masse und Material überlebt haben. In der Kriegsphotographie-Forschung ist argumentiert worden, dass Ernst Friedrich mit seinem berühmten Buch Krieg dem Kriege! (1924) einen neuen und abweichenden Diskurs über die Schrecken des Krieges installiert habe,26 insbesondere im Hinblick auf »Das Leiden anderer betrachten«.27 Mehr noch seien die mehrheitlich nationalistischen und revanchistischen Text/Bild-Bände als unmittelbare Reaktionen auf Friedrich zu werten, die der anscheinend pazifistischen visuellen Narration Friedrichs eine Gegenerzählung gegenüberstellen wollten – speziell seinen Gesichtsverletzten –, um damit die Deutungshoheit über die visuelle Erzählung des Ersten Weltkrieges wiederzugewinnen.28 Obwohl die Mehrzahl der in seinem Buch enthaltenen Abbildungen bereits während des Krieges und damit in Propagandazusammenhängen veröffentlicht worden war,29 intendierte Friedrich in der Tat einen Gegendiskurs. Aber dieser Diskurs ist der einer kommunistisch beeinflussten Narration des Krieges, die davon ausgeht, dass Darstellungen der Kriegsschrecken beim Betrachter unmittelbar in nicht nur eine pazifistische Position münden, sondern mehr noch eine kommunistische Gesellschaftsordnung initiieren würden.30 Friedrich verwendet somit vorgefundene Bilder, indem er sie in seine Narration implementiert, die eine Konstruktion ist und mit dem ›wahren‹ Krieg rein gar nichts zu tun hat. Im zweiten Teil von Krieg dem Kriege, der auf Bilder von Leichen fokussiert, findet sich nun eine Photographie verbrannter britischer Soldaten in einem Tank: »Menschliche Überreste eines zusammengeschossenen Panzerwagens«.31 Die Sprachgebung ist verräterisch: Die Legende denkt die Maschine und die sie 26 Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege! Guerre — la Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog! Berlin: Freie Jugend 1924. Vgl. dazu Astrid Wenger-Deilmann: Die ›Kriegszermalmten‹. Die visuelle Schockrhetorik des Antikriegsdiskurses. In: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 308–315. 27 Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Übers. von Reinhard Kaiser. Frankfurt/ M.: Fischer 2005, S. 21–23. 28 Vgl. speziell Dora Apel: Cultural Battlegrounds: Weimar Photographic Narratives of War. In: New German Critique (Winter 1999) H. 76, S. 49–84. 29 Vgl. ebd., S. 62f. unter Bezug auf Bernd Ulrich: »… als wenn nichts geschehen wäre«. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs. In: Hirschfeld, Krumeich u. Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…« (Anm. 17), S. 140–156, hier S. 143. 30 Vgl. das Vorwort »Menschen aller Länder!« bei Friedrich: Krieg dem Kriege! (Anm. 26), S. 5–12 sowie Frank Hischer: Ernst Jünger : Das Antlitz des Weltkrieges. Osnabrück: Universität Osnabrück, Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft [Examensarbeit] 2007, S. 32–40. 31 Friedrich: Krieg dem Kriege! (Anm. 26), S. 71.

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Abb. 5: Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege! Guerre — la Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog! Berlin: Freie Jugend 1924, S. 71.

bedienende Mannschaft – bewusst oder unbewusst – als zu einer Einheit verschmolzene Masse, der »menschliche Überreste« erst zugeschrieben werden können. Nur scheinbar nimmt Friedrich nicht teil am hier skizzierten TankDiskurs, schlimmer noch: er hat den »Teufel Tank«32 verinnerlicht. Wie bei zahlreichen anderen Photographien wurde auch diese Aufnahme in einer Reihe anderer Text/Bild-Bände aufgenommen,33 dort jedoch wurde mehr Gewicht auf die Integration des durchaus Irritation auslösenden Bildes in den Tank-Diskurs gelegt. Hermann Rex in Der Weltkrieg in seiner rauhen Wirklichkeit (1926) zoomt auf die Leichen und erhöht den Schrecken und das Leid, während er gleichzeitig auf die Schwäche der Maschine »Tank« fokussiert und damit den »Teufel« demystifiziert. Diese Version des Motivs zeigt einen etwas unterschiedlichen Aufnahmewinkel, zudem sind einige Details anders arrangiert. Dies wiederum weist nun eindeutig darauf hin, dass die Aufnahme(n) zu Propagandazwecken ange32 Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland. Mit einer Widmung von Hindenburg. Illustrierte Ausgabe. 1.–20. Tsd. 197.–216. Tsd. der Gesamtauflage. Oldenburg: Stalling 1935, S. 334. 33 Vgl. Thomas F. Schneider: Narrating the War in Pictures. German photo books on World War I and the construction of pictorial war narrations. In: Journal of War & Cultural Studies 4 (2011) H. 1, S. 31–49.

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Abb. 6: Hermann Rex: Der Weltkrieg in seiner rauhen Wirklichkeit: »Das Frontkämpferwerk«. 600 Original-Aufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes und des Kriegsphotographen Hermann Rex (im Dienste der obersten Heeresleitung 1914–1918). Oberammergau: Rutz 1926, S. 187.

fertigt wurden. Die Bildlegende zielt unzweifelhaft auf den Tank-Diskurs und erhöht – im Gegensatz zum vermeintlich pazifistischen Friedrich – den Anteil des (verbal formulierten) Leids: Durch Flammenwerfer außer Kampf gesetzter Tank. So vorteilhaft die Tanks zum Angriff gegen deutsche Linien verwendet werden konnten, gaben sie doch ein gutes Ziel für die deutschen Abwehrmittel. Die starke Panzerung nützte der Bedienungsmannschaft nicht, wenn sie, in Feuer, Gas und Rauch eingehüllt, erstickte. Das Bild zeigt auch, wie im Innern des Tanks ein Mann mit schwer verletzter Hand im Todeskampf noch nach der Panzeröffnung greifen wollte[.]34

Im 1929 mit Unterstützung des Reichsarchivs entstandenen Band Wir Kämpfer im Weltkrieg wird eine erneut detailliertere Version der Photographie präsentiert.35 Mit der Legende »Einblick in einen durch Volltreffer vernichteten Tank« wird der Blick des Lesers/Betrachters direkt auf die zerstörte und verbrannte Hand gerichtet, die das Bild dominiert. Obwohl die Person, die in der Maschine 34 Hermann Rex: Der Weltkrieg in seiner rauhen Wirklichkeit: »Das Frontkämpferwerk«. 600 Original-Aufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes und des Kriegsphotographen Hermann Rex (im Dienste der obersten Heeresleitung 1914–1918). Oberammergau: Rutz 1926, S. 187. 35 Vgl. Wolfgang Foerster : Wir Kämpfer im Weltkrieg. Feldzugsbriefe und Kriegstagebücher von Frontkämpfern aus dem Material des Reichsarchivs. Berlin: Neufeld & Henius 1929, S. 513.

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gefangen war und verbrannte, kein Gesicht hat, wird das Leid nochmals erhöht. Der Kontext der Abbildung ist ein Bericht in Bildern und ›authentischen‹ Briefauszügen von einer erfolgreichen Abwehr eines Tankangriffs im Frühjahr 1918. Zwischen Bild und Text wird ein eindeutiger, reziproker Bezug hergestellt, das Photo wird zur Illustration. Die Abdrucke bei Friedrich und Rex verweisen auf einen eher allgemeinen Aspekt des Krieges, während in Wir Kämpfer im Weltkrieg auf ein konkretes Ereignis Bezug genommen wird. Die Botschaft lautet: ›Deutsche Soldaten können Tanks erfolgreich bekämpfen‹, womit das Bild wiederum Teil des Tank-Diskurses und des ›Im-Felde-unbesiegt‹-Ideologems wird – nur der Übermacht musste der Soldat weichen. Und obwohl der Schrecken erneut gesteigert wird, ist die Intention in keinem Fall pazifistisch. Somit ist es spätestens jetzt den nationalistischen Teilnehmern des Diskurses gelungen, Friedrichs zu Anfang abweichende Narration vollständig zu absorbieren.

Abb. 7: Wolfgang Foerster : Wir Kämpfer im Weltkrieg. Feldzugsbriefe und Kriegstagebücher von Frontkämpfern aus dem Material des Reichsarchivs. Berlin: Neufeld & Henius 1929, S. 513.

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Und die Demokraten? Die Tank-Photographie ist auch im nun eindeutig demokratisch orientierten Band Kamerad im Westen (1930) enthalten,36 und hier wird es nun abschließend deutlich, dass die rechte Narration am Ende der 1920er Jahre in alle politischen Bereiche vorgedrungen war. In Kamerad im Westen wird die Photographie kombiniert mit einer anderen Aufnahme, die zurückführt in die Zeit des Weltkrieges und Ende 1917 vermutlich als Reaktion auf die »Tankschlacht von Cambrai« und den ›Tankschrecken‹ entstand. Ein Tank wird anscheinend von einem Baum aufgehalten: »Ein unüberwindliches Hindernis«. Der Horror des Tank-Bildes ist noch vorhanden, aber in der Kombination mit der zweiten Photographie liegt der Fokus auf der Schwäche der Waffe Tank. Die bereits vorhandene und dominante Narration wird in einem letzten – verzweifelten – Versuch aufgeblasen zu einer Opposition Maschine vs. Natur, wobei die Natur den ›Sieg‹ davonträgt. Die Implikationen sind immens: Anti-Moderne-Diskurs, Klassifizierung des Krieges als ›un-natürlich‹ etc. Helmut Theodor Bossert als im Band selbst nicht genannter Autor von Kamerad im Westen hat in seinem Versuch, der rechten, revanchistischen Narration etwas entgegenzustellen, eine bewusste Entscheidung für diese Inkludierung der Photographie in einen Anti-Moderne-Diskurs gefällt, zeichnet sich doch der gesamte Band durch eine (Rück-)Besinnung auf die Darstellung von Individuen aus – nur leider zu spät. Dies wird dann deutlich, wenn die ursprüngliche Intention für die Anfertigung der Photographie (auch hier eine BUFA-Serie) herangezogen wird, die exakt das Gegenteil bezweckt: »Englischer Tank wirft auf dem Vormarsch einen starken Baum um«.37 Beide Aufnahmen zeigen zweifellos denselben Tank, der, in den Kämpfen bei Cambrai erobert, zu verschiedenen Aufnahmen herhalten musste, um die Überwindbarkeit des Tanks einem breiten Publikum zu ›beweisen‹. Dementsprechend war auch die

36 Vgl. [Helmut Theodor Bossert]: Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern. Frankfurt/ M.: Societäts-Verlag 1930, Ill. 151. 37 Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 8 (1918), S. 131, auch in: Der Weltkrieg. Illustrierte Kriegs-Chronik des Daheim. Bd. 8. Bielefeld, Leipzig: Velhagen & Klasing 1918, S. 244 (ca. zweite Dezemberhälfte 1917). Dort mit der Legende: »Zur verlorenen ›Tankschlacht‹ der Engländer bei Cambrai: Tank im Vormarsch beim Umwerfen eines starken Baumes«, hier kombiniert mit einer Aufnahme eines zerstörten Tanks: »erbeuteter englischer Tank an der Straße Cambrai-Bapaume«. Das Photo ist Teil einer in verschiedenen Medien vom BUFA lancierten Kampagne in der Folge der »Tankschlacht von Cambrai«. Zu dieser Kampagne gehört auch der 1918 von der Berliner Meester Film GmbH produzierte Film Nach der Tankschlacht bei Cambrai Dezember 1917. Dort sind Aufnahmen des erbeuteten Tanks zu sehen mit der Sequenz des Umfahrens des Baumes. Zuvor wird im Film ein weiterer, kleinerer Baum ›gefällt‹, und da die Filmkamera auf der anderen Seite des Tanks postiert ist, ist kurz hinter dem Tank der Photograph des BUFA zu sehen. Vgl. http://www.filmportal.de/ video/nach-der-tankschlacht-bei-cambrai-dezember-1917 (Stand: 29. 1. 2014).

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Abb. 8: [Helmut Theodor Bossert:] Kamerad im Westen. Ein Bericht in 221 Bildern. Frankfurt/ M.: Societäts-Verlag 1930, Ill. 151.

Publikationsstrategie des BUFA konzipiert, das Anfang 1918 gleich eine Serie Photographien zum Tank-Thema mit dieser Intention veröffentlichte.38 Deutlicher als in dieser Gegenüberstellung zweier nahezu identischer, doch mit diametral entgegengesetzten Legenden versehenen Photographien, kann der Wandel, aber auch die zunehmende Dominanz des Tank-Diskurses in den Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg nicht veranschaulicht werden: Verharmlosung auf der einen Seite, Reaktion auf den herrschenden Diskurs und Versuch der Installierung einer Gegen-Narration auf der anderen Seite. Was zeitgleich durch den Ullstein-Konzern mit Im Westen nichts Neues angestrebt wurde und letztlich scheiterte, gilt auch für die visuelle 38 Darunter auch die Photographie der verbrannten Tank-Besatzung. Vgl. z. B. Großer BilderAtlas des Weltkrieges. 29. Lieferung: Die Westfront 1917/1918. Der Zusammenbruch. München: Bruckmann 1919, S. 335. Auf dieser Seite (»Auf allen Kampffronten setzten die Gegner große Tankgeschwader ein, die sich erst 1918 als gefährlich Waffe bemerkbar machen«) findet sich auch die Aufnahme des einen Baum umwerfenden Tanks mit der eindeutigeren Legende »Ein eroberter engl. Tank beim Umwerfen eines starken Baumes«.

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Abb. 9: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 8 (1918), S. 131.

Narration des Ersten Weltkrieges: Die nationalistisch und revanchistisch geprägte Narration dieses Krieges setzte sich bereits Ende der 1920er Jahre endgültig durch – mit dem Tank als Symbol der alles überwältigenden Maschine in ihrem Zentrum. Umso bemerkenswerter – um in die Gegenwart zurückzukehren – die neuerliche Revitalisierung dieser Narration in Spiegel Geschichte und umso signifikanter die Langlebigkeit der in der Weimarer Republik ins kollektive Gedächtnis implantierten Vorstellungen und Bilder vom Ersten Weltkrieg. Letztlich stehen trotz aller bemühten Bemerkungen über die Schrecken des Ersten Weltkrieges (die noch nichts zu bedeuten haben) über Spiegel Geschichte jene Sätze, mit denen der Präsident des Reichsarchivs den letzten Band der Schlachten des Weltkrieges einleitete: »So übergebe ich den letzten Band der Schriftfolge den Lesern in der Hoffnung, daß sie aus der beschränkten Auswahl der Schlachten ein Bild bekommen haben von den unvergeßlichen Großtaten des

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Abb. 10: Großer Bilder-Atlas des Weltkrieges. 29. Lieferung: Die Westfront 1917/1918. Der Zusammenbruch. München: Bruckmann 1919, S. 335.

Abb. 11: Thilo von Bose: Die Katastrophe des 8. August 1918. Oldenburg, Berlin: Stalling 1930 (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 36), Frontispiz (nach S. 8).

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deutschen Heeres und des deutschen Soldaten im Weltkriege«39 – unmittelbar gefolgt von einem Frontispiz, das zeigt, wie deutsche Soldaten von einem Tank überrollt werden.

39 Ritter Mertz von Quirlingen: Vorwort. In: Bose: Die Katastrophe (Anm. 13), S. 8.

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Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918 – eine Materialschlacht und ihre militärjournalistische Perzeption

100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg blickt die Forschung auf einen breiten Fundus an wissenschaftlichen Publikationen, die auf reichem amtlichen sowie privaten Quellenmaterial basieren, so dass in der historischen Aufarbeitung seltener grundlegend neue Forschungserkenntnisse erzielt, zunehmend aber der Stellenwert der Krieges und einzelner Teilabschnitte diskutiert werden. In diesem Sinne steht hier eine Materialschlacht an der Westfront im Mittelpunkt, die Frühlingsoffensive in der Picardie 1918 bzw. die »Große Schlacht von Frankreich« oder »Michael-Offensive« (21. März bis 5. April 1918), deren Verlauf als gut erfasst gilt, tatsächlich aber nach wie vor nicht vollständig nachvollzogen werden kann. In der bis dahin größten Schlacht der Weltgeschichte1 durchbrachen auf 80 km Breite drei deutsche Armeen das Stellungssystem zweier britischer unter Douglas Haig – und dies erstmals überhaupt seit Beginn des vierjährigen Grabenkrieges. Britische und französische Unterstützungsverbände wurden anschließend 60 km bis vor den zentralen Eisenbahnknotenpunkt Amiens zurückgedrängt. Ein militärisch greifbares Ergebnis wie etwa die Trennung der westlichen Verbündeten oder die Vernichtung größerer Einheiten wurde jedoch trotz hoher Verluste nicht erzielt. Besonders intensiv hat sich die offizielle Militärgeschichtsschreibung2 aller drei beteiligten Nationen mit Fakten, Verlauf und Hintergründen dieser Schlacht 1 So Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg. München: Siedler 2010, S. 408. Zur Gesamtdarstellung der Schlacht vgl. u. a. Martin Kitchen: The German Offensives of 1918. Stroud: Tempus 2001; ders.: Michael-Offensive. In: Gerhard Hirschfeld u. Gerd Krumeich (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn u. a.: Schöningh 2003, S. 712–715; Hermann v. Kuhl: Entstehung, Durchführung und Zusammenbruch der Offensive von 1918. Berlin: Dt. Verlagsgesellschaft f. Politik u. Geschichte 1927; Gustav Goes: Der Tag X. Die große Schlacht in Frankreich (21. März–5. April 1918). Berlin: Kolk 1933; Ernst Kabisch: Michael. Die Große Schlacht in Frankreich im Lenz 1918. Berlin: Schlegel 1935; Martin Middlebrook: Der 21. März 1918. Die Kaiserschlacht. Frankfurt/M.: Ullstein 1978. 2 Für diese vorbildlich bereits Leonard Ayres: The War with Germany. A Statistical Summary. Washington: Government 1919.

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beschäftigt. 1931 erschien zunächst die Darstellung des französischen Service Historique.3 Ihr folgte in den 1930er Jahren die britische Forschung unter Federführung von James Edmonds mit zwei Bänden der History of the Great War des Committee of Imperial Defence.4 Auf deutscher Seite gab dagegen erst 1944 das Reichsarchiv bzw. die Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres eine Darstellung im 14. Band des Werks Der Weltkrieg 1914 bis 1918 heraus.5 Diese war allerdings mit der Einschränkung »nur zum Dienstgebrauch« auf wenige Exemplare limitiert. Ob es sich dabei um eine halbfertige, fehlerhafte oder um eine die zeitgenössische Militärzensur umgehende Fassung mit besonders deutlicher Sprache handelt, muss offen bleiben, da die preußischen Originalquellen bei einem britischen Luftangriff auf das Reichsarchiv in Potsdam am 4. April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, komplett vernichtet wurden. Folglich existieren neben wenigen Unterlagen in süddeutschen Archiven und Tagebüchern6 nur noch die offiziellen Veröffentlichungen der Beteiligten oder der Bearbeiter als abgeleitete Quellen, mit all ihren problematischen Einschränkungen für eine objektive Darstellung eines medial rekonstruierten Ereignisses. Die amtliche britische Darstellung hat Tim Travers in den 1980er Jahren kritisch beleuchtet und ihre Schwächen herausgearbeitet,7 so dass sich mittlerweile ein deutlicheres Bild von den Vorgängen herauskristallisiert hat. Dagegen weist die Darstellung des Service Historique die vergleichsweise geringste Informationsqualität auf, besonders hinsichtlich der tatsächlichen Mannschaftsstärken der beteiligten Divisionen und ihrer Verluste,8 die häufig nur über sehr breite Zeiträume für die gesamten Streitkräfte publiziert wurden.9 3 Service Historique / MinistÀre de la Guerre: Les Arm¦es franÅaises dans la Grande Guerre. Bd. 6.1. Paris: Imprimerie 1931. 4 James Edmonds: Military Operations. France and Belgium, 1918. History of the Great War. 2 Bde. London: Macmillan 1935/37. Vgl. auch His Majesty’s Stationery Office: Statistics of the Military Effort of the British Empire during the Great War 1914–1920. London: Stamp 1922. 5 Vgl. zu Einzelaspekten zuvor Reichswehrministerium (Hg.): Kriegsveterinärbericht des deutschen Heeres 1914–1918. Berlin: o. V. 1929; Heeres-Sanitätsinspektion des Reichskriegsministeriums: Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege 1914/1918. Bd. 3. Berlin: Mittler 1934. Hier wurden jedoch nur 48/49 statt 52 Kriegsmonate erfasst. 6 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen. 7 »The whole truth cannot of course be told«, gestand Edmonds dem official historian, Norman Brook (zit. n. Tim Travers: The Killing Ground. The British Army, the Western Front and the Emergence of Modern Warfare 1900–1918. London: Allen 1987, S. 220–249 u. 275–280, hier S. 220f.). Andrew Green: Writing the Great War. Sir James Edmonds and the Official Histories, 1915–1948. London: Cass 2003, S. 44 u. 53 sprach von »parochial« statt »patriotic history«. 8 Zur Militärzensur vgl. Marcel Berger u. Paul Allard: Les Secrets de la Censure pendant la Guerre. Paris: Nouveau Monde Êd. 1932, S. 31 u. 48f. In internationalen militärischen Fachkreisen wurde der makabere »Wert eines militärischen Erfolges« an der Höhe der

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In Deutschland bot die Frühjahrsoffensive bereits in den 1920er Jahren Anlass zur Kritik, wobei diese in erster Linie Erich Ludendorff als Spiritus Rector in der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) traf und dessen Entscheidung, sämtliche verfügbaren Kräfte in einem kriegsentscheidenden Schlag einzusetzen. An seinem Konzept, in der Schlacht taktische Aspekte vor strategische zu stellen, schieden sich die Geister nicht nur im Reichsarchiv,10 sondern auch in den politischen Lagern,11 so dass eine negative Einschätzung des Agierens der deutschen Führung als eine Art strategischer Selbstmord bis in die 1980er Jahre dominierte.12 Seit Mitte des Jahrzehnts hat sich dieses Bild, ausgehend von der englischsprachigen Forschung13 und ihrer Neigung zu kontrafaktischen Ansät-

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Menschenleben gemessen, »den man dafür bezahlt« (nach dem militärischen Mitarbeiter der englischen Wochenschrift World, zit. n.: Englische Verluste. In: Militär-Wochenblatt 102 (5. 2. 1918) Nr. 93, Sp. 2299). Vgl. Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert. 2. Aufl. Stuttgart: DVA 1999, S. 32f. Vgl. etwa MinistÀre de la Guerre (Êtat-major de l’Arm¦e – service historique): Les Arm¦es FranÅaises dans la Grande Guerre. Bd. 6.2. Paris: Imprimerie 1935, S. 3–6 u. 552f. Im Gegensatz zu Deutschland wurden in Frankreich während des Krieges und bislang keine zeitlich detaillierten Verlustlisten veröffentlicht. Erste Ansätze finden sich in der OnlineGefallenendatenbank M¦moire des Hommes des MinistÀre de la D¦fense. Abrufbar unter http://www.memoiredeshommes.sga.defense.gouv.fr/de/arkotheque/client/mdh/base_mort s_pour_la_france_premiere_guerre (Stand: 3. 7. 2014). Für den hier relevanten Zeitraum konnten jedoch erst 160 Personen gefunden werden. Vgl. Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 332; Anthony Clayton: Paths of Glory. The French Army 1914–1918. London: Cassell 2003, S. 141 u. 231; Mar¦chal Foch: M¦moires pour servir — l’Historie de la Guerre de 1914–1918. Bd. 2. Paris: Plon 1946, S. 230; Robin Prior : Churchill’s ›World Crisis‹ as History. London: Croom 1983, S. 228; John Paul Harris: Amiens to the Armistice. The BEF in the hundred Days’ Campaign. 8.8.–11. 11. 1918. London: Brassey’s 1998, S. 18; Elizabeth Greenhalgh: Victory through Coalition. Britain and France during the First World War. Cambridge: Cambridge UP 2005, S. 148f.; Jean-Jacques Becker u. Gerd Krumeich: Der große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918. Essen: Klartext 2010, S. 305. Vgl. u. a. Hans Delbrück: Ludendorffs Selbstporträt mit einer Widerlegung der Foerster’schen Gegenschrift. 10. Aufl. Berlin: Politik u. Wirtschaft 1922; Wolfgang Foerster : Graf Schlieffen und der Weltkrieg. Berlin: Mittler 1925, S. 235, 240, 249, 273 u. 295; George Soldan: Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg: Stalling 1925, S. 55f. Am 13. 2. 1919 bezeichnete Ministerpräsident Philipp Scheidemann in der Weimarer Nationalversammlung Ludendorff als »genialen Hasardeur des Weltkrieges« (zit. n. James Cavallie: Ludendorff und Kapp in Schweden. Aus dem Leben zweier Verlierer. Frankfurt/M.: Lang 1995, S. 97). Hans Meier-Welcker : Die Führung an der Westfront im Frühsommer 1918. In: Die Welt als Geschichte 21 (1961), S. 164–184, hier S. 184 identifizierte als Grund des Scheiterns »die Unfähigkeit Ludendorffs, frei von seinen politischen Vorstellungen und Absichten streng militärisch« denken zu können. Vgl. auch Jehuda Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen. Frankfurt/M.: dtv 1970, S. 280 und Peter Graf Kielmansegg: Deutschland und der Erste Weltkrieg. 2. Aufl. Stuttgart: Klett 1980, S. 631. So betonte Trevor Nevitt Dupuy : A Genius for war. The German army and general staff, 1807–1945. Fairfax, Va.: Hero 1984, S. 168 u. 175 »Ludendoff ’s Military Brilliance« und hielt seine Strategie keineswegs von Beginn an für »hopeless«, auch wenn er eingestand, dass der

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zen, differenziert.14 Zwar steht nach wie vor die fehlende strategische Zielsetzung bei dem Versuch, in einer »letzten Kraftanstrengung die Kriegswende« zu erzwingen,15 im kritischen Fokus; Ludendorffs taktisches Geschick wird dagegen nun als so »brillant« bewertet,16 dass die »Truppen der Alliierten […] die Situation bis weit in den Sommer [1918] hinein als völlig verzweifelt« empfanden.17 Diese Beurteilung steht damit im völligen Gegensatz zur über lange Zeit einflussreichen Einschätzung von Winston Churchill, der die Schlacht als »eine entscheidende Niederlage« für die Deutschen bewertet hatte.18 Auch in der neueren Forschung fallen die Bewertungen der Michaelschlacht noch unterschiedlich aus. So bezeichnete David Stevenson sie generell als »ordinären Sieg«, während Friederike Krüger sie pessimistischer als »Pyrrhus-Sieg« einstufte.19 Trevor Dupuy, der den Ersten Weltkrieg in den 1980er Jahren systematisch erfasste, betonte dagegen den militärischen Erfolg. Man sei in den drei Frühjahrsoffensiven »very close to decisive victories« gekommen,20 eine Auffassung, die ein für den Präsidenten und die Öffentlichkeit der USA bestimmtes

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Generalquartiermeister seine »formerly brilliant analytical objectivity« verloren habe. Vgl. ähnlich J. P[aul] Harris: Douglas Haig and the First World War. Cambridge: Cambridge UP 2008, S. 459 sowie James Corum: The Roots of Blitzkrieg. Hans von Seeckt and German Military Reform. Lawrence: UP of Kansas 1992, S. 3: A »brilliant tactician, perhaps the best of the war.« Paul Kennedy : Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 412 bewertete die Frühjahrsoffensive als »die größte militärische Leistung des Krieges«, »wenn es ihnen gelungen wäre, die alliierten Linien zu durchbrechen und nach Paris oder zum Ärmelkanal vorzustoßen«. Vgl. auch Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 34 u. 274. Winfried Baumgart: Einführende Bemerkungen. In: Jörg Duppler u. Gerhard Groß (Hg.): Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. München: Oldenbourg 1999, S. 343–348, hier S. 344f. Vgl. auch Michael Neiberg: Fighting the Great War. A Global History. Cambridge, Mass.: Harvard UP 2005, S. 317 und David Stevenson: 1914–1918. The history of the First World War. London: Allen 2004, S. 397. Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 274. Hew Strachan: Einführende Bemerkungen. In: Duppler u. Groß (Hg.): Kriegsende 1918 (Anm. 15), S. 109–113, hier S. 111f. Vgl. auch Franz Uhle-Wettler : Erich Ludendorff in seiner Zeit. Soldat – Stratege – Revolutionär. Eine Neubewertung. Berg: Vowinkel 1991, S. 7, 265 u. 324f.; Markus Pöhlmann: Der »Moderne Alexander« im Maschinenkrieg. Erich Ludendorff (1865–1937). In: Stig Förster, ders. u. Dierk Walter (Hg.): Kriegsherren der Weltgeschichte. München: C. H. Beck 2006, S. 268–286, hier S. 285. Winston Churchill: Die Weltkrisis 1916/18. Bd. 2. Zürich: Amalthea 1928, S. 137. Zur Weltkrisis vgl. die Introduction in Prior : Churchill (Anm. 9), S. 228 u. 281. Obwohl Prior Churchills Zahlen für wenig zuverlässig hielt, attestierte er ihm eine – kaum aufrecht zuhaltende – hohe Interpretationsgenauigkeit der Vorgänge im Jahr 1918. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 397; Friederike Krüger: Die »Michael«-Offensive 1918. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung 10 (2000) H. 3, S. 46–54. Dupuy : Genius (Anm. 13), S. 175 u. 330f. In seinem »Erfolgseffizienzmodell« bewertete Dupuy diese Schlacht als einfachen deutschen Sieg mit einer Rate von 1.15 zu 1.08, ohne dabei aber französische Verluste zu berücksichtigen.

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Schreiben des britischen Premierministers Lloyd George vom 27. März 1918 eindrucksvoll unterstreicht: Wir sind in der kritischsten Stunde des Krieges. Angegriffen von einer riesigen Übermacht deutscher Truppen wurde unsere Armee zum Rückzug gezwungen. Dieser wurde methodisch unter dem stetigen Druck frischer deutscher Reserven ausgeführt, die enorme Verluste erleiden. […] Der verbissene Mut unserer Truppen hält im Moment den unaufhörlichen Ansturm des Feindes in Schach und die Franzosen haben jetzt in den Kampf eingegriffen. Aber diese Schlacht, die größte und bedeutsamste in der Weltgeschichte, hat gerade erst begonnen. […] Im Krieg ist Zeit überlebenswichtig. Es ist unmöglich, die Bedeutung zu übertreiben, amerikanische Verstärkungen so schnell wie möglich über den Atlantik zu bringen.21

Im Folgenden soll auf der Basis einer soliden Rekonstruktion der Ereignisse der Blick für die unterschiedlichen Wahrnehmungen seitens der Beteiligten und die militärpolitischen Veränderungen geschärft werden. Eine wichtige Quelle bietet hierfür die militärische Fachpresse, die in Deutschland im Ersten Weltkrieg bereits auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickte und entsprechend fest im Alltag des Offizierskorps und der Armee verankert war.22 Neben der Befehlskommunikation, Feldpost und Tageszeitung23 war auch sie ein wichtiges Bindeglied der militärischen Führung, der Monarchie sowie der Heimat zur Front und fungierte durch die zeitnahe Darstellung der allgemeinen militärpolitischen Lage in den Gräben als moralstärkendes Medium.24 Die Artikel und Informationen der militärischen Fachpresse überraschen zuweilen aber auch,25 21 Eigene Übersetzung nach David Lloyd George, zit. n. The Earl of Reading: Address by the Earl of Reading. In: »Across the flood«. The Right Honorable the Earl of Reading at the Lotos club New York. New York: Doran 1918, S. 23–41, hier S. 29f. Vgl. David Lloyd George: War Memoirs 1917–1918. Boston: Little 1936, S. 426 und John Bach McMaster : The United States in the World War. Bd. 2. London: Appleton 1918, S. 432: »On the evening of March 27 at a dinner given at the Lotos Club in New York City, Lord Reading, British High Commissioner to the United States, read an appeal to the people of our country from the Prime Minister, Lloyd George.« Vgl. auch: Lloyd George appeal spurs all U.S. to rush men abroad. In: The Evening World [New York] vom 28. 3. 1918, S. 1; Lloyd George’s Appeal to America. In: The Sun [New York] vom 28. 3. 1918, S. 1; Premier asks U.S. to hurry troops. In: Burlington Weekly Free Press [Burlington, Vt.] vom 28. 3. 1918, S. 1; Rush U.S. Soldiers, Premier’s Plea. In: The Washington Times [D.C.] vom 28. 3. 1918, S. 3. 22 Vgl. Christian Haller: Militärzeitschriften in der Weimarer Republik und ihr soziokultureller Hintergrund. Kriegsverarbeitung und Milieubildung im Offizierskorps der Reichswehr in publizistischer Dimension. Trier : Kliomedia 2012, S. 76. 23 Mitte 1918 bezogen die außerhalb Deutschlands eingesetzten Soldaten fast 1,3 Millionen Zeitungen aus der Heimat. Vgl. Wilhelm Deist: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918. Düsseldorf: Droste 1970, S. 952. 24 Ganz anders sah dies etwa in anderen Fachzeitschriften wie dem Organ der schweizerischen Armee, der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung, aus, in der erst am 25. 5. 1918 über die Frühjahroffensive im März berichtet wurde. Vgl. Allgemeine Schweizerische Militärzeitung 94 (25. 5. 1918) Nr. 21, S. 167–170. 25 Vgl. die März- und August-Veröffentlichungen der Oberzensurstelle des Kriegspresseamts:

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da sie potentielle Operationen der Heerführer diskutierten,26 auch ungünstige Berichte der ausländischen Presse relativ frei rezipierten27 und zudem Friedenssehnsucht, Hoffnungen, Befürchtungen und Erfolge deutlich artikulierten, obwohl dies doch durchaus die »Kampffreudigkeit der Truppe« beeinträchtigen konnte.28 All dies war der regulären Presse im Kaiserreich nicht gestattet, die der Zensur unterlag und die selbst Artikel aus den Kriegszeitungen und Militärzeitschriften nur mit Erlaubnis der Vorzensur nachdrucken durfte.29 Besonders deutlich unterschied sich die Berichterstattung beispielsweise im Hinblick auf das Kriegsgefangenenwesen. Während die reguläre Presse möglichst keine Berichte »über feindliche Greueltaten an deutschen Verwundeten« oder »schlechte Behandlung von kriegsgefangenen Deutschen« veröffentlichen durfte,30 war dies in der Militärpresse Standard, da dies den normalen Soldaten auch vom freiwilligen Überlaufen abhalten und Feindbilder aufbauen sollte. Die Darstellung der Michaelschlacht wird hier primär in zwei der verbreitetsten Fachzeitschriften beleuchtet: dem dreimal in der Woche erscheinenden Militär-Wochenblatt, welches unter Leitung von Generalmajor z. D. von Scriba als ›Heeresorgan‹ vor allem im Umfeld des Berliner Kriegsministeriums und in der Etappe vom Offizierskorps gelesen wurde, und dem wöchentlich erscheinenden Deutschen Offizierblatt, welches unter Leitung von Major a. D. Schindler jedem Frontoffizier kostenlos zur Verfügung gestellt wurde.31 Im Anschluss an die Rekonstruktion der Ereignisse stellt sich die Frage, ob in der militärischen Fachpresse nur weltanschauliche Propaganda der Offizierskaste betrieben oder der Krieg in seiner inhumanen Brutalität dargestellt wurde. Welche Wahrnehmungen spiegelten sich in der Auswahl der Themen und in der Art der Darstellung wider?

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Zensurbuch für die deutsche Presse. Berlin: Reichsdruckerei 1917 und dies.: Nachschlagebuch für die Pressezensur. 3. Aufl. Berlin: Reichsdruckerei 1917. Die Darstellung von Absichten und Operationen in der regulären Presse unterlagen der Präventivzensur des Chefs des Generalstabes des Feldheeres. Vgl. Oberzensurstelle: Nachschlagebuch (Anm. 25), S. 3, 30, 55 u. 86. »Nichtamtliche feindliche oder neutrale Nachrichten« durften seit 1915 in der Presse nur nach sorgfältiger Prüfung »auf Wirkung und Interessengefährdung« gedruckt werden (ebd., S. 14, 39 u. 82). Ebd., S. 111. Zu den Einschränkungen für die reguläre Presse vgl. ebd., S. 14, 17, 35, 47, 56 u. 111. Vgl. ebd., S. 79: »Alles militärisch Bedenkliche muß auf das sorgfältigste gestrichen werden.« Vgl. auch ebd., S. 69, 71, 86 u. 93. Ebd., S. 53 u. 66. Vgl. Rainer Pöppinghege: Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg. Essen: Klartext 2006, S. 79, 111 u. 205. Vgl. auch Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 84–89 u. 106–108.

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1.

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Die Materialschlacht – Rekonstruktion und Einordnung

Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Ausscheiden Russlands als Kriegspartei32 ergab sich für die Mittelmächte zum ersten Mal im Weltkrieg die Möglichkeit, sämtliche relevanten Streitkräfte auf einem Kriegsschauplatz, in Frankreich, zusammenzuziehen. Ziel war es, die Standfestigkeit der französischen und britischen Streitkräfte, denen man seit September 1914 in nahezu unbeweglichem Stellungskrieg gegenüber lag, derart stark zu erschüttern, dass beide Nationen einem Verständigungs- oder Kompromissfrieden zustimmen würden.33 Nach den schweren Meutereien in der französischen Armee und den kostspieligen, aber wenig ergiebigen britischen Materialschlachten34 im Jahr 1917 hatte England die Führungsrolle in der Entente übernommen und wurde daher als vorrangiger Gegner betrachtet.35 Seine zwar überreich mit Material ausgestatteten Streitkräfte befanden sich in Nordfrankreich in einer wenig komfortablen Position: das Meer im Norden und Westen, dazu lediglich drei Nachschubhäfen sowie drei ausgebaute Eisenbahnverbindungen nach Paris und ins Hinterland. Die britischen Aufstellungen in dem »flachgewellten Hügelgelände« eigneten sich zum eigenen Angriff, aber kaum zur hinhaltenden Verteidigung, da jeder Schritt rückwärts den geringen Raum zu einem Brückenkopf verengte,36 der so ab einem gewissen Punkt unhaltbar wurde. Wie waren die Kräfteverhältnisse? Die Stärke der Entente an der Westfront lässt sich aufgrund der bislang nicht zuverlässig aufgearbeiteten Mannschaftsstärken – die Angaben weichen teilweise erheblich voneinander ab – nach wie vor nur schätzen.37 Auf britischer Seite waren nach den ergebnislosen An-

32 Vgl. u. a. Niall Ferguson: Der Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundert? Berlin: Ullstein 2006, S. 237; Hildegard Kochanek: Russische Revolution. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 807–809. 33 Zu den vergeblichen Ansätzen, Frieden zu schließen vgl. u. a. Hans Fenske: Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914–1919. München: Olzog 2013, S. 27–67. 34 Vgl. Jean-Jacques Becker : Meutereien in der französischen Armee 1917. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 710f.; Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 282. Betroffen waren 75 Infanterieregimenter in 45 Divisionen. Vgl. Paul C. Ettighoffer : Eine Armee meutert. Frankreichs Schicksalsstunde 1917. Gütersloh: Bertelsmann 1937, S. 248f. u. 284. 35 Vgl. Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt: Der Weltkrieg 1914–1918. Die Kriegführung im Sommer und Herbst 1917. Die Ereignisse außerhalb der Westfront bis November 1918. Berlin: Mittler 1942, S. 1; Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 406. 36 Zur Kriegslage. Eine deutsche Offensive (abgeschlossen am 26. 3. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (28. 3. 1918) Nr. 13, S. 193f. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 92; Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 226. 37 Bislang hat sich die Literatur kaum bemüht, diese Defizite aufzuarbeiten. So spricht etwa Middlebrook: Kaiserschlacht (Anm. 1), S. 15f. u. 51 jeweils am 20. 3. 1918 von 57 bzw. 60 britischen, von 98 bzw. 103 französischen und 192 deutschen Divisionen.

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griffsschlachten38 in Flandern 1916/17 und dem daraus resultierenden, gesunkenen Ansehen Haigs39 sowie zur Vermeidung einer neuen, von ihm favorisierten Offensive seit Mitte Januar 1918 die »Battalions« je Division von zwölf auf neun reduziert worden, während die aus den Dominien, also etwa Australien, Kanada, Neuseeland, unverändert blieben.40 In Frankreich lebten 1913 etwa 39,6 Millionen Menschen und in seinen Kolonien weitere 41,6 Millionen auf knapp 13 Millionen km2 Fläche.41 Im Laufe des Krieges wurden zwischen 7,8 und 8,7 Millionen Soldaten mobilisiert,42 von denen zwischen 1,375 und 1,5 Millionen starben (im Durchschnitt etwa 890 bis 900 Soldaten an jedem der 1.561 Tage des Krieges, wobei bei allen Konfliktparteien insgesamt durchschnittlich etwa 6.000 Soldaten täglich fielen).43 Zudem wurden zwischen 3,2 und 4,26 Millionen Verletzungen auf französischer Seite registriert.44 Häufig handelte es sich dabei um Mehrfachverwundungen, von denen mindestens 2,8 Millionen Soldaten betroffen waren.45 Obwohl die französische Armee am 1. April 1918 insgesamt 2,677 Millionen 38 »In the colossal Western Front bombardments the fruits of years of patient capital accumulation went literally up in smoke.« (Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 220). Vgl. Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 405f. 39 Nach Reynolds war es ironisch, dass Lloyd George zunächst einen eigenen »knock-out blow« an der Westfront favorisierte, dann jedoch die indirekte Strategie, die deutschen Verbündeten auf dem Balkan und im Nahen Osten auszuschalten, begünstigte. Seine Zweifel an Haig (»wooden-fisted, club-footed, and without imagination«) waren erheblich gestiegen, jedoch besaß Lloyd George für ihn anders als für Generalstabschef William Robertson, der im Februar durch Henry Wilson ersetzt wurde, keine personelle Alternative. »Haig ist völlig gleichgültig, wie viel Soldaten er verliert, er verschwendet einfach das Leben dieser Jungs.« (David Reynolds: Britannia overruled. British Policy and Word Power in the Twentieth Century. London, New York: Longman 1991, S. 101f.) Vgl. Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 282; Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 220–222; Harris: Haig (Anm. 13), S. 432. 40 »Between January and March 47 divisions lost three battalions each, a process carried out quickly and without warning. The reorganization probably disconcerted many men who were moved from their old units« (zit. n. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 404–406). Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 472. 41 Vgl. Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 75. 42 Der Höchststand von 4.978.000 Mann im Juli 1915 sank schwankend bis Kriegsende auf 4.143.000. Vgl. Pierre Guinard: Inventaire des archives de la guerre, S¦rie N, 1872–1919. Bd. 1. Ch–teau de Vincennes: Service 1975, S. 206. 43 Vgl. Jay Winter : Victimes de la guerre. Morts, bless¦s et invalides. In: St¦phane AudoinRouzeau u. Jean-Jacques Becker (Hg.): Encyclop¦die de la Grande Guerre 1914–1918. Histoire et culture. Paris: Bayard 2004, S. 1075–1085, hier S. 1077; Robert Doughty : Pyrrhic Victory. French Strategy and Operations in the Great War. Cambridge, Mass.: Harvard UP 2005, S. 1; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 195f.; Becker : Krieg (Anm. 9), S. 166; Guy Pedroncini: Histoire militaire de la France. Bd. 3. De 1871 — 1940. Paris: Presses 1992, S. 291, 297 u. 323; Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 383. 44 Vgl. Guinard: Inventaire (Anm. 42), S. 201: 3.165.169 Verwundete, 4.988.663 inklusive Kranke. 45 Nach Pedroncini: Histoire (Anm. 43), S. 323 überlebten 6.440.000, davon 920.000 mit Pensionsrecht wegen der Schwere ihrer Verwundung.

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Französische Totalverluste (Tote, Vermisste und Kriegsgefangene) monatlich / insgesamt. Berechnet nach Daten von Guinard: Inventaire (Anm. 42), S. 213.

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Soldaten zählte, galten offiziell lediglich 1,822 Millionen als »Combattants«, also aktive Grabenkämpfer.46 Im Juli 1916 waren es 2,2 und im Oktober 1917 noch 1,9 Millionen gewesen.47 Da in der Regel jede französische Division eine Sollstärke von knapp 16.000 Mann besaß48 und 99 Infanterie- und 8 KavallerieDivisionen49 in Frankreich vorhanden waren, dürften die Zahlen der »Combattants« vornehmlich die Soll- und nicht die Ist-Stärke des Heeres widerspiegeln, zumal Anfang April die Schlacht bereits eine Woche lang mit entsprechenden Verlusten tobte.50 Das Britische Imperium erstreckte sich über knapp 30 Millionen km2 mit über 420 Millionen Menschen, davon 45,6 Millionen in Großbritannien.51 Insgesamt wurden etwa 8,9 Millionen Soldaten mobilisiert, von denen über 900.000 starben, durchschnittlich 457 täglich. 2 Millionen wurden verwundet und über 192.800 gerieten in Kriegsgefangenschaft.52 Speziell in Frankreich starben 362 bzw. inklusive Vermisste 455 täglich,53 insgesamt 564.715 Soldaten (mit Vermissten 709.613, 54 % im Gefecht, 21 % an Verwundungen und 5 % an Krankheiten). In Kriegsgefangenschaft gerieten 174.926 britische Soldaten. Ihre Verwundung überlebten 1.837.613 und ihre Krankheit 3.496.388, so dass das Verhältnis während des Krieges 1 : 3 : 6 betrug (11,4 % Gefallene, Verstorbene und Vermisste zu 29,6 % Verwundete zu 56,2 % Erkrankte).54 In Nordfrankreich erreichte die British Expeditionary Force (BEF) im August 1917 ihren Höchststand von 2.044.627 Soldaten, darunter 1.721.056 Briten, und sank bis zum März 1918 auf 1.886.073 bzw. ohne Kanadier und Australier auf 1.561.055 britische Soldaten.55 Die effektive Stärke der »Combatants« wurde auf lediglich 958.102 Soldaten beziffert (allein die Infanterie zählte 514.637 Mann), die sich auf 60 46 Effectifs des Arm¦es franÅaises du Nord et du Nord-Est, zit. n. MinistÀre: Arm¦es (Anm. 9), Bd. 6.2, S. 553. 1.829.900 nach Guinard: Inventaire (Anm. 42), S. 207. Darunter Infanterie: 1.035.000, Kavallerie: 62.000 und Artillerie: 560.900. 47 Vgl. Clayton: Paths (Anm. 9), S. 161f. u. 203. 48 Vgl. Guinard: Inventaire (Anm. 42), S. 107. Eine Brigade zählte anfänglich 8.800 Mann zu zwei Regimentern mit jeweils drei Bataillonen, ein Armeekorps etwa 46.000. 49 Darunter zwei Divisions de cavalerie — pied. Vgl. ebd., S. 110 u. 113; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 117. 50 Französische Divisionen verfügten 1918 nach Churchill: Weltkrisis (Anm. 18), S. 102 nur noch über reale Stärken von 7.000 Mann. 51 Vgl. Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 75. 52 Vgl. Winter : Victimes (Anm. 43), S. 1077; St¦phane Audoin-Rouzeau: Au cœur de la guerre: la violence du champ de bataille pendant les deux conflits mondiaux. In: Ders. u. a. (Hg.): La violence de guerre 1914–1945. Approches compar¦es des deux conflits mondiaux. Brüssel: Êd. Complexe 2002, S. 73–98, hier S. 79f.; Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 331. 53 Nicht tödlich wurden täglich 1.177 Soldaten verwundet und 2.240 krank. Berechnet nach Thomas Mitchell: Medical Services. Casualties and Medical Statistics of the Great War. London: Office 1931, S. 121f., 135f., 148–150, 157–159 u. 167–169. 54 Berechnet nach ebd. 55 Vgl. Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 64f.

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Infanterie- und drei Kavallerie-Divisionen verteilten.56 Trotz der Reduzierung ihrer Bataillone besaß die BEF im März die zweithöchste Kampfstärke des Jahres 1918, die nur noch im August um 1.400 Mann übertroffen wurde, wobei hier die Infanterie sogar 18.000 Mann weniger als im März zählte.57 Die Gesamtstärke der Entente in Frankreich lag so zwischen 165 und 176 Divisionen mit etwa 1.560 bis 1.632 Bataillonen, darunter 12 belgische, 2 portugiesische und 6 US-amerikanische Divisionen,58 die über 8.814 Feld- und 6.308 schwere Geschütze verfügten.59 Das gegnerische deutsche Kaiserreich erstreckte sich dagegen über 540.000 km2 mit einer Bevölkerung von 64,9 Millionen Menschen.60 Hier wurden etwa 13,2 Millionen Soldaten mobilisiert, von denen etwa 1,9 Millionen starben, was 14 % der Wehrdienstaltersklassen entsprach,61 d. h. 1.100 Soldaten im Durchschnitt täglich.62 Bis zum Juli 1918 waren über 4,8 Millionen Verwundungen nachweisbar, an denen 289.053 Soldaten starben.63 Die relevante IstStärke erreichte im März 1918 im Westen 3.882.655 Soldaten und stieg bis Mai auf den höchsten Stand von 4.004.476.64 Die Soldaten verteilten sich am Vorabend der Schlacht auf 200 Infanterie- und 2 unberittene Kavalleriedivisionen mit etwa 14.000 Geschützen.65 Kernproblem 56 Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 116. Nach Harris: Haig (Anm. 13), S. 436 besaß eine Kavalleriedivision weniger als den halben Kampfwert einer Infanteriedivision. 57 Vgl. Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 65f. 58 Die 1., 2., 26., 32., 41. und 42. mit 624.000 noch in der Ausbildung begriffenen Soldaten und Arbeitsmannschaften. Vgl. Le Ayres: War (Anm. 2), S. 37 u. 102. Laut Kriegsgeschichtlicher Forschungsanstalt: Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Die Kriegführung an der Westfront im Jahr 1918. Berlin: Mittler 1944, S. 95 nur 4 US-Divisionen. 59 Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 103; Becker : Krieg (Anm. 9), S. 283. Nach Meier-Welcker : Führung (Anm. 12), S. 165 fast 5 Millionen Soldaten (einschließlich Arbeitstruppen), 18.500 Geschütze, 800 Kampfwagen, 4.500 Flugzeuge, dazu etwa 100.000 Lastkraftwagen. 60 Der militärische Beitrag seiner Kolonien blieb überschaubar. Vgl. Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 75. 61 Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 768. Winter : Victimes (Anm. 43), S. 1077 nennt 2.033.700 Tote. 62 Vgl. Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 212. Audoin-Rouzeau: Au cœur (Anm. 52), S. 79f. nennt mit 1.303 Toten/Tag eine zu hohe Zahl. 63 Vgl. Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht (Anm. 5), S. 144f. Winter : Victimes (Anm. 43), S. 1077 nennt lediglich 4.216.058. Dagegen hatte das Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 355 bereits insgesamt 5 Millionen angegeben, zitierte aber die offiziöse Agentur Wolffs Telegraphisches Bureau vom 17. 4. 1919 mit 1,676 Millionen Toten und 4,2 Millionen Verwundeten und die SPD-Zeitung Vorwärts vom 6. 1. 1920 mit 1,718 Millionen Toten und 4,234 Millionen Verwundeten. 64 Vgl. Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht (Anm. 5), S. 142f. 65 Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 37; Meier-Welcker : Führung (Anm. 12), S. 165.

0 Jun 14 Sep 14 Dez 14 Apr 15

500.000

1.000.000

1.500.000

2.000.000

2.500.000

3.000.000

3.500.000

4.000.000

Okt 15

Westfront

Jul 15

Ostfront

Balkan

Italien

Osmanisches Reich

Jan 16 Mai 16 Aug 16 Nov 16 Mrz 17 Jun 17 Sep 17 Dez 17 Apr 18

Jul 18

Okt 18

230 Christian Haller

Unterschiedliche Stärken auf verschiedenen Kriegsschauplätzen des deutschen Heeres. Vgl. Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht (Anm. 5), S. 6f.

Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918

231

der deutschen Ausrüstung war die Ausstattung mit leistungsfähigen Pferden.66 Schon im April 1915 hatte man den Höchststand von 1,27 Millionen Tieren durch Tod, Tötung und Ausrangierung wegen Kriegsunbrauchbarkeit unterschritten, dennoch stieg der Bestand an der Westfront von knapp 360.000 im März 1915 auf 957.000 im April 1918.67 Nach der katastrophalen Kartoffelernte 1916 und der »extrem schlechten« Getreideernte 1917 ließen sich auch die Tiere nicht mehr vernünftig ernähren.68 Es fehlte generell das elementare Rauhfutter (Heu), von dem üblicherweise täglich 3,5 kg pro ›normales‹ Pferd benötigt wurde. Dazu mussten auch die Haferrationen (ebenfalls 3,5 kg) um 50 % herabgesetzt werden.69 Diese suchte man daraufhin ausgerechnet mit den in der Heimat benötigten Nahrungsmitteln wie Gerste, Bohnen, Mais und Kartoffeln zu strecken,70 was nicht nur zu Koliken, sondern in Verbindung mit der mittlerweile weitverbreiteten Räude seit September 1917 zu rasch steigenden Krankenzugängen in den Pferdelazaretten führte (von 99.982 auf 181.186 im Februar 1918), die sich im gesamten Krieg auf mehr als 7 Millionen summierten.71 Gleichzeitig mussten in den letzten sechs Monaten vor der Offensive über 109.000 Pferde ersetzt werden, fast 42.000 infolge von Erschöpfung. Zur Eile trieb um den Jahreswechsel 1917/18 die sinkende Bewegungsfähigkeit der Truppe, deren Ende nicht absehbar war,72 und nicht so sehr das militärische Potential der USA, deren zögerlich eintreffende Truppen bis dahin noch gar nicht auf dem Schlachtfeld in Erscheinung getreten

66 Die britische Stärke in Frankreich sank innerhalb eines Jahres von 368.000 Ende August 1917 auf 315.000 Pferde 1918. Der Gesamtverlust an Pferden betrug dort bis 1. 10. 1917 knapp 256.000. Frankreich erlitt Verluste von mindestens 1.440.000 Pferden, d. h. von 66 % bzw. 85,3 % des Bestandes. Vgl. Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 374; Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 396 u. 400f. 67 Vgl. Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 170 u. 195. 68 Wolfgang U. Eckart: Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924. Paderborn: Schöningh 2014, S. 279 u. 283. 69 Vgl. Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 189, 198, 203, 209, 397 u. 399. Noch 1914 hatte man für einen dreiwöchigen Bewegungskrieg (23 km/Tag) etwa für 84.000 Pferde täglich 900 Tonnen Futter (~ 10,7 kg/Pferd) eingeplant. Vgl. Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 182. 70 So bestanden zwar das weitverbreitete, wenig schmackhafte »K-Brot« (Kriegsbrot) überwiegend aus Kartoffeln und nicht aus Getreidemehl und selbst die »Kriegsbutter« aus Kartoffelmehl. Gleichzeitig sank die wöchentliche Kartoffelration auf 3,5 kg und die Fettration auf 70 g in den Städten bis zum Tiefpunkt im Herbst 1918. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 10; Eckart: Medizin (Anm. 68), S. 290–292 u. 297; Gustavo Corni: Hunger. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 565–567. 71 Vgl. Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 186, 195 u. 362. 72 Da die meisten Landarbeiter eingezogen und die Landarbeitspferde requiriert waren, bestand keine Möglichkeit mehr, die benötigten landwirtschaftlichen Produkte zu gewinnen. Vgl. Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 409; Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 11.

232

Verluste Krankenzugang Pferdebestand

0 Jan 15

100.000

200.000

300.000

400.000

500.000

600.000

700.000

800.000

900.000

1.000.000

Mai 15

Aug 15

Nov 15

Feb 16

Jun 16

Sep 16

Dez 16

Mrz 17

Jul 17

Okt 17

Jan 18

Mai 18

Aug 18

Nov 18

Christian Haller

Pferdebestand, -verluste und erkrankte Tiere im deutschen Westheer. Berechnet nach Daten vom Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 170f., 176f., 186f. u. 195.

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waren und deren Gefechtswert sich entsprechend schlecht einschätzen ließ.73 Denn von allen 240 Divisionen konnten mittlerweile nur noch 52 – also rund ein Fünftel – als »mobil« gelten, wobei der hierfür gültige Maßstab von ursprünglich etwa 8.500 Pferden je Infanteriedivision auf 4.300 gesenkt worden war.74 Von einer deutschen Überlegenheit an der 730 km langen Westfront konnte folglich keine Rede sein. Gleichzeitig verspekulierte sich jedoch auch die britische Führung im Vorfeld trotz guter Geheimdienstinformationen,75 die über einen stetigen Anstieg deutscher Divisionen in Frankreich von 177 Mitte Februar auf 187 Mitte März berichteten76 und unter anderem den 40 km-Abschnitt Arras–Ep¦hy (etwas südwestlich von Cambrai) als gefährdet betrachteten.77 Haig konzentrierte seine Verteidigung im Raum Arras und vernachlässigte seinen südlichen Abschnitt bis zu den Stellungen der Franzosen,78 den er seit Januar ohnehin nur widerwillig übernommen hatte.79 Seine Reserven hinter der Front blieben auffällig gleichmäßig verteilt80 und die Entscheidungsträger der betroffenen 3. und 5. britischen Armee in Erwartung des Angriffs gelassen.81 Offenbar rechnete man zunächst wie in vergangenen britischen Offensiven mit einem wochenlangen Trommelfeuer, das genug Spielraum bot, um Verstärkung heranzuführen.82

73 Vgl. Chef des Generalstabes des Feldheeres und Ludendorff am 11. 1. 1918, abgedruckt in Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 380f. 74 Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 59), S. 41. Für das Angriffsheer waren nur »rund 100.000 besonders leistungsfähige Pferde« zusätzlich vorhanden (ebd.). 75 Vgl. Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 230. 76 Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 103 u. 108. 77 Vgl. Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 223f. 78 Vgl. Harris: Haig (Anm. 13), S. 447. 79 Nach Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 486 gab es seitdem einen »unspoken, invisible conflict« zwischen P¦tain und Haig. Vgl. auch Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 416f. 80 Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 99. 81 Gemäß französischer Aufklärung wurde am 11. 3. 1918 der deutsche Funkcode geändert, was üblicherweise zwei Wochen vor einer Offensive geschah. Vgl. Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 429. 82 Vgl. Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 223–225. Trotz der Informationen des »very able« Generals Cox als »head of intelligence« verlangte Haig »on its very eve« ausdrücklich nicht die »mobile reserve« (88.000 Soldaten) aus Britannien, da er sicher war, jedem Angriff 18 Tage lang standhalten zu können. Hubert Gough als Befehlshaber der 3. Armee war »similarly bullish, denying the Germans would break his line« (Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 406–408). Vgl. auch Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 192.

234

Christian Haller

Schlachtverlauf und Gesamtverluste Am 21. März 1918 gingen drei deutsche Armeen mit 1.386.000 Soldaten verteilt auf 76 Divisionen und mit 6.608 Geschützen (darunter 2.533 schwere und 65 schwerste), 3.534 Minenwerfern sowie 10 (!) Panzern83 vor allem gegen die britische 3. und 5. Armee vor, die mit 26 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen, 2.686 Geschützen (916 schwere) sowie 7 Tankbataillonen (jeweils 36 Panzer) in einem ausgebauten Stellungssystem verschanzt waren.84 Zur Vermeidung einer sich lang hinziehenden Abnutzungsschlacht musste das etwa 5 km tiefe Grabensystem »schnell« und »schlagartig« durchbrochen werden.85 Seit 1914 war dies jedoch keiner Seite mehr gelungen. Daher setzte die Oberste Heeresleitung auf einen mehrstündigen Artillerieüberraschungsschlag mit 1,15 Millionen zumeist Gasgrananten,86 der ohne Vorwarnung,87 also ohne vorheriges Einschießen gemäß dem sogenannten Pulkowskiverfahren,88 dennoch zielgenau die relevanten Einrichtungen des Gegners – Befehlszentren, Truppenquartiere und Kommunikationsverbindungen89 – vor dem Angriff der Infanterie zerstörte.90 Dieser war so erfolgreich, dass es gelang, das britische Verteidigungssystem innerhalb von drei Tagen zu durchstoßen,91 jedoch nicht die in einem Front83 Davon lediglich drei selbst produzierte A7 V. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 34, 104, 107, 115, 124 u. 678. 84 1.566 bzw. 515 schwere Geschütze bei der 5. und 1.120 bzw. 401 schwere bei der 3. Armee. Gough sprach von etwa 100.000 Infanteristen bei der 5. Armee. Vgl. Charles — Court Repington: The First World War 1914–1918. Personal Experiences. Bd. 2. London: Constable 1920, S. 268; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 114–116. 85 Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 46. 86 Im Juni 1916 verschossen die Briten in über einer Woche 1,6 Millionen. Vgl. Bruno Thoss: Materialschlacht. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 703f.; Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 408; Becker : Krieg (Anm. 9), S. 171. 9 Millionen Granaten wurden bereitgestellt. Vgl. Goes: Tag X (Anm. 1), S. 6; Kabisch: Michael (Anm. 1), S. 47. 87 Vgl. Leutnant Campbell, 5. britische Armee, da der Frontabschnitt so ruhig war, zit. n. Neiberg: Fighting the Great War (Anm. 15), S. 306f.: »No need to wear a steel helmet in a war like this.« 88 Vgl. Haller: Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 205; Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 48. Eine kurze, aber treffende Beschreibung der Taktik findet sich auch bei Herfried Münkler : Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin: Rowohlt 2013, S. 687–689. 89 Zu kurz schießende Artillerie sorgte jedoch auch für zahlreiche eigene Verluste. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 197, 311 u. 317. 90 Zur Vorbereitung der Stoßtruppen vgl. u. a. Oliver Kock: Das Tagebuch des Leutnants Kurt Nilius 1916–1918. Bayreuth: Scherzers 2013, S. 185–190, der anschaulich über die Übungen mit scharfen Handgranaten auf der Grabenkrone statt im Graben laufend berichtet. 91 Sämtliche britischen Quellen kritisieren den schlechten Zustand des von den Franzosen übernommenen Abschnitts (»very poor defenses«) und verwiesen auf verzögert eintreffende Arbeitskräfte. Allerdings befanden sich neben den regulären Truppen bereits über 118.000 »labour units« hinter der Front und auch der Großteil der bis März 1918 eingebrachten knapp 128.000 deutschen Kriegsgefangenen wurde zu Arbeitseinsätzen in Nordfrankreich verwendet. Hinzu kamen über 500.000 amerikanische Arbeitsverbände, die zwar in ganz

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bogen vor Cambrai stehenden Kräfte einzukesseln.92 Acht britische Frontdivisionen erlitten so schwere Verluste, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst waren.93 Diese Einheiten lösten sich allerdings nicht in Panik auf, sondern zogen sich geordnet, vereinzelt auch überstürzt hinter die Somme zurück.94 So waren die wenigen Rückzugsstraßen rasch völlig überfüllt, während man auf deutscher Seite große britische Munitions-, Verpflegungs- und Bekleidungslager sowie Hunderte Fahrzeuge, Fuhrwerke und Geschütze erbeutete.95 Nach diesem Anfangserfolg änderte Ludendorff sein ursprüngliches Ziel, die britischen Stellungen nach Norden aufzurollen. Nunmehr sollten Franzosen und Briten durch einen schnellen, fächerförmigen Vorstoß in das Hinterland entlang der Somme Richtung Amiens, dem »bedeutendsten Eisenbahnknotenpunkt im nördlichen Frankreich«,96 räumlich voneinander getrennt, geschlagen und letztere »ins Meer« geworfen werden.97 Jedoch erschienen der deutschen Führung die eigenen Erfolge größer »als sie in Wirklichkeit waren«.98 Das planmäßige britische Ausweichen blieb unerkannt und wurde als mehr oder minder regellose Flucht interpretiert.99 Die eigene Artillerie konnte nur unter »großer Verzögerung« nachgezogen werden.100 Die »Leistungen der unzureichend genährten Pferde auf den zerfahrenen und teilweise noch aufgeweichten Wegen des Kampfgeländes« ließen bei zunehmender Distanz zwischen den Auslandsbahnhöfen und der Front »schnell« nach.101

92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

Frankreich, aber wie die Schlacht offenbarte, auch im britischen Abschnitt tätig waren. Greenhalgh zeigte, dass die vorhandenen Kräfte statt am Verteidigungssystem vor allem Straßen, Eisenbahnen und Krankenhäuser bauten. Nach Doughty platzierten zudem die Briten 84 % ihrer Verbände in den unmittelbar betroffenen, vordersten Linien, so dass der Durchbruch durch eine Mischung aus britischer Unterschätzung und Führungsfehler begünstigt wurde. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 39f., 48, 121–125 u. 255; Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 64 u. 632; Ayres: War (Anm. 2), S. 19; Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 189–191; Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 407 u. 425; Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 227; Pöppinghege: Lager (Anm. 30), S. 106 u. 124. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 82 u. 162. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 369. Zum Teil auch unter Zurücklassung ihrer Verwundeten. Vgl. ebd., S. 44, 261, 300–302, 360 u. 391. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 154, 183, 191 u. 193. Ebd., S. 242. Vgl. auch Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 92. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 167. Ebd., S. 166. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 451 u. 532. Stellenweise wurden zehn Pferde benötigt, um selbst leichte Geschütze (FK und FH 16) vorzuschaffen. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 133f. u. 165; Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 411. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 199. Schon am sechsten Tag betrug die Entfernung im Süden 56 km und stieg auf 69 km. Die Feld- und Vollbahnen konnten die Gräben erst Ende März überbrücken.

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Christian Haller

Zudem wurde hier offenbar kräftig improvisiert.102 So berichteten später britische Gefangene, sie hätten eine bunte Vielfalt an Transportfahrzeugen gesehen, vom Bauernwagen über Kutschen bis hin zu Automobilen, die nicht nur von heruntergekommenen Pferden, sondern zum Teil offenbar auch von Hunden gezogen worden waren.103 Die Nachschublage der deutschen Armeen, die nur 23.000 LKW besaßen und unter akutem Gummi- und Petroleummangel litten,104 bot Grund zur »großen Sorge«. Munition und Verpflegung wurden vorne verlangt, aber die »größtenteils eisenbereiften Lastkraftwagen-Kolonnen« kamen auf den wenigen verstopften Straßen vielfach »nicht schnell genug« voran.105 Hinzu kam, dass die Luftwaffe der Entente106 sich vor allem auf die Fuhrwerke und Feldartillerie auf den schnurgeraden, hellen Verbindungswegen konzentrierte und hier erheblichen Schaden anrichtete.107 Im gesamten deutschen Westheer stieg die Zahl der vor allem durch Fliegermaschinengewehrfeuer und -bomben getöteten Pferde im März und April auf knapp 30.000, die der so verletzten auf 67.000, was 23,2 % bzw. 16,5 % sämtlicher Schussverletzungen von Pferden im Krieg entsprach.108 Während auch die Kraftreserven der übermüdeten und mit nur noch einer 102 Das genaue Gegenteil berichtete das Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 400. 103 Die Verwendung von Hunden als Zugtiere vor MG-Wagen und kleinen Transportgefährten war bislang nur von der belgischen und russischen Armee bekannt. Vgl. German Werth: Tiere. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 921–924; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 263. 104 Vgl. Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 256. 105 Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 165. 106 Die Entente verfügte in der Schlacht mit 2.600 Flugzeugen zu 1.070 deutschen über die Luftherrschaft. Dennoch wurden im März 349 Flieger der Entente und 81 deutsche abgeschossen. Mit 19,24 Verlusten auf 100 Maschinen waren dies die höchsten der britischen Luftwaffe während des gesamten Krieges. Vgl. Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 507; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 118f.; Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 94f. u. 104; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 164. 107 Als notwendige Alternative für die deutlich effizientere Artilleriefeuerleitung durch Beobachtungsflugzeuge wurden bis 28. 3. 1918 allein auf Bodenziele, darunter häufig Kolonnen als ›ideale Ziele‹, über eine Million Schuss per MG abgefeuert sowie 248 t Bomben abgeworfen und dadurch partiell die Versorgung mit Artilleriemunition unterbrochen. Die Zahl der eingesetzten britischen Flugzeuge betrug am 31. 3. 1918 1.220 und am 5. 4. 1918 1.308, die der deutschen am 31. 3. 1918 1.121. Vgl. Henry Jones: The war in the air. Being the story of the part played in the Great War by the Royal Air Force. Bd. 4. Oxford: Clarendon 1934, S. 290, 297, 300, 302, 308, 311, 320, 324, 329f., 333, 335–337, 339, 341f., 344, 347–350, 362f. u. 451, hier bes. S. 336, 339 u. 362f.; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 506–508. 108 Im Februar waren durch Schüsse lediglich 1.902 verletzt und 364 getötet worden. Berechnet nach Reichswehrministerium: Kriegsveterinärbericht (Anm. 5), S. 195, 200–202 u. 767: »In den vorhandenen Feldveterinärberichten sind insgesamt 405.101 schussverwundete Pferde gemeldet, mit einem Verlust durch Tod und notwendig gewordene Tötung von 129.492 Pferde (32 % der Verwundeten und 15 % aller Verluste des Feldheeres).«

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eisernen Portion ausgestatteten deutschen Infanterie rapide sanken,109 französische Verbände peu — peu die südliche Hälfte der Front übernahmen, verlief der Rückzug der verunsicherten britischen Truppen nun unter chaotischen Verhältnissen, die von den wildesten Nachrichten und Gerüchten begleitet wurden.110 Gleichzeitig begannen deutsche Ferngeschütze erstmals überraschend die 100 km hinter der Front liegende Metropole und Festung Paris zu beschießen,111 was General P¦tain bestärkte, den Großteil der französischen Reserven zum Schutz der Hauptstadt einzusetzen.112 Dies hätte allerdings automatisch zur Trennung der Westmächte geführt,113 zumal Haig seit dem neunten Schlachttag keine nennenswerten britischen Verstärkungen mehr heranführen konnte.114 Während deutsche Truppen Albert einnahmen und nur noch knapp 30 km von Amiens entfernt waren, kam es daher am 26. März 1918 zu einer alliierten Konferenz im nördlich gelegenen Doullens, auf der der französische General Ferdinand Foch115 zum Koordinator der Alliierten Armeen an der Westfront ernannt wurde;116 eine symbolträchtige Maßnahme, die britische Militärs und Politiker wegen des Autonomie- und Prestigeverlustes bis dahin stets abgelehnt hatten.117 Foch wollte Amiens »um jeden Preis« halten,118 weshalb bis zum 109 Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 198; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 533. 110 Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 523 u. 534; Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 238–241. 111 Seit dem 23. 3. 1918 wurde von Cr¦py-en-Laonnois das 120 km entfernte Paris mit einem 21 cm-Geschütz (»Langer Max«) beschossen. Durch die etwa 300 abgegebenen 300 kg schweren Geschosse gab es etwa 250 Tote und über 620 Verwundete. Im Pariser Becken lag das Zentrum der Waffenproduktion. Vgl. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 230; Becker : Krieg (Anm. 9), S. 159; Neiberg: Fighting the Great War (Anm. 15), S. 314; Martin Gilbert: Winston S. Churchill. Bd. 4.1: Documents, January 1917–June 1919. London: Heinemann 1977, S. 287; Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 538–544; Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 160. 112 Vgl. Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 432: P¦tain hatte zunächst angenommen, dass die Briten ihm »a dirty trick« spielen würden, aber dennoch rasch Truppen entsandt. Vgl. auch Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 475. 113 Vgl. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 410; Harris: Amiens (Anm. 9), S. 13; Harris: Haig (Anm. 13), S. 452–454; Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 435–439; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 148. 114 Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 246; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 150. 115 Foch besaß den Ruf, übertrieben stur und rücksichtslos im Umgang mit dem Leben seiner Soldaten zu sein. Vgl. Jean-Jacques Becker : Ferdinand Foch. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 499. 116 Am 14. 4. 1918 erhielt er den Titel »G¦n¦ral en Chef des Arm¦es Alli¦es en France«, also »Oberbefehlshaber der verbündeten Heere in Frankreich«. Vgl. Harris: Amiens (Anm. 9), S. 13. 117 Galten die Doullens-Konferenz und die Kommandoübernahme Fochs bislang als durchweg positives Ereignis, das Prior sogar als Zeugnis der qualitativen Stärke von Lloyd Georges Politik wertete, so wird dies mittlerweile differenzierter betrachtet. Auf britischer Seite benötigte man »the whole French army« oder zumindest 20 Divisionen, um den deutschen

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4. April weitere 18 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen der französischen Reserve in die Schlacht eintraten. Nach einem unzureichend vorbereiteten deutschen Nachbarangriff119 (»Mars«) vor Arras und einer Regen- und Sturmperiode scheiterte die Hoffnung der OHL, Amiens zu erobern, mit dem letzten Offensivversuch am 4. und 5. April 1918.120 Die Entente zog sich auf ausgebaute Eisenbahnlinien zurück, auf denen sie schwere Artillerie heranführen konnte, die zahlreiche Gegenangriffe unterstützte, so dass ein Durchbruch an dieser Stelle nicht mehr zu realisieren war, zumal Ludendorff keine Zermürbungsschlacht wie vor Verdun führen wollte.121 Im Laufe der 16-tägigen Schlacht trafen insgesamt 94 deutsche Infanteriedivisionen auf 44 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen der Briten sowie 27 Infanterie- und 8 Kavalleriedivisionen der Franzosen, d. h. knapp die Hälfte des deutschen Westheeres (47 %) kämpfte gegen drei Viertel der britischen und ein Drittel der französischen Kräfte.122 Auf deutscher Seite erlitten die drei Armeen dabei Verluste von 302.753 Mann (21. März bis 10. April), die sich in Kranke und 239.558 »blutige« Ausfälle unterschieden, da 181.694 verwundet wurden.123 57.864 Soldaten wurden als tot oder vermisst beziffert, bei denen anhand der Gesamtverluste des Westheeres in den beiden Monaten März und April von über 35.000 Toten auszugehen ist sowie

118 119 120 121 122

123

Vormarsch einzudämmen, welche P¦tain zum eigenen Schutz zurückhielt. Eine britische Niederlage schien folglich nur durch die Unterstellung der eigenen Streitkräfte unter französischen Oberbefehl vermeidbar, was dem Verlust der Führung in der Entente gleichkam, der sich nicht zuletzt in der Gestaltung des Friedens nach Kriegsende offenbarte. Vgl. positiv : Meier-Welcker : Führung (Anm. 12), S. 170; Kielmansegg: Deutschland (Anm. 12), S. 641; Prior : Churchill (Anm. 9), S. 259; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 150. Dagegen negativ : Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 225 u. 237; Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 198–200; Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 410; Marcel Berger u. Paul Allard: Hinter den Kulissen des Versailler Vertrages. Berlin: Scherl 1934, S. 27–209. Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 192–194 u. 198 sah in der Berufung Fochs eher einen psychologischen Effekt, da P¦tain den Nachschub bereits auf den Weg gebracht hatte und dem deutschen Vorstoß der Atem (»steam«) ausging. Der hierfür verantwortliche Artilleriegeneral v. Berendt wurde nach dem Krieg entsprechend kritisiert. Vgl. Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 205 u. 294f. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 229 u. 250–253. Vgl. ebd., S. 253. Berechnet nach Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 545–549 u. Bd. 2, S. 497–505; Großer Generalstab: Die Schlachten und Gefechte des Großen Krieges 1914–1918. Quellenwerk. Berlin: Sack 1919, S. 342–344; Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 782–785. Vgl. Wilhelm Deist: Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918? In: Wolfram Wette (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München: Piper 1992, S. 146–167, hier S. 149; Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht (Anm. 5), S. 57. Laut Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 254f. geschätzte 230.000 in zwei Wochen.

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Französische Kavallerie Britische Kavallerie Französische Infanterie Britische Infanterie

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10

20

30

40

50

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70

80

90

21.3

22.3

23.3

24.3

25.3

26.3

27.3

28.3

29.3

30.3

31.3

1.4

2.4

3.4

4.4

Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918

Kämpfende britische und französische Divisionen während der Schlacht. Ermittelt nach Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 1, S. 545–549 u. Bd. 2, S. 497–505.

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von lediglich etwa 2.100 in britische Gefangenschaft geratenen Soldaten.124 Bei den übrigen 20.000 muss es sich um Vermisste bzw. um französische Gefangene handeln. Das Verhältnis Tote und Vermisste zu Verwundeten und Kranken betrug hier 1 : 3 : 1. Über die Verwundeten schrieb Ludendorff, man habe als Angreifer »günstig abgeschnitten« und »viele Leichtverwundete« gehabt.125 Insgesamt stieg jedoch die Anzahl der länger ausfallenden Verwundeten und Kranken des Westheeres von 35.703 im Februar, um 151.584 im März und um weitere 18.789 im April und sank erst im Mai um 112.162 Soldaten, so dass ›leichtverwundet‹ hier einen mindestens vierwöchigen Lazarettaufenthalt implizierte.126 Hochgerechnet auf die offiziellen Verlustzahlen für 48 statt 52 Kriegsmonate127 verzeichnete diese Schlacht 4 % aller deutschen Gefallenen bzw. 3,8 % aller Gefallenen und Vermissten, 3,8 % aller Verwundeten und 0,5 % aller Erkrankten bzw. 1,6 % sämtlicher Verwundeten und Erkrankten. Auf die gesamte Kriegsdauer berechnet, insbesondere angesichts der recht verlustreichen und von der Spanischen Grippe128 geprägten letzten Kriegsmonate, würden diese Ergebnisse naturgemäß niedriger ausfallen. Mit Blick auf die gegnerische Seite erklärte die Forschungsanstalt, man habe das »große englische Stellungssystem« überrannt, etwa 41 englische und 18 124 19.3.–8. 4. 1918 bzw. 0,7 % aller 328.811 »prisoners of war taken by the British in France«. Berechnet nach Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 632. 125 Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918. Berlin: Mittler 1919, S. 483f. 126 Berechnet nach Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht (Anm. 5), S. 140–143. Erich Ludendorff: Urkunden der Obersten Heeresleitung. Über ihre Tätigkeit 1916/18. Berlin: Mittler 1920, S. 113 spezifizierte die Zahl für die Monate März und April auf 300.000 Verwundete, von denen 70.000 wiederhergestellt worden seien. 127 Während sich die offiziellen Angaben nur auf 48 Monate bezogen, umfasst eine aktuelle Datenbank alle 52 Monate. Die Namen sämtlicher Soldaten in den deutschen Verlustlisten zum Ersten Weltkrieg werden seit Beginn 2012 im Rahmen des Vereins für Computergenealogie von über 750 freiwilligen Mitarbeitern erfasst (mittlerweile über 8,2 Millionen auf über 30.000 Seiten, also 96,6 %). Es fehlen jedoch noch die Angaben zu ihrer Verwundung, Krankheit, Kriegsgefangenschaft oder Tod. In Zukunft wird dies wohl zu mehr Klarheit führen. Vgl. http://des.genealogy.net (Stand: 22. 7. 2014). 128 Die Wirkung der Spanischen Grippe auf den Ersten Weltkrieg ist nach wie vor noch nicht spezifiziert, insbesondere da sie in mehreren Wellen hereinbrach, wobei die im Oktober/ November 1918 zumindest auf die US-Soldaten mit bis zu 4.000 Toten in der Woche am gravierendsten verlief. Auf den Waffenstillstand hatte die Grippe zumindest insofern Einfluss, als der gerade erst nach seinem Abitur eingezogene, einzige Sohn des deutschen Hauptunterhändlers Erzberger Mitte Oktober in einer Karlsruher Kaserne an der Grippe verstarb und der an frischer Trauer leidende Vater damit nur sehr eingeschränkt die hochdramatischen Verhandlungen in CompiÀgne führen konnte. Vgl. Ayres: War (Anm. 2), S. 127; Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf: Droste 2003, S. 36 u. 66; Wilfried Witte: Erklärungsnotstand. Die Grippe-Epidemie 1918–1920 in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Badens. Herbolzheim: Centaurus 2004, S. 59f., 72 u. 88; Eckart: Medizin (Anm. 68), S. 195–209; Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 220; Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 440.

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französische Divisionen geschlagen bzw. stark geschwächt und »ungeheures« Kriegsmaterial erbeutet, darunter 1.300 Geschütze und 90.000 Gefangene.129 Tatsächlich hatten die britischen Armeen in der Schlacht Verluste von etwa 177.500 bis 177.700 Mann zu verzeichnen, darunter 14.823 Tote, 89.149 Vermisste und 73.517 Verwundete.130 12 Divisionen hatten zwischen 5.000 und 7.300 Soldaten verloren, 6 Divisionen mehr als 400 bis fast 600 Tote zu beklagen. Die Schlacht verursachte somit 3,9 % sämtlicher Gefallenen, 27,9 % der Vermissten und 4 % der Verwundeten der britischen Streitkräfte in Frankreich.131 Die im Verlauf der Offensive durch Deutsche festgesetzten britischen Kriegsgefangenen überstiegen 40 % von insgesamt 175.624.132 Die Zahl der gleichzeitig Erkrankten wurde nicht aufgeführt. Sie lässt sich aber mittels des Jahresdurchschnitts von 1918 schätzen. Bei einem Jahresverlust von 2.060.254 britischen Soldaten, darunter 312.268 Tote, Verstorbene und Vermisste (Kriegsgefangene) und zugleich 578.402 Verwundete sowie 1.169.584 Kranke,133 betrug das Verhältnis etwa 1 : 2 : 4,134 so dass im günstigen Fall 47.000 bis 71.000 Kranke bei den betroffenen Verbänden zeitgleich zu vermuten sind.135 Je nach Höhe der gleichzeitig Erkrankten entfielen in der Schlacht auf 2,5 britische Tote und Vermisste 1,5 Verwundete sowie ein Kranker bzw. 1,3 : 1 : 1. In Großbritannien selbst verfügte der britische Generalstabschef Henry Wilson lediglich noch über 170.000 Soldaten, darunter 88.000 Urlauber, die er bei einer auf der Insel verbleibenden Reserve von 39.000 »untrained boys« als Ersatz nach Frankreich schicken konnte.136 Gleichzeitig stießen auch die Dominien an ihre Grenze. Lediglich Kanada erhöhte im Mai sein Kontingent um 16.100 Soldaten, so dass in einem britischen Kraftakt in den Monaten Juni und Juli eine Gesamttruppenerhöhung um jeweils etwa 34.000 Mann realisiert 129 Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 254f. 130 Berechnet nach Verlusten je Division 21.3.–5. 4. 1918. Kranke Soldaten wurden nicht aufgeführt. Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 490–492. 131 Berechnet nach Mitchell: Medical Services (Anm. 54), S. 121f., 135f., 148–150, 157–159 u. 167–169. Berechnet nach Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 253–271 u. 329, die zuvor erschien, waren es 2,7 % sämtlicher Toten, 4 % der Verwundeten und 27,5 % sämtlicher Vermissten der BEF in Frankreich. 132 Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 489 spekulierte, ob 72.000 oder 75.000 in Gefangenschaft gerieten. 133 Vgl. Mitchell: Medical Services (Anm. 53), S. 173. 134 15,2 % zu 28,1 % zu 56,8 %. 135 Zumindest bei den Australiern waren die Krankenzahlen in den ersten beiden Quartalen 1918 am höchsten. Vgl. Arthur Butler : The Australian Army Medical Services in the War of 1914–1918. Bd. 3. Canberra: Halstead 1943, S. 911. 136 Im britischen Hauptquartier in Frankreich hielt Lord Esher (Esher papers) am 30. 3. 1918 die Worte von Philip Sassoon fest: »We have been promised 170.000 men from home – of which 80.000 are leave men. The remainder will not fill our losses – & then – basta. Nothing to fall back on. It is serious…« (zit. n. Gilbert: Churchill (Anm. 111), S. 273f.).

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wurde; danach versuchte man nicht einmal mehr, den Status quo zu halten.137 Bei einem Gebietsverlust von etwa 3.500 km2 wurde die britische Armee derart zur Operationsunfähigkeit degeneriert,138 dass Haig demoralisiert139 und in Erwartung, seines Amtes enthoben zu werden,140 noch während der Schlacht seinen Rücktritt anbot,141 was Lloyd George aus Mangel an einem geeigneten Nachfolger ablehnte.142 Zu den offiziellen französischen Verlusten liegen widersprüchliche Angaben vor.143 Autoren wie Anne Dum¦nil oder Jean-Jacques Becker beziffern diese auf 80.000.144 Das MinistÀre de la Guerre gab 1935 für die Periode vom 21. März bis Ende April, also 25 Tage über das Schlachtende hinaus, für die gesamte französische Armee die offizielle Verlustzahl von 96.407 Soldaten an.145 Von diesen waren 9.593 Soldaten (2.606 bis zum 31. März) gefallen, 32.447 (17.569) wurden als vermisst gemeldet, wobei vermutlich 15.000 im Zuge der Michael-Offensive den Weg in deutsche Kriegsgefangenschaft hatten antreten müssen. Die Zahl der Verwundeten wurde mit 54.367 Soldaten angegeben (16.300 bis Ende März). Das Verhältnis betrug in den zehn Tagen im März 7,1 % Tote zu 48,2 % Vermisste zu 44,7 % Verwundete bzw. für die Zeit bis Ende April 10 % zu 33,7 % zu 56,4 %. Pierre Guinard bezifferte die Komplettverluste (Tote, Vermisste und Kriegsgefangene) der französischen Armee dagegen mit höheren Werten, nämlich 30.000 im März und 28.000 im April 1918 (zusammen 3,2 % von 1.798.000 im gesamten Krieg).146 Wobei nach seinen Angaben die französische Armee 1918 bei einem Jahresverlust von 1.316.601 Soldaten 330.000 Tote, Verstorbene und Vermisste und zugleich 687.609 Verwundete sowie 298.992 Kranke beklagte, so dass hier 137 Berechnet nach Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 64 (iii). 138 Vgl. Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 432 u. 436; Middlebrook: Kaiserschlacht (Anm. 1), S. 234. 139 Wilson beschrieb ihn am 25. 3. 1918 als »cowed« (zit. n. Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 199f.). Nach Sönke Neitzel: Weltkrieg und Revolution 1914–1918/9. Berlin: be.bra 2008, S. 79 überlegte er zeitweise, ob es nicht besser sei, Frieden zu schließen. Vgl. auch Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 413. 140 Vgl. Repington: World War (Anm. 84), S. 261 u. 268. 141 Vgl. Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 118f. 142 Vgl. Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 241. 143 Auf deutscher Seite hatte man von lediglich 34.000 französischen Verlusten erfahren. Vgl. Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 255. 144 70.000 nach Holger Herwig: The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918. London: Arnold 1997, S. 408; 77.000 nach Niall Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 283; Becker: Krieg (Anm. 9), S. 279; Anne Dum¦nil: 1918: les ruptures de l’¦quilibre. In: Audoin-Rouzeau u. Becker (Hg.): Encyclop¦die (Anm. 43), S. 965–980, hier S. 972; Middlebrook: Kaiserschlacht (Anm. 1), S. 234. 145 Vgl. MinistÀre: Arm¦es (Anm. 9), Bd. 6.2, S. 552. Für diesen Zeitraum (bis 2. 5. 1918) nannte Anthony Clayton: Paths (Anm. 9), S. 162 sogar 340.000 Ausfälle, allerdings ohne diese zu belegen. 146 Berechnet nach Guinard: Inventaire (Anm. 42), S. 213.

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das Verhältnis 1 : 2 : 1 betrug (25,1 % zu 52,2 % zu 22,7 %).147 General Palat veröffentlichte 1925 lediglich für eine unberittene Kavalleriedivision Verlustzahlen für vier Gefechtstage zu Schlachtbeginn, deren Verhältnis bei 5,6 % Toten, 51,7 % Vermissten und 42,7 % Verwundeten von insgesamt 1.357 Ausfällen lag.148 Sie war überhastet, ohne Artillerie und mit unzureichender Munition eingesetzt worden.149 Nach Herfried Münkler betrugen die Verluste der Angreifer an der Westfront normalerweise das Doppelte bis Dreifache der Verteidiger.150 Die vorhergehenden Ausführungen zeigen deutlich, dass bei der Michael-Offensive die furchtbaren Verluste auf allen Seiten gleich hoch waren,151 vielleicht marginal günstiger für die deutsche Seite.152

2.

Die Darstellung in den Fachzeitschriften

Die untersuchten Fachzeitschriften, das Militär-Wochenblatt und das Deutsche Offizierblatt, sowie einige Divisions- und Armeezeitungen an der Westfront haben sich in vielfältiger Weise mit den allgemeinen Verhältnissen sowie der Vorbereitung, Durchführung und Bewertung der Schlacht beschäftigt. Die einschlägigen Inhalte fanden unterschiedliche Darstellungsweisen, die sich im Wesentlichen in drei Textformen gruppieren lassen: 1. Die Tagesberichte der OHL153 über die jeweiligen Ereignisse an den ver147 Berechnet nach ebd., S. 201. 148 1. Division de cavalerie — pied. Leider ohne Angabe der Gesamtstärke vom 22.–26. 3. 1918, Sollstärke vermutlich 7.750 Mann. Vgl. G¦n¦ral Palat: Une division de cuirassiers — pied du 21 au 26 mars 1918. In: Revue d’histoire de la guerre mondiale 3 (1925), S. 20–48, hier S. 47f. Zumindest eine britische Dismounted Division bestand aus etwa 8.200 Mann. Vgl. Stephen Badsey : Doctrine and Reform in the British Cavalry 1880–1918. Aldershot: Ashgate 2008, S. 257. Die geschätzten Gesamtverluste (auch Kranke) von elf Divisionen der 1. französischen Armee vom 21. 3. 1918 bis Ende April, die in der Michael-Offensive nach und nach seit dem 25. 3. 1918 eingesetzt wurden, betrugen 21.274 Soldaten. Vgl. Journal de Marche de la 1Àre Arm¦e — partir du 1er Janvier 1918 au 31 Octobre 1918, S. 448. Abrufbar unter http:// www.memoiredeshommes.sga.defense.gouv.fr/fr/arkotheque/inventaires/ead_ir_consult. php?& ref=SHDGR__GR_26_N_I (Stand: 25. 8. 2014). 149 Zur negativen Beurteilung des französischen Engagements durch Haig vgl. Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 211; Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 444; Clayton: Paths (Anm. 9), S. 150f. 150 Vgl. Münkler : Krieg (Anm. 88), S. 690. 151 So auch Edmonds: Military Operations (Anm. 4), Bd. 2, S. 490. 152 So auch Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 255; Christian Müller : Die »Michael«Offensive. März/April 1918. In: Markus Pöhlmann, Harald Potempa u. Thomas Vogel (Hg.): Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Der deutsche Aufmarsch in ein kriegerisches Jahrhundert. München: Bucher 2014, S. 320–323. 153 Auf sie spielt auch der Romantitel von Erich Maria Remarque an: Im Westen nichts Neues.

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schiedenen Frontabschnitten bildeten die offiziellen Grundinformationen für und in der Presse während des Krieges. Bis zur Frühjahrsschlacht waren hiervon schon über 1.200 erschienen, an denen beim Abdruck »kein Buchstabe […] geändert werden« durfte,154 die im Offizierskorps für sehr glaubhaft gehalten und zudem auch etwa in der britischen Times abgedruckt wurden.155 2. In Aufsätzen ›Zur Kriegslage‹ wurden die Ereignisse aufgegriffen, eingeschätzt und erläutert. Diese wurden einerseits häufig von den Schriftleitern selbst verfasst und basierten dann selten auf eigenem Erlebten. Andererseits wurden aber häufig auch Beiträge – etwa von Presseoffizieren – an der Front veröffentlicht, die Selbsterlebtes schilderten oder ›beredsam‹ verschwiegen.156 3. Daneben nahmen Auszüge aus der internationalen Presse in Übersetzung regelmäßig einen breiten Raum vor allem in den Rubriken des Militär-Wochenblattes ein. So gestand der Schriftleiter des Deutschen Offizierblattes, Schindler, bei Kriegsende, er habe seit 1914 »von Berufs wegen täglich die feindliche Presse« lesen müssen.157 Dazu zählten ebenfalls die Militärblätter der Gegner,158 deren Beobachtung, Analyse und Aufarbeitung ein frontenübergreifendes geschlossenes System bildete. Der Abdruck dieser Auslandsberichte erfolgte also sehr gezielt und spiegelte die Wahrnehmung und Meinung der Redaktionen wider.159 Unter den abgedruckten ausländischen Journalisten stach der Schweizer Oberst im Generalstab Karl Egli, Dozent für

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Berlin: Propyläen 1929. »Vom Westen nichts Neues.« Amtliche Meldung. In: Militär-Wochenblatt 102 (12. 7. 1917) Nr. 5, Sp. 123. Der Kampf gegen die Fremdwörter. In: Liller Kriegszeitung 4 (4. 4. 1918) Nr. 83, unpag. Vgl.: Die Offensive gegen die Kriegsverlängerer. In: Militär-Wochenblatt 102 (26. 3. 1918) Nr. 116, Sp. 2819–2821. Die »Franzosen ahnen nicht, welches Vertrauen wir« ihnen »entgegenbringen.« So v. S[criba]: Die Vergeltungsoffensive. In: Militär-Wochenblatt 102 (4. 4. 1918) Nr. 122, Sp. 2939f. Vgl. Pöppinghege: Lager (Anm. 30), S. 131. Vgl. Michael Schenk: Medienwirkungsforschung. 3. Aufl. Tübingen: Mohr 2007, S. 526–577; Rudolf Stöber : Die erfolgverführte Nation. Deutschlands öffentliche Stimmung 1866 bis 1945. Stuttgart: Steiner 1998, S. 21–23. Versäumnisse. In: Deutsches Offizierblatt 22 (7. 11. 1918) Nr. 45, S. 732. Vgl.: Französische Frontzeitungen. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (13. 1. 1918) Nr. 306, S. 1f.; Wie sie lügen. In: Feldzeitung der 5. Armee (14. 4. 1918) Nr. 1298, unpag. Dies wurde im Ausland auch so interpretiert. Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant, Abendblatt vom 27. 3. 1919, zit. n.: Holländische Vermutungen über den deutschen Offensivplan. In: Militär-Wochenblatt 102 (9. 4. 1918) Nr. 124, Sp. 2990: »Daß man an diese Möglichkeit auf deutscher Seite bereits denkt, wird dadurch bewiesen, daß die deutschen Blätter mit Vorliebe ausländische Pressestimmen wiedergeben, in denen diese Möglichkeit besprochen wird.«

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Militärwissenschaften an der Universität Basel,160 hervor, der von deutscher Seite erheblich gefördert wurde und Informationsreisen an die Front unternehmen durfte.161 Häufig zitiert wurde ebenfalls der Schweizer Journalist und Schriftsteller Hermann Stegemann, späterer Honorarprofessor an der Universität München, Träger des Frankfurter Goethe- und des Rheinischen Literaturpreises.162

Der potentielle Gegner In beiden Offizierblättern waren sich die Herausgeber seit Ende 1917 darüber einig, dass eine deutsche Offensive an der Westfront bevorstehe und dass diese »die letzte große Entscheidung« bringen werde.163 Wann und wo dieser Angriff erfolgen würde, sei »glücklicherweise unbekannt«. Ob dies tatsächlich so war und ob es wirklich keine Vermutungen über den Gegner der erwarteten Schlacht gab oder ob die Berliner Redaktionen doch eine gewisse Vorahnung besaßen, ließ sich anhand von Indizien wie der Häufigkeit einschätzen, mit der Berichte über den französischen oder britischen Gegner im Vorfeld gedruckt wurden. So schenkte das an der Front und damit auch auf der Gegenseite häufiger gelesene Offizierblatt beiden Parteien seit 1918 in etwa die gleiche Aufmerksamkeit. Im Militär-Wochenblatt befassten sich dagegen deutlich weniger Meldungen mit Frankreich, nämlich nicht einmal ein Drittel. Entsprechend intensiver stand das Empire im Fokus, so dass sich hier durchaus eine Richtung andeutete. Zudem registrierte das Wochenblatt aufmerksam die britische Debatte um die Ablösung des Generalstabschefs William Robertson durch Henry Wilson, gerade einmal sechs Wochen vor Schlachtbeginn, ein Vorgang, der nach einem abgedruckten Artikel der Londoner Morning Post mit »tiefster Niedergeschlagenheit« in der britischen Armee registriert164 und in der britischen Öffentlichkeit mit Kritik an Haig165 sowie Lloyd George und dessen »Amateur-Kriegführung« quittiert wurde.166 160 23. 7. 1865 Tettnang, Deutschland – 11. 6. 1925 Zürich; heimatberechtigt in Gossau/Schweiz. Vgl. Jürg Schoch: Die Oberstenaffäre. Eine innenpolitische Krise (1915/1916). Frankfurt/ M.: Lang 1972, S. 9. 161 Vgl. Oberst Karl Egli: An der deutschen Front in Flandern im November 1917. Berichte aus dem Felde. Bd. 3. Zürich: Schultheß 1918, S. 5. 162 30. 5. 1870 Koblenz – 8. 6. 1945 Merligen/Kanton Bern, seit 1912 literarischer Redakteur der in Bern erscheinenden Zeitung Der Bund. 163 Zur Kriegslage (Abgeschlossen am 17. 3. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (21. 3. 1918) Nr. 12, S. 173f. 164 Für die Generalität – gegen Lloyd George. In: Militär-Wochenblatt 102 (28. 2. 1918) Nr. 103, Sp. 2529f. 165 »Wie solle man da noch Vertrauen zu Haig haben?«, so Abgeordneter King in der Unter-

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Zur Legitimation der Kriegsfortsetzung und Motivation der Truppe Vor allem im Offizierblatt, welches die Frontoffiziere erreichte, wurde die Notwendigkeit einer Fortsetzung des Krieges deutlich legitimiert. Dabei griff man sämtliche gängigen Argumentationsmuster auf: Zwar wurde auf die in der Truppe offenbar bereits weit verbreitete pazifistische Haltung verwiesen.167 Generell sei »kaum noch ein Soldat vorhanden […], der eine Fortsetzung des Krieges nur um des Krieges Willen« wünsche. »Alle die Millionen, die im Felde stehen, dürsten danach, […] zu friedlicher Arbeit in die Heimat zurückzukehren.«168 Jedoch sei ein sofortiger Friede gleichzusetzen mit einem »Verzichtsfrieden«, »einem faulen Frieden«, bei dem »alles Blut umsonst geflossen« wäre. Dieser führe »auf hundert Jahre« zu »stillstehenden Betrieben, verödeten Bureaus [und] bankrotten Geschäften« und würde »Hunderttausende brotlos machen«. Sogar »Millionen« an Arbeitslosen drohten nach Ansicht der Scharfschützen-Warte: »Erst durch einen schlechten Frieden [werde man] besiegt, unterdrückt, ja vernichtet werden!«169 Generalmajor z. D. Heckert und andere Autoren betonten, dass man abgesehen von finanziellen Entschädigungen »keine politischen Kriegsziele« und »keine Eroberungsabsichten« habe, sondern dass es hier um die rein »militärische Abwehr der Angriffe« gehe, während England mit der Zerstörung des deutschen Handels und der Industrie seinen wirtschaftlichen Konkurrenten loswerden und Frankreich Revanche für 1870/71 nehmen wolle.170 Während sich das Wochenblatt deutlich von »Alldeutschen Heißspornen« distanzierte,171 wurde im Offizierblatt recht emotional auch die Endsiegrhetorik172 bedient. Ein Oberstleutnant Buddecke interpretierte schon

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hausdebatte am 23. 1. 1918. »Die Regierung möge für mehr Gehirn und weniger Schwulst in der Heeresleitung Sorge tragen.« (Die Cambrai-Schlacht. In: Ebd. (31. 1. 1918) Nr. 91, Sp. 2263). So die Londoner Nation vom 23. 2. 1918, zit. n.: Kritik an Lloyd Georges »organisatorischen Ideen«. In: Ebd. (16. 3. 1918) Nr. 111, Sp. 2714f. Der Londoner Statist vom 22. 9. 1917, zit. n.: Englische Sorgen. In: Ebd. (16. 10. 1917) Nr. 43, Sp. 1204–1206 sprach von der »unfähigsten Regierung«, »die wohl je der Fluch eines Landes war, und die Geld ausgibt, als ob es Wasser wäre.« Zur späteren Entwicklung vgl. Deist: Militärstreik (Anm. 123), S. 146–167. Wie denkt die Front über den Frieden? In: Deutsches Offizierblatt 22 (7. 3. 1918) Nr. 10, S. 150. Was wird nach einem schlechten Frieden? In: Scharfschützen-Warte (5. 3. 1918) Nr. 25, S. 290. Generalmajor z. D. Heckert: Kriegsziele. In: Deutsches Offizierblatt 22 (10. 1. 1918) Nr. 2, S. 20. So auch Staatsminister Helferich. Vgl.: Der Krieg um dein täglich Brot. In: Liller Kriegszeitung 4 (17. 3. 1918) Nr. 17, unpag. An dieser Einschätzung änderte sich auch nach dem Krieg nichts. Vgl. Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 330f. Geh. Reg. Rat Prof. Dr. Otto Jaekel – Greifswald: Die Dauer des Krieges. In: MilitärWochenblatt 102 (27. 9. 1917) Nr. 38, Sp. 1023–1027. Vgl. Oberstleutnant A. Buddecke: Endsieg. In: Deutsches Offizierblatt 22 (21. 2. 1918) Nr. 8,

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diesen Krieg als Kampf um eine »Welt- und Lebensanschauung«.173 Man streite »für das tief […] verwurzelte Volkskönigtum, für das monarchisch-konstitutionelle Regierungsprinzip, gegen eine republikanische oder kommunistische Staatsordnung« und »für die Bewahrung völkischer Eigenart im Gegensatz zum Kosmopolitismus und Internationalismus«. Generell wolle die Entente, so das Offizierblatt, den Krieg »mit allen Mitteln und mit höchster Anstrengung fortsetzen«. Es sei deshalb unmöglich, »durch Verhandlung […] zum Frieden zu gelangen«.174 »Nur unsere Waffen können bei den Gegnern jene Stimmung hervorbringen, auf der allein ein Friede aufgebaut werden kann«. Dabei war man sich durchaus des wachsenden Schadens bewusst, den der Krieg allen beteiligten europäischen Mächten zufüge, die »wesentlich geschwächt« aus diesem Konflikt hervorgehen würden.175

Einschätzungen des Gegners Die militärischen Verhältnisse beim Gegner an der Westfront stießen vor allem im Militär-Wochenblatt auf breites Interesse. Abgedruckte französische Presseberichte betonten, man habe sich wie die deutsche Seite in »drei mächtigen Verteidigungssystemen organisiert«, die nicht zu durchbrechen seien.176 Zwar könne es »durch eine glückliche Überraschung« »auf einer Front von mehreren Meilen« gelingen, die »erste Position« zu nehmen. Zum Durchbruch besäße Deutschland aber zu wenig »Masse«.177 Speziell für den Frontabschnitt vor Cambrai zweifelte der Schweizer Militärkritiker Hermann Meyer an der Verteidigungsqualität, die »selbst nach mehr

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S. 119f.: »Der Endsieg wird uns gehören! Und dieser Sieg wird nicht nur den Bestand unseres Vaterlandes sichern, sondern auch eine glücklichere Zukunftsentwicklung bringen, an der jeder teilhat, und den inneren Frieden bewahren«. Oberstleutnant A. Buddecke: Der deutsche Militarismus. In: Ebd. (7. 3. 1918) Nr. 10, S. 181f. Das ist auch ein typisches ideologisches Merkmal des Zweiten Weltkriegs. Vgl. Karl-Volker Neugebauer : Militärgeschichte 1933 bis 1945. In: Ders. (Hg.): Grundzüge der deutschen Militärgeschichte. Bd. 1. Freiburg/Br.: Rombach 1993, S. 317–419, hier 344f. Zur Kriegslage (Abgeschlossen am 11. 2. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (14. 2. 1918) Nr. 7, S. 93–99. Leitartikel des Astonblachet vom 3. 1. 1918, zit. n.: Das schwindende Prestige Englands. In: Ebd. (28. 2. 1918) Nr. 9, S. 135 und Der Engländer und seine Bundesgenossen. In: Ebd. (4. 1. 1918) Nr. 1, S. 7f. Echo de Paris vom 6. 3. 1918, zit. n.: Französische Vermutungen über bevorstehende Ereignisse an der Westfront. In: Militär-Wochenblatt 102 (19. 3. 1918) Nr. 112, Sp. 2737. General Fonville in France Militaire vom 5. 2. 1918, zit. n.: Die Frage einer Westoffensive. In: Ebd. (19. 2. 1918) Nr. 99, Sp. 2429–2431.

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als einem halben Jahre noch« kein ausreichendes Niveau erreicht habe.178 Jedoch muss hier die seit dem 7. Dezember 1917 eingetretene Winterruhe berücksichtigt werden, die »die Truppen hüben und drüben« nutzten, um »sich in ihren neuen Stellungen einzurichten.«179 Aus dem »erheblich« höheren britischen Krankenstand schloss man auf »schlechte« Unterbringungsverhältnisse der Mannschaften in den Stellungen.180 Gleichzeitig betonten die Fachzeitschriften »wirtschaftliche Schwierigkeiten« in England,181 dem das »nahende Hungergespenst« erscheine, da dort Arbeiter 14 Stunden täglich arbeiteten, angeblich jedoch nur »trockenes Brot« erhielten.182 Entsprechend werde auch die »Tagesration des englischen Soldaten« fortwährend gekürzt,183 während der Krieg und die Waffentechnik – nicht zuletzt die Tanks – gleichzeitig gewaltige Summen koste.184

Reserven Was die Kräfte der Kriegsparteien anging, betonte ein französischer General Fonville, die französisch-britische Front werde »fest und mit großen Reserven neu organisiert«.185 Darunter verstand er eine 60 Divisionen umfassende französische »Manövrier- und Reservearmee« unter Kommando von General 178 Hermann Meyer im St. Galler Tageblatt vom 5. 1. 1918, zit. n.: Der deutsche Abwehrsieg an der Westfront im Jahre 1918. In: Ebd. (15. 1. 1918) Nr. 83, Sp. 2101. 179 Die Schlacht bei Cambrai. November/Dezember 1917. In: Ebd. (5. 3. 1918) Nr. 106, Sp. 2587. 180 Englische Verluste. In: Ebd. (5. 2. 1918) Nr. 93, Sp. 2299. 181 General der Infanterie z. D. von Blume: Rückblick und Ausblick auf den Krieg beim Jahreswechsel 1917/18. In: Ebd. (5. 1. 1918) Nr. 79, Sp. 2015. 182 Englands wachsende Not. In: Deutsches Offizierblatt 22 (31. 1. 1918) Nr. 5, S. 66f. Infolge von Mangelernten und der Unterversorgung durch das wegen des U-Bootkrieges eingeführte Schiffskonvoisystem sank die Getreideversorgung in Großbritannien im Winter 1917/18, so dass nach Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 269 u. 273 das »Gespenst der Hungersnot« vor der Tür stand. Der Getreidevorrat selbst der französischen Armee schrumpfte gleichzeitig auf zwei Tagesrationen. 1917 konnten nur noch drei Viertel und 1918 zwei Drittel der Vorkriegslebensmittelmenge importiert werden. Vgl. auch Gerd Hardach: The First World War, 1914–1918. Berkeley : Univ. of California Press 1977, S. 119. Nach Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 407 wäre Großbritannien 1917 infolge des Hungers um ein Haar zur Kapitulation gezwungen gewesen. 183 Wiener Rundschau, zit. n.: England. Verkürzung der Rationen im Heere. In: Militär-Wochenblatt 102 (31. 1. 1918) Nr. 91, Sp. 2271. 184 Vgl.: Frankreich. Tanks. In: Ebd. (14. 2. 1918) Nr. 97, Sp. 2384: »Die Stundengeschwindigkeit des Tanks beträgt etwa 8 bis 10 km, der Kostenpreis des großen Wagens stellt sich auf etwa 200.000 Franken, der des kleinen auf etwa 110.000 Franken.« Die Summe entsprach etwa 40.000 bzw. 21.000 Dollar (1913). 185 La France Militaire vom 9. 1. 1918, zit. n.: In Erwartung eines deutschen Angriffs. In: Ebd. (22. 1. 1918) Nr. 86, Sp. 2157.

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Foch,186 die es so jedoch nicht gab. Gleichzeitig verwiesen abgedruckte ausländische Pressemeldungen auf die steigende Anzahl der von Osten nach Westen verschobenen deutschen Divisionen, so dass man schließlich von 3 Millionen Mann an der Westfront sprach, »hinter denen eine weitere Reserve von 1 12 Millionen« stehe.187 Zusätzlich könne man mit einem »ungeheuren Tankwagen« oder einem »neuem Gas« rechnen.188 Hiervon beeindruckt warnte die englische Wochenschrift World: Es sei »der reine Wahnsinn, annehmen zu wollen, dass [die deutsche Offensive] missglücken werde; sie werde im Gegenteil wahrscheinlich gelingen. Diese Krisis in dem Kriege werde dann vermutlich die letzte sein.«189 Was die Armee der USA, die eigentliche Reserve der Entente, betraf, so wurde zunächst in den rezipierten, internationalen Berichten damit gerechnet, dass diese nicht vor Herbst 1918,190 ja eigentlich nicht vor Mitte des Jahres 1919 mit ein bis zwei Millionen Mann eintreffe.191 Der Kampfwert dieses neuen Gegners war für die deutsche Seite schwer zu beurteilen. So betonte etwa ein Rittmeister Goez im Februar 1918, »das amerikanische Heer [sei] ein junges Heer, ohne Vergangenheit und Tradition und vor allem ohne Kriegserfahrung. Diese [lasse] sich nicht improvisieren.«192

Selbstdarstellung Die eigene Situation wurde in den Fachblättern sehr optimistisch beschrieben. Deutschland stehe »tief in Feindesland«. Die »Stimmung im Innern des Landes [sei] gut und zuversichtlich, die Verpflegung« nach Ende des Zweifrontenkriegs 186 Zur Kriegslage. In: Deutsches Offizierblatt 22 (14. 3. 1918) Nr. 11, S. 158f. 187 Der vielbesprochene Artikel Oberstleutnants Repington in der Morning Post gegen Lloyd George. In: Militär-Wochenblatt 102 (23. 2. 1918) Nr. 101, Sp. 2470–2475. 188 General Fonville in France Militaire vom 5. 2. 1918, zit. n.: Die Frage einer Westoffensive (Anm. 177), Sp. 2429–2431. 189 Der militärische Mitarbeiter der englischen Wochenschrift World, zit. n.: Englische Verluste. In: Ebd. (5. 2. 1918) Nr. 93, Sp. 2299. 190 Vgl.: Frachtraumfrage und amerikanische Truppentransporte. In: Ebd. (22. 1. 1918) Nr. 86, Sp. 2159f.; Zur Kriegslage. In: Deutsches Offizierblatt 22 (24. 1. 1918) Nr. 4, S. 50f. 191 Nach dem holländischen Militärkritiker Jonkheer A. v. G. in Tijd vom 10. 1. 1918, zit. n.: Der zweifelhafte Wert der amerikanischen Hilfe. In: Militär-Wochenblatt 102 (17. 1. 1918) Nr. 84, Sp. 2121 und dem Army and Navy Journal vom 22. 9. 1917, zit. n.: Vereinigte Staaten von Amerika. Truppentransporte. In: Ebd., Sp. 2127. Vgl. zudem: Viel Geschrei und wenig Wolle. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (7. 4. 1918), unpag.: »Heute [seien] von den Millionen höchstens 200.000 Mann [der USA] in Frankreich eingetroffen.« 192 Rittmeister Goez: Die Amerikaner kommen! In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (3. 2. 1918) Nr. 327, S. 1f.

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und Durchbrechung der Hungerblockade »gesichert«.193 Neben allgemeinen militärischen Standards thematisierte man auch die Bedeutung des Pferdewesens und die Leistungsfähigkeit des Kriegspferdes, die jetzt »für die Gesamtkriegsführung eine ausschlaggebende Rolle erhalten« habe:194 Ein Veterinär betonte die »wesentlichen Fortschritte« »in der Behandlung der früher verheerend wirkenden Seuchen« und behauptete stark idealisierend, dass es »stets gelungen« sei, mit Ausnahme der Pferderäude, »die Kriegsseuchen vom Pferdebestand des Heeres fernzuhalten«.195 Gerne wurde auch aus dem Bericht eines spanischen Generals zitiert, der im Februar 1917 – also vor Beginn der enormen Futterengpässe – die deutsche Westfront besucht und dort einen »sehr reichlichen« Pferdebestand festgestellt hatte. Während »die großen beweglichen Belagerungsgeschütze« mechanisch gezogen würden, dienten für den »schweren Zug […] zumeist Pferde aus Polen und Flandern«, für den leichten Zug »das Panje-Pferd […] aus Rumänien, Polen oder Russland«.196 Offensichtlich war die Fachpresse bemüht, die gravierenden Schwachstellen des Heeres in einem potentiellen Bewegungskrieg197 entsprechend zu kaschieren und die Verhältnisse in der Heimat zu beschönigen.

Lokalisierung und Operationsziel der Schlacht Die beste Prognose für die lokale Verortung der nahenden Schlacht gegen die Briten druckte eine Woche vor dem Angriff ausgerechnet das Militär-Wochenblatt ab, die ein holländischer Militärkritiker Anfang März 1918 verfasst hatte. Während er einen Angriff im »wirksamsten« Frontabschnitt nördlich von Cambrai wegen des »Überschwemmungsgebietes« ausschloss, hielt er ihn südlich davon, an der »Lötstelle« des französischen und britischen Heeres, für naheliegend: Gelänge der Durchbruch, so müsste die französische Front sich zurückbiegen, um Paris zu decken, während die Engländer auf ihre Basis […] Calais zurückgehen müssten. Ein 193 Zur Kriegslage (Abgeschlossen am 17. 3. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (21. 3. 1918) Nr. 12, S. 173f. 194 Das deutsche Artilleriepferd im Kriege. In: Militär-Wochenblatt 102 (6. 12. 1917) Nr. 68, Sp. 1747f. 195 M. Reuter, vorm. Stabsvet. bei der Ers Abt d. Bayer 8. Feldart. Regts (Art. Monatshefte November/Dezember 1917), rezensiert von Sch.: Das deutsche Artilleriepferd im Kriege. In: Ebd. (19. 1. 1918) Nr. 85, Sp. 2148. 196 Eindrücke, gewonnen beim Besuche der deutschen Front in Belgien. In: Ebd. (7. 2. 1918) Nr. 94, Sp. 2319; Ein höherer spanischer Offizier über seine Beobachtungen an der deutschen Front in Belgien in Februar 1917. In: Deutsches Offizierblatt 22 (7. 2. 1918) Nr. 6, S. 84f. 197 Pall Mall Gazette (22.2.). In: Militär-Wochenblatt 102 (12. 3. 1918) Nr. 109, Sp. 2660f.

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Teil der Deutschen müsste sich nach Süden wenden, um die Franzosen in Schach zu halten, während das Gros nach Nordwesten abbiegen würde, um die englische Front weiter aufzurollen und sie vielleicht in der Nordwestecke Frankreichs einzuschließen, sie zu schlagen, teilweise in die See zu treiben und den Rest gefangen zu nehmen. […] Ein Durchbruch […] könnte die weitesttragende Bedeutung haben und vielleicht den Frieden bringen.198

Besser hätte man dies wohl auch von offizieller deutscher Seite kaum skizzieren können. Damit waren Angriffsstelle und operationelle Zielsetzung also keine Überraschung für die internationale Presse.199

Schlachtdarstellung Seit Schlachtbeginn begleiteten die Schriftleiter der Berliner Fachzeitschriften zunächst begeistert und mit unversöhnlicher Schadenfreude das Geschehen.200 Das Offizierblatt sprach von der »größten Schlacht der Weltgeschichte«, die »die Entscheidung des Weltkrieges herbeiführen« solle.201 Statt auf einer schmalen Front habe man den Angriff an der »Lötstelle« zwischen Franzosen und Engländern auf 80 km Breite angesetzt, um beide zu trennen.202 Scriba vom Wochenblatt frohlockte: »Mit einem Durchbruch hat nunmehr endlich auch im 198 Jhr. [Jonkheer] A. v. G. in der Tyd vom 5. 3. 1918, zit. n.: Günstige Aussichten für eine deutsche Westoffensive. In: Ebd. (12. 3. 1918) Nr. 109, Sp. 2659f. 199 Dass Ludendorff seinen ursprünglichen Plan nicht beibehielt, die britischen Stellungen nach Norden aufzurollen, wurde ihm später als strategische Unbeständigkeit ausgelegt. Allerdings wurde auf britischer Seite 1917 die Ansicht publiziert, dass das deutsche Oberkommando immer nur »einen einzigen Plan« ausarbeite und generell keine Ersatzpläne besitze. Möglicherweise erfolgte Ludendorffs Schwerpunktwechsel daher nicht aus Opportunismus, sondern gezielt zur Irritierung des Gegners? Damit wären auch dieser Artikel Teil seiner systematischen Verschleierung und die Militärblätter weit intensiver in die psychologische Kriegsführung einbezogen gewesen, als bisher bekannt. Durch die Vernichtung der amtlichen Quellenbasis wird sich diese Hypothese jedoch wohl kaum verifizieren lassen. Vgl. den Artikel von Major Stuart Stephens, ständiger Mitarbeiter der English Review: Die Hindenburg-Strategie? Juniheft 1917, zit. n.: Die Strategie an der Westfront. In: Ebd. (5. 7. 1917) Nr. 2, Sp. 47–51). 200 Vgl.: Offensive. In: Militär-Wochenblatt (Anm. 155), Sp. 2819–2821: »Der erste Stoß galt demjenigen unserer Feinde, der unser Friedenswollen in den Wind geschlagen hat, der lediglich aus eigennützigen Gründen – um seines materiellen Vorteils und der Aufrechterhaltung der alle Völker bedrückenden Weltherrschaft willen – diesen Krieg von lange her vorbereitet, unmittelbar herbeigeführt und nunmehr in verbrecherischster Weise verlängert hat, so dass die zurzeit tobenden Kämpfe unvermeidbar wurden. – Alles Blut, das jetzt noch um Englands willen fließen wird, komme über die bestgehasste Nation, die aus diesem Krieg mit dem Fluche aller jetzt kriegführenden Völker beladen hervorgehen wird.« 201 Zur Kriegslage (Anm. 36), S. 193f. 202 Oberst Immanuel: Vom Einbruch zum Durchbruch. In: Liller Kriegszeitung 4 (4. 4. 1918) Nr. 83, unpag.

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Westen der lange und sehnlichst herbeigewünschte Bewegungskrieg wieder begonnen.«203 Nicht nur das Offizierblatt interpretierte dies als eine »furchtbare Niederlage« für den Gegner und bereits als einen »glänzenden Sieg« für Ludendorff, der gemeinsam mit Hindenburg unmittelbar nach Schlachtbeginn vom Kaiser ausgezeichnet wurde.204 Bei der Verfolgung der »entscheidend geschlagenen« zwei britischen Armeen sei man auch zum ersten Mal auf »amerikanische Truppen in größeren Verbänden« getroffen, die besiegt worden seien.205 Tatsächlich handelte es sich hierbei jedoch lediglich um 500 Eisenbahningenieure der USA, von denen unter 100 in Gefangenschaft gerieten. Neben dem »überaus erfolgreichen« Einsatz »deutscher Panzerkraftwagen (Tanks)« habe man den »erschütterten« Gegner über die »wichtigen natürlichen Hindernislinien«206 und seine alten Stellungen von 1916 hinaus zurückgeworfen; man stünde nun 80 km vor Paris, wo durch den Artilleriefernbeschuss eine Panik entstanden sei.207 Ausführlichere Details des Vormarsches wurden im Offizierblatt und in den Frontzeitschriften nach der Schlacht geschildert, deren Bandbreite sich von Zeugnissen blanker Desinformation208 bis zur kritischen Berichterstattung über die unzureichende deutsche Ausstattung erstreckte. Während die eigentlichen Schrecken des Krieges nahezu verschwiegen wurden,209 klangen Berichte über

203 S[criba]: Vergeltungsoffensive (Anm. 155) (28. 3. 1918) Nr. 117/8, Sp. 2849. 204 Zur Kriegslage (Anm. 36), S. 193f. Schon am 24. 3. 1918 erhielt Hindenburg das Eiserne Kreuz mit goldenen Strahlen und Ludendorff das Großkreuz des Eisernen Kreuzes. Die goldenen Strahlen waren die höchste Auszeichnung des Eisernen Kreuzes und wurden »bisher nur einmal, und zwar dem Fürsten Blücher nach der Schlacht bei Belle-Alliance, verliehen.« Das Großkreuz bis dahin nur viermal. (Militär-Wochenblatt 102 (28. 3. 1918) Nr. 117/8, Sp. 2864). 205 Zur Kriegslage (Anm. 36), S. 193f. Diese Falschmeldung, die von »sehr beträchtlichen Kräften« der USA sprach, wurde auch in anderen Zeitschriften wiederholt, die sich ohnehin relativ häufig gegenseitig kopierten. Vgl.: Die Kriegsereignisse. In: Im Schützengraben. Wochenschau der 54. Infanteriedivision 4 (31. 3. 1918) Nr. 13, unpag.; Manchester Guardian vom 25. 3. 1918, zit. n.: Ein ehrliches Eingeständnis. In: Feldzeitung der 5. Armee (8. 4. 1918) Nr. 1292, unpag. 206 Zur Kriegslage (Anm. 36), S. 193f. 207 Nach Aussagen französischer Kriegsgefangener herrsche darüber an der französischen Front Schadenfreude, da »die Reichen und Begüterten die Hauptstadt fluchtartig verließen«. Vgl.: Die deutsche Offensive. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (2. 4. 1918), unpag.; Zitat aus: Ein Augenzeuge über die Beschießung von Paris. In: Feldzeitung der 5. Armee (4. 4. 1918) Nr. 1288, unpag. 208 Vgl.: Ein Brief über die Kämpfe um St. Quentin. In: Feldzeitung der 5. Armee (10. 4. 1918) Nr. 1294, unpag. 209 So ausnahmsweise in einem Artikel von Paul Ernst Haag (Gefr.): Tagebuchblätter aus der Angriffsschlacht. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (13. 5. 1918) Nr. 339, S. 3f.: »Noch sah man Franzmänner liegen, blauschwarz schon an Gesicht und Händen. Mit ihnen ging das

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die neue Dominanz der deutschen »schweren und schwersten Artillerie auf der ganzen Schlachtfront« recht unreflektiert.210 Sie würden »unerhört schnell« nachgezogen,211 um »an allen Punkten des Angriffsfeldes« »überraschend« aufzutauchen.212 Authentischer waren dagegen einzelne Erfahrungsberichte213 wie etwa jener über die Pioniere, die der »schweren Artillerie durch die Trichter und Krater« halfen, die sich selbst vorspannten, »wenn es die Pferde allein nicht mehr schaffen.«214 Die Pionierbataillone hätten Faschinen, Knüppelmatten, Bohlen und Kanthölzer zum Überbrücken der schlammigen »Trichterfelder« zur Hand gehabt, das Material habe jedoch schon am ersten Angriffstag »nicht« ausgereicht.215 Hauptmann Freiherr v. Gleichen zählte die verwendeten Zugtiere auf, die »Tausende Fahrzeuge aller Art und jeglicher Herkunft« gezogen hätten, darunter »kleine Kosakenpferde«, erbeutete Maultiere, schwere Belgier, sehnige Ostpreußen sowie Esel bis hin zu »Kühen und Kälber[n]«.216 Ein anderer schrieb über das ungeschützte Vorgehen der »ersten Batterien« hinter den »Sturmbataillonen«: Vom Waldrande her pfeifen englische Maschinengewehre in die ungeschützte Flanke, einige Pferde wälzen sich in den Tauen, aber es gibt keinen Aufenthalt; das Tau wird zerschnitten, der Wallach aus dem Weg geschoben, bleibt im Blute liegen, das Geschütz setzt sich in Galopp, um aufzuholen.217

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Begraben nicht so schnell; es waren zu viele. Pferdekadaver, zum Teil schrecklich verstümmelt.« Der neue Vorstoß. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (6. 4. 1918), unpag. Im Stil verklärender Abenteuerromantik: »Der dritte Zug der 8. Kompanie des x.ten Regiments unter Vizefeldwebel Geiger, von Beruf Kaufmann aus Mannheim, pirschte sich mit Handgranaten durch den nach Westen führenden ›Picadilly‹-Graben auf das Geschütz zu.« (Oberleutnant v. Bary, Offizierkriegsberichterstatter : Gefechtsbilder aus dem Siegeszug der Badener in der grossen Schlacht, zit. n. Paul Ernst Haag (Gefr.): Tagebuchblätter aus der Angriffsschlacht. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (16. 5. 1918) Nr. 340, S. 1–3). Die deutsche Offensive. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (3. 4. 1918), unpag. Vgl. nach einem englischen Stabsoffizier : Der Fall Alberts In: Feldzeitung der 5. Armee (4. 4. 1918) Nr. 1288, unpag. Vgl. Leutnant der Landwehr Arnold: Übergang der Pioniere über den Somme-Kanal bei Brie. In: Feldzeitung der 5. Armee (3. 5. 1918) Nr. 1317, unpag.; Peich, Lt. d. R.: MGScharfschützen-Abteilung von Heinz vor Grivesnes am 5. April 1918. In: ScharfschützenWarte (6. 6. 1918) Nr. 38, S. 527–529. Leutnant d. R. Otto Riebicke: Die Pioniere von St. Quentin. In: Feldzeitung der 5. Armee (22. 4. 1918) Nr. 1306, unpag. Fritz Schmidt: Durchbruch bei einer Kampfgruppe der 17. Armee. In: Deutsches Offizierblatt 22 (9. 5. 1918) Nr. 19, S. 307f. Hauptmann Freiherr v. Gleichen: Bilder vom Vormarsch. In: Liller Kriegszeitung 4 (7. 4. 1918) Nr. 84, unpag. Der Kampf am Holnon Wald. 22. 3. 1918. In: Feldzeitung der 5. Armee (8. 4. 1918) Nr. 1292, unpag.

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Der Einsatz von Schlachtfliegern wurde jedoch nur in Bezug auf den Gegner geschildert, dessen »endlose«, »in überstürzter Hast«, »in dreifacher Reihe« zurückgehende Kolonnen aus »Wagen, Geschützen und Lastautos« etwa auf der Straße P¦ronne–Albert sich dafür anboten.218 Das auf Entente-Seite ähnlich gekämpft wurde,219 manifestierte sich nur in der Präsentation von Abschusszahlen gegnerischer Flugzeuge, die zu einem Viertel Flugzeugabwehrgeschützen zugeschrieben wurden.220 Im Gegensatz zu den deutschen Einschätzungen schilderten abgedruckte ausländische Presseberichte221 einen anderen Rückzug der »geschlagenen« Engländer auf den wenigen »großen Verkehrswegen«222 durch das Trichterfeld der Sommeschlachten. Dieser vollziehe sich »trotz gewaltiger Verluste an Waffen und Munition« noch »in voller Ordnung«. Und trotz »schwerer blutiger Verluste« sei es den Briten gelungen, so Oberst Egli, »die Masse ihrer Geschütze zu retten«.223 Entgegen der auf deutscher Seite erwarteten englischen Mangelversorgung224 218 Tätigkeit unserer Schlachtflieger. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (10. 4. 1918), unpag.; Englische Flieger. In: Im Schützengraben. Wochenschau der 54. Infanteriedivision 4 (12. 5. 1918) Nr. 19, unpag. 219 »Luftfahrzeuge flogen ganz tief und verursachten in den endlosen Marschkolonnen schwere Verluste.« (Churchill: Weltkrisis (Anm. 18), S. 134). Paul C. Ettighoffer : Sturm 1918. Sieben Tage deutsches Schicksal. Gütersloh: Bertelsmann 1938, S. 141 u. 178 schrieb von schmalgesichtigen deutschen Reitern auf abgeschundenen, mageren, halbverhungerten Pferden und deutschen Kolonnen, gegen die feindliche Kampfflieger kämpften, deren Schwingen fast die Wipfel der Straßenbäume streiften. 220 »Vom 26.3. bis 1.4. sind von 120 feindlichen Flugzeugen 33 durch Flugabwehrkanonen abgeschossen worden« (Die Tätigkeit der Flak während der letzten Kämpfe in Frankreich. In: Feldzeitung der 5. Armee (1. 5. 1918) Nr. 1315, unpag.). Vgl.: Die deutsche Offensive. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (4. 4. 1918), unpag.; Unsere Überlegenheit in der Luft. In: Ebd. (31. 3. 1918), unpag. Zu Munitionsmengen und Abschusszahlen vgl. Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 336f. 221 Vgl. das Morgenbladet vom 26. 3. 1918, zit. n.: Norwegische Anerkennung der deutschen Erfolge. In: Militär-Wochenblatt 102 (11. 4. 1918) Nr. 125, Sp. 3015. Vgl. auch: Wie sie lügen (Anm. 158): »Wenn der französische Heeresbericht weiter von der guten Ordnung spricht, mit der die Engländer drei vorspringende Teile ihrer Stellung räumten, so stellt dies alle Tatsachen geradezu auf den Kopf.« 222 Nach dem Basler Anzeiger und deutschen Berichten vom 2. 4. 1918, zit. n.: Zur Lage. In: Militär-Wochenblatt 102 (11. 4. 1918) Nr. 125, Sp. 3015. Gänzlich konträr betonte die Kriegszeitung in Berlin das »gute Marschgelände« (Aus großer Zeit. CXCI. In: Deutsche Kriegszeitung. Illustrierte Wochen-Ausgabe (7. 4. 1918) Nr. 14, S. 2). 223 Oberst K. Egli in den Basler Nachrichten vom 26. 3. 1918, zit. n.: Schweizer Urteile über die deutsche Offensive. In: Militär-Wochenblatt 102 (4. 4. 1918) Nr. 122, Sp. 2943. 224 Diese nicht mit der Realität übereinstimmende Diskrepanz versuchte man durch erbeutete britische Feldpostbriefe zu erklären, in denen über rationierte Lebensmittel und Unterversorgung in Großbritannien berichtet wurde: »Vier Stunden muß ich stehen und länger, um etwas Essbares zu erlangen, und zum Schluß gibt’s – nichts!« (Briefe, die uns nicht

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stieß man in gegnerischen Gräben nicht nur auf Bücher und Zeitschriften, sondern auch auf rote, blaue und gelbe Konservenbüchsen mit Nahrungsmitteln.225 Nahezu euphorisch schilderte ein Offizier seine auf Autofahrten gewonnenen Eindrücke im Gebiet der 2. Armee und entlarvte dabei unbeabsichtigt die mangelhafte eigene Ausstattung: Zum Frühstück gebe es nun »Marmelade« auf »erbeutete[m] Weißbrot«, zu Mittag »Speck« und »amerikanische Konserven«. »Jeder Mann hat seine Pelzweste oder seinen englischen Mantel« mit »Gummikragen«.226 Überraschenderweise habe die BEF bei ihrem »kopflosen« Rückzug »fast nichts« zerstört,227 so dass eigene und erbeutete Pferde englischen Hafer und ebensolches Heu fressen, die Kraftwagenkolonnen »ihre Tanks aus den zurückgelassenen Benzinvorräten« füllen sowie »ihre Räder mit englischem und amerikanischem Gummi« bereifen könnten.228 Eindruck hinterließen neben den mit tausenden Grananten bestückten Munitionslagern229 die zahlreichen zurückgelassenen britischen Geschütze »in eingegrabenen Stellungen«, »Auto-Flaks« und Eisenbahngeschütze. Besonders drastisch war hierbei der Anblick eines in einem Hohlweg vernichteten britischen Artillerieregiments mit allein 40 Geschützen und 80 »Munitionswagen samt Pferden«, die »in einem schauerlichen Chaos durcheinander« lagen.230 Man habe zudem über 100 zusammengeschossene, festgefahrene oder mit Motordefekt liegengebliebene

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erreichen sollten. In: Feldzeitung der 5. Armee (12. 4. 1918) Nr. 1296, unpag.). Vgl.: Englands Nöte. In: Ebd. (25. 3. 1918) Nr. 1278, unpag.; Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. In: Im Schützengraben. Wochenschau der 54. Infanteriedivision 4 (14. 4. 1918) Nr. 15, unpag. Vgl. Schmidt: Durchbruch (Anm. 215), S. 307f. Nach der Zusammenstellung bei Charles Shrader : ›Maconochie’s Stew‹. Logistical Support of American Forces with the BEF, 1917–18. In: Ralph J. Q. Adams (Hg.): The Great War, 1914–18. Essays on the Military, Political and Social History of the First World War. London: Macmillan 1990, S. 101–131, hier S. 123 erhielten britische Soldaten knapp 4.200 und US-amerikanische 4.700 Kalorien im Feld. Die große Beute. In: Feldzeitung der 5. Armee (17. 4. 1918) Nr. 1301, unpag. Darunter Kisten voll von Fleisch- und Zwiebackbüchsen, Ölsardinen und Zucker. Vgl. Paul Ernst Haag (Gefr.): Tagebuchblätter aus der Angriffsschlacht. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (2. 5. 1918) Nr. 336, S. 3f.; ebd. (13. 5. 1918) Nr. 339, S. 3f. So auch nach einer Wolffschen Telegraphenmeldung vom 25. 3. 1918, zit. n.: Die völlige Kopflosigkeit der feindlichen Führung. In: Feldzeitung der 5. Armee (28. 3. 1918) Nr. 1281, unpag.; Wie sie lügen (Anm. 158). Extra erwähnt wurden: 200.000 Liter Wein, 4.000 Pferdedecken, 100 Kraftwagen, 360 Zentner Hafer, 50 Tonnen Kartoffeln. Vgl.: Erbeutete Vorräte. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (8. 4. 1918), unpag. Die große Beute (Anm. 226). Dabei sei man auf fabrikmäßig hergestellte Dum-Dum-Patronen gestoßen. Vgl.: Neue englische Dum-Dum-Geschosse. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (10. 4. 1918), unpag. Die große Beute (Anm. 226).

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Tanks und »Tankleichen« erbeutet,231 die »mit so viel Geschrei gepriesen« »im Bewegungskrieg völlig versagt« hätten.232 Während der Materialwert vor allem von Gummi, Kupferrollen, Schotterzügen, Dampfwalzen und Feldbahnen »in die Milliarden« gehe,233 zeigte man sich über die wegen »Holzarmut« und Glasmangel recht »ärmlich« und »ungesund« ausgestatteten englischen Lager irritiert.234

Erfolgsmaßstäbe Beide Zeitschriften registrierten die zunehmend steigenden Gefangenenzahlen sowie die erbeuteten Geschütze, wobei das Wochenblatt auch die Entfernung nach Amiens hervorhob, die von 27 km auf 17 km,235 nach Schweizer Angaben schließlich auf 15 km schrumpfte.236 Auch die Anzahl der gegnerischen Divisionen wurde vermerkt, wobei die unbekannte, 40 bis 60 Divisionen umfassende Manövrierarmee Fochs237 zunächst noch Respekt einflößte. Als aber französische Reserven »verzweifelt« und »in aller Eile« ohne Artillerie an die Front geworfen wurden,238 begannen beide Redaktionen, offen über die gegnerische Heeresstärke zu rätseln. 231 Seit 15. 10. 1917 hatte man über 150 Tanks erbeutet. Vgl.: Die ungeheure Halbjahrsbeute. In: Feldzeitung der 5. Armee (17. 4. 1918) Nr. 1301, unpag. 232 Die große Beute (Anm. 226). Laut britischen Kriegsgefangenen würden Tanks angeblich als »Todesfallen« angesehen, die nur für das Versprechen auf »vier Wochen Urlaub« für eine »einzige Tankfahrt« in Gang gesetzt werden (Versagen englischer Tanks. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (10. 4. 1918), unpag.). 233 Milliarden-Beute im Westen. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (10. 4. 1918). Vgl.: Die große Beute (Anm. 226). Die letzte deutsche Kriegsanleihe hatte einen Betrag von 12,6 Milliarden Mark ergeben. 234 Schmidt: Durchbruch (Anm. 215), S. 307f. 235 Vgl. S[criba]: Vergeltungsoffensive (Anm. 155) (31. 3. 1918) Nr. 119/20, Sp. 2901. 20 km waren es am 31. 3. 1918. Vgl. ebd. (3. 4. 1918) Nr. 121, Sp. 2921; ebd. (9. 4. 1918) Nr. 124, Sp. 2987. 236 Nach dem Basler Anzeiger vom 2. 4. 1918, zit. n.: Zur Lage. In: Militär-Wochenblatt 102 (11. 4. 1918) Nr. 125, Sp. 3015. Nur 13 km nach einer Wolffschen Meldung vom 6. 4. 1918, zit. n.: 13 Kilometer vor Amiens. In: Feldzeitung der 5. Armee (9. 4. 1918) Nr. 1293, unpag.; Aus großer Zeit. CXCII. In: Deutsche Kriegszeitung. Illustrierte Wochen-Ausgabe (Berliner Lokal-Anzeiger) (14. 4. 1918) Nr. 15, unpag. 237 Von dessen Ernennung erfuhr man aus der britischen Presse. Vgl.: Der französisch-englische Einheitsgeneral. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (31. 3. 1918), unpag. 238 Zur Kriegslage (abgeschlossen am 2. 4. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (4. 4. 1918) Nr. 14, S. 205f. Hinzu kamen unglaubwürdige offizielle französische Berichte über Angriffe »mit dem Bajonett« (S[criba]: Vergeltungsoffensive (Anm. 155) (31. 3. 1918) Nr. 119/20,

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Nach Scriba besaßen die Engländer Ende März nur noch sieben einsatzfähige Divisionen.239 Das Offizierblatt argumentierte vorsichtiger, kam aber ebenfalls zu dem Ergebnis, dass von der englischen Reserve »nicht mehr viel übrig geblieben« sein könne.240 Angesichts von etwa 75.000 Kriegsgefangenen müsse man »etwa doppelt soviel Verluste an Toten und Verwundeten« hinzurechnen.241 Ein britischer Ausfall von 225.000 Mann war nur unter Berücksichtigung der zeitgleich Erkrankten realistisch, allein unter den blutigen Umständen der Schlacht jedoch zu hochgegriffen. Weit über das Ziel hinaus schossen jedoch – offenbar über Holland hereinkommende – Meldungen des offiziösen Wolffschen Telegraphenbureaus, die von den Frontzeitungen wiederholt aufgegriffen und folglich – auch angesichts der gelungenen Offensive – als glaubhaft eingestuft wurden. Hier sprach man von einem »ungeheuren« Verlust von einer halben Million Mann,242 die das britische Heer eingebüßt hätte,243 eine Einschätzung, zu der sich Ludendorff erst Mitte Mai 1918 hinreißen ließ.244 Diesen Zahlen setzte allerdings das zitierte Berner Tageblatt die Krone auf, in welchem die Verluste der »Vernichtungsoffensive« mit reichlich Arithmetik sogar auf »604.000 Mann« Ende April hochgerechnet wurden.245 Angesichts der vollmundigen Behauptung, dass »nur die Sieger« »die schweren blutigen Verluste […] in ihrem vollen

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Sp. 2901). Bajonett-Verwundungen waren insgesamt recht selten, dafür häufig unmittelbar tödlich. Vgl. Haller : Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 338f. Vgl. S[criba]: Vergeltungsoffensive (Anm. 155) (3. 4. 1918) Nr. 121, Sp. 2921. Zur Kriegslage (abgeschlossen am 7. 4. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (11. 4. 1918) Nr. 15, S. 225f. P. Wf.: Die steigende Not Englands. In: Ebd., S. 226f. Zur Behandlung verwundeter britischer Gefangener vgl. Heinrich Jost-Ostheim (Gefr.): Kleine Geschichten aus der grossen Schlacht. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (23. 5. 1918) Nr. 342, S. 3f. Eine halbe Million britische Verluste. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (7. 4. 1918), unpag.; Die englischen Verluste. In: Feldzeitung der 5. Armee (9. 4. 1918) Nr. 1293, unpag.; Tagesschau. In: Kriegszeitung der 7. Armee (11. 4. 1918) Nr. 330, S. 4; Der erste Monat der deutschen Offensive. In: Feldzeitung der 5. Armee (23. 4. 1918) Nr. 1307, unpag. Möglicherweise resultierte diese Zahl aus einer falsch übersetzten Rede von General Jan Smuts (24. 5. 1870–11. 9. 1950), Mitglied des britischen Kriegskabinetts, der von geschätzten »half a million causalities to all the combatants« gesprochen hatte. Seine Rede wurde offenbar anschließend zensiert. Vgl.: Speech by General Smuts. In: The Bendigo Advertiser 64 (5. 4. 1918) Nr. 19543; Publication prohibited in Germany. General Smuts’s speeches. In: The West Australian 43 (8. 4. 1918) Nr. 4994. Nach Forschungsanstalt: Weltkrieg (Anm. 58), S. 314f. In zwei Monaten (17.3.–19. 5. 1918) starben 47.504 britische Soldaten, 124.428 wurden vermisst und 175.905 verwundet. Erkrankte wurden nicht speziell aufgeführt. Da 1918 jedoch täglich durchschnittlich 3.713 Soldaten krank waren, könnten diese 226.500 betragen haben. Berechnet nach Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 241f. Mit 315.000 ähnlich Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 266. Die englischen Verluste. In: Feldzeitung der 5. Armee (1. 5. 1918) Nr. 1315, unpag.

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Umfange beim Bewegungskriege« feststellen könnten,246 überraschen diese erheblichen Fehlinterpretationen.247 Zumal sie »übertriebene Hoffnungen« auf einen baldigen Sieg weckten,248 dessen Ausbleiben zu massiver Enttäuschung führen und sich nachhaltig negativ auf die Moral in der Truppe auswirken musste.249 Eine derart falsche und sensationshungrige Berichterstattung wog umso schwerer, als die deutsche Militärpresse durchaus in der Lage war, sehr konkrete und durchaus zutreffende Einschätzungen zu publizieren. So wurden etwa zur 14. britischen Infanteriedivision 4.179 Mann Verluste angegeben und damit 96 % der offiziellen britischen Ziffern erfasst.250 Bei anderen lagen diese zwischen 55 und 65 %, wobei man bei Verlusten von 2.300 Mann pro Division diese bereits als »aufgerieben« charakterisierte, was letztlich auf 23 britische Divisionen zutraf. Auch die aus deutscher Sicht wesentlich schwieriger bezifferbaren Angaben zu Mannschaftsstärke, Verlusten und Toten der britischen Hilfsverbände aus Kanada, Australien und Neuseeland stimmten mit Werten von 50 bis 80 % bei den eingesetzten Mannschaften, mit 60 bis 75 % der blutigen Verluste und mit 61 bis 67 % der Gefallenen recht genau mit den Gesamtverlusten dieser Staaten während des Krieges überein.251 Was die eigenen Verluste anging, beschränkte man sich auf die offiziellen amtlichen deutschen Mitteilungen, wonach diese sich »in normalen Grenzen« halten würden. Obwohl sie »an einzelnen Brennpunkten […] schwerer« seien, betrüge die »Zahl der Leichtverwundeten« angeblich sogar 60 bis 80 % aller Verluste.252 Egli betonte das »verhältnismäßig unblutige« Angriffsverfahren, in dem »die Angriffsinfanterie« erst vorgehe, nachdem »die Hauptwiderstandskraft der feindlichen Artillerie und Grabenbesatzungen gebrochen« worden sei,253 registrierte aber nicht, dass zahlreiche ungeschulte Divisionen aus dem 246 Die französischen Opfer. In: Die Westfront. Nachrichtenblatt der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, (24. 4. 1918) Nr. 6, unpag. 247 Sie verstießen zudem gegen die Zensurbestimmungen für die zivile Presse. Vgl. Oberzensurstelle: Nachschlagebuch (Anm. 25), S. 14, 17, 19, 35, 39, 56 u. 82. 248 Ebd., S. 17. Vgl. auch Immanuel: Einbruch (Anm. 202): »Die grösste Schlacht wird zugleich der grösste Sieg aller Zeiten sein.« 249 Zudem wurden bis Kriegsende Millionen Entente-Flugblätter zur moralischen Beeinflussung abgeworfen. Vgl. Haller: Militärzeitschriften (Anm. 22), S. 312. 250 Nur die der 18. Infanteriedivision lagen mit 136 % zu hoch. Vgl.: Aufgeriebene englische Divisionen. In: Feldzeitung der 5. Armee (6. 4. 1918) Nr. 1290, unpag. 251 Lediglich die Zahl gefallener Neuseeländer lag mit 16.000 von insgesamt 16.654 deutlich zu hoch. Vgl.: Neue englische Dum-Dum-Geschosse (Anm. 229); Butler : Australian Army Medical Services (Anm. 135), S. 880. 252 28. 3. 1918. Amtliche Mitteilungen des Großen Hautquartiers. In: Militär-Wochenblatt 102 (31. 3. 1918) Nr. 119/20, Sp. 2897. Vgl.: Tagesschau. In: Kriegs-Zeitung der 7. Armee (31. 3. 1918) Nr. 327, S. 4; Die Kriegsereignisse vom 22. März bis 2. April. In: Feldzeitung der 5. Armee (7. 4. 1918) Nr. 1291; Wie sie lügen (Anm. 158); Die englischen Verluste 1917. In: Ebd. (19. 4. 1918) Nr. 1303, unpag. 253 Oberst K. Egli in den Basler Nachrichten vom 26. 3. 1918, zit. n.: Schweizer Urteile über die

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Osten noch veraltete Angriffsmethoden anwandten und Gasgranaten bei Regen und stürmischem Wetter nur eingeschränkte Wirkung entfalteten. Entsprechend spielte das Offizierblatt auch das Liegenbleiben der deutschen Kräfte vor Amiens »mit einer Ruhepause« zur »Schonung der Truppen« und zum »Vorholen der schweren Artillerie« herab.254 Das Berner Tageblatt hob »staunend«, »die unglaubliche Leistung der Durchbruchsschlacht« und den 80 km langen Vorstoß255 im Vergleich zu den »bescheidenen Gewinnen der Engländer und Franzosen in ihren […] Offensivaktionen« hervor.256

Die perzipierte britische Berichterstattung Auf Interesse in der deutschen Militärpresse stießen auch die seitens der Entente oder neutraler Staaten veröffentlichten Einschätzungen während der Schlacht. So hatte eine holländische Zeitung am 25. März 1918 konstatiert: Wenn die Deutschen ihre Offensive nur noch wenige Tage mit der gleichen Kraft fortsetzen können, so wird das britische Weltreich, aber ebenso auch Frankreich von einer Katastrophe getroffen werden, wie sie die Weltgeschichte bisher noch niemals aufgewiesen hat. Dann wird das englische Heer auf die Kanalküsten zusammengedrängt werden, und die allerbitterste Verteidigung wird es nicht mehr von dem Untergange retten können. Damit würde dann der Krieg tatsächlich entschieden sein.257

Gleichzeitig war in der Londoner World von einem möglichen Rückzug der »Reste unserer Armee an die französische Küste und dann nach unserer Insel« für »einen langen, ernsten Verteidigungskrieg« die Rede.258 Die Sunday Pictorial sprach bereits von nur noch »elf Meilen«, die »uns […] von der größten militärischen Katastrophe des Krieges« trennen.259 Der britische Manchester Guar-

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deutsche Offensive. In: Militär-Wochenblatt 102 (4. 4. 1918) Nr. 122, Sp. 2943. Zur gleichen Behauptung, dass Leichtverwundungen 60–70 % der deutschen Gesamtverluste ausmachen würden, vgl.: Die englischen Verluste 1917. In: Liller Kriegszeitung 4 (16. 4. 1918) Nr. 87, unpag.: »Die Verluste einer erfolgreichen Angriffsschlacht sind durchweg auf Seiten des Angreifers geringe, auf Seiten des Angegriffenen hohe; das beweisen unserer Siege in der großen Angriffschlacht in Russland und Italien, jetzt auch in Frankreich. Umgekehrt ist es bei fehlgeschlagenen Angriffsschlachten«. Zur Kriegslage (abgeschlossen am 7. 4. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (11. 4. 1918) Nr. 15, S. 225f. Ebd. Berner Tageblatt vom 30. 3. 1918, zit. n.: Schweizer Urteile (Anm. 253), Sp. 2943. De Rotterdamer vom 25. 3. 1918, zit. n.: Neutrale Stimme zur Großen Schlacht in Frankreich. In: Militär-Wochenblatt 102 (6. 4. 1918) Nr. 123, Sp. 2967. Ein ernster Augenblick in der Londoner World vom 26. 3. 1918, zit. n.: Zur Kriegslage (abgeschlossen am 29. 4. 1918). In: Deutsches Offizierblatt 22 (2. 5. 1918) Nr. 18, S. 282f. Sunday Pictorial vom 31. 3. 1918, zit. n.: Verschiedenes. In: Ebd., 197 (16. 5. 1918) Nr. 20, S. 326.

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dian forderte, dass, falls derart heftige Angriffe »noch eine Woche andauern« würden, man sich nicht mehr fragen sollte, wie man Truppen nach Frankreich wirft, sondern vielmehr, wie man sie fortbekommen kann. Die britische Armee wird unverwendbar, wenn sie nicht in Flandern genügend Boden besitzt, um ihre Verstärkungen entwickeln zu können. Wenn wir um den Kanal nicht mindestens ein Gebiet von 25 bis 30 Meilen zu unserer Verfügung haben, stehen wir nicht mehr auf festen Füßen. Wir müssen einen Halbbogen um Calais herum, der Dünkirchen, Boulogne und Hazebrouk umschließt, halten, sonst […] müsste unsere Hilfe auf die See beschränkt werden.260

Angesichts vergangener britischer Eroberungen von 200 km2 in Flandern und 300 km2 an der Somme261 bereitete man die Bevölkerung nun auf Entente-Seite auf eine schwerwiegende Niederlage vor, denn während des Bewegungskrieges war der englisch kontrollierte Raum in Nordfrankreich, den Stegemann als einen »riesenhaften Brückenkopf«262 bezeichnete, um etwa 3.500 km2 auf etwa 9.000 km2 geschrumpft;263 die vom Guardian geforderte Mindestfläche betrug etwa 5.500 km2.

3.

Schlussbemerkungen

Welche Auswirkungen hatte nun diese bis dahin größte Schlacht des Weltkrieges? Nach Churchill war sie »eine entscheidende Niederlage« für das Kaiserreich, da man sich für die Rückeroberung von »alten Schlachtfeldern« verblutet habe, während die Briten ihre Materialverluste rasch ersetzen und zudem am 8. August 1918, dem »schwarzen Tag« des deutschen Heeres vor Amiens, mit dem »teutonischen Zusammenbruch« beginnen konnten.264 Gleichwohl war es so einfach nicht, denn die Entente hatte für ihren Sieg im Weltkrieg einen weit höheren finanziellen Preis zu zahlen, nämlich durchschnittlich zwei Drittel mehr für jeden Gefallenen als die Mittelmächte.265 260 Nach dem »Student of War« im Manchester Guardian vom 13. 4. 1918, zit. n.: Flandern unendlich wichtiger als Paris. In: Militär-Wochenblatt 102 (2. 5. 1918) Nr. 134, Sp. 3227. 261 Nach Stegemann im Bund vom 6. 4. 1918, zit. n.: Neutrale Urteile. In: Feldzeitung der 5. Armee (9. 4. 1918) Nr. 1293, unpag. 262 Nach dem Bund vom 6. 4. 1918, zit. n.: Zur Lage. In: Militär-Wochenblatt 102 (11. 4. 1918) Nr. 125, Sp. 3015. 263 30 % bzw. 3.440 km2 in den ersten 18 Tagen nach: Der Bodenverlust der Kriegsverlängerer im ersten Monat der deutschen Offensive. In: Die Westfront. Nachrichtenblatt der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz (24. 4. 1918) Nr. 6, unpag. 264 Churchill: Weltkrisis (Anm. 18), S. 137 u. 223. 265 Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 309 bezifferte die Kosten der Entente für jeden Toten der Mittelmächte auf 36.485 Dollar, die der Mittelmächte auf 11.345 Dollar für jeden Gefallenen der Entente.

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Während des gesamten Krieges gab Großbritannien mit etwa 12,6 Milliarden Dollar die höchste Summe im Jahr 1918 aus.266 Von dem Geld produzierte und kaufte man über 8.000 Geschütze, 1.360 Tanks, 120.000 Maschinengewehre, 32.000 Flugzeuge und 67 Millionen Granaten;267 ein Drittel mehr als im Vorjahr, wobei etwa vier Tage nach der Augustschlacht vor Amiens nur noch über 30 der 414 eingesetzten Tanks verwendbar waren und die britische Front seit März nie wieder ihre Maximallänge von 187 km erreichen sollte.268 Tatsächlich war man bereits seit 1916 derart von US-amerikanischen Krediten abhängig, dass das britische Schatzamt warnte, dass von 5 Millionen Pfund täglichen Kriegskosten 2 Millionen Pfund in den USA aufgenommen seien.269 Nach Meinung des britischen Pressetycoons Northcliffe war das Empire 1917 vor den USA auf die Knie gefallen, gleichzeitig stiegen die britischen Importe aus den Staaten von 24 % 1917 auf 32,8 % (2,5 Milliarden Dollar) 1918, das Handelsdefizit von 18,2 % 1917 auf 35,2 % (2,37 Milliarden Dollar).270 Bis 1918 herrschte in den USA die Auffassung vor, der Weltkrieg befände sich bereits in seinem Schlussakt zugunsten der Entente und könne durch die amerikanische Teilnahme allenfalls schneller beendet werden.271 Entsprechend überschaubar trafen die US-Verbände in Frankreich ein.272 Bis zum Jahreswechsel 1917/18 waren es zwar mehr als 500.000 Mann, von denen die wenigsten den gerade einmal fünf nicht einsatzbereiten Divisionen angehörten.273 Da es vor allem an kriegserfahrenen Offizieren fehlte, wäre der Einsatz amerikanischer Mannschaften in französischen und britischen Verbänden effizienter für eine raschere Beendigung des Krieges gewesen, jedoch auch verlustreicher. Von Seite der USA wurde dies jedoch bewusst abgelehnt. Man sah

266 2.580 Millionen Pfund oder 27 %. Vgl. Hardach: World War (Anm. 182), S. 155. Die höchsten deutschen Ausgaben lagen bei 52,2 Milliarden Mark 1917 (35 %), 1918 waren es lediglich 44,9 (28 %). Gemäß Goldstandard von 1913: 1 Dollar = 0,21 Pfund = 4,2 Mark = 5,18 Fr = 1,94 Rubel. Eine Feinunze Gold kostete in New York 20,67 Dollar (4,25 Pfund). 267 Ein Geschützrohr war häufig nach etwa 10.000 Schuss verschlissen. Vgl. ebd., S. 87; Generalmajor a. D. von Ohnesorge: Artilleristische Kriegserfahrungen. In: Militär-Wochenblatt 110 (18. 2. 1926) Nr. 31, Sp. 1108f. 268 Vgl. Travers: Killing Ground (Anm. 7), S. 250. 269 Vgl. Reynolds: Britannia (Anm. 39), S. 97f.; Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 406. 270 Berechnet nach Martin Horn: Britain, France, and the Financing of the First World War. Montreal: McGill 2002, S. 87. 271 Vgl. Kendrick Clements: Woodrow Wilson and World War I. In: Presidential Studies Quarterly 34 (2004) Nr. 1, S. 62–82, hier S. 63; Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 188. 272 Vgl. Doughty : Pyrrhic Victory (Anm. 43), S. 423. Bis zum 30. 6. 1917 gaben die USA täglich 2 Millionen Dollar sowie 22,5 Millionen Dollar bis zum 30. 6. 1918 aus. Vgl. Ayres: War (Anm. 2), S. 132. 273 Vgl. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 402f.; Ayres: War (Anm. 2), S. 19 u. 102. Kuhl: Entstehung (Anm. 1), S. 55 gab die Stärke der US-Truppen im Dezember 1917 mit 183.896 Mann an.

262

Christian Haller

sich als Partner (»associate«) und nicht als Verbündeter (»ally«).274 Spätestens als Wilson jedoch seit Beginn der Michael-Offensive mit Telegrammen von Lloyd George und Clemenceau ›überschüttet‹ wurde,275 in denen er dringend um Verstärkung der Infanterie ersucht wurde, musste es dem Präsidenten dämmern,276 dass auf dem europäischen Schlachtfeld nicht nur ein profaner Sieg gegen die Mittelmächte zu holen war. Das Engagement der USA steigerte sich gewaltig. Die Zahl ihrer Divisionen in Europa stieg seit Mai 1918 exponentiell bis Oktober auf 42, die Zahl der Soldaten auf weit über 2 Millionen,277 die Kriegsausgaben der USA auf 17,1 Milliarden Dollar (Stand von 1913) bzw. über 80 % der britischen Gesamtkriegskosten.278 Trotz dieses finanziellen Aufwandes gab es bei Kriegsende keine Belohnung aus dem Besitz der Unterlegenen, die jahrelangen Tod, Zerstörung, Schrecken und Verschwendung hätte kompensieren können.279 Vielmehr musste Großbritannien, das während des Krieges als kreditwürdiger Bankier und Vermittler auf den Kreditmärkten in New York und Chicago für einen reibungslosen Transfer der Rüstungsgüter zur Entente gesorgt hatte,280 nun weitere hohe Preise zahlen. Zum einen begannen die beim Mutterland verschuldeten Dominien, die die im März 1918 zunächst an sie gestellte Bitte um Truppen-

274 Reynolds: Britannia (Anm. 39), S. 98. Vgl. John Charmley : Der Untergang des Britischen Empires. Roosevelt – Churchill und Amerikas Weg zur Weltmacht. Graz: Ares 2005, S. 17. 275 Vgl. Greenhalgh: Victory (Anm. 9), S. 266f.; Gilbert: Churchill (Anm. 111), S. 273, 288–290 u. 292–295. 276 Vgl. Wilsons »Gewalt«-Rede: Erbeutete Vorräte. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (8. 4. 1918), unpag. 277 Die relevanten US-Kampfverbände wurden auf 1,2 Millionen Mann beziffert. Vgl. Oberstleutnant v. Kortzfleisch: Vom Berufsheer zum Millionenheer. Die Heeresschöpfungen der Angelsächsischen Mächte während des Weltkrieges. In: Wissen & Wehr 14 (1933) Nr. 4, S. 184–190, hier S. 186. Kuhl: Entstehung (Anm. 1), S. 54–56 nennt als Stärke 2.057.675 in Frankreich bei insgesamt 3.634.000 US-Soldaten, von denen 900.000 zu 28 im Kampf stehenden Divisionen gehörten. 278 Vgl. Hardach: World War (Anm. 182), S. 153. Spätere Berechnungen ergaben Ausgaben von 25.000 Dollar für einen getöteten Gegner, die für einen Toten einer kriminellen Straßenschießerei in den USA von höchstens 100 Dollar. Vgl. John Eward Wiltz: The Nye Munitions Committee 1934. In: Arthur Schlesinger (Hg.): Congress Investigates. A Documented History 1792–1974. Bd. 4. New York, London: Chelsea 1975, S. 2735–2772, hier S. 2740. 279 Bezeichnenderweise fragte Lloyd George Churchill, als dieser im Februar 1919 den Krieg weiter gegen die Sowjetunion führen wollte, wie viel dies kosten würde, denn Großbritannien könne es sich nicht leisten, »einen kostspieligen Angriffskrieg gegen Russland« zu beginnen. Churchill blieb ihm die Antwort schuldig. (John Charmley : Churchill. Das Ende einer Legende. Berlin: Propyläen 1995, S. 162). 280 Mittels des Bankhauses J. P. Morgan. Vgl. Stevenson: 1914–1918 (Anm. 15), S. 226–228; Strachan: Die Kriegführung der Entente. In: Hirschfeld u. Krumeich (Hg.): Enzyklopädie (Anm. 1), S. 272–280, hier S. 273.

Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918

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verstärkungen bis auf Kanada ignoriert hatten,281 sich selbst zu verwalten282 und wünschten in keine weiteren globalen Streitereien verwickelt zu werden.283 Zum anderen wanderte das Weltfinanzzentrum über den Atlantik und die USA lösten Großbritannien als größte Finanz- und Gläubigernation der Welt ab.284 Sogar den soliden Goldstandard musste London ihnen im März 1919 überlassen.285 Nachdem Mitte 1923 die britischen Schulden gegenüber den USA auf »erdrückende« 4,6 Milliarden Dollar festgelegt worden waren,286 trafen die Dominien ernsthafte Anstalten, zum Goldstandard auch ohne das Mutterland zurückzukehren,287 woraufhin Finanzminister Churchill ihn bereits 1925 überhastet wieder einführte. Als negative Folge dieser deflationären Entwicklung für Industrie und Arbeitsplätze sank der britische Anteil am Welthandel von 14,2 % (1913) auf 10,8 % (1929), zumal bereits während des Kriegs bedeutende britische Stammmärkte etwa in Süd- und Lateinamerika sowie Asien von den USA und Japan übernommen worden waren.288 Entsprechend gingen die britischen Verteidigungsausgaben von 292 Millionen Pfund 1920 auf 111 Millionen Pfund 1922 zurück.289 Hatte man in den 1870er Jahren noch selbstbewusst über mehr Schlachtschiffe als der gesamte Rest der Welt verfügt, war damit der Status als größte Marine nicht mehr zu halten, den man sich nach der Washingtoner Konferenz 1921 höchst widerwillig mit den USA teilte.290 Großbritannien hatte sich in den von den Deutschen so sehr gefürchteten »Übermaterialschlachten« übernommen291 und war nun »eine ansehnliche Macht«, auf den Weltfinanz- und -handelsmarkt überflügelt von den USA, 281 Vgl.: Ein Hilferuf Lloyd Georges. In: Nachrichtenblatt für die Kameraden im Kampf zwischen Somme und Oise aus der »Stafette in Champagne und Argonnen« (2. 4. 1918), unpag.; Stationery Office: Statistics (Anm. 4), S. 64 (iii). 282 Die Schulden im Mutterland betrugen 1.841 Millionen Pfund. Vgl. Ferguson: Krieg (Anm. 8), S. 304. 283 Vgl. Ferguson: Welt (Anm. 32), S. 422; Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 475; Anthony Clayton: The British Empire as a Superpower 1919–39. London: Macmillan 1986, S. 27. 284 Vgl. Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 425 u. 493. 285 Vgl. die Grafik zur Goldhandelsbilanz in den USA und in Großbritannien 1870–1930 in Pfund Sterling im Anhang sowie Horn: Britain (Anm. 270), S. 183. 286 Charmley : Untergang (Anm. 274), S. 18. Die Kriegsschulden Frankreichs gegenüber den USA wurden am 29. 4. 1926 auf 4 Milliarden Dollar festgesetzt. Vgl. Eberhard Kolb: Deutschland 1918–1933. Eine Geschichte der Weimarer Republik. München: Oldenbourg 2010, S. 45. 287 Vgl. William Garside: The Economic Legacy of Conflict. Britain in the Aftermath of the First World War. In: Hartmut Berghoff u. Robert von Friedeburg (Hg.): Change and Inertia. Britain under the Impact of the Great War. Bodenheim: Philo 1998, S. 25–36, hier S. 31f. 288 Vgl. ebd., S. 31; Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 493; Reynolds: Britannia (Anm. 39), S. 105. 289 Vgl. Clayton: Superpower (Anm. 283), S. 17. 290 Vgl. Reynolds: Britannia (Anm. 39), S. 1 u. 108; Charmley : Untergang (Anm. 274), S. 18; Clayton: Superpower (Anm. 283), S. 21f. 291 Die große Beute (Anm. 226).

264

Christian Haller

deren globaler Einfluss jedoch noch nicht »ihrer außerordentlichen Stärke« entsprach.292

Anhang Goldhandelsbilanz in Pfund Sterling berechnet Zeitraum 1870–1880 1880–1890

Großbritannien 25.580 - 401

USA - 3.009 19.104

1890–1900 1900–1910

65.674 43.484

- 78.687 11.072

1910–1920 1920–1930

137.438 - 109.256

145.305 268.262

1870–1930

167.381

419.601

292 Kennedy : Aufstieg (Anm. 14), S. 474 u. 493. Jedoch keine Supermacht im Sinne von Clayton: Superpower (Anm. 283).

265

Großbritannien USA

-100.000.000 1870

-50.000.000

0

50.000.000

100.000.000

150.000.000

1875

1880

1885

1890

1895

1900

1905

1910

1915

1920

1925

1930

Die »Michael-Offensive« im Frühjahr 1918

Goldhandelsbilanz in den USA und in Großbritannien 1870–1930 in Pfund Sterling. Berechnet nach William Adams Brown: The International Gold Standard Reinterpreted, 1914–1934. Bd. 1.2. New York: National Bureau 1940, S. 238f.

Manuel Köppen

Werner Beumelburg und die Schlachten des Weltkrieges. Schreibkonzepte eines Erfolgsautors zwischen Historiografie und Fiktion

1.

Schreibkonzepte

Als sich George Soldan, Reichsarchivrat und Herausgeber der populärwissenschaftlichen Reihe Schlachten des Weltkrieges,1 1925 Gedanken machte, wie der Mensch in zukünftigen Kriegen bestehen könne, hatte er für solche Überlegungen vor allem zwei Gewährsmänner. Es waren keine Militärhistoriker aus den Kreisen des Reichsarchivs, sondern schriftstellernde Zeitgenossen aus der Erlebnisgeneration, die – wie Soldan selbst – an der Westfront gedient hatten, aber nicht als gestandene Offiziere in das Geschehen eintraten, sondern als juvenil Begeisterte des prospektiven Fronterlebnisses: Ernst Jünger und Werner Beumelburg. Jünger attestiert er »ein überraschend feines Empfinden für das neuartige Wesen des Krieges«, während er bei Beumelburg vor allem dessen schriftstellerische Qualitäten rühmt. Beumelburg, »nicht älter als Jünger«, habe »in naturalistischen Schilderungen das ganze Grausen des Krieges und seine Einwirkung auf den Menschen in wahrhaft packender Sprache geschildert«.2 Jünger publizierte unabhängig; Beumelburg war der Starautor der von Soldan herausgegebenen Reihe. Beide jedoch standen gleichermaßen für jenen illusionslosen Heroismus, aus dem allein der Kämpfertypus abzuleiten sei, der in den Schlachten der Zukunft bestehen könne. Beumelburgs erstes Werk für das Reichsarchiv, Douaumont, wurde innerhalb der Schlachtenreihe zweimal aufgelegt und leitete – ursprünglich 1923 als achter Band erschienen – in der Neuauflage von 1925 als erster Band die Reihe ein. Er wurde später in einer leicht gekürzten Ausgabe wieder aufgelegt und erreichte hier mindestens das 130. Tausend. Werner Beumelburg habe, so heißt es im Klappentext von 1941, »jene Art der Kriegsdarstellung eingeleitet, die das Tat1 Zu Aufbau und Konzept der Reihe vgl. Manuel Köppen: Ereignis und Deutung. Schlachten des Weltkrieges, herausgegeben im Auftrage des Reichsarchivs. In: Christian Meierhofer, Michael Schikowski u. Jens Wörner (Hg.): Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg im Sachbuch. Non Fiktion 8/9 (2013/14) H. 2/1, S. 33–71. 2 George Soldan: Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg: Stalling 1925, S. 18.

268

Manuel Köppen

sächliche mit dem Seelischen verbindet und zu einer gewaltigen Synthese zwischen Material und Mensch vereint.«3 Im Dritten Reich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, geschätzt gerade auch in Zeiten eines neuen Weltkrieges und bewundert als Innovator des Genres der Schlachtdarstellung, ist seine Rolle im literarischen und erinnerungspolitischen Feld der Deutungen des vergangenen Kriegsgeschehens nicht zu unterschätzen. Mit Douaumont lieferte er den Gründungstext für einen zentralen Mythos des Soldatischen Nationalismus, an einem Ort des äußersten Schreckens dem unerbittlichen Schicksal begegnet zu sein, wie er mit Ypern 1914, als zehnter Band der Schlachtenreihe 1926 erschienen, dem Langemarck-Mythos vielleicht nicht zum Durchbruch verhalf, aber ihn doch entscheidend beförderte. Und er nahm sich mit Loretto, als siebzehnter Band erschienen, als Spezialist der Bearbeitung nationaler Mythen eines Hügels an, der vor allem im französischen Gedenken an den Weltkrieg eine exponierte Rolle spielte. In Flandern 1917, seinem letzten Beitrag für das Reichsarchiv, führte er verstärkt fiktionalisierende Elemente in die Darstellung ein, um dann 1929 mit Sperrfeuer um Deutschland seine Sicht der Gründe zu entwickeln, die in die Niederlage geführt hatten. Es war eine kriegsgeschichtliche Gesamtschau, mit der er sich von den Deutungsvorgaben des Reichsarchivs absetzte und in die Nähe nationalsozialistischer Positionen rückte. Das Gleiche gilt für den im selben Jahr erschienenen Roman Gruppe Bosemüller, eine der vielen literarischen Repliken auf Erich Maria Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues und Beumelburgs erster Versuch, sich ganz auf das Feld der literarischen Fiktion zu begeben, wenn auch mit autobiografischer Grundierung. Seine Arbeiten lassen sich als Versuch verstehen, das ›seelische Erleben‹ der Schlacht zu ergründen, eine Metapher, die merkwürdig oszilliert zwischen einem psychologischen Verständnis des Frontkämpfers und dessen mythopoetischer Überhöhung. ›Seele‹ meint Psyche, aber auch ein Unsagbares mehr. Ohnehin bildete die Amalgamierung von Gegensätzen sein Erfolgskonzept. Historiografie und Fiktion, Härte und Sentiment, detaillierte Schilderung der Todesarten und humoriges Frontleben: Bei Beumelburg wurde der Leser unterhalten. Ich werde seine Kriegsbücher Revue passieren lassen, die in der Weimarer Republik erschienen sind, wobei vor allem sein Schreibkonzept interessiert. In der Mischung von Fakt und Fiktion scheint es auch heute durchaus noch aktuell, in den mythologischen Überhöhungen und dem sentimentalen Kitsch wirkt es nur noch schwer erträglich. Beumelburgs Schriften mögen in vieler Hinsicht trivialer ausgefallen sein als die Ernst Jüngers, im historischen Kontext wirkungsmächtig waren sie allemal. Es waren Erfolgsbücher, mit denen er den zeitgenössischen Publikumsgeschmack traf. 3 Werner Beumelburg: Douaumont. Oldenburg, Berlin: Stalling o. J. [1941], unpag. Klappentext.

Werner Beumelburg und die Schlachten des Weltkrieges

2.

269

Douaumont: Der Opfergang vor Verdun

Douaumont stieß auf heftige Kritik in Fachkreisen. Die Schrift, so Georg Schuster in einer Sammelrezension für die Mitteilungen aus der historischen Literatur, sei zwar mit »großer Spannung« erwartet worden, doch sei das »kriegswissenschaftliche Ergebnis« mehr als dürftig. »Das rein militär., takt. Element tritt in den Hintergrund, ist gewissermaßen nur Staffage. Überdies ist das Ganze in seinem Naturalismus, in seiner phantasievollen poetischen Ausgestaltung mehr als Kriegsroman im Sinne Zolas, denn als eine kriegswissenschaftl. Leistung zu bewerten.« Tatsächlich testete Beumelburg die Grenzen zwischen seriöser historischer Darstellung, metaphorischer Überhöhung und fiktionalisierenden Elementen. Es war sein Erfolgsrezept einer Schlachtenpoetik, die er kontinuierlich ausbauen sollte. Zu den Ingredienzien gehörten auch die Schrecken des Krieges, die ihm den Vorwurf des Naturalismus eintrugen. »[D]er uns so wesensfremde Naturalismus, der hier in seiner schaurigsten Art zu Worte kommt, [ist] nur Wasser […] auf die Mühle der Völkerversöhner, der Pazifisten u. ›Friedensfurien‹ vom Schlage der sel. Bertha v. Suttner«, empört sich der Rezensent.4 Mit diesem Urteil lag er daneben, auch wenn Beumelburg wie einst Suttner jedes trivial sentimentalisierende Bild auskostete, um Wirkung zu erzielen. Die »Schmerz- und Schreckbilder«, die Suttner anlässlich der Schlacht von Königgrätz versammelt hatte, um in Gestalt eines Romans die Botschaft zu verkünden: Die Waffen nieder!,5 kehren bei Beumelburg in entgegengesetzter Intention wieder. Es sind die Schrecken des Krieges, die erst die Leistung erahnen lassen, die jene Helden vollbracht haben, die als ›Einsaat‹ für künftige Geschlechter verblieben oder gestählt aus den Materialschlachten hervorgingen. So beginnt Beumelburg seine Verdun-Darstellung nicht mit der heldenhaften Erstürmung des Forts Douaumont, sondern mit einer Katastrophe, die sich in der eroberten Festung in der Nacht zum 8. Mai 1916 ereignet. Aus nicht geklärten Gründen explodiert ein Handgranatenlager, darauf entweicht aus Flammenwerfern brennendes Öl und entzündet ein Depot französischer 15-cmGranaten: 4 Georg Schuster : Zur Literatur über den Weltkrieg. In: Erich Bleich (Hg.): Mitteilungen aus der historischen Literatur. Im Auftrage und unter Mitwirkung der Historischen Gesellschaft zu Berlin. Neue Folge. 12. Bd. Erstes bis viertes Heft. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1924, S. 33–54, hier S. 39. Das Reichsarchiv setzte die kriegswissenschaftliche Arbeit des Großen Generalstabs aus Vorkriegszeiten fort, aber statt des anonymen Kollektivwerks aus früheren Zeiten traten nun die Autoren namentlich in Erscheinung. Vor allem aber empörte, dass sich Beumelburg fiktionalisierender Erzählelemente bediente, um die Schrecken des Krieges zu vergegenwärtigen. 5 Bertha von Suttner : Die Waffen nieder! Hildesheim: Gerstenberg 1977 [1889], S. 170.

270

Manuel Köppen

Die mit müden Menschen gefüllten Gänge und Räume, die dem Explosionsherd zunächst lagen, versanken in Qualm und Steinen und begruben alles in ihren Gewölben. Die hilflosen Schwerverwundeten im Lazarett starben ohne Ausnahme den Erstickungstod. Die in Stollen und Gängen abgequetschten Infanteristen verbrannten in der Gluthitze der Flammen.6

Schon die Eingangshandlung macht deutlich, dass es nicht um die Bewährungsprobe kampfbereiter Helden geht, sondern um die Feier der Opfer, die durch den Erzähler adressiert werden: Ihr, die ihr unter den Trümmern des Douaumont den ewigen Schlaf schlaft, ihr, die ihr in langen Reihen unter den hellen Kreuzen von Azannes ruht, ihr, deren Leiber vermodert [!] im Schlamm jener ruhelosen Schlachten – wer sollte nicht zuerst eurer gedenken, wenn er ein Bild jener Wochen und Monde zeichnen will, da ihr uns verlassen mußtet…7

Gerundet wird die Opferrhetorik durch das Bild der heimkehrenden Toten als Vermächtnis künftiger Generationen, gestaltet in einer nächtlichen Vision. Ein von der Front abgelöstes Bataillon macht sich auf den Marsch durch eine »kohlschwarze« Schlucht, die wie »ein gähnendes Loch« anmutet, worauf es in dieser »Totenschlucht« von einem Feuerüberfall ereilt wird: Die Schlucht ist jäh in den dröhnenden Tanzboden einer trunkenen Teufelschar [!] verwandelt. Die Toten! Aus den Löchern hebt sich im Flackerschein der Explosionen Gestalt auf Gestalt, bilden eine Kette, schreiten voran, langsam, gebeugt, abwechselnd getaucht in hellrotes Feuer und in finsterste Nacht, hin- und hergerissen zwischen Grabgruft und höllischem Tanzboden. Und keiner sieht nach rechts und links, keiner hemmt den Schritt, keiner beschleunigt ihn … keiner bricht zusammen im Wirbel des Feuers. Geisterzug! Rückkehr der Toten zur Heimat! …8

Das Motiv ist vertraut, vor allem aus dem Kontext des Pazifismus. Filmisch begegnet es etwa in Abel Gances berühmter Schlusssequenz von J’accuse (1919), wenn sich die Toten vom Schlachtfeld erheben und Gespenstern gleich der Heimat zustreben. Bei Beumelburg wird aus der Anklage der Toten ein Vermächtnis für künftige Generationen, an die Heldentaten der im Krieg Verbliebenen anzuknüpfen. Das Opfer von Verdun ist als Sacrificium gedacht. Ent-

6 Werner Beumelburg: Douaumont. Zweite Aufl. Oldenburg, Berlin: Stalling 1925 [1923] (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 1), S. 11. 7 Ebd., S. 14. 8 Ebd., S. 65.

Werner Beumelburg und die Schlachten des Weltkrieges

271

sprechend werden christologische Motive eingebunden, um Verdun als sakralen Ort zu etablieren.9 Die Schlacht selbst bietet Beumelburg in überhöhender Metaphorik dar, Ernst Jüngers In Stahlgewittern durchaus verwandt: Jetzt tauchten aus dem Herbebois lange Mündungsflammen auf und warfen Lichtreflexe über das ganze Gewölbe der Nacht. Jetzt mischten sich die schweren Batterien im Fosseswald in das Konzert. Jetzt brüllten die Mörser von Gremilly wie urweltliche Ungeheuer. Jetzt begannen die Geschütze der Ornesschlucht wie plötzlich erwachte kampflüsterne Giganten zu lärmen, zu toben und zu schreien. Und alle diese aus Dunkelheit und Schlaf geschreckten Mäuler spieen sprühende Flammen gen Himmel und spuckten Eisen und Stahl über die Höhen, daß hundert matt leuchtende Strahlenwege sich oben kreuzten und daß ein Heulen und Zischen und Brausen gleich wie von rauschenden ungeheuren Schleiern die Dunkelheit erfüllte…10

Auch bei Beumelburg wird die Schlacht zu einem urweltlichen Geschehen, einer elementaren Kraft. Zum Überhöhenden gesellt sich wenn nicht der kalt gestellte Blick so doch die nivellierende Geste des standhaltenden Orientierungssinns: Auf dem halben Hang da unten lehnt schon seit Wochen ein toter Franzose sitzend an einem Baumstumpf. Schwach leuchtet sein blauer Rock. Wir hätten ihn wohl begraben, aber wir brauchen ihn als Wegweiser. Am Tage lenkt uns sein Graublau. Des Nachts verrät uns der Leichengeruch die Stelle, wo wir zum Hang und unseren Löchern hinaufklettern müssen.11

Doch unterscheidet Beumelburg von Jünger der beständige Drang, das Geschehen sentimentalisierend aufzuladen, sei es christologisch gewendet in einer leitmotivischen Einspielung der Pfingstbotschaft in Gestalt von Martin Rinckarts »Nun danket alle Gott« oder in regressiven Sehnsüchten: »Und es hat wie ein Glockenton in uns angeklungen unter all dem Lärm ringsum. ›Mutter…‹«12 Das alles vereinigt sich in Anblick des Berges. Zudem wird der Douaumont selbst »gesprächig und beginnt leise zu erzählen«,13 um zum Finale als lebendiger »Koloß« Rache zu nehmen »für die vergangenen acht Monate«.14 Verdun hat die »Seelen« umgeformt, aber deshalb wird der Berg auch zur Metapher einer unschätzbaren, »dunklen« und zugleich »märchenhaften« Erfahrung. »Mit 9 Vgl. Ulrich Fröschle: »Vor Verdun«. Zur Konstitution und Funktionalisierung eines ›mythischen‹ Orts. In: Ralf Georg Bogner (Hg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009. Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen. Bern u. a.: Lang 2010, S. 255–275, hier S. 273. 10 Beumelburg: Douaumont (Anm. 6), S. 18. 11 Ebd., S. 58. 12 Ebd., S. 63. 13 Ebd., S. 100. 14 Ebd., S. 118.

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Manuel Köppen

wachem Verstande hinabzusteigen in die Seele, der Verdun seinen Stempel aufgedrückt«, meint bei Beumelburg immer noch die blaue Blume der Romantik und nicht das Herz der Finsternis europäischer Zivilisation. Für die Überlebenden wird der Berg zu einem Ort der Erfüllung: »eine seltsam dämmerige, kühle, von schwer erfaßbaren Bildern und tiefen Rätseln angefüllte Gruft.«15 Der Douaumont wird zum Schicksalsberg stilisiert, wobei Beumelburg das »Gefühl des Schicksals« weniger mythopoetisch begründet, sondern psychologisch als Resultat zweier sich abwechselnder Gemütszustände fasst: der »Erregung« und der »Apathie«, die in ihrer Vermischung das tröstliche Bewusstsein erzeugen, »durch das Schicksal gebunden zu sein an diesen Ort voll täglichen Kampfes um Leben und Tod, das Gefühl, so nahe an der Grenze des Todes zu verweilen, daß sein Anblick jeden Schrecken verlor…«16 Die Leistung Beumelburgs bestand darin, Versatzstücke pazifistischer Kriegsdarstellungen so mit einer Historiografie der militärischen Ereignisse zu verweben, dass der Opfergang der Soldaten mit mythopoetischer Sinnfülle durchdrungen wurde. Der Sinn mäandert derart, dass sich alle angesprochen gefühlt haben dürften: die Mutter daheim, der Orientierung suchende Jüngling oder auch der altgediente Schlachtenveteran, dessen Leistung nachdrücklich bestätigt wurde. Zudem etablierte Beumelburg mit Douaumont einen Ort des unerbittlichen Schicksals, dem nicht zu entrinnen war. Gerade darin bestand auch die große Affinität zur Heldenverehrung in der sich formierenden nationalsozialistischen Bewegung. Als symbolischer Ort »organisierter und omnipräsenter Gewalt« war Verdun für die Nationalsozialisten zentral – wie Bernd Hüppauf argumentiert –, weil sich in ihm »Angst und Drohung« verdichteten. Der Mythos trug masochistische Züge, aber er konnte »als ein Element im Versuch einer totalen Verfügung über die Gesellschaft dienen.«17 Ikonisch verdichtet wurden die Erfahrungen, für die Verdun stand, im Emblem des Stahlhelms, das auch den Titel der Schlachtenreihe prägte.

3.

Ypern 1914: Langemarck als Heldenlied deutscher Jugend

Der Mythos Verdun als ein dem Volk auferlegtes Schicksal unterschied sich vom Langemarck-Mythos. Langemarck war ein unbedeutender Ort in Flandern, der ebenso gut wie jeder andere in dieser Landschaft zum Mnemotopos hätte er15 Ebd., S. 127f. 16 Ebd., S. 142f. 17 Bernd Hüppauf: Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«. In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich u. Irina Renz (Hg.): Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch… Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen: Klartext 1993, S. 43–84, hier S. 60.

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koren werden können, in der im Oktober und November 1914 der ›Wettlauf zum Meer‹ stattfand, der beiderseitige Versuch, den Gegner jeweils zu umfassen. Deutsche Reserveregimenter, in die auch junge Kriegsfreiwillige integriert waren, stürmten gegen erfahrene britische Verbände, die sich in der hügeligen und von Hecken und kleinen Wäldern durchzogenen Landschaft verschanzt hatten. Gedacht wurde in den Langemarck-Feiern der Weimarer Republik dem Heldenmut der jungen Studenten und Gymnasiasten, die im Rausche der Kriegsbegeisterung an Maschinengewehren scheiterten. Langemarck stand für den Idealismus der akademischen Jugend. Beumelburgs Ypern 1914 dürfte entscheidend zur Ausgestaltung des Mythos beigetragen haben. »Der deutschen Jugend ist dieses Buch geschrieben«, beginnt Beumelburg sein Darstellungsvorhaben unter der programmatischen Kapitelüberschrift »Einsaat«. Denn bei dem Blutopfer der deutschen Jugend, die jeden Schutz verachtend stürmt wie einst »die Grenadiere Friedrichs des Großen und die Musketiere des alten Blücher«, geht es um nicht weniger »als heilige Einsaat für die Zukunft des Reiches«.18 Kein anderer Band der Schlachtenreihe bewegte sich bisher so frei im Feld der literarischen Imagination wie Beumelburgs Hohelied des jugendlichen Opfers. Bevor der Erzähler im Kapitel »Langemarck« mit einer chronologischen Beschreibung des Geschehens einsetzt, ist bereits die Hälfte des Buches verstrichen. Denn es gilt, das Exemplarische der Ereignisse deutlich zu machen: etwa als Kreislauf zwischen Nacht und Tag, der bei Sonnenaufgang einen deutschen Flieger zeigt als ersten »Verkünder der neuen Zeit gigantischen Kampfes über dieser Einöde.«19 Was der »Riesenvogel«, eingebunden in den Konflikt zwischen Dunkelheit und Licht, sieht, ist mehr als nur die Landschaft Flanderns: »Ein ungeheures Kreuz wuchs aus der Erde empor, verdeckte mit seinem Gipfel die Sonne und breitete die Arme weit über den ganzen Himmel von Westen nach Osten.« Es ist der »bleiche Tod von Ypern«, der das Kreuz von »Golgatha« errichtet hat, erkennt der Vogel und zieht, einen Flügel senkend, »einen weiten Kreis rings um das Bild der todgeweihten Stadt«, womit der Mnemotopos Langemarck gemeint sein dürfte.20 Damit ist auch das Schicksal der fliegenden Metapher besiegelt. Der deutsche Riesenvogel, der Sonne zu nah, wird von britischen »Sperbern« zerfetzt, womit sich der Kreislauf vollendet.21 Naturmetaphorik, christologischer Kitsch, mit dem angespielten Ikarus-Motiv antikisierende Versatzstücke, das alles vermengt mit organizistischer Mythologie: Nichts wird ausgelassen, um den jugendlichen Helden von Langemarck im Bild des stürzenden Fliegers ein angemessenes Sinnbild zu 18 Werner Beumelburg: Ypern 1914. Oldenburg, Berlin: Stalling 1926 (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 10), S. 13. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 18. 21 Ebd., S. 26.

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schaffen, worauf Szenen aus dem Lazarett folgen, versetzt mit inneren Monologen, gerichtet an den »Gekreuzigten«. Deutlich bemüht sich Beumelburg, in der überhöhenden Metaphorisierung wie sentimentalisierenden Weichspülung die Schlacht bei Ypern 1914 für ein breites Publikum aufzubereiten. Der Bildungsbürger fand hier ebenso ein ansprechendes Deutungsangebot wie etwa ein künftiger Volksgenosse mit nationalsozialistischer Gesinnung. Anknüpfungsfähig war der weitgehend unpolitische Langemarck-Mythos, als ein Komplement des Verdun-Mythos, vor allem deshalb, weil er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten als Mythos der heroischen Jugend zum »Synonym für das Programm der Verjüngung der deutschen Nation« werden konnte.22 Zudem bezog er seine Aura aus einer bildungsbürgerlichen Orientierung an romantischen Werten eines verklärten Rittertums, ein Umstand, der ihn dafür prädestinierte, gesellschaftliche Gruppen zu gewinnen, die nicht zum Kernpotential der nationalsozialistischen Bewegung gehörten wie etwa die gebildete Jugend.

4.

Loretto: Die Adaption eines Schlachtmythos

Weniger anknüpfungsfähig blieb der Mythos, der sich auf französischer Seite um Loretto gebildet hatte. Der Name bezieht sich auf eine Schlacht aus dem Jahre 1914/15, die im deutschen Gedenken nur eine periphere Rolle spielte. Sie gehört zu den Kämpfen um die Stabilisierung der Front nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans an der Marne und zeichnete sich aus deutscher Sicht allenfalls dadurch aus, dass es um die äußerst verlustreiche Behauptung einer Höhenstellung ging. In die Darstellung der Schlachtenreihe des Reichsarchivs aufgenommen wurde sie – wie Soldan in der Einleitung begründet –, weil sie exemplarisch für den Kampf um Höhen stand wie den Hartmannsweilerkopf im Elsass, die Combre-Höhe oder den ›Toten Mann‹ bei Verdun, die auch deutscherseits symbolisch besetzt waren: als Landmarken eines militärischen Einsatzes, der strategisch kaum zu rechtfertigen war. Zudem dürfte die Entscheidung, einen Band der Schlachtenreihe Loretto zu widmen, nicht zuletzt eine Hommage an das Schreibtemperament Beumelburgs gewesen sein, der sich erfolgreich als Mythenbearbeiter wie -produzent in dem doch eher trockenen Umfeld militärhistorischer Bemühungen der Reihe bewährt hatte. Loretto, nur wenige Kilometer westlich von Lens gelegen, im Frontverlauf zwischen Lille und Arras, war eher ein Hügel als ein Berg, erhielt aber seine symbolische Bedeutung durch eine Kapelle, die diese Höhe zierte und ihr den Namen gab: Notre Dame de Lorette. Strategisch war der Ort unbedeutend, 22 Hüppauf: Schlachtenmythen (Anm. 17), S. 48f.

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taktisch immerhin von einigem Vorteil, wenn die erstarrende Front ausgerechnet hier ihren Verlauf nehmen sollte. Anfang Oktober 1914 wurde die Höhe von deutschen Truppen besetzt und in heftigen Kämpfen bis zum Mai 1915 gehalten. Die Kapellenhöhe umgab der Nimbus, dass ihr Besitz über den Ausgang des Krieges entscheide. Auf französischer Seite war der Ort mit einem Heils- und Rettungsmythos verknüpft. Die deutsche Heeresleitung nahm den Kampf offensichtlich aus Prestigegründen an. Nach dem Kriege entwickelte sich Loretto zu einem zentralen französischen Gedenkort. Oberhalb der wiedererbauten Kapelle wurde ein Laternenturm errichtet, der nachts sein Licht über 22.000 Gräber mit Holzkreuzen gleiten lässt, die ursprünglich in den Nationalfarben bemalt waren.23 Den Mythos der heiligen Schlacht sucht Beumelburg zu gestalten, aber so, dass nun der Nimbus der Kapellenhöhe seinen Glanz vor allem auf die deutschen Kämpfer wirft: ein mythopoetischer Adaptionsversuch, der einige erzählerische und metaphorische Inversionen erfordert. So lässt er zu Beginn der Darstellung einen »Gefreite[n] der Reserve Huber« einen »sonderbaren Traum« erleben. Huber, in den Schlaf gewiegt von der »monotonen Musik« des fernen Artilleriefeuers, wähnt sich in »nächtlicher Stunde« und mit einer Fackel in der Hand auf einem »Passionswege«, der direkt von seinem Heimatdorf im Allgäu zur Lorettohöhe und in die Kapelle führt, in der vor dem Bilde »der heiligen Mutter Gottes« die Mütter, Schwestern und Gattinnen der französischen Soldaten um den Sieg beten: »Toi qui tiens la victoire en main, sainte MÀre de Dieu…« Wieder auf freier Höhe stehend, schweift sein Blick über die »Biwakfeuer seiner Kameraden«, deren Lichter unversehens von der »Fülle des Morgenrotes« überblendet werden, das seit Wilhelm Hauffs Lied »Morgenrot, / Leuchtest mir zum frühen Tod?« zur volkstümlichen Kriegsmetaphorik gehörte.24 Der Traum leitet den 4. Oktober ein, den Angriffstag auf die Höhe, der bei Beumelburg zum Passionsweg deutscher Helden wird. Das Loretto-Motiv begleitet die Darstellung des Kampfgeschehens, auch in Form der Erzähleranrede: Notre Dame de Lorette… Vernimmst du das Klirren und Rauschen in der Luft, hier und da, mattglühende Bögen hinterlassend und gleich Raketen eines feierlichen Feuerwerks endend in einem Strahlenbündel? Hörst du den Flügelschlag schon dieser heimlichen Raubvögel, deren lüsterne Blicke auf dich gerichtet sind in der Dunkelheit? Notre Dame

23 Der Nationalfriedhof Notre-Dame-de-Lorette ist der größte Militärfriedhof Frankreichs. Auf Seiten der Entente fielen in den Kämpfen 102.000 Mann. 20.000 identifizierbare Tote wurden in Einzelgräbern beigesetzt, 22.000 unbekannte Soldaten in acht Beinhäusern. Der Laternenturm scheint auch heute noch. 24 Werner Beumelburg: Loretto. Oldenburg, Berlin: Stalling 1927 (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 17), S. 23–25.

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de Lorette… Wehe… schon flackert das ewige Licht in deinem Raum ängstlich unter dem fremden Luftzug…25

Das gewinnt drohenden Charakter, und tatsächlich ist von der Kapelle schon bald nichts mehr übrig: »Zerborsten ist Notre Dame de Lorette. Kaum noch erkennbar die Reste der Mauern, längst unter Geröll und Schutt versunken das Bild der heiligen Mutter.«26 Dieser Umstand hindert jedoch nicht, weiterhin auch die erotischen Konnotationen auszuspielen, die das Motiv der Dame auf dem Hügel ermöglicht. Hier wieder in Form der Erzähleranrede: Notre Dame de Lorette… das jüngste Gericht ist über dich gekommen. […] Notre Dame de Lorette… […] Nun hat es dich gepackt in letzter, hundertfach gesteigerter Wut… und ineinander verbissen kämpfen deine beiden grausigen Liebhaber nun um deinen Besitz den letzten, erbarmungslosesten Kampf…27

Die Kritik an der Heeresleitung, die kräfteverzehrende Schlacht angenommen zu haben, statt die Linie um wenige Kilometer in eine günstigere Stellung zurückzunehmen, wird deutlich formuliert, die Ursache des menschenverzehrenden Debakels jedoch dem französischen Mythos angelastet, wenn der Erzähler Notre Dame de Lorette anruft, sie möge den ihr zugeschriebenen Nimbus als Garantin des Sieges widerrufen: »wenn du dich lossagtest von Grauen und Vernichtung…«28 Die Adaption des französischen Mythos im Gestus der Klage erlaubt, das taktische Versagen der deutschen Führung im Schicksal aufzuheben: »Wie jene schmucklose Kapelle dort oben sich wandelt zum Symbol dieses Berges, so wird der Berg Symbol der Schlacht, die Schlacht aber Symbol des Krieges und unseres Schicksals.«29 So transformiert Beumelburg metonymisch den französischen Rettungsmythos in einen deutschen Schicksalsmythos, wobei aus dem Hügel ein Berg wird, die ›Tragödie‹ von Verdun vorausdeutend. Zur Mythopoetik gehört auch hier die Vision der heimkehrenden Toten, denn »es gibt keinen Tod, der nicht Leben verheißt.«30 Jenseits jenes Mantras des ›Stirb und Werde‹ zeichnet sich der Band durch das Vorhaben aus, das ›Seelische‹ des Kampferlebens zu ergründen. Beumelburg nutzt literarische Techniken, die auf eine Introspektion des Kampferlebens zielen, wie etwa eine dichte Mischung von Erzählerbericht und innerem Monolog, der einem nur peripher eingeführten Protagonisten zugeschrieben wird. In der folgenden Passage zunächst einem Oberleutnant Lorenz, der sich gerade eine Zigarette angezündet hatte, als die Morgenruhe durch eine Minenexplosion gestört wird: 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 37. Ebd., S. 57. Ebd., S. 69. Ebd., S. 120. Ebd., S. 125. Ebd., S. 169.

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Aber die Unterstände! Herrgott im Himmel… wo sind die Unterstände? Drei Unterstände fehlen mit Grenadieren und einer mit Pionieren… Herrgott im Himmel… guter Herrgott, wo sind die Unterstände! Verstörte Gesichter starren einander an… allmählich breitet sich das Erkennen grausam in den zerquälten Gehirnen, die sich noch sträuben. Etwa fünfundzwanzig bis dreißig Mann sind verschüttet… lebendig begraben, totgequetscht vielleicht zur Hälfte… schreiend und tobend vielleicht die andern… hier gerade, dort unter uns, und da… ein paar Meter unter dem Boden… zum Verrücktwerden! Stille jetzt… stille… um Gotteswillen stille! Deutlich, ganz weit entfernt… deutlich kann man jetzt schreien hören… hier, hier, gerade hier hinter diesen Aufschüttungen… schreien, daß es durch Mark und Bein geht… »zu Hilfe… zu Hilfe…«31

Bezeichnenderweise verschiebt sich in dieser Passage der innere Monolog von der eingeführten Bezugsperson zu einem Kollektiv der Mitkämpfer, in das der Leser als Miterlebender eingebunden wird. Immer wieder nutzt Beumelburg Erzählverfahren, in denen die Fokalisierungen gleiten. Er sucht Anschluss an literarische Techniken der Moderne, was ihn keineswegs hindert, das Archaische der Materialschlacht zu feiern. Kommt es zur Feindbegegnung, erwachen die Urinstinkte. In »allem Zusammenbruch ringsum« bleibe nur eines: die schlummernde Spannkraft des Nervensystems, die tief im Unterbewußtsein ruhende Kampfgier, die im Augenblick des Leuchtkugelgeflatters und des feindlichen Ansturms sich automatisch auslösen wird wie durch einen elektrischen Kontakt. Dann werden wahnwitzige Kräfte emporspringen und ein bisher in Starrheit geschlagener urtümlicher Instinkt, unbekannt unseren friedlichen Zeiten und nur hier draußen zum Vorschein kommend, wird mit tödlicher Sicherheit den Menschen das tun heißen, was die Gesetze des Kampfes von Mensch gegen Mensch seit urdenklichen Zeiten in seine Natur versenkt.32

Solche Analytik erinnert an Jüngers 1922 veröffentlichte Schrift Der Kampf als inneres Erlebnis, in der er die »Wiedergeburt des Barbarentums« in der Schlacht gegen die verweichlichte Zivilisation gesetzt hatte.33 Wenn, so Jünger, »des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung: Nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch, der Höhlensiedler, in der ganzen Unbändigkeit seiner entfesselten Triebe.«34 Entsprechend wird die Schlacht bei Beumelburg zum dionysischen Erleben stilisiert, metaphorisiert als »Tanzboden«, »Bühne« oder selbst »Zechgelage«.35 Auch in Ruhephasen an der Front wird das innere Erleben des »geübten Kriegers« als Zusammenspiel von 31 Ebd., S. 113. 32 Ebd., S. 128f. 33 Ernst Jünger : Der Kampf als inneres Erlebnis [1922]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 9–103, hier S. 35. 34 Ebd., S. 15. 35 Beumelburg: Loretto (Anm. 24), S. 55.

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Nerven und Instinkt gedeutet: »Während sein Verstand und seine Nerven ruhen, wacht heimlich in ihm der Instinkt«.36

5.

Flandern 1917: Die Abwehrschlacht im Erleben der Protagonisten

Solche Introspektionen beeindruckten, nicht zuletzt den Reihenherausgeber, der sich vor die Aufgabe gestellt sah, eine der intensivsten Materialschlachten des Weltkrieges, die die Kämpfe um Verdun oder die Somme aus dem Jahr 1916 in den Schatten stellte, in die Gesamtdarstellung mitaufzunehmen: die Abwehr der britischen Offensive in Flandern, die strategisch der Gewinnung der deutschen U-Boot-Stützpunkte in Belgien galt und von Ende Mai bis in den Dezember 1917 dauerte. »Wir hätten dafür mindestens 3–4 Bände ansetzen müssen«, so Soldan, der sich – dieses Projekt vorbehaltend – entschließt, die Vorarbeiten dem Herren Werner Beumelburg zur Verfügung zu stellen, mit dem Auftrage, in einem Bande das charakteristische Erleben der Flandernschlacht psychologisch herauszuarbeiten, um so wenigstens den Beziehern der Schlachtenfolge einen gefühlsmäßigen Einblick in das ungeheure Ringen zu vermitteln.37

Einerseits räumte Soldan die begrenzten Arbeitskapazitäten selbst des Reichsarchivs ein, andererseits war der Auftrag für Herrn Beumelburg als Auszeichnung seiner unkonventionellen, sich moderner literarischer Techniken bedienenden Schlachtdarstellungen zu verstehen, auch wenn sie zunehmend in Konkurrenz zum historiografischen Verfahren des Reichsarchivs gerieten. Die Abonnenten der Schlachtenreihe werden es gedankt haben, dass sie nicht in »3–4 Bänden« der detaillierten Schilderung der Gefechtssituationen ausgesetzt wurden. Auf schlanken 150 Seiten, ergänzt durch eine archivamtliche Darstellung, erzählt Beumelburg die sechsmonatige Abwehrschlacht. Dabei erlaubt er sich weitere erzählerische Freiheiten. Wurden zuvor in seinen Schlachtdarstellungen lediglich Bezugspersonen eingeführt, um an sie Träume oder innere Monologe anknüpfen zu können, so entwirft er nun Charaktere, mit denen exemplarisch Verhaltensweisen, Todesarten oder Überlebensmöglichkeiten studiert werden. Die Beschreibung eröffnet er wie einst Victor Hugo im zweiten Band der Mis¦rables. Der Erzähler begegnet als Wanderer auf dem ehemaligen Schlacht36 Ebd., S. 60. 37 George Soldan: Einführung. In: Werner Beumelburg: Flandern 1917. Oldenburg, Berlin: Stalling 1925 (Schlachten des Weltkrieges, Bd. 27), S. 7f., hier S. 7.

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feld. Aus dem gegenwärtigen Zustand der Landschaft erwächst die Imagination des vergangenen Geschehens, wobei die topografisch-taktischen Bedingungen wie beiläufig einfließen. »Majorgraacht« heißt das einleitende Kapitel, das wie auch alle anderen Erzählabschnitte den Namen einer Ortschaft trägt. Es geht weniger um die militärisch-taktische Sukzession des Geschehens, sondern um eine symbolisch-topografische Verdichtung als Heldenlied deutscher Frontkämpfer. Entsprechend wechseln die Kapitel zwischen dem Typus des zusammenfassenden, immer wieder von der Landschaft ausgehenden Erzählerberichts und der exemplarischen Narration einer Gefechtssituation in Form fiktionalisierender Vergegenwärtigungen mit jeweils einem Hauptprotagonisten als Identifikationsfigur : dem Kommandeur eines Eingreifbataillons, der mit seinen Männern sterben wird, oder einem jugendlichen Musketier, der den Kampf zum ersten Mal erlebt und schließlich in einem verschütteten Bunker erstickt. Doch sind nicht nur Opfergeschichten zu berichten. Da ist jener Musketier Müller III, der mit List und Tücke einen ›Tommy‹ gefangen nimmt, sich den Heimatschuss holt und mit seiner Beute glücklich das Kampffeld verlassen kann. Was Soldan ›psychologisch‹ anmutet, ist eine geschickte und gut erzählte Mischung aus Schlachtfeld-Besichtigung, wie sie auch heute noch Militärhistoriker erfolgreich betreiben,38 Erläuterung der taktischen Bedingungen, die hier der beweglichen Tiefenstaffelung der Verteidigungszone gelten, und dem bruchlosen Übergang in szenisch literarisierende Darstellungen, die das Schicksal einzelner Figuren verfolgen. Im Sinne eines heroischen Nationalismus war dies ein perfektes Erzählkonzept, das alle Genre-Grenzen verflüssigte und inhaltlich mit der für Beumelburg typischen Mischung aus Härte und Sentimentalisierung aufwartete.

6.

Sperrfeuer um Deutschland: Die verratenen Helden

Sperrfeuer um Deutschland, sein erfolgreichster Titel, und Gruppe Bosemüller, Beumelburgs heute noch bekanntestes Buch, sind komplementäre Projekte. Mit Sperrfeuer um Deutschland, einer Gesamtschau des Krieges, begibt er sich in Konkurrenz zum Darstellungsprojekt der Schlachtenreihe, auch wenn er Hauptlinien der reichsarchivlichen Deutung übernimmt. Gruppe Bosemüller gehört in den Kontext der literarischen Repliken auf Erich Maria Remarques Sensationserfolg Im Westen nichts Neues. Hier entwickelt Beumelburg seine literarischen Ambitionen.39 Beide Projekte zielen wiederum auf das ›Seelische‹. So 38 Vgl. etwa John Keegan: Der amerikanische Bürgerkrieg. Deutsch von Hainer Kober. Berlin: Rowohlt 2010. 39 Zum Vergleich zwischen Im Westen nichts Neues und Gruppe Bosemüller vgl. Heidrun EhrkeRotermund: »Durch die Erkenntnis des Schrecklichen zu seiner Überwindung«? Werner

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rechtfertigt Beumelburg seine kriegshistorische Darstellung schon im Vorwort damit, dass es bisher nur zwei Varianten von Kriegsbüchern gebe, solche, »die den historischen Verlauf der Ereignisse feststellen, und solche, die sich zum Ziel gesetzt haben, die seelischen Vorgänge an der Front und in der Heimat zu ergründen.« Ihm gehe es darum, beide Aspekte miteinander »zu verschmelzen«.40 Gemeint ist eine kriegshistorische Darstellungsweise, die nach den Lebens- und Kampfbedingungen der Truppe fragt und dabei vor allem ihrer Kampfmotivation. Das Projekt läuft darauf hinaus, den Gegensatz zwischen Heimat und Front zu betonen und damit die Dolchstoßlegende wiederzubeleben. Die feindliche Propaganda und der Verrat der Heimat werden ursächlich für das militärische Debakel, eine Deutung, die das Reichsarchiv vermieden hatte. Zunächst folgt die Darstellung dem historischen Verständnis auch des Reichsarchivs, den Krieg oder auch einzelne Schlachten als dramatische Entwicklung einer Handlung zu interpretieren. Der Krieg, also die Gesamthandlung, ist dreiaktig gegliedert. »Kampf ums Leben«, »In Fesseln geschlagen«, »Der Zusammenbruch« heißen die Erzählabschnitte. »Kampf ums Leben« schildert das von Feinden umzingelte Deutsche Reich, das sich im Überlebenskampf einen ihm zustehenden Platz schaffen will. Entsprechend versteht sich auch der Titel: Sperrfeuer um Deutschland. Bedrängt von beutehungrigen Nachbarn, den auf Revanche sinnenden Franzosen, den auf ihr Imperium bedachten Engländern und den halbbarbarischen Russen, später gefolgt von den amerikanischen »Kreuzfahrern«, in deren Köpfen »romantische Ideen von Freiheitskampf und Menschenrechten spukten«,41 führt Deutschland einen reinen Verteidigungskrieg, ungeachtet des Schlieffen-Plans. Am Ende steht das ›Vae victis!‹: das Diktat von Versailles und der Rückmarsch zum Rhein. Damit war die Frage der Kriegsschuld ebenso geklärt wie das Unrecht, in das sich die Sieger gesetzt hatten. Den verborgenen Wendepunkt des Krieges sieht Beumelburg bei der Schlacht an der Somme. Er macht eine einfache Rechnung auf zwischen Munitionsverbrauch und Soldatenzahlen. Danach war der Soldat der Entente nur einem Sechstel der »Materialwirkung« ausgesetzt, die der deutsche Soldat zu ertragen hatte; zudem wurde er wesentlich schneller abgelöst. »Hier liegt der unsichtbare Teil der Entscheidung, der aber der wichtigste ist. Er ist seelischer Art.« Ein kleiner Teil der Überlebenden entwickelt sich zum Typus des gestählten Abwehrkämpfers, doch schmilzt der Bestand solcher Helden. Der größere Teil der Beumelburg: Gruppe Bosemüller (1930). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi 2003, S. 299–318. 40 Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland. Oldenburg, Berlin: Stalling 1929, unpag. Vorwort. 41 Ebd., S. 292.

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Überlebenden wird durch das Erlebnis innerlich verändert, so dass er in künftigen Schlachten nicht mehr die gleiche »Spannkraft« aufbringen kann; in seiner »Seele« liegt schon der »Keim der Erschlaffung«.42 Hier kommt die Heimat ins Spiel, die entsprechenden Ersatz schaffen müsste. Sie jedoch fällt der Truppe schon während der großen Abwehrschlachten an der Westfront in den Rücken. Selbst Hindenburgs Kriegswirtschaft konnte ein Grundübel nicht beseitigen: »Der Rüstungsarbeiter saß daheim in Sicherheit bei Frau und Kind und empfing einen relativ hohen Lohn. Der Soldat an der Front erhielt ein paar Pfennige und mußte Tag für Tag sein Leben einsetzen.« Dadurch wurde »die vaterländische Moral in beängstigender Weise« untergraben.43 Zeichen der sinkenden moralischen Kraft waren Streiks, während auf der anderen Seite Kriegsgewinnler prassten und das Volk unter der Hungerblockade litt. Der Heeresleitung war bewusst, »daß sich im Innern Deutschlands Kräfte regten, die den Geist der vaterländischen Moral und straffer Kriegführung bedrohten.« Sie konnten nicht bekämpft werden, weil zwischen der Heeresleitung und der Reichsregierung ein unversöhnlicher Gegensatz bestand, der wiederum das Volk in zwei Lager spaltete. In »diesem trüben Gewässer politischer Zwietracht« konnten sich »Fischer an die Arbeit« machen, »deren Ziele mit Vaterlandsliebe nichts mehr gemein hatten.«44 So gelangt Beumelburg von einer nachvollziehbaren Darstellung schwindender Kräfte an der Front unversehens zu einer Diagnose des »Seelischen«, verstanden als »Vaterlandsliebe«, die von politisch erzeugten Dissonanzen auf der Führungsebene ebenso untergraben wird wie von geheimen Kräften im Untergrund: Schon keimte unter der Oberfläche der Hochverrat, bildete geheime Zirkel, schlich durch die Fabriken und die Betriebe, gelangte an die Ersatztruppenteile, auf die Schiffe der Flotte, die seit jenem Ehrentag von Skagerrak wieder untätig in den Häfen lag, und fand hier und da seinen Weg an die Front.45

Schuldlos bleibt lediglich die Heeresleitung, die schon 1916/17 versuchte, die Rekruten »möglichst frühzeitig dem Einfluß der Heimat« zu entziehen und sie »in die männlichere Atmosphäre des Kriegsgebietes« zu bringen. »Die feindliche Propaganda wurde ebenso bekämpft wie die schleichende Wühlarbeit, deren verborgene Wurzeln in der Heimat lagen.«46 Nach der Kapitulation weicht die Darstellung der Heimat, zuvor ein Hort »radikale[r] Unterwühlung«,47 freund42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 221. Ebd., S. 276. Ebd., S. 284. Ebd. Ebd., S. 285. Ebd., S. 516.

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licheren Tönen, wenn die Zurückkehrenden mit wehenden Fahnen und mit Girlanden geschmückten Straßen empfangen werden: »Die Heimat tut, was ihre Pflicht ist.« Sie »empfängt ihre heimkehrenden Söhne als Sieger.« Nur folgen den heimkehrenden Truppen die Fremden auf dem Fuß: »Aufreizende Fanfaren der Clairons, schmetternde Märsche im kurzen Schnellschritt. Spahis in weißen Mänteln auf arabischen Pferden. Glotzende Negergesichter. Blaugraue Kolonnen, endlos, in abgerissenen Uniformen. Khakifarbene Bataillone, große Gestalten, neugierige Blicke.«48 Die Schmach des Versailler Vertrages bestand nicht nur darin, dass Deutschland entmachtet und durch Reparationszahlungen wirtschaftlich ruiniert werden sollte, sondern auch in der Öffnung der Heimat für die kulturlosen Fremden aus den Kolonien der Ententemächte, während das Deutsche Reich seiner überseeischen Besitztümer beraubt wurde. Ohnehin gewinnen die xenophoben Äußerungen, die schon in Loretto bisweilen anklangen,49 in Sperrfeuer um Deutschland deutlich an Profil. Während Franzosen und Engländern der Status gleichberechtigter Kämpfer zuerkannt wird, ist das Auftreten von Indern, Marokkanern und Senegalesen auf den europäischen Schlachtfeldern grundsätzlich suspekt, weil sie die Normen zivilisierter Kriegführung gefährden. Das gilt selbst für die eigenen Verbündeten, etwa die osmanische Armee, die sich bei Gallipoli den Invasionstruppen der Entente widersetzte: »Kämpfe von schrecklicher Wildheit entstehen. Bajonett und Stichmesser liegen dem Orientalen besser als die Schußwaffe.«50 Nun mögen sich solche Äußerungen angesichts der geschilderten Materialschlachten unter zivilisierten Nationen wie Reminiszenzen an die Phantasmen des 19. Jahrhunderts ausnehmen, doch zeichnet sich hier eine xenophobe Grundstruktur ab, die im Fall des russischen Gegners paranoide Züge annimmt. Erscheinen die russischen Soldaten bis zur Oktoberrevolution als »stumme Opfertiere«, die sich bereitwillig hinschlachten lassen, so wandelt sich »dies gutmütige und geduldige Tier« unversehens zur Bestie, als es unter den Einfluss der Bolschewisten und die Kuratel Trotzkis gerät.51 »Lenin, der rote Zar, und Trotzki, der Diktator«, schmieden aus »dem Gluthaufen des Chaos« eine »gut disziplinierte, begeisterte und auf ihre Anführer schwörende rote Armee. […] Hier herrschen Urinstinkte, die niemand dämmen kann.«52 Nun ließe sich vermuten, Disziplin und Instinkt seien als soldatische Tugenden grundsätzlich positiv besetzt, insofern sich der deutsche 48 Ebd., S. 532. 49 Vgl. Beumelburg: Loretto (Anm. 24), S. 144 u. 149: Die »Schwarzen«, womit marokkanische Verbände gemeint sind, kämpfen »zäh wie Raubtiere«, während sich die feindlichen Truppen ohnehin durch »ein wahres Völker- und Rassengemisch« auszeichnen. 50 Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland (Anm. 40), S. 163. 51 Ebd., S. 193 u. 296f. 52 Ebd., S. 392.

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Frontkämpfer gerade durch eine glückliche Mischung dieser Ingredienzien auszeichnet. Doch ertönt aus Moskau »der Schrei nach der Weltrevolution«, der mit seinen perfiden Friedensappellen und den »Lockungen des Bolschewismus« die deutsche Heimat unterwandert und die »Moral der deutschen Truppen« bedroht.53 Komplementär zu dieser Geburt des Untergangs aus dem Geist der Verschwörung, an der gleichermaßen die Propaganda der Entente, die bolschewistischen Versprechungen und die Zerrissenheit der Heimat teilhaben, sieht Beumelburg als alleinigen Ausweg den einigenden Willen einer Führergestalt, wie sie sich mit Hindenburg abzeichnete, dem das Buch gewidmet war und der seinerseits ein Grußwort verfasste. Beumelburg wird zu diesem Zeitpunkt Adolf Hitler wohl kaum auf seinem Wahlzettel gehabt haben, andererseits lassen sich die Urteile zur verhängnisvollen Rolle der feindlichen Propaganda, zur Gefahr des Bolschewismus einschließlich der xenophoben und verschwörungstheoretischen Vorstellungen ebenso in Mein Kampf finden. Allein antisemitische Ausfälle werden vermieden. Sperrfeuer um Deutschland, das gekürzt als Weihnachtsbuch der deutschen Jugend noch 1939 von Baldur von Schirach herausgegeben wurde54 und eine Gesamtauflage von weit über 300.000 erreichte, war eine Steilvorlage für eine Sicht der Vergangenheit, die sich widerspruchslos in das sich formierende Weltbild der nationalsozialistischen Bewegung integrieren ließ. Konservativ blieb Beumelburg in dem Sinne, dass aus dem Zusammenbruch nur eine Gestalt hervorragte: der gestählte Kämpfer der Abwehrschlachten, um den es 1918 bei der großen Frühjahrsoffensive einsam geworden war. Von den Soldaten, die 1914 ausgezogen waren, blieb allenfalls noch ein Zehntel kampffähig. Was die Heimat liefern konnte, »das waren nicht mehr Soldaten im alten Sinne«.55 »Einsam und still« wird es um den alten Kämpfer an der Front. »Viele von den Neuen, die kommen, sind Menschen aus einer anderen Welt.« Zwischen ihnen fühlt er sich wie in der Fremde. »In seiner Seele liegt als dumpfes, nach der Tiefe ziehendes Gewicht die Last von Verdun, der Somme oder Flandern. Niemand kann ihm diese Last abnehmen außer dem Tod, der täglich neben ihm steht, der treueste Begleiter durch alle Jahre.«56

53 Ebd., S. 403. 54 Werner Beumelburg: Weihnachtsbuch der deutschen Jugend 1939. Sperrfeuer um Deutschland. Hg. von Baldur von Schirach. München: Eher 1939. 55 Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland (Anm. 40), S. 415. 56 Ebd., S. 411.

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Gruppe Bosemüller: Erziehung vor Verdun

Dieses Pathos des einsamen alten Kämpfers mit seiner Sehnsucht nach der Heimat vor Verdun und den alten Kameraden, die noch verlässlich waren, hat autobiografische Färbung und fließt ungebrochen in die Erinnerung an die Heldenzeit ein, die Beumelburg mit seinem Roman Gruppe Bosemüller gestaltet. Wie in Remarques Im Westen nichts Neues geht es um das Gemeinschaftserlebnis an der Front, doch nicht als Klage einer verlorenen Generation, sondern als Studie der Chancen, die solches Stahlbad bot. Adoleszenzromane sind sowohl Remarques Bestseller wie Beumelburgs Replik. Doch während bei Remarque selbst an der Front noch erotische Verwicklungen möglich gemacht werden, diktiert bei Beumelburg allein das männliche Gesetz des Krieges die Möglichkeiten der Selbstfindung. Ohnehin mutet der Roman in seiner Typologie der Frontkämpfer wie ein Programm der Möglichkeiten ›seelischer‹ Reaktionsformen auf das Schlachterleben an, Entwicklungen wie im Fall des 17-jährigen Kriegsfreiwilligen Erich Siewers, Beumelburgs Alter Ego, eingeschlossen. Noch bevor er an der Front als »blutjunger Kerl« eintrifft, wird in Gestalt des Leutnants die Figur des tragischen Verdunkämpfers eingeführt: »Er steht gerade vor dem Irrlichtern, das aus dem Süden kommt, ein breiter, gewaltiger Schattenriß, ein Koloß.«57 Nach einer kurzen Dialogpassage wiederholt sich das Eingangsbild: »Nun steht er überlebensgroß vor dem Irrlichtern im Süden, ein Riese der Urzeit, ein Gigant. Nun schreit er, als zerre etwas an ihm, als sitze ein Stachel in seinem Fleisch.«58 Keine Redundanz scheuend, kommt es Beumelburg auf bildhafte Verdichtung und Überhöhung an. Der Süden, das ist der Berg mit seiner »Marterkrone«,59 dem der Leutnant symbiotisch verfallen ist. Ihn zu besitzen, losgelöst von jeder militärischen Ratio, ist zu seinem Lebensinhalt geworden. Für das zivile Leben längst verdorben – Exzesse prägen seinen Heimaturlaub –, ist er an der Front ein mustergültiger Führer. Dass er als »Schattenriß« eingeführt wird, präludiert sein Schicksal. Denn als »Schatten, riesengroß, schwarz und flackernd« wird er sich vor der Wand eines Unterstandes abzeichnen, als Fort Douaumont geräumt werden muss und keine Hoffnung besteht, es wieder zu erobern. Er opfert sich, freistehend auf den Feind schießend, bis er »wie ein gefällter Baum« stürzt.60 Überlebensgroß nimmt in der Figur des Leutnants sowohl die mit dem VerdunMythos verbundene Drohung Gestalt an, wie in ihr die Faszination des Grauens, einer anderen Welt anzugehören, aufgehoben wird: in jenem wohligen Schauer 57 Werner Beumelburg: Gruppe Bosemüller. Der Roman des Frontsoldaten. Oldenburg, Berlin: Stalling 1930, S. 10. 58 Ebd., S. 11. 59 Ebd., S. 12. 60 Ebd., S. 320.

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der Todesbereitschaft, den Beumelburg schon in seinem ersten Werk für die Schlachtenreihe beschworen hatte. Am anderen Ende der Skala möglicher Reaktionsformen auf die Schlacht steht der Pionier Casdorp, dessen Name nicht zufällig an Hans Castorp erinnert, den Thomas Mann im Zauberberg in die Weite der Schlachtfelder entlässt. Er ist der einzige, der »Aufregung« verrät: »Er stottert, wenn er spricht, und seine Hände flackern, wenn er etwas anfaßt.«61 Um seine Nerven ist es endgültig geschehen, als ihm in der Schlacht das Gehirn des Kameraden Zwiebelmeier ins Gesicht spritzt und er sich selbst getroffen glaubt. Eine durchaus humorig gemeinte Passage, die jedoch den weiteren ›seelischen‹ Verfall der Figur einleitet. Casdorp führt schließlich den Lauf seines Gewehrs in den Mund: »Der ganze Hinterkopf ist auseinandergefetzt. Das Gehirn ist bis hinauf in die Zweige gespritzt.«62 Nervenschwache Feingeister jedenfalls, das mag die Namensanspielung signalisieren, haben an der Front nichts zu suchen. Suizidal sind beide Reaktionsweisen. Doch ist die eine heroisch, die andere ein Zeichen, versagt zu haben. Zwischen diesen polaren Möglichkeiten entwickelt sich das Feld der Gruppenidentität als familiäre Einheit an der Front. Weniger der titelgebende Unteroffizier Bosemüller wird zur zentralen Bezugsfigur für den Kriegsfreiwilligen Siewers, sondern der Gefreite Wammsch, dem das Buch gewidmet ist. Denn Wammsch übernimmt die Mutterrolle: »Er streichelt ihn mit seiner harten, guten Hand, ganz leicht und behutsam, immerfort«, und gleich geht es Siewers nach seinem ersten Nahkampf im Innern des Forts wieder besser.63 Immer wird Wammsch behütend zur Stelle sein, wenn Siewers auf seinem Weg zur Mannwerdung strauchelt, was dieser durchaus registriert: »Du Wammsch, […] ich habe keinen in der Gruppe so lieb wie dich.«64 Doch mit geglückter Entwicklung des juvenilen Kriegsfreiwilligen zum gestandenen Offiziersanwärter ist die Rolle des Gefreiten erfüllt. Handlungslogisch muss ihn schon deshalb der Tod ereilen, weil er nur so zur zentralen Figur des Gedenkens stilisiert werden kann, als die ihn die Widmung ausweist. Es gehört zur Semiotik der Todesarten, dass Wammsch auf einem friedlichen Patrouillengang durch einen Erdstollen »lautlos« von jenem Element verschüttet wird, das seit der Antike mütterlich konnotiert ist. »Sein Gesicht ist von einer völligen Ruhe. Niemals hat er im Leben so feierlich ausgesehen«, schildert der Erzähler den ausgegrabenen Leichnam.65 Siewers’ seelische Reifung erfolgt über eine Konfliktsituation. Bei einem Angriff lässt er im Chaos der Schlacht einen schwer verwundeten Kameraden, 61 62 63 64 65

Ebd., S. 28. Ebd., S. 153. Ebd., S. 50. Ebd., S. 158. Ebd., S. 331.

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den 19-jährigen Christian Esser, zurück, wird aber wieder in die Gruppe integriert und revanchiert sich nicht nur mit der Ablehnung eines Heimaturlaubs, um seine sterbende Mutter noch einmal zu sehen, sondern auch mit einer heldenhaften Rettungstat, bei der er selbst schwer verwundet und nach der Genesung als ein anderer an die Front vor Verdun zurückkehren wird. Esser hat aber nicht nur die Funktion, mit seinem Opfer katalysatorisch den Entwicklungsprozess des künftigen Offiziersanwärters zu befördern. Seine Figur ist auch wichtig, um in Ermanglung weiblicher Reize an der Front zumindest Reste juveniler Evasionsbedürfnisse zu ermöglichen. Von Wammsch befürwortet, von Bosemüller abgenickt, haben Siewers und Esser Ausgang: »Es ist so sonderbar. Sie liegen oben auf dem Morimont im Grase und schauen in den blauen Himmel hinauf. Sie liegen dicht beinander, fast Arm im Arm.« Ein Gespräch über das Leben und die Welt entspinnt sich: »Ich habe dich sehr lieb«, sagt Esser. Doch dann wird das TÞte-—-tÞte der Juvenilen – »sie sind doch noch Kinder«, kommentiert der Erzähler – durch das Auftreten eines Rittmeisters unterbrochen.66 Die Passage mit den unschuldig homophilen Anspielungen in unberührter Natur ist an Walter Flex’ Der Wanderer zwischen beiden Welten angelehnt, einem 1916 erschienenen Bestseller des Kriegsgenres. Die Entwicklung, die Siewers innerhalb dreier Monate durchlaufen hat, führt »durch die Erkenntnis des Schrecklichen zu seiner Überwindung […] und schließlich zu einem neuen Kindsein, einem höheren Kindsein.«67 Eine Erkenntnis, die deshalb in die Mannwerdung mündet, insofern das gereifte Subjekt verstanden hat, einer ›höheren Macht‹ ausgeliefert zu bleiben: dem Schicksal, das vor Verdun die Größe eines tragischen Ereignisses annimmt. Wenn Remarques Buch die Sehnsucht nach der verlorenen Jugend durchzieht, so Beumelburgs Replik die Sehnsucht nach der Dämmerstunde jener Mannwerdung, die vor Verdun geschah. Gelesen als Adoleszenzroman ist Gruppe Bosemüller eine dezidierte Pädagogik des Schreckens zu attestieren, die sich nahtlos in die nationalsozialistische Beerbung des Verdun-Mythos fügte. Irritierend, zumindest in der nach 1933 angebrochenen ›neuen Zeit‹, in der die Volksgemeinschaft beschworen wurde, müssen die Passagen angemutet haben, in denen die Frontgemeinschaft absolut gesetzt wurde. Jedenfalls notiert Joseph Goebbels, zuvor eher angetan von den Schriften Beumelburgs, im Mai 1936: »Beumelburg gelesen, der Krieg ist furchtbar, aber hier ist das Problem nicht ganz gemeistert. Noch zu gekrampft und zu gemacht. Keine Klarheit des Stils.«68 Gemacht war auf jeden Fall die Entwicklung eines Adoleszenten, der 66 Ebd., S. 134–163. 67 Ebd., S. 207. 68 Joseph Goebbels: Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente. Teil 1: Aufzeichnungen 1924–1941. Bd. 2. Hg. von Elke Fröhlich. München u. a.: Saur 1987, S. 610 (10. 5. 1936). Zur Wahr-

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zugunsten der Frontgruppe die Verbindungen zur Heimat, wenn nicht völlig kappt, so doch sekundär werden lässt, um aus solcher Entscheidung die Hoffnung für das Vaterland zu begründen. In einem an Wammsch gerichteten Brief berichtet Siewers während seines Genesungsurlaubs von seinem inneren Zwiespalt, die Fürsorge der Angehörigen zu genießen, aber gleichzeitig das Gefühl zu haben, in der Heimat nicht mehr »zu Hause« zu sein. »Ich habe jetzt eine andere Heimat, ich bin hinausgegangen mit jugendlichem Unverstand und leichtsinnigen Vorstellungen. Und nun ist da draußen etwas entstanden, was stärker ist als alles andere.«69 Hatte ihm zuvor das Vaterland nur als »Vorwand« gedient, um das Abenteuer des Krieges zu erleben, so ist ihm durch die Fronterfahrung »ein Neues aufgegangen, ein hundertmal Größeres, ein Ungeahntes. Da seid Ihr, Du und Bosemüller und Schwartzkopf und die andern. Und vielleicht, wenn ich es recht bedenke, sind wir so auf dem Weg zum Vaterland.«70 Aus dem kleinen Kreis der Kameradschaft ergibt sich das Ganze; aus der Funktionsgemeinschaft der Kämpfer wird die Sinngemeinschaft, aus der die künftige Nation erwächst. Das Thema der Frontheimat hatte Beumelburg schon zuvor bemüht: etwa in Flandern 1917. Doch erscheint es dort noch als eine Art Zirkulationsmodell zwischen Primär- und Frontheimat.71 Im Lichte seiner Gesamtschau des Krieges in Sperrfeuer um Deutschland war die Primärheimat zu einem höchst unzuverlässigen Terrain geworden. Deshalb muss Siewers nun das Bekenntnis zur Frontgemeinschaft als alleinigem Hoffnungsträger ablegen. Das waren Töne, die 1936, im Jahr der Olympiade in Berlin, doch sehr nach jener Verabsolutierung eines Soldatischen Nationalismus klangen, der in der Realität des florierenden Nationalsozialismus nicht mehr zeitgemäß war. Entfremdung von der Heimat war 1936 ein ungeliebtes Thema, wie auch später die filmische Propaganda während des Zweiten Weltkrieges immer bemüht blieb, die Verbindung von Heimat und Front herzustellen.

scheinlichkeit, dass sich dieses Notat auf Gruppe Bosemüller bezieht, vgl. Ehrke-Rotermund: Beumelburg (Anm. 39), S. 318. 69 Beumelburg: Gruppe Bosemüller (Anm. 57), S. 260. 70 Ebd., S. 263. 71 In Flandern 1917 (Anm. 37), S. 133 lässt Beumelburg einen Kompanieführer auftreten, der nach einer Verwundung in der Heimat genest: »Aber am schönsten sind doch die Briefe aus der Kompanie«, kommentiert der Erzähler. »Diese Briefe liest er heimlich immer wieder. Wie es dann endlich wieder hinausgeht, fällt der Abschied von Daheim gar nicht schwer. Es geht ja nur von Daheim nach Daheim, aus der einen Familie in die andere.«

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Epilog

Doch spiegeln Beumelburgs während der Weimarer Republik entstandene Schriften durchaus das Zeitgemäße. Er verstand es, auf Trends zu setzen. Mit Douaumont gelang es ihm, eine Brücke zwischen traditioneller Geschichtsschreibung und emotionalisierender Literarisierung zu schlagen. Das Buch dürfte auch deshalb so erfolgreich gewesen sein, weil es den Verdun-Mythos mitbegründete. Als ebenso im Trend liegend erwies sich das Gedenken an Langemarck und damit auch sein Band Ypern 1914, der das bestehende Deutungsschema noch einmal bestärkte. Loretto und Flandern 1917 waren Auftragsarbeiten im gleichen Strickmuster, wenn auch verstärkt mit literarisierenden Elementen durchsetzt, mit denen Beumelburg sein Werk fortsetzte, ohne entscheidende neue Akzente setzen zu können. Das änderte sich mit Sperrfeuer um Deutschland. In einer flüssig zu lesenden Darstellung des Weltkrieges belieferte er seine Leserschaft mit Einschätzungen, Vorurteilen, Ressentiments und polemischen Zuspitzungen, die eine nationalkonservative Weltsicht bestätigten und dem sich formierenden nationalsozialistischen Geschichtsbild näher lagen, als der Autor vermutlich ahnte.72 Gruppe Bosemüller, seine Antwort auf Remarque und von der zeitgenössischen Kritik gerade aufgrund seiner literarischen Qualitäten hoch geschätzt, war später nur noch bedingt anschlussfähig. In der ›neuen Zeit‹ – zumindest von 1936 – musste sein Frontpathos eher wie die Erinnerung eines ewig Gestrigen wirken. Allerdings hatte Beumelburg 1934 nachgelegt mit einem Roman, der unter dem Label ›Ankunftsliteratur‹ firmieren könnte. Nach der Zeitenwende von 1933 überlegt Beumelburg, wie er die Figuren, die den Weltkrieg in seinem VerdunSzenario der Gruppe Bosemüller überlebt haben, in Figuren transformieren könnte, die das Ende der Weimarer Republik und damit zugleich das Heraufdämmern einer ›neuen Zeit‹ erleben. Um 1930 setzt die Handlung dieses Fortsetzungsromans ein, der in der Hauptfigur Erich Siewers einen durch die wirtschaftlichen Krisen mehrfach gescheiterten Angestellten zeichnet, der sich schließlich, verleitet durch seinen ehemaligen Hauptmann, der Polizei anschließt, um der Arbeitslosigkeit zu entrinnen. Das erweist sich als Fehlentscheidung, weil er nun umso weniger jenem ›ehernen Gesetz‹ entrinnen kann,

72 Nicht unerheblich für den Entwurf eines solchen Welt- und Geschichtsbildes ist auch die reich illustrierte Prachtausgabe des Titels. Vgl. Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland. Mit einer Widmung des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von Hindenburg. Mit 94 Bildern nach photographischen Aufnahmen, 121 Zeichnungen von Franz Hanel und 29 vom Archivrat im Reichsarchiv A. Stenger entworfenen Original-Kartenskizzen. Illustrierte Ausgabe. 1. bis 20. Tsd. 197. bis 216. Tsd. d. Gesamtaufl. Oldenburg, Berlin: Stalling 1929.

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von dem der Romantitel kündet.73 Jenes Gesetz begründet sich in der Überlebensschuld des Protagonisten. Traumatisch wird sein Leben von der Schuld überschattet, seinen Jugendfreund Esser in der Schlacht hilflos zurückgelassen zu haben. Der jedoch kehrt reinkarniert in Gestalt seines jüngeren Bruders Paul Esser wieder, als Segelflieger den Typus der Zukunft verkündend. Während Siewers’ Kriegskamerad Schwartzkopf davon träumt, im Garten einen Unterstand anzulegen, um die alten Tage an der Front in aller Gemütlichkeit wieder aufleben zu lassen, und ansonsten mit einem Käsehandel en gros über die Runden kommt (»warum […] den Juden das Geschäft lassen«74), bleibt das Schicksal der Hauptfigur tragisch. Zumal sie als Polizist auf der falschen Seite steht, als es gilt, gegen die Bewegung der jungen Generation anzutreten. Dass damit die nationalsozialistische gemeint sein dürfte, zu der auch Paul Esser gehört, wird nicht expliziert. Es versteht sich von selbst – auch weil der krude Plot um einen Schuss, den Paul Esser während einer Konfrontation zwischen Polizei und demonstrierender Bewegung ausgelöst haben könnte, und nachfolgender Gerichtsverhandlung mit zirkulierenden Selbstbezichtigungen aus dem Geist des Opfergedankens sich derart in tragische Verwicklungen hochschraubt, dass kein Zweifel besteht, wem dieser Fortsetzungsroman gewidmet sein dürfte. Das ›eherne Gesetz‹ fordert das Tribut der Altvorderen für die jüngere Generation. Am Ende wird sich Erich Siewers für Paul Esser opfern, dem Garanten der ›neuen Zeit‹, und zwar am Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung. Doch hätte es jener sinngründelnden Devotionalie an die ›neue Zeit‹ und die neuen Machthaber kaum bedurft. Beumelburgs Karriere war schon dadurch gesichert, dass er im Oktober 1933 zu jenen 88 Schriftstellern gehörte, die das ›Gelöbnis treuester Gefolgschaft‹ für Adolf Hitler unterschrieben. Offensichtlich erschien ihm Hitler als legitimer Nachfolger des von ihm verehrten Führers Hindenburg. Nach der ›Säuberung‹ der Preußischen Akademie der Künste wurde er dessen Schriftführer und avancierte zu den repräsentativen Schriftstellern des Reiches, ausgezeichnet mit Literaturpreisen. Er schrieb nun vor allem historische Romane, in denen der Reichsgedanke dominierte. Im Krieg wurde er als Luftwaffenoffizier zum Schreibdienst eingezogen und führte seit 1942 das Kriegstagebuch für Hermann Göring. Seine Karriere hatte er sich in der Weimarer Republik erschrieben, indem er auf einen Trend setzte, der den Spuren folgte, die ins Dritte Reich führen sollten, von dem er sich, wer kann es ihm verdenken, am Ende enttäuscht abgewendet haben soll.

73 Werner Beumelburg: Das eherne Gesetz. Ein Buch für die Kommenden. Oldenburg, Berlin: Stalling o. J. [1934]. 74 Ebd., S. 35.

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Von Interesse bleibt Beumelburgs Werk auch heute noch, weil er wie kein anderer Autor des Kriegsgenres für die sich in der Weimarer Republik abzeichnende Tendenz steht, die Grenzen zwischen dem Historiografischen und dem Fiktionalen zu verflüssigen. Zudem machte er moderne literarische Techniken für eine heroisch nationale Sicht der Geschichte dienstbar. Gleichsam im Mikrokosmos des Schreibens sind bei ihm die Verbindungen zwischen literarischen Modernismen und einem autoritär antidemokratischen Konservatismus zu studieren. Die zunehmende Fiktionalisierung seiner Kriegsdarstellungen korrespondierte mit der zunehmenden Radikalisierung seiner Ansichten, die das Weltkriegsgeschehen in Sperrfeuer um Deutschland in ein paranoides Phantasiegebilde verwandelten, das in Widerspruch zu den eigenen Annahmen soldatischer Bewährung geriet. Aber auch darin war er zeitgemäß. Er hat einiges dazu beigetragen, den Untergang der ›alten Welt‹ als Geburt einer neuen zu feiern, für die die Weimarer Republik nicht mehr als ein Durchgangsstadium bedeuten konnte.

III. Aktion und Reaktion in der Literatur

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I. »[H]eran an die Schlacht«, hatte Alfred Döblin 1912 im Sturm Marinetti als Antwort auf die futuristische Herausforderung zugerufen. Dessen Prosaetüde über den Krieg, die das Organ der Berliner Expressionisten zuvor abgedruckt hatte, sei »von Anfang bis Ende vollgestopft mit Bildern, Analogien, Gleichnissen«, enthalte somit statt der propagierten technisch-militanten Durchschlagskraft selbst nur »biderbe, alte Literatur« und geriere sich obendrein als »übler Ästhetizismus«.1 Wie auch anders? Die Mahnung Döblins zielt auf eine performative Wortkunst, in der das Getöse und Gemetzel nicht sinnreich umschrieben, sondern ›direkt‹ angesteuert und aufgeführt werden soll, auf selbstfabrizierte Schlachten also. In der akustischen Brisanz der Gedichte August Stramms ist eine ähnliche Wirkungsabsicht erkennbar und zumindest teilweise auch erreicht. Aber was auf der Tonspur der Lyrik möglich und überzeugend war, nahm sich bei deskriptiven oder gar narrativen Annäherungen an das Kriegsgeschehen schon wieder anders aus, wie sich etwa an Döblins Wallenstein-Roman mit seinen prasselnden Infinitiv-Gewittern ablesen lässt. Mit Fleiß und Verve hatte der schreibende Stabsarzt in der Straßburger Etappe barocke Exzentrik ins Stakkato der Moderne überführt und so einen Diskursroman im Breitwandformat geschaffen,2 mitnichten aber Literatur der Unmittelbarkeit.

1 Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F. T. Marinetti [1913]. In: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg/Br.: Walter 1989, S. 113–119, hier S. 117. 2 Zur indirekten Kriegslogik im Wallenstein vgl. Klaus R. Scherpe: Ein Kolossalgemälde für Kurzsichtige. Das Andere der Geschichte in Alfred Döblins Wallenstein. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte und Literatur. Formen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart: Metzler 1990, S. 226–241 und Axel Hecker : Geschichte als Fiktion. Alfred Döblins »Wallenstein« – eine exemplarische Kritik des Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986.

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Kriegerisch vom Krieg zu schreiben, das versprach in den letzten Vorkriegsjahren – die Wahl der Mittel bleibe dahingestellt – einen Zugewinn an ästhetischer Prägnanz und phänomenologischer Welthaltigkeit, weg von der papiernen Passion und endlich, frei nach Husserls Devise, hin zu den Sachen selbst. Je näher die Literatur dann jedoch tatsächlich heranrückte an die Erfahrungswelt des Krieges, desto mehr drohte ihr dessen sinnliche Evidenz zu entgleiten. Kein Feld und kein Feind mehr in Sicht, nicht einmal eine Geschichte. Denn nach dem Schauplatz und den Akteuren war das die letzte der Gewissheiten, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde: die Geschehensdimension des Krieges. Über lange Zeiträume hinweg kamen die Konventionen literarischen und militärischen Gestaltens im Punkte einer für beide Praxisbereiche unerlässlichen, starken Auffassung von Handlung und Kampf überein und im nicht minder emphatisch konturierten Konzept eines starken Helden, der, sein Leben in die Waagschale werfend, gefahrvolle Prüfungen durchschreitet. In den Krieg zu ziehen ist, wie auf weite Reisen zu gehen, etwas für Abenteurer. Geschichten und Kriege nähren sich an vollbrachten Taten, an besiegten Feinden, überwundenen Widerständen, in Kauf genommenen Opfern. Es ist kaum zu bestreiten, dass im Krieg etwas geschieht, und fast ebenso selbstverständlich scheint es, dieses Geschehen in seinen Ursachen, Formen und Ergebnissen als menschliches Handeln abzubilden. Eine tragende Sinnkonstruktion agonalen Handelns wiederum, die bei den Akteuren Triebkräfte freisetzt und ihnen Leitbilder vorgibt, bietet der Kampf.3 Auf die bekannten Erscheinungsformen des Krieges bezogen, wirkt diese Bestimmungsreihe von Geschehen, Handlung und Kampf einigermaßen evident, doch handelt es sich um historisch und kulturell höchst voraussetzungsreiche, zeit- und materialabhängige Evidenzen, wie durch ihren faktischen Zusammenbruch in der »Materialschlacht« deutlich wird. »Krieg in seiner eigentlichen Bedeutung ist Kampf«, dieser wiederum »ein Abmessen der geistigen und körperlichen Kräfte vermittelst der letzteren«,4 so definierte Carl von Clausewitz, den mehr als zwei Generationen von den Kriegserfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts trennten. In der klassischen Militärdoktrin der Aufklärung, deren Bilanz und Summe Clausewitz’ große 3 Mit Hüppauf kann für das komplexe Kriegsgeschehen eine Trias der je zusammenwirkenden, aber divergenten Faktoren des Handelns, des Diskurses und der kulturgeschichtlichen Prozesse angenommen werden. »Im System Krieg lassen sich drei Ebenen unterscheiden: militärischer Kampf, Kriegsdiskurs und Kulturgeschichte des Krieges. […] Die Trennungen sind komplex und folgen keiner temporalen Abfolge. Die Ebenen entwerfen eine je eigene Zeitlichkeit und setzen unterschiedliche Definitionen des Gegenstands.« (Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. Bielefeld: transcript 2013, S. 24). 4 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Als Handbuch bearb. u. mit e. Essay »Zum Verständnis des Werkes« hg. von Wolfgang Pickert u. Wilhelm Ritter von Schramm. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1963 [1832–1834], S. 53.

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Abhandlung Vom Kriege darstellt, erscheint nicht das ideologische Vormachtstreben als der Motor des Kriegsgeschehens; vielmehr betrachtet der Autor als das eigentliche Medium des Kräftemessens zweier Kriegsgegner die Physik sowie deren Gesetzmäßigkeiten. Die physische Wirklichkeit des Krieges besteht aus dem Walten von Kräften und ihren Wirkungen auf Körper im Raum. Als das »zentrale Moment«, über das sich die »Leitbilder sowie die Besonderheiten militärischer Teilkultur« ausbilden, kann »die Gefährdung im Kampf« gelten. »Kampf läßt sich als eine Handlung fassen, die auf ein gewaltsames Wehrlosmachen, in letzter Konsequenz auf die Tötung des zum Feind erklärten Gegners abzielt – unter der Gefahr, selbst getötet zu werden.«5 Der Kriegseinsatz zielt zunächst und zuletzt auf den Einsatz des Körpers, auf dessen Leistungsfähigkeit und Verwundbarkeit. Leib und Leben der Kämpfenden sind das erste im Kriegsfall aufs Spiel gesetzte, umkämpfte Gut, zugleich aber auch das wichtigste Instrument des Kampfes. »Kampf im engeren Sinne bedeutet folglich schießen, stürmen, Bajonettfechten usw.«6 Ein Gefecht oder ein kriegerischer Schlagabtausch findet statt, wenn die Kämpfenden in einer der, sei es durch Reglement oder stillschweigende Konvention, definierten Kampfarten und ihren respektiven Waffengattungen agieren. Kämpfe sind extravertierte, partnerbezogene und erfolgsungewisse Kraftaufwendungen. »Entscheidend für das militärische Selbstverständnis ist allerdings weniger die Tätigkeit als solche, sondern der Ort, an dem eine Tätigkeit stattfindet.«7 Ein bewaffnetes, meist staatlich organisiertes Kräftemessen unter Lebensgefahr auf dem Schlachtfeld also. Was den Raum der todbringenden Begegnung ausfüllt, sind die Aktionen der Kombattanten, ihre Bewegungen, der mit dem Abfeuern der Geschütze nicht bereits vollzogene, sondern hiervon nur flankierte direkte Schlagabtausch. Wie das Austragen eines Gefechtes an die Vorstellung der taktilen (respektive ›taktischen‹) Feindberührung, so bleibt der Kampf an die Gesetze des aktiven Handelns gebunden. Das militärische Kampfhandeln umfasst, neben den zeitüblichen Praktiken der Realitätsertüchtigung und Alltagsbewältigung, einige extreme Arten des individuellen und kollektiven Handelns: so vor allem das akute oder auch chronische Aushalten höchster physischer und psychischer Belastungen; so durchaus auch die Bereitschaft, anderen Menschen schwerste Verletzungen zuzufügen mit dem Ziel, sie festzusetzen, kampfunfähig zu machen oder zu töten; so schließlich in genereller Weise auch die Ausrichtung auf eine strikte, unbedingt geltende militärische Autoritätsstruktur von Befehl und Gehorsam, in der die Aktionen und Reflexionen des Einzelnen idealiter wie die 5 Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung. München: Fink 1996, S. 16f. 6 Ebd., S. 17. 7 Ebd.

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Teile einer Maschine ein unselbstständiges, ineinandergreifendes Gesamtgefüge ergeben. Ausdauer, Gewaltbereitschaft und Disziplin sind als drei miteinander korrespondierende Handlungsformen anzusehen, in welchen Einzelne und Gruppen an der Front aktiv zum Kriegsgeschehen beitragen bzw. sich selbst an diesem beteiligen. Hinzu kommt dabei ein in den Gefechtssituationen und den ereignisarmen Zwischenzeiten je neu auszutarierendes Zusammenspiel der widerstreitenden Dispositionen von Sicherheitsbedürfnis und Opferbereitschaft, mit dem die Kombattanten gleichsam das energetische Niveau der angesichts permanenter Gefahren geforderten eigenen Überlebensbemühungen regulieren. Das eigene Handeln im Kriege vollzieht sich also in einem individuellen Spannungsausgleich der auch gesamtstrategisch mit alternierenden Prioritäten verfolgten Grundtendenzen defensiv/offensiv. Umsichtige Eigensicherung und draufgängerische Risikofreude, ruhiges Abwarten und rasches Vorpreschen geben den Kampfhandlungen ihren bipolaren Rhythmus. Die ätiologisch miteinander verschwisterten Affekte von Selbstsorge und Sorglosigkeit bilden einen dynamischen Gegensatz, der sämtliche militärische Handlungsbereiche durchzieht und sowohl die grundsätzliche Befähigung zur Übernahme von Belastungen, zur Gewaltausübung und disziplinierten Einordnung vorstrukturiert, wie er als motivierendes Kräfteverhältnis auch das je aktuelle Verhalten auf diesen Handlungsfeldern bestimmt. Entsprechendes gilt für die Situation in der ›Heimat‹ und insbesondere für die Kriegsjahre in den großen Städten,8 wobei sich die Gewichte weg von der offensiven Aggression und hin zum ausdauernden, disziplinierten Gemeinsinn verschoben, ohne dass die anderen Anteile indes vollständig abwesend oder auch nur jederzeit kontrollierbar gewesen wären. Auch das gesellschaftliche Leben im Hinterland der kriegführenden Nationen stand unter den Bedingungen und Erscheinungsformen eines Ausnahmezustands, war ein Leben in Kampfstellung. So oder so – an der Front oder im Hinterland, unter Gefechtsbedingungen oder im Wartestand, mit taktischer Feindberührung oder in strategischer Abstraktion: In existentieller Weise belastet und irritiert die Betätigung der Individuen, Gruppen und Verbände am Kriegsgeschehen die Voraussetzungen und das begriffliche Verständnis dessen, was als selbsttätiges menschliches Handeln zu betrachten sei. Krieg ist Handeln unter Extrembedingungen, setzt extremes Handeln voraus und bewirkt ebensolches, bedeutet eine fundamentale Krise menschlicher Handlungsfähigkeit und stellt ganz gewiss deren Rationalität in Frage. So ist es gerade die praktische Dimension des akuten, des manifesten 8 Vgl. dazu etwa für den besonderen Fall Wiens im Ersten Weltkrieg den materialreichen Ausstellungsband von Alfred Pfoser u. Andreas Weigl (Hg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien: Metroverlag 2013.

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Kriegshandelns, in der kulturelle Handlungskonzepte eine besondere Relevanz gewinnen. Auf welche Begriffe und Ebenen menschlicher Praxis lässt sich das Kriegsund Kampfhandeln also beziehen? Es spielen dabei mehrere Bedeutungsaspekte zusammen. Handeln im emphatischen Sinne meint die Verfolgung bestimmter Absichten und Zwecke durch eine Sequenz von zeitlich und kausal aufeinander bezogenen Handlungsschritten (so besteht das Agieren eines Strategen darin, den Krieg zu führen); zurückhaltender betrachtet meint es das äußerlich sichtbare Hin- und Herwogen bewegter Körper und Formationen (das Tun derer, die ›sich anstrengen‹, indem sie den Krieg mitmachen), noch basaler geht es um das mechanische Wechselspiel von actio und reactio (also um Zustandsveränderungen, ohne die sie auslösenden Subjekte einzubeziehen). Grundpfeiler einer Grammatik des Handelns wiederum sind die allgemeinen Begriffe von Aktion und Passion (Tun und Leiden), welchen auf militärischem oder spielstrategischem Terrain diejenigen von Angriff und Verteidigung entsprechen. Fast noch wichtiger indes als die Semantik der Konzepte selbst ist der Unterschied, der sie miteinander verklammert und in dem eine latente, doch ubiquitäre Moral von Täterschaft und Opfertum schlummert: Wer handelt, ›begeht‹ Zustandsveränderungen, wer nichts tut, erleidet sie. Die wichtigste Vorgabe des kämpfenden Handelns liegt in einer subjektiv wie objektiv verfassten heroischen Disposition. Was ist Kühnheit, was Kampfesmut? Der Krieg stellt eine zeitlich und räumlich auf einen Sonderfall begrenzte Bühne bereit für außergewöhnlich wagemutiges, beherztes, entschlossenes Handeln, ein Podium für Taten ohne Rücksicht auf Umstände und Verluste. »In welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit«, gab sich Clausewitz überzeugt, »sollte die Kühnheit ihr Bürgerrecht haben, wenn es nicht im Kriege wäre?«9 Wie die Kriegsführung auf heroische Taten im Kampfe angewiesen ist, so sind diese gerechtfertigt durch ihren Stellenwert innerhalb des agonalen Kräftemessens. Tat und Täter, potentielle und manifeste Gewalt können und sollen zur größtmöglichen Kongruenz gebracht werden. Dabei gilt es freilich, eine Reihe von notwendigen oder unvermeidlichen Einschränkungen zu bedenken. »Allen Kräften des Gemüts benimmt das Hinzutreten des lichten Gedankens oder gar das Vorherrschen des Geistes einen großen Teil ihrer Gewalt. Darum wird Kühnheit immer seltener, je höher wir hinaufsteigen in den Graden«, stellt Clausewitz undiplomatisch fest. Und lässt seinem kessen Seitenhieb auf die höheren Offiziersränge noch einen weiteren folgen, denn wenn auch die Einsicht und der Verstand nicht mit diesen Graden wachsen sollten, so werden doch den Führern in ihren verschiedenen Stationen die objektiven 9 Clausewitz: Vom Kriege (Anm. 4), S. 84.

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Größen, Verhältnisse und Rücksichten von außen her so viel und stark aufgedrungen, daß sie gerade nur um so mehr damit belastet sind, je weniger es die eigene Einsicht ist.10

Absolutes Handeln, wie es in der von Autoren wie Dostojewski und Gide idealisierten action gratuite aufblitzt oder schon in der selbstsetzenden »Tathandlung« Fichtes, ist im wirklichen Leben kaum anzutreffen. Selbst im Kriege werden die Amplituden des individuellen Tatendranges kupiert durch Umstände, Vorschriften, Abschwächungen aller Art. Dennoch bietet das Schlachtfeld Raum für den Auftritt des heroischen Individuums, das durch sein Eingreifen ins Weltgeschehen als einzelner Akteur unmittelbar geschichtsmächtig wird. Keine Kriegsgeschichte, und auch nicht Clausewitzens theoretische Bestandsaufnahme, kommt ohne die Figur des großen Feldherrn, ohne das Walten des militärischen Genius aus. Suchte man aus den Beispielen erfolgreichen militärischen Handelns allgemeine Grundsätze oder gar ein systematisches Lehrgebäude abzuleiten, so stieße man rasch auf den Sachverhalt, dass »der Handelnde […] sich in allen jenen Fällen, wo er auf sein Talent verwiesen ist, außer diesem Lehrgebäude und mit ihm in Widerspruch« befindet.11 Streng genommen kann daher eine allgemeine Theorie des Krieges gar nicht aufgestellt werden, bekennt Clausewitz: »Eine positive Lehre ist unmöglich.«12 Der große Feldherr bleibt also die ultima ratio, er muss es richten. Zwar kennt auch die Ära der technisch-industriellen Kriegsführung herausragende Strategen und Akteure – in der massenhaften Konfrontation des Stellungskrieges allerdings wären sie weder willens noch in der Lage gewesen, sich als solche bemerkbar zu machen. Was aus militärischer Sicht hingegen bestehen bleibt, ist das Ethos des »Durchhaltens«, des Beharrungsvermögens unabhängig von den jeweiligen Erfolgsaussichten und Zielen, und nicht zuletzt der fundamentale Stellenwert »körperlicher Anstrengung«, den schon Clausewitz gepriesen hatte. »Vorausgesetzt, daß sie nicht verschwendet wird, ist sie ein Koeffizient aller Kräfte, und niemand kann genau sagen, wie weit sie getrieben werden darf.«13 Auch die Tugend, kräftezehrenden Strapazen die Stirn zu bieten, hat etwas Grenzwertiges, je nachdem, wofür und wie effizient der Aufwand investiert wird. Den athletischen Kämpfer oder den ruhmreichen Märtyrer trennt oft nur ein schmaler Grat vom Ritter der traurigen Gestalt. Anstrengend ist das Heldentum allemal, lohnend eher selten. Die klassischen Sujets abendländischer Literatur, Geschichten von Abenteuern und Fernreisen, von Bewährungsproben in Kampf und Krieg, sind exemplarische Entfaltungen menschli10 11 12 13

Ebd., S. 85f. Ebd., S. 61. Ebd. Ebd., S. 47.

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cher Größe auf dem Wege individuellen und starken Handelns. Sie sind kollektive Mitschriften dessen, was die jeweiligen Zeitgenossen als idealtypisches Profil großer Taten imaginieren und in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen gerade nicht vollbringen können. Ein literaturgeschichtlicher Reflex veränderter Handlungsspielräume ist der von Robert Musil 1934 konstatierte Umstand, dass man auch »in der Erzählung, namentlich im Roman, schon seit geraumer Zeit Einzelschicksale nicht mehr so wichtig zu nehmen vermag wie früher«.14 Die Probe aufs Exempel lieferte der Autor mit seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Dessen Protagonist Ulrich orientiert sich nicht von ungefähr bei seinen – naturgemäß vergeblichen – »Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden«, zunächst an der historischen Landmarke des letzten diesbezüglichen Präzedenzfalles, am Mythos des korsischen Feldherrn.15 Jedoch: »Napoleons Genie hatte sich erst zu entwickeln begonnen, nachdem er General geworden war, und wie hätte Ulrich als Fähnrich seinen Oberst von der Notwendigkeit dieser Bedingung überzeugen sollen?«16 Immer wieder verfangen sich die hochfahrenden Ambitionen des Tatendurstigen in einem Gestrüpp kleinlicher Hierarchien und langwieriger Prozeduren. So kommt es, dass Ulrich nach etlichen weiteren Anläufen, die Karriere eines bedeutenden Mannes einzuschlagen, als »ein Mensch« dasteht, »der gar nichts tut«17 und sich mithin sogar weigert, ein Protagonist zu sein, wie er im Buche steht. Der Mann ohne Eigenschaften tröstet sich mit einer Überlegung, die, im nüchternen Duktus eines leidenschaftslos kalkulierenden Versicherungsarithmetikers, den Auftrittsbedingungen großer Helden vollends die Grundlage entzieht: Die Muskelleistung eines Bürgers, der ruhig einen Tag lang seines Wegs geht, ist bedeutend größer als die eines Athleten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht stemmt; […] und also setzen auch die kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja die heroische Leistung erscheint geradezu

14 Robert Musil: Der Dichter in dieser Zeit. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Hg. von Adolf Fris¦. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1243–1256, hier S. 1246. Diese Rede wurde am 16. 12. 1934 in Wien anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich gehalten. 15 In seiner Schulzeit hatte Ulrich Napoleon für einen solchen »bedeutenden Menschen« gehalten: »teils geschah es wegen der natürlichen Bewunderung der Jugend für das Verbrecherische, teils weil die Lehrpersonen ausdrücklich auf diesen Tyrannen, der Europa auf den Kopf zu stellen versuchte, als den gewaltigsten Übeltäter der Geschichte hinwiesen«. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke (Anm. 14), Bd. 1, S. 35). 16 Ebd. 17 Ebd., S. 12.

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winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird. Dieser Gedanke gefiel ihm.18

In diesem leichthin vorgetragenen AperÅu definiert Musil die unhintergehbaren Ausgangsbedingungen individuellen Handelns auf der Höhe des zeitgenössischen Entwicklungsstandes (und nebenbei auch des Romans der literarischen Moderne).19 Die kompositorische Lösung des Dilemmas ist genial einfach: Der Held ist ein verhinderter Kriegsstratege und Defätist zugleich, ein Verfechter des verlorenen Postens. Argumentativ kann Musils Entzauberung der heroischen Tat durch das Gesetz der großen Zahl und ihrer vielen kleinen Summenbestandteile auf eine ganze Reihe von geschichtlichen Faktoren und theoretischen Einsichten verweisen: Da sind, phänomenal an der ersten Stelle, die Erscheinungsformen der großstädtischen Massengesellschaft und ihres nur statistisch zu beschreibenden Sozialverhaltens; da steht im Hintergrund die Rationalisierung körperlicher Arbeit durch die Zerlegung und Optimierung der dabei anfallenden Verrichtungen,20 und da meldet sich schließlich die Erinnerung an das, von Musil im eigenen Kriegseinsatz erfahrene, organisatorische und technische AbstraktWerden selbst so archaischer Handlungsfelder wie des elementaren Überlebenskampfes. Auch hierzu, zur Auflösung individuell handlungsbasierten Kämpfens im Kriege, liefert Musil bemerkenswerte Einsichten: Vergegenwärtigen wir uns den Kriegshelden, wie ihn unsere Zeit hervorgebracht hat. Im Ganzen hat er die ungeheuerste Opferbereitschaft und Widerstandskraft bewiesen, aber seine Tapferkeit war – wenn man, wie billig, von den Ausnahmen absieht – nicht individualistisch. Die Massenform im Krieg war eine große Tapferkeit, die durchaus auch feig sein konnte. Man lief heute davon, und zwar so weit wie möglich, und griff morgen wieder mutvoll an.21

In einer kollektiven, abstrakt gewordenen Kampfordnung konnten die persönlichen Tugenden nicht mehr als Maximen der Handlungsbeurteilung angewandt werden. »Was wir im Krieg erlebt haben«, so Musil weiter, »war unsere Unselbständigkeit und Abhängigkeit in einer Masse, von der wir vor- und zu-

18 Ebd., S. 12f. 19 Vgl. zum gattungspoetischen Reflexionshorizont des Musilschen Mann ohne Eigenschaften innerhalb der deutschsprachigen Geschichte des Romans Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München: Hanser 2013, bes. S. 92–124. 20 Zur Grundlegung der Arbeitsökonomie bei Frank B. Gilbreth vgl. Thorsten Lorenz: Die Psyche zählt statt erzählt. Zur Entdeckung einer kinematographischen Mathematik der Seele. In: Jochen Hörisch u. Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München: Fink 1990, S. 247–264. 21 Musil: Der Dichter in dieser Zeit (Anm. 14), S. 1246.

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rückgerissen wurden, und mit der wir Befehlen gehorchten, in die wir keine Einsicht hatten, deren Berechtigung wir aber summarisch anerkannten.«22 Damit formuliert Musil das Kalkül eines nicht mehr durch koordiniertes Handeln vergemeinschafteten, sondern stattdessen durch kontrolliertes Funktionieren verwalteten Krieges; eines Kampfgeschehens, dessen Dramaturgie einer Choreographie des ›Mitlaufens‹ im umfassenden Sinne unterlag. Mit dem abnehmenden Tonus vollbrachter Taten schwindet die Sinnfälligkeit der Differenz von Angriff und Verteidigung, von Tun und Leiden, ja sogar von Sterben und Überleben. Die faktische Entheroisierung des Krieges unter den skizzierten Bedingungen des leeren Schlachtfeldes, der nur mit statistisch bestimmbarer Wirkung streuenden Feuerkraft und der Unsichtbarkeit der Kombattanten füreinander – diese veränderten Koordinaten der Kriegsführung geben zusätzlichen Anlass für eine Revision der kulturellen Semantik des Handelns, aus der wiederum literarische Handlungsbögen und Narrationsmuster ihre Modelle schöpfen.

II. Seit Aristoteles’ Poetik galt die Prämisse: Die Dichtkunst und ihre Gattungen betreiben die Nachahmung handelnder Menschen. Meister der Passivität wie Oblomow, Monsieur Teste, der Mann ohne Eigenschaften und andere Helden der Moderne unterlaufen diese Voraussetzung auf verschiedensten Schauplätzen des zivilen Lebens mit Bravour. Kaum ein Autor indes hat einer Geschichte des Krieges das heroische Handeln so konsequent ausgetrieben wie Louis-Ferdinand C¦line mit seiner Voyage au bout de la nuit aus dem Jahre 1932. Ein junger Mann, Bardamu, wird durch den Strudel der Mobilmachung aus seinem lockeren Leben in den Pariser Straßencaf¦s herausgerissen und in den Wahnsinn der Schlachtfelder katapultiert. Die Teilnahme am Krieg erweist sich für ihn rasch als fataler Irrtum, den er aus einer Laune heraus beging. Bardamu hatte sich anstecken lassen von der allgemeinen Hysterie; er war »freiwillig«, zumindest selbsttätig also, einem Unternehmen beigetreten, dem er nicht den geringsten Grund noch Sinn abgewinnen kann.23 Und da steht er nun, in der Trostlosigkeit eines verlassenen Landstrichs, ohne zu wissen, warum und wofür : Ganz in der Ferne auf der Chaussee, so weit fort, daß man sie gerade noch erkennen konnte, waren zwei schwarze Punkte, in der Mitte, wie wir, aber es waren zwei Deut22 Ebd., S. 1246f. 23 Louis-Ferdinand C¦line: Voyage au bout de la nuit. Paris: Gallimard 1952 [1932]. Dt.: Reise ans Ende der Nacht. Aus dem Franz. von Isak Grünberg. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 12. Im Folgenden unter der Sigle V und mit Seitenzahl.

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sche, seit einer guten Viertelstunde eifrig mit Schießen beschäftigt. Unser Oberst wußte vielleicht, warum diese zwei Leute da schossen, die Deutschen vielleicht auch, aber ich, wahrhaftig, ich wußte es nicht. So weit zurück ich auch in meinen Erinnerungen suchte, ich hatte ihnen nichts getan, den Deutschen. (V 13f.)

Wer handelt, braucht ein Motiv ; wer sich im Krieg befindet, hat einen Vorgesetzten. Doch nicht die Einordnung in das System von Befehl und Gehorsam lastet auf dem scheinbar naiven Soldaten, was ihn viel mehr irritiert, ist der rapide und vollständige Ausfall ›normalen‹, alltäglichen Lebens. Die Zivilgesellschaft räumt das Feld. Der allgemeine Ausnahmezustand hat ihm und seinen Kameraden eine Lizenz erteilt, doch ist unklar, wofür. Ich war erst zwanzig Jahre alt in jenem Augenblick. In der Ferne verlassene Gehöfte, leere und offenstehende Kirchen, als wären die Bauern alle für den Tag aus ihren Dörfern fortgegangen, zu einer Kirmeß am andern Ende des Bezirks, und hätten uns vertrauensvoll alles dagelassen, was sie besaßen, ihr Land, ihre Karren mit der Deichsel in der Luft, ihre Felder, ihre Gehege, die Landstraße, die Bäume und selbst die Kühe, einen Hund mit seiner Kette, mit einem Wort, alles. Damit man während ihrer Abwesenheit ruhig alles machen könnte, was man wollte. (V 15)

Bardamu staunt und lernt; als ein ethnographischer Beobachter, der mit seiner neuen Umgebung und ihren Usancen eigentlich nichts zu tun hat, registriert er die unerhörten Freiheiten des Feldes, vor allem die des gegenseitigen Abschlachtens. Also war es kein Irrtum? Was man da betrieb, dieses Aufeinander-Losschießen, ohne weiteres, ohne daß man sich überhaupt sah, das war nicht verboten! Das gehörte zu den Dingen, die man machen durfte, ohne einen Krach zu riskieren? Es wurde von gesetzten Leuten anerkannt, zweifellos sogar gefördert […] Nichts zu wollen. Ich hatte soeben mit einemmal den ganzen Krieg entdeckt. Ich war meine Unschuld losgeworden. (V 17)

Auch für Bardamu gibt es das vielfach beschworene Erlebnis der Feuertaufe, der traumatischen Initiation in den Erfahrungsraum größtmöglicher physischer Destruktionsgewalt. Jener kleinen Gruppe, zu der neben dem Ich-Erzähler auch dessen Oberst gehört, wird der Tod des Quartiermeisters gemeldet, der von einer Granate zerrissen wurde; es entspinnt sich ein kleines rhetorisches Geplänkel über die Zufallstreffer des Todes, dem der erneute Einschlag einer Granate, nun in unmittelbar Nähe, jählings ein Ende bereitet. Der Oberst, mit dem Bardamu eben noch gesprochen hatte, ist plötzlich weg: verschwunden, tot. Zunächst sah ich ihn nicht mehr. Das kam daher, weil er durch die Explosion auf die Böschung geschleudert worden war, auf die Seite hingestreckt und in die Arme des Kavalleristen zu Fuß, des Boten, geworfen, der auch erledigt war. Sie umarmten sich, die zwei, für Zeit und Ewigkeit, aber der Kavallerist hatte keinen Kopf mehr, nur noch eine Öffnung über dem Hals, mit Blut darinnen, das gluckste und brodelte wie Ein-

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gemachtes in einem Kochtopf. Der Oberst hatte den Bauch offen, er schnitt eine abscheuliche Fratze darüber. (V 21)

Den Einschlag der Granate erwidert in C¦lines Darstellung die größtmögliche abstoßende Beschreibung ihres erzielten Erfolges. Sie deformiert Menschenteile zu Kochgeschirr und Blutsuppe, schmilzt gestandene Männer mit soldatischer Haltung zu einem massakrierten Liebespaar für die Ewigkeit zusammen. Der Gipfel des Makabren ist das Lächerliche, wo es nicht hingehört. Bardamu ist schockiert, der Pietät durchaus unfähig; der grausige Vorfall, dessen Komik schwer zu akzeptieren ist, stimmt ihn am Ende gar vergnüglich. Rechts und links vom Schauplatz zerplatzten immer noch Granaten. Ich verließ die Stätte ohne weiteren Eigensinn, recht glücklich darüber, eine so gute Ausrede zu haben, mich aus dem Staub zu machen. Ich trällerte sogar ein bißchen vor mich hin, schwankend, wie nach einer feinen Kahnpartie, wenn man so ein komisches Gefühl in den Beinen hat. »Eine einzige Granate! Ist alles schnell erledigt mit einer einzigen Granate«, sagte ich mir. »Nu, sag mal!« wiederholte ich mir die ganze Zeit. »Nu, sag mal!…« (V 21)

Auf schockierende Weise unangemessen erscheinen Bardamus schnippische Attitüde und der gefühllose Tonfall, in dem sie vorgetragen wird. Was aber wäre die angemessene Reaktion auf den geschilderten Anblick? Freilich wird auch dieser selbst nicht einfach vorgefunden, obschon dergleichen durchaus an der Tagesordnung war ; dass C¦line verstümmelte Leichen zum Gegenstand wählt und mit widerwärtiger Lust am Detail inszeniert, ist Teil der ästhetischen Botschaft. Während manche Formen der Totenklage eine metaphysische Überhöhung des Opfers betreiben und die Revitalisierung des Kampfgeistes nahelegen, ist mit C¦lines glucksenden Fratzen kein Staat mehr zu machen. Jener Bardamu, den er als Sonde ins Feld geschickt hatte, will mit keinem der Toten tauschen. Sollte ich der einzige Feigling auf Erden sein? dachte ich. Und mit welchem Entsetzen! Unter zwei Millionen heldenhafte, bis an die Zähne bewaffnete Wahnsinnige verirrt? Mit Helmen, ohne Helme, ohne Pferde, auf Motorrädern, brüllend, in Automobilen, pfeifend, Plänkler, Verschwörer, in der Luft, auf den Knien, sich eingrabend, stürmend, sich auf den Pfaden tummelnd, mit den Gewehren furzend, eingeschlossen auf der Erde wie in einer Kerkerzelle, um alles auf ihr zu zerstören […]. Wirklich, jetzt begriff ich es, ich war in einen apokalyptischen Kreuzzug geraten. (V 16)

C¦lines Held entscheidet sich für das Nichtstun, oder eher noch für das Nichts selbst. Er handelt nicht im Kriege, er leidet auch nicht – allenfalls unter einer bald als pathologisch stigmatisierten, völligen Kampfunwilligkeit (vulgo: Feigheit), die ihn davon abhält, zu töten oder getötet zu werden. Im Reich der Kriegsirren erscheint diese Krankheit als das einzig Vernünftige. Und konsequenterweise (sofern man dem Text eine anti-heroische Option unterstellt) erwächst aus dem fehlenden Kampfesmut auch kein Akt der Dissidenz

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oder gar der Rebellion. Der erklärte Feigling beschließt vielmehr, einem in militärischen Diensten stehenden Psychiater Mitteilung zu erstatten: über jene »Hemmungen auf physischem und psychischem Gebiet […], die sich mir entgegenstellten, wenn ich versuchte, so tapfer zu sein, wie ich es mir gewünscht hätte und wie die erhabene Zeit es forderte.« (V 104) Ein möglicher Konflikt wird durch die vorauseilende Kooperationswilligkeit des Patienten schon im Ansatz unterlaufen. »Der Meister war ganz beglückt, daß ich freimütig zu ihm kam und ihm meine seelische Verwirrung offenbarte.« (V 105) Bardamus Taktik der Selbstanzeige und seine rhetorische Affirmation patriotischer Phrasen entlocken dem Therapeuten ein umfassendes Bekenntnis seines ärztlichen Erkenntnisinteresses, das, ganz zeitkonform, just dem Ausmerzen von eingewurzelten Tötungshemmnissen wie Mitleid oder Selbsterhaltung gilt. Für den Psychiater bietet der Krieg, der sowohl ein Vehikel wie auch das Ziel der gewünschten Enthemmung darstellt, Studienmöglichkeiten sondergleichen, die es zu nutzen gilt. Sein Opfer protestiert keineswegs: »Ich war genau derselben Ansicht.« (V 106) Das Wortgefecht zwischen Arzt und Patient erteilt eine doppelte Lektion. Demonstriert wird ein trotz der karikierenden Überzeichnung geradezu schulmäßiges Exempel des psychiatrischen Kriegseinsatzes, zugleich aber die Wirksamkeit eines Abwehrverhaltens der unbedingten Zustimmung. Letzteres ist lehrreich und wegweisend. C¦lines Held bedient sich der entwaffnenden Waffe einer, sei es dem Arzt oder dem Vorgesetzten, mit Vehemenz entgegengebrachten, ebenso überraschenden wie überwältigenden Affirmation.

III. Wer dem kollektiven Wahnwitz des Krieges auf überschwängliche Weise zustimmt, stempelt sich selbst zum Idioten und entwertet damit seine Zustimmung; unter solchen Umständen kann sich die überdrehte Ausnahmelogik der Verhältnisse im Krieg ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Die entwaffnende Kraft des Irreseins, sie bleibt bei C¦line allerdings bloße Episode in einer über weite Strecken düsteren, misanthropischen Exkursion in zwei Zentralgebiete moderner Barbarei: Krieg und Kolonialismus. Virtuos ausgereizt hat die Möglichkeiten der irritierenden Affirmation ein anderer Held der Torheit, der sich anschickte, mit der Tarnkappe des Minderbemittelten auf das Schlachtfeld zu ziehen: Jaroslav Hasˇeks braver Soldat Sˇvejk. Staatsorgane, Gerichtsbarkeit und vor allem das k. u. k.-Heeresreglement, ein Hort hochgehaltener Disziplin auf allerdings tönernen Füßen, fallen der Komik des auf überwältigende Weise Subalternen anheim. Mit Hasˇeks listig-naivem Sˇvejk hat die objektive »Ironie der Dinge«, von Hofmannsthal als Quell erzkomödiantischer Erleichterung beschrieben, ihren Darsteller und Dompteur gefunden. Die Abenteuer des guten

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Soldaten Sˇvejk sind ein hochmoderner Nachfahr des barocken Schelmenromans, und wie Grimmelshausens Simplizissimus hat es Sˇvejk mit einer von der verrückten Logik des Krieges erfüllten oder vielmehr entstellten Welt zu tun. Deren verzerrte, auf dem Kopf stehende Wertordnung wird vom Helden nun nicht etwa durch kritische Konfrontation attackiert, sie wird vielmehr dadurch ins Wanken gebracht, dass der Held ihre Vorgaben auf ungestüme, decouvrierende Weise geradezu übererfüllt. Mit einer glücklichen Formulierung Wolfgang Fritz Haugs kann im Hinblick auf diesen dezidierten Anti-Helden des Weltkriegs von einer Methode des »umwerfenden Einverständnisses« gesprochen werden.24 Schon auf die Nachricht der Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo befinden sich Sˇvejk und seine Prager Zeitgenossen in einer Art von erhöhter Alarmbereitschaft; denn im ohnehin des Separatismus verdächtigen Böhmen kann jedes Zeichen der emotionalen Anteilnahme an den Ereignissen sogleich auch negativ ausgelegt werden. In Sˇvejks Stammlokal, dem Wirtshaus »Zum Kelch«, hatte sich eigens ein im Dienste der Staatspolizei stehender Spitzel auf die Lauer gelegt, um die nun von schweren Sorgen erfüllten Gäste oder auch den Inhaber des Lokals zu unbedachten Äußerungen zu provozieren. Weil keiner sich eine Blöße geben möchte, kommt ein Gespräch kaum noch zustande; nur Sˇvejk plaudert ungeniert mit dem Polizeispitzel und versichert ihm, der Tod Ferdinands sei schon ein »riesiger Verlust«, weil man den Ermordeten schließlich »nicht durch irgendeinen Trottel ersetzen« könne.25 Nach wenigen Gläsern Bier aber stellt der beschwingte Sˇvejk eine direkte Verbindung her zwischen den Schüssen von Sarajevo und der allseits befürchteten, offiziell aber noch energisch geleugneten Kriegsgefahr. Obschon der wohlmeinende Wirt ihn zu bremsen versucht, redet Sˇvejk sich vor dem fassungslosen k. u. k.-Geheimagenten in einen regelrechten Mobilmachungsrausch hinein und verkündet lauthals, aber zur Unzeit, bereits den kommenden Krieg. »Wenn heute irgendein Krieg ausbricht, dann geh ich freiwillig und diene Seiner Majestät, bis man mich in Stücke reißt.« (AS 16) So erklärt er vorwitzig, denn noch ist es nicht so weit. Ungeschützt stürmt er voran, sich keiner Gefahr bewusst (die hier bezeichnenderweise gar nicht vom Feinde ausgeht). »Sˇvejk sah in diesem prophetischen Augenblick herrlich aus. Sein einfältiges Gesicht, das lachte wie der Vollmond, glühte vor Begeisterung. Ihm war alles klar.« (AS 16) Sˇvejk waltet als jener sprichwörtliche Narrenmund und tut unter lauter Duckmäusern und Übervorsichtigen die Wahrheit kund. Allerdings muss er zu diesem Zwecke die realhistorische Gemengelage vollständig umwerfen und 24 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk. In: Ders.: Bestimmte Negation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 7–69. 25 Jaroslav Hasˇek: Die Abenteuer des guten Soldaten Sˇvejk im Weltkrieg. Übers. aus dem Tschech., Kommentar u. Nachw. von Anton†n Brousek. Stuttgart: Reclam 2014 [1923/26], S. 13. Im Folgenden unter der Sigle AS und mit Seitenzahl.

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darin das Unterste zuoberst kehren, solange, bis er wiederum zum richtigen Ergebnis kommt. Zunächst und gar nicht einmal ganz abwegig sagt der schelmische Sˇvejk einen »Krieg mit den Türken« voraus (AS 16), in welchem Österreich aber von Serbien und Russland Unterstützung erfahren werde. Dann aber könne es sein, so fährt er mit seinem militärischen Konfliktszenario fort, dass uns im Falle eines Krieges mit den Türken die Deutschen angreifen, denn die Deutschen und die Türken, die halten zusammen. […] Wir können uns allerdings mit Frankreich verbünden, das hat es seit dem einundsiebziger Jahr auf Deutschland abgesehen. Und schon wird’s klappen. Der Krieg kommt, mehr sage ich nicht. (AS 16)

Bizarrerweise vollziehen sich in Sˇvejks militärischem Planspiel fast alle Allianzen umgekehrt gegenüber jenen der geschichtlichen Wirklichkeit; und doch sind seine Vorhersagen durchweg mit richtigen und vernünftigen Argumenten versehen. Die haltlose, aber hellsichtige Prognose des fröhlichen Zechers wirft folglich ein desto krasseres Licht auf die von den Mittelmächten tatsächlich verfolgten Bündnisoptionen, die nochmals um ein Gutteil absurder und unvorteilhafter ausfallen werden als das Szenario Sˇvejks, der sich in einem entscheidenden Punkt jedenfalls nicht irrt, dem des Kriegsausbruches selbst. Doch genau dies, die Rede vom kommenden Kriege, wird ihm vom Spitzel sogleich als vaterlandslose und staatsfeindliche Agitation zur Last gelegt. Dem Kaiser Kriegsbereitschaft zu unterstellen, dies wird Sˇvejk mindestens als Majestätsbeleidigung, wenn nicht gar als Hochverrat ausgelegt, da bis zum baldigen Beweis des Gegenteils niemand am unbedingten Friedenswillen des Hauses Habsburg die leisesten Zweifel hegen darf. Der in vorauseilendem Patriotismus allzu kriegsbereite Sˇvejk wird verhaftet, kein außergewöhnlicher Fall zu Zeiten, wo die Kaiserdämmerung den unbotmäßigen Böhmen die Zunge zu lösen begann: »Durch das Attentat von Sarajewo war die Polizeidirektion mit zahlreichen Opfern angefüllt.« (AS 18) Von dort wiederum, wo man mit einem wie Sˇvejk, der schon »beim Militär wegen Blödheit superarbitriert« wurde (AS 25), auch nichts anzufangen weiß, wird der Delinquent ans nächstgelegene Irrenhaus überstellt. Ein Kollegium dreier gerichtsbestellter Gutachter gelangt übereinstimmend zu dem Urteil, »dass Sˇvejk ein notorischer Trottel und Idiot gemäß allen von psychiatrischen Wissenschaftlern entwickelten Naturgesetzen sei« (AS 36). Die Gerichtsärzte stützten sich, so heißt es in dem amtlichen Bericht, in ihrem Befund »über den vollständigen geistigen Stumpfsinn und angeborenen Kretinismus« Sˇvejks auf den Ausspruch des Betroffenen »Es lebe Kaiser Franz Josef I.«. »Diese Äußerung«, so ihre einhellige Ansicht, »genügt vollkommen, um den Geisteszustand des Josef Sˇvejk als den eines notorischen Idioten zu klassifizieren« (AS 36). Dem entscheidungsschwachen, greisen Monarchen auf dem Habsburger Kaiserthron als dem kommenden Kriegsherrn zuzujubeln, das konnte offen-

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sichtlich nur als heillos verrückt betrachtet werden. Der raffinierte Widerhaken der Szene freilich ist: Aus Sˇvejks stramm kriegerischer Gesinnung blitzt der verkappte Defätismus, auch wenn ihm das kaum zu beweisen ist. Letztlich aber hat die Psychiatrie für einen solchen, alle Regeln und Zuständigkeiten sprengenden Fall auch keine rechte Verwendung. Erst die von Sˇvejk richtig prognostizierte Kriegslage bringt ihn an den Ort des maximalen Schadenspotentials. Denn als die Wälder am Flusse Raab in Galizien die österreichischen Heere über die Raab fliehen sahen und dort unten in Serbien die österreichischen Divisionen, eine nach der anderen, die Tracht Prügel bekamen, die sie schon längst verdient hatten, da erinnerte sich das österreichische Kriegsministerium auch Sˇvejks, damit er der Monarchie aus der Bredouille helfe. (AS 66)

Kurzum, Sˇvejk gerät erneut und nun auf unabsehbare Zeit in die Fänge jener Institution, die ihn als erste ausgesondert hatte. »Ich werde jetzt einrücken«, verkündet er, schwer vom Rheuma gepackt und infolgedessen bettlägerig, seiner staunenden Zimmerwirtin. Auf deren angesichts des obwaltenden Ernstfalles etwas naiv wirkende Frage, was um Himmelswillen er dort zu tun gedenke, ertönt aus des Narren Mund höchst lakonisch das Gebot der Stunde: »›Kämpfen‹, antwortete Sˇvejk mit Grabesstimme. ›Um Österreich steht es sehr schlecht.‹« (AS 66) Warum dies so ist, das kann man gerade am Zustand und Schicksal seines braven Soldaten besonders gut ablesen. Die Szene »Sˇvejk rückt ein« ist ein maliziöser Schelmenstreich, in dem der Protagonist für einmal nicht mit vorgeblicher geistiger Unzulänglichkeit, sondern mit körperlichen Gebrechen aufwartet. In aufopferungsvoller Tapferkeit setzt er sich über alle Bedenken hinweg: »bis auf meine Beine« sei er durchaus »ein absolut gesundes Kanonenfutter«, meint Sˇvejk, und in der Not müsse eben »sogar jeder Krüppel an seinem Platze stehen« (AS 67). Wie so oft bei diesem Meister der ironischen Affirmation ist auch hier in der Gegenrichtung zu lesen: Sˇvejk klagt nicht, und gerade deswegen wird die Art, wie er seinem Gestellungsbefehl Folge leistet, zur Anklage. Auf einen Krankenstuhl gezogen und mit Krücken ausstaffiert, macht Sˇvejk mobil. Vor aller Augen zieht er durch die Stadt und demonstriert den »Patriotismus eines Krüppels« (AS 71), wie die Prager Amtszeitung stolz vermerkt. »Und dieser Mann, immer und immer wieder mit seinen Krücken winkend, brüllte in die Prager Straßen hinein: ›Auf nach Belgrad, auf nach Belgrad!‹« (AS 70) Aller mitreißenden Begeisterung ungeachtet, die der brave Soldat im Volke entfacht, findet sich ein unerbittlicher Stabsarzt, der Sˇvejks patriotischen Rheumatismus, oder jedenfalls dessen medizinische Hälfte, als das Werk eines Simulanten kriminalisiert. Sogleich wurde der Mann mit den Krücken von zwei

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Soldaten mit Bajonetten in das Garnisonsgefängnis abgeführt und »bemerkte mit Entsetzen, wie sein Rheumatismus sich allmählich verflüchtigte« (AS 73). Ausgerechnet vor dem Prager Radetzkydenkmal (der damit Geehrte hatte 1848 in Wien die Aufständischen niederkartätschen lassen) gelang es Sˇvejk ein letztes Mal, die ihm folgende Menge mit dem Schlachtruf »Auf nach Belgrad!« zu beglücken. Und Feldmarschall Radetzky blickte von seinem Denkmal hinab verträumt hinter dem guten Soldaten Sˇvejk her, der mit dem Rekrutenstrauß am Rocke auf seinen alten Krücken forthumpelte, während irgendein ernsthafter Herr den umstehenden Leuten erklärte, dass man einen Deserteur abführe. (AS 73)

Seltsamerweise liegt zwischen der Bewunderung durch den alten Haudegen und der Strafverfolgung als Fahnenflüchtling kaum ein Unterschied. Passagen wie diese sind es, die sich querlegen bei der verharmlosenden Lektüre Hasˇeks als eines ›Humoristen‹. Denn hier erprobt der Autor, der als Soldat der k. u. k.Armee 1915 selbst an der Ostfront desertiert und deshalb wegen Hochverrats angeklagt worden war, die seltene, vielleicht unmögliche Haltung eines menschenfreundlichen Sarkasmus. Für ihn sind die Krüppel, Simulanten, Kretins und Deserteure keine Randfiguren, sondern das Herzstück des Krieges; Symptome dafür, dass und wie der Kampf seine Akteure deformiert. Der Roman um den guten Soldaten Sˇvejk schildert demzufolge auch keine »Abenteuer« im traditionellen, gattungsmäßigen Sinne; hier geht es um gewitzte Eingriffe in ein unmenschliches Getriebe, die nicht blinden Heroismus erfordern, sondern Scharfsinn und Zivilcourage. Sˇvejks überschwänglicher Weg in den Weltkrieg ist derjenige einer reductio ad absurdum. In letzter Konsequenz führt er, nachdem Sˇvejk zwischenzeitlich aufgrund seiner Anwesenheit an vorderster Front irrtümlich für einen russischen Spion oder Überläufer gehalten wurde, in das Anti-Heldentum offener Befehlsverweigerung und ironischer Sabotage. Während sich Sˇvejk mit ungebrochener Zuversicht mit einem Freunde für nach dem Kriege in seinem alten Prager Stammlokal verabredet – als ob die Welt wieder unbeschadet in ihren früheren Lauf zurückkehren könne –, lässt sein Romanautor keinen Zweifel daran, wie schwerwiegend und unumkehrbar die Erfahrungen des mit dem Weltkrieg verbundenen zivilisatorischen Bruches waren. Mehrfach durchbricht Hasˇek seine pikareske Erzählweise, um dokumentarisch zu werden. Ausführlich wiedergegeben wird im Roman ein nachmals berüchtigtes k. u. k.-Dokument aus dem Jahre 1915, das gegen ein tschechisches Infanterieregiment, dessen schlecht ausgebildete junge Soldaten sich am 3. April in den Karpaten zermürbt einer feindlichen Übermacht ergeben hatten, eine kollektive damnatio memoriae verhängt. Per »Armeebefehl vom 17. April 1915« wurde von Kaiser Franz Joseph offiziell verkündet und seinen kämpfenden Truppen zu wissen gegeben:

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Schmerzerfüllt verordne ich, dass das k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 28 wegen Feigheit und Hochverrat aus meinem Heere ausgelöscht werden soll. Die Regimentsfahne ist dem entehrten Regiment abzunehmen und dem Heeresmuseum einzuverleiben. Mit dem heutigen Tage endet die Geschichte dieses Regimentes, das, von zu Hause moralisch vergiftet, ins Feld zog, um Hochverrat zu üben. [/] Franz-Joseph I. (AS 533)

Name und Nummer des Regiments sowie seine hoheitlichen Insignien sollen durch diesen Sprechakt auf immer ausgelöscht und damit die Schmach einer ›unrühmlichen‹, weil kampflosen Kapitulation getilgt werden. Wiederholt und bekräftigt wird diese Auslöschung durch einen zweiten Armeebefehl Erzherzog Joseph Ferdinands, der ebenfalls bei Hasˇek im Wortlaut wiedergegeben wird. Die k.u.k.-Truppen hatten den ersten Winter in den Karpaten unter enorm harten und schwierigen Bedingungen, mangelhaft ausgerüstet und unzureichend vorbereitet verbringen müssen. Hinzu kam, dass das in Rede stehende Infanterieregiment 28, das Prager ›Hausregiment‹, mit seinen fast 2000 jungen, unerfahrenen Reservisten sich in einem mental schlechten Zustand befand und bei klirrender Kälte naturgemäß mit dem Auftrag überfordert war, in diesen gefrorenen Böden Gräben auszuheben. »Als der russische Angriff kam, standen die Tschechen ohne jede Deckung. Sie erhoben die Hände und sangen ›Hej Slovene!‹, die Hymne der Überläufer.«26 Die Reaktion der militärischen Führung auf diese kollektive Kapitulation war drakonisch. Nicht nur, dass man den beteiligten Soldaten mit der offiziellen symbolischen Auslöschung des Regiments pauschal und öffentlich die Ehre absprach; es wurden in Prag auch mehrere Repräsentanten der sogenannten jungtschechischen Bewegung, gleichsam in stellvertretender Haftung für die den Tschechen zugeschriebenen antiösterreichischen Umtriebe, in Polizeigewahrsam genommen, mit fadenscheinigen Beschuldigungen verurteilt und hart bestraft.27 Den schweren kriegsrhetorischen Geschützen, die der Kaiser und der Erzherzog mit ihrem Gedächtnisbann gegen das tschechische Infanterieregiment aufgefahren hatten, konnte Hasˇek nur die Geste entgegensetzen, dieses Dokument hochoffizieller Schande auf dem Wege seiner Weiterverbreitung im Roman erneut ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Karl Kraus, Hasˇeks Bruder im Geiste, war hiervon so beeindruckt, dass er diese im Sˇvejk-Roman eingebauten Dokumente, die Armeebefehle Kaiser Franz-Josephs I. wie auch Erzherzog Joseph Ferdinands, kurz nach Erscheinen des dritten Teils des Romanfragments 1923 in Heft 632 der Zeitschrift Die Fackel nochmals nachdrucken ließ. Die verhängte Auslöschung des Andenkens an die Soldaten jenes Regiments hatte, so wörtlich, »für ewige Zeiten« zu gelten; gerade deshalb machte Kraus diese großspurige Formel zum Titel der ansonsten kommentarlos nachgedruckten 26 Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 599. 27 Vgl. ebd.

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Verfügungen.28 Die Quelle der Entlehnung ist deshalb so eindeutig, weil sich in Kraus’ Wiedergabe der Armeebefehle noch charakteristische Eigenheiten der ersten Hasˇek-Übersetzerin Grete Reiner wiedererkennen lassen.29 Später nahm Kraus die ausführliche Wiedergabe dieser Befehle auch in sein gefürchtetes mündliches Vortragsprogramm auf, etwa bei der Lesung vom 18. Oktober 1923 in Wien. Wie beim Roman Hasˇeks balanciert auch im strafenden Zitat des Karl Kraus die ausstellende Dokumentation des Entsetzlichen hart am Rande der Groteske, ja der Komik. Doch ohne eine gewisse Neigung zum entwaffnenden Lachen wäre sie sonst auch kaum an den Mann zu bringen gewesen, diese von beiden in jeweils unterschiedlichen literarischen Gattungen propagierte Botschaft einer ›Ertüchtigung zur Untüchtigkeit‹.

IV. Um die Entwertung des heroischen Kampfes nicht als grundstürzende Niederlage verbuchen zu müssen, blieb für Frontkämpfer wie den Stoßtruppführer Ernst Jünger nur der Ausweg einer desperaten Affirmation, die freilich, anders als im Falle C¦lines oder Hasˇeks, weder ironische noch kritische Züge aufwies. Wie bei anderen Autoren aus dem Umkreis der Konservativen Revolution sind Jüngers ostentativ ›kalte‹ Lagebestimmungen nicht einfach fatalistisch, sie sind vielmehr, wie Stefan Breuer insgesamt für die aus dem Krieg hervorgegangenen soldatischen oder völkischen Gruppierungen feststellt, »mit der ständigen Bereitschaft gekoppelt […], die Fronten zu wechseln und sich auf die Seite des Stärkeren zu schlagen«.30 Im Affekthaushalt dieser neo-autoritären Programme spielt die Demütigung des heroischen Subjekts durch den industrialisierten Krieg eine ambivalente Rolle, weil sie diesem Subjekt zugleich neue und unhintergehbare Standards vorgibt. In sachlicher Nähe, doch in größtem programmatischen Kontrast zu den Diagnosen Jüngers hat Eric Leed aus der Dominanz der Maschinerie über den Menschen eine zwangsläufig defensive Disposition der Kämpfenden im Weltkrieg abgeleitet. Im Stellungskampf den Angreifer und Helden zu spielen, rächte sich meist unmittelbar und tödlich; nur durch äußerste Zurückhaltung, ja Passivität war ein halbwegs aussichtsreiches Überdauern und Überleben zu erreichen.31 28 Karl Kraus: Für ewige Zeiten. In: Die Fackel 25 (1923) Nr. 632, S. 34f. 29 Vgl. Kurt Krolop: Der Jawohlsager und der Neinsager. Komplementäre Weltkriegssatire bei Jaroslav Hasˇek und Karl Kraus. In: Ders.: Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus. Wien: Verl. d. Österr. Akad. d. Wiss. 1994, S. 199–216, hier S. 210; ferner ebd., S. 283. 30 Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt: WBG 1993, S. 46. 31 Vgl. Eric J. Leed: No man’s land. Combat & Identity in World War I. Cambridge: Cambridge UP 1979, S. 152ff.

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Diese Priorität der Defensive galt für alle Kombattanten gleichermaßen. Die psychischen und habituellen Reaktionsmuster allerdings, die aus dem Respekt vor der Überlegenheit der Technik erwuchsen, konnten sehr unterschiedliche Verlaufsformen mit nahezu gegensätzlichen Konsequenzen annehmen; sie reichten von der Stilisierung des Opfergangs bis zur theoretischen oder sogar faktischen Preisgabe des Individuums, von der Einsicht in die Melancholie des verlorenen Postens zu einer reflektierten Position der Enthaltung, der Untätigkeit oder gar der Fahnenflucht. Auch hier drohen letztlich die wenig verlockenden Alternativen Sˇvejks: der brave Soldat wird Krüppel oder Deserteur.32 Nicht ganz untypisch war ein Verhaltensmuster, das sich als eine Art von subjektiver Implosion beschreiben lässt, als Reduktion der Außenwelt auf die Schwellen des eigenen Bewusstseins und des individuellen Wahrnehmungshorizonts. Inmitten der Massen- und Materialschlacht, die fiebrige Erregungszustände aussendet, empfindet das Ich nichts als kampflose Schwere. »Und der Mut ist so müde geworden«, hatte es in Rilkes Cornet geheißen.33 Als die Kriegsgesänge des ersten Sommers längst verhallt waren, konnten solche Töne wieder Resonanz finden. Noch zu Beginn des vierten Kriegsjahrs attestierte Thomas Mann seinen Mitbürgern (auch jenen an der Front) ein »tiefes Verlangen nach dem Furchtbaren«,34 obwohl das zumindest bei den Kriegsteilnehmern längst als gestillt gelten durfte. Wohl wissend um »die Greuel der Verwüstung« und »das irrsinnige Zerreißen der Menschenkörper« (B 498), in bewusster Abkehr von »lügnerischen Bemühungen, das humanitäre Gesicht zu wahren« (B 493), rückte Mann im Herbst 1917 das Kapitel »Einiges über Menschlichkeit« in seine Betrachtungen eines Unpolitischen ein. Darin gibt er nochmals seiner (schon in den »Gedanken im Kriege« 1914 bekundeten) Überzeugung Ausdruck, zur conditio humana gehöre »unsterblich« auch »ein primitiv-heroisches Element« hinzu, »wofür alle gewollten und aufgesuchten Strapazen und Abenteuer einzelner im Frieden: Hochgebirgstaten, Polarexpeditionen, Raubtierjagden, Fliegerwagnis32 Die realhistorische Bedeutung des Phänomens während des Ersten Weltkriegs untersucht Christoph Jahr: Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. Wie diese Untersuchung zeigt, kann die Behandlung von Desertion Aufschluss geben über die jeweilige Funktionsweise der Armee als eines sozialen Systems und auch über den Einfluss von militärischen Traditionen. 33 Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 1996, S. 139–152, hier S. 141. 34 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher [= GKFA]. Bd. 13.1. Hg. und textkr. durchges. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 504. Im Folgenden unter der Sigle B und mit Seitenzahl.

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se nur Auskunftsmittel sind.« (B 504) Ihr eigentliches Betätigungsfeld, darf man hieraus schließen, finde die eingewurzelte Sucht, das Leben aufs Spiel zu setzen, im Kriege. Diesem wohne ein »mystisches Element« inne, wie es »allen Grundmächten des Lebens, der Zeugung und dem Tode, der Religion und der Liebe« eigen sei (B 504). Dass der Tod sich im Kriege als treuer Kamerad erwies, konnte als letztes Residuum eines im Schwinden begriffenen Abenteurertums gelten, zugleich aber auch als ein verlässliches Wesenselement des Lebens selbst in seiner existentiellen Tiefe verbucht werden: »Ich habe Menschen sterben und Menschen geboren werden sehen und weiß, daß der zweite Vorgang den ersten an mystischer Schrecklichkeit noch weitaus übertreffen kann.« (B 505) Drei Jahre zuvor hatten auch andere den Krieg als »Rausch« und »Abenteuer« (Robert Musil) begrüßt. Thomas Manns Beharren auf dieser Deutung ist von anderer Qualität, ein Dokument widersinnigen Trotzes und flagranter Selbstentfremdung. Sein Lob des elementaren Heroismus entstammt motivgeschichtlich dem Umkreis eines Textkonvolutes zu der Fragment gebliebenen Abhandlung über »Geist und Kunst«, in der er, gut eine halbe Dekade vor dem Kriegsausbruch, »Kultur« als »stilvolle Wildheit« gefeiert und ihre Semantik um »Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer« und »die buntesten Greuel« bereichert hatte.35 Annähernd wörtlich nahm Mann diese Notiz dann in seine »Gedanken im Kriege« auf.36 Aus ihr spricht ein zeit- und gesellschaftsbedingtes Unbehagen an bürgerlicher Sekurität, Erstarrung und Langeweile, wie es besonders ausgeprägt seitens der Generation junger Expressionisten vorgetragen wurde, die an ihrem brachliegenden Enthusiasmus ersticken zu müssen glaubte. Unter den expressionistischen Jung-Dichtern hatte Georg Heym, in diesem Zusammenhang an erster Stelle zu nennen, über Jahre hin aus schierer Langeweile einem kommenden Krieg förmlich herbeigefiebert; er malte sich aus, »noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren« zu können.37 Aus der Gewaltsehnsucht Heyms und anderer spricht kein nationaler Chauvinismus, sondern der blanke »Hunger nach einer Tat«, und auch die Verbitterung darüber, die eigene Existenz in einer falschen, gänzlich unheroi-

35 Thomas Mann: Notizen (II). In: Ders.: GKFA (Anm. 34). Bd. 14.1: Essays I: 1893–1914. Komm. von Heinrich Detering unter Mitarb. von Stephan Stachorski. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 211–216, hier S. 213f. [Erstmals in der Weihnachtsausgabe der Berliner Zeitung Der Tag vom 25. 12. 1909]. Vgl. auch Bd. 14.2, S. 300. 36 Vgl. Thomas Mann: Gedanken im Kriege [1914]. In: Ders.: GKFA (Anm. 34). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. u. textkr. durchges. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 27–46, hier S. 27. 37 Georg Heym: [Aus den Tagebüchern]. In: Ders.: [Werke]. Ausgew. von Karl Ludwig Schneider u. Gunter Martens. München: Nymphenburger Verl. 1971, S. 237–244, hier S. 240. Vgl. auch Walter Serner : Die Langeweile und der Krieg. In: Der Mistral 1 (26. 4. 1915) Nr. 3, S. 1f.

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schen Epoche fristen zu müssen.38 Es ist, kaum überraschend, der geschichtlich prominenteste Genius des Krieges, an dessen unwiederbringlicher Ära sich Heyms Enttäuschung bemisst. »Warum war die Natur so verrückt, mich nicht unter Napoleon geboren werden zu lassen«, klagt der junge Dichter im Oktober 1911 seinem Tagebuch.39 Der schrillen Tat-Sehnsucht jugendlicher Expressionisten stand ein arrivierter Autor wie Thomas Mann, der Romancier absteigenden bürgerlichen Familienglücks (in den Buddenbrooks), denkbar fern. Doch auch Manns Gedankenexperiment über die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Kultur, vitalem Wesensausdruck und ritualistischen Gräueltaten atmet den Geist der Zeit, es macht ihn zu einem, wenngleich episodischen und partiellen fellow traveller der künstlerischen Avantgarde. In den Betrachtungen eines Unpolitischen aber, die Mann Jahr um Jahr ungeachtet des wachsenden Verschleißes der Kriegsnation an Menschen und Moral weiter vorantreibt, gerinnt die Suggestion vom Verlangen nach dem Furchtbaren zu einer blechernen Nachzügler-Pose, deren randalierendes Schockiergehabe längst von den ›draußen‹ an der Front erreichten Schreckensausmaßen überflügelt worden war. Zur Verdeutlichung kann dabei vergleichend auf die literarisch spätere Verarbeitungsstufe des Doktor Faustus zurückgegriffen werden, deren wenige Frontepisoden etwa ab dem Spätherbst 1914 den Übergang zum Stellungskrieg und die Umstellung bei den deutschen Truppen von Vorwärts- zu Rückwärtsbewegung veranschaulichen. In die Haupthandlung des Künstler-Werdegangs ist jener Kriegszug eingebettet durch das den Roman tiefenstrukturell ohnehin bestimmende Substitutionsprinzip, demzufolge Leverkühn eigene Ziele mithilfe und in Gestalt von anderen zu erreichen bestrebt ist. Im Falle des Kriegsausbruches also heißt das Motto »Ihr geht statt meiner«;40 unter dieser Losung schickt Adrian Leverkühn im August 1914 seine Studienkollegen und Weggefährten in Richtung ›Paris‹ in Marsch, nachdem seine Einladung dorthin zu einem Gastspielkonzert sich wegen des Kriegsausbruches zerschlagen hatte. Und im Grunde hatte dieses Prinzip »Ihr geht statt meiner« schon diejenige Arbeitsteilung bestimmt, die der Schriftsteller der Betrachtungen eines Unpolitischen seinerseits mit der deutschen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg eingegangen war. Im Faustus aber hat Freund Serenus Zeitblom, der trotz seines humanistischen Credos zu den überzeugten Kriegsteilnehmern gehört, vom harschen Umschwung der Verhältnisse nach den Anfangserfolgen eines zunächst raumgreifenden deutschen Vorandringens zu berichten. 38 Heym: [Aus den Tagebüchern] (Anm. 37), S. 240 (Eintrag vom 6. 7. 1910). 39 Ebd., S. 243 (Eintrag vom 16. 11. 1911). 40 Thomas Mann: GKFA (Anm. 34). Bd. 10.1: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. u. textkr. durchges. von Ruprecht Wimmer unter Mitarb. von Stephan Stachorski. Frankfurt/M.: Fischer 2007, S. 451.

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Bemerkenswerterweise evoziert Zeitblom bei der Zusammenfassung der Frontgeschehnisse zunächst weniger die Augenzeugenschaft des Selbsterlebten als vielmehr das Repertorium der Heeresberichte. »Durch Wochen hatten wir kurz angebundene, das Triumphale in kalte Selbstverständlichkeit kleidende, affektiert lapidare Siegesnachrichten nach Hause gesandt. Lüttich war längst gefallen; wir hatten die Schlacht in Lothringen gewonnen, […] hatten Brüssel, Namur genommen, die Siege von Charleroi und Longwy erfochten«41 – eine nicht abreißende Serie von Großtaten und Eroberungen. Noch ist der Geist der Begeisterung mit den eindringenden Truppen, und ihr Vorwärtseilen in Feindesland gelingt mühelos. »Der Vormarsch, der uns dahinriß, war beflügelt und, wie wir es uns erträumt hatten, von der Gunst des Kriegsgottes, dem Ja des Schicksals wie auf Fittichen getragen.« Dann jedoch melden sich beim IchErzähler Bedenken und Skrupel, vor allem, wenn es gilt, Widerstand und Jammer seitens der überfallenen Bevölkerung mit blanker Gewalt niederzuhalten und den »Aspekt der Mordbrennerei mit Festigkeit zu ertragen«.42 Zeitblom bekennt, ihm stehe »noch heute«, und das heißt in der Chronologie des Erzählwerks: fast dreißig Jahre danach, »das Bild eines hageren gallischen Weibes« vor Augen, welches auf einer Anhöhe, »die Reste eines zerschossenen Dorfes« im Blick, den weiterziehenden deutschen Truppen mit erhobener Faust grimmig ihre Flüche und Verwünschungen nachschleuderte. »Je suis la derniÀre«, rief die Verzweifelte aus; auch gegenüber der Zivilbevölkerung hatten die Mordbrenner ganze Arbeit geleistet. Zeitbloms Kriegschronik deutschen Vordringens auf Feindesboden kippt ins Sarkastische: »Noch viele Dörfer zerschossen wir, getragen auf Fittichen.«43 Umstandsloser als die Kette der Eroberungen während der ersten siegreichen Vorstöße werden die bald sich einstellende Wende des Kriegsglücks und der notwendige Rückzug rekapituliert: »Wir passierten dieselben Dörfer wieder, die wir qualmend im Rücken gelassen hatten, auch den Hügel, auf dem das tragische Weib gestanden. Sie war nicht mehr da.«44 Ein zerstörtes Dorf zum zweiten Male zu durchqueren, bedeutet, mit den vernichtenden Folgen der verübten Kriegsgewalt nun aus der Täter- und Beobachtersicht zugleich konfrontiert zu werden. Der Rückschlag war nicht episodischer Natur, dies ist auch den unmittelbar Beteiligten sofort klar, wenngleich sie den Grund dieses Umschwungs in den Stellungskrieg und die Konsequenzen einer jahrelangen, verlustreichen Materialschlacht noch nicht zu erkennen vermögen. Lange bevor innerhalb des Erzählvorgangs die Stelle erreicht wird, an welcher der geniale Freund Zeitbloms, der Komponist Adrian 41 42 43 44

Ebd., S. 451. Ebd. Ebd., S. 452. Ebd.

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Leverkühn, die symbolische Zurücknahme der »Neunten Symphonie« verkünden würde – und damit des Kerngedankens der Völkerverständigung im Zeichen friedlicher Mitmenschlichkeit –, muss sich der im Kriegseinsatz desillusionierte Ich-Erzähler selbst eingestehen, bei jener Kriegseuphorie der Augustwochen 1914 einer katastrophalen und kollektiven Täuschung erlegen zu sein. »Die Fittiche hatten getrogen. Es hatte nicht sein sollen.«45 Diese Abdankung der ›Ideen von 1914‹ steht jener geschichtspessimistischen Resignation Leverkühns voran, wenngleich sie als Einsicht des ans Werk gegangenen Biographen deutlich später in der Chronologie des erzählten Handlungsgangs anzusiedeln ist. Auf diese Weise sind das Fiasko von 1914 und die Vorzeichen der Heraufkunft einer noch weit verheerenderen Diktatur des Schreckens beiderseits, als Handlungsund als Reflexionsgeschehen, unauflöslich ineinander verschlungen. Was der Kriegsteilnehmer damals nur halb erkannte, der um ein Vierteljahrhundert versetzte, das Wort führende Erzähler kann und muss es unter den Vorzeichen eines erneuten deutschen Angriffskrieges einzuordnen versuchen, ohne die damalige schicksalhafte Unwissenheit gänzlich zu tilgen. Der Krieg war nicht in raschem Ansturm zu gewinnen gewesen – so wenig wie die zu Hause verstanden wir, was das bedeutete. […] Wir wußten es nicht. Langsam wurde die Wahrheit in uns hineingequält, und der Krieg, ein verrottender, verfallender, verelendender, wenn auch immer von Zeit zu Zeit in trügerischen, die Hoffnung fristenden Halbsiegen aufleuchtender Krieg, – dieser Krieg, von dem auch ich gesagt hatte, daß er nur kurz sein könne, womit ich heimlich gemeint haben mochte, daß er nur kurz sein dürfe, dauerte vier Jahre.46

In die Verschlungenheit dieser Satzperiode und ihrer mehrfach wieder neu ansetzenden adverbialen Bestimmung des Krieges hat der figurierte Erzähler das ganze Schwanken, Ausharren, Hoffen und Bangen der Niedergedrückten und wieder Erhobenen, schließlich aufs neue Niedergedrückten und Geschlagenen hineingelegt. Der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen verfügte, gattungsbedingt, nicht über die Möglichkeit, Siegeszuversicht, Skepsis und Resignation in epische Phasen zergliedert und auf unterschiedliche Charaktere verteilt zur Darstellung zu bringen. Und doch kennt auch dieser zu gewaltigen Ausmaßen angewachsene Essay den inneren Zwiespalt und den äußeren Widerstreit einer Rede mit verteilten Rollen. Aufgrund ihrer teils wirkungsorientierten, teils von tiefer autobiographischer Befangenheit durchsetzten Diktion lassen sich die Betrachtungen eines Unpolitischen ebenfalls als Kundgebungen eines ›Ich-Erzählers‹ verstehen. Im Kapitel über »Menschlichkeit« fällt dieser Erzähler der Betrachtungen sich selbst ins Wort. Seine Abweisung sogenannter ›Humanitätsduselei‹ 45 Ebd. 46 Ebd., S. 452f.

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unterläuft er mit Anleihen bei der deutschen Romantik, sein Hoch auf den Helden, der sich schicksalsergeben in Todesgefahr begibt, mit dem Lob auf einen denkbar andersgearteten Protagonisten – auf den von Joseph von Eichendorff ersonnenen Taugenichts. Kaum irgendwo dürften die Widersprüche in der Verfertigung dieses montierten Werkes klarer mit Händen zu greifen sein als in der Diskrepanz der aus den früheren Primitivismus-Tendenzen und neuerlicher romantischer Tat-Skepsis zusammengesetzten rhetorischen Impulse insbesondere der Kapitel über »Tugend« und »Menschlichkeit«, die erst im Sommer 1917 entstanden und textgenetisch schon zum Schlussdrittel der Schreibarbeit an den Betrachtungen gehören. Denn als Thomas Mann sein (dann schon fast zehn Jahre zurückliegendes) Bekenntnis zum Faszinosum atavistischer Gräuel in die entsprechende Passage der Betrachtungen aufnahm, war sein sympathetisches Interesse, das sich mit Militaria ohnehin eher unwillig befasst hatte, längst auf die unzuverlässige, zum Kampfesmut ungeeignete Gestalt des Taugenichts übergeschwenkt. Dass er seine Betrachtungen über die Tugend mit dem Porträt eines nichtsnutzigen Ausreißers und Müßiggängers eröffnete, war durchaus nicht schelmisch gemeint. Ein wenig außer der Reihe tanzte die Betrachtung zum Taugenichts nun allerdings schon, mitsamt ihrem Verfasser. Als tagesbedingtes Nebenwerk im Herbst oder möglicherweise schon im Frühsommer 1916 entstanden,47 hatte die kleine Studie vorderhand nicht mehr darstellen sollen als eine Empfehlung der bibliophilen, von dem Graphiker Emil Preetorius illustrierten Ausgabe der Eichendorffschen Erzählung, die schon im Jahre 1914 erschienen war. Doch jene lose, leichtlebige und leichtsinnige Taugenichts-Welt stand in so offensichtlichem Kontrast zum Ernst der geschichtlichen Lage und auch zu Thomas Manns derzeitigem Hauptgeschäft, dass der Autor über dieses Spannungsverhältnis schwerlich hinweggehen konnte. In einem Augenblick, wo alles zur Tat drängte und jedermann sich von Verantwortungsbewusstsein fürs große Ganze durchdrungen zeigte, da mochte es, räumt der Autor selbst ein, »sehr frech, sehr zigeunerhaft oder sehr – bürgerlich scheinen«, für ein Buch wie den Eichendorffschen Taugenichts einzutreten, »das der politischen Tugend in einem wahrhaft liederlichen Grade enträt«.48 Die provokante Note dieser Koketterie wird indes recht geschickt dadurch aufgefangen, dass sie sich gezielt von übertriebenen Formen des Pflichteifers absetzt, indem sie nämlich zum einen die »literarische Aktivistentugendhaftigkeit« aufs Korn nimmt (gemeint sind die antimonarchistischen und pazifistischen Ini-

47 Vgl. Thomas Mann: GKFA (Anm. 34). Bd. 15.2: Essays II: 1914–1926. Komm. u. textkr. durchges. von Hermann Kurzke unter Mitarb. von JoÚlle Stoupy, Jörn Bender u. Stephan Stachorski. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 75. 48 Thomas Mann: Der Taugenichts. In: GKFA. Bd. 15.1 (Anm. 36), S. 151–170, hier S. 151 [zuerst in: Neue Rundschau 27 (Nov. 1916) H. 11, S. 1478–1490]. Die folgenden Zitate ebd.

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tiativen um Kurt Hiller, Ren¦ Schickele und den eigenen Bruder),49 zum anderen aber die »Exzedenten der Staatsfrömmigkeit«, wobei die Adressaten dieses Tadels allerdings unklar bleiben.50 Die Etüde, im Duktus zuweilen an Manns frühere Studien zu Chamissos Peter Schlemihl erinnernd, bedeutete geistig wie stilistisch eine willkommene Lockerungsübung gegenüber dem täglichen Pflichtwerk der Betrachtungen und ihren trockenen Zitatcollagen, die manchenteils nur von verkrampfter Polemik zusammengehalten wurden. Offensichtlich genießt es der Autor geradezu, unter Eichendorffscher Flagge für einmal die Schule zu schwänzen und dem engen Korsett stilistischer Militanz ein Schnippchen zu schlagen. Eichendorffs Taugenichts, so muss der über diese Gestalt handelnde Autor eingestehen, ist »nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden Schwergewichts […]; er ist nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, […] törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung«.51 Bedachte Thomas Mann eigentlich, wem und zu welchen Zeitumständen er hier vorschwärmte von einer märchenhaften Geschichte, die so verführerisch der Bummelei frönt? Er wusste wohl, was er hier tat; die Kluft zwischen der bedrängten Gegenwart und der Welt Eichendorffs war unübersehbar, das Programm seines Titelhelden denkbar unzeitgemäß. Und genau darin lag der Reiz, diese Figur für die aktuelle Lage zum Sprechen zu bringen. Der deutsche Mensch ist heute kein Taugenichts mehr […]; er hat ein Reich, […] und er verteidigt es mit so gewaltiger Tüchtigkeit, daß es der Welt täglich saurer wird, ihr Staunen unter Schimpfreden gegen den zu verbergen, mit dem zu »rechnen« sie sich in fünfzig, in hundertfünfzig Jahren nicht gewöhnen konnte.52

Es ist, so gibt die genannte epochale Zeitstrecke zu verstehen, vorbei mit den Zeiten gedankenvoller Tatenarmut, in welchen deutsche Dichter und Denker als enthusiasmierte Zuschauer (im Sinne Kants)53 kommentierten und reflektierten, 49 Zum Kontext der aktivistischen Bewegung Kurt Hillers vgl. Eva Kolinsky : Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften. Stuttgart: Metzler 1970, S. 116ff. Zu Heinrich Manns Position im aktivistischen Feld vgl. Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger. Heidelberg: Winter 2000, S. 206f. 50 Insofern diese zweite Gruppe des Weiteren dadurch charakterisiert wird, sie vertrete die Auffassung, »daß alles Menschliche dazu da sei, organisiert, restlos organisiert zu werden«, kann hierin eine späte Absetzbewegung Thomas Manns von hegemonial preußischen und kriegssozialistischen Bestrebungen im Sinne Johann Plenges oder auch Walther Rathenaus vermutet werden (Mann: Der Taugenichts (Anm. 48), S. 151). 51 Ebd., S. 152. 52 Ebd., S. 159. 53 Die zeitgenössische Französische Revolution, so Kants Argument für die Begründung eines

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wie etwa auf linkrheinischem Gebiete unterdessen Geschichte gemacht wurde. Endlich scheint nun das Gesetz des Handelns in deutsche Hände gelegt, und dann doch schon nicht gerade etwa in die von Taugenichtsen? Oberste Maxime der militärischen Schlagkraft wie prinzipiell aller Rekrutierungen ist – wortwörtlich dem Heldenbild Eichendorffs entgegengesetzt – die Tauglichkeit der eingesetzten Truppen. Dennoch: Unter der Feder Manns porträtiert, steht der Taugenichts als naiver, munterer Draufgänger einem deutschen Siegfried gar nicht so fern, hat doch »sein Wesen nicht den geringsten Einschlag von Exzentrizität, Problematik, Dämonie, Krankhaftigkeit«.54 Auch der romantische Taugenichts immerhin zeigt sich kurzentschlossen, wagemutig, nicht angekränkelt von des Gedankens Blässe. Was aber könnte er, was könnte seine Geschichte im Kriegseinsatz zu sagen haben? Ein Großteil des Aufsatzes wurde im Sommer 1917 in das entstehende Kapitel »Von der Tugend« aufgenommen. Die Schwierigkeit, das Separatum einzufügen, ist nicht unerheblich und zwingt den Autor zu einer etwas hölzernen, gesucht paradoxen Vorbemerkung: Von der Tugend also soll die Rede sein? »Vom Gegenteil einer Sache zu sprechen ist auch eine Art, von der Sache selbst zu sprechen« (B 408). Oder ihre unangenehmen Aspekte unterlaufen zu können. Denn im Grunde genommen ist »Tugend« ein Leitwort der Gegenseite, der Zivilisationsliteraten und Moralisten; ein Begriff, aus dessen Geltungsbereich die militärische Tüchtigkeit schleunigst herausgelöst werden sollte, um auf das träumerisch-romantische Lager überzugehen. Kompromissloses Heldentum darf keine gesellschaftlich oder zweckrational gebundene Größe sein, es ist so asozial wie der Taugenichts. An jenem hebt Mann auch in den Betrachtungen hervor, dass er »nicht allein selber nutzlos« ist, wie es seinem Namen entspricht, »sondern er wünscht auch die Welt nutzlos zu sehen« (B 411). Dem geordneten Gang der Dinge ein Schnippchen schlagend, verdankt der Taugenichts seinen Erfolg dem Außerkraftsetzen bürgerlicher Regeln und Werte. »Er ist von der Familie der jüngsten Söhne und dummen Hänse des Märchens, von denen niemand etwas erwartet und die dann doch die Aufgabe lösen und die Prinzessin zur Frau bekommen. Das heißt, er ist ein Gotteskind, dem es der Herr im Schlafe gibt.« (B 411f.) Unverkennbar erklingt hier Thomas Manns großes autobiographisches Thema der Wunder wirkenden, narzisstischen Selbsterhöhung, das sich über Königliche Hoheit und die Josephs-Tetralogie bis zum spät wiederaufgenommenen Felix Krull hindurchzieht. moralischen Fortschritts in der Geschichte, finde »in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt« (Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten [1798]. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Bd. 11. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 265–393, hier S. 358). 54 Mann: Der Taugenichts (Anm. 48), S. 156.

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Naivität und Understatement des Taugenichts sind von anderer Art als die listige Soldaten-Tumbheit bei C¦line oder Hasˇek. Die Unbedarftheiten des Helden steigern den Glanz träumerisch erfüllter Wünsche, und sie spotten des Musterbildes vom bürgerlichen Leistungsethiker, das Thomas Mann anderenorts, etwa im Tod in Venedig, nicht minder emphatisch zu kultivieren wusste. »Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf«, diese biblische Sentenz (Ps. 127, 2) hatte der Autor gelegentlich als die ihm nächstliegende, seinem Arbeitsethos eigentümlich kontrastierende Lebensweisheit benannt.55 Zur kollektiven Nachahmung war dergleichen schwerlich geeignet, schon gar nicht als Empfehlung für den Kriegsalltag. Genau dort aber sollte der Taugenichts als Antidot zum verbissenen Kampf und stumpf gewordenen Siegeswillen seine Tauglichkeit unter Beweis stellen, ginge es nach Thomas Mann. Im Helden Eichendorffs entdeckte er die Leitfigur der absteigenden Kriegsjahre. Denn schon der Taugenichts musste Zurückweisungen jener Art hinzunehmen lernen, wie sie der nachholenden Imperialpolitik des Kaiserreichs allenthalben widerfuhren. Thomas Mann zitiert eine Selbstäußerung des Helden aus der Eichendorffschen Erzählung: »Mir ist’s nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet.« (B 412) Angesichts der unerfreulichen Kriegslage vermag der Taugenichts noch Trost zu spenden, getreu der biblischen Devise: »Unser Reich ist nicht von dieser Welt!« (B 412)56 Wie provokant sich solche Passagen und ihre Auslegung auf die Zeitumstände beziehen ließen, entging auch anderen publizistisch aktiven Zeitgenossen nicht. Hermann Bahr, der mit seinem Kriegssegen 1914 das Fähnlein des Militarismus geschwungen hatte, sekundierte jetzt dem Lob des Taugenichts. Ganz zu Recht habe Mann auf die drohende »Verkürzung« und »Verarmung der deutschen Seele« hingewiesen. Nun werde es demnach selbst einem Thomas Mann allmählich »angst vor dieser zähnefletschenden neudeutschen ›Tüchtigkeit‹«, kommentierte Bahr dessen Aufsatz in der Neuen Rundschau.57 Die Zügel sollten lockerer geführt, die hochgesteckten Kriegsziele relativiert werden; gefragt waren Einübungen in die Kunst des achtbaren Rückzugs. Die im Herbst 1914 in Umlauf gebrachte markige Parole vom Künstler, »der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne«,58 da beide dem kriegerischen Prinzip der 55 Vgl. Thomas Mann: Süßer Schlaf [1909]. In: GKFA. Bd. 14.1 (Anm. 35), S. 202–209. 56 Die aktuellen Applikationsmöglichkeiten des von Eichendorff variierten Ausspruches Jesu (»Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, Joh. 18, 36) hatte Thomas Mann schon in der Aufsatzfassung unterstrichen. Gerade der deutsche Tatmensch, dem die Taugenichts-Komponente des Träumerischen abgehe, laufe »Gefahr, glauben zu lernen, sein ›Reich‹ sei nun gänzlich von dieser Welt.« (Mann: Der Taugenichts (Anm. 48), S. 159). 57 Hermann Bahr: [1917]. Innsbruck, München, Wien 1918, zit. n. Ernst Johann (Hg): Innenansicht eines Krieges. Bilder, Briefe, Dokumente 1914–1918. Frankfurt/M.: Scheffler 1968, S. 228. 58 Mann: Gedanken im Kriege (Anm. 36), S. 29.

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»Organisation« gehorchten – das war vergessen und abgetan. Gerade diesen einst von ihm selbst reklamierten Inbegriff der Gemeinsamkeit von Kunst und Krieg will Thomas Mann nun, als Indiz abzuwehrender Demokratisierungsprozesse, jenen zuschieben, »welche kategorisch dafür halten, daß das Menschliche dazu da sei […], restlos organisiert und sozialisiert zu werden.«59 Gegen die Sphäre der Vergesellschaftung, die Mann auf unaufhaltsamem Vormarsch wähnt, soll mit dem Taugenichts »die Unabhängigkeit des Geistes, die Liebe zur Einsamkeit« gestellt werden.60 Los von den Pflichten des homme sociale – es ist dieses anarchische Heilsversprechen, das von einer bestimmten Optik aus betrachtet Krieg und Taugenichts gemeinsam haben. Ist doch das wilde Wesen des Krieges selbst nicht viel anderes als ein solches nichtsnutziges, zweck- und zielloses Ausreißen vor den Mühen und Fadheiten des Alltags, wie etwa die im Doktor Faustus festgehaltene Reminiszenz an das Augusterlebnis suggeriert. Eine solche »Mobilisierung« zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassendpflichthaft sie sich geben möge, hat immer etwas vom Anbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen, von einem Hinter-die-Schule-laufen, einem Durchgehen zügelunwilliger Triebe.61

Schon aus der D¦cadence der Jahrhundertwende waren die Grundzüge eines gesellschaftsunwilligen Anti-Heldentums bekannt, das sich den Zumutungen der ›Realitätstüchtigkeit‹, sei es aus Schwäche, sei es aus Versagensängsten, beharrlich verweigerte.62 Im Falle Thomas Manns waren es zunächst die Spätlinge der Buddenbrooks gewesen, die den strengen Gesetzen der bürgerlichen Geschäftswelt nicht mehr zu genügen vermochten, später werden auch Gustav Aschenbach oder Hans Castorp trotz ihrer guten Vorsätze, Haltung zu bewahren, in den Sog eines solchen Heldentums der Schwäche geraten. Zu den Symptomen der ›Untauglichkeit‹, die Thomas Manns Protagonisten in fast konstanter Motivreihe durch das Frühwerk hindurch aufweisen, kommt spätestens vor und im Weltkrieg eine neue, zeitgenössische Schärfe, weil in ihnen unweigerlich eine Dissidenz zu jenem chauvinistischen Diskurs der Tatkraft und Opferbereitschaft erwächst, wie ihn die Kriegspropaganda proklamierte. Näher als ihm wohl selbst bewusst war, bewegte sich Thomas Mann deshalb mit seinen schwachen Helden schon im Gefolge jener »Abschaffung des ›Großen Mannes‹«, die er seinerseits öffentlich dem Bruder und Zivilisationsliteraten vorwarf. 59 60 61 62

Mann: Der Taugenichts (Anm. 48), S. 151. Ebd., S. 163. Mann: Doktor Faustus (Anm. 40), S. 436f. Vgl. Caroline Pross: Divergente Spiegelungen. Anmerkungen zum Verhältnis von Wissen, Erzählen und Poesie im Frühwerk Thomas Manns (Buddenbrooks). In: Alexander Honold u. Niels Werber (Hg.): Deconstructing Thomas Mann. Heidelberg: Winter 2012, S. 29–42.

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Mochte er in den Betrachtungen die »Desavouierung« von heroischer Größe empört zurückweisen und dagegen Protest einlegen, dass der »große Mann deutscher Nation« durch »demokratische Einebnung« in seinem Nimbus geschmälert werde (B 426), so waren in der Sache hingegen Thomas Manns dekadente Helden die ästhetisch plausibelsten Belege dafür, dass das Pathos der Größe längst abgedankt hatte. Es war im Sommer 1917 schlechthin unmöglich, die Erzählung vom Taugenichts nicht auf den militärischen Fundamentalbegriff der Tauglichkeit zu beziehen, und zwar in negativer Weise. Und nirgendwo wiederum war das Konzept der Nicht-Tauglichkeit verführerischer mit Sinn aufgeladen als in diesem innersten Motivbestand der Romantik. Endlich also konnte der Autor, der nun schon drei Kriegsjahre am Schreibtisch verbracht hatte, sowohl für seine persönliche Situation wie für seine künstlerische Haltung gegenüber den Zeitläuften eine überhöhende und verklärende Traditionslinie ins Spiel bringen. Des Weiteren aber gestattet die Eichendorffsche Figur als eine Art Allegorese des Geschehen- und Gewährenlassens Thomas Mann, seine angesichts der nationalen Kraftanstrengungen unter erheblichen Legitimationsdruck geratene Position des »Unpolitischen« zumindest ästhetisch zu plausibilisieren. Er beugt sich, er fügt sich, er will dem Lauf der Dinge nicht wehren – und kann zugleich das widersprüchliche, zögernde Verharren und Zurückbleiben als urdeutsche, erzromantische Tugend feiern. Was verschlägt es da, wenn seine Kriegsapologetik den Kampf für eine verlorene Sache betreibt? »Ein Künstler«, so insistieren die Betrachtungen, »bleibt bis zum letzten Hauch ein Abenteurer des Gefühls und des Geistes, zur Abwegigkeit und zum Abgrunde geneigt, dem Gefährlich-Schädlichen offen« (B 438). Allein so, unter der Flagge des Taugenichts, eines Helden nutzloser Streifzüge weit ins Abwegige und Abgründige hinein, konnte sich der Schriftsteller selbst zwischen die Reihen begeben.

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»Grausig! Gewaltig! Groß!« Vitalistische Kriegskonzeptionen bei Stadler und Stramm

»Kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte«,1 schrieb Hugo Ball in seiner Kritik der deutschen Intelligenz. Damit zielte er nicht nur auf die Hoffnungen und Sehnsüchte der wilhelminischen Intelligenz nach Revolution, nach einem tiefgreifenden Umbruch und Erneuerung, die dann spätestens im August 1914 in einer insbesondere von vielen Literaten und Künstlern getragenen Kriegseuphorie kulminierte.2 Wie wurden aus kultivierten ichsüchtigen Ästheten Politiker und Volksanbeter, um die Worte Wilhelm Herzogs zu paraphrasieren?3 Auch wenn sich dieser Bewusstseinswandel nicht kausal und stringent erklären lässt, so sei im Folgenden dennoch in aller Kürze ein wenig Ursachenforschung betrieben, wieso insbesondere viele Künstler des Expressionismus – der bis heute noch oftmals als genuin pazifistisch apostrophiert wird4 – den Krieg heraufbeschworen. Bei dem Versuch der Beantwortung dieser Frage erweist sich ein Blick auf die politisch-gesellschaftliche Konstellation im 1 Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern: Der freie Verlag 1919, S. 2. 2 Vgl. in diesem Zusammenhang Steffen Bruendel: Die Geburt der ›Volksgemeinschaft‹ aus dem ›Geist von 1914‹. Entstehung und Wandel eines ›sozialistischen‹ Gesellschaftsentwurfs. In: Zeitgeschichte-online. Thema: Fronterlebnis und Nachkriegsordnung. Wirkung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs. Mai 2004. Abrufbar unter http://www.zeitgeschichteonline.de/md=EWK-Bruendel (Stand: 16. 8. 2014). Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 2: Euphorie – Entsetzen – Widerspruch: Die Schriftsteller 1914–1918. Konstanz: Verl. am Hockgraben 1995, S. 13 weist darauf hin, dass die »positive Aufnahme des Krieges vom August 1914 durch die allermeisten deutschen Schriftsteller der Zeit und deren schlagartig gestiegenes Selbstbewußtsein« auf den »heftigen Kulturpessimismus der Vorkriegszeit« zurückzuführen ist. »In der Ära der technisch-industriellen Umwälzungen zur Regierungszeit Wilhelm II. waren Kunst und Literatur in eine tiefe Funktionskrise geraten.« 3 Vgl. Wilhelm Herzog: Klärungen. Kultur und Zivilisation. In: Das Forum (Februar 1915) H. 11, S. 554f. 4 Obwohl sich der Expressionismus im Verlauf des Krieges zu einer pazifistischen Sammlungsbewegung entwickelte, könne er keinesfalls von Beginn an als Antikriegsbewegung klassifiziert werden. Vgl. Michael Stark: Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 1982, S. 185–190.

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Deutschen Kaiserreich als hilfreich, die sich höchst widersprüchlich gestaltete. Auf der einen Seite erfuhr das Kaiserreich eine Militarisierung in bislang ungekanntem Maße: angefangen bei ritualisierten nationalen Militärparaden und -aufmärschen, deren Funktion darin bestand, der Öffentlichkeit eine wehrbereite Nation in Waffen vorzuführen, über die immer stärker an Bedeutung gewinnende Zelebration der eigenen Nationalgeschichte bis hin zur Begeisterung von Wilhelm II. für soldatische Schönheit, die sich in Form der Einführung von Uniformen in vielen Berufs- und Lebensbereichen niederschlug.5 Dieser wachsende Nationalismus war zudem an die imperialistischen Bestrebungen Deutschlands gekoppelt, dem Wunsch nach dem Platz an der Sonne.6 Neben diesen Formen der Militarisierung trat das konstitutionell monarchisch organisierte Deutsche Reich auf der anderen Seite nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 in eine über vier Jahrzehnte anhaltende Epoche des Friedens ein. Eines Friedens, dessen Georg Heym bereits vier Jahre vor Ausbruch des Krieges überdrüssig war : Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.7

Heyms Wünsche sowie sein Ekel vor dem Frieden spiegeln die Stimmungslage vieler deutscher Expressionisten wider, einer Generation von Zwanzigjährigen, die, wenn auch nicht durch eine gemeinsame Schule, so doch von einer vagen und nicht konkretisierten Sehnsucht nach Aufbruch und Revolution ergriffen und geeint wurde.8 Ihre Kritik richtete sich gegen Wissenschaft zum bloßen 5 Vgl. hierzu Jakob Vogel: Nationen im Gleichschritt. Der Kult der ›Nation in Waffen‹ in Deutschland und Frankreich, 1871–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 42–92 sowie Ralf Georg Bogner : Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt: WBG 2005, S. 31. 6 Das mittlerweile in den Status eines geflügelten Wortes erhobene Zitat stammt von dem Reichskanzler Bernhard von Bülow. In seiner Funktion als Außenminister verkündete er im Jahr 1897: »[W]ir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« (Bernhard von Bülow: Platz an der Sonne. In: Die deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Abrufbar unter http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=783& language=german – Stand: 22. 7. 2014). Zu den deutschen Kolonialbestrebungen vgl. etwa Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 2005 sowie Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. München: C. H. Beck 2008. In diesem Kontext maßgeblich ist nach wie vor Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. München: C. H. Beck 1995. 7 Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Bd. 3. Hg. von Karl Ludwig Schneider. Hamburg, München: Ellermann 1960, S. 138f. 8 Auch Ernst Stadler, um den es im Folgenden u. a. gehen wird, hat sich selbst nie offiziell zum Expressionismus bekannt. Der Expressionismus gilt somit weniger als eine bestimmte Schule,

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Selbstzweck, Technisierung und Rationalismus sowie gegen die moderne Zivilisation und Gesellschaft. Die modernekritische Haltung vieler Expressionisten fußte dabei auf Nietzsches Gesellschafts- und Ideologiekritik, die somit zur wichtigsten Voraussetzung für die expressionistische Kritik avancierte.9 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestätigte die Expressionisten in ihrer Zivilisationskritik und in ihrer Wahrnehmung, dass die abendländische Rationalität an ein Ende gekommen sei. Der als die Langeweile sprengendes Abenteuer herbeigesehnte Krieg wurde als neue Erlebnisquelle hypostasiert, als Ereignis schöpferischer Neuerung. Doch mit der Realität der zermürbenden Materialschlachten, die ab 1916 im Stellungskrieg erfolgten – wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass sich der Expressionismus bereits ab 1915 als »pazifistische Antikriegskunst« verstand10 – hatte diese Inszenierung des Krieges als kulturrevolutionäres Ereignis nichts gemein. Er blieb vielmehr Metapher, als dass er in der sozialen und politischen Tatsachenwirklichkeit fußte. Somit war der militante Aufbruch auch nicht auf ein konkretes Ziel ausgerichtet, sondern, wie Gunter Martens es formuliert, bereits in sich Erfüllung.11 Die Grundlage der expressionistischen Sozial- und Kulturkritik bildete der Vitalismus. Der Begriff des Vitalismus stammt ursprünglich aus der Philosophie, genauer : aus der Naturphilosophie, wo er ganz »im Gegensatz zur mechanischen Kausalität Darwins eine nach physikalischen Gesetzen nicht erklärbare Autonomie der Lebensvorgänge aus der Beobachtung organischer Entwicklung abzuleiten sucht«.12 Die diesem Begriff inhärente Zentralstellung des Phänomens ›Leben‹ resultiert in der Verherrlichung vitaler Kräfte, der Tat und der Jugend. ›Leben‹ erweist sich als das Grundwort der Dichtung um 1900,

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sondern vielmehr als eine Bewegung, von der eine ganze Generation ergriffen wurde. Vgl. Wolfgang Paulsen: Deutsche Literatur des Expressionismus. Mit einem Geleitw. von Horst Denkler. 2., überarb. Aufl. Berlin: Weidler 1998, S. 111. Vgl. Hans Ester : Nietzsche als Leitstern der Expressionisten. In: Ders. u. Meindert Evers (Hg.): Zur Wirkung Nietzsches. Der deutsche Expressionismus. Menno Ter Braak, Martin Heidegger, Ernst Jünger, Thomas Mann, Oswald Spengler. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 99–112, hier S. 105. Zu Nietzsche als erkenntnistheoretische Voraussetzung des Expressionismus vgl. Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper : Expressionismus. 5., verb. Aufl. München: Fink 1994, S. 95 u. 134–143. Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar : Metzler 2002, S. 136. Weiter heißt es dort: »Die Kriegsbegeisterung der jungen Künstler« endete spätestens ein Jahr nach Ausbruch des Krieges. »Desillusioniert wurden sie unter anderem durch die mit tradierten Kriegs- und Heldenvorstellungen nicht mehr übereinstimmende Realität der Materialschlachten, durch die Zerstörungskraft der neuen Kriegstechniken, durch das Massensterben an der Front und die vielen Gefallenen gerade auch in den eigenen Reihen.« Vgl. Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart: Kohlhammer 1971, S. 163. Ebd., S. 15.

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als ihr Zentralbegriff, und erfährt eine Absolutsetzung.13 »Die Gesinnung, die zu dieser Heiligung des Lebens führt, und den vielfältigen Ausdruck dieser Gesinnung« bezeichnet Wolfdietrich Rasch als »Lebenspathos«, das »in der vehementen Diesseitigkeit, in einer polemischen Spannung gegenüber der herkömmlichen Daseinsorientierung am Jenseits« wurzelt.14 Die »Zugehörigkeit jeglicher Einzelerscheinungen, auch des Ich, zum Gesamtleben ist der Kern jener Vorstellung, die das emphatisch gesprochene Leben bezeichnet« und die sein Pathos motiviert.15 Der Begriff des Lebens stellt insbesondere für das Werk Nietzsches einen zentralen Bezugspunkt dar. Er inszeniert das Leben als »Wert an sich, der als der höchste Richter […] über das gesamte Tun und Lassen der Menschen urteilen darf und auch urteilen soll.«16 Nietzsches euphorische Verherrlichung des Lebens kann somit als geistesgeschichtliche Wurzel für den expressionistischen Vitalismus angesehen werden. Georg Luk‚cs zitiert in seinem Aufsatz »Größe und Verfall des Expressionismus« den Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, nach dessen Meinung sich der Expressionismus von dessen Beginn im Jahr 1910 an nicht über das Rationale, sondern über das Vitale legitimierte.17 Und auch der Schriftsteller Otto Flake sprach im Jahr 1915 davon, dass der Expressionismus, da er vom Körperlichen ausgehe, vitalistisch bedingt sei.18 Seine literarische Entsprechung findet der Vitalkult in der aggressiven Symbolik und Metaphorik des Krieges und des Kampfes der expressionistischen Dichtungen. Der unbedingte Wille zur Erneuerung erweist sich somit als das den Vitalismus konstituierende Motiv. Mit dieser Kriegssymbolik eng verbunden ist ein vitalistischer Fruchtbarkeits- und Zeugungskult: Die Vorstellung des Lebens als Prozess des Werdens rückt den Vorgang der vitalen Erneuerung selbst und damit den Bereich der geschlecht-

13 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts.: Hain 1981, S. 18–48, hier S. 27. 14 Ebd., S. 29. 15 Ebd. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass sich Rasch vehement dagegen wehrt, das Lebenspathos mit dem Begriff des Vitalismus zu erfassen. Abgesehen davon, dass der Begriff des Vitalismus bereits eine biologische Determinierung erfahren habe, lege der Begriff »die Deutung nahe, daß es sich um eine Akzentuierung und besondere Hochschätzung der Vitalität, der kraftvollen, gesunden und lebensstarken Aktivität handle«, was eine »Simplifizierung« und »fatale Vereinseitigung« des Lebensbegriffs darstelle. Dieser Lebensbegriff zeichne sich vielmehr durch seine Totalität aus und umfasse somit auch »das Grausame, Gewissenlose, Zerstörende« (ebd., S. 29). 16 Ester : Nietzsche als Leitstern (Anm. 9), S. 105. 17 Vgl. Georg Luk‚cs: Größe und Verfall des Expressionismus [1934]. In: Ders.: Probleme des Realismus. 2., verm. u. verb. Aufl. d. »Essays über Realismus«. Berlin: Aufbau 1955, S. 146–183, hier S. 146. 18 Vgl. Otto Flake: Von der jüngsten Literatur. In: Die neue Rundschau 26 (1915) H. 9, S. 1276–1287, hier S. 1284.

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lichen Liebe automatisch in den Vordergrund.19 Der Terminus des Vitalismus fungiert insofern als Sammelbegriff für die die Literatur und Philosophie des einsetzenden 20. Jahrhunderts kennzeichnende Zentralstellung und Betonung des Lebens. Ernst Stadler und August Stramm, um die es im Folgenden gehen wird, teilen mehr als nur ihre elsässische Herkunft. Beide traten im August 1914 in das Kriegsgeschehen ein, beide fielen ihm zum Opfer. Während der Reserveleutnant Stadler bereits am 30. Oktober 1914 im Alter von 31 Jahren bei Zandvoorde südlich von Ypern fiel, kam der zehn Jahre ältere und in den Rang eines Kompanieführers erhobene Stramm rund ein Jahr später am 1. September 1915 vor Horodec, östlich von Kobry in Weißrussland ums Leben. In den nachfolgenden Ausführungen wird es um die Kriegsdarstellungen Stadlers und Stramms in ihren lyrischen Texten und privaten Aufzeichnungen gehen. Dabei wird der Beitrag der Frage nachgehen, inwiefern der Erste Weltkrieg von den beiden Autoren auch dann noch als Sinnbild für eine als kämpferische Zeitströmung erlebte neue Lebens- und Geisteskraft dargestellt wird, nachdem sie selbst aktiv in das Kriegsgeschehen eintraten. Während Stadler, vom Zug- zum Staffelführer ernannt, in den verschiedensten Gebieten wie im Elsass, an der Marne-Front in Frankreich sowie in Belgien im Bewegungskrieg eingesetzt wurde, nahm der Kompanieführer Stramm, dessen Regiment in Polen und Weißrussland zum Einsatz kam, auch am Stellungskrieg zwischen P¦ronne und Roye an der österreichisch-russischen Front teil. Als Textgrundlage dienen einerseits Stadlers Lyrikband Der Aufbruch20 sowie sein Kriegstagebuch,21 andererseits Stramms Gedichtband Tropfblut22 und der von der Front aus geführte Briefwechsel mit Herwarth Walden.23 Insbesondere Stadlers Kriegstagebuch sowie Stramms Briefverkehr mit Walden wurden von der Forschung bislang nur geringfügig beachtet. Dabei erweisen sich beide Texte als ergiebige Quellen in Bezug auf die Darstellung und Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, die sich, wie sich im Nachstehenden zeigen wird, sehr different gestaltet.

19 Vgl. Martens: Vitalismus und Expressionismus (Anm. 11), S. 97. 20 Ernst Stadler : Der Aufbruch [1914]. In: Ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe. Krit. Ausg. Hg. von Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider. München: C. H. Beck 1983, S. 115–185. Im Folgenden unter der Sigle DA und mit Seitenzahl. 21 Ernst Stadler : Kriegstagebuch. Vom 31. Juli bis 22. Oktober 1914. In: Ebd., S. 527–571. Im Folgenden unter der Sigle KT und mit Seitenzahl. 22 August Stramm: Tropfblut. Gedichte aus dem Krieg [1915]. In: Ders.: Das Werk. Hg. von Ren¦ Radrizzani. Wiesbaden: Limes 1963, S. 65–99. Im Folgenden unter der Sigle TB und mit Seitenzahl. 23 August Stramm: Briefe an Nell und Herwarth Walden. Hg. von Michael Trabitzsch. Berlin: Ed. Sirene 1988. Im Folgenden unter der Sigle BW und mit Seitenzahl.

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Schlagartige Ernüchterung: Ernst Stadler

Nachdem Stadler im Jahr 1904 seinen ersten Gedichtband mit dem klangvollen Titel Praeludien24 veröffentlicht hatte, widmete er sich für die nächsten Jahre zunächst ganz seinen germanistischen Studien: Erst promovierte er im Jahr 1906, zwei Jahre später habilitierte er sich. Stadler bekleidete Lehrstellen in Straßburg und Brüssel und wäre eigentlich, hätte der Krieg sein Vorhaben nicht durchkreuzt, an die University of Toronto nach Kanada gegangen. Vor diesem genuin akademischen Hintergrund fungiert Stadler als Beispiel für die Politisierung und »Militarisierung des geistigen Menschen«.25 Während sein Erstlingswerk noch ganz im Zeichen eines neuromantisch-impressionistischen Lebenskultes stand, eines Ästhetizismus im Sinne Georges und Hofmannsthals – einer Dichtung, »die den nährenden Mutterboden des Lebens immer mehr unter sich verloren hat, in der kein Ringen mehr ist und kein Drang, die […] immer mehr in toten Formeln erstarrt« –, sollte Der Aufbruch als Folgeband, der im Jahr 1914 publiziert wurde, die Dichtung erneut an das Erlebnis heranführen und mit den Inhalten der Wirklichkeit füllen.26 Anhand von Stadlers wohl am häufigsten rezipierten Gedicht »Form ist Wollust« lässt sich dies exemplifizieren: Form und Riegel mußten erst zerspringen, Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen: Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen. Form will mich verschnüren und verengen, Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen – Form ist klare Härte ohn’ Erbarmen, Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen, Und in grenzenlosem Michverschenken Will mich Leben mit Erfüllung tränken. (DA 138)

Über die Gedichtsammlung Weiß und Rot27 seines langjährigen Freundes Ren¦ Schickele schrieb Stadler im Dezember 1912: »[D]iese Gedichte […] wollen über das Artistische hinaus ins Leben selber greifen: erobern, bekämpfen, beglücken. Sie sind voll aktiven Drangs.«28 Am Beispiel dieser, die Programmatik von 24 Ernst Stadler : Praeludien [1904]. In: Ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe (Anm. 20), S. 55–100. 25 Max Hildebert Boehm: Die Militarisierung des geistigen Menschen. In: Der neue Merkur. Monatsschrift für geistiges Leben 2 (1915/16), S. 549–557, hier S. 549. Vor diesem Hintergrund sei erwähnt, dass keiner Berufsgruppe so viele Kriegsfreiwillige entstammten wie den Intellektuellen, insbesondere den Studenten. Vgl. Stark: Für und wider den Expressionismus (Anm. 4), S. 181. 26 Vgl. ebd. 27 Ren¦ Schickele: Weiß und Rot. Berlin: Verlag der weißen Bücher 1911. 28 Ernst Stadler : Ren¦ Schickele. In: Ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe (Anm. 20),

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Stadlers eigenem Schaffen widerspiegelnden Beurteilung zeigt sich die postulierte Korrelation von vitalistischer Hinwendung zum Leben und einer spezifischen Metaphorik und Symbolik des Krieges und des Kampfes, wie sie etwa sein Gedicht Der Aufbruch prägt: […] Aber eines Morgens rollte durch Nebellust das Echo von Signalen, Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war wie wenn im Dunkel plötzlich Lichter aufstrahlen. […] Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen, Feuer über Helm und Bügel, Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltenem Zügel. Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen, Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen. Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken. (DA 139)

Der destruktive Charakter der Schlacht wird hier zum Eigenwert erhoben, da »in der Vernichtung des Alten, des vorhergehenden Zustandes eben selbst der vitalistische Grundgedanke des fortwährenden Wechsels zum Tragen kommt.«29 Dieser Wechsel manifestiert sich bereits im Titel des Gedichtbandes: Die dem Aufbruch eingeschriebene Bewegung richtet sich gegen jedwede Formen des Stillstands und der Untätigkeit, wodurch die vitalistische Prägung des Bandes bereits im Vorhinein zum Ausdruck gebracht wird. Zudem sei darauf hingewiesen, dass die in dem Gedicht artikulierte vitalistische Aufbruchsbewegung an einen spezifischen militärischen Bewegungsakt, nämlich das Vorstoßen der Kavallerie, gekoppelt wird, was insbesondere anhand der Verse »Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen, […] Vorwärts, […] mit vorgehaltenem Zügel« veranschaulicht wird. Doch spätestens seit der Schlacht an der Marne vom 5. bis 12. September 1914, bei der der deutsche Vormarsch durch eine überraschende Gegenoffensive der Franzosen und Engländer gestoppt wurde, spielt die Kavallerieattacke für das weitere Kriegsgeschehen keine Rolle mehr. Der fortan ausgefochtene Stellungskrieg dekonstruiert somit die Reichweite der Stadlerschen Metapher, da der vitalistische Aufbruch im Sinne eines Umbruchs nicht länger an ein tatsächliches Aufbrechen, an ein Losreiten, gebunden ist.

S. 276–293, hier S. 291. Weiter heißt es dort: »Sie wissen, daß nicht das Schwelgen in Stimmungen und Träumen das Leben ausmacht, sondern Arbeit, Kampf, Aktivität. […] Das Feuer der politischen Passion ist in ihnen: der Kampf für die Freiheit, der Aufruhr gegen die Knechtung des Geistes, der Haß gegen autoritäre Privilegien, das soziale Mitleiden.« 29 Martens: Vitalismus und Expressionismus (Anm. 11), S. 163f.

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Darüber hinaus sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich der Akt des Aufbruchs in gewisser Weise auch auf die literarische Entwicklung Stadlers übertragen lässt: Auf seine »Stürmer Zeit« sowie eine »Phase des traumverlorenen Rückzugs«, wie sie durch die Praeludien eingeleitet wird, folgte der expressionistische Neuansatz seiner Lyrik.30 Das Vitale entfaltet sich bei Stadler allerdings nicht nur im Motivkomplex des Kampfes und der kriegerischen Tat, sondern auch in den Bereichen der Erotik und der Triebwelt, wobei das Triebhafte der menschlichen Ratio diametral gegenübergestellt wird.31 In den Dichtungen Stadlers, der seine eigenen militärischen Qualitäten in einem Eintrag seines Kriegstagebuchs als »nicht exorbitant« (KT 563) beschrieb, geraten die Schlacht bzw. der Krieg zur schwärmerischen Metapher. Diese Form der Kriegswahrnehmung wird auch durch Hans Naumann bestätigt, der in seinem Nachruf auf den elsässischen Dichter schreibt, Stadler habe vor dem Krieg die unerhörte Lust des Abenteuers überkommen, der Rausch des Waffenaufbruchs, der ihn aus der Öde der Alltäglichkeit gerissen habe.32 Doch wie verhält es sich mit dem realen Kriegsgeschehen? Wird der Krieg auch dann noch von ihm als vitales Ereignis schöpferischer Neuerung gefeiert, nachdem Stadler selbst darin involviert ist? Einen ersten Hinweis liefert der Anfang des Eintrags vom 31. Juli 1914, der das Kriegstagebuch eröffnet. Dort heißt es: Vorlesung am Vorabend abgesagt. Morgens Einkäufe: Revolver. Nachmittags gegen 3 Uhr verkünden Extrablätter den »drohenden Kriegszustand«. Aufregung in der Stadt. […] Treffe Fritz Meyer. Bedauert, daß es auch gegen die Franzosen geht. »Sentimentalitäten gelten jetzt nicht mehr« (KT 529).

Bereits diese wenigen Sätze vermitteln einen Eindruck vom Duktus der Stadlerschen Aufzeichnungen: In lakonischer Manier gestalten sie sich frei von jeglicher Stilisierung. Emotionen, zumindest die eigenen, werden bis auf wenige Ausnahmen völlig ausgespart und auch von jener Ästhetisierung und Glorifizierung des Krieges, wie sie seine Dichtungen prägt, ist nichts mehr zu spüren. Insgesamt wurden die Tagebuchaufzeichnungen sehr regelmäßig und dabei akribisch geführt. Sie enden am 22. Oktober 1914, acht Tage vor seinem Tod. Von Tatendrang und Abenteuerlust ist in den Eintragungen, die vom soldatischen Alltag berichten, keine Rede. Die Tage sind stattdessen von monotonen und oftmals als ziellos empfundenen Endlosmärschen geprägt, die lediglich unterbrochen werden von langen Stunden ungewissen Wartens. Stadler, an dessen 30 Vgl. ebd., S. 144. 31 Vgl. ebd., S. 154. 32 Vgl. Hans Naumann: Ernst Stadler. Worte zu seinem Gedächtnis. Berlin-Wilmersdorf: Meyer 1920, S. 24. Auch Tillmann Bendikowski: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten. München: Bertelsmann 2014 hat sich in seinem Sachbuch u. a. mit Stadlers Einstellung zum Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt.

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soldatischer Loyalität kein Zweifel aufkommt – seine Mutter versuchte immerhin, seine Verwendung als Dolmetscher zu erwirken –, gibt sich in seinen Aufzeichnungen als Chronist des Geschehens. So sucht er etwa immer wieder den Kontakt zur Zivilbevölkerung, sowohl zur französischen als auch zur deutschen, und schildert deren Eindrücke, wovon beispielsweise die beiden folgenden Einträge vom 10. und 16. August 1914 zeugen: Die Bevölkerung ist nett. Ich gehe mit dem Vicewachtmeister Krafft auf ein paar Augenblicke in s. Quartier, spreche mit den Leuten. Sie sind verängstigt, haben schon die Koffer gepackt. Wenn sie nur nicht von der Heimat fort müssen. Haß und Wut auf die Franzosen. In Paris »nur Lumpenpack« (KT 541f.). Notquartier soll bezogen werden. Es wird gegen die Türen geschlagen. In manchen Häusern kommen die Leute heraus. In einem 2 Männer und eine zitternde 84jährige Alte. »O mon Dieu, que je dois voir encore ce fl¦au.« Die Männer klagen über den Krieg: sie haben ihn nicht gemacht und wir haben ihn nicht gemacht. Manche klagen auch über die Mißverhältnisse in Frankreich: sie möchten deutsch werden! (KT 538)

Die in seinem Kriegstagebuch praktizierte Hinwendung zur Wirklichkeit geht einher mit einem überraschenden Maß an Emotionslosigkeit. Es scheint fast, als habe er sich jenen Ausspruch seines Freundes Meyer – »Sentimentalitäten gelten jetzt nicht mehr« – zum Motto gesetzt. In den gesamten Einträgen, die seinen fast dreimonatigen Kriegseinsatz dokumentieren, findet sich lediglich eine einzige unmittelbare Gefühlsbekundung des Verfassers, die sich direkt auf das Kriegsgeschehen bezieht: Während eines Einsatzes im Nordosten Frankreichs besucht Stadler ein Lazarett, über das er später notiert: Einer, dessen Gehirn ganz bloß liegt. Er lebt noch. Man trägt ihn gar nicht mehr zur Verwundetenstelle, sondern in ein gegenüberliegendes Haus: er hat doch nur noch ein paar Augenblicke zu leben. Das Grauenvolle des Krieges. Ich fühle mich schlecht. (KT 559)

Und dennoch: Stadler weicht nicht vor der Wirklichkeit des Krieges zurück, auch wenn seine Aufzeichnungen zumeist einer persönlichen Beurteilung des Erlebten entbehren, wie folgender Eintrag vom 22. August 1914 darlegt. Auf ihrem Vormarsch über Schäferhof und das Rehtal inspiziert Stadler ein Dorf in der Nähe des französischen Col du Hohlwasch, in dem zuvor ein heftiges Gefecht zwischen Franzosen und Deutschen stattgefunden hat: Ich gehe mit dem Hauptmann u. Poel ins Dorf. Zum ersten Mal zeigt der Krieg s. ganzes Grauen. Ein Trümmerhaufe. […] Schon auf d. Weg sind Pferdekadaver, aufgedunsen, mit vorgestreckten Hinterbeinen. […] Tote in Massen. Tornister, Hemden, Wäsche, Fleisch. Die Toten im Dorf meist den Kopf mit e. Tuch verhüllt. Nachher auch das nicht mehr. […] An den Leichen sind schon die Fliegen. (KT 544f.)

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Ottheinrich Hestermann wertet den von Stadler praktizierten style indirect libre sogar als Sklavensprache im Sinne Brechts: Ein Sprechen durch Bilder, Anspielungen und Zitate, ähnlich jener von Franz Pfemfert initiierten Rubrik Ich schneide die Zeit aus.33 Es sind die von Stadler schriftlich festgehaltenen Anekdoten, Erzählungen oder Aussprüche seiner Kameraden, die nicht nur einen Eindruck von seiner eigenen Haltung zum Krieg vermitteln, sondern diesen auch als Gesamtphänomen beschreiben. So heißt es etwa in dem Eintrag vom 3. August 1914: »Ein Jäger bringt die ›frohe Botschaft‹, daß in e. Grenzgefecht 57 Franzosen gefallen seien. Deutscherseits nur 2 Mann tot […]. Nachher erweist sich alles als Legende.« (KT 530f.) Durch die Markierung auf graphemischer Ebene mittels der Anführungszeichen wird die »frohe Botschaft« nicht nur als Fremdzitat ausgewiesen, sondern darüber hinaus auch als sarkastische Äußerung des Verfassers lesbar. Und auch in folgendem Eintrag flüchtet sich Stadler in den Sarkasmus, wenn es heißt: »C’est la guerre. Schon beginnen ein paar Menschenleben unwichtig zu werden.« (KT 532) Die seine Gedichte kennzeichnende vitalistische Kopplung von Leben und Krieg wird somit an dieser Stelle in einen diametralen Gegensatz verwandelt. Der soeben zitierte Eintrag benennt zudem eine wesentliche Erscheinungsform des Krieges, der sich den Soldaten in Gestalt von Gerüchten und Legenden präsentiert: »Allerhand Gerüchte über unser Reiseziel«, schreibt Stadler am 19. Oktober, »man munkelt von Verladenwerden« (KT 570). Die unzuverlässige Informationslage während des Krieges, das schnelle Aufkommen von Gerüchten und Gerede versetzt jedoch nicht nur die Soldaten in einen Zustand permanenter Ungewissheit, sondern stellt zugleich ein die Macht der Heeresführung destabilisierendes Moment dar, wie die von Stadler dokumentierte Anekdote über das Ableben des Offiziers Roeder von Diersburg belegt. Auf das unter den Soldaten kursierende Gerücht von dessen Selbstmord entgegnet die Führungsspitze, von Diersburg »habe sich infolge einer Unvorsichtigkeit beim Nachsehen des Revolvers in die Stirn geschossen. Nachher bestätigt sich die Nachricht vom Selbstmord: Fieberhafte Erregung, Nervosität sind die Ursachen.« (KT 535) In einem Eintrag vom 17. Oktober 1914, kurz vor seinem Tod, griff Stadler jene Anekdote erneut auf: Soldaten, deren Nerven durch das Gefecht so angespannt werden, daß sie irrsinnig geworden sind. […] Ein Unteroffizier, der mitten im Gefecht aus dem Schützengraben 33 Vgl. Ottheinrich Hestermann: Zu Ernst Stadlers Kriegstagebuch. In: Stadler : Dichtungen, Schriften, Briefe (Anm. 20), S. 801–805, hier S. 803. Die Rubrik »Ich schneide die Zeit aus« erschien in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion. Bei der Rubrik handelt es sich um eine Zusammenstellung unkommentierter Pressezitate und Zeitungsausschnitte, die eine Form der indirekten Kriegskritik darstellt. Zur Aktion vgl. etwa Ursula Walburga Baumeister : Die Aktion: 1911–1932. Publizistische Opposition und literarischer Aktivismus der Zeitschrift im restriktiven Kontext. Erlangen, Jena: Palm & Enke 1996.

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heraus- und auf d. Feind zuläuft: er wird natürlich zusammengeschossen. Zeitungsnachrichten von Soldaten, denen stundenlang das Bewußtsein schwindet, nachdem neben ihnen ein Geschoß eingeschlagen hatte. Nachher Nervenstörungen. (KT 569)

Gemäß der sich selbst auferlegten Rolle als Chronist dokumentiert Stadler den soldatischen Alltag und praktiziert auf diese Weise die bereits in seinen Gedichten geforderte Hinwendung zur Wirklichkeit. Seine psychische Verfassung hält er dabei weitestgehend unter Verschluss und flüchtet sich stattdessen in die Position eines neutralen Beobachters, der höchstens durch einen sarkastischen Seitenhieb ausfällig wird. Mit jenem vitalistischen Großereignis, als das der Krieg in seinen lyrischen Texten gefeiert wird, hat das in seinem Tagebuch skizzierte Kriegsgeschehen allerdings nichts mehr gemein. Während sich in seinen lyrischen Texten die Aspekte des Vitalen und des Realen zu einer »Einheit einer lebensvollen Wirklichkeit«34 verbinden, kann von dieser Verschmelzung in seinem Kriegstagebuch nicht mehr die Rede sein. Stadler wendet sich zwar in seinen Eintragungen der Wirklichkeit des Kriegsgeschehens zu, der Aspekt des Vitalen ist dabei jedoch vollständig getilgt.

2.

Affektive Ambivalenz: August Stramm

Bei August Stramm hingegen gestaltet sich dieses Verhältnis völlig anders. Im Gegensatz zu Stadler ist Stramm vor Kriegseintritt im Sommer 1914 in literarischer Hinsicht – abgesehen von einigen Veröffentlichungen im Sturm – noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten. Insgesamt lässt sich über seine dichterischen Anfänge nur sehr wenig sagen, zumal er seine früheren Werke allesamt vernichtet hat. Stramm, der sich bis zum Postinspektor hocharbeitete und zudem im Jahr 1909 zum Oberleutnant befördert wurde, verkörpert den »›tüchtigen‹ Beamten und fürsorglichen Familienvater wilhelminischer Provenienz«.35 In seiner Existenz als Postbeamter und Offizier, so Thomas Anz, seien die Bürokratisierungstendenzen und Disziplinierungstechniken des Zivilisationsprozesses exemplarisch vereinigt.36 Wie widersprüchlich seine dichterische Tätigkeit auf sein Umfeld gewirkt haben muss, beschrieb später seine Tochter Inge:

34 Martens: Vitalismus und Expressionismus (Anm. 11), S. 159. 35 Wolfgang Delseit: Nachwort. In: August Stramm. Lesebuch. Zusammengestellt u. mit einem Nachw. von dems. Köln: Nyland-Stiftung 2007, S. 132–143, hier S. 136. 36 Vgl. Thomas Anz: Hunger nach Leben. August Stramm und der Expressionismus. In: Lothar Jordan (Hg.): August Stramm. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Bielefeld: Aisthesis 1995, S. 53–60, hier S. 60.

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Über Papa war das Dichten plötzlich gekommen wie eine Krankheit, etwa im Jahr 1912. Und es kam nur etwas dabei heraus, […] das keiner von dem Herrn Doktor je erwartet hatte! Und die nächsten Verwandten schon gar nicht. Sie begannen Mama in den Ohren zu liegen, sie möge einmal einen Nervenarzt zu Rate ziehen.37

Doch erst die Begegnung mit Herwarth Walden im Frühjahr 1914, aus der sich eine tiefe und innige Freundschaft ergeben wird, scheint seiner Dichtung endlich die gewünschte Richtung zu geben. Stramm, über den es heißt, er sei den Weg des Expressionismus am konsequentesten zu Ende gegangen,38 entwickelte sich in der Folgezeit zum tonangebenden Vertreter der Wortkunst im Sturm. Seine Texte erhielten allerdings nicht ausschließlich positiven Zuspruch, wovon jenes Spottgedicht zeugt, dessen Verfasser wohl nicht wusste, dass Stramm bereits in das Kriegsgeschehen gezogen war : Oh Au gust! Du bist das größte schaffende dichterische Genie des Jahrhunderts. 14 Tage Schützengraben würden dich kurieren.39

Im Kontrast zu Stadler, dessen Band Der Aufbruch vor seinem Kriegseinsatz entstand, verfasste Stramm die in Tropfblut versammelten Gedichte während seines Kriegsdienstes. Die Gedichte und seine Kriegserlebnisse, wie sie in den vielen an Walden und dessen Frau gerichteten Briefen beschrieben werden, können sich somit gegenseitig erhellen. Obwohl Stramm in der Zeit seines gut einjährigen Kriegseinsatzes mit weiteren Personen in postalischem Kontakt 37 August Stramm: Dein Lächeln weint. Gesammelte Gedichte. Hg. von Inge Stramm. Wiesbaden: Limes 1956, S. 9. 38 Vgl. Paulsen: Deutsche Literatur des Expressionismus (Anm. 8), S. 137. 39 Anonym: Die Mücke. In: Der Sturm. Halbmonatsschrift für Kultur und die Künste 6 (1915) H. 17/18, S. 99.

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stand, können die Briefe an Walden40 sowohl aufgrund ihrer Häufigkeit als auch wegen ihrer Ausführlichkeit und schonungslosen Direktheit als eine Art Tagebuch-Ersatz verstanden werden. Stramm erweist sich als unwissend bis indifferent in Bezug auf die politische Situation des neuen Jahrhunderts, so dass ihm die Ursachen und Hintergründe des Krieges verschlossen bleiben.41 Seinen Briefen legt er immer wieder neue Texte, Gedichte und sogar ganze Dramen bei, beschreibt mehrmals die eigene dichterische Produktionssituation im Krieg, wovon die folgenden Beispiele zeugen: »Ich platze von Werken. Reifen. Reifen. Wenn? Was ist Zukunft? Nur die Gegenwart lebt.« (BW 36) Oder auch: »Es kreist noch so viel ungeborenes in mir daß ich nicht sterben kann.« (BW 44) An einer anderen Stelle spricht er davon, mit unzähligen Keimen schwanger zu sein, die er in Ruhe ausreifen und gebären möchte (vgl. BW 80). An einer weiteren Stelle heißt es: »Und wenn mich das Mißtrauen überfällt und würgen will dann wappne ich mich mit meinen ungeborenen und doch schon gezeugten Werken!« (BW 64) Diese Fruchtbarkeitsmetaphorik kann dem Diskurs des Vitalismus zugeordnet werden.42 Die Bilder des Zeugens und Gebärens gehören einer umfassenden Kritik des Vitalkultes an, die sich gegen die als philiströs-moralisch empfundenen Sexualverhältnisse richtet. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Vorstellung vom Leben als autarkem Prozess des Werdens den Vorgang der vitalen Erneuerung und somit den Bereich der Sexualität automatisch in den Fokus rückt. Gewalt und Sexualität werden dabei als jene Bereiche stilisiert, in denen sich die Macht des Lebens am deutlichsten artikuliert. In den Texten Stramms wird die kriegerische Gewalt dabei immer wieder sexualisiert,43 wie etwa in dem Gedicht »Triebkrieg«: Augen blitzen Dein Blick knallt auf Heiß Läuft das Bluten über mich Und Tränket Rinnen See Du blitzt und blitzest. 40 Zur Entstehung des Briefkonvoluts sowie zur Beziehung zwischen Stramm und Walden vgl. Michael Trabitzsch: Nachwort. In: Stramm: Briefe (Anm. 23), S. 88–110. 41 Vgl. ebd., S. 106. Jeremy Adler : »Kämpfen, Wirren, Stürmen«. Bemerkungen zu Stramms Biographie im Kriege und zur Entstehung seiner Werke. In: Jordan (Hg.): August Stramm (Anm. 36), S. 7–44, hier S. 26 insistiert hingegen, dass Stramm keinesfalls apolitisch oder politisch ahnungslos gewesen sei. Insbesondere am Beispiel des Gedichts »Werttod«, dem eine geschickt versteckte politische Haltung eingeschrieben sei, versucht er, den Texten Stramms eine politische Brisanz zuzuschreiben. 42 Vgl. ebd., S. 24. 43 Vgl. auch Anz: Hunger nach Leben (Anm. 36), S. 59.

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Lebenskräfte Lodern Moder wahnet um Und Stickt Und Stickt. (TB 84)

Obwohl Stramm den Krieg auf der einen Seite zur Quelle seiner dichterischen Inspiration erhebt, sieht er sich auf der anderen Seite mit der Situation konfrontiert, angesichts der Übermacht und Beispiellosigkeit des Kriegsgeschehens in Sprachlosigkeit zu verfallen, das Erlebte nicht länger sprachlich verarbeiten bzw. überhaupt artikulieren zu können: »Zum fürchten war alles zu furchtbar. Aber ein Grauen ist in mir ein Grauen ist um mich wallt wogt umher, erwürgt verstrickt, es ist nicht mehr rauszufinden. Entsetzlich. Ich habe kein Wort. Ich kenne kein Wort.« (BW 48) Zwei Briefe, die Stramm beide jeweils am 17. Mai 1915 verfasste, veranschaulichen die Diskrepanz seiner Situation: Während er in dem ersten Brief davon berichtet, Entsetzliches durchlebt zu haben und nicht schreiben zu können, legt er dem zweiten ein Gedicht bei mit der Anmerkung: »Stoffmangel wird nicht eintreten.« (BW 74) Dieser Zustand der Ambivalenz erweist sich als grundlegend in Bezug auf Stramms Einstellung zur Kriegsrealität. Denn sowohl die Briefe als auch seine Kriegsgedichte gestalten sich keineswegs kriegskritisch. Sie zeugen vielmehr von einer Faszination für den Krieg bei gleichzeitiger Ablehnung desselben: »Es bäumt sich alles in mir dagegen und doch fühle ich mich hingezogen« (BW 34), schreibt er am 14. Dezember 1914. Als »Grausig! Gewaltig! Groß!« (BW 75) schildert er das Kriegsgeschehen, als »stolzes göttliches Grausen« (BW 38). Mehrmals kritisiert er die Kriegsberichterstattung der Zeitungen, die er als »Lügengeschmiere« (BW 59) bezeichnet, als »Entweihung alles Gewaltigen und Großen« (BW 59), das man im Krieg durchlebe: »Wenn ich hier einen Kriegsberichterstatter in die Finger käm, ich hing ihn an den Beinen auf nur ein paar Stunden, damit er die Welt auch mal anders säh« (BW 59), vermerkt er am 7./8. März 1915. Insbesondere in den Briefen konzipiert Stramm den Krieg als Ereignis vitaler Erneuerung, als Vorbote eines nicht näher spezifizierten Kommenden, auf das all seine Hoffnungen gerichtet sind: »Aber das ist Leben«, notiert er im April 1914, »[u]nd doch sehne ich mich immer nach etwas anderm ganz anderm Leben. Mir kommt immer alles vor wie Vorstudie zum Leben und ich lebe in einer dämmernden Erwartung und Spannung von Kommendem.« (BW 29f.) Fast ein Jahr später, am 12. Januar 1915, hält er fest: »[W]ie ich mich fühle unendlich arm und machtlos und doch voll wirbelnder Kraft, daß ich eine Welt zertreten könnte und möchte.! Ja möchte! Und wieder aufbauen.« (BW 41) Obzwar Stramm dem Kriegsgeschehen insgesamt ambivalent gegenübersteht, zeugen die soeben zitierten Aussprüche

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von einer durchaus als positiv zu bezeichnenden Kriegswahrnehmung. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt hierbei die Einbindung in die Masse der Soldaten, die Kraft, die der bis zur Selbstaufgabe pflichtbewusste Stramm aus der Loyalität seiner, wie er sie nennt, »Jungen« (BW 83) zieht.44 Adler weist darauf hin, dass sich die militärische Führungsposition, die Stramm als Offizier innehatte, sogar in der Perspektive seiner Kriegsgedichte widerspiegle, da der lyrische Sprecher seiner Gedichte dem Kriegsgeschehen unmittelbar gegenüberstehe.45 Und dennoch – bei aller, vorsichtig formuliert, Ehrfurcht, die Stramm dem Krieg entgegenbringt, war er sich dessen Tragik und Unmenschlichkeit zu jeder Zeit bewusst. »Hast Du schon mal einen Fleischerladen gesehen, in dem geschlachtete Menschen zu Kauf liegen«, so Stramm an Walden am 14. Februar 1915, und dazu stampfen mit ungeheurem Getöse die Maschinen und schlachten immer neue in sinnreichem Mechanismus. […] Schlächter und Schlachtvieh. Und schwarze Teufel stampfen allenthalben urplötzlich aus dem Boden die Schlächtergesellen die Granaten. und schwefelgelb laufen dazwischen für die Kleinarbeit die Schrapnells, geschäftig hin und her. Und die kleinen Wiegemesser zischen und klippen unaufhörlich dazwischen geschäftig, eilig, heftig, das Gewehrfeuer. (BW 48f.)

Neben der Anthropomorphisierung der Kriegswerkzeuge, aus der die Technikund Maschinenkritik des Expressionismus spricht, wird der Krieg hier insbesondere in seiner akustischen Qualität dargestellt, ein Phänomen, das sich auch als kennzeichnend für seine Lyrik erweist, wie etwa anhand jener Wiederholung und Variation von Klangwerten in dem Gedicht Granaten veranschaulicht: Klappen Tappen Wühlen Kreischen Schrillen Pfeifen Fauchen Schwirren Splittern Klatschen Knarren Knirschen Stumpfen Stampfen […]. (TB 94)

In syntaktischer Hinsicht steht das Wortmaterial, Granatsplittern gleich, lose und unverbunden nebeneinander ; die Kohärenz der Verse wird hier somit nicht auf semantischer, sondern auf klanglicher Ebene hergestellt. Anhand des Gedichts soll veranschaulicht werden, dass es zwar durchaus Augenblicke gibt, in denen der Krieg zumindest in visueller Hinsicht ausgeblendet werden kann, in seiner klanglichen Dimension hingegen verfolgt er die Soldaten unablässig. Als Reaktion auf die Permanenz der Geräuschkulisse entwickelt Stramm sogar eine Art Kultur- bzw. Überlebenstechnik, die ihn dazu befähigt, Granaten und 44 Als Beispiel für das Verhältnis zwischen dem Kompanieführer Stramm und seinem Regiment dienen die Briefe vom 28. 3. (BW 66), 29. 4. (BW 69) sowie vom 18. 8. 1915 (BW 83). 45 Vgl. Adler : »Kämpfen, Wirren, Stürmen« (Anm. 41), S. 7.

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Schrapnelle allein anhand ihres Klanges differenzieren zu können. Beschreibungen wie »die Luft kichert höhnisch« (BW 25), »vorne platzen die Granaten kichernd« (BW 45) oder auch »Schrapnells entbehren nicht einer gewissen Lustigkeit, so etwas Prickelndes« (BW 73) vermitteln zudem einen Eindruck von Hysterie und Irrsinn, die bereits in dem Kriegstagebuch Stadlers zur Darstellung gelangten.46 Insbesondere der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart hat sich mit den Auswirkungen des Kriegsgeschehens auf die Psyche der Soldaten auseinandergesetzt, wobei das Trauma, das die Soldaten an der Front erlitten, vielfach mit dem Begriff des shell shock (Kriegszittern) beschrieben wird.47 Auch die geistige Verfassung Stramms scheint streckenweise stark angegriffen: Im Gegensatz zu Stadler beschreibt er nicht nur seine physischen, sondern insbesondere auch seine psychischen Befindlichkeiten sehr genau. Die Rede ist von einem Gefühl des drohenden Zerrissenwerdens, das ihm auf die Nerven schlage, von Nervosität und Überreizung sowie von psychischer Verrohung. Dabei befindet er sich in einem Zustand der innerlichen Zerrissenheit, der mit dem Begriff der Ich-Dissoziation erfasst werden kann: Es ist so unendlich viel Tod in mir Tod und Tod. In mir weints und außen bin ich hart und roh. Ich habe jemanden begraben, ich weiß nicht wo und wenn er sich doch mal regt, dann geb ich ihm eine Maulschelle und dann flattert er wieder in seinen Winkel. Es ist alles so widersprüchlich ich finde nicht durch das Rätsel. (BW 24)

Dieser Prozess der Aufspaltung des eigenen Ich in zwei widerstreitende Kontrahenten wird zudem am Beispiel der nachstehenden Notiz Stramms vom 14. Dezember 1914 veranschaulicht, wenn es heißt: »In mir kämpft alles. Es kommt nur darauf an was augenblicklich Oberwasser hat.« (BW 33) Die bereits thematisierte Ambivalenz lässt sich insofern auch anhand seiner psychischen Verfassung ablesen. Insgesamt steht Stramm dem Krieg äußerst zwiespältig gegenüber : Während er ihn einerseits zum revolutionären, endlich den gewünschten Umbruch herbeiführenden Ereignis erhöht und dabei auf das Vokabular des Vitalismus, wie etwa die thematisierte Fruchtbarkeitsmetaphorik, zurückgreift, nimmt er das Kriegsgeschehen andererseits auch in seiner ganzen 46 Vgl. als weitere Beispiele für die soundscape des Krieges, der Stramm täglich ausgeliefert ist: »Und ich wachte auf beim Knall einer Granate. Die Dinger seufzen wie kleine Kinder und schluchzen wie Mütter. Eigenartig. Ganz eigenartig. In den Bergen klang das ganz anders!« (BW 47) »Die Granaten kreischen hinter uns. […] Draußen brüllen die Kanonen.« (BW 53) »Und oben drauf klatscht es ununterbrochen.! Klack! Klack! Scht. summ!« (BW 70) Zum Begriff der soundscape als Pendant zur landscape vgl. den Klangforscher R. Murray Schafer : Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Mainz: Schott 2010. 47 Vgl. paradigmatisch Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann (Hg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Pfaffenweiler : Centaurus 1996 sowie Hans-Georg Hofer, Cay-Rüdiger Prüll u. Wolfgang U. Eckart (Hg.): War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914–1939). Freiburg/Br.: Centaurus 2011.

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menschenverachtenden Dimension wahr. Dennoch verfällt er angesichts des massenhaften Sterbens, des Grauens sowohl um ihn herum als auch in ihm nicht in Stagnation. Bis zuletzt hält er an den Hoffnungen fest, die er in den Krieg setzt, wie sein letzter Brief an Walden vom 25. August 1915 demonstriert: »Ach, Kinder, wenn wir erst mal wieder dort sind und Frieden ist und wir die Sicherheit des Schaffens haben was soll das für eine Zeit werden für uns alle! Märchenhaft! Traumhaft!« (BW 85)

3.

Schlussbemerkungen

Im Gegensatz zu Ernst Stadler, dessen Begeisterung für den Krieg nach dessen Ausbruch schlagartig verebbt – Bendikowski weist darauf hin, dass Stadler seiner eigenen Beteiligung am Kriegsgeschehen äußerst angstvoll entgegenblickte, da ihm von einer französischen Wahrsagerin im Frühjahr 1914 prophezeit worden sei, dass er noch innerhalb desselben Jahres eines gewaltsamen Todes sterben würde,48 eine Drohung, die der Dichter anscheinend sehr ernst nahm – hält August Stramm verhältnismäßig lange an seinen ursprünglich in den Krieg gesetzten Erwartungen fest. Selbst nach neunmonatigem Kriegseinsatz ist er noch nicht desillusioniert, sondern steht dem Kriegsgeschehen nach wie vor ambivalent gegenüber, was über die bereits zitierte Sentenz »Grausig! Gewaltig! Groß!« zum Ausdruck gebracht wurde. Da es ihm nicht möglich ist, eine genuin kriegskritische Position zu entwickeln, insistiert Stramm auf seinem Gebot zur »bittere[n] Pflichterfüllung«.49 Insbesondere den Mitgliedern seiner Einheit gegenüber empfindet er ein sehr stark ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, so dass er sich wie ein »undankbar[er] und unwürdig[er]« »Verräter« (BW 83) vorkommt, als er zwischen etwa Ende Juni und Anfang August 1915 ihre Stellung in der Nähe von Brest-Litowsk verlässt und auf Urlaub nach Berlin reist. Stadler hingegen despektiert jene »blinden Draufgänger, die im Krieg die höchste Lust für den Soldaten sehen« (KT 531), wie er in einem Eintrag vom 3. August 1914, also bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn, festhält. Auch wenn er sich vor Kriegsausbruch nicht der vor allem von vielen Literaten geteilten Kriegseuphorie entziehen konnte, der faktische Beginn des Krieges und seine eigene Einberufung desillusionieren ihn abrupt. »Zu den größten Illusionen der zunächst so freudig gestimmten Zeitgenossen vom August 1914 gehörte« nicht nur die Vorstellung, der Krieg werde innerhalb kürzester Zeit ausgetragen,

48 Bendikowski: Sommer 1914 (Anm. 32), S. 169. 49 Fries: Die große Katharsis (Anm. 2), S. 129.

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sondern auch der Glaube, dass nur »eine große Schlacht […] die endgültige Entscheidung herbeiführen werde.«50 Und auch Stadler gibt sich zu Beginn seines Kriegsdienstes dem Wunschbild hin, dass der Krieg, wenn auch nicht in einer, so jedoch in einigen wenigen Schlachten ausgefochten werde, wovon ein Eintrag vom 8. August 1914 zeugt: »Vielleicht kommt es schon am nächsten Tag zu einer großen Entscheidungsschlacht« bei Mühlhausen. Einen Tag später notiert er : »Für uns wird die Schlacht bei Mühlhausen entscheidend sein. […] Abends kommen spärliche Nachrichten: Die eigentliche Schlacht wird erst am nächsten Tag beginnen.« (KT 536) Bereits wenige Tage später, am 20. August, immer noch an der elsässischen Front, betrachtet er den Entscheidungswert der einzelnen Kämpfe bereits realistischer : »Ob das wirklich die Entscheidungsschlacht geben wird? Wohl kaum.« (KT 543) Anstelle der alles entscheidenden Schlacht(en) wird Stadler in einen Stellungskrieg geworfen, der von unendlichen Positionswechseln und vom ermüdenden Auf- und Abprotzen der Geschütze gekennzeichnet ist. Während Ernst Stadler – über den seine Zeitgenossen sagen, dass auch er sich dem Wunsch nach Abenteuern im Krieg nicht entziehen konnte, so dass sein Gedichtband Der Aufbruch als Ausdruck jener kriegseuphorischen Stimmung gelesen werden kann – bereits unmittelbar nach seinem eigenen Eintritt in das Kriegsgeschehen ernüchtert, bewahrt August Stramm bis zu seinem Tod eine ambivalente Einstellung. Einerseits »seelisch furchtbar runter« (BW 78) steht er kurz vor dem Nervenzusammenbruch, andererseits glaubt er nach wie vor an den Sieg und ist unter keinen Umständen zur Aufgabe bereit. Stadler, dessen Aufbruch-Gedichte den Krieg vitalistisch stilisieren und ästhetisch überhöhen, verstummt für die Zeit seines eigenen Kriegseinsatzes in literarischer Hinsicht völlig – außer seinem Kriegstagebuch sowie einem übersichtlichen, von der Front aus geführten Briefverkehr liegen keine literarischen Texte aus der Zeit nach seiner Einberufung vor. Im direkten Vergleich dazu erweist sich Stramm in literarischer Hinsicht als umso produktiver : Die »Diskrepanz zwischen Dichtkunst und Realität« führt zu einem Versagen der bisherigen literarischen Ausdrucksformen und Darstellungsmittel.51 In der Konsequenz entwickelt Stramm die für seine Gedichte, insbesondere die in Tropfblut versammelten, so typische Verknappung. Vor allem in seinen Briefen greift er dabei auf das Vokabular des Vitalismus als Ausdruck jener Hoffnungen und Erwartungen zurück, die man vor 1914 in den Krieg setzte. Doch letztendlich differenziert der Krieg nicht zwischen seinen Opfern, egal, ob sie ihm vollkommen ernüchtert oder unentschieden-ambivalent gegenüberstehen.

50 Ebd., S. 96. 51 Ebd., S. 108.

Johannes Waßmer

»Freilich, mein Sohn, ich werde von dir erzählen, von den Kameraden und von dem, was wir erlebt haben.« Strategien des Dokumentarischen in Henri Barbusses Le Feu

Dort hockt ein Feldwebel, den Rücken an geborstene Bretter gelehnt, die zu einem Horchpostenstand gehören. Unter seinem Auge ist ein kleines Loch, ein Bajonettstich ins Gesicht hat ihn an die Bretter genagelt. An seiner Seite sitzt ein anderer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Fäuste am Hals: Der obere Teil seines Schädels ist abgeschlagen wie bei einem hartgekochten Ei … Neben beiden steht, ein schrecklicher Wächter, ein halber Mensch: vom Scheitel bis zu den Hüften gespalten, eine Hälfte lehnt an der Grabenwand. Wir können die andere Hälfte dieses menschlichen Postens nicht finden. Sein Auge ist herausgequollen, die bläulichen Eingeweide hängen spiralförmig um das Bein.1

Das ist die Wirklichkeit des Krieges in Henri Barbusses Ende 1916 erschienenem Kriegsroman Le Feu. Journal d’un escouade,2 der bereits 1918 in deutscher Übersetzung3 veröffentlicht wird. Die Soldaten vermögen angesichts solcher Bilder nicht mehr an Heldentum zu glauben, und auch der Krieg selbst wird im Roman angesichts der Erfahrungen im Schützengraben als das Gegenteil eines heroischen Kampfes erfahren:4 »Ein anderer stammelt, blutige Bilder vor Augen: ›Zwei Armeen im Kampf sind eine große Armee, die Selbstmord begeht.‹«5 (DF 6) Die bekannte jahrzehntelange pazifistische Rezeption des Romans liegt bei einer derartigen Darstellung und Verurteilung des Krieges im Allgemeinen nahe. 1 Henri Barbusse: Das Feuer. Hamburg, Berlin: Schwartzkopff 2007, S. 228. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle DF und Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. 2 Henri Barbusse: Le Feu. Journal d’une escouade. Paris: Êd. Flammarion 1916. 3 Henri Barbusse: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft. Übers. von Leo von Meyenburg. Zürich: Rascher 1918. 4 Vgl. u. a. das Schlusskapitel: »[D]er Soldatenruhm [ist] eine Lüge wie alles, das im Krieg nach Schönheit riecht. Die Wirklichkeit ist doch so: Verschwinde stillschweigend. Kaum einer von denen, die vorstürmen, wird dafür belohnt. Sie laufen in die entsetzliche Ruhmlosigkeit. Nie wird man ihre Namen, ihre bedeutungslosen, winzigen Namen wieder zusammenbringen können.« (DF 293) Ausführlich der Absage in Le Feu an einen am Vorbild der Antike geprägten Heroismus gewidmet hat sich Horst M. Müller : Studien und Miszellen zu Henri Barbusse und seiner Rezeption in Deutschland. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2000, S. 35 u. passim. 5 Vgl. zu diesem Zitat auch Horst M. Müllers Überlegungen, ebd., S. 82f.

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Dennoch wird Le Feu mittlerweile auch als national-propagandistische Sinngebung des Großen Krieges gelesen. Im Folgenden werden diese Funktionsprinzipien, die Le Feu als sowohl sozialistischen Überzeugungen wie nationalistischen Kriegsparolen verpflichteten Kriegsroman ausweisen, zunächst summarisch vorgestellt und begründet. Gerade die bisher kaum verhandelten Strategien des Dokumentarischen – insbesondere das daraus resultierende spannungsreiche Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität – haben, so meine These, maßgeblichen Anteil an diesen sich widersprechenden Lektüren des Textes. Wie Almut Lindner-Wirsching zutreffend feststellt, nimmt »die Bedeutung von Fakten und Fiktion bei der Wiedergabe von Kriegserfahrungen«6 bereits für die französischen Kriegsschriftsteller des Ersten Weltkriegs eine maßgebliche und kontrovers diskutierte Rolle ein. Vor diesem Hintergrund werden die autobiographischen Elemente in Le Feu, die Faktualitäts- und Fiktionalitätssignale und der Anspruch, den kleinen Soldaten im Großen Krieg dokumentarisch abzubilden, in den Blick genommen. Es wird gezeigt, dass Le Feu nicht nur widersprüchliche Lektüren zwischen Nationalismus und Pazifismus ermöglicht, sondern dass auch die Frage, ob im Roman faktual oder fiktional erzählt wird, nicht letztendlich entscheidbar ist. Aus diesem Befund entstehende Implikationen werden abschließend exemplarisch erörtert: Erstens werden die Folgen für die Verortung des Autors im literarischen Feld vorgestellt und zweitens wird die durch die Unentscheidbarkeit von Fiktionalität und Faktualität mögliche literarische Flucht vor einem »Absolutismus der Wirklichkeit«7 in den Blick genommen.

1.

Zwischen Pazifismus und Propaganda

Neben der im Roman geäußerten weltanschaulichen Kritik am Kapitalismus, dem Militarismus, dem Traditionalismus und der Religion (vgl. u. a. DF 291) haben vor allem die direkte Darstellung der Brutalität des Krieges und die Absage an jegliches soldatisches Heldentum zur jahrzehntelang fast ausschließlichen Rezeption des Textes als Antikriegsroman beigetragen. Der Erste Weltkrieg wird im Gegensatz zur Kriegspropaganda nicht oder kaum als ›Erlebnis‹ erzählt. Vielmehr wird er weltanschaulich uneingeschränkt verurteilt. Im Gegensatz zur national-imperialistisch geprägten öffentlichen Meinung wird die sozialistische Hoffnung verkündet, der Große sei ›vielleicht der letzte Krieg‹ (vgl. DF 7), gefolgt von einem internationalen »Aufstand der Völker der ganzen Welt« 6 Almut Lindner-Wirsching: Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 258. 7 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 16.

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(DF 294). Auch und gerade in Deutschland wird Barbusse als Vertreter des internationalen Pazifismus wahrgenommen. Er wird bereits 1919, ein Jahr nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung Das Feuer, in einer Reihe mit Fritz von Unruh und Romain Rolland genannt.8 Der Romanist Leo Spitzer versteht wiederum ein Jahr später Le Feu als einen »Gruss des oppositionellen Frankreich, das so verschieden ist von dem regierenden, an die Internationale der Geister«,9 beschreibt den Autor »als Dichter des Sozialismus«10 und bejubelt die »Abfassung eines pazifistischen Buches im Frankreich von 1915/6 [als] eine solche Tat des Mutes, dass man diese Gesinnungsleistung an sich bewunderte«.11 Auch deutschsprachige Schriftsteller lesen Le Feu großteils als pazifistischen Roman und stimmen ihm entweder so wie Hugo von Hofmannsthal zu, der Barbusse auf dessen Manifeste des intellectuels combattants franÅais antwortet: »Eure Worte kommen langerwartet und sie sind stark und kommen zur rechten Stunde. Wir nehmen begierig ihren Gehalt auf«.12 Oder sie lehnen wie z. B. Ernst Jünger den Roman aufgrund des pazifistischen Grundtons rundheraus ab: Gleich nach dem Kriege wurde die Öffentlichkeit mit einer Flut von Bekenntnissen überschüttet, von denen »Le Feu« von Barbusse den größten Lärm gemacht hat, die für sich in Anspruch nahmen, den Krieg in seinem tiefsten Wesen zu erfassen und die glaubten, ihn ablehnen zu können für jetzt und alle Zeit.13

Im Zuge dieser Rezeption des Textes – die mit der Intensivierung von Henri Barbusses eigenen politischen Tätigkeiten einhergeht, etwa der clart¦-Gründung – wird in den 1920er Jahren nahezu sein gesamtes Werk ins Deutsche übersetzt, es erscheinen Studien und Dissertationen.14 Bereits auf die clart¦-Gruppe, die eine ›Internationale des Geistes‹ zum Ziel hat, reagieren Intellektuelle wie Stefan Zweig, Heinrich Mann, Ren¦ Schickele, Upton Sinclair oder H. G. Wells sehr wohlwollend.15 8 Vgl. Walther Küchler : Romain Rolland. Henri Barbusse. Fritz von Unruh. Vier Vorträge. Würzburg: Verlagsdruckerei Würzburg 1919. 9 Leo Spitzer: Studien zu Henri Barbusse. Bonn: Cohen 1920, S. 1. 10 Ebd., S. 43. 11 Ebd., S. 1. 12 Hugo von Hofmannsthal: An Henri Barbusse, Alexandre Mercereau und ihre Freunde [1919]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 34: Reden und Aufsätze 3. Hg. von Klaus E. Bohnenkamp, Katja Kaluga u. Klaus-Dieter Krabiel. Frankfurt/M.: Fischer 2011, S. 226–228, hier S. 226. 13 Ernst Jünger: Der Krieg als inneres Erlebnis [1925]. In: Ders.: Politische Publizistik 1919–1933. Hg., komm. u. mit einem Nachw. von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 100–107, hier S. 101. 14 Vgl. etwa die nur auszugsweise gedruckte Dissertation von Hans Frerk: Henri Barbusse. Studien zu seiner Weltanschauung, seiner Persönlichkeit und seinen Beziehungen zur modernen Geistesbewegung auf Grund seiner Romane »L’enfer«, »Le Feu« und »Clart¦«. Auszug aus der Inauguraldissertation. Hamburg 1923. 15 Zu clart¦ vgl. den grundlegenden Aufsatz von Nicole Racine: The Clart¦ Movement in

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In den letzten Jahren rückt die Forschung jedoch die nationalen Tendenzen des Romans in den Vordergrund. Denn der Große Krieg wird ganz im Sinne der union sacr¦e als notwendiger Krieg erzählt. Dem deutschen ›Burgfrieden‹ vergleichbar lassen auch in Frankreich die politischen Parteien ihre »innenpolitischen Auseinandersetzungen vorübergehend ruhen« und einigen sich »auf den Minimalkonsens über die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung«, bevor die französische Öffentlichkeit ab 1917 bereits »abweichende Haltungen zum Krieg als verräterisch brandmarkte«.16 Dementsprechend konstatiert Horst M. Müller eine »ideologische Widerspruchsstruktur des Textes«, Le Feu sei »nichts anderes als die literarische Umsetzung gewisser Grundideen der ›Union sacr¦e‹«.17 Diese Ambivalenzen kämen vor allem auch durch unterschiedliche Rezeptionshaltungen der Leser zustande. Horst M. Müller schreibt dem Text neben der »pazifistischen Tendenz« auch »patriotische[s] Potential« zu und begründet die unterschiedlichen Lektüremöglichkeiten in erster Linie mit unterschiedlichen Rezeptionshaltungen, aus denen schließlich – folgt man Jan Mukarˇovsky´ – »völlig unterschiedliche ästhetische Objekte« resultieren.18 Zeitgenössische Leser werden nach der Lektüre von Le Feu zu Kriegsfreiwilligen, worüber Barbusse, der sich insgesamt »bereitwillig zu weiterer Kriegsagitation her[gab]«, nicht unglücklich war, wie er in einem Brief vom Oktober 1916 an seine Frau erklärt: »Je fais, je l’avoue, de la propagandre«.19 Die auch im europäischen Vergleich sehr strenge Zensur20 – die wohl schärfste in den kriegführenden Staaten – hat den Roman ohne Kürzungen zum Druck freigegeben, was ohne

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France, 1919–21. In: Walter Laqueur u. George L. Mosse (Hg.): Literature and Politics in the Twentieth Century. New York, Evanston: Harper & Row 1967, S. 187–200, bes. S. 188 u. 193. Später – 1921 – radikalisiert Barbusse die Gruppe im Sinne der Oktoberrevolution politisch. Vgl. allgemein zu clart¦ Michael Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten. Stuttgart: Kohlhammer 2000, S. 263, Fn. 59 sowie den (damals noch stark im Geist des Sozialismus verfassten) Beitrag von Horst M. Müller : Die Wirkung der Oktoberrevolution auf die ideologische Entwicklung von Henri Barbusse. In: Präsidium der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Oktoberrevolution und Wissenschaft. Berlin: Akademie 1967, S. 307–339. Lindner-Wirsching: Französische Schriftsteller (Anm. 6), S. 60–68, hier S. 62. Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 45. Ebd., S. 44–49. Henri Barbusse: Brief vom 26. 10. 1916. In: Ders.: Lettres de Henri Barbusse — sa femme 1914–1917. Paris: Êd. Flammarion 1937, S. 234. Er führt weiter aus: »J’ai la grande joie de constater combien tout ce que je dis sur l’internationale – cette grande remise au point de toutes les grandes id¦es morales en balayant les obstacles qu’apportent la routine, les partis pris, les idoles – trouve d’¦cho dans ces Þtres qui, comme ceux du Feu, ont fait la Grande Guerre avec leurs mains et sont les prol¦taires des batailles.« (Ebd., S. 234f.). Zur Zensur in Frankreich vgl. Olivier Forcade: Zensur und öffentliche Meinung in Frankreich zwischen 1914 und 1918. Aus dem Franz. übers. von Antje Peter. In: Wolfram Pyta u. Carsten Kretschmann (Hg.): Burgfrieden und Union sacr¦e. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933. München: Oldenbourg, S. 71–84.

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große Übereinstimmungen mit nationalen Zielen im Kriegsjahr 1917 kaum möglich scheint. Zuletzt wurde der Text von Eberhard Demm daher so scharf wie begründet als »nichts anderes als eine von der Zensur explizit unterstützte Durchhaltebroschüre« mit einer »pazifistischen Tünche«21 verurteilt. Dass Le Feu keineswegs von allen national gesinnten Franzosen als »Durchhaltebroschüre« aufgefasst wurde, zeigen die Reaktionen etwa von Ernest Lavisse, der in seinem »Appell aux FranÅais« den von ihm als Antikriegsroman gelesenen Text ebenso scharf kritisiert wie die Verleihung des Prix Goncourts – und auch in der Preisjury meldete sich in Person des nationalistischen Autors L¦on Daudet Widerstand gegen die Verleihung an Barbusse.22 Zudem wurde überzeugend darauf hingewiesen, dass sich Henri Barbusses politische Überzeugungen vom liberalen Intellektuellen und angehenden Sozialisten erst im Anschluss an den Krieg zum radikalen Pazifismus und schließlich zum Sozialismus und dann zum Kommunismus des Gründers der clart¦-Gruppe gewandelt haben.23 Michael Klepsch fasst Barbusses weltanschauliche Haltung zu Beginn des Weltkriegs wie folgt zusammen: Ebenso wie andere war Barbusse im August 1914 überwältigt von der nationalen Eintracht, welche die gespaltene Nation nach den langen inneren Auseinandersetzungen der Vergangenheit einte. Unter diesem Eindruck meldete sich der 41jährige, trotz schlechter Gesundheit, freiwillig zur Front. In einem Brief an den Direktor der sozialistischen »L’humanit¦« begründete er seine Entscheidung damit, daß in dem auszutragenden Konflikt die Sache Frankreichs mit derjenigen der Menschheit zusammenfalle. Wie in den ruhmreichsten Tagen ihrer Geschichte ziehe die französische Nation erneut für die Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit in den Krieg. Dieser stehe dabei keineswegs im Gegensatz zu den Zielen des Sozialismus. Ganz im Gegenteil. »Cette guerre est une guerre sociale qui fera faire un grand pas – peut-Þtre le pas 21 Eberhard Demm: Pazifismus oder Kriegspropaganda? Henri Barbusse Le Feu und Maurice Genevoix Sous Verdun/Nuits de Guerre. In: Thomas F. Schneider (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg/Der Erste Weltkrieg. Osnabrück: Rasch 1999, S. 353–374, hier S. 367f. Demm hat sich für seine Überlegungen ausführlich mit dem Briefwechsel und der Nicht-Zensur des Textes befasst. Vgl. in diesem Kontext auch Klepsch: Romain Rolland (Anm. 15), S. 219. Davon abgesehen gelang es auch trotz der in Frankreich sehr strengen Zensur überzeugten Pazifisten wie Romain Rolland, einzelne Schriften mit Einschränkungen zu publizieren oder in Oppositionskreisen zirkulieren zu lassen (vgl. ebd., S. 164). Klepsch bezieht auch die mögliche Wirkung der Publikation von Le Feu auf Oppositionskreise als begünstigenden Umstand für deren legale wie illegale Publikationstätigkeiten in seine Überlegungen mit ein und rekurriert dabei auf Colin GeneviÀve: Les ¦crivains et la guerre. In: Jean-Jacques Becker (Hg.): Les FranÅais dans la Grande Guerre. Paris: Laffont 1980, S. 153–167. 22 Interessant in diesem Kontext ist zudem die Kampagne der Zeitung Action franÅaise gegen Le Feu, die Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 60 verhandelt. 23 Vgl. beispielsweise Lindner-Wirsching: Französische Schriftsteller (Anm. 6), S. 41–50, bes. S. 41f.

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d¦finitif — notre cause. Elle est dirig¦e contre nos vieux ennemis inf–mes de toujours: le militarisme et l’imp¦rialisme. Le monde ne peut s’¦manciper que contre eux.«24

Mit dem Ende des Weltkriegs bezieht Barbusse gemeinsam mit vielen anderen Intellektuellen und Autoren pazifistische Stellung gegen Krieg im Allgemeinen. Barbusse unterzeichnet Rollands »Unabhängigkeitserklärung des Geistes«25 und gründet clart¦.26 Zwar stößt Barbusse in Frankreich wie in Deutschland mit seiner Gruppe auf reges Interesse, aber er zieht auch Kritik von Romain Rolland auf sich, der sich beschwert, Barbusses Einladungspolitik sei weit zu ›nationalistenfreundlich‹. Ganz bewusst lädt Barbusse ehemalige Nationalisten ein, um eine entsprechende Breitenwirkung auch außerhalb der pazifistischen Opposition während des Krieges erreichen zu können: »Il faut donc grouper les noms les plus brilliants«.27 Noch im Anschluss an den Ersten Weltkrieg erfüllt das Handeln von Barbusse im Kontext der clart¦-Gruppe weder die Erwartungen an einen überzeugten Pazifisten noch die an einen Nationalisten und entspricht darin den in der Forschung diskutierten Widersprüchen des zwei Jahre zuvor erschienenen Romans Le Feu: Einerseits formuliert Barbusse radikalsozialistische Vorstellungen und andererseits erweisen sich Roman und Gruppe als an (im Fall der clart¦ nicht mehr opportune) nationale Überzeugungssysteme anschlussfähig, etwa in der Feststellung eines der Soldaten: »Die Völker kämpfen heute, um keine Herren mehr zu haben, die sie leiten. Dieser Krieg müßte die Fortsetzung der Französischen Revolution werden« (DF 286). Demzufolge lässt sich der Roman, wie Olaf Müller konstatiert, als »eine Kippfigur« lesen: »aus der Perspektive vor 1918 als humanistische Durchhaltepropaganda, nach 1918 aber als Bestätigung, daß man sich auch im Angesicht der großen Kriegsmaschinerie seine Menschlichkeit bewahrt habe«.28 Die grundverschiedenen und einander anscheinend ausschließenden Lektüren von Le Feu entstehen jedoch nicht erst im Akt der Rezeption und werden nicht allein durch den historischen Kontext der Rezeption vor bzw. nach 1918 24 Klepsch: Romain Rolland (Anm. 15), S. 18; Barbusse zit. n. Annette Vidale: Barbusse et »Le Feu«. In: Europe 119/120 (1955), S. 46. 25 Romain Rolland: La D¦claration de l’ind¦pendance de l’Esprit. In: L’Humanit¦ vom 26. 6. 1919. 26 Zum Programm der clart¦-Gruppe vgl. Klepsch: Romain Rolland (Anm. 15), S. 263, Fn. 59. Racine: The Clart¦ Movement (Anm. 15), S. 196 betont in diesem Zusammenhang die Rolle des Ersten Weltkriegs in der pazifistischen Argumentation der Gruppe: »Clart¦’s principal source of reference was still the Great War, of which memories were fresh. The journal never missed an opportunity of denouncing the ›crime‹ and ›butchery‹ of 1914–18.« 27 Brief von Henri Barbusse vom 8. 4. 1919. BibliothÀque Nationale de France, zit. n. Klepsch: Romain Rolland (Anm. 15), S. 263. 28 Olaf Müller : Der unmögliche Roman. Antikriegsliteratur in Frankreich zwischen den Weltkriegen. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 2006, S. 89.

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begründet, sondern sind – so meine Grundannahme – bereits im Text sowohl auf der Ebene der histoire wie auf der des discours angelegt.29 Auf der Ebene der histoire wird ein geschichtsphilosophischer Dreischritt entwickelt, der den Weltkrieg als zu überwindende militaristische (Vor-)Hölle deutet, auf den dann die Erlösung vom Grundübel des Krieges erhofft werden könne. Darin entspricht auch Barbusse dem von Matthias Schöning für die deutsch-nationale Kriegsliteratur beschriebenen Dreischritt aus Krisenzeit, Zäsur und Aufbruch, in dem gerade die Schrecken des Krieges Sinngebungspotentiale entfalten: »Die Emphase der Zäsur ist auch ein kaschierter Versuch, Anschluss an die Geschichte zu finden und noch im Modus der Negation Kontinuität herzustellen.«30 Vor dem Hintergrund dieser Argumentation amalgamieren im Kampf für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nationale historische Identität und soziale Überzeugung zur union sacr¦e auch bei den französischen Intellektuellen. Mit Le Feu findet Barbusse nach Kriegsausbruch ein geschichtsphilosophisches Konzept, das eigene sozialistische Überzeugungen an den Krieg anschlussfähig macht, indem er »durch seine literarische Sinngebung des Krieges sowohl die Ideologie des französischen Imperialismus bediente als ihr auch gleichzeitig entgegenarbeitete«.31

2.

Von Zirkumflexen und Zuavenwaben

In Le Feu oszilliert das Erzähltempus des homodiegetischen Ich-Erzählers grundsätzlich zwischen Präteritum und Präsens, was in den zahlreichen Gesprächen und Gefechtssituationen den Eindruck einer Unmittelbarkeit der Kriegsereignisse verstärkt. Barbusse verzichtet auf exakte Ortsbezeichnungen und historische Daten und reiht die einzelnen Kapitel als Episoden mit unvermittelten und nicht kommentierten Zeit- und Ortssprüngen aneinander. Die entstehenden Leerstellen verunmöglichen einerseits den Verweis auf exakte historische Referenzpunkte, andererseits brechen sie über die lockere Reihung von Szenen die Textchronologie auf, wodurch der Leser unmittelbar mit den erzählten Kriegsereignissen konfrontiert wird, ohne sie exakt historisieren und rationalisieren zu können. Gleich zu Beginn des Romans schwebt die Galerie eines fiktiven »Luxussanatoriums« im Gebirge »gleichsam im leeren Raum und ragt über die Welt«. Die »klugen und gebildeten« Patienten haben »sich von den Dingen und vom Leben 29 Vgl. dazu den Überblick bei Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999, S. 22–26. 30 Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 20. 31 Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 45.

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fast schon gelöst und [stehen] der Menschheit so fern […], als seien sie schon ein Stück Nachwelt«. Abgesehen vom »Rascheln von Buchseiten«, einer »geflüsterte[n] Frage« oder einer »dreisten Krähe« gilt: »Schweigen ist hier Gesetz« (DF 5). Den ausgebrochenen Krieg betrachten diese stillen »Todgeweihten« (DF 7) als »größtes Ereignis der Gegenwart und vielleicht aller Zeiten«, bevor das »Getümmel« der ersten Schlachten vom »weiten, stillen Tal« als »wirre und düstere Fata Morgana« heraufdringt. Die Metapher der Fata Morgana korrespondiert mit dem Titel des ersten Kapitels »Vision« und bildet mit der kommunistischen »Vision« (DF 290) im Schlusskapitel »Morgendämmerung« (DF 272) den erzählerischen Rahmen. Die folgende Kriegserzählung kontrastiert das erste Kapitel; bereits die Erzählperspektive variiert: In der anfänglichen »Vision« wird noch nicht auf eine Figur, den Ich-Erzähler, fokalisiert, sondern auktorial erzählt. Im Sanatorium prägen Stille, reiner Geist, übernationale Identitäten und eine historische Perspektive von Zukunft und Vergangenheit die Existenz der sterbenden Begüterten. Im Krieg der weiteren Kapitel hingegen erleben die Soldaten eine Art Hobbesschen Naturzustand bzw. eine Höllenfahrt aus Dantes Inferno.32 Sie werden mit Todeskämpfen und Schlachtenlärm in als infernalisch beschriebenen Szenen konfrontiert und in der Schlussszene, die an die biblische Sintflut33 erinnert, werden im Schlamm Freund und Feind ununterscheidbar, nationale Identitäten gehen verloren und die Soldaten werden vollends zurückgeworfen auf das letzte, was ihnen bleibt: ihr Menschsein. Trotz dieser klar fiktionalen Textkonstruktion erhält Barbusse einen Faktualitätsanspruch aufrecht, der Roman dokumentiere die Wirklichkeit des Krieges. Der homodiegetische Ich-Erzähler vermittelt den Eindruck einer Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und erzählter Figur, auch wenn deren Name nicht explizit genannt wird. Diesen autobiographischen Pakt34 verstärken neben dem Untertitel Tagebuch einer Korporalschaft auch die Widmung »Dem Gedächtnis meiner Kameraden, / die an meiner Seite / bei Crouy und auf der Höhe 119 / gefallen sind« mit dem Signum »H. B.«. Sowohl die Gattungsbezeichnung ›Tagebuch‹ als auch die Widmung (die Autorinitialen H. B.; die Ortsangaben »Crouy« und »Höhe 119«) – auch wenn die Widmung nicht explizit 32 Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 85–99, hier S. 86 verweist mit Rekurs auf Luc Rasson darauf, dass die zahlreichen mythischen Bilder eine »danteske Lektüre des Feu ermöglich[en]«. 33 »Die grau glänzende Ebene mit ihren trüben Wasserflächen scheint […] aus dem Meer aufzutauchen. […] Das Wasser ist Herr über alles, hat sich überallhin ausgebreitet […]. Die Überschwemmung ist allgemein.« (DF 272). 34 Vgl. hierzu ausführlicher Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Hg. von Karl-Heinz Bohrer. Aus dem Franz. übers. von Dieter Hornig u. Wolfram Bayer. Frankfurt/M: Suhrkamp 1994 [1973/75].

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auf das erzählte Geschehen bezogen ist – steigern die Authentizitätserwartung des Lesers und den Dokumentaritätsanspruch des Erzählten. Dies geschieht sicher auch vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Autoren der Kriegsjahre – beispielsweise auch Walter Flex, Ernst Jünger und Ludwig Renn – über paratextuelle Signale sowie autobiographische Pakte dem Leser die eigene Kriegsteilnahme und ›Augenzeugenschaft‹ beglaubigten und sich selbst als mögliche Erzähler von Frontromanen autorisierten.35 In Frankreich entschieden sich dementsprechend Almut Lindner-Wirsching zufolge im Regelfall die Verfasser von Kriegsliteratur für die beschränkte Perspektive des Augenzeugen (»t¦moin«) […]. Gerade Schriftsteller wie Henri Barbusse und Maurice Genevoix […], sprachen sich in deutlicher Abgrenzung vom »bourrage de cr–ne« für ein dokumentarisches Schreiben, für eine möglichst original- und wahrheitsgetreue Wiedergabe persönlicher Eindrücke aus und sahen in der sprachlichen und literarischen Bearbeitung eine Verfälschung.36

Ähnlich wurden die Kriegsromane auch von der Kritik wahrgenommen: »Zivilisten wurden […] oftmals für außerstande gehalten, ein ›livre de guerre‹ zu verfassen«37 und der »offensichtliche Widerspruch zwischen der Erwartung des Authentischen und der Beliebtheit der Gattung ›Roman‹ wurde mit dem Hinweis auf den Dokumentcharakter der Werke aufgelöst oder ganz ignoriert«,38 wenngleich zumindest Barbusse selbst, und dies nicht ohne Widersprüche, auch die Literarizität der Darstellung bedenkt: »Le roman est la forme moderne du grand poÀme. C’est le poÀme simple et parfait, qui ressemble le plus fraternellement — la r¦alit¦«.39 So verhindert bereits die nicht fokalisierte Erzählhaltung im Eingangskapitel eine autobiographische Lektüre des gesamten Textes, obwohl die paratextuellen40 Signale deutlich »Wahrheit, oder zumindest Wahrhaftigkeit, der […] Lebenssituation implizier[en]«.41 35 Für den hilfreichen Hinweis zur Selbst-Autorisierung der Kriegsschriftsteller als berechtigt zum Erzählen vom Krieg aufgrund der Teilnahme an ihm danke ich Matthias Schöning. 36 Almut Lindner-Wirsching: Französische Kriegsliteratur, S. 4f. Abrufbar unter http://www. erster-weltkrieg.clio-online.de/_Rainbow/documents/einzelne/franzkriegsliteratur.pdf (Stand: 21. 7. 2014). 37 Lindner-Wirsching: Französische Schriftsteller (Anm. 6), S. 309. 38 Ebd., S. 303. 39 Annette Vidal: Henri Barbusse. Soldat de la paix. Preface de Marcel Cachin. Paris: Les Editeurs FranÅais R¦unis 1953, S. 86. Vidals Biographie ist bereits zwei Jahre nach Erscheinen in einer Übersetzung in der DDR erschienen: Annette Vidal: Henri Barbusse. Soldat des Friedens. Übers. von Herbert Bräuning. Berlin: Verlag Volk und Welt 1955. 40 Vgl. zum ›Paratext‹ G¦rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt/M., New York: Campus 1989. 41 Eric Achermann: Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 23–53, hier S. 27.

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Dementsprechend wird der Ich-Erzähler in der Forschung auch nicht vollständig mit Henri Barbusse identifiziert, obwohl die Figur des Ich-Erzählers entscheidende Aspekte der Person Henri Barbusse teilt: Der ältere Ich-Erzähler repräsentiert nicht nur Barbusses Überzeugungen, sondern erweist sich zudem als Schriftsteller, der den Krieg dokumentieren wird und sich dafür zahlreiche Notizen macht. Im Kapitel »Kraftausdrücke« (DF 142f.) sieht Barque, ein Kamerad der Korporalschaft, den Ich-Erzähler in sein Notizbuch schreiben und fragt: »Sag mal, du machst doch Bücher ; schreibst du später auch über die Soldaten und erzählst von uns?« »Natürlich, ich werde von dir erzählen, von den Kameraden und von unserm Leben.« […] »Wenn Du in Deinem Buch uns Grabenschweine reden läßt, läßt du uns dann auch so reden, wie wir es wirklich tun, oder frisierst du das? Ich meine wegen der Kraftausdrücke, die wir gebrauchen […]. Und wenn du es nicht sagst, dann stimmt doch das Ganze nicht […].« »Ich werde die Kraftausdrücke an die richtige Stelle setzen, Alterchen, weil das eine Wahrheit ist.« (DF 142)

Der hier formulierte dokumentarische Anspruch, Wahrheit und Wirklichkeit des ›Grabenschweins‹ Barque zu erzählen, wird jedoch bereits zu Beginn der Szene reflektiert: Barque sieht mich schreiben, Er kriecht auf allen vieren durchs Stroh zu mir und wendet mir sein aufgewecktes Gesicht zu, über das seine rote Clowntolle wie ein Komma herabhängt, und über seinen lebhaften kleinen Augen spielen seine Brauen wie zwei Zirkumflexe […]. (DF 142)

Die Analogisierung von Barques Gesicht mit Schriftzeichen lässt die Verweisstruktur der Szene in der Schwebe. Indem der Erzähler das Aussehen von Barque mit einem Komma und zwei Zirkumflexen vergleicht, unterläuft er den Anspruch auf reine Dokumentation von Wirklichkeit und erinnert, da die Stelle auch als Reifikation gelesen werden kann, an den Status der Figur – deren wirkliches Soldatenleben er zu erzählen verspricht – als fingiert bzw. an den materialen Status der Figur als Schriftzeichen. Dementsprechend betont Holger M. Klein, dass Le Feu dem zwar mit einer autobiographischen Basis versehenen, letztlich jedoch klar fiktionalen »Repräsentationstyp« des Kriegsromans entspreche.42 Neben der hier anzuführenden Gattungsbezeichnung ›Tagebuch‹ er-

42 Vgl. Holger M. Klein: Zur Typologie des Kriegsromans. In: Klaus Vondung (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestalt und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 210–214, hier S. 212. Klein konstatiert jedoch, »daß die zentralen Figuren solcher Romane fiktiv sind« und entfernt den

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hebt der Ich-Erzähler allerdings auch den Anspruch, den in der außerliterarischen Wirklichkeit andauernden Krieg zu dokumentieren: »Natürlich, ich werde von dir erzählen, von den Kameraden und von unserm Leben.« (DF 142) Einem ähnlichen Verweisprinzip folgen die vom Ich-Erzähler zahlreich verwendeten »Kraftausdrücke« der Soldaten: Der Erzähler möchte die einfache Soldatensprache im Großen Krieg nicht »frisieren«, sondern dokumentieren und die Worte verwenden, »wie wir [die poilus] es wirklich tun« (DF 142). Da werden Kameraden zurechtgewiesen mit einem »Laß nur, du Schneckenscheißer«, aufmerksam gemacht über die Wendung »He! Du Sandfloh!« (DF 40) und je nach Situation als »Hornochse« (DF 11), »Filzläuse« (DF 20) und »Nilpferde« (DF 22) tituliert. Implizit hinterfragen diese Metaphern die menschliche Identität der Soldaten: Nasen werden zur »Affenschnauze« (DF 11) oder zum »Wildschweinrüssel« (DF 52), eine Unterlippe »leuchtet […] wie eine Schnecke« (DF 224) und das gesamte Antlitz wird zum »Flohgesicht« (DF 27). Die »Kraftausdrücke« bilden in der Textlogik jedoch nicht nur die Sprache des einfachen poilus ab, sondern zeigen auf der Bildebene an, wie sehr im Großen Krieg das menschliche zum tierischen Habitat degeneriert. Ein Deserteur wird an einen »Viehpflock« gebunden, bevor er erschossen wird, auf den Straßen wabert »die stickige Luft eines Löwenkäfigs« (DF 53) und die Soldaten finden wahlweise in Scheunen (vgl. DF 46), Ställen (vgl. DF 47) oder gesteigert in Hundeställen (vgl. DF 73) Unterschlupf. Nur über das Animalische können Mensch und Schlachtfeld noch erzählerisch kohärent verknüpft werden, etwa in der Metapher der »Zuavenwaben« (DF 227) – die im Roman von französischen ›Zuaven‹ ausgehobene Schützenlöcher bezeichnen. Beleidigungen und Tiermetaphern haben somit eine doppelte Funktion und referieren einmal auf die – je nach Lesart auch außerliterarische – Wirklichkeit der Soldaten und erzählen andererseits in vergleichenden Bildern und in Metaphern von der zunehmenden Animalität der Frontsoldaten. Gerade weil der Ich-Erzähler den Anspruch erhebt, die Abbildung der Kraftausdrücke und der Degenerierung der Soldaten sei »Wirklichkeit« bzw. »Wahrheit«, entfaltet der Roman eine spezifische Ästhetik des Hässlichen bzw. Ekelhaften: Auf dem animalischen und zum Schluss vegetativen Schlachtfeld staken Körperteile und lehnen Leichen, »vom Scheitel bis zu den Hüften gespalten, an der Grabenwand« (DF 228). In seiner expliziten Darstellung des Leidens an der Front stellt Barbusse, folgt man der Typologie aus Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen (1853), »in reeller Weise das Ekelhafte, die Negation aller Schönheit der sinnlichen Erscheinung der Idee« in den Mittelpunkt seiner Darstellungsästhetik.43 Rosenkranz beschreibt das Ekelhafte mit repräsentierenden Roman vom stark autobiographischen »Privattyp« in Richtung des Zeitromans. 43 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen. Unveränd. reprograf. Nachdruck d. Ausg. Kö-

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direktem Bezug zu den Kriegen Napoleons sowie dementsprechenden Gemälden von Raffet und Gros in ganz ähnlichem Sinne: »Der Anblick des massenhaften Sterbens allein […] würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der von der göttlichen Freiheit des Geistes ausgeht, läßt Siechtum und Todesqual überwinden.«44 Auch bei Barbusse erwächst aus dem soldatischen Leiden und Sterben, das er zu dokumentieren beabsichtigt, neue Zukunftsgewissheit. Indem Barbusse die hässliche Kriegswirklichkeit nicht beschönigt und gerade keine Heldengeschichten erzählt, verleiht er dem Krieg Sinn. Dementsprechend äußern einige der Soldaten: »›Ich sterbe, und ich weiß, was ich sage, und ich sage mir : Die werden Frieden haben!‹ […] ›Ich werde leiden. Und ich sage: meinetwegen; ich sage sogar : um so besser ; ich werde noch mehr Leiden ertragen können, wenn ich weiß, daß es zu etwas gut ist‹« (DF 286). Somit benötigen das hässliche Sterben der Tier-Soldaten und die Dokumentation der poilus aus der Korporalschaft, über die Tagebuch geführt wird, einander, um die beabsichtigte eindringliche Wirkung auf den Rezipienten45 entfalten zu können und dem Krieg einen Sinn zu verleihen.46

3.

Zum Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität

Bezieht man Überlegungen zum Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität mit ein, so erhält man einen eigentümlichen Befund: Denn literarische Texte seien genau dann fiktional, wenn »sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d. h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben«.47 Der Paratext, die Figur und die Rede des Ich-Erzählers sowie Teile der Rezeptionsgeschichte deuten jedoch darauf hin, dass – vorsichtig formuliert – großen Passagen des Textes ein Anspruch auf Verwurzelung in empirisch-wirklichen Einzelereignissen des Ersten Weltkriegs zugrunde liegt. Auch wenn man John R. Searles Überlegungen zu faktualen Aussagen folgt, erfüllt Henri Barbusse in Le Feu jede dieser Bedingungen: Barbusse verpflichtet sich, sowohl im Paratext als auch in der Figurenrede des mit ihm laut Paratext womöglich identischen Ich-Erzählers, mit Le Feu die ›Wahrheit‹ des Großen Krieges zu erzählen. Barbusse trifft zudem keine im Kontext der Äußerung offensichtlich wahren Aussagen, er scheint selbst an die Wahrheit seiner Aus-

44 45 46 47

nigsberg 1853. Darmstadt: WBG 1973, S. 300. Vgl. grundsätzlich auch Sabine Roßbach: Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini. Stuttgart, Weimar : Metzler 1998. Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen (Anm. 43), S. 318f. Vgl. auch Anm. 19. Zur Autorintention vgl. z. B. den kritischen Aufsatz von Demm: Pazifismus oder Kriegspropaganda? (Anm. 21). Martinez u. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 29), S. 13.

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sagen zu glauben und er liefert Argumente dafür, dass seine Behauptungen über die Welt zutreffen. Nicht zuletzt verleihen die eigenen Kriegserfahrungen der Kriegsdarstellung Glaubwürdigkeit.48 Da Barbusse aber die Orte und Daten der literarischen ›Dokumentation des Krieges‹ nicht benennt, kann der Leser den faktualen Anspruch der Aussagen nur theoretisch falsifizieren und die vorhandenen Weltbezüge nicht exakt einem einzelnen historischen Vorgang zuweisen. Geht man daher mit Searle davon aus, dass Barbusse faktuale Aussagen im Roman lediglich imitiert und er bloß ›so tut‹, als ob er eine faktuale Aussage treffe, dann wird Le Feu als fiktionaler Text klassifiziert.49 Anders als Searle oder Lejeune schlägt Eric Achermann vor, »fiktionale von faktualen Aussagen dadurch [zu] unterscheiden, dass eine nicht-referierende Verwendung gängiger Eigennamen oder eine nicht-referierende Verwendung von Kennzeichnungen, oder beides vorliegt«. Letztlich obliege es dem Leser, ob er »einen wirklichen Gegenstand ausmachen kann, auf den [s]einer Meinung nach absichtlich referiert wird«.50 Doch auch dieses Unterscheidungskriterium führt uns bei der Lektüre von Le Feu zuletzt durch Genettes ›Drehtüre‹:51 Der Leser kann – je nachdem, wie er den Roman liest – eine nicht-referierende Verwendung von Eigennamen und Prädikaten ausmachen oder er kann es auch nicht und geht davon aus, dass Eigennamen und deren Prädikate auf die Autobiographie von Henri Barbusse bzw. auf tatsächliches Kriegsgeschehen referieren. Am ehesten lässt sich diese Konstruktion womöglich als Autofiktion beschreiben. Serge Doubrovsky zufolge sind Autofiktionen »nicht Autobiographien, nicht ganz Romane«, sondern »gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben«.52 In jedem Fall ist die Frage, ob Le Feu nun faktual oder fiktional das Tagebuch einer Korporalschaft erzählt, nicht letztgültig entscheidbar. In zweierlei Hinsicht scheint es für die Funktionslogik von Le Feu maßgeblich, einen dokumentarischen Anspruch des Textes auch jenseits zweifellos vorhandener Autorisierungsstrategien anzunehmen: Erstens kann derart die Rezeption in der Öffentlichkeit und der Erfolg des Romans beschrieben werden. Zweitens entgeht der Text einem ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ gerade dann, wenn man Le Feu 48 Vgl. John R. Searle: The Logical Status of Fictional Discourse. In: New Literary History 6 (1975), S. 319–332, hier S. 322. 49 Vgl. ebd., S. 324 sowie zur Intentionalität der Imitation S. 325. 50 Achermann: Von Fakten und Pakten (Anm. 41), S. 47f. 51 Vgl. G¦rard Genette: Figures III. Paris: Seuil 1972, S. 50. 52 Serge Doubrovsky : »Nah am Text«. In: Kultur & Gespenster : Autofiktion 7 (2008), S. 123–133, hier S. 123. Zum Begriff der Autofiktion vgl. zudem Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung. Was ist Auto(r)fiktion? In: Dies. (Hg.): Auto(r)fiktion (Anm. 41), S. 7–21 sowie die anderen Beiträge des Bandes.

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auch als Dokumentation des Großen Krieges liest. Diese Unentscheidbarkeit kommt Henri Barbusse zu Gute53 und zeitigt verschiedene Implikationen, die in zwei abschließenden Kapiteln exemplarisch vorgestellt werden.

4.

Symbolisches Kapital und Barbusses Rezeptionssteuerung

Vor Erscheinen von Le Feu war Henri Barbusse als Schriftsteller, Intellektueller oder Pazifist in der französischen Öffentlichkeit kaum bekannt und hatte – verwendet man die Termini von Pierre Bourdieu – keine größeren Mengen an symbolischem Kapital akkumuliert, auch wenn er mit intellektuellen Kapazitäten wie Paul Val¦ry und Marcel Proust bekannt war und als Schüler zeitweise Unterricht bei St¦phane Mallarm¦ und Henri Bergson genossen hatte. In den zwei Jahrzehnten vor Kriegsausbruch erschienen jedoch gerade einmal ein Gedichtbändchen, eine Novellensammlung und zwei Romane. Und auch nach 1916 bleibt Le Feu der »Kulminationspunkt«54 im Œuvre. Immerhin zeigt Barbusse bereits 1908 mit L’enfer, dem ersten Roman, mit dem er als Schriftsteller überhaupt wahrgenommen wird, Ambitionen auf den Prix Goncourt.55 Mit dem Erscheinen von Le Feu wird er beinahe über Nacht vom lediglich Pariser Schriftstellerkollegen und französischen Intellektuellen bekannten Verlagsangestellten zu einem berühmten und geschätzten Schriftsteller, der den von ihm begehrten Prix Goncourt erhält. Der Roman wird in der Folge zum wirtschaftlichen Erfolg und der Autor zu einem der bekannteren politischen Intellektuellen Frankreichs, der auch über die Grenzen des Landes hinaus wahrgenommen wird. Dieser plötzliche Erfolg erweist sich dennoch als erklärbar : Durch das Zusammenspiel von Dokumentation und Fiktion erwirtschaftet Barbusse ökonomisches Kapital, was sich im Prix Goncourt und hohen Verkaufszahlen spiegelt: Mit Le Feu wird das Bedürfnis der Leserschaft nach faktualer, dokumentarischer Darstellung des Krieges befriedigt,56 ohne dass sich der Text darin erschöpft. Im (nationalen) politischen Feld erwirbt Barbusse Kapital, weil er diesen doku53 In welchem Maße diese Textkonstruktion als autofiktionale ›Drehtüre‹ autorintendiert ist oder eher ›zufällig‹ entstanden, bleibt dahingestellt. 54 Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 61. Vgl. auch ebd., S. 101–120 u. 51. 55 Vgl. ebd., S. 102f. 56 Beispielsweise formuliert Almut Lindner-Wirsching: Französische Kriegsliteratur (Anm. 36), S. 9 diesbezüglich: »Dass die ›¦crivains combattants‹ ab dem zweiten Kriegsjahr begannen, die zivilen Verfasser von Kriegsliteratur aus dem Buchmarkt zu verdrängen, ist nicht allein auf die gewandelten Erwartungen der Leser zurückzuführen, die der heroischerhabenen Kriegsdarstellungen überdrüssig geworden waren. In der soldatischen Literatur hofften sie die unverfälschte Stimme der Front zu entdecken und sich gleichzeitig der guten Moral der Truppe zu vergewissern.«

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mentarischen Anspruch aufrechterhält und als glaubwürdiger Autobiograph bzw. Repräsentant der einfachen Soldaten die union sacr¦e nicht infrage stellt, sondern die Notwendigkeit des Krieges gegen den Militarismus betont. Barbusse unterwirft sich somit dem ›heteronomen Prinzip‹ im Feld der Kulturproduktion: Le Feu kann durchaus als »Durchhaltebroschüre« gelesen werden.57 Trotzdem bleibt Barbusse kritischer bzw. autonomer Intellektueller58 und tauscht seinen Status zunächst nicht gegen eine Stellung im politischen Feld ein. Im Gegenteil: Er bricht nicht mit seiner ›Herkunftswelt‹, sondern erhält sich die vergleichsweise hohe Unabhängigkeit im intellektuellen Feld, indem er sich als Schriftsteller mit Le Feu als kritischer Intellektueller konstituiert. Seine zunehmend sozialistischen Überzeugungen gibt Barbusse nicht preis. Er erzählt die Fronterfahrungen gerade des ›kleinen Mannes‹ aus dem Proletariat und stellt sich selbst im Paratext wie in den vermeintlichen Alter Egos des Ich-Erzählers und des Korporal Bertrands59 an die Seite der kleinen, nicht erinnerten Soldaten. Insofern kann mit Olaf Müller und G¦rard Genette formuliert werden: Die autofiktionale ›Drehtüre‹ vervielfacht die Lektüreangebote des Textes und hat somit nicht unwesentlichen Anteil an der weltanschaulichen Kippfigur des Romans – sowohl nationalen Narrativen zu folgen als auch pazifistisch lesbar zu sein. In der Folge kann im Anschluss an den Krieg das mit Le Feu erworbene symbolische Kapital politisch-intellektuell und international im Sinne der – mittlerweile radikalisierten60 – weltanschaulichen Überzeugungen wirksam von 57 Das literarische Feld, in dem Barbusse sich positioniert und Kapital erwerben möchte, ist relativ »abhängig vor allem vom ökonomischen und politischen Feld« (Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 [1992], S. 227), insbesondere aufgrund der »hierarchischen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Kapitalsorten und ihren Besitzern« (ebd., S. 343). Letztlich folgten, so Bourdieu, »die Felder der Kulturproduktion« entweder dem ›autonomen Prinzip‹ der Hierarchisierung und lösen sich vollkommen vom politischen und ökonomischen Feld oder sie passen sich dem ›heteronomen Prinzip‹ an (vgl. ebd., S. 344). 58 Vgl. zur Position des Intellektuellen ebd., S. 209f.: »Der Intellektuelle konstituiert sich als solcher, indem er in das politische Feld eingreift im Namen der Autonomie eines kulturellen Produktionsfeldes, das zu einem hohen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den staatlichgesellschaftlichen Machtinstanzen gelangt ist […]. Damit steht er im Gegensatz […] zu jenen, die einen häufig zweitrangigen Status im intellektuellen Feld gegen eine Stellung im politischen Feld eintauschen und nun mehr oder minder ostentativ mit den Werten ihrer Herkunftswelt brechen«. 59 Der Korporal Bertrand wird in der Forschung verschiedentlich als weltanschauliches »alter ego des Autors« verstanden (Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 37). 60 Barbusse tritt 1923 der Kommunistischen Partei bei. Bereits zuvor entzieht er sich zwar noch einer Parteinahme, bezieht wohl aber immer klarer Stellung in seinen kommunistischen Manifesten und Reden: »Meine Freunde in der ganzen Welt, alle Anhänger von ›Clart¦‹ sind in ihrer Eigenschaft als ›Clartisten‹ keiner Partei angeschlossen. Mit dem Kommunismus verbindet sie keine offizielle Beziehung. Sie gehorchen keiner Losung. Aber, indem sie sich von jedem Vorurteil befreien, indem sie sich der Geradlinigkeit der Vernunft bis zur letzten

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Barbusse eingesetzt, die clart¦-Gruppe gegründet, das Manifeste des intellectuels combattants franÅais verfasst und im Nachhinein die jahrzehntelange Rezeption des Romans als Antikriegsroman mitgesteuert werden.

5.

Vom Absolutismus der Wirklichkeit

Im Gegensatz zu der im Krieg auch auf französischer Seite beliebten Dokumentarliteratur, die »jedoch zumeist keine künstlerischen Qualitäten im Sinne schriftstellerischer Erfahrungen aufwies«, entspricht Le Feu erkennbar wieder »echter literarischer Gestaltung«,61 die über eine faktuale Darstellung der Kriegsereignisse hinausreicht: Wie erläutert erweisen sich die Kraftausdrücke der Soldaten bereits im Anspruch, die Kriegswirklichkeit zu dokumentieren, als Zeichen der literarischen Fiktion des Romans. Dokumentation und Fiktion fallen somit in eins – eine Darstellungstechnik, die sich bis in die Literatur der Gegenwart erhalten hat.62 Mit Hans Blumenberg gesprochen tritt in Le Feu »der Absolutismus der Bilder und Wünsche« dem schrecklichen »Absolutismus der Wirklichkeit«63 – dem Großen Krieg – entgegen und verschmilzt mit ihm. Die Frontsoldaten sinken durch ihre zunehmende Animalität in »archaische Resignation«64 zurück und entwickeln einen eigenen »archaischen Wirklichkeitsbegriff[]«. Blumenberg veranschaulicht den nun aufklaffenden Widerspruch zwischen dem »Absolutismus der Wirklichkeit einerseits« und der »Allmacht der Vorstellungen andererseits […] an der Beschreibung des Traumes«: »Im Traum zu fliegen […] ist die Metapher des nichtigen Realismus bei intensivster Realitätsillusion«.65 Dementsprechend ›ent-fliegen‹ in Le Feu die Soldaten in

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Schlußfolgerung hingeben, stellen sie fest, daß der Internationale Kommunismus in der Theorie und in der Praxis einen wohlgeschaffenen sozialen Traum lebendig verkörpert und daß durch ihn die Wahrheit sich mit der Kraft der Verwirklichung paaren wird.« (Henri Barbusse: Der Schimmer im Abgrund. Ein Manifest an alle Deutschen. Dt. Ausg. von Iwan Goll. Basel, Leipzig: Rhein Verlag o. J. [ca. 1920], S. 41). Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 53. Der Roman entspricht mithin also dem, was Martinez u. Scheffel: Erzähltheorie (Anm. 29), S. 10 als »dichterische Rede« bezeichnen. Etwa in Hertha Müllers Atemschaukel (2009). Blumenberg: Arbeit am Mythos (Anm. 7), S. 14. Blumenberg betont zudem, dass die »Grenzlinie zwischen Mythos und Logos […] imaginär [ist]. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.« (Ebd., S. 18). Ebd., S. 15. Vgl. dazu die zahlreichen im ›Urschlamm‹ versinkenden Soldaten: »Nicht weit von uns liegen einige und schlafen, vom Kopf bis zu den Füßen mit Schlamm bedeckt; sie sind beinahe zu Dingen geworden. […] Eine unbewegliche Reihe geschwollener Klumpen, nebeneinanderliegender Packen, von Wasser und Schlamm triefend, von der Farbe des Bodens, dem sie zugehören.« (DF 273). Blumenberg: Arbeit am Mythos (Anm. 7), S. 16.

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etwa einem Dutzend Visionen66 der Wirklichkeit, »klammern sich, [als] schiffbrüchige Scheusale, an die Oberfläche der Erde« (DF 8) und lassen die Vertreter der alten Ordnungen ein letztes Mal gegeneinander antreten, »die glänzenden Reiterscharen der Krieger« und »die Träger der erblichen Monarchien« (DF 290).67 Letztlich gelingt in Le Feu somit gerade durch den auch dokumentarischen Anspruch des literarischen Textes und seiner Vergleiche, Metaphern und Visionen als einzige Mittel der Frontsoldaten, sich in der Realität der Schützengräben menschliche Bilder und Wünsche zu erhalten, die Flucht hin zur literarischen (Erinnerungs-)›Arbeit am Mythos‹ des Ersten Weltkriegs.

66 Vgl. Müller : Studien und Miszellen (Anm. 4), S. 66. 67 Blumenberg: Arbeit am Mythos (Anm. 7), S. 16 bezeichnet dieses Imaginieren als »Vorrichtung der Bilder gegen die Greuel, die Erhellung des Subjekts durch seine Imagination«.

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Als dem Globus das Blut aus den Arterien lief. Der Erste Weltkrieg im Spiegel von Erich Kästners Lyrik, Erzählprosa und Publizistik 1914–1929

Dass Erich Kästner den Ersten Weltkrieg in seinen Werken immer wieder thematisiert, dass dieser ihn, wie es Heinz Kamnitzer formulierte, gleichsam »wie ein Schreckgespenst verfolgt« hat,1 ist heute, 100 Jahre nach jenem 1. August, an dem der »Tod […] den Helm« bzw. – historisch korrekter – die Pickelhaube aufsetzte, der »Krieg […] zur Fackel« griff, die »apokalyptischen Reiter […] ihre Pferde aus dem Stall« holten und das »Schicksal […] mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa« trat,2 für sich genommen weder eine echte Überraschung noch eine große Neuigkeit. Bereits 1970 galt es Egon Schwarz als »recht gut bekannte[] Tatsache[], die »durch weitere Beispiele zu belegen« ihm obsolet erschien,3 dass der Krieg eines jener »Schreckgespenster«, jener »großen Grundübel mit ihren mannigfachen Begleiterscheinungen« ist, die Erich Kästner in sämtlichen seiner vier bis 1933 publizierten Gedichtbände »unter Aufbietung aller seiner rhetorischen Machtmittel anprangert«.4 Bis heute indes werden die literarischen Bezugnahmen Kästners auf den Krieg vornehmlich auf (auto-)biographische Hintergründe zurückgeführt5 und als persönliche Abrechnung »in Gedichten, Aufsätzen und Satiren« gewertet.6 Das hat zur Folge, dass zuweilen sogar »eine Trennung von lyrischem und Autor-

1 Heinz Kamnitzer : Empörung zwischen den Fronten? In: Ders.: Das Testament des letzten Bürgers. Essays und Polemiken. 2. Aufl. Berlin, Weimar : Aufbau 1975, S. 219–232, hier S. 222. 2 So die viel zitierte Umschreibung, die Kästner 1957 rückblickend im letzten Kapitel seiner Kindheitserinnerungen für die Mobilmachung am 1. 8. 1914 wählte. Vgl. Erich Kästner : Als ich ein kleiner Junge war. In: Ders.: Werke. Bd. 7. Hg. von Franz J. Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien: Hanser 1998, S. 7–152, hier S. 147f. 3 Egon Schwarz: Die strampelnde Seele: Erich Kästner in seiner Zeit. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Die sogenannten zwanziger Jahre. First Wisconsin-Workshop. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich: Gehlen 1970, S. 109–141, hier S. 122. 4 Ebd., S. 120. 5 Vgl. Dieter Mank: Erich Kästner im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945: Zeit ohne Werk? Frankfurt/M., Bern: Lang 1981, S. 15f. 6 Helmuth Kiesel: Erich Kästner. München: C. H. Beck, Ed. Text + Kritik 1981, S. 34.

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Ich« ohne Skrupel für »überflüssig« erklärt wird,7 wohingegen ein darstellungsbezogener Vergleich der Lyrik Kästners »mit der themenverwandten Prosa der Zeit« (wohlgemerkt Kästners eigener) zum Wagnis stilisiert wird.8 Auch Hinweise auf literatur- und kulturgeschichtliche Kontexte, die sich in den entsprechenden Werken Kästners widerspiegeln (oder jedenfalls widerspiegeln könnten), bekommen vor dem biographischen Hintergrund eher die Anmutung einer Randnotiz: So etwa wenn Sven Hanuschek darauf hinweist, dass jene kriegsbedingte Herzneurose, die als »lebenslange Malaise durch alle Biographien« Kästners geistere9 und die er – als eines von etlichen während seiner anderthalbjährigen Soldatenzeit erlittenen Traumata – selbst wiederholt literarisch kommentiert habe,10 »übrigens auch ein literarischer Topos« sei, der in die zeitgenössische Literatur Eingang gefunden hat.11 Ebendiese zeitgenössische Literatur, aber auch ihre Adaptionen für Bühne und Film hat Kästner mit bemerkenswert großem Interesse (und teilweise nicht minder großer Empörung) verfolgt und – insbesondere als Berliner Kulturkorrespondent der Neuen Leipziger Zeitung – immer wieder kommentiert. Daneben vermeinte bereits die damalige Literaturkritik auch in Kästners eigenem literarischen Werk den ›Lärm des Krieges‹ vernehmen zu können. Tatsächlich erweisen sich neben der Publizistik Kästners vor allem seine weithin bekannt gewordenen Gedichte der späten 1920er Jahre und seine frühe Erzählprosa als aufschlussreiche, nicht selten intertextuelle Spiegelungen von Darstellungsweisen und -kontexten des Ersten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen in der Literatur. Eine weniger auto(r)biografisch als vielmehr werkgenetisch ausgerichtete Betrachtung exemplarischer Texte aus den Jahren 1914 bis 1929 kann und wird zeigen, dass in Kästners Werk nicht nur unterschiedliche Topoi Aufnahme finden, die die Kultur der Vor- und Nachkriegsjahrzehnte im Allgemeinen und die Literatur dieser Jahre im Besonderen prägten. Überdies lassen sich dabei auch interessante, mal mehr, mal weniger explizite Querverweise auf Kästners eigene literarische Verarbeitung des Kriegsgeschehens ausmachen – darunter auch Verweise auf einige frühe Werke, die er bereits während des Krieges verfasste.

7 Dirk Walter: Zeitkritik und Idyllensehnsucht. Erich Kästners Frühwerk (1928–1933) als Beispiel linksbürgerlicher Literatur in der Weimarer Republik. Heidelberg: Winter 1977, S. 33. 8 Ebd., S. 25. 9 Sven Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht«. Das Leben Erich Kästners. München: dtv 2003, S. 58. 10 Vgl. Sven Hanuschek: Erich Kästner (1899–1974). In: Ursula Heukenkamp u. Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Berlin: ESV 2007, S. 252–260, hier S. 253. 11 Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht« (Anm. 9), S. 59.

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Die »akustische Seite« des Krieges – Lärm im Spiegel und der ›Lärm des Krieges‹ Dass Kästner seinen zweiten Gedichtband 1929 just mit Lärm im Spiegel betitelt hat, habe man, mutmaßt Heinrich Wiegand seinerzeit in einer Rezension des Bandes, wohl so zu verstehen, dass »Kästner […] den Lärm der Welt ringsum […] im Spiegel seiner Verse aufgefangen« habe: »Den Lärm der Bankiers, der Girls, der Grandhotels, den Lärm des Krieges.«12 Allein, gerade vom ›Lärm des Krieges‹ schallt dem Leser auf den 110 Seiten des Büchleins nur wenig entgegen – kein »Tamburmarsch«, der wie in Ernst Stadlers »Der Aufbruch« 1914 »den Sturm auf allen Wegen« schlägt, kein »Kugelregen« als »herrlichste Musik«;13 keine »brummen[den] und krachen[den] und heulen[den]« Granaten, wie sie 1915 die Verse Max Dauthendeys zum Falkland-Gefecht untermalen;14 weder »Wutgerassel« noch »Eisen-Bleigeprassel« oder »Trommelfeuers Höllenrachenschrei«, nicht einmal »der fernen Geschütze dumpfes Grollen«, wie es in Heinrich Lerschs lyrischem Bericht von der »Champagneschlacht« 1916 ertönt.15 Einzig die über den Kasernenhof gebrüllten Exerzierübungen eines königlich-sächsischen Unteroffiziers,16 der leise Monolog eines Kriegsblinden,17 die absurde Äußerung eines Geistlichen über Jesus als MG-Schützen18 oder ein nicht weniger grotesker (allerdings authentischer) Befehl des I. Bayerischen Armee-Korps19 dringen an Auge und Ohr der Kästnerschen Leserschaft.

12 Heinrich Wiegand: Neue nützliche Gedichte. In: Ders.: Am schmalen Rande eines wüsten Abgrunds. Gesammelte Publizistik 1924–1933. Hg. von Klaus Pezold. Leipzig: Lehmstedt 2012, S. 150f., hier S. 150. 13 Ernst Stadler : Der Aufbruch. In: Ders.: Der Aufbruch. Gedichte. 2. Aufl. München: Wolff 1920, S. 31, V. 3f. 14 Max Dauthendey : Bei den Falkland-Inseln. In: Ders.: Des großen Krieges Not. München: Langen 1915, S. 62, V. 4. 15 Heinrich Lersch: Champagneschlacht. In: Ders.: Herz! Aufglühe dein Blut! Gedichte im Kriege. Jena: Diederichs 1916, S. 49–52, hier S. 49f., V. 1–3 u. 23. 16 Vgl. Erich Kästner : Sergeant Waurich. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann. München, Wien: Hanser 1998, S. 65f. 17 Vgl. Erich Kästner : Monolog des Blinden. In: Ebd., S. 103. 18 Vgl. Erich Kästner : Zitat aus großer Zeit. (Etwas für Stammtische). In: Ebd., S. 99f. 19 Vgl. die »Anmerkung« zum Gedicht »Helden in Pantoffeln«. In: Ebd., S. 82. Der von Kästner dort (kommentarlos und ohne unmittelbar ersichtlichen Zusammenhang zum vorstehenden Gedicht) zitierte Befehl, wonach Mannschaften des betreffenden Militärverbandes Fahrzeuge des Generalkommandos »in jedem Falle zu grüßen haben, gleichgültig, ob jemand darin sitzt oder nicht«, wurde wortgleich auch 1925 in der Schlusserklärung des Angeklagten im sogenannten »Münchner Dolchstoßprozess« verlesen und als jederzeit amtlich verifizierbar erklärt. Vgl. Bernd Ulrich u. Benjamin Ziemann (Hg.): Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente. Frankfurt/M.: Fischer 1997, S. 95f., hier S. 96.

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Vor dem Hintergrund des ästhetischen Maßstabs, den Kästner selbst als Kritiker zeitgenössischer Kriegsfilme und -romane anlegte, erscheint dieser Befund nur konsequent. So monierte er in einer während der Schlussredaktion seines Gedichtbandes verfassten Filmkritik der Paramount-Produktion Wings unter anderem die darin eingesetzten audio-visuellen Effekte (derentwegen der Film – nebenbei bemerkt – wenig später einen Oscar bekommen sollte): Die Fliegerkämpfe werden tonfilm-artig, eher schon tonfilm-unartig, von Propellergeräusch und Maschinengewehrgeknatter hundertmal unterstrichen. Die feuerspeienden Geschützmündungen und brennenden Flugzeuge sind, mitten in dem SchwarzWeiß des Films, blutrot illuminiert.

Derlei »naturalistische Aufdringlichkeiten«, findet Kästner, hätte man sich »wirklich […] sparen« können.20 Auch Ludwig Renn hätte in seinem Roman Krieg lieber andere als die gewählten sprachlichen Mittel einsetzen sollen, um den ›Lärm des Krieges‹ literarisch abzubilden, schreibt er in einer kurz nach Auslieferung der ersten Exemplare des eigenen Gedichtbandes erschienenen Rezension: Er bemüht sich, die akustische Seite der Kämpfe auf klangmalerische Weise darzustellen, und füllt halbe Seiten mit Onomatopoesie. […] In diesem Stil soll der Frontkrieg dem inneren Ohr sozusagen vor Augen geführt werden. Eine absolut zwecklose Gründlichkeit, eine unleserliche akustische Stenographie …21

Hinzu kommt, dass ›Lärm im Spiegel‹ gar keine Formulierung war, die Kästner erst in diesen Tagen als Titel für seinen Gedichtband erdacht hatte; bereits für seinen lyrischen Debütband, schlussendlich als Herz auf Taille im April 1928 auf den Buchmarkt gebracht, hatte Kästner diesen Titel auf dem sprichwörtlichen Zettel gehabt.22 Dem entspricht es auch, wenn Heinrich Wiegand in seiner Kritik letztlich beide Gedichtbände in einer gemeinsamen Bewertung zusammenfasst, ohne allerdings von der Kriegsthematik abzurücken: Beide Versanthologien Kästners, so Wiegand, bezeugten »einen Haß, der nicht nur den Krieg, sondern auch seine Minusresultate, seine Zerstörung für die Ewigkeit sieht«; »dem Lärm« setze er derweil »die Porträts der Geduckten und Gedrückten« entgegen.23 20 Erich Kästner : Neue Filme – gute Stoffe – schlimme Regie. In: Ders.: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der Neuen Leipziger Zeitung 1923–1933. Bd. 1. Hg. von Alfred Klein. Zürich: Atrium 1989, S. 361–363, hier S. 362. 21 Erich Kästner : Krieg von Renn. In: Ebd., S. 158f., hier S. 159. 22 Vgl. Friedrich Michael: Der verfluchte Buchtitel. Erinnerung an Erich Kästner. In: Ders.: So ernst wie heiter. Betrachtungen, Erinnerungen, Episteln und Glossen. Ausgew. u. gemeinsam mit dem Verf. zusammengest. von Volker Michels. Sigmaringen: J. Thorbecke 1983, S. 132–134. Der von Michael erwähnte Brief Kästners vom 1. 2. 1928 ist abgedruckt in: Erich Kästner : Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich: Atrium 2003, S. 22f. 23 Wiegand: Neue nützliche Gedichte (Anm.12), S. 150f.

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Die lustige Seite des Krieges? – Kästner, Remarque und (s)ein Roman Auf diese Weise, so liest man allenthalben, ist Kästner zum Sprecher einer ganzen Generation geworden.24 Insbesondere das seinen ersten Gedichtband eröffnende Gedicht »Jahrgang 1899«, in dem Kästner seine schon als Teenager mit dem ›Lärm des Krieges‹ konfrontierten Altersgenossen sinnbildlich »der Welt in die Schnauze« gucken und »auf die Weste« spucken lässt, »soweit [sie] vor Ypern nicht fielen«,25 sei »das poetische Protokoll von der Desillusionierung seiner«26 bzw. »das Programmgedicht einer ›verlorenen Generation‹«.27 Bemerkenswert häufig wird das Gedicht dabei – nicht nur aus den Reihen der Kästner-Forschung – mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues in Verbindung gebracht: Kästners Verse wiesen eine perspektivische Parallele zur Vorbemerkung des Kriegsromans auf28 oder hätten diesem als Motto dienen können,29 umgekehrt klängen »ganze Passagen dieses Romans […] wie ein Kommentar zu Kästners Versen«.30 Und Paul Bäumer, Remarques Hauptfigur, gilt einem Remarque-Forscher nicht zuletzt als jener »Everyman subsumed in the first person plural of Erich Kästner’s poem on the lost generation«, wobei rasch noch der Klammerzusatz ergänzt wird, dass Remarque selbst freilich ein Jahr älter sei als Kästners im Gedicht beschriebener »Jahrgang 1899«.31

24 Vgl. Kamnitzer : Empörung (Anm. 1), S. 220 und Raoul Löbbert: Emil unterm Hakenkreuz. Ein Nachruf auf Erich Kästner. In: Die Politische Meinung. Monatsschrift zu Fragen der Zeit 49 (2004) H. 416, S. 90–95, hier S. 92f. 25 Erich Kästner : Jahrgang 1899. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Anm. 16), S. 9f., hier S. 9, V. 25 u. 27f. 26 Helga Bemmann: Humor auf Taille. Erich Kästner – Leben und Werk. 4. Aufl. Berlin/Ost: Verlag der Nation 1988, S. 97. 27 Hanjo Kesting: Gescheit, und trotzdem tapfer – Erich Kästner. In: Ders.: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945. Göttingen: Wallstein 2008, S. 11–24, hier S. 11. 28 Andreas Drouve: Erich Kästner – Moralist mit doppeltem Boden. Marburg: Tectum 1999, S. 89f. 29 Kesting: Erich Kästner (Anm. 27), S. 11. 30 Dirk Walter : Lyrik in Stellvertretung? Zu Erich Kästners Rollengedicht Jahrgang 1899. In: Harald Hartung (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 5. Stuttgart: Reclam 1983, S. 310–319, hier S. 312. 31 Alan F. Bance: Im Westen nichts Neues: A Bestseller in Context. In: The Modern Language Review 72 (1977), S. 359–373, hier S. 366.

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Kästner hingegen ist dem Roman seinerseits sehr viel distanzierter begegnet. Den diversen Feuilletons Kästners zum Krieg als Thema in Literatur, Film und Theater ist kaum mehr zu entnehmen, als dass »Remarques Buch […] wertvoller« sei als das in seinen Augen nicht nur in Bezug auf die sprachlich-stilistische Gestaltung, sondern auch hinsichtlich Perspektive und literarischer Komposition unzureichende »Kriegsbuch« Renns.32 Ganz im Gegensatz zur Wirkungsgeschichte des Romans, die er im Frühjahr 1929 gleich mehrfach thematisiert; eine vorherige Begegnung mit einem bahnreisenden RemarqueLeser hat ihn augenscheinlich nachhaltig empört. Remarques Roman, so Kästner, werde inzwischen als Reiselektüre konsumiert, als handele es sich um launige Weltkriegsgeschichten des Rekruten Kaczmarek, einer populären Witzund Schelmenfigur aus Film, Kabarett und Literatur jener Jahre.33 Er habe selbst »einmal auf einer Eisenbahnfahrt […] stundenlang« einen Mitreisenden beobachten können, der das besagte Buch gelesen habe: Dieser Mann führte sich auf, als läse er ein Wilhelm-Busch-Album! Er lachte laut, er schlug sich tatsächlich vor Lesevergnügen auf die Schenkel! Ihn interessierten überhaupt nur die ›humoristischen‹ Partien des Buches […]. Der Krieg und dessen Darstellung erreichten seine Vorstellungswelt überhaupt nicht!34

Ähnliches lasse sich unterdessen auch auf den Straßen Berlins beobachten, wo sich »die Direktion eines Vergnügungsbetriebes am Kurfürstendamm« »entblödet« habe, Werbeplakate mit einem die Gestaltung des wohlbekannten Buchumschlags des Remarqueschen Romans imitierenden Schriftzug »Im Westen doch Neues« kleben zu lassen. Anstatt sich über diese gemeine Geschmacklosigkeit zu mokieren, erbost sich Kästner, zeigten die Passanten eine Gleichgültigkeit, die es andernorts kaum gäbe: »Wenn in Paris, gegenüber vom Grabmal des unbekannten Soldaten, ein Wirt sein Lokal den ›Poilu inconnu‹ nennen würde«, schreibt Kästner in offensichtlicher Anspielung auf das den Buchumschlag von Im Westen nichts Neues zierende Diktum Walter von Molos, dieser Roman sei nicht weniger als »das Denkmal unseres unbekannten Soldaten«35 – wenn also ein französischer Kneipier dergleichen täte, könne dieser sich 32 Kästner : Krieg von Renn (Anm. 21), S. 158f. 33 Vgl. Kästners Glosse »Literatur und Unfug«. In: Neue Leipziger Zeitung vom 19. 3. 1929, S. 5. Der Figur des Gefreiten Kaczmarek begegnet man u. a. in Carl Froelichs Kurzfilm Musketier Kaczmarek von 1915, dem 1932 von Max Ehrlich verfilmten Schwank Kaczmarek als Rosenkavalier, den zwischen 1926 und 1935 in sechs Bänden erscheinenden Kaczmarek-Anekdoten Peter Purzelbaums (alias Karl Alexander Prusz von Zglinitzki) und in Ostwind, August Scholtis’ Roman der oberschlesischen Katastrophe von 1932. 34 Erich Kästner : Wann war der letzte Krieg? Die Vergeßlichkeit in Prozenten ausgedrückt. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 1, S. 160f., hier S. 160. 35 Der originäre Publikationsort der dieses Diktum enthaltenden Kritik war nicht zu ermitteln. Ein ausführliches Zitat derselben findet sich (allerdings ohne Quellenangabe) bei Wilhelm

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»sicher sein, daß man ihm keinen Stuhl ganz ließe.« Dass in Berlin offenkundig mit derartigen Reaktionen kaum zu rechnen ist, hat auch unmittelbare Auswirkungen auf Kästners Text, den er mit der Bemerkung beschließt, »die Zeilen« seiner Glosse seien »eigentlich gegen das Lokal gerichtet« gewesen, wendeten sich nunmehr aber vor allem »gegen das Publikum« – wie es scheine »mit guten Gründen«.36

Die vermittelte Seite des Krieges – Kästner und der Krieg in Film, Drama und Roman Überhaupt, das Publikum: Es bleibe doch fraglich, schreibt Kästner einige Tage später anlässlich der Berliner Premiere des dem deutschen Publikum bereits anderthalb Jahre zuvor als Kinofilm präsentierten Kriegsdramas Rivalen, »ob das Publikum – vor allem die nachwachsende Generation – kriegskundig genug ist, um ein solches Stück richtig zu verstehen«: Genauer : Es steht außer Frage, daß ein solches Stück zu Mißverständnissen Anlaß gibt. Donnerwetter, denkt der Gymnasiast und das Sportgirl, das war eine saftige Zeit! Und von den Rivalen bis zu Zitaten, daß der Mann im Krieg noch was wert sei und daß kein schönerer Tod auf der Welt sei, als wer vorm Feind erschlagen – ist nur noch ein kleiner Schritt.«37

Hatte Kästner den Film trotz einiger Vorbehalte hinsichtlich der Qualität von Skript, Regie, Bildführung und Handlung der ihm inhärenten »Propagandakraft gegen den Krieg« wegen ehedem noch nachdrücklich empfohlen,38 deutet seine Beurteilung der Bühneninszenierung – an der mit Carl Zuckmayer als Übersetzer, Erwin Piscator als Regisseur und Hans Albers und Fritz Kortner in den Hauptrollen durchaus namhafte Vertreter der zeitgenössischen Theaterszene beteiligt waren – nun bereits auf jene Debatte über die von der Kritik herbeigeredete Wirkung der diversen Kriegsromane und -filme dieser Tage voraus, die Karl Hugo Sclutius kurz darauf in der Weltbühne initiiert.39 Egal ob man nun

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Müller Scheld: »Im Westen nichts Neues« eine Täuschung. Studie. 5. erg. Aufl. Idstein/Ts.: G. Grandpierre 1929, S. 4. Kästner : Literatur und Unfug (Anm. 33), S. 5. Erich Kästner : Die Erziehung zum Krieg. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 1, S. 371f. Erich Kästner : Krieg und Film. In: Ders.: Werke. Bd. 6. Hg. von Hans Sarkowicz u. Franz J. Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien: Hanser 1998, S. 76. Vgl. Karl Hugo Sclutius: Pazifistische Kriegspropaganda. In: Die Weltbühne 25 (2. 4. 1929) Nr. 14, S. 517–522. Vgl. auch ders.: Nochmals: Pazifistische Kriegspropaganda. In: Die Weltbühne 25 (28. 5. 1929) Nr. 22, S. 826f. Ob und um wessen Pseudonym es sich bei »Karl Hugo Sclutius« handelt, ist unklar. Hans-Harald Müller : Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler 1986, S. 328 gibt an, es sei »nicht zu

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Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Ludwig Renns Krieg, Georg von der Vrings Soldat Suhren oder Werke amerikanischen Ursprungs wie Wings, The Big Parade oder eben Rivalen nehme – es sei doch »[i]mmer dasselbe«, urteilt Sclutius im April 1929: Macht Zwischentitel: Nie wieder Krieg!, erzählt von weggerissenen Gesichtsfassaden, laßt Rekruten sich anmachen und Hauptleute irrsinnig werden, wälzt Euch in Blut, Eiter, Knochensplittern und frischen Gräbern. Ihr meint, Ihr wolltet oder konntet künftige Generationen vom Krieg abhalten? […] Wollt Ihr wieder eineinhalb Millionen Kriegsfreiwillige? Reiht den Remarque den Schulbibliotheken ein und Ihr werdet sie haben. […] Die Pazifisten liegen schief, wenn sie die Schrecken des Schützengrabens sprechen lassen.40

Man sei nur »[n]och ein Schrittchen« von Hermann Bahrs Kriegssegen oder Thomas Manns »Ekel vor der cancanierenden Gesittung« entfernt – oder von jenem auch von Kästner zitierten Vers eines Schlachtliedes: »[E]s gibt kein schönern Tod, als vor dem Feind erschlagen.«41 Nicht allein des Zitates wegen musste sich auch Kästner vom dem SclutiusArtikel impliziten Kritikertadel angesprochen fühlen, hatte doch auch er viele dort genannte Bücher und Filme als ›pazifistische Kriegspropaganda‹ (oder, in Worten Kästners: »gegen Völkerhaß und Kanonen«42) zur Lektüre oder den Kinobesuch angeraten. Anlässlich der Premiere von Ernst Tollers Hoppla, wir leben! hatte Kästner im September 1927 konstatiert, »der gewaltige Sinn dieser Aufführung« habe darin bestanden, »in tausend Formen zu schreien und zu schreiben, zu mahnen und zu drohen: Vergeßt den Krieg nicht! Werdet nicht wieder solche Menschen, wie ihr vordem wart! Sonst treibt ihr neuem Krieg entgegen!«, und zustimmend postuliert: »Es gibt keine Erinnerung, die wichtiger wäre, und keine, die es nötiger hätte, wachgehalten zu werden! Hundert Stücke und hundert Filme sollten die Welt aufrütteln und erinnern«.43 Fast schon euphorisch hatte er dann zwei Monate später 1927 Georg von der Vrings – Sclutius schreibt fälschlich »Georg van der Vrings«44 – Soldat Suhren als dasje-

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ermitteln« gewesen, ob es sich um einen Decknamen handelt. Matthias Schöning: Moderne Kehrseiten des modernen Krieges. Die Ostfront im Roman der Weimarer Republik. In: Beate Störtkuhl, Jens Stüben u. Tobias Weger (Hg.): Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg 2010, S. 523–541, hier S. 536 spricht dagegen von »eine[m] unter Pseudonym publizierten Beitrag[] von ungeklärter Autorschaft«. Sclutius: Pazifistische Kriegspropaganda (Anm. 39), S. 517f. u. 521f. Ebd., S. 518f. u. 522. Erich Kästner : Die große Parade. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 1, S. 325–327, hier S. 326. Erich Kästner : Hoppla – wir leben! Ein Zeitdrama von Piscator, Meisel, Oertel, Mehring und Müller. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 80–84, hier S. 82f. Sclutius: Pazifistische Kriegspropaganda (Anm. 39), S. 517. Nicht zuletzt dieser Schreib-

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nige Buch begrüßt, das »Deutschlands dichterische Schuld« abtrage und es, gewissermaßen als Pendant zu den US-amerikanischen Produktionen Die große Parade und Rivalen, sogleich zu verfilmen empfohlen.45 Längst, heißt es damals in Kästners Rezension des Romans, habe der Weltkrieg in der fremdsprachigen Literatur »sein episches Echo« gefunden; nun endlich gebe es »auch einen deutschen Roman, der es verdient, neben Le feu und dem Schwejk placiert [!] zu werden. Das Buch heißt Soldat Suhren […] und sein Autor Georg von der Vring.« »Anspruchsloser« als er, so Kästner, habe man ein Kriegsbuch kaum schreiben können, »aber auch nicht echter«: Soldat Suhren ist die Geschichte einer Korporalschaft, nichts weiter. Eine winzige, unbedeutende Gruppe Infanteristen erlebt im Krieg ihr kleines Schicksal. […] Georg von der Vrings Soldaten sind keine erfundenen mutwilligen Heroen, sondern wirkliche in den Krieg verschlagene Arbeiter und Kleinbürger. […] Das Schicksal von kaum einem Dutzend Soldaten wird stellvertretend lebendig für das Geschick eines Volkes.46

Noch ein Jahr später gerät Kästner geradezu ins Schwärmen über den Autor, der mit Soldat Suhren »seine Laufbahn auf einem Gipfel« begonnen, mit seinem Debütroman »einen Millimeter aus dem Riesenfilm des Kriegs« beschrieben »und […] den Kern« getroffen habe47 und durch diesen Roman »als ungewöhnlich feinfühliger und scharfsichtiger Autor bekannt« geworden sei:48 Das ist ja überhaupt die besondere Begabung von der Vrings und war schon die unnachahmliche Qualität seines Kriegsromans Soldat Suhren: daß er das schlichteste, idyllischste Milieu ohne weiteres mit Vorgängen von leidenschaftlicher Gefährlichkeit zu erfüllen weiß, die uns völlig überzeugen. […] Er ist einer von den wenigen Romanschriftstellern, die man auch heute noch Dichter zu nennen den Mut besitzt.49

Sehr viel ernüchterter und sichtlich geprägt durch seine Erfahrungen des rezeptiven Umgangs mit Im Westen nichts Neues klingt demgegenüber, was

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fehler spricht angesichts der hohen Wertschätzung, die Kästner von der Vring öffentlich entgegenbrachte, gegen die auf der Tagung im Anschluss an meinen Vortrag geäußerte Vermutung Matthias Schönings, hinter Sclutius könnte sich möglicherweise Kästner verbergen, der seit Juni 1926 zunächst sporadisch, ab 1928 dann regelmäßig in der Weltbühne publizierte, allerdings (soweit bekannt) nur ein einziges Mal (1932, im Falle des Gedichts »Friseur antwortet Kästner«, einer wohl von Kästner selbst verfassten lyrischen Replik auf sein kurz zuvor an gleicher Stelle publiziertes Gedicht »Der Friseur beim Plaudern«) unter Pseudonym. Kästner : Die große Parade (Anm. 42), S. 326. Erich Kästner : Der Krieg im deutschen Roman. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 90–92, hier S. 90f. Ebd., S. 91. Erich Kästner : Der neue Roman von Georg von der Vring. In: Das deutsche Buch. Monatsschrift für deutsche Neuerscheinungen 8 (1928) H. 11/12 (Nov./Dez.), S. 353. Ebd.

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Kästner Mitte 1929 über die Leserschaft der inzwischen mehreren hundert Kriegsromane auf dem deutschen Buchmarkt festhält: [W]ir wollen uns ja nicht täuschen: Von den Hunderttausenden, die den Krieg heute in Kriegsromanen nachlesen, dringt den meisten die Erinnerung nicht bis ins Herz. Sie erleben Literatur als Literatur. Sie sagen: »Grauenhaft!« und denken eine Minute später an Erdbeertorte mit Schlagsahne.50

Auch in der hernach letzten Kästnerschen Rezension eines Kriegsbuches klingt deutlich die Kritik Sclutius’ nach: »Unter den Kriegsromanen, welche die Konjunktur hinter den Büchern von Remarque, Renn und von der Vring hergespült hat«, schreibt Kästner Anfang Juli 1929 in der Neuen Leipziger Zeitung, bilde ein Buch »in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme«: Alexander Maria Freys wenige Wochen zuvor erschienener »Feldsanitätsroman« Die Pflasterkästen. Denn Frey habe sich »nicht der vielgerühmten und gefährlichen ›Objektivität‹ befleißigt«, mithin gerade keine Kriegsreportage vorgelegt, »die es allen Parteien und Anschauungen gestattet, Menschenmord, je nach Bedarf, heldenhaft oder scheußlich zu finden«.51 Der Autor bekenne sich vielmehr »[a]uf jeder Seite des Buchs […], auch wenn er keine Worte darüber macht, zu den Menschen, die den Krieg verabscheuen« und habe eben »kein Hohelied der Kameradschaft«, »keine Festschrift auf die Tapferkeit«, sondern »wie kaum einer vor ihm gegen den Krieg« geschrieben.52 Die Entwicklung einer vergleichbaren Konjunktur auf Theaterbühnen verfolgt Kästner zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits mit einer gewissen Skepsis: »Kriegs- und Revolutionsstücke«, notiert er schon im Januar desselben Jahres in seinem Berliner Theaterbrief für die sonntägige Neue Leipziger Zeitung, »tauchen jetzt, zehn Jahre nach den Erlebnissen, ebenso häufig auf wie Romane zum gleichen Thema, freilich nicht entfernt von der gleichen Qualität« – nirgends dokumentiere sich »der Wertunterschied, der die moderne Epik von der Dramatik trennt, so sichtbar wie hier«.53 Dementsprechend häufig finden sich Verrisse. Der Versuch des Deutschen Künstlertheaters etwa, mit dem immerhin von George Bernhard Shaw empfohlenen englischen Drama Journey’s End ein »brauchbare[s] Kriegsstück[]« auf die Bühne zu bringen, schlägt in Kästners Augen gründlich fehl und sei wohl eben »nur als Konjunktur verständlich«. Der Autor habe den Krieg »als Weekend mit tödlichem Ausgang« beschrieben, »[m]it irgendeiner Gesinnung« habe das Stück »nichts« zu tun: »Es ist Weltkrieg 50 Erich Kästner : Fort Douaumont, 12 Jahre später. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 201–205, hier S. 205. 51 Erich Kästner : Die Pflasterkästen. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 1, S. 161–163, hier S. 161. 52 Ebd., S. 161f. u. 163. 53 Ebd., S. 161.

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als Historiendrama. Von gestern. Nicht für heute. […] Der Weltkrieg als Kammerspiel. Mit Ulk und dummer Privathandlung.«54 Auch die Dramatisierungen deutscher Kriegsromane, wie gegen Ende der Spielzeit 1929/30 und der in der nachfolgenden Theatersaison an mehreren Berliner Bühnen zu sehen sind, fallen bei Kästner größtenteils durch. Die Bühnenversion von Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa sei »eine gefühlvolle, allzu gefühlvolle Dramatisierung« des bekannten Romans; man schwimme in Menschlichkeit und sei »so weit weg vom Krieg«.55 Theodor Plieviers Dramatisierung seines eigenen Kriegsromans Des Kaisers Kulis sei schlicht »nach allen Seiten hin unzulänglich«.56 Und der Versuch eines sich Georg Wilhelm Müller nennenden anonymen Autors,57 »in enger Anlehnung an biographische Darstellungen vom Kriegsausbruch […] fünf militärisch-diplomatische Szenen« zu kompilieren, ende als »Anschauungsunterricht für in der Weltgeschichte und auch sonst Zurückgebliebene« – als »[b]ewegliches Wachsfigurenkabinett, nichts weiter«. »Nicht einmal der begabte Regisseur Gründgens« habe aus diesem Stück etwas anderes machen können als »eine Uniform-Revue«.58 Zuweilen kann es aber auch vorkommen, dass nicht das Stück, sondern Zuschauer und Kritiker in Kästners Urteil gnadenlos durchfallen, etwa wenn sie Vertreter jener Spezies Theaterkritiker sind, »die sich begeistern können, wenn in einem Stück eine Frau, die mit Negern die Ehe bricht, auf dramaturgisch einwandfreie Weise ein schwarz-weiß kariertes Baby kriegt – wenn aber jemand von der Bühne her gegen den Krieg aufruft, […] durchaus unwillig« würden. 54 Erich Kästner : Gentlemen prefer peace. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 207f., hier S. 205. Herbert Ihering: Die andere Seite. Deutsches Künstlertheater. In: Ders.: Theater in Aktion. Kritiken aus drei Jahrzehnten. 1913–1933. Hg. von Edith Krull u. Hugo Fetting. Berlin/Ost: Henschelverlag 1986, S. 374–376, hier S. 375f. zeigte sich demgegenüber fast ohne Einschränkung begeistert von dem »anständige[n], männliche[n], noble[n] Stück«, das er derselben »Gattung[] von Kriegswerken« zurechnet wie Renns Krieg. Und Fritz Engel meinte im Berliner Tageblatt gar, dem Stück seien »nur die besten deutschen Kriegsromane ebenbürtig; in seiner Stimmungskunst aus der deutschen Dramatik nur Goerings beinah’ verschollene Seeschlacht«; überdies stehe es an »dichterischer Kraft« und »sittlichem Ernst« »hoch über der Film- und Bühnenform der Rivalen« (zit. n. dem Abdruck in: Günther Rühle: Theater für die Republik 1917–1933. Im Spiegel der Kritik. Frankfurt/M.: Fischer 1967, S. 952f., hier S. 952). Auch sonst stieß das Stück wohl überwiegend »auf eine positive Resonanz«, so der Stellenkommentar in Kästner : Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 769. 55 Erich Kästner : Berliner Theater. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 2, S. 239f., hier S. 240. 56 Erich Kästner : Matrosen auf den Bühnen. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 2, S. 245–248, hier S. 246. 57 Der Deutschen biographischen Enzyklopädie zufolge handelt es sich hierbei um den Juristen Wenzel Goldbaum (1881–1960). Vgl. Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Bd. 4. 2., überarb. u. erw. Aufl. München: Saur 2006, S. 24. 58 Erich Kästner : 1930 und 1914. In: Ders.: Gemischte Gefühle (Anm. 20), Bd. 2, S. 248–250, hier S. 250.

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Dergleichen beobachtet Kästner im Oktober 1928 am Beispiel von Günther Weisenborns Drama U-Boot S4 – mit dem Ergebnis, dass er sich in seiner Kritik fast eingehender mit seinen Kritikerkollegen als mit Stück und Inszenierung befasst: Weisenborn, so Kästner, habe mit seinem Stück, die »Unliebenswürdigkeit besessen, […] an den Krieg zu erinnern und die Länder anzuklagen, die ihre Flottenbauprogramme aufstellen und damit die fahrlässige Tötung künftiger Millionen von Menschen schon heute verschulden«. »Diese Ungezogenheit« hätten dem jungen Bonner Dramaturgen nun, da das Stück an der Berliner Volksbühne zur Uraufführung gekommen ist, führende Vertreter der örtlichen Theaterkritik »sehr übelgenommen«.59 »Weiter […] in die Sphäre der absichtsvollen Mißverständnisse« als »der noch immer einflußreichste Berliner Theaterkritiker«, der tatsächlich vorgeschlagen habe, Inszenierungen wie diese zugunsten von Schnitzlers Dramen abzusetzen, könne aber wohl »niemand« geraten. Auch wenn Kästner hier bewusst keinen Namen nennt, ist doch für jeden kundigen Feuilletonleser jener Tage identifizierbar, wen er hier aufs Strengste rügt: Alfred Kerr. Der hatte in seiner Besprechung des Stücks im Berliner Tageblatt drei Tage zuvor gepoltert: Wer war Weisenborn? Ein Anlaß. Jedoch niemand. Kümmert euch um Kerle, die auch ein Jemand sind. […] Einzelmenschen wie Arthur Schnitzler kennt ein Bühnenherr heute nicht; was? […] Deutschland hat aber die verdammte Schuldigkeit, seine Dichter, wirkten sie gleich vor dem Krieg, nicht zu schneiden. Schnitzler, jetzt vorübergehend in Berlin, ist jemand. (Ihr sagt irrig: er war jemand.) Er ist es in allem was er war. Was er ist. Ihr habt ihn zu spielen.60

»Ein anderer Kritiker«, fährt Kästner fort und meint diesmal wohl Arthur Eloesser, seines Zeichens Feuilletonredakteur der Vossischen Zeitung,61 habe sich ebenso geärgert und gemeint, »es geschähen ja im Frieden auch noch andre 59 Erich Kästner : U-Boot »S 4«. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 150–152, hier S. 150f. 60 Alfred Kerr : Günther Weisenborn: U-Boot S 4. Volksbühne Bülowplatz. In: Ders.: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Hg. von Hugo Fetting. Berlin: Severin u. Siedler 1982, S. 426–429, hier S. 428f. 61 Eloesser verweist in seiner Kritik auf U-Boot-Unfälle der jüngeren und jüngsten Vergangenheit und den seinerzeit gerade eine Woche zurückliegenden Einsturz eines Prager Hochhauses, bei denen Besatzungsmitglieder bzw. Bauarbeiter umkamen, und meint: »Im vorigen Jahr erstickten sechs amerikanische Matrosen in einem U-Boot, das wegen Sturmes nicht gehoben werden konnte. Das war sehr traurig. In diesem Jahre war ein italienisches UBoot dran. Das war auch sehr traurig. Unter dem eingestürzten Hause in Prag liegen, soviel ich weiß, immer noch eine Menge Leichen, die man aus dem Schutt nicht herausbekommen kann. Das ist nicht weniger traurig. Die Matrosen hat der Militarismus umgebracht, die Maurer der Kapitalismus; denn der Beton soll schlecht gemischt gewesen sein. Alle Opfer der Kriegs- und Friedensindustrie verdienen unser Bedauern, auf alle können Stücke gemacht werden, wenn ein erschütterter Mensch dem Moloch, der sie verschlang, in den Rachen gesehen hat.« (Arthur Eloesser : U-Boot »S 4«. Volksbühne. In: Vossische Zeitung vom 17. 10. 1928, Abend-Ausgabe, S. 2).

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Unglücksfälle als nur solche militärischer Herkunft, und es wäre bekanntlich zwecklos, sich gegen das Schicksal aufzulehnen«. All diese Kritiker, die auf »völlig töricht[e]« Weise versuchten, den Eindruck von Weisenborns Stück im Nachhinein »nach artistischen Gesichtspünktchen [zu] zergliedern und [zu] zerstören«, seien, zieht Kästner spöttelnd Bilanz, »mit jener Dame verwandt, die während der Aufführung von Weisenborns Drama […] nahezu in Ohnmacht geriet«: »Im Theater fühlen sich diese Leute vom Krieg und seinen Abscheulichkeiten chockiert [!] und fallen der Einfachheit halber ein bißchen in Ohnmacht; aber der wirkliche Krieg regt sie nicht weiter auf.«62 Dabei begegnet Kästner »diesen Leuten« nicht nur in Theater-, sondern auch in den Kinosälen der Stadt: Anlässlich der Deutschland-Premiere von L¦on Poiriers Verdun-Film habe, wie Kästner merklich kopfschüttelnd berichtet, ein anderer – wiederum ungenannt bleibender63 – »namhafter Kritiker« doch allen Ernstes moniert, »daß man nur sehr schwer erkennt, welche Truppen und Stahlhelme französischer und welche deutscher Abstammung sind«. Für derlei Kritik hat Kästner nichts als Unverständnis übrig: Ja, um alles in der Welt! weiß er wirklich nicht, daß diese und andere Unkenntlichkeiten dem Kriege eigentümlich waren; daß mitunter Deutsche auf Deutsche und Franzosen auf Franzosen geschossen haben, wenn in unübersichtlichen Grabenabschnitten gekämpft wurde? Sollten die Filmtruppen etwa in Friedensuniform vorgehen, damit der Kritiker besser sah, was los war?64

Die statistische Seite des Krieges – ›Krieg‹ als Thema in der Lyrik Ähnlich bestürzt wie über die offenkundige Ignoranz des Kritikers im Kinosaal zeigt sich Kästner schließlich über einen Befund, der, wie er seinen Beitrag untertitelt, »[d]ie Vergeßlichkeit in Prozenten« ausdrückt – diesmal hinsichtlich der Rezeption der Kriegsthematik in der zeitgenössischen Lyrik. Der Herausgeber einer Anthologie jüngster Lyrik65 habe sich kürzlich einmal die Mühe 62 Kästner : U-Boot »S 4« (Anm. 59), S. 152. 63 Gemeint sein dürfte höchstwahrscheinlich Herbert Ihering, der in seiner am 14. 6. 1929 im Berliner Börsen-Courier erschienenen Filmkritik unter anderem geschrieben hatte, »die Kämpfe« seien »nicht auseinander zu halten, Deutsche und Franzosen kaum erkenntlich«. Ich danke Philipp Stiasny (Berlin) für diesen Hinweis. 64 Erich Kästner : Verdun und andere Filme. In: Neue Leipziger Zeitung vom 20. 6. 1929, S. 9, zit. n. dem Teilabdruck bei Johan Zonneveld: Erich Kästner als Rezensent 1923–1933. Frankfurt/ M. u. a.: Lang 1991, S. 228f., hier S. 229. 65 Auf welche Anthologie sich Kästner hier bezieht, ist unklar. In der 1929 erschienenen »Neuen Folge« der von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegebenen Anthologie jüngster Dichtung erklärt Rudolf Binding im einleitenden Geleitwort, den Herausgebern hätten »siebentausend Gedichte […] für diesen Band vorgelegen[,] der deren hundert enthält« (Rudolf G. Binding:

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gemacht, berichtet Kästner im April 1929, die ihm zur Auswahl eingesandten 7.000 Gedichte einmal statistisch auszuwerten: »Es interessierte ihn festzustellen, worüber junge Menschen heutzutage Verse machen, worüber am häufigsten, worüber am wenigsten, und es ist in der Tat interessant.« Natürlich, gibt Kästner zu bedenken, ließen sich die Ergebnisse nicht auf die Jugend an sich verallgemeinern und längst nicht jede Prozentzahl gebe »Stoff zum Nachdenken«. »Sehr bemerkenswert« sei beispielsweise aber, dass sich nur »knapp zwei Prozent« aller für die Anthologie vorliegenden Gedichte inhaltlich »um Politik, Aktualität, Weltkrieg und Revolution« kreisen, während über die Hälfte »Natur und Welt«, »Religiöses und Philosophisches« oder »Eros« thematisierten. »Dieser niedrige Prozentsatz«, findet Kästner, sei »erschütternd!«66 Noch erschütterter wäre er vermutlich, wenn er wüsste, was eine statistische Auswertung der Produktion der Kästnerschen ›kleinen Versfabrik‹ ergibt – jedenfalls wenn man sie auf das Textkorpus der jüngsten Werkausgabe bezieht: »Eine (sehr allgemein gehaltene) Übersicht der Kästnerschen Verskunst«, die Manfred Jurgensen zusammengestellt hat, ergibt für die im Gedichtband der Edition versammelten Gedichte – darunter insbesondere die vier bis 1933 erschienenen Gedichtbände, auf die eingangs auch Egon Schwarz rekurriert – »rund ein Dutzend lyrischer Themenbereiche«. Von diesen Gedichten, listet Jurgensen auf, bezögen sich 91 auf ›Kultur und Gesellschaft‹, 55 auf ›Mann/Frau, Klassenzugehörigkeit und Beruf‹, 47 auf ›Mensch‹, 35 auf ›Natur und Reisen‹, 21 auf ›Ehe, Familie und Kinder‹, 8 auf ›Militär und Krieg‹, 7 auf ›Zeit‹, 7 auf ›Stadt und Vorstadt‹, 4 auf ›Generationen‹, 4 auf ›Stimmung und Lokal‹, 3 auf ›Liebe‹, und 3 auf ›Volksfeste‹.67

In Prozente umgerechnet käme Kästner für das Themenfeld ›Militär und Krieg‹ auf einen nur unwesentlich besseren Wert als die von ihm angeführte Anthologie – was allerdings sämtlichen einschlägigen Forschungsäußerungen widerspräche,68 angefangen schon bei John C. Blankenagels Zusammenschau von Four Einleitung. In: Anthologie jüngster Lyrik. Neue Folge. Hg. von Willi Fehse u. Klaus Mann. Geleitw. von Rudolf G. Binding. Hamburg: Gebrüder Enoch 1929, S. 1–6, hier S. 3), darunter acht von Kästner selbst (vgl. ebd., S. 89–101). Die von Kästner zitierte Statistik findet sich in dem Band jedoch nicht, auch andernorts ist keine entsprechende Veröffentlichung Fehses, Manns oder Bindings auffindbar gewesen. 66 Kästner : Wann war der letzte Krieg? (Anm. 34), S. 161f. 67 Manfred Jurgensen: Erich Kästners Lyrik: Moral, Ruhm, Witz und Vernunft. In: Gerhard Fischer (Hg.): Erich Kästner Jahrbuch. Bd. 4: Kästner-Debatte. Kritische Positionen zu einem kontroversen Autor. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 103–113, hier S. 111. Wie genau Jurgensen zu diesen Zahlenwerten und thematischen Zuordnungen kommt, ist allerdings nicht ersichtlich. 68 Vgl. dazu nur die Zusammenfassung bei Remo Hug: Gedichte zum Gebrauch. Die Lyrik Erich Kästners: Besichtigung, Beschreibung, Bewertung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 80f. und speziell zum Themenfeld ›Krieg/Militär‹ S. 85–87.

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Volumes of Verse by Erich Kästner von 1936. Darin benennt Blankenagel – ohne Angabe absoluter oder prozentueller Zahlen – auch »[t]he themes which figure most frequently in Kästner’s verse«: »disillusionment, war and militarism, the stupidity of government officials, mankind, exploitation, motherhood and childhood, the future, and escapes such as sleep and death«.69

Im Angesicht des Krieges – Kästners Lyrik aus den Kriegsjahren Gänzlich ungeachtet derartiger Zahlenklauberei sind indes die ersten Gedichte, die unter Kästners Namen publiziert worden sind, nachweislich Kriegsgedichte, seinen ins Feld ziehenden oder in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges umgekommenen Klassenkameraden vom Dresdner Volksschullehrerseminar gewidmet. Im Fletcheranerboten, der ›Hauspostille‹ des Seminars, das Kästner von Ostern 1913 bis zu seiner Einberufung zum Militär im Juni 1917 besuchte, erscheint im Januar 1915 ein mit »Helden!« überschriebenes Gedicht des »Quintaner[s] Erich Kästner«, das, so die einleitende Vorbemerkung des Rektors, exemplarisch für das Kriegsinteresse der Seminaristen stehe: »Das Interesse unserer Schüler für den Krieg und das, was mit ihm zusammenhängt, ist begreiflicherweise groß. Kriegstagebücher, reichliches Lesen der Zeitungen […], nicht zuletzt auch dichterische Versuche zeugen davon.«70 Wiederholt hat Kästner in den folgenden Jahren im Namen der Schüler offenbar auch die Verabschiedung der einberufenen Seminaristen auf den entsprechenden Festakten übernommen: »Der Tertianer Kästner«, vermerkt der Bericht über die ›Entlassfeier‹ am 27. Januar 1917, »richtete treffliche Worte in selbstverfaßter gebundener Rede an die 36 jungen, ausziehenden Seminarbrüder«;71 höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um das vier Seiten später unter Kästners Namen abgedruckte »Abschiedslied«, dem Untertitel zufolge »Meinen hinausziehenden Kameraden« gewidmet.72 Und ein halbes Jahr später ist es wiederum Kästner, der auf einer Verabschiedung der Einberufenen – diesmal zugleich seiner eigenen –, in »warmen Ausführungen« und »im Anschluß an Schillers 69 John C. Blankenagel: Four Volumes of Verse by Erich Kästner. In: The German Quarterly 9 (1936) Nr. 1, S. 1–9, hier S. 3. 70 [Hermann] Jobst: Aus dem Seminare. In: Fletcheranerbote 8 (1915) Nr. 1 (Januar), S. 4, zit. n. dem verkleinerten Faksimileausschnitt bei Matthias Stresow: Auf den Spuren Erich Kästners in Dresden. Mit einem Anhang: Das Erich-Kästner-Museum Dresden. 5. erw. Aufl. Dresden: Hellerau 2004, S. 34. 71 [Moritz] Große: Aus dem Seminare. In: Fletcheranerbote 10 (1917) Nr. 2 (April), S. 17–19, hier S. 18. 72 Vgl. Erich Kästner : Abschiedslied. Meinen hinausziehenden Kameraden. In: Fletcheranerbote 10 (1917) Nr. 2 (April), S. 22.

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Gedicht über Ideal und Leben« die Abschiedsrede hält.73 Auch nach Antritt seines Kriegsdienstes druckt man im Fletcheranerboten weiterhin Gedichte Erich Kästners ab – teilweise mit dem Klammerzusatz »z. Zt. im Felde« –, darunter ein die Seminarfarben besingendes »Fletcheraner-Farbenlied« und »Das Lied der Jugend«, geschrieben anlässlich des Todes eines seiner Klassenkameraden.74 Die Forschung, die diese frühen Schriften Kästners erst spät, unmittelbar vor dessen 100. Geburtstag 1999, erstmals zur Kenntnis nahm, tut sich mit einer Einordnung der Lyrik aus den Kriegsjahren sichtlich schwer : Von der Presse als »unter dem Eindruck des Weltkriegs« verfasste, »mal mehr, mal weniger verklausulierte Anklagen gegen das Morden« deklariert,75 sieht Sven Hanuschek in ihnen doch eher Werke, die zwar »formal […] schon ein erstaunliches Können« für einen so jungen Dichter zeigten, »inhaltlich« jedoch »genauso staatsfromm und konformistisch« seien wie die zeitgenössischen Schulaufsätze Kästners, in denen er »an Goethe die deutsche Innerlichkeit pries und die nationalstolzen Phrasen der Lehrer wiedergab«.76 In den Gedichten gingen diese zuweilen »eine bemerkenswerte« – allerdings dann nicht eingehender erörterte – »Mesalliance« »mit nicht ganz kompatiblen Phrasen einer klassisch humanistischen Bildung« ein.77 Insofern, so Hanuschek, interessierten die Kästnerschen Kriegsgedichte »vor allem wegen der Vorbilder, die hier noch ganz offen durchscheinen: Kästner hatte sich im Stil der Neuromantik der Jahrhundertwende ebenso versucht wie in dem etwas glatteren Dresdner Expressionismus in der Art von Heinar Schillings [!] und A. Rudolf Leinert.«78 Differenzierter urteilt Karin Reichelt, die die Gedichte von »ehrliche[r], aus dem innersten Empfinden Erich Kästners dringende[r] Würdigung der Soldaten, der Kriegsteilnehmer seines Seminars« über »innere Rebellion des jungen Dichters« bis hin zu »Auflehnung und Resignation« changieren sieht, wobei seine Lyrik »nicht den jubelnden, heroischen, opferbereiten Grundtenor« aufweise wie die Kriegsgedichte anderer Autoren um 1915, sondern in Teilen bereits den für Kästner typischen ironischen Stil andeute.79 73 [Hermann] Jobst: Aus dem Seminare. In: Fletcheranerbote 10 (1917) Nr. 3 (Juli), S. 28–32, hier S. 32. 74 Vgl. Erich Kästner : Fletcheraner-Farbenlied. In: Fletcheranerbote 11 (1918) Nr. 1 (April), S. 14 und ders.: Das Lied der Jugend. In: Ebd., S. 9. 75 Sven Crefeld: Kästners Anklage: Jungsein heißt Sterben-Müssen. Matthias Stresow fand frühe Gedichte im Dresdner Stadtarchiv. Erste Veröffentlichung nicht 1919, sondern bereits 1915. In: Leipziger Volkszeitung vom 2. 2. 1999, S. 7. 76 Sven Hanuschek: Erich Kästner. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2004, S. 24. 77 Hanuschek: Erich Kästner (Anm. 10), S. 253. 78 Ebd. 79 Karin Reichelt: Erich Kästner im Fletcherschen Lehrerseminar Dresden – zu den pädagogischen, sozialen und ästhetischen Wirkungen auf sein literarisches Werk – eine deskriptive

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Ob man allerdings ausgerechnet das »[e]inem gefallenen Freunde« – so die Widmung im Nachlass-Typoskript – zugeeignete »Lied der Jugend« als erstes Zeugnis der für die Gedichte der späten 1920er und frühen 1930er Jahre charakteristischen ›Kästner-Ironie‹ werten kann, scheint doch recht fragwürdig: »Wir stürmten einst himmelwärts«, heißt es darin, »und wollten nichts – als leben! –«. Und: Wie anders die Würfel doch rollten! Jetzt krallt nach uns der Tod. […] Komm, Tod, und lass Dich küssen! Was schert uns Freud und Lust? Jungsein heisst Sterben=müssen! 80

»[S]chon ein bisschen die kästnersche Ironie durchschimmern« spüren zu können meint auch Johannes Glötzner bei einem der frühen Gedichte81 – allerdings bei einem, dem Reichelt »de[n] ironischen Grundton« entschieden abspricht:82 dem vom fünfzehnjährigen Kästner verfassten »Helden!«. Fest macht Glötzner sein Gefühl an der scheinbar als Wortneuschöpfung des jungen Kästner aufgefassten Formulierung, mit der dieser das titelgebende und am Ende jeder der insgesamt vier Strophen refrainartig wiederholte Wort »Helden!« beschreibt; als ein Wort nämlich, das so vielsagend und »so inhaltsschwer« sei: Es gibt ein Wort, das sagt so viel Und ist so inhaltsschwer ; Ein jeder, der es hört, wird still, Es klingt so hoch, so hehr : Helden! […] Das ist das Wort; es sagt so viel Und ist so inhaltsschwer ; Ein jeder, der es hört, wird still, Es klingt so hoch, so hehr : Helden! 83

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Studie zur historischen Grundlagenforschung. Chemnitz: Univ. Diss. 2008, S. 180, 182, 186 u. 190. Erich Kästner : Das Lied der Jugend. In: Fletcheranerbote 11 (1918) Nr. 1 (April), S. 9, V. 7–10 u. 14–16, zit. n. dem in Orthografie und Interpunktion geringfügig abweichenden NachlassTyposkript (Nachlass Erich Kästner. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Bestand A:Kästner, Mediennr. HS000895821). Johannes Glötzner : »Ich wollte kein Held sein oder werden!« In: Volker Ladenthin unter Mitarb. von Susanne Hucklenbroich-Ley (Hg.): Erich Kästner Jahrbuch. Bd. 3. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 57–66, hier S. 58. Reichelt: Kästner im Fletcherschen Lehrerseminar (Anm. 79), S. 179. Vgl. auch ebd., S. 180. Erich Kästner : Helden! In: Fletcheranerbote 8 (1915) Nr. 1 (Januar), S. 4, V. 1–5 u. 16–20, zit. n. Stresow: Auf den Spuren Erich Kästners (Anm. 70), S. 34.

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Bei dem vermeintlich Kästnerscher Ironie entsprungenen Neologismus handelt es sich indes weder um eine Wortneuschöpfung noch um eine ironieschwangere Formulierung, sondern vielmehr um eine Referenz auf und Reverenz an jenes Gedicht und jenen Dichter, das bzw. der Kästner hier für eine seiner frühen lyrischen Fingerübungen Modell und Pate gestanden hat: Friedrich Schillers »Die Worte des Glaubens«, 1797 entstanden.84 An Schiller immerhin hat Kästner – nun eher ideell als formal – auch in seiner im Sommer 1917 gehaltenen poetischen Abschiedsrede Ideal und Leben angeknüpft, in der er zumindest mit der gleichen Bildlichkeit spielt, mit der er 13 Jahre später die Schlachten des Weltkrieges beschreiben wird: Aus »dieser Sturmzeit, die den Erdenball / ins warme Herzblut seiner Völker taucht«85 wird 1930 im Kurzgefaßten Lebenslauf der lakonische Satz: »Dem Globus lief das Blut aus den Arterien.«86 Eine andere Strophe des »Helden!«-Gedichts hingegen könnte man vor dem Hintergrund der Heldenskepsis87 im späteren Werk Kästners zunächst sehr wohl als ironischen Kommentar auffassen – was allerdings offenkundig selbst Glötzner nicht tut: Und alle, die da draußen ruh’n, Tief unter Erd’ und Stein, Verdienen, daß wir ihnen nun Den schönsten Nachruf weih’n: Helden! 88

Im Kontext des zeitgenössischen Werks Kästners ginge diese Annahme auch deutlich fehl. In einem unveröffentlichten Gedicht, das Kästner einer eigenhändigen Notiz zufolge in den ersten Kriegsmonaten geschrieben haben muss (auf dem das Manuskript enthaltenden Umschlag hat er in späteren Jahren »O weh: Gedichte aus meinem 15. Lebensjahre!« notiert), wird der Heldenbegriff als »schönste[r] Nachruf« affirmativ durch den »Heldentod« als »schönste[n] Tod« bestätigt:

84 Vgl. dazu Fabian Beer : Ein »Urenkel der deutschen Aufklärung«, dem Schillers Glocke geschlagen hat. Erich Kästner als Schüler und Schuldner Friedrich Schillers – eine Spurensuche. In: Artur Nickel u. Matthias Nicolai (Hg.): Erich Kästner Jahrbuch. Bd. 7: Wenn Erich Kästner Zeitgenossen trifft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 13–58, hier S. 28–31, insb. S. 30. 85 Erich Kästner : [Ideal und Leben]. In: Fletcheranerbote 10 (1917) Nr. 3 (Juli), S. 32. Der im Abdruck nicht genannte Titel ist einem wiederum in Orthografie und Interpunktion minimal abweichenden Typoskript im Nachlass entnommen (Nachlass Erich Kästner. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Bestand A:Kästner, o. Mediennr.). 86 Erich Kästner : Kurzgefaßter Lebenslauf. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Anm. 16), S. 136, V. 11. 87 Vgl. dazu Glötzner: »Ich wollte kein Held sein oder werden!« (Anm. 81), S. 57–66. 88 Kästner : Helden! (Anm. 83), S. 4, V. 11–15 (Hervorh. F. B.).

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Ja! Nicht zu jammern, nicht zu klagen wenn Vater, Sohn und Bruder Schweres droht – Zuviel scheint’s dir, doch ist’s der Not Gebot! Und Heldentod der schönste Tod! […]89

Die kirchliche Seite der Krieges – Kästner, der Krieg und »die Angestellten Gottes« Dieses frühe Gedicht, das in sieben Strophen eine »Kriegsandacht« beschreibt, ist allerdings nicht nur in Bezug auf den Heldenbegriff und die (hier nicht vorhandene) Ironie des jungen Kästner von Interesse, sondern auch als wohl erstes Zeugnis eines Topos, der in der späteren Lyrik Kästners, zumal in den dezidiert kriegskritischen Gedichten der ausgehenden 1920er Jahre, immer wieder aufscheint; am prononciertesten vielleicht in seiner lyrischen Dystopie vom gewonnenen »Weltkrieg ›römisch Eins‹«: Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, dann wär der Himmel national. Die Pfarrer trügen Epauletten. Und Gott wär deutscher General.90

Der Konnex von Krieg und Kirche, den Kästner 1914 in der »Kriegsandacht« herstellt, liest sich noch ohne ironisch-satirischen Unterton: Auf der Kanzel steht jetzt im Talare Ehrgebietend, würdevoll der Hüter der Gemeinde, bittet für die lieben Freunde, die im Kampf stehn mit dem Feinde, doch auch jetzt wie alle andren Jahre: Herr, wie du willst!91

In der folgenden Strophe stellt er dem für die Soldaten um Segen bittenden Geistlichen eine um den gefallenen Sohn trauernde Mutter gegenüber : Dort in jener Ecke sitzt verlassen, – Schwarz gekleidet –, eine arme Mutter, Tränen fließen 89 Erich Kästner : Kriegsandacht. Unveröffentlichtes Manuskript [1914]. In: Nachlass Erich Kästner. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Bestand A:Kästner, Mediennr. HS001516746, V. 31–34. 90 Erich Kästner : Die andre Möglichkeit. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Anm. 16), S. 121f., V. 17–20. Die Formulierung »Weltkrieg ›römisch Eins‹« entstammt der »Anmerkung«, die Kästner dem Gedicht in der 1959 erschienenen ersten Neuauflage des Gedichtbands Ein Mann gibt Auskunft nach dem Zweiten Weltkrieg beigab. 91 Kästner : Kriegsandacht (Anm. 89), V. 13–18.

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Um den Sohn, der ihr entrissen. Jammernd liegt sie vor des Höchsten Füßen –, Nein! Sie kann den Sinn des Worts nicht fassen: Herr, wie du willst!92

Derselbe motivische Kontrast findet auch 1929 in dem nunmehr eindeutige Ironie-Signale enthaltenden Gedicht »Primaner in Uniform« Verwendung, wenn Kästner dort die von Trauer gebeugte Mutter eines im Krieg umgekommenen Klassenkameraden jenem »Rektor Jobst« die Aufwartung machen lässt (wohlgemerkt nicht umgekehrt), der »Gott pro Sieg« zu danken pflegt: Kerns Mutter machte ihm Besuch. Sie ging vor Kummer krumm. Und weinte in ihr Taschentuch vorm Lehrerkollegium.93

Dabei wird »Herr Rektor Jobst« nicht nur als Musterbeispiel eines »chauvinistischen Pauker[s]« gezeichnet, den Kurt Tucholsky sein literaturkritisches Alter Ego Peter Panter dereinst in ihm sehen ließ,94 sondern auch und vor allem als »Theolog / für Gott und Vaterland« beschrieben, der »jedem, der in den Weltkrieg zog / […] zuvor die Hand« gibt, um sodann selbst »mit Gott und den andern Herrn / gefaßt in der Heimat zurück« zu bleiben.95 Auch in einem weiteren Gedicht Kästners steht ein in der Heimat verbliebener Geistlicher den um ihren gefallenen Sohn trauernden Eltern gegenüber – interessanterweise einem Werk, das bereits »ca. 1918«, wohl in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem im Fletcheranerboten abgedruckten, »[e]inem gefallenen Freunde« zugeeigneten »Lied der Jugend« entstanden ist: In diesem »(einemanderen [!] gefallenen Freund)« gewidmeten, allerdings unveröffentlicht gebliebenen Gedicht kleidet er dessen Beerdigung in (insgesamt 32) Verse. Von der einstigen Emphase der »Kriegsandacht« von 1914 ist dabei nichts mehr zu spüren, vielmehr deutet der Ton bereits auf das in »Primaner in Uniform« gezeichnete Bild des Rektors Jobst und die an anderer Stelle von »Stimmen aus dem Massengrab« spöttisch gelobten »Angestellten Gottes« voraus, die »schön am Massengrab von Pflicht« sprächen und ansonsten »mit ihrem Chef vertraulich tun«, der gerade »einen Krieg verloren« hat.96 Die Wie92 Ebd., V. 19–24. 93 Erich Kästner : Primaner in Uniform. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Anm. 16), S. 139f., hier S. 140, V. 29 u. 17–20. 94 Peter Panter [d. i. Kurt Tucholsky]: Auf dem Nachttisch. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J. Raddatz. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1975, S. 309–318, hier S. 312. 95 Kästner : Primaner in Uniform (Anm. 93), S. 140, V. 13–16 u. 39f. 96 Erich Kästner : Stimmen aus dem Massengrab. (Für den Totensonntag, anstatt einer Predigt). In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Anm. 16), S. 61f., hier S. 61, V. 13f. u. 10f.

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dergabe der Grabrede des Pfarrers, der überdies, einen Terminus der Militärbürokratie aufgreifend, als »unabkömmlich« deklariert wird, führt die kirchliche Kriegsrhetorik mit unverhohlener Ironie vor : Der Pastor, der »unabkömmlich« war, der sollte die Eltern trösten: Vom Vaterland sprach er und dessen Gefahr Und vom Sohn, dem nun Glücklich=erlösten; Der spiele im Himmel jetzt täglich Skat, und freitags – wär’ Kegelschieben. Und er gebe ihnen den guten Rat, sich weiter nicht zu betrüben. Und als der Herr Pastor sein Sprüchlein gesagt, da ging es dann schnell zu Ende.– […]97

Dem gefasst mit Gott in der Heimat zurückbleibenden Rektor Jobst von 1929 und dem unabkömmlichen Pastor von 1918 verwandt ist schließlich ein weiterer ›Angestellter Gottes‹, der Kästner zufolge seine ganz eigene Kriegsrhetorik geprägt hat: Ein Pastor, der in der Heimat klebte, sagte seinerzeit ungefähr : »Wenn unser Herr Jesus heute lebte, bediente er ein Maschinengewehr!«98

Zwar lässt Kästner im Gedicht ausdrücklich offen, ob dieses Zitat jemals gefallen ist – »Sie glauben, der Ausspruch sei nie gefallen, / sondern erfunden oder entstellt? / Das Schlimmste an diesen Zitaten allen / ist, daß man sie für möglich hält.«99 Tatsächlich aber spiegeln seine Verse praktisch unverzerrt wider, was während des Krieges in der Schweiz für einiges Aufsehen sorgte und was spätestens Ende der 1920er Jahre auch in Deutschland publik wurde:100 Anfang Februar 1915 hatte der Pfarrer des Züricher Neumünsters, der vormalige Baseler Theologieprofessor und Universitätsrektor Adolf Bolliger, von seiner Kanzel gepredigt (und anschließend in voller Länge in der Neuen Zürcher Zeitung ab97 Erich Kästner : In der Heimat beigesetzt. Unveröffentlichtes Typoskript. In: Nachlass Erich Kästner. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Bestand A:Kästner, Mediennr. HS000895830, V. 17–26. Das Typoskript wurde nachträglich (von Kästner?) handschriftlich auf »ca. 1918« datiert. 98 Kästner : Zitat aus großer Zeit (Anm. 18), S. 99, V. 1–4. 99 Ebd., S. 100, V. 13–16. 100 Vgl.: Jesus am Maschinengewehr. In: Berliner Tageblatt vom 7. 8. 1930. Wiederabgedruckt in: Wolfgang Hütt (Hg.): Hintergrund. Mit den Unzüchtigkeits- und Gotteslästerungsparagraphen des Strafgesetzbuches gegen Kunst und Künstler. 1900–1933. Berlin: Henschel 1990, S. 242.

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drucken lassen), Jesus würde, »[w]enn er heute wiederkäme und wenn er einem Volk mit der allgemeinen Wehrpflicht angehörte«, mit Maschinengewehr oder Torpedo bewaffnet und »[v]on der Liebe getrieben […] seinen Mann stehen und mit Anspannung seines letzten Nervs für des Vaterlandes Rettung kämpfen«.101 Noch ein halbes Jahr später verteidigte er seine Idee vom »Waffentragen Jesu« gegen den Einwand, Christus könne und werde »doch nicht mit so schrecklichen Waffen kämpfen, wie die Maschinengewehre, Torpedos und ähnliche Waffen sind«, mit der polemischen Replik, »[m]it Blaserohren und Erbsen« könne selbst »er die Feinde des Vaterlandes nicht überwinden«: Auch alte Feuersteinflinten versprechen zurzeit keinen Sieg. Wenn er dem Vaterland vielleicht helfen will, muß er mit den Waffen kämpfen, die zurzeit bei der schrecklichen Bewaffnung der Feinde den Sieg ermöglichen. […] Denn auf die zweckmäßigen, ob auch noch so schrecklichen Waffen verzichten, heißt das Vaterland dem Untergange preisgeben.102

Das Vorspiel des Krieges – Von Sergeant Waurich und Konsorten Für noch weit mehr Diskussionsstoff als die Predigt des Schweizer Pfarrers sorgte, bereits Jahrzehnte vor Kriegsbeginn, die militärische Ausbildungspraxis und die damit allzu oft einhergehenden Misshandlungen von Soldaten im Wilhelminischen Kaiserreich: »Spätestens seit 1890«, so Hartmut Wiedner, habe »kein Militäretat den Reichstag ohne Debatte um das Thema Soldatenmißhandlungen« passiert:103 Abseits von der großen Politik hat es wenige Themen im Wilhelminischen Kaiserreich gegeben, die so lebhaft, so kontinuierlich und so verbissen in der Öffentlichkeit und in den gesetzgebenden Körperschaften […] diskutiert wurden wie die Soldatenmißhandlungen […].104

Das Spektrum derartiger Misshandlungen war denkbar weit und umfasste neben den üblichen verbalen Attacken der Ausbilder und Vorgesetzten und mehr oder minder harten körperlichen Züchtigungen auch das Strafexerzieren, 101 Adolf Bolliger : Jesus und der Kriegsdienst. Predigt auf 7. Februar 1915. Eine Predigt gegen unsere Antimilitaristen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 4. 1915, Drittes Sonntagblatt, S. 1f. 102 Adolf Bolliger : Jesus und der Kriegsdienst. Eine Duplik. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29. 8. 1915, Viertes Sonntagblatt, S. 1f. Hier ergänzt er auch, er habe mit dem von ihm erwähnten »Volk mit der allgemeinen Wehrpflicht« »immer ans deutsche Volk gedacht« – er erlaube aber »jedem, ein anderes passendes Beispiel zu wählen« (ebd., S. 1). 103 Hartmut Wiedner : Soldatenmißhandlungen im Wilhelminischen Kaiserreich (1890–1914). In: Archiv für Sozialgeschichte 22 (1982), S. 159–199, hier S. 160. 104 Ebd., S. 196.

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etwa in Form des »Gewehrstreckens in der Kniebeuge«, zum Teil bis zu dreihundertmal in Folge, oder des Befehls, die Pferdeställe mit bloßen Händen auszumisten.105 Auch in den Kriegsromanen der 1920er Jahre ist regelmäßig von überharten, menschenverachtenden und leuteschindenden Offizieren und Unteroffizieren die Rede. Am prominentesten ist wohl das Beispiel des Führers der neunten Korporalschaft in Remarques Im Westen nichts Neues, des untersetzten, schnurrbärtigen Unteroffiziers Himmelstoß, der seinen Rekruten während ihrer Ausbildung »wohl jede[n] Kasernenhofschliff […], der möglich war«, angedeihen lässt und dem deshalb – sehr zu seinem Stolz – der Ruf nacheilt, »der schärfste Schinder des Kasernenhofes« zu sein.106 Bereits zuvor tritt in Georg von der Vrings Soldat Suhren ein mittelgroßer, »dicker, hakennasiger Teufel mit kleinem zweiteiligen Schnurrbart« als Ausbildungsoffizier auf, Eberhard Zutschky mit Namen, ebenfalls »Unteroffizier der 9. Korporalschaft«, unter den Soldaten bekannt dafür, dass er »schon jahrelang vorm Krieg Leute geschunden [hatte]«, nunmehr »Kriegsfreiwillige ausbilden [wollte]« und »den freiwilligen Versuch [machte], Kriegsmutwillige auszubilden«.107 Ein solcher Militärausbilder tritt schließlich 1929 auch bei Kästner in Erscheinung, versehen mit dem – wie er 1946 anmerkt108 – »authentisch[en]« und späterhin immer wieder aufgerufenen109 Namen »Waurich«:

105 Ebd., S. 184. Vgl. auch ebd., S. 181–185, insb. S. 184f. 106 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausg. mit Anh. u. einem Nachw. hg. von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013, S. 34 u. 31. 107 Georg von der Vring: Soldat Suhren. Roman. Zürich: Zsolnay [1931], S. 21 u. 62. Vgl. auch ebd., S. 200 u. 356. 108 In Bei Durchsicht meiner Bücher… fügte Kästner 1946 folgende – in den meisten Auswahlund sämtlichen Werkausgaben wieder fortgefallene bzw. fehlende Anmerkung hinzu: »Der Name Waurich ist authentisch. Und von solchen Sergeanten bis zu den SS-Wachen der Konzentrationslager führt nur deshalb kein Weg, weil keiner nötig war.« (Erich Kästner : Bei Durchsicht meiner Bücher… Eine Auswahl aus vier Versbänden. Berlin: Atrium 1946, S. 64f., hier S. 65) Abgesehen davon, dass Kästner selbst die Authentizität im zweiten Satz der Anmerkung insoweit entindividualisiert, als er den im Gedicht geschilderten Sergeanten Waurich exemplarisch für eine Vielzahl »solche[r] Sergeanten« erklärt, ist sich die Forschung bei der Identifizierung des realen Waurich uneins: Je nachdem, ob sie sich auf Militärakten oder – dem Hinweis Kästners von 1930 folgend, dieser solle nunmehr Kohlenhändler in Dresden sein (vgl. Erich Kästner : Die Badekur. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Anm. 38), S. 248–252, hier S. 249) – auf das damalige amtliche Dresdner Adressbuch stützt, wird er mal als »Max« (vgl. Reichelt: Kästner im Fletcherschen Lehrerseminar (Anm. 79), S. 247) und mal als »Alfred Waurich« (vgl. Manfred Wegner (Hg.): »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Berlin: Dt. Histor. Museum; München: Münchner Stadtmuseum 1999, S. 20) identifiziert, den das Adreßbuch für Dresden und die Vororte 1930 als Inhaber einer Holz- und Kohlenhandlung verzeichnet. Vgl.: Adreßbuch für Dresden und die Vororte 1930. Auf Grund amtl. Unterlagen bearb. u. hg. von der unter Verw. des Rates zu Dresden stehenden Buchdruckerei der Dr. Güntzschen Stiftung. Dresden:

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Das ist nun ein Dutzend Jahre her, da war er unser Sergeant. Wir lernten bei ihm: »Präsentiert das Gewehr!« Wenn einer umfiel, lachte er und spuckte vor ihm in den Sand. »Die Knie beugt!« war sein liebster Satz. Den schrie er gleich zweihundertmal. Da standen wir dann auf dem öden Platz und beugten die Knie wie die Goliaths und lernten den Haß pauschal. Und wer schon auf allen vieren kroch, dem riß er die Jacke auf und brüllte: »Du Luder, du frierst ja noch!« Und weiter ging’s. Man machte doch in Jugend Ausverkauf … […] Wer ihn gekannt hat, vergißt ihn nie. Den legt man sich auf Eis! Er war ein Tier. Und er spie und schrie. Und Sergeant Waurich hieß das Vieh, damit es jeder weiß. […]110

In der erstmals ein halbes Jahr nach dem Gedicht erschienenen Kurzgeschichte Duell bei Dresden greift Kästner die Figur und einzelne Handlungselemente des Gedichtes auf und gestaltet sie weiter aus. Anders als die Kästner-Forschung, die sich mit Blick auf den Sergeanten Waurich mit dem knappen Hinweis, es handele sich bei ihm um »eine[] Himmelstoss-Figur, wie sie Erich Maria Remarque im Roman Im Westen nichts Neues zeichnet«111 bzw. der beiläufigen Bemerkung, in von der Vrings Soldat Suhren gebe es »übrigens auch einen Sergeanten Waurich […], der hier Zutschky heißt«,112 begnügt und ansonsten auf auto(r)biografische Hintergründe verweist, dürfte es Erich Kästner so wenig wie anderen Zeitgenossen entgangen sein, dass solche Ausbildungsoffiziere und ihre Me-

109

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Buchdruckerei der Dr. Güntzschen Stiftung 1929, S. 881. Abrufbar unter http://digital.slubdresden.de/id32253159Z (Stand: 12. 8. 2014). Vgl. Kästner : Die Badekur (Anm. 108), S. 249 und ders.: … und dann fuhr ich nach Dresden. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarb. mit Lena Kurzke. München, Wien: Hanser 1998, S. 90–95, hier S. 94. Vgl. auch (ohne Nennung Waurichs) Kästner : Als ich ein kleiner Junge war (Anm. 2), S. 47. Kästner : Sergeant Waurich (Anm. 16), S. 65f., V. 1–15 u. 21–25. Reinaldo Bossmann: Erich Kästner. Werk und Sprache. Curitiba: Haupt 1955, S. 13. Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht« (Anm. 9), S. 59.

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thoden ein Topos der damaligen Kriegsliteratur sind oder jedenfalls zu werden scheinen.113 Bemerkenswerterweise wird der Waurich-Figur, die in der Erzählung minimal abweichend »Aurich« heißt, in Duell in Dresden allerdings nur eine Nebenrolle zugedacht. Geschildert wird sie als skrupelloser, korrupter Sadist, der »wegen tollkühner Frontleistungen […] schon Offizierstellvertreter gewesen, aber wegen unerhörter Roheitsdelikte degradiert worden« war und jetzt den Rang eines Sergeanten bekleidet. Den Hass und Mordgelüste des Protagonisten zieht er auf sich, als er diesen – nachdem der Protagonist beim Strafexerzieren zusammengebrochen ist und deshalb auf Befehl Aurichs »wegen Subordination« in Arrest gebracht werden soll – auf dem Heimmarsch lauernd lächelnd fragt, ob dieser ihn, wenn er zuvor einen Revolver zur Hand gehabt hätte, »übern Haufen geknallt« hätte (was mit einem entschiedenen »Jawohl, Herr Sergeant!« beantwortet wird).114 Diese Episode, die ganz ähnlich bereits im Gedicht zur Sprache kommt – Er hat mich zum Spaß durch den Sand gehetzt Und hinterher lauernd gefragt: »Wenn du nun meinen Revolver hättst – brächtst du mich um, gleich hier und gleich jetzt?« Da hab ich »Ja!« gesagt.115

–, findet überdies einen motivischen Nachhall in Alexander Moritz Freys von Kästner hochgeschätztem Roman Die Pflasterkästen: Dort ist es der den Soldaten als »Viechkerl« mit dem mephistophelischen Antlitz des »Gottseibeiuns« geltende Bataillonsarzt, der nach herabwürdigender Behandlung des Protago-

113 Ausweislich seiner Arbeiten für das Feuilleton kannte Kästner sowohl von der Vrings als auch Remarques Roman, den er wahrscheinlich schon als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung (10.11.–9. 12. 1928) zur Kenntnis nahm, in der er damals gleichfalls publizierte (so erschien etwa in der Ausgabe vom 18. 11. 1928, in deren Unterhaltungsblatt auf S. 3f. die siebente Fortsetzung von Remarques Roman gedruckt wurde, Kästners Erzählung Fräulein Paula spielt Theater auf S. 2f.). Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur die (zweifellos nicht unangreifbare) »Studie« Wilhelm Müller Schelds, in der er mit Blick auf die HimmelstoßFigur ausführt: »Dieser Unteroffizier Himmelstoß ist ein Musterschweinehund, ein Wesen in menschlicher Gestalt, wie sie zahlreich beim Militär genau so oder aber mit ähnlichen Eigenschaften anzutreffen waren. […] Da hier von einem Schweinehund von Unteroffizier die Rede war […], will ich eine Episode aus einem anderen Kriegsbuch erwähnen, aus dem ›Soldaten Suhren‹ von Georg von der Vring. […] In diesem ›Soldat Suhren‹ gibt es auch einen solchen Schweinehund wie Himmelstoß, den Unteroffizier Zutschky, auch, wie Himmelstoß, Führer der neunten Korporalschaft.« (Scheld: »Im Westen nichts Neues« (Anm. 35), S. 18 u. 29). 114 Erich Kästner : Duell bei Dresden. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Hg. von Beate Pinkerneil. München, Wien: Hanser 1998, S. 357–362, hier S. 359. 115 Kästner : Sergeant Waurich (Anm. 16), S. 66, V. 16–20.

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nisten bei diesem wiederholt den Wunsch bzw. den Gedanken heraufbeschwört, »den Kerl« einfach mit dem Revolver »über den Haufen zu schießen«.116 Diesen Wunsch zieht in Kästners Erzählung selbst indes nicht nur Aurich auf sich, sondern insbesondere auch der Kompanieführer, ein gewisser »Oberleutnant d. R. Kinne (EK I)«, der Aurich in Brutalität und Sadismus noch übertrifft und sich dabei auch solcher Methoden bedient, wie sie schon in den Misshandlungsdebatten der Vorkriegsjahrzehnte aufschienen: Wenn er, im grünen Friedensrock, die Reihen abschritt, zitterte sein kaiserlich hochgewichster Schnurrbart genießerisch, und wenn die Unteroffiziere nicht gemein genug fluchten, half er, kenntnisreich, nach. […] Sie quälten ihre Konfirmanden wie die Teufel, sie überboten sich im Erfinden von Gemeinheiten und Strafen. […] Nach jeder Typhus- und Choleraimpfung ließ Kinne die Einjährigen zweihundertfünfzig Kniebeugen machen und sah persönlich darauf, daß sie tief und exakt ausgeführt wurden. […] Wer nicht, in den hohen schweren Stiefeln, vom Querbaum herab, über ihn hinweg, die Hocke wagte – diesen riskanten Sprung durch die Luft, mit hochgerissenen Knien –, wurde offiziell für einen Scheißkerl erklärt. Beim Stalldienst war es streng verboten, anders als mit bloßen Händen auszumisten.117

Nebenwirkungen des Krieges – Herzneurosen als Ausdruck von Lust und Leiden an der Moderne Dass bei derartigen Ausbildungsmethoden Wut und Frust, aber auch Verletzungen, Erkrankungen und zum Teil sogar Todesfälle nicht ausblieben, kann kaum ernstlich verwundern. Bei Remarque kommentiert Paul Bäumer dies lapidar mit den Worten, er und seine Kameraden hätten angesichts des Drills, der ihnen zuteilwurde, »oft […] vor Wut geheult«; »[m]anche« seien »auch krank dadurch geworden«, einer »sogar an Lungenentzündung gestorben«.118 Bei Kästner ist es hingegen, wie es in der letzten Strophe von »Sergeant Waurich« heißt, das Herz, das durch den Drill »versaut« wird: »Es sticht und schmerzt und hämmert laut.«119 Dieses hier erstmals im Werk Kästners aufscheinende Motiv wird wiederum in Duell bei Dresden am Beispiel des Protagonisten weiter entfaltet: Graff wurde herzkrank. Beim Strafexerzieren brach er zusammen. […] Graff konnte keine Treppe mehr steigen, ohne Herzkrämpfe und Atemnot zu haben. Er meldete sich vergeblich krank und beantragte, als der Stabsarzt wieder nichts fand, seine Unter116 Alexander Moritz Frey : Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman. Leipzig, Weimar : G. Kiepenheuer 1984, S. 59 u. 52. Vgl. dazu ebd., S. 96 u. 80. 117 Kästner : Duell bei Dresden (Anm. 114), S. 358f. 118 Remarque: Im Westen nichts Neues (Anm. 106), S. 34. 119 Kästner : Sergeant Waurich (Anm. 16), S. 66, V. 26 u. 28.

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suchung durch die Generaluntersuchungskommission. Die Generalärzte schickten ihn vier Wochen auf den Weißen Hirsch ins Lazarett. Als er zur Kompanie zurückkam, war Sergeant Aurich eben ins Feld gerückt. Der Oberleutnant übernahm seine Funktion und brachte es fertig, daß Graff, nach wenigen Tagen, kränker war als je zuvor. […] Graff meldete sich erneut zur Generaluntersuchung und wurde zu einem überplanmäßigen Bataillon abgeschoben, wo die Halbtoten der sächsischen Armee aufbewahrt und mit Kartoffelschälen unterhalten wurden.120

Lange hat man diesen Text, soweit man ihn denn überhaupt zur Kenntnis genommen hat, vor allem als Ausdruck jener »lebenslange[n] Malaise« gedeutet, die Sven Hanuschek »durch alle Biographien geister[n]« sieht121 – ohne zu beachten, dass man es wiederum mit einem Topos zu tun hat, der für die zeitgenössische Literatur (innerhalb wie außerhalb konkreter Werke) durchaus prägend war ; etwas überspitzt fasst Hanuschek zusammen: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs griffen Herzneurosen um sich. Brecht hatte eine und wurde gar nicht erst einberufen, einige Autoren des Dresdner Expressionismus hatten sie und kurierten sie in Sanatorien auf dem »Weißen Hirschen« aus, Georg von der Vring hat sie in seinem Roman Soldat Suhren (1927) als literarischen Topos gestaltet.122

Bei aller Zuspitzung verknappt auch Hanuschek die literatur- und kulturgeschichtlichen Kontexte des Phänomens ›Herzneurose‹ teilweise allzu sehr. Schon ob von der Vrings Soldat Suhren tatsächlich als dessen literarische Ausgestaltung gelten kann, ist fraglich: Denn die Titelfigur ist im dritten Kapitel des Romans lediglich darum bemüht, mit Hilfe diverser Tricks, Mittelchen und eines tatsächlich herzkranken Freundes, einen »Herzfehler« zu simulieren, um dem ungeliebten Militärdienst entkommen zu können.123 Am Ende des Kapitels muss er jedoch erkennen, dass er »kein Simulant sein könnte« und ist sodann, ausdrücklich »froh« ob dieser Erkenntnis, sogar »fest entschlossen, von diesem Tage an ein brauchbarer Soldat zu werden«.124 Mit dem, was Kästner in seiner Kurzgeschichte schildert, hat das doch recht wenig zu tun. Hinzu kommt, dass Herzneurosen keineswegs erst gegen Ende des Krieges beobachtet wurden, auch wenn die Tatsache, »daß die Ausbildung der später eingezogenen Mannschaften keine so langdauernde und sorgfältige sein konnte, wie etwa in Friedenszeiten« auch von Seiten der Militärärzte durchaus als ein das Auftreten von Herzneurosen befördernder Umstand betrachtet wurde.125 »Die 120 121 122 123 124 125

Kästner : Duell bei Dresden (Anm. 114), S. 359f. Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht« (Anm. 9), S. 58. Hanuschek: Erich Kästner (Anm. 76), S. 24. von der Vring: Soldat Suhren (Anm. 107), S. 29. Ebd., S. 32. August Hoffmann: Funktionelle und nervöse Herzkrankheiten. In: Ludolf v. Krehl (Hg.): Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918. Bd. 3. Leipzig: Barth 1921, S. 475–500, hier S. 477.

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Herzneurose«, so der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart, sei vielmehr bereits in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende herum »integraler Teil eines kulturpsychologischen Lebensgefühls« und »Gegenstand« einer von den »führenden Internisten des Kaiserreichs« nachgerade »beflügelten« »Lust an der Moderne« gewesen.126 Schon zu Friedenszeiten war die Herzneurose mithin »eine häufige Erscheinung unter den Stressgeplagten der Zeit« und eine »auch unter den Literaten der ersten Hälfte des frühen 20. Jahrhunderts« vielfach anzutreffende Symptomatik.127 Hierzu passt, dass die Herzneurose auch in Florian Illies’ Kulturgeschichtscollage vom Sommer des Jahrhunderts 1913 ein immer wiederkehrendes Thema ist: Im März zeigten sich bei Kafka (dem ein Nervenarzt 1916 dann ausdrücklich eine »Herzneurose« attestieren wird) »Anzeichen von Neurasthenie«, Ende des Monats diagnostiziere man bei Robert Musil »Erscheinungen einer schweren Herzneurose« und ab Mai, so Illies, dürfe dann auch Brecht »schon mit 15 Jahren […] stolz an denselben Symptomen leiden wie Franz Kafka und Robert Musil«, dem zwei Monate später schließlich auch amtsärztlich bescheinigt wird, an »allgemeiner Neurasthenie schweren Grades unter Mitbeteiligung des Herzens (Herzneurose)« zu leiden – eine schönere Zusammenfassung für »das Leiden an der Moderne«, findet Illies, könne es kaum geben.128 Einfluss auf den späteren Kriegseinsatz der genannten Literaten hatte ihre Herzneurose allerdings nur bedingt: Brecht musste zwar in der Tat nicht an die Front, wurde in den letzten Kriegsmonaten aber gleichwohl noch zum Militärdienst herangezogen, den er als Militärkrankenwärter in zwei Augsburger Reservelazaretten versah, um dann am 9. Januar 1919 – übrigens einen Tag nach Kästner – aus dem Dienst entlassen zu werden.129 Dass Musil, obschon erst Ende 1913 als Reservist entlassen, sich zu Beginn des Krieges freiwillig wieder zum Militärdienst meldete, dort durchaus Karriere machte und sich militärische Meriten erwarb, ist hinlänglich bekannt.130 Und Kafka ver126 Wolfgang U. Eckart: Wenn die Seele das Herz quält. Nervöse »Herzklopfer«, Erster Weltkrieg und die Popularisierung der Herzneurose. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 128 (2003), S. 2155–2158, hier S. 2156f. Vgl. auch die Kapitel »Modernität der Neurasthenie« und »Fortschritt der Nervosität von der Krankheit zum Kulturzustand« bei Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München, Wien: Hanser 1998. 127 Eckart: »Herzklopfer« (Anm. 126), S. 2156. 128 Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. 4. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 2012, S. 87, 90, 141 u. 179. 129 Vgl. Jürgen Hillesheim: Dem Elend der Front so nah. In: Augsburger Allgemeine vom 7. 12. 2012. Abrufbar unter http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Dem-Elend-derFront-so-nah-id23066951.html (Stand: 12. 8. 2014). 130 Vgl. z. B. den Kurzabriss von Musils militärischer Laufbahn bei Mathias Mayer: Der Erste Weltkrieg und sie literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven. Paderborn, München: Fink 2010, S. 237 und einen Brief Musils an Alfred Krauß, in dem er selbst seine militärischen Auszeichnungen aufzählt, auszugsweise abgedruckt bei Regina

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sprach sich gar Linderung seiner neurotischen Beschwerden durch den Kriegsdienst, den er auf Betreiben seines Arbeitgebers jedoch nicht antreten durfte.131 Zugleich gab es jedoch auch in den Vorkriegsjahren bereits neurotische Herzerkrankungen, die explizit auf den militärischen Drill zurückgeführt wurden. So erinnert sich der österreichische Schriftsteller Egmont Colerus in einer anekdotenhaft überlieferten Episode seiner Rekrutenzeit in der k. u. k. Armee, die durch die Diagnose ›Herzneurose‹ ihr Ende fand (die auch Colerus aber nicht vor einer Einberufung zum Landsturm im Herbst 1915 bewahrte): Im Jahre neunzehnhundertzwölf kam ich zum Militär und sollte mein Einjährigenjahr bei der Artillerie im Arsenal abdienen. Aber das anstrengende Exerzieren und das frühe Aufstehen hielt ich nicht lange aus, und so schickte man mich mit einem Begleitschreiben ins Garnisonsspital zur Untersuchung. […] Meine Nerven waren stark hergenommen durch den militärischen Drill, mein Herz lief auf Hochtouren […]. […] Nach einigen Untersuchungen wurde ich wegen Herzneurose vom Militär entlassen.132

Nichtsdestoweniger ist medizinhistorisch unzweifelhaft, dass »das Problem der Herzneurose […] im Zusammenhang mit der psychotraumatisierenden Wirkung des modernen technischen Massentötens auf den Schlachtfeldern der Westfront« im Ersten Weltkrieg dann »[m]it besonderer Macht« hervorgebrochen ist.133 Schon für die zeitgenössischen medizinischen Berater des Militärs war es freilich kaum verwunderlich, dass »in den besonderen Verhältnissen des Krieges« ein »vermehrte[s] Auftreten[] solcher funktionellen oder nervösen Kreislaufstörungen« festzustellen war, wobei insbesondere das Zahlenverhältnis von »organisch Erkrankten« und »Herzneurotikern« signifikant war.134 August Hoffmann berichtet 1921 im Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege von einem Verhältnis von eins zu fünf.135 Zur »Popularisierung der Herzneurose«136 in den Kriegsjahren trugen jedoch nicht selten auch die Militärärzte selbst bei: »[N]icht zuletzt«, so Hoffmanns selbstkritische Bilanz, habe »manche falsche Diagnose dazu beigetragen«, entsprechend veranlagte Kriegsteilnehmer dahingehend »ungünstig zu beeinflussen«, dass »diese nunmehr fest davon überzeugt wurden, herzkrank zu sein«. »›Herzfehler‹, ›Herzerweiterung‹, diese Worte fielen allzu oft und hafteten sich in dem Bewußtsein

131 132 133 134 135 136

Schaunig: Viribus unitis. Robert Musils Schreiben in kollektiver Anonymität. In: MusilForum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 31 (2009/2010), S. 202–223, hier S. 214. Vgl. Peter-Andr¦ Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Sonderausg. 2., durchges. Aufl. München: C. H. Beck 2008, S. 430–436. Zit. n. Blanca Colerus: Egmont Colerus. Schriftsteller, Humanist, Mathematiker. 1888–1939. Bearb. u. erg. von Monica Skidelsky-Colerus. Linz: Trauner 2006, S. 52f. Eckart: »Herzklopfer« (Anm. 126), S. 2157. Hoffmann: Herzkrankheiten (Anm. 125), S. 477. Vgl. ebd., S. 492. Eckart: »Herzklopfer« (Anm. 126), S. 2155.

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der Kranken fest, die darin die willkommene Bestätigung ihrer eigenen Ansicht, wirklich herzkrank zu sein, fanden und nicht wieder von diesem Glauben abzubringen waren.«137 Gleichsam wie eine launige Schlusspointe der Weltgeschichte erscheint es da, dass Kriegsmediziner – wenngleich unbewusst und indirekt – nicht unerheblichen Einfluss auf die Namensgebung des Ersten Weltkrieges hatten: Wäre es nach ihnen gegangen, hätte jenes Gespräch wohl nie stattgefunden, zu dem sich im September 1918 ein in Diensten des Generalstabs der US-Armee stehender Militärhistoriker der Harvard University und der Kriegsberichterstatter der Londoner Times in Frankreich zusammensetzten, um »the right name of the war« zu finden, und in dem man sich schlussendlich einvernehmlich darauf verständigte, diesen Krieg »The First World War« zu nennen, »in order to prevent the millennium folk from forgetting that the history of the world was the history of war«.138 Gleich mehrere Militärärzte nämlich sollen Robert Matteson Johnston, so der Name des Historikers,139 dereinst wiederholt für dienstuntauglich erklärt haben – eines schwachen Herzens wegen.140

137 Hoffmann: Herzkrankheiten (Anm. 125), S. 477. 138 Charles — Court Repington: The First World War 1914–1918. Personal Experiences. Bd. 2. London: Constable 1920, S. 391. 139 Repington nennt lediglich den militärischen Rang und den (noch dazu falsch geschriebenen) Nachnamen seines Gesprächspartners (vgl. ebd.). 140 Vgl. Arthur L. Conger : Robert Matteson Johnston, 1867–1920. In: The Journal of the American Military History Foundation 1 (1937) H. 2, S. 45f., hier S. 46. Neben Repington und Johnston werden zuweilen auch der deutsche Militärpublizist Hermann Frobenius und der Naturphilosoph Ernst Haeckel als Namensgeber des Krieges angeführt (vgl. z. B. Sönke Neitzel: Der Globale Krieg. In: Informationen zur politischen Bildung 321: Zeitalter der Weltkriege (2014), S. 17–25, hier S. 18). Zumindest die Behauptung, Haeckel habe bereits im September 1914 »vom erste[n] Weltkrieg im wahren Sinne des Wortes« gesprochen (ebd.), ist in dieser Form jedoch unrichtig und wohl dadurch zu erklären, dass es sich um die Rückübertragung einer verkürzten englischen Wiedergabe eines Zitats handelt, das ursprünglich aus Haeckels Pamphlet Englands Blutschuld am Weltkriege stammt, in dem er ausführte, es könne »[k]einem Zweifel […] mehr unterliegen, daß der Verlauf und Charakter dieses gefürchteten ›Europäischen Krieges‹, der direkt oder indirekt auch alle anderen Erdteile berühren und somit zu einem ersten wahren ›Weltkriege‹ sich auswachsen muß, alle bisherigen Kriege weit übertreffen wird.« (Ernst Haeckel: Englands Blutschuld am Weltkriege. Eisenach: Kayser 1914, S. 3) Vgl. dazu Fred R. Shapiro (Hg.): The Yale Book of Quotations. Foreword by Joseph Epstein. New Haven: Yale UP 2006, S. 329: »There is no doubt that the course and character of the feared ›European War‹ … will become the first world war in the full sense of the word.«

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Anstelle eines Fazits: Die gespiegelte Seite des Krieges – Der Krieg im Fabian Erich Kästner hat seine Schlusspointe hingegen selbst in literarische Form gebracht: Fabian, seine 1931 erschienene Geschichte eines Moralisten greift die Thematik verschiedentlich episodenhaft auf und erweist sich so gleichsam als Projektions- und Spiegelfläche des literarischen Umgangs mit Topoi und Themen des Ersten Weltkrieges. Als die Titelfigur gegen Ende des Romans Berlin den Rücken kehrt und sich in die Stadt seiner Kindheit und Jugend flüchtet, kommt er dort an verschiedenen Militärgebäuden vorbei, die Erinnerungen wecken, zugleich aber auch Elemente jener Kriegstopoi aufrufen, die Kästner zuvor lyrisch verarbeitet hat: Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Garnisionskirche und Kasernen vorüber. […] Wann war das denn gewesen, daß er hier gestanden hatte, ein Soldat unter Tausenden, die Hosen lang, den Helm auf dem Kopf, gerüstet zur feldgrauen Predigt, siebzehnjährig, was der deutsche Gott seinen Armeen mitteilen ließ? […] Hatte er hier nicht gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie zum dritten oder vierten Male feldmarschmäßig abgeführt wurden, miteinander um ein Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück sein werde? Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe?141

Hier wird nicht nur mit dem Konnex von Kirche und Krieg der Topos alludiert, der zugleich Kästners früheste literarische Verarbeitungen der Kriegsthematik umfasst, er wird auch mit der Umsetzung eines weiteren Topos in der Erzählprosa verknüpft. Der zweite Teil von Fabians Erinnerungen ist nichts anderes als die Paraphrase jener Formulierung, mit der in Duell bei Dresden die erste Berührung des dortigen Protagonisten Graff mit dem Kriegsgeschehen beschrieben wird: Er wurde damals eingezogen, als die alten Frontsoldaten, als man sie zum viertenmal ins Feld schickte, miteinander wetteten, ob sie schon in acht oder erst in vierzehn Tagen wieder zurückwären. Sie verloren unterwegs, gewöhnlich in Brüssel, den Transportführer […], verkauften die Feldmontur, besuchten armeebekannte Lokale und Mädchen, tauchten schließlich, achselzuckend, wieder im heimatlichen Reservedepot auf und hatten gegen ein paar Wochen Arrest nicht das geringste einzuwenden.142

Dessen Begegnung mit seinem einstigen Peiniger Kinne, nunmehr »Assessor am Landgericht«,143 auf der hinteren Plattform einer Straßenbahn im Nachkriegs141 Erich Kästner : Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. In: Ders.: Werke. Bd. 3 (Anm. 114), S. 7–203, hier S. 182f. 142 Kästner : Duell bei Dresden (Anm. 114), S. 357f. 143 Ebd., S. 357.

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dresden wird im Fabian gleichfalls aufgegriffen, allerdings in erheblich stärker modifizierter Form: Auf der Straßenbahn karambolierte er [Fabian], infolge einer Kurve, mit einem baumlangen Herrn. […] Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und Teufel Tantiemen.

Name und Profession (Knorr ist »Spediteur von Beruf«144) sind verändert, Physiognomie (auch Kinne ist »baumlang«145) und Charakterzeichnung sind jedoch identisch. Der größte Unterschied manifestiert sich in der Reaktion der einstigen Rekruten auf das Zusammentreffen mit dem früheren Vorgesetzten: Graff schlägt blindwütig auf Kinne ein, was von den anderen Fahrgästen mit Empörung wahrgenommen wird. Fabian hingegen reagiert (durchaus in mehrfachem Wortsinn) mit Witz: »Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine herunterhauen«, sagte Fabian. »Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behelfen.« Und damit trat er Herrn Knorr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen zusammenpreßte und ganz blaß wurde.146

Graffs Aktion mündet letztlich in dem für die Erzählung titelgebenden »Duell bei Dresden«; Fabians Reaktion indes wird von den Umstehenden mit Gelächter quittiert und bleibt für ihn folgenlos. Ungleich ernster liest sich demgegenüber die Aufnahme des Motivs vom kranken Herzen als ›Kriegsandenken‹ im ersten Viertel des Romans: Fabian […] atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. […] Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken.147

Dass Fabian sein »krankes Herz« gleichwohl gleichsam als »Kinderei« erscheint, erklärt sich aus einem nachfolgend episodenhaft in die Romanhandlung eingeschalteten Exkurs: In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhrchen, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. 144 145 146 147

Kästner : Fabian (Anm. 141), S. 195. Kästner : Duell bei Dresden (Anm. 114), S. 357. Kästner : Fabian (Anm. 141), S. 195f. Ebd., S. 54.

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[…] Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und mußten weiterleben. […] Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. […] Und der Selige, der irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im Gewehrlauf […].148

Diese Reminiszenz Fabians ergänzt überdies das Spektrum des schon in Duell bei Dresden literarisierten Topos um ein weiteres Element: Wird Graff dort noch den »heimlichen Kriegsopfern« zugerechnet, »die man mitzuzählen vergaß«, werden hier die verheimlichten Kriegsopfer, über die man allenfalls hinter vorgehaltener Hand gesprochen hat, buchstäblich in den Fokus gerückt – Fabian erinnert sich ausdrücklich »schrecklicher Fotografien, die er einmal gesehen hatte«. Damit wiederum wird zugleich ein referentieller Bogen zur zeitgenössischen Publizistik geschlagen: Erste derartige Fotos hatten – mitnichten, wie Bernd Ulrich betont, nur in medizinischen Fachzeitschriften – bereits in den Kriegsjahren kursiert, Anfang der 1920er Jahre gab es erste Presseberichte über die »geheimnisumwitterten Lazarette […] verborgen im Schwarzwald oder mitten in der Großstadt Berlin«, in denen sogenannte ›Kriegszermalmte‹ liegen sollten.149 Großes Aufsehen erregte jedoch vor allem der 1924 erstmals erschienene Bildband Ernst Friedrichs, in dem unter anderem Fotografien von »entsetzlich verstümmelte[n] Kriegsteilnehmer[n]«150 – um mehrsprachige provokative Bildunterschriften ergänzt – der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Fabians Erinnerung ist zweifellos eine Kästnersche Reverenz an diese Publikation – teils wörtlich nimmt er Formulierungen der Bildunterschriften im Roman auf.151 Nicht zuletzt lässt sich diese Episode auch als literarischer Rekurs auf die ehedem von Sclutius vorgebrachte Kriegsroman-Kritik lesen: Auch Kästner arbeitet hier mit Bildern von »weggerissenen Gesichtsfassaden«, bricht – gleichsam im Spiegel seiner Erzählung – die Darstellung jedoch mehrfach. Die Romanpassage ist zunächst nur Gerücht, die dieses dann dokumentarisch belegenden Fotografien sind nur einer vage bleibenden Erinnerung einer Figur 148 Ebd., S. 54f. 149 Bernd Ulrich: »… als wenn nichts geschehen wäre«. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs. In: Gerhard Hirschfeld u. Gert Krumeich (Hg.): Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch… Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen: Klartext 1993, S. 115–129, hier S. 117. 150 Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege! Guerre — la Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog! 9. Aufl. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1981, S. 206. 151 Vgl. dazu Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht« (Anm. 9), S. 202 und Thorsten Unger : Groteske Körper, Intermedialität und Krieg in Erich Kästners Fabian. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/2006), S. 161–185, hier S. 173–177.

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entnommen, die die gesamte Episode in erlebter Rede erzählt, also abermals perspektivisch gebrochen. Den ›Lärm des Krieges‹ vernimmt man gleichwohl auch im Fabian nicht. Den Spiegel vorgehalten hat Erich Kästner ihm jedoch auf vielfältige Weise – in Lyrik, Erzählprosa und Publizistik.152

152 Ich danke Peter Beisler (München), dem Nachlassverwalter Erich Kästners, und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Materialien aus Kästners Nachlass. Mein herzlicher Dank gilt überdies Silke Becker (Marbach/N.), Caroline Haupt (Bonn) und Johan Zonneveld (Den Haag) für die ebenso rasche wie unbürokratische Hilfe bei der Recherche und Materialbeschaffung.

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Wortmaterial-Schlachten. Emotionspsychologisch fundierte Untersuchungen zu Edlef Köppens Montage-Roman Heeresbericht

Der martialisch-metaphorische Titel meines Beitrags ist leicht erläutert: Er bezieht sich auf zwei Tatsachen, von denen diese Untersuchungen ihren Ausgang nehmen wollen. Beide können in der Erforschung von Köppens Roman im Besonderen und der den Ersten Weltkrieg in der Endphase der Weimarer Republik thematisierenden Literatur im Allgemeinen als durchgehend akzeptiert gelten: Edlef Köppens 1930 im Berliner Horen-Verlag erschienener Roman Heeresbericht ist erstens ein Montage-Roman, verwendet also in einer später noch näher zu bestimmenden Art und Weise bereits vorgefertigtes Text- und Wortmaterial. Die Jahre vor und um 1930 sind zweitens – einer prägnanten Formulierung von Herbert Bornebusch folgend – als »Krieg im Nachkrieg«1 zu bestimmen, jedenfalls von einer massiven und die politischen Entwicklungen und Entscheidungen der Zeit wesentlich beeinflussenden Auseinandersetzung um die Deutung des Ersten Weltkriegs geprägt. Diese Auseinandersetzung findet, wie Hans-Harald Müller überzeugend dargelegt hat, im Medium des Kriegsromans statt, so dass dieser entsprechend instrumentalisiert wird,2 was wiederum die auffällige Häufung solcher Romane in diesen Jahren erklärt. Diese Auseinandersetzung – die natürlich mit und gegen Remarques Im Westen nichts Neues geführt wird – ist zudem, wie Bernd Hüppauf jüngst rekonstruiert hat, vor allem ein Ringen um das Authentische, so dass eine der wichtigsten aggressiven Praktiken dieses ›Kriegs‹ darin bestand, Zweifel zu säen, »der Autor hätte nicht erlebt, was er schildert«,3 was freilich durch »die Stimmigkeit der immanenten Konstruktion« des jeweils Erzählten, »die im Kopf des Rezipienten entsteht«, gekontert werden kann.4 Dieselbe 1 Herbert Bornebusch: Gegen-Erinnerung. Eine formsemantische Analyse des demokratischen Kriegsromans der Weimarer Republik. Frankfurt/M.: Lang 1985, S. 57. 2 Vgl. Hans-Harald Müller : Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler 1986, insb. S. 2. 3 Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs. Bielefeld: transcript 2013, S. 193. 4 Ebd., S. 199.

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Auseinandersetzung ist auch in Termini der Erinnerungskultur beschreibbar, wie Astrid Erll gezeigt hat. Demnach sind die betreffenden Romane zwar fiktional, aber als ›Gedächtnisromane‹ auch als »kollektive Texte« der Erinnerungskultur »zu lesen«, was wiederum »eine Zuschreibung von Referentialität« nach sich zieht.5 Sie sind somit »in ihren kulturellen Kontexten wirksame Fiktionen«.6 Das Erscheinungsdatum des Heeresberichts – 1930 –, vor allem aber seine spezifische Textgestalt und -gestaltung als Montage-Roman weisen den Text aber als »latecomer«7 aus, von dem man erwarten kann, dass er bereits reflexiv auf die skizzierte Auseinandersetzung reagiert bzw. – in der Beschreibungssprache Erlls – als ›Metamemory‹ die ›Erinnerungskultur‹ selbst ›literarisch beobachtet‹,8 »auf die Konstruktivität des kollektiven Gedächtnisses«9 verweist und »das Leistungsvermögen von Kriegsromanen in der Erinnerungskultur«10 kommentiert. Dass dieses von Erll ins Zentrum ihrer Überlegungen zum Heeresbericht gestellte Reflexionspotential des Romans im Kontext der politischen Auseinandersetzung um die Deutung des Ersten Weltkriegs weder neutral ist noch verstanden sein will, bestätigt sie selbst durchaus, etwa wenn sie schreibt, dass »Politiker, Zensurbehörden und militärischer Stab […] in das Kreuzfeuer von Köppens reflexiver Gedächtnismontage« geraten.11 Diese Deutung des Textes als Parteinahme innerhalb der diskursiven Auseinandersetzung zugunsten einer fundierten pazifistischen Absage an diesen und jeden Krieg ist durchaus die übliche – und auch meiner festen Überzeugung nach die einzig zutreffende. Sie beruht zumeist auf einer Gegenüberstellung von offiziellem ›Heeresbericht‹ und dem Gros der in den Roman montierten Dokumente einerseits und der fiktiven Romanhandlung um die Hauptfigur, den im Verlauf des Krieges vom einfachen Soldaten zum Offizier aufsteigenden Adolf Reisiger andererseits. So stellt etwa Roman Schafnitzel fest, dass »der fiktive Erzählstrang den Status eines ›AntiHeeresberichts‹ [erhält], der die Bedeutungskonstruktion der offiziellen Kriegsberichterstattung in Frage stellt.«12 Er bestätigt damit Jutta Vinzent, die als 5 Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier : WVT 2003, S. 131. 6 Ebd., S. 135. 7 Ebd., S. 334. 8 Das Kapitel, in dem Erll (im textanalytischen vierten Teil ihrer Arbeit, ebd., S. 309) Köppens Roman untersucht, ist überschrieben mit »Metamemory : Literarisch beobachtete Erinnerungskultur«. 9 Ebd., S. 336. 10 Ebd., S. 340. 11 Ebd. 12 Roman Schafnitzel: Die vergessene Collage des Ersten Weltkrieges. Edlef Köppen: Heeresbericht (1930). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi 2003, S. 319–341, hier S. 336.

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bisher einzige eine Monographie zu Köppen und seinem Werk vorgelegt hat und über den Heeresbericht schreibt: »Explizit beansprucht Köppen mit dem Titel ›Heeresbericht‹ die ›Autorität eines Berichts‹ und verweist auf den außerliterarischen ›Heeresbericht‹ des Ersten Weltkrieges, dem er nun einen individuell erlebten entgegensetzt.«13 Dieses individuell Erlebte Reisigers ist freilich, auch wenn es in verschiedenen Momenten recht deutliche Übereinstimmungen mit Köppens Kriegserlebnissen aufweist,14 eindeutig fiktiv, weshalb Vinzent selbst feststellt, dass »die fiktive Handlung« des Romans als »Paradigma der Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit« und »Authentizität« zu gelten hat.15 Alles bisher Angeführte scheint mir nun weitgehend adäquat und zutreffend zu sein, eingeschlossen Vinzents These, wonach in und mit diesem Roman das Fiktive das Wahre bzw. Wahrhaftige ist, das gegenüber dem Realen und Dokumentierten, das sich als verfälscht erweist, epistemisch wie politisch zu bevorzugen ist. Dass und wie dies möglich sein kann, scheint mir freilich weitgehend unklar zu sein, auch wenn es von Literaturwissenschaftlern und Dichtern16 immer wieder gerne akzeptiert wird, den Status von Realität und Fiktion zu vertauschen oder ihre Grenzen zu verwischen. Ich möchte nun also in einem ersten Schritt einen fundierten Vorschlag machen, wie es literaturwissenschaftlich plausibel gemacht werden kann, dass Fiktives gegen Reales beanspruchen kann, das Wahre zu sein. Es wird dann allerdings festzustellen sein, dass damit die spezifische Textgestalt des Romans Heeresbericht nicht völlig erklärt wird, so dass das Erklärungsmodell in einem zweiten Schritt erweitert und modifiziert werden muss. Insgesamt geht es also darum, die vorliegenden Interpretationen des Heeresberichts – als ›Wortmaterial-Schlacht‹ – theoretisch (besser) zu fundieren, damit zu plausibilisieren und ggf. auch zu präzisieren. Das im Folgenden zu nutzende Erklärungsmodell stammt aus der kognitions- bzw. emotionspsychologisch fundierten Literaturwissenschaft und zielt darauf ab, auch die (tatsächlichen) Rezipienten von literarischen Texten mit ihren (konkreten) Rezeptionsprozessen bei der Untersuchung von Literatur zu berücksichtigen,17 in diesem Fall besonders die von (einem Text wie) Heeresbericht ausgelösten Emotionen.18 13 Jutta Vinzent: Edlef Köppen – Schriftsteller zwischen den Fronten. Ein literaturhistorischer Beitrag zu Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Innerer Emigration mit Edition, Werkund Nachlaßverzeichnis. München: iudicium 1997, S. 194. 14 Vgl. dazu bes. ebd., S. 92–96. 15 Ebd., S. 195. 16 Man wird mir verzeihen, dass ich im Sinne der Lesbarkeit meines Beitrags auch dann das Maskulinum verwende, wenn offenkundig auch weibliche Personen bezeichnet werden sollen. 17 Tatsächliche Rezipienten und konkrete Rezeptionsprozesse können hier natürlich nicht untersucht werden, schon gar nicht zeitgenössische Leser des Heeresberichts aus dem Jahr 1930. Die im Folgenden genutzten theoretischen Erklärungsmodelle zeichnen sich allerdings

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I. Dieser erste Massenkrieg, ausgefochten mit den Waffensystemen der technologischen Moderne, auf riesigen, entleerten Schlachtfeldern führte zu einer Krise der Zivilisation und mit ihr zu einer Krise der Erinnerung. Die verstört aus dem Krieg Zurückkehrenden hatten die Gefahr des Wahnsinns im Feld bewältigt und kämpften nun mit dem Problem, das neue, der Katastrophe entronnene Ich in die Gesellschaft einzufügen. Das Gefühl breitete sich aus, dass es keine Ursache geben könne, die dieses Leid und Blutbad rechtfertige. […] Der Erste Weltkrieg war ein Schock, weil er jedes bekannte Bild von Krieg und Frieden sprengte. Die jahrtausendealte Funktion des Kriegs, Identität durch Identifikation zu schaffen, geriet in die Krise.19

Mit diesen Worten charakterisiert Bernd Hüppauf in der Einleitung zu seiner Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs den Ersten Weltkrieg mitsamt seinen psychosozialen Folgen. Sie weisen mehr als deutlich darauf hin, dass in den Nachkriegsjahren Gefühlen eine enorme Bedeutung zukommt – für den Einzelnen wie für die Staaten und Gemeinschaften und ihre jeweilige ›Identität‹, im erinnernden Rückblick wie für die aktuelle Situation und die daraus resultierenden Entscheidungen für die Zukunft. Dies betrifft natürlich besonders die Generation der in den 1890er Jahren Geborenen, die, wie etwa der 1893 geborene Köppen, den Ersten Weltkrieg als junge Soldaten selbst erlebt und seine Schlachtfelder überlebt haben. Nun, zehn Jahre nach Kriegsende, ringen sie oft noch damit, ihr ›Ich in die Gesellschaft einzufügen‹, weil das Erlebte (Traumatisierungen) noch nicht überwunden ist und immer wieder neu Gefühle von Angst, Unvermögen oder Benachteiligung auslöst. Andere aus dieser Generation betreiben hingegen aus dem im Krieg erfahrenen Hochgefühl (des erfolgreichen Frontkämpfers oder Mitglieds einer Gemeinschaft von Kameraden) die Durchsetzung eines entsprechend eingerichteten Staatswesens. Es betrifft aber auch die jüngeren, um und kurz nach 1900 Geborenen (Ernst Glaesers Jahrgang 1902), die den Krieg als Kinder oder Jugendliche an der Heimatfront noch miterlebt haben, die aber vor allem in den 1920er Jahren den bald einsetzenden, von heftigen Gefühlen geprägten und ebensolche Gefühle auslösenden Erinnerungen und Erzählungen aus dem großen Krieg ausgesetzt sind. Die eingangs skizzierte kriegerische Auseinandersetzung um die Deutung des Kriegs ist also dadurch aus, dass sie tatsächlich in empirischen Studien entwickelt und/oder überprüft worden sind oder Hypothesen formulieren, die in empirischen Studien überprüft werden können. 18 Emotionen (Gefühle) und Kognitionen miteinander zu verknüpfen, mag unplausibel erscheinen, im Kontext von Kognitionspsychologie und Kognitionswissenschaft, die an Zuständen des Gehirns bzw. des Geistes unter einer ganzheitlichen Perspektive interessiert sind, ist es das gerade nicht. Vielmehr geht man hier grundsätzlich davon aus, dass beide auf vielfache und komplexe Art und Weise miteinander korreliert sind. 19 Hüppauf: Krieg (Anm. 3), S. 78f.

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nicht nur als ein Ringen um Identitäten, Worte, Diskurse, Erinnerungen und Authentizität zu beschreiben, sondern auch als eines um Gefühle. Die Geschichte, die Edlef Köppens Roman chronologisch in zwei Teilen mit insgesamt 15 Kapiteln erzählt, ist die Geschichte des fiktiven Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger, der im Herbst 1914 als Teil des »Regiments Feldartillerie 96«20 in den Krieg eintritt und vier Jahre später, im Herbst 1918 unmittelbar vor Kriegsende, »erklärt, daß er den Krieg für das größte aller Verbrechen hält«, sein weiteres Mitwirken an diesem Verbrechen ausschließt und deshalb »ins Irrenhaus« (HB 457) gesperrt wird. Zwischen diesen beiden Ereignissen – Ein- und Austritt aus dem Kriegsgeschehen, mit denen die Erzählung einsetzt bzw. schließt – liegen vier Jahre Kriegsgeschehnisse und Kriegserlebnisse des Soldaten Reisiger, die denen nicht unähnlich sind, die andere Kriegsromane von ihren Protagonisten erzählen und die viele Soldaten auf beiden Seiten der Front, darunter Edlef Köppen, selbst erlebt haben. Die meist mit interner Fokalisierung von einer heterodiegetischen Instanz erzählten Geschehnisse des Romans sind episodisch organisiert und in der Regel auf historisch belegte Kriegsschauplätze und Kriegsereignisse beziehbar. Sie umfassen eine Vielzahl von lebensbedrohlichen und atemberaubenden Geschehnissen im Fronteinsatz (meist der Westfront), in deren Verlauf Reisiger mehrfach verwundet wird und viele seiner Kameraden und Vorgesetzten getötet werden – ebenso wie feindliche Soldaten, die unter das Feuer des FeldartillerieRegiments 96 kommen. Sie umfassen aber auch die nervtötende Langeweile des Stellungskriegs, die Beschwerlichkeiten des Front- und Grabenalltags, Erholungsphasen hinter der Front und einen für den Heimkehrer zutiefst irritierenden Heimaturlaub. Hinter dieser episodischen Ereignisreihe, die an der historischen Ordnung des Kriegsverlaufs ausgerichtet ist, lassen sich jedoch zwei Entwicklungsstränge erkennen, die auf die Figur Adolf Reisiger bezogen sind: Er steigt erstens vom einfachen Soldaten auf und wird – weil er sich im Kampf bewährt und Führungsqualitäten bewiesen hat sowie mehrfach ausgezeichnet und belobigt worden ist – Unteroffizier, später sogar Offizier, letzteres trotz Vorbehalten im Stab, die anlässlich von ihm veröffentlichter Gedichte Bedenken wegen seiner Gesinnung haben.21 Zweitens durchläuft Reisiger einen Prozess zunehmender Desillusionierung, der parallel zu seinem Aufstieg in der militärischen Hierarchie, der auch seine Verantwortung für und seinen Überblick über die ihn betreffenden Kriegsgeschehnisse erhöht, parallel zur Akku20 Edlef Köppen: Heeresbericht. Berlin-Grunewald: Horen 1930, S. 15. Der Text wird im Folgenden nach der Originalausgabe mit der Sigle HB und Seitenzahl in Klammern nachgewiesen. 21 Die beiden Gedichte »Träumen« und »Loretto (Für H.K.)« (vgl. HB 330) hat Edlef Köppen – unter ähnlichen Umständen wie der fiktive Reisiger – 1915 und 1916 verfasst und veröffentlicht. Vgl. etwa Vinzent: Köppen (Anm. 13), S. 93f.

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mulation von bedrückenden Erlebnissen im Verlauf der vier Kriegsjahre und parallel zu den Auflösungserscheinungen und der Übermacht des Gegners in den letzten Kriegsmonaten verläuft und an dessen Ende seine Erklärung steht: »ich, ich, ich mache den Krieg nicht mehr mit.« (HB 459) Die fiktionale Erzählung des Romans, deren Geschichte hier in groben Umrissen beschrieben worden ist, ist recte gesetzt. Dem Roman vorangestellt ist zudem eine »Notiz«, welche die Geschichte als fiktive ausweist: »Personennamen und Bezeichnungen der Truppenteile entsprechen – außer in den Dokumenten – nicht der Wirklichkeit.« (HB 9) Die hier angesprochenen ›Dokumente‹ sind kursiv gesetzt und somit sofort für den Leser als solche erkennbar, zumal sie durchgehend »autorisiert« sind.22 Die meisten der Dokumente sind ›echt‹, ›authentisch‹, d. h. sie sind – als Texte – auch außerhalb des Romans, also in der Lebenswelt des Autors und der Leser vorhanden und, zum Teil jedenfalls, verfügbar. Viele der Dokumente sind offiziellen Charakters und bestätigen so den Titel des Romans, etwa die, mit denen das erste Kapitel einsetzt: die Kriegserklärung vom 31. Juli 1914, die Mobilmachung vom 1. August (vgl. HB 11f.) – und der Musterungsbescheid des »Student[en] Adolf Reisiger«, der trotz »Plattfüße[n]« für »[t]auglich« erklärt wird (HB 12). Dieses ›Dokument‹ ist – wie weitere ähnliche, die auf Figuren und Geschehnisse der fiktiven Geschichte bezogen sind – natürlich nicht völlig ›authentisch‹, aber doch, wie Brian Murdoch festgestellt hat, »real in format, with the fictitious details of Reisiger imposed upon them«.23 Das ›Format‹, in diesem Fall das der Textsorte Musterungsbescheid, ist also durchaus echt und so oder sehr ähnlich (wenn auch mit anderen, nicht-fiktiven Namen, etwa dem Edlef Köppens) auch prinzipiell belegbar. Andere Dokumente sind weniger offiziell und entstammen sehr unterschiedlichen Quellen. Die Bandbreite reicht von Zeitungsmeldungen und öffentlichen Briefen über Lexikoneinträge bis hin zu Werbeanzeigen. Und nicht alle Dokumente stammen aus den Kriegsjahren 1914 bis 1918, einige sind älter, einige jünger, dokumentieren also bereits den Wissensstand der Nachkriegsjahre.24 Diese Dokumente nun, die den Roman von Anfang bis Ende durchziehen und immer wieder – meist in kleinen Gruppen – in die Passagen des fiktionalen Erzähltextes eingeschoben werden, machen den Charakter des Romans als Montage-Roman aus, da sie mit erkennbarer Bruchstelle als fremdes Material in den Romantext integriert sind.25 Freilich bleibt der fiktionale Erzähltext mit 22 Ebd., S. 185. 23 Brian Murdoch: Documentation and Narrative. Edlef Köppen’s Heeresbericht and the AntiWar Novels of the Weimar Republic. In: New German Studies 1 (1988), S. 23–47, hier S. 33. 24 Vgl. dazu insb. Vinzent: Köppen (Anm. 13), S. 184–189. 25 Über die Verwendung der Termini »Montage« oder »Collage« für diesen Sachverhalt kann man streiten – Vinzent: Köppen (Anm. 13), S. 192 spricht von »Montage«, Schafnitzel:

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seiner Geschichte das strukturierende Gerüst des Romans als Ganzem, da, wie Vinzent zutreffend bemerkt, »[d]er Zusammenhang der Dokumente […] erst durch die fiktive Handlung« entsteht.26 So erfährt der Leser etwa durch die eben erwähnten Dokumente zu Beginn des Romans, dass der Krieg begonnen hat und dass Reisiger gemustert worden ist, und gleich darauf setzt die fiktionale Erzählung über Reisiger ein. Und bevor erzählt wird, was Reisiger und seinem Regiment bei Lens widerfährt, werden vergleichend zwei Lexikoneinträge aus den Jahren 1909 und 1925 in den Text einmontiert (vgl. HB 112), um den Schauplatz des Geschehens und die (bevorstehende) Zerstörung der Stadt bekannt zu machen. Solche und ähnliche Dokumente dienen offenkundig dazu, dass sich die fiktionalen und die faktualen Ansprüche des Textes begegnen: Die erzählte fiktive Geschichte wird auf die reale Geschichte des Weltkriegs bezogen, so dass jene als ein Ausschnitt von dieser erscheint. Eine Funktion der Dokumenten-Montage besteht also darin, die historische Wahrheit des fiktional Erzählten zu beglaubigen. Eine andere, dieser entgegengesetzte Funktion der Montage ist aber ebenfalls deutlich greifbar : Viele Dokumente stehen – obwohl auf dasselbe (fiktive-undreale) Geschehen bezogen – inhaltlich im Kontrast zur erzählten Geschichte, etwa der folgende Auszug aus Ludwig Ganghofers Reise zur deutschen Front 1915,27 der in das siebte Kapitel des ersten Romanteils einmontiert ist: Immer ist es ein feines Pfeifen in der Luft. Und von der Tiefe des Feldhanges, der sich hinuntersenkt gegen das Tal, klingt ununterbrochen ein lustiges Knallen herauf, als stände da drunten die Schießstätte des Münchner Oktoberfestes. (HB 176)

Die Geschichte, die im direkten Text-Umfeld dieses Dokuments erzählt wird, spricht eine andere Sprache und hat keine Ähnlichkeit mit dem Oktoberfest. Es ist die echte Geschichte der Schlachtfelder an der Westfront, die kein »lustiges Knallen« kennt, sehr wohl aber permanentes Trommelfeuer und den massiven Einsatz von Giftgas auf beiden Seiten der Front. Direkt vor der GanghoferPassage heißt es im Erzähltext: »Hauptmann Mosel, kaum noch zu erkennen, kaum noch menschlich, überbrüllt sich: ›Gasangriff!‹« (HB 176) Und direkt danach: »Hauptmann Mosel steht am Scherenfernrohr im Panzerturm. Warum er soeben ›Gasangriff‹ ins Telephon gebrüllt hatte, ist ihm nicht klar. UnterbeCollage (Anm. 12) von »Collage« –, was hier unterbleiben muss. Auch die narratologische Frage, ob man bei einem solchen Montage-Roman neben der fiktionalen Erzählinstanz auch einen vom (impliziten) Autor zu unterscheidenden Text-Arrangeur (der die Auswahl und Ein-Montage der Dokumente verantwortet) annehmen soll, bleibt hier unerörtert. 26 Vinzent: Köppen (Anm. 13), S. 189. 27 Ludwig Ganghofer : Reise zur deutschen Front 1915. Berlin u. a.: Ullstein 1915. Vgl. dazu Erhard Schütz: Reisen zur Front. Wie Ludwig Ganghofer für Ullstein in den Krieg zog. In: Christian Meierhofer, Michael Schikowski u. Jens Wörner (Hg.): Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg im Sachbuch. Non Fiktion 8/9 (2013/14) H. 2/1, S. 73–87.

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wußtsein?« (HB 176) Ganghofers »feines Pfeifen« wird somit durch die fiktive Geschichte als das entlarvt, was es ist: ein Ausdruck von Unkenntnis der Frontrealität oder eine intendierte Verschleierung derselben im Sinne der Kriegspropaganda. Viele offizielle Dokumente aus dem ›Heeresbericht‹ und ähnlichen Quellen, die Köppen in den Text einmontiert, stehen in einem ähnlichen Verhältnis des Widerspruchs zur erzählten Geschichte. Einige einmontierte Dokumente widersprechen sich zudem auch untereinander und erweisen sich so insgesamt als inkonsistent und nicht wahrheitsfähig. Der Text hebt dies zudem explizit hervor, indem er solche widersprüchlichen Dokumente nicht nur einmal in den Roman einmontiert, sondern – das eben präsentierte Dokument quasi zitierend – ein zweites Mal, nun im direkten Kontakt mit einem anderen Dokument, so dass der Widerspruch zwischen den beiden offenkundig wird.28 Dies geschieht etwa zu Beginn des sechsten Kapitels, wo Dokumente der Kriegsparteien aufgereiht werden, die der jeweils anderen Seite den Einsatz von Giftgas vorwerfen bzw. die eigenen Gasangriffe verharmlosen (vgl. HB 144–147). Noch deutlicher wird dieser Widerspruch der Dokumente zu Beginn des zweiten Romanteils, wo öffentliche Dokumente der Staatsoberhäupter der Krieg führenden Parteien aneinandergereiht werden, die allesamt davon ausgehen, dass Gott »mit uns« (HB 243) sein wird, was am Ende dieser Dokumentenreihe ebenso knapp wie unmissverständlich noch einmal so zusammengefasst wird: »… mit Uns … mit Uns … mit Uns … mit Uns … wer es auch sei …« (HB 244). Der eine Gott, auf den sich alle berufen, ist ganz sicher nicht in der Lage, mit allen zu sein, die sich hier auf ihn berufen, und wahrscheinlich – so legt es der Text nahe – mit keinem. Die Dokumente im Text sind somit bestenfalls, wie Bornebusch schreibt, »eher museale Objekte«, jedenfalls »kaum mehr Ausschnitte lebendiger Gegenwart«, sie stehen zum erzählten bzw. historischen Geschehen in einem Verhältnis der »Distanz«.29 Vinzent formuliert denselben Sachverhalt deutlicher : Im »Heeresbericht« zeigt Köppen, daß er die »Sachlichkeit« hinterfragt: Mit Hilfe von Erzählung und Dokumenten wird offengelegt, wie in Dokumenten Realität fingiert werden kann. Die sogenannten »Fakta« werden entlarvt als Propaganda, während sich die Fiktion als real, als »Bericht« erweist.30

Dass dies eine zentrale Absicht des Romans ist – durch Reflexion über das Zustandekommen von ›Wahrheiten‹ die Falschheiten der Kriegspropaganda im 28 Murdoch: Documentation (Anm. 23), S. 30 beschreibt dieses Verfahren als »a kind of supercommentary, in that selected phrases within the quoted italicised sections are highlighted by repetition, so that a second selection process may be seen at work.« 29 Bornebusch: Gegen-Erinnerung (Anm. 1), S. 145. 30 Vinzent: Köppen (Anm. 13), S. 229.

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und der Kriegsdeutungen nach dem Krieg auszustellen –, zeigt auch das dem Roman als Motto vorangestellte Dokument: Oberzensurstelle Nr. 123 O. Z. 23 .3. 15: Es ist nicht erwünscht, daß Darstellungen, die größere Abschnitte des Krieges umfassen, von Persönlichkeiten veröffentlicht werden, die nach Maßgabe ihrer Dienststellung und Erfahrung garnicht imstande gewesen sein können, die Zusammenhänge überall richtig zu erfassen. Die Entstehung einer solchen Literatur würde in weiten Volkskreisen zu ganz einseitiger Beurteilung der Ereignisse führen. (HB 7)

Der Roman Heeresbericht des ehemaligen Frontsoldaten Edlef Köppen, der die Geschichte des Soldaten Adolf Reisiger großteils aus dessen Erlebnisperspektive erzählt, ist nun aber genau das, was die Zensurstelle hier untersagt. Und er beansprucht offenkundig, »die Zusammenhänge […] richtig zu erfassen«, jedenfalls mindestens ebenso richtig wie das, was die Zensur zulässt. Er dient also gerade dazu, einer »ganz einseitige[n] Beurteilung der Ereignisse« vorzubeugen, jetzt, gut zehn Jahre nach Kriegsende. Eine Theorie, wie es möglich sein kann, dass Fiktionales als wahrer oder wahrhaftiger angesehen werden kann als Dokumentiertes, liefern, wie eingangs angekündigt, die Kognitions-/Emotionspsychologie bzw. eine auf sie ausgerichtete Literaturwissenschaft und Ästhetik. Eine solche Theorie anzusetzen, setzt natürlich keinesfalls Kenntnisse dieser Theorie bei den Autoren und Rezipienten solcher Fiktionen voraus – wie etwa Thomas Anz unter Bezugnahme auf Simone Winko gezeigt hat.31 »Alles Erzählen wurzelt« – so Karl Eibl mit Blick auf die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens, auch im Bereich der Künste und der Literatur, und Bezug nehmend auf eine Studie von Kay Young (einer Literaturwissenschaftlerin) und Jeffrey L. Saver (einem Neurologen) – »›in der unausweichlichen Subjektivität des Erzähl- und Erinnerungssystems des Gehirns.‹«32 Erzählen ist somit – nur vielleicht etwas überpointiert ausgedrückt – die menschliche Strategie zur Erzeugung und Verhandlung subjektiver, empfundener und ›gefühlter‹ Wahrheiten. Dabei spielt die Tatsache eine eher untergeordnete Rolle, dass viele Erzählungen, gerade diejenigen, die uns Literaturwissenschaftler besonders interessieren, fiktional sind. Denn natürlich sind wir (Menschen, Leser bzw. unser Gehirn und unser Geist) in der Lage, das Fiktionale, das uns affiziert, nicht 31 Vgl. Thomas Anz: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. In: literaturkritik.de rezensionsforum (Dezember 2006), Nr. 12. Abrufbar unter http://www.literatur kritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267& ausgabe=200612 (Stand: 23. 7. 2014). 32 Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn: mentis 2004, S. 259. Das (übersetzte) Zitat Eibls entstammt Kay Young u. Jeffrey L. Saver: The Neurology of Narrative. In: Substance 94/95 (2001), S. 72–84, hier S. 79.

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unmittelbar handlungswirksam werden zu lassen – wie es im Umgang mit Fiktionen noch ungeübte Kinder gelegentlich vielleicht noch tun, wenn der Räuber dem Kasperl den Knüppel über den Schädel ziehen will. Im Bewusstsein, dass das Wahrgenommene fiktional ist, können die von ihm ausgelösten Affekte also vom ›Handlungssystem‹ ›abgekoppelt‹ werden, ohne deshalb in ihrer Qualität beeinträchtigt zu werden.33 Denn, und hier nutze ich die Formulierung Keith Oatleys, eines der führenden Forscher im Feld (das Oatley selbst als ›Psychologie der Fiktion‹34 bezeichnet), der auch als Romanschriftsteller tätig ist: In watching a film, or indeed engaging with any fiction, we experience a flow of emotion in relation to events. It is we who put these events together, constructing them into something meaningful to ourselves, and experiencing the resulting emotions.35

Dabei spielen die (traditionell formuliert) ›Identifikation‹ bzw. die (psychologisch formuliert) ›Empathie‹ der Rezipienten mit den Figuren der Fiktion ganz offensichtlich eine herausragende Rolle. Diese »imaginative empathy« charakterisiert Oatley als doppelten Prozess: One part is that, by simulation within ourselves we infer what emotion the other person is feeling and we impute it to that person. The second part, which occurs at the same time, is that, because of the simulation, we feel a corresponding emotion in our self, in a way that can make for social coordination. This imaginative mindreading can be based on a wide variety of information about the other.36

Der Literatur- und Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt hat in seiner Monographie zu den Kulturen der Empathie diese enge Verknüpfung von Narration, Fiktion und der menschlichen Fähigkeit zur Empathie (und zum Gedanken- bzw. Gefühle-Lesen), die ja eine biologisch und kulturell entwickelte ist, sogar als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis modelliert.37 Die Empathie der Leser von (fiktionalen) Erzählungen ist es somit im Wesentlichen, die aus der Abfolge von Ereignissen (narratologisch: der ›story‹) kausale (oft psychologische) Verknüpfungen zwischen den erzählten Ereignissen und somit erst eine Geschichte (narratologisch: einen ›plot‹) erzeugt: »Narration findet im Kopf des 33 Vgl. hierzu insbesondere Eibl: Animal Poeta (Anm. 32), S. 283. Eibl nimmt hier (und öfter) Bezug auf die einschlägigen Studien der Evolutionspsychologen John Tooby u. Leda Cosmides, insbesondere: Does Beauty Build Adapted Minds? In: Substance 94/95 (2001), S. 6–25. 34 Vgl. etwa die von Oatley und einigen Kolleg/innen herausgegebene Online-Zeitschrift On Fiction. An Online Magazine on the Psychology of Fiction. Abrufbar unter http://www.on fiction.ca (Stand: 24. 7. 2014). 35 Keith Oatley : Such Stuff as Dreams. The Psychology of Fiction. Oxford u. a.: Wiley-Blackwell 2011, S. 112. 36 Ebd., S. 114. 37 Vgl. Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, etwa S. 14.

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Betrachters statt als Bewegung in Richtung zur Kausalität.«38 Nur wenn wir Rezipienten verstehen und kognitiv wie emotional via ›mindreading‹ nachvollziehen können, in welcher Situation eine Figur (oder einer unserer Mitmenschen) sich befindet, wie er sich fühlt, was er tun will und kann, um diese Situation zu verstetigen, wenn er Gefallen an ihr findet, oder zu beenden, wenn er an ihr leidet, entsteht überhaupt erst eine Geschichte. Diese erscheint dann – für den Leser – als die Wahrheit, denn nur sie allein hat Sinn für ihn. Breithaupt schlägt zudem vor, die evolutionäre Entstehung der Empathiefähigkeit des Menschen und damit die Empathie selbst »als eine Form der Parteinahme in einer Dreierszene zu beschreiben« und zu erklären. Empathie kann also dann entstehen, »wenn ein Beobachter [bzw. der Leser] die nicht-harmonische Interaktion von mindestens zwei Individuen [bzw. fiktiven Figuren] beobachtet und mental Partei für eine der beiden Seiten ergreift«.39 Parteinahme (Empathie) und Narration bedingen sich also gegenseitig, wenn man diesem Vorschlag folgt.40 Jan Süselbeck hat diese Überlegungen Breithaupts zur Empathie kürzlich schon angeführt, um die Emotionserzeugung von Kriegsdarstellungen besser zu verstehen, und festgestellt, dass mit Breithaupt »nicht die ›Wahrheit‹ historischer Ereignisse […] uns also Gefühle entwickeln [lässt], sondern die Form ihrer Erzählung.«41 Die für Leser einzig mögliche, weil von uns selbst erst als Sinnzusammenhang und verstehbare Geschichte hergestellte Wahrheit ist also die, welche die Erzählung uns anbietet, auch wenn sie fiktional ist. Dies gilt natürlich gerade dann, wenn diese Erzählung wie im Fall Heeresbericht auf Parteinahme in einer beinahe kriegerischen Auseinandersetzung (um die Deutung des Ersten Weltkriegs) aus ist. Nur das Erzählte kann als authentisch erscheinen und wirken, weil es der (narrativen) Form nach unserem Erleben der Wirklichkeit entspricht. Die Wahrheit des Romans Heeresbericht kann also nur in der fiktional erzählten Geschichte von Adolf Reisiger liegen und nicht in den einmontierten Dokumenten, weil diese gerade keine Geschichte erzählen und deshalb zwar authentisch sind, aber nicht als authentisch aufgefasst werden und wirken können. Bezogen auf das dem Roman als Motto vorangestellte Dokument der Oberzensurstelle des Deutschen Reichs kann man dann sogar sagen, dass gerade Soldaten wie Reisiger und Köppen diejenigen »Persönlichkeiten« sind, »die nach Maßgabe ihrer Dienststellung und Erfahrung« bevorzugt in der Lage sind, »die Zusammenhänge überall richtig zu erfassen.« (HB 7) 38 39 40 41

Ebd., S. 136. Vgl. auch ebd., S. 86 u. 138. Ebd., S. 152f. Vgl. ebd., S. 172. Jan Süselbeck: Im Angesicht der Grausamkeit. Emotionale Effekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2013, S. 32.

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Die gut 400 Seiten Erzähltext, die vom Leben und Leiden, von den Verletzungen und Ehrungen, von der Schuld und dem Tod so vieler Kameraden des Soldaten Adolf Reisiger in den Kriegsjahren 1914 bis 1918 erzählen, machen es mehr als bloß verständlich, sondern in höchstem Maße nachvollziehbar, ja unausweichlich, dass er am Ende beschließt, nicht mehr »weiter teilzuhaben an dem Mord« (HB 460), der der Krieg ist. Dies ist die Wahrheit dieser Erzählung, und man kann, ja muss als Leser am Ende mit Reisiger sagen: »Es ist ja immer noch Krieg. Leckt mich am Arsch!« (HB 460) Dass Reisiger, der aufgrund dieser seiner Kriegsverweigerung schlussendlich »ins Irrenhaus« (HB 457) gesperrt wird, diese letzte Wahrheit als ›Irrer‹ ausspricht, relativiert dabei die Aussage keineswegs, sondern betont umgekehrt noch einmal deutlich, dass es eigentlich die kriegführenden Mächtigen sind, die man dort einsperren sollte. Vor allem der Anfang des Textes mit dem Motto-Dokument der Oberzensurstelle und sein Ende weisen den Heeresbericht somit als parteinehmende, dem kriegsbejahenden Diskurs während und nach dem großen Krieg entgegengesetzte Wort-Waffe in diesem ›Krieg im Nachkrieg‹ aus. Die »Nachschrift« (im Original kursiv, als Dokument gesetzt!) verdeutlicht das wie folgt: Es fielen in den Jahren 14 bis 18 : Einemillionachthundertundachttausendf ünfhundertundfünfundvierzig Deutsche, Einemilliondreihundertundvierundf ünfzigtausend Franzosen, Neunhundertachttausenddreihundertundeinundsiebzig Engländer, Sechshunderttausend Italiener, Einhundertundf ünfzehntausend Belgier, Einhundertneunundfünfzigtausend Rumänen, Sechshundertneunzigtausend Serben, Fünfundsechzigtausend Bulgaren, Zweimillionenfünfhunderttausend Russen und Polen, F ü nfundf ü nfzigtausendsechshundertachtzehn Amerikaner. Zusammen : Achtmillionenzweihundertfünfundfünfzigtausendfünfhundertvierunddreißig Menschen. (HB 461f.)

II. Die Beschreibungen und Erklärungen, die Breithaupt für das enge Bedingungsverhältnis von Empathie und Narration gibt, legen es nahe, dass Erzählungen dann besonders effektiv bei der Empathie-Erzeugung sind, wenn sie ihre zur Parteinahme vorgesehenen Figuren intern fokalisieren und dem Leser die Geschehnisse so erzählt werden, wie die fokalisierte Figur sie erlebt und wahrnimmt. Wir Leser können ja gerade dann mit der Figur ›mitfühlen‹, wenn »der Leib und die Psyche desjenigen, den wir da beobachten, zum Resonanzkörper unseren [!] Erlebens, Handelns und Empfindens werden«, was die »impliziten Perspektiven« der internen Fokalisierung bevorzugt.42 Und tatsächlich wird, wie 42 Breithaupt: Empathie (Anm. 37), S. 145.

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eingangs schon erwähnt, der fiktionale Text des Heeresberichts überwiegend in diesem Modus der internen Fokalisierung erzählt. Allerdings ist leicht festzustellen und natürlich auch von anderen schon festgestellt worden, dass die Narration, gerade im Vergleich mit anderen, ähnlichen Romanen (etwa von Remarque und Renn) eine ganze Reihe weitaus ambitionierterer und komplexerer Erzählstrategien aufweist, als es die bloße interne Fokalisierung (etwa durch Einsatz erlebter Rede) ist. Besonders das Urlaubskapitel (das erste des zweiten Teils, vgl. HB 244–252) ist in diesem Zusammenhang schon mehrfach angeführt worden. Der Heimaturlaub Reisigers wird hier nicht direkt erzählt, sondern analeptisch als unsichere Erinnerung der Figur ausgewiesen, die wiederum als ein vom Reißen bedrohter und gerissener Film präsentiert wird: Urlaub war gewesen? Was wußte Reisiger davon? Es blieb nicht mehr als ein Film, zu schnell gedreht, ungeschickt geschnitten, überhetzt, überhitzt, zu Bildchen, zu Fetzen zerrissen, Schlagwortzeilen, zusammenhanglos, unbegründbar, Wirrwarr ohne Ordnung und Gesetz. Titel: Hunger! (HB 245)

Diese Passage, die medienhistorisch und erinnerungskulturell mindestens ebenso interessant ist wie narratologisch, belegt nach Erll in besonderer Weise den fragmentarischen Status von Kriegserinnerungen und verweist so, wie der ganze Roman, »auf die Konstruktivität des kollektiven Gedächtnisses«.43 Schafnitzel weist unter exemplarischer Bezugnahme gerade auf diese Textpassage darauf hin, dass in Köppens Roman »die Multiperspektivität oder Mehrperspektivität […] zur dominierenden Erzählstrategie« wird,44 was durch andere Passagen, die in ähnlicher Weise optische oder visuelle Wahrnehmungsstrategien und -technologien im Erzähltext inszenieren, zweifellos gestützt wird. Mit ähnlicher Zielrichtung, aber neben Heeresbericht auch andere Kriegsromane einbeziehend, beobachtet ganz aktuell Martin Löschnigg schließlich den von diesen Romanen und eben besonders vom Heeresbericht unternommenen Versuch, »die fragmentarische Natur des Kriegserlebnisses durch entsprechende literarische Stilmittel nachvollziehbar zu machen, durch fragmentierte Syntax oder durch Montagetechniken«, so dass man insgesamt eine »filmische Epistemologie« unterstellen kann.45

43 Erll: Gedächtnisromane (Anm. 5), S. 337. 44 Schafnitzel: Collage (Anm. 12), S. 339. 45 Martin Löschnigg: »Ich habe kein Wort«. Betrachtungen zu einem Topos literarischer Texte über den Ersten Weltkrieg. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 10 (März 2014), S. 35–53, hier S. 41. Abrufbar unter http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_10.html (Stand: 24. 7. 2014).

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Solche Deutungen des vielfältigen Einsatzes von sehr spezifischen und komplexen Erzählstrategien und Schreibverfahren, die den Roman prägen und neben der davon im Prinzip unabhängigen Dokumenten-Montage seine literarische Qualität (als moderner Roman) ausmachen, sind sicherlich akzeptabel. Im Zusammenhang mit der hier verfolgten Argumentation erzeugen sie allerdings eine Erklärungslücke, da die entsprechenden Textpassagen und Erzählstrategien ja nicht direkt durch das (einfache) Empathie-Modell fiktionalen Erzählens aus Abschnitt I erklärt werden können. Denn dieses stellt ja – abgesehen vielleicht von einer gewissen Bevorzugung interner Fokalisierung – keine spezifischen Anforderungen an den Erzähldiskurs des Textes. Ich werde deshalb im Folgenden versuchen, einen emotionspsychologisch fundierten Erklärungsansatz auch für diese Textphänomene zu skizzieren. Es gibt wohl mehrere Versionen dieses Ansatzes, die in der auf Fiktion und Literatur bezogenen Emotionspsychologie aktuell entwickelt und diskutiert werden. Als Grundidee ist dabei festzuhalten, dass es spezifisch ästhetische Emotionen beim Rezipienten gibt, die anders und komplexer funktionieren als die auf empathischem ›mind reading‹ oder sympathischer Anteilnahme beruhenden. Eine – etwa von Patrick Colm Hogan ausformulierte46 und auch bei Oatley referierte – Modellierung dieser ästhetischen Emotionen bezieht sich direkt auf poetologische Traditionen der indischen Literatur zurück, etwa auf Abhinavagupta (um 1000 n. Chr.), der zwischen »bhavas, everyday emotions« und »rasas, literary emotions« unterscheidet.47 Ich will mich hier auf eine andere Version beziehen, die ohne diese Bezugnahme auskommt. Sie ist von dem Literaturwissenschaftler David S. Miall mit dem Psychologen Don Kuiken, die zusammen bereits eine ganze Serie von Studien zu diesem Themenfeld vorgelegt haben, entwickelt und empirisch geprüft worden. In der hier zu referierenden Studie A Feeling for Fiction unterscheiden die beiden Forscher vier Emotionstypen, die von Fiktionen erzeugt werden, und interessieren sich besonders für die beiden letzten, weil diese spezifisch ästhetisch sind. Die ersten beiden Typen – »evaluative feelings« (die man etwa bei gemütlicher Lektüre erfährt) und »narrative feelings« oder »fiction emotions« (zu denen die im Abschnitt I thematisierte Empathie gehört)48 – beruhen auf lebensweltlichem Verhalten und sind deshalb weitgehend konventionell. Bei der Lektüre literarischer Texte werden aber, so Miall und Kuiken, mindestens potentiell immer auch »aesthetic feelings«49 erzeugt, die von der 46 Vgl. Patrick Colm Hogan: The Mind and Its Stories. Narrative Universals und Human Emotion. Cambridge: Cambridge UP 2003. 47 Oatley : Dreams (Anm. 35), S. 120. 48 David S. Miall u. Don Kuiken: A Feeling for Fiction. Becoming What We Behold. In: Poetics 30 (2002), S. 221–241, hier S. 223f. 49 Ebd., S. 224.

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ästhetischen Gestaltung des Textes (Stil, Erzählstrategie, Intertextualität, Defamiliarisierungsstrategien etc.) ausgelöst werden, indem sie bestimmte Textpassagen in den aufmerksamkeitserzeugenden Vordergrund der Wahrnehmung rücken (»foregrounded features«50). Diese wiederum können die Grundlage für darüber hinausgehende Emotionen bieten, die Miall und Kuiken als »self-modifying feelings« bezeichnen.51 Voraussetzung dafür ist die Unterscheidung zwischen »remembered emotions and fresh emotions«52 beim Rezipienten, so dass dieser ausgehend von erzeugten ›ästhetischen Emotionen‹ dazu angeregt wird, die vom Gelesenen und Wahrgenommenen ausgelösten ›frischen Emotionen‹ mit Erinnerungen an eigene Emotionen ins Verhältnis zu setzen: »In general, the experience of feelings in one situation leads to the re-experiencing of those feelings in situations which are similar.«53 Im Fall von ›narrativen Gefühlen‹ besteht diese Ähnlichkeit der Affizierungskontexte konventiell, so dass die erinnerten Gefühle des Lesers und die frischen der Textlektüre eine ähnliche lebensweltliche Basis haben: Der Held der Geschichte setzt sich einer gefährlichen Situation aus – und der Leser weiß, wie es sich anfühlt, in einer gefährlichen Situation zu sein, weil er sich an eine solche Situation erinnert. Im Fall von ›sich-selbst-modifizierenden Gefühlen‹ – ausgelöst von ästhetisch erzeugten Aufmerksamkeitserregern – wird hingegen eine nicht-konventionelle, ›metaphorische‹ Ähnlichkeit erzeugt, so dass durchaus verschiedene situative Kontexte, die Gefühle auslösen, durch die bloße Ähnlichkeit der jeweiligen erinnerten oder aktuell ausgelösten Gefühle verknüpft werden.54 In solchen Fällen erinnert sich der Leser also durch die Textlektüre einer Passage, die in ihm das Gefühl A auslöst und in der der Held der Geschichte in einer Situation X ist, an ein Gefühl A, das er in einer Situation Y erfahren hat. Dies hat, wenn ich recht verstehe, mindestens drei mögliche Effekte: erstens »the crossing of conventionally scripted boundaries«,55 also etwas weniger terminologisch: die Durchbrechung üblicher Wahrnehmungsgewohnheiten. Zweitens: »the reader’s sense of self will sometimes be imaginatively challenged«,56 da der Leser ja nun auch die eigenen Erinnerungen in einem neuen Kontext verorten kann. Und schließlich drittens: Die jeweils ausgelösten un-

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Ebd. Ebd., S. 225. Ebd. Ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 226f. Miall und Kuiken sprechen selbst explizit von Metaphorik (»affective similes and metaphors«, S. 227). 55 Ebd., S. 227. 56 Ebd., S. 229.

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terschiedlichen Gefühle modifizieren sich gegenseitig: »the feeling no longer means what it seemed to in our previous experiences of it.«57 Ich möchte diese Theorie nun abschließend am Beispiel von drei Passagen aus dem Roman Heeresbericht, die aufgrund ihrer aufmerksamkeitserregenden ästhetischen Gestaltung ›ästhetische Gefühle‹ im Sinne von Miall und Kuiken auslösen können, kurz erproben: Im oben schon kurz beschriebenen Urlaubskapitel des Romans (vgl. HB 244–252) wird die Erinnerung an den Urlaub als die Wahrnehmung eines flimmernden und reißenden Films inszeniert und präsentiert. Einige der zeitgenössischen Leser des Romans, die selbst einen solchen Heimaturlaub erlebt haben, an den sie sich später, da er sich so fundamental von den Erlebnissen an der Front unterscheidet, nur noch bruchstückhaft erinnern können, werden die Passage unmittelbar nachvollziehen können, gerade dann, wenn sie sich auch an Kinobesuche erinnern. Aber auch andere (und heutige) Leser kennen vielleicht aus eigener Erfahrung noch die Irritationen, die ein Filmriss im Kino auslösen kann, und sie kennen sicherlich auch das Gefühl der Verunsicherung nach einem etwa durch übermäßigen Alkoholgenuss hervorgerufenen metaphorischen ›Filmriss‹, weil man keine oder nur mehr fragmentarische Erinnerungen an das Erlebte hat. Die Irritationen und Verunsicherungen Reisigers im und nach seinem Urlaub sind somit nicht nur emotional nachzufühlen für solche Leser, sondern können ggf. auch im Sinne des zweiten Effekts, den Miall und Kuiken beschreiben, dazu führen, dass der Leser aufgrund der Lektüre der Passage seine eigenen Erinnerungen neu kontextualisiert und damit sein Selbst modifiziert. Eine zweite Passage arbeitet mit schlichter und deshalb penetranter Wiederholung, die somit unmittelbar mimetisch einen nicht enden wollenden Zustand darstellt und in den Wahrnehmungsvordergrund des Lesers rückt: Im zweiten Kapitel des zweiten Romanteils wird über Seiten hinweg immer wieder anaphorisch repetiert: »Der Feind trommelt.« (HB 292–298) Dazwischen eingeschoben sind jeweils Informationen zur verwendeten Munition des ›Trommelfeuers‹ und kurze Erzählsequenzen über diesen Versuch der feindlichen Artillerie, den Stellungskrieg an der Westfront des Jahres 1916 in Bewegung zu versetzen, und den Versuch Reisigers und seiner Einheit, diesen Angriff zu bestehen und zu überleben. Ich zitiere einen kurzen Ausschnitt (das Ganze geht über sechs Seiten und wird wiederum sechs Seiten später noch einmal aufgegriffen):

57 Ebd., S. 233. Diesen Effekt der ›self-modifying feelings‹ erläutern Miall und Kuiken (vgl. ebd., S. 233–236) übrigens unter Bezugnahme auf den Tragödiensatz der aristotelischen Poetik zum Verhältnis von ›phobos‹, ›eleos‹ und ›katharsis‹ bzw. die (von ihnen somit bestätigte) Deutung dieses Satzes von Elizabeth S. Belfiore: Tragic Pleasures. Aristotle on Plot und Emotion. Princeton: Princeton UP 1992.

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[…] Der Feind trommelt. Das Loch ist so breit, daß die beiden [Reisiger und ein Kamerad] sich gegenübersitzen können. Sie haben die Beine gegen den Leib gezogen, die Knie ineinandergeschoben, die Ellbogen darauf gestützt. Ihre Hände halten ihr Gesicht. Sie sehen nach unten. Der Feind trommelt. – Die 7, 5 Zentimeter-Granaten der leichten Feldartillerie dringen 1, 80 Meter in die Erde ein – Zuweilen regt sich der eine von ihnen, zuckt mit dem Knie, zieht das Kinn fester an die Brust. Ein Zeichen für den anderen: Ich lebe noch – und was machst du? Der Feind trommelt. – Die lebendige Kraft eines 15 Zentimeter-Geschosses ist gleich der Marschwucht von zwei Infanteriedivisionen – Nach einer Weile der andere. Sprechen kann er nicht. […] (HB 292)

Für den Leser von 1930, der so etwas an der Front selbst erlebt hat, ist wohl zu befürchten, dass diese Passage mit ihrer nervtötenden Penetranz des ›Trommelns‹ die eigenen Traumatisierungen wieder lebendig werden lässt. Für alle anderen macht der Text wiederum zwei Angebote, die vom Text erzeugten negativen Gefühle der lebensbedrohenden Gefahr und der nicht enden wollenden Dauer und Permanenz des Lärms mit eigenen erinnerten Gefühlen zu korrelieren. Jeder, der im 20. oder 21. Jahrhundert lebt, kennt großen, durch technisches Gerät erzeugten Lärm, der andauert oder immer wiederkehrt und so ›an die Nerven‹ oder gar ›an die Gesundheit‹ geht, der es unmöglich macht zu schlafen oder sich zu konzentrieren. Er weiß also, wie man sich fühlt, wenn man derlei ausgesetzt ist – auch wenn er hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie man sich fühlt, wenn die technischen Geräte anders als Verkehrsflugzeuge, Güterzüge oder Lastwagen obendrein darauf zielen, ihn und seine Nächsten zu töten. Und jeder kennt wohl auch den monotonen Klang von Trommeln, denen das ›Trommelfeuer‹ des Weltkriegs metaphorisch (und wohl auch onomatopoetisch) seine Bezeichnung verdankt. Wieder also können anlässlich der Lektüre einer Textpassage eigene erinnerte Gefühle des Lesers mit den vom Text ästhetisch ausgelösten abgeglichen und selbst modifiziert werden. Die dritte und letzte Passage, die ich thematisieren möchte, ist etwas unscheinbarer als die beiden bisherigen: Am Ende des siebten Kapitels des ersten Romanteils ist Reisiger auf Beobachtungsposten auf einem Schornstein. Dort oben kann und soll er die Lage am Frontabschnitt beobachten: Reisiger sieht über den Schornsteinrand. Der Feind liegt unter schwerem Feuer. Die Gaswolke macht kaum Eindruck. Sie ist dünn; kaum ist sie mannshoch, da wird sie schon durchsichtig wie ein kümmerliches Gewebe. Die Sonnenstrahlen durchleuchten sie in breiten goldigen Streifen. Jetzt taucht die Wolke in die Mulde ein. Sie wird aufgeschluckt. Nun ist also der Vorhang fortgezogen, die Sicht freigegeben. [Es folgt die Abschnittsnummer 14.]

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Vorhang auf! Vorhang auf, Fricke [der Vorgesetzte Reisigers] vom Scherenfernrohr weg, die Hand packt Reisiger am Kragen: »Kavallerie!!« Kavallerie. Der Feind greift mit Kavallerie an. Aus der Mulde steigt Kavallerie. (HB 214)

Reisiger, oben auf dem Schornstein, hat eine Position, in der er keine Bedrohung durch die Kavallerie des Feindes erfährt, aber einen sehr guten Überblick über das unter ihm Geschehende hat – eine Position von Sicherheit und Macht. Und in dieser Position nimmt er, vor dem Auftauchen der feindlichen Reiter, die Landschaft als schön wahr, selbst die Gaswolke ist keine Bedrohung, sondern entwickelt einen ästhetischen Reiz. Diese der Situation entspringende ästhetische Wahrnehmungshaltung Reisigers wird nun über die metaphorische Verknüpfung zwischen sich lichtendem Nebel und aufziehendem Vorhang sogleich als eine spezifisch ästhetische Wahrnehmungshaltung, die des Theaters nämlich, inszeniert durch ein einfaches »Vorhang auf!« Reisiger fühlt sich, so suggeriert es der Text, wie der Zuschauer in einem Theater, der freudig gespannt ist auf die kommende Aufführung, ein Gefühl, das der Leser durchaus aus eigener Erfahrung und Erinnerung kennt. Was der Leser im Regelfall aber nicht kennt, im Folgenden aber wie ein Bühnengeschehen präsentiert bekommt, ist das, was Reisiger beobachtet, etwa dies: »Der Graben der Engländer wird mit Vernichtung gepflügt. Und jetzt springt die deutsche Infanterie an, vor, sicher, watet durch den Blutsumpf, bis zum Gürtel in glitschigen Leichen.« (HB 218) Der Leser solcher Passagen ist, so ist zu vermuten, schockiert und aufgefordert, dieses Schockerlebnis mit den Erinnerungen an seine wohl meist eher positiven Gefühle bei Theateraufführungen in Einklang zu bringen. Wenn er dieser ›Aufforderung‹ folgt, geht der Leser aber zweifellos weit darüber hinaus, einer erzählten Geschichte oder ihrem Helden nur empathischidentifikatorisch zu folgen. Vielmehr sieht er sich veranlasst, seine Gefühle (und in der Folge ggf. auch seine Werturteile, Einstellungen etc.), deren konventionelle Verknüpfungen von der ästhetischen Erfahrung herausgefordert werden, neu zu beurteilen und zu kontextualisieren. Die Hypothese, dass diesen (und ähnlichen) Passagen des Romans mit Hilfe der Theorie Mialls und Kuikens eine leserlenkende Funktion im Sinne der ›sich-selbst-modifizierenden Gefühle‹ zugeschrieben werden kann, dürfte somit bestätigt sein. Ich kenne keine emotions- oder kognitionspsychologische Theorie, die genauere Aussagen darüber machen kann, ob und wie von Fiktionen ausgelöste Emotionen dauerhaft das Selbstbild, die Einstellungen oder das Verhalten von Rezipienten beeinflussen – auch wenn gerade Literaturwissenschaftler gerne davon ausgehen, dass dies geschieht. Eine solche Theorie hätte dann allerdings auch zu erklären, weshalb Köppens Roman nicht dazu in der Lage war, in den Jahren zwischen 1930 und 1933 bei einer geeignet großen Menge von Lesern

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Einstellungsänderungen in seinem Sinne hervorzurufen. Dass die Nationalsozialisten den Heeresbericht und seinen Autor zurecht als ihren Gegner und Feind angesehen haben, belegen die Tatsachen, dass der Roman eines der Opfer der Bücherverbrennungen von 1933 gewesen und 1935 offiziell verboten und sein Autor schon »im Mai 1933 im Rahmen der nationalsozialistischen ›Säuberungen‹« aus seiner »Tätigkeit als literarischer Leiter der ›Funkstunde‹« entlassen worden ist.58

58 Siegmund Kopitzki u. Peter Salomon: »Einen Tag lang nicht töten«. Der Dichter Edlef Köppen (1893–1939). Ein Porträt. Eggingen: Ed. Isele 2004, S. 11.

IV. Kriegsfilm und Kinokultur

Daniela Kalscheuer

Wider den Krieg oder Warten auf die Fortsetzung? Der Weltkriegsfilm der späten Weimarer Republik

1.

Vorbedingungen: Der Weltkriegsfilm zu Beginn der Weimarer Republik

Nach 1918 blieb die Darstellung des Ersten Weltkrieg im Film zunächst tabuisiert. Zu frisch waren zum einem noch die Bilder des Massensterbens in den Köpfen, als dass sie eine wie auch immer geartete, fiktionale Umsetzung zuließen. Zum anderen blieb jedoch vor allem die Niederlage ein Tabu, eine kritische Aufarbeitung der Ursachen und Auswirkungen des Weltkriegs fand zugunsten eines neuen ›Burgfriedens‹ zunächst nicht statt.1 Mitte der 1920er Jahre, parallel zum erblühenden Genre der Kriegsliteratur, änderte sich dies, und etliche Filme zum Weltkrieg flimmerten über die deutschen Leinwände. So viele, dass einige Kritiker von einer regelrechten Kriegsfilmschwemme berichteten.2 Doch wird dieser Eindruck dadurch verfälscht,

1 Vgl. Barbara Ziereis: Freunde, Feinde, Frauen. Repräsentationen des »Eigenen« und des »Anderen« im Spielfilm der Weimarer Republik. In: Moshe Zuckermann (Hg.): Medien, Politik, Geschichte. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31 (2003), S. 40–61, hier S. 42f. Als Beispiel für diese Art des Burgfriedens sei exemplarisch auf die Arbeit des staatlichen Untersuchungsausschusses verwiesen, in dessen Kontext sich auch Hindenburgs Aussage von der von hinten erdolchten Armee etablierte. Vgl. hierzu Ulrich Heinemann: Die Last der Vergangenheit. Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld- und Dolchstoßdiskussion. In: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke u. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Bonn: Bundeszentrale für Polit. Bildung 1987, S. 371–386 und ders.: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. Vgl. ebenso zur Thematik Bernd Ulrich u. Benjamin Ziemann (Hg.): Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente. Frankfurt/M.: Fischer 1997, bes. S. 81ff. 2 Vgl. den Hinweis auf Adriaan u. a.: Die nationalistische Kinoparade. In: Berliner Tagblatt vom 12. 9. 1926 bei Bernadette Kester : Film Front Weimar. Representations of the First World War in German Films of the Weimar Period (1919–1933). Amsterdam: Amsterdam UP 2003, S. 50. Die Angaben zu den zeitgenössischen Kritiken und ihrer Autoren folgen der Nennung wie im Original bzw. nach der zitierten Literaturangabe.

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dass es sich bei den meisten Produktionen um ausländische Filme handelte, denen die Presse zumindest aus wirtschaftlichem Interesse unterstellte, die Schrecken des Krieges zu verharmlosen bzw. dadurch allen Erinnerungskulturen gerecht werden zu wollen. So urteilte der Film-Kurier über die US-Produktion Stacheldraht:3 Es ist ein durch vielerlei Rücksichten auf den internationalen Absatzmarkt leicht beeinflusster Pazifismus. Und er erweckt auch tatsächlich eine mit Rücksicht auf die Rücksicht auf den internationalen Absatzmarkt, der noch Rücksicht auf die verschiedenen nationalen Gefühle und politischen Meinungen der einzelnen Besucher nehmen muß, etwas gedämpfte antikriegerische Begeisterung. […] Wenn man nun berücksichtigt, daß diese Rücksicht auf Deutsche und Franzosen, Offiziere und Gemeine, gemäßigte Kriegsfeinde und gemäßigte Militaristen, auf Mütter, Bräute und Schwiegereltern eines gefallenen Kriegers, auf Kriegsbeschädigte und Kriegsgewinner, auf die deutschfeindliche Stimmung in Australien und die franzosenfeindliche in gewissen ostpreußischen Gutshöfen… Wenn man berücksichtigt, daß alle diese Rücksichten ein etwas schwieriges dichterisches Problem für den Filmschreiber darstellen, so muß man klipp und klar sagen: nicht einmal Shakespeare hätte ein besseres Manuskript schreiben können!4

Immerhin erkannte der Film-Kurier an, dass unter diesen Umständen ein brauchbarer Film entstanden sei. Von der konservativen wie nationalsozialistischen Presse hingegen wurden solche Filme als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln verstanden: Sogenannte »versöhnende« Kriegsfilme, wie »Stacheldraht«, überschlugen sich förmlich in abstoßendster, brutalster Verleumdung des deutschen Soldaten und Offiziers, ihrer heldenhaften Pflichterfüllung und sind nicht weniger wie die Lügenpresse verantwortlich zu machen, für die Siedhitze der Haßatmosphäre, in welche die kriegsführenden Ententevölker, aber auch die ehedem neutralen hineingehetzt wurden, bis sie schließlich selbst zu den Waffen griffen. […] Das alles zehn Jahre nach Friedensschluß, im Zeichen von Locarno und Genf! Das alles trotz gegenseitiger Beteuerungen der jüdischen Filmkunstfürsten! Und das Niederdrückendste davon: In Deutschland gefallen diese Filme!5

Die Diskussion über die sogenannten »Hetzfilme« ging so weit, dass 1928 auf dem internationalen Lichtspielkongress in Berlin von den dort versammelten Delegierten der Entschluss gefasst wurde, »keinerlei Filme mehr vorzuführen, in denen irgendeine Nation verunglimpft oder in ihrem nationalen Empfinden verletzt wird.«6 Als Begründung für diese Entscheidung wurde genannt, dass 3 Stacheldraht (Barbed Wire). USA 1927. Regie: Rowland V. Lee. 4 Willi Haas: Filmkritik: Stacheldraht. In: Film-Kurier vom 9. 9. 1927, S. 2. 5 Dr. B.: Deutschfeindliche Hetzfilme im Locarnogeist. In: Völkischer Beobachter, Nr. 245 vom 23./24. 10. 1927, BArch, NS 5 VI, 16257, Bl. 91. 6 Keine Hetzfilme mehr. In: Germania, Nr. 395 vom 26. 8. 1928, BArch, NS 5 VI, 16257, Bl. 33.

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»die Welt […] Völkerversöhnung, nicht Völkerverhetzung« brauche. »Wer sich der ungeheuren suggestiven Macht des Films auf die Massen bewußt ist, empfindet die Ablehnung des Hetzfilms geradezu als eine ›völkerversöhnende‹ Tat.«7 Stattdessen wollte man sich verpflichten, Filme herzustellen, die »die Achtung und [das] Verstehen der fremden Eigenart lehren und vor allem sich davor hüten, das religiöse Empfinden des Zuschauers zu verletzen.«8 Besonders beklagt wurde dabei, dass es den deutschen Filmemachern bislang nicht gelungen war, den von den US-amerikanischen Produktionen geprägten Sichtweisen des Krieges eine spezifisch deutsche Interpretation entgegenzusetzen. So klagte der Völkische Beobachter 1927: Das seelische Erlebnis der Millionen von unbekannten Soldaten ist das Vermächtnis der Toten und Überlebenden, und das muß dem Volke nahegebracht werden! Dazu gehört der Film der Front! Solche Filme laufen in Amerika, in Rußland, in England, Frankreich und Italien: In meisterhafter Regie, aufwühlend und beschämend für den Menschen der Nachkriegszeit, wahr und unbestechlich, nichts verschweigend und alles bekennend – ein grandioses Denkmal der Frontleistung. Solche Filme sind der Schrecken der Pazifisten, denn sie bejahen den Krieg als Schicksal trotz aller Grausigkeit, sie sind aber ebenso der Schrecken der viel zu vielen Hurrapatrioten und Phrasendrescher, deren kindisches Trugbild vom ›Heldentod‹ vom ›begeisterten Vorwärtsstürmer im Gefecht‹ unter der erbarmungslosen Wucht der nackten Wirklichkeit jämmerlich zusammenbricht.9

Mit dieser Haltung stand der Völkische Beobachter nicht allein da. Auch Reichswehrminister Groener sah noch 1930 durch ausländische »Hetzfilme« das Ansehen der deutschen Armee als gefährdet an und forderte in einem Schreiben an den Reichskanzler Heinrich Brüning, »eine gesetzliche Handhabe zu schaffen, die es ermöglicht, die gesamte Produktion derjenigen ausländischen Produzenten, die Filme hergestellt haben oder herstellen, die das deutsche Ansehen verletzen, auf unbestimmte Zeit vom deutschen Markt auszuschließen.«10 Damit wollte Groener das am 15. Juli 1930 erlassene »Gesetz über die Vorführung ausländischer Filmstreifen« noch weiter verschärfen, welches schon vorsah, dass Filme, die dem Nimbus Deutschlands eventuell schaden könnten, auf Erlass des Reichsinnenministeriums von der Einfuhr ausgeschlossen werden konnten.11 Ab 1927 unternahm die von Hugenberg geführte Ufa einen ersten Großver7 Ebd. 8 Ebd. 9 Werner Gatte: Wo bleibt der deutsche Frontfilm. In: Völkischer Beobachter, Nr. 114 vom 17. 2. 1927, BArch, NS 5 VI, 16257, Bl. 97. 10 Schreiben des Reichswehrministers Groener an Reichskanzler Brüning vom 25. 7. 1930, BArch, R 43 I, 2500 Bl. 81. Vgl. hierzu Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. 2., durchges. u. erg. Aufl. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008, S. 326. 11 Vgl. hierzu Otto Altendorfer : Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 126.

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such, den Ersten Weltkrieg auf die Leinwand zu bannen. Unter dem Titel Der Weltkrieg erschienen zwei Filme, die versuchten, dem Massensterben aus einer nationalkonservativen Sicht gerecht zu werden. Hierbei entschied man sich für einen quasi-dokumentarischen Ansatz, für den die Herstellung auf Filmmaterial aus dem Reichsarchiv zurückgreifen konnte. Zusätzlich wurden Kampfszenen mit ehemaligen Frontkämpfern nachgedreht. Beide Herangehensweisen dienten vor allem dazu, die Authentizität des Gezeigten zu sichern. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die ausländischen »Hetzfilme« warb der Film vor allem damit, ohne jede Tendenz gedreht worden zu sein. Zumindest in der konservativen Presse ging diese Strategie auf. So lobte die Zeitung Der Tag: Aber dieser urdeutsche »Kriegsfilm« wird nicht nur eine Angelegenheit des deutschen Volkes bleiben. Er wird seinen Weg über den Erdball machen. Denn er ist mit einer solchen Objektivität hingestellt, daß er von Westen, von Osten, von Norden wie von Süden gleichermaßen betrachtet werden kann. Und das ist die andere Bedeutung dieses deutschen Weltkriegsfilms, daß er auch hier objektiv bis zum Äußersten ist. So kann er zur Überwindung aller Hetzfilme jeder Färbung, jeden Genres beitragen und auch in diesem internationalen Sinne Erziehungsarbeit zur Ehrfurcht leisten.12

Bei der republikanisch ausgerichteten Presse verfing diese Argumentation nicht. So schrieb die Frankfurter Zeitung über den Film: [Ob es] Absicht der Verfasser [war], einen solchen Film zu drehen? Oder sollten hier, vorsichtig zubereitet, gar gekocht, vielleicht sogar schmackhaft gemacht, Dinge in der Erinnerung der Nation erhalten werden, die zwar nichts mit dem Krieg zu tun haben, aber manches mit einer endgültig verurteilten Vergangenheit und mit einer entsprechenden Zukunft? […] Es spaziert in diesem Film eine Menge Generäle und Fürsten über die Leinwand. Es fehlen dafür der unbekannte Soldat und die unbekannte Mutter. Es fehlt die Wahrheit. Die Wahrheit ist eine Aufgabe der Republik.13

Generell wurde bemängelt, der Film wäre zu lehrhaft geraten, so dass sich keine emotionale Bindung zu dem Gezeigten im Publikum einstellte. Die Diskussion über die ausländischen »Hetzfilme« zeigt, wie aufgeheizt teilweise schon die Frage nach der würdigen Darstellung des Weltkriegs im Film in der Stummfilmära war. Mit Einführung des Tonfilms zum Ende der Weimarer Republik machte sich nun die verschärfte politische Auseinandersetzung in der Diskussion um die nun entstehenden Weltkriegsfilme bemerkbar. Gleich der erste Tonfilm innerhalb des Genres erhitzte die Gemüter. 12 Meden: Uraufführung des Weltkriegsfilms. Erziehung zur Ehrfurcht. In: Der Tag, Nr. 97 vom 23. 4. 1927, BArch, NS 5 VI, 16257, Bl. 118. 13 B. B.: Der Weltkrieg als Ufa-Film. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 309 vom 27. 4. 1927, BArch, NS 5 VI, 16257, Bl. 113.

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2.

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Die Schlachten des Weltkriegs – nun auch mit Ton

Georg Wilhelm Pabsts Westfront 1918, basierend auf dem Roman Vier von der Infanterie von Ernst Johannsen, setzte zunächst neue audiovisuelle Maßstäbe.14 Pabst war für den Film extra zuvor nach London gereist, um sich mit der neuen Tontechnik vertraut zu machen.15 Nur zwei Monate nach der Premiere des ersten Tonfilms in Deutschland überhaupt, dem Blauen Engel am 1. April 1930 in Berlin,16 feierte der Film am 23. Mai ebendort seine deutsche Uraufführung. Die Werbung setzte vor allem auf die neue Technik als Anreizmoment und warb damit, dass es sich bei dem Film um eine »hundertprozentige Ton- und Dialogschöpfung« bzw. um einen »hundertprozentige[n] Ton- und Sprech-Großfilm«17 handelte. Dem Umstand, dass die Produktion hierbei eine originär deutsche war, trug die Kritik der LichtBildBühne weidlich Rechnung: Das war ein historischer Abend deutscher Filmleistung! […] Ein Sieg des freien deutschen Filmproduzenten im internationalen Wettkampf der Qualitätsleistung. Ein filmgeschichtliches Verdienst […]. Der ehrgeizige Versuch, das Hohelied des deutschen Frontsoldaten zu schaffen, die Kriegstragödie des deutschen Volks zu gestalten, mußte in Deutschland, mit deutschen Künstlern, mit deutschen Kräften unternommen werden. […] Die Nero-Film hatte den Mut, ohne Dollar-Millionen, ohne Dollar-Markt den repräsentativen Weltkriegs-Tonfilm […] zu verwirklichen. […] Ein Sieg deutschen Filmschaffens vor der internationalen Kinematografie und vor der deutschen Nation – erstritten für die Gesamtheit der deutschen Filmindustrie.18

14 Westfront 1918. Vier von der Infanterie. Deutschland 1930. Regie: Georg Wilhelm Pabst. Die Vorlage verkaufte sich im Erscheinungsjahr 1929 immerhin 20.000 Mal. Vgl. hierzu Günter Helmes: Der Erste Weltkrieg in Literatur und Film – Entwicklungen, Tendenzen, Beispiele. In: Waltraud ›Wara‹ Wende (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Unter Mitarb. von Lars Koch. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 121–149, hier S. 138ff. Zur Vorlage und den Unterschieden zu Remarques Im Westen nichts Neues vgl. Brian Murdoch: Tierische Menschen und menschliche Tiere. Ernst Johannsen: Vier von der Infanterie und Fronterinnerungen eines Pferdes (1929). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi 2003, S. 249–260. 15 Vgl. Kester: Film Front Weimar (Anm. 2), S. 128. 16 Vgl. hierzu http://www.filmportal.de/film/westfront-1918_c160e39c541a4a2189a89182af17 0a37 und http://www.filmportal.de/film/der-blaue-engel_2a14f3b84dac4a268d8ce385d0524 686 (Stand: 2. 7. 2014). 17 j. n.: Von der Westfront viel neues. In: Film-Kurier vom 8. 3. 1930, zit. n. Imke Plesch: Deutsch-französisches Verhältnis als Thema im Film der späten Weimarer Republik. Deutsches Presseecho auf die Filme »Westfront 1918« (1930) und »Kameradschaft« (1931) von Georg Wilhelm Pabst. Saarbrücken: Müller 2013, S. 47. 18 Hans Wollenberg: Westfront 1918 (Vier von der Infanterie). In: LichtBildBühne, Nr. 124 vom 24. 5. 1930, S. 2. Pabst selbst hatte zuvor in einem Interview beklagt, dass die deutsche Filmindustrie aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Produzenten, in den Tonfilm zu

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Zudem versuchte der Film, sich von ausländischen Produktionen dadurch abzusetzen, indem er wie schon die Produktion Der Weltkrieg auf die Kriegserfahrung der Darsteller zur Legitimation des Gezeigten zurückgriff: Sie [die Hauptdarsteller] haben nicht »Krieg gespielt«, die vier, da draußen auf dem Aufnahmegelände, sie haben ihre Rollen nicht mit einer routinierten Gewandtheit »dargestellt«, sondern sie erlebt, durchlebt. Sie haben die grausame Wirklichkeit des »da draußen« gekannt, und im Schützengraben gelegen und jeden Abend dem Herrgott für ihr Leben gedankt, haben Jahre des Frontkampfes mitgemacht, Jahre des Ringens, des Todesmutes und der Verzweiflung, Jahre der Entbehrungen und der aufopfernden Hingabe. Und darum ist noch in ihrer Menschengestaltung, in der Darstellung der Westfrontsoldaten etwas von dem Wissen um den Krieg und seinen Schrecken spürbar.19

Wenn dies aufgrund des Alters der Darsteller nicht möglich war, wie im Falle von Hans Joachim Moebis, der die Rolle des Studenten verkörperte, geriet der Dreh selbst zur erlebten Kriegserfahrung: Ich kenne den Krieg nur von den Aufnahmen zu dem »Westfront«-Film her, er war wohl unblutig, aber er forderte in einem Punkte dasselbe: Pflichterfüllung, Disziplin und Aufopferung. […] Wir […] sind mit Einsetzung unserer ganzen Persönlichkeit bei der Sache gewesen, weil es hier galt, das Leben, die Wirklichkeit zu verkörpern und den vielen – unendlich vielen toten Soldaten des Weltkrieges ein bleibendes Ehrenmal zu setzen.20

Die Realistik des Gezeigten überzeugte nun im Gegensatz zu dem doch extra dokumentarisch gehaltenen Film Der Weltkrieg die meisten Kritiker davon, dass der Film den Krieg darstelle, ›wie er wirklich war‹. So zeigte sich Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung begeistert von der auditiven Ebene: Das Elend wird durch die Vertonung […] in eine so grausame Nähe gerückt, daß der Abstand, den sonst künstlerische Werke zwischen dem Publikum und dem ungeformten Geschehen setzen, stellenweise aufgehoben ist. […] Vor allem aber wird der Ton mit Erfolg als Mittel der Versinnlichung ausgenutzt. Wenn man einen Verwundeten, der nicht gerettet werden kann, stöhnen hört, ohne ihn je zu sehen, so geht das unter die Haut, und der Betrachter bleibt nicht länger mehr Betrachter.21

Dies war wohl einigen zu viel der Realistik, so dass »viele Zuschauer fluchtartig das Lokal« verließen.22 Genau diese bemängelte Grausamkeit befähigte den Film

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investieren, gegenüber ausländischen Produktionen ins Hintertreffen geraten könnte. Vgl. hierzu Plesch: Deutsch-französisches Verhältnis (Anm. 17), S. 47. Das LBB Kinoprogramm. Westfront 1918. Vier von der Infanterie. Berlin: Wolfsohn 1930, S. 2. Abrufbar unter http://www.collate.eu (Stand: 2. 7. 2014). Hans Joachim Moebis, zit. n. ebd., S. 3. Siegfried Kracauer: Westfront 1918. In: Frankfurter Zeitung vom 27. 5. 1930. Abrufbar unter http://www.filmportal.de/node/8133/material/678941 (Stand: 2. 7. 2014). Ebd.

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nach Aussage der liberalen Presse zu einem ernst gemeinten Zeugnis wider den Krieg: Er hat den Mut, den Krieg zu zeigen, wie er war und auf schwache Nerven dabei keine Rücksicht zu nehmen. (Eine solche Rücksicht wäre Frevel – gegen die Opfer!) So zeugt dieser Kriegsfilm gegen den Krieg – nicht durch eine künstlich irgendwie aufgepfropfte Tendenz, durch eine Absicht, die verstimmt, sondern durch den unbeirrbaren Willen zur Kunst und zur Wahrheit.23

Für den sozialdemokratischen Vorwärts avancierte der Film trotz seines fiktionalen Charakters und des Verzichts auf Archivmaterial zum authentischen ›Lehrfilm‹ und empfahl seine Vorführung gerade vor einem revanchistisch ausgerichteten Bevölkerungsspektrum: Der Film sollte all denen zwangsweise vorgeführt werden, die vom Stahlbad des Kriegs faseln und zu neuem Völkermord hetzen. Der Regisseur G. W. Pabst hat […] den dokumentarischen Kriegsfilm geschaffen, die stärkste Waffe für alle, die nie wieder Krieg wollen.24

Die Rote Fahne hingegen befand den Film als nicht konsequent genug. Für ihren Geschmack drückte er sich vor einer endgültigen Benennung der Schuldigen für das Unheil des Weltkriegs und versuchte zu sehr, auch konservativen Kreisen zu entsprechen: Soweit dieser Film Tendenz enthält, ist er nicht nur ideologisch, sondern auch formal schwächlich und lahm. Das gilt für den ersten Teil, wo ein bißchen in »Heldentum« gemacht wird, das gilt aber auch für die bewußt pazifistischen Teile des Films, insbesondere für den unechten Darsteller eines Soldaten, der auf Urlaub geht, dann – nachdem er seine Frau mit einem anderen ertappt hat – in den Schützengraben zurückkehrt, verwundet wird und im Wundfieber über das Elend des Kriegs nachzudenken beginnt. All das ist schwächlich, drückt sich vor jeder Konsequenz eines wirklichen Kampfes gegen den imperialistischen Krieg und ist echte pazifistische Verkleisterung.25

War der Roten Fahne der Film noch zu heroisch und liberalen Kräften durchaus grausam und authentisch genug, so befand die konservative Presse, wie beispielsweise die Neue Preußische Kreuz-Zeitung, gerade die expliziten Gewaltdarstellungen als unglaubwürdig: Eine bis ins Einzelne gehende Szene wie der Ringkampf zwischen einem deutschen und französischen Soldaten, der mit dem Erstickungstode des deutschen Soldaten in dem Schlamm eines Granattrichters endet, ist eine Geschmacklosigkeit sondergleichen. Kein Frontkämpfer wird es jemals bestreiten, daß der Krieg, das Ringen um Leben und 23 Wollenberg: Westfront 1918 (Anm. 18), S. 2. 24 D.: »Westfront 1918«. Capitol. In: Vorwärts vom 24. 5. 1930, S. 3. 25 »Westfront 1918.« Ein pazifistischer Tonfilm. In: Die Rote Fahne vom 27. 5. 1930, S. 12.

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Tod des Einzelnen gegen den einzelnen Gegner viele derartige Szenen aufweist. Es ist aber unerträglich und widerlich, hier die Grenzen der Realität zu überschreiten. Kämpfen ist kein Kinderspiel.26

Dennoch gab sie den Film nicht vollends verloren. Teile vermochten zu überzeugen, wenn auch mit zensorischem Vorbehalt: Gerade die Szenen, wo er sich frei hält von jeder Tendenz, sind ausgezeichnete Regieleistungen. Der Grabenkampf, das Verschüttetsein, der Handgranatenangriff, die Truppen im Ruhequartier, und im Unterstand und nicht zuletzt ein Frontkabarett, geben wahrheitsgetreu das Kampferlebnis und das Leben und Leiden des Frontsoldaten echt wieder. Bringt der Regisseur den künstlerischen Mut auf, die schärfsten Widerspruch fordernden Stellen zu tilgen, so dürfte ihm uneingeschränkte Anerkennung für sein Werk sicher sein.27

Solange aber sich noch solche ›tendenziösen‹ Sequenzen in dem Film befanden, musste sich das konservative Spektrum für einen Kriegsfilm in seinem Sinne weiter gedulden: Der Film hat den Krieg hier gegen den Krieg ausgespielt. […] Zu billig die Absicht, und man ist verstimmt, so packend echt die Szenen in der zum Lazarett umgewandelten Kirche sind. Aber das alles sind nur Ahnungen des Neuen! Man muß auch hier, wie bei den meisten Kriegsbüchern warten auf die eine Welt durcheinanderwirbelnde, aber auch eine Welt wieder ordnende Kraft und Gewalt des Dichters.28

Der Völkische Beobachter tobte in seiner Kritik gegen die vermeintlich ›jüdischen Macher‹, vermochte bei aller Hetze gegen den Film ihm dennoch etwas abzugewinnen und erklärte ihn zum heroischen Kriegsfilm entgegen der ursprünglichen Intention. Diesen Effekt schrieb die Kritik einer sich allmählich durchsetzenden kollektiven Erinnerung an den Krieg zu: Es wird immer schwieriger, auch für jüdische Regie, zugkräftig in Pazifismus zu arbeiten. Man kann nicht mehr das Titanische der Frontleistung unterschlagen, man kann nicht mehr das Bild des Frontsoldaten ins Lächerliche ziehen oder ins Groteske verzerren, kann nicht mehr den Mann, der es vorzog, zu Hause zu bleiben, zum Helden 26 K.: »Westfront 1918«. Ein bedenklicher Kriegsfilm. In: Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 25. 5. 1930, S. 7. 27 Ebd. An anderer Stelle innerhalb der Kritik gibt der Autor auch konkrete Beispiele für missliebige Szenen: »In gleichem Sinne höchst bedenklich ist der Ausspruch eines Soldaten: ›Wären wir Helden, so wären wir längst schon zu Haus.‹ Hier offenbart sich der Sinn, den die Hersteller dem Film beizulegen versuchten. Am unerhörtesten ist aber ohne Zweifel die Szene, wo der Leutnant und Kompanieführer wahnsinnig geworden durch einen Granateneinschlag in Großaufnahme gezeigt wird mit dem irrigen Geschrei: ›Zu Befehl, Majestät!‹ Wenn dem Regisseur und den anderen verantwortlichen Herstellern der Sinn dafür fehlt, daß eine derartige Szene schärfsten Widerspruch hervorrufen muß, so dürfen sie sich nicht wundern, daß man auch ihrem künstlerischen Urteil mit Bedenken gegenübertritt.« 28 H. Bachmann: Zwei Film-Uraufführungen: »Cyankali« (Babylon). »Westfront 1918« (Capitol). In: Germania vom 25. 5. 1930, S. 2.

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stempeln und den wirklichen Helden zum Feigling, man kann auch nicht mehr den Frontoffizier als brutalen Drückeberger hinstellen, die von ihm durch Not und Tod Geführten aber als seine unglücklichen Opfer. Das alles geht heute nicht mehr. Man würde die Tageszeitungen nicht mehr dafür bekommen, und das Geschäft würde empfindlich gestört.29

Angesichts der im Film gezeigten ›Leistungen‹ verblasste für ihn die unterstellte pazifistische Wirkung: Aber da ist eben die Frage, ob diese Rechnung ganz stimmt. Ob nicht die kämpferischen Instinkte in unserem, allen Bemühungen zum Trotz, immer noch rasse- und kriegstüchtigem Volke sich als stärker erweisen, als der berechnende Appell an Verstand, an Eigenglück, an Opferscheu. Und ob nicht gerade die ganz unverhüllte pazifistische Schlußapotheose dieses Filmes grotesk und aufs Tiefste unbefriedigend wirkt nach der Darstellung von so viel Heldentum!30

Konsequenterweise wurde so für ihn die Wahrnehmung und Interpretation des Films zu einem Kriterium für die ›rechte‹ Gesinnung und zur Mahnung nicht zum Frieden, sondern zur Nachahmung: Deshalb kann so ein Film zum notwendigen Prüfstein werden für die Wehrmoral eines Volkes wie des einzelnen. Wer als Feigling weggeht, war wohl schon feige, und der konsequente Ichmensch bedarf bei seiner jämmerlichen Einstellung nicht erst der Belehrung durch den Film. Wer aber seinem Volke persönliches Opfer schuldig fühlt, dem wird sein Gewissen sagen: Laß mich derer würdig sein, die solches ertrugen, als die Aufgabe an sie herantrat!31

Nach der kontroversen Aufnahme von Westfront 1918 hielt das Jahr 1930 im November mit Lewis Milestones All Quiet on the Western Front für die deutschen Konservativen einen regelrechten Schock bereit. Noch drastischer als Westfront 1918 wagte es dieser Film, das namenlose Sterben in den Schützengräben zu visualisieren, und es gelang ihm dabei, den kommerziellen Erfolg von Pabsts Film zu übertreffen.32 Da es sich hierbei allerdings um eine US-amerikanische Produktion handelte, fiel es den Kritikern leicht, diesen Film mit dem Stigma »Hetzfilm« zu versehen, was schließlich auch sein kurzfristiges Verbot zur Folge hatte.33 Westfront 1918. In: Völkischer Beobachter, Süddeutsche Ausg. vom 8. 6. 1930, S. 5. Ebd. Ebd. All Quiet on the Western Front. USA 1930. Regie: Lewis Milestone. In den Einspielergebnissen landete Westfront 1918 auf dem neunten Platz, All Quiet on the Western Front wurde trotz oder gerade wegen des Zensurstreits zum sechst erfolgreichsten Film der Saison 1930/ 1931. Vgl. hierzu Kester : Film Front Weimar (Anm. 2), S. 127f. 33 Vgl. zum Streit um die Remarque-Verfilmung Bärbel Schrader : Der Fall Remarque. ›Im Westen nichts Neues‹ – Eine Dokumentation. Leipzig: Reclam 1992 und Plesch: Deutschfranzösisches Verhältnis (Anm. 17), S. 72. 29 30 31 32

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Den ersten Versuch, All Quiet on the Western Front und dem sich einer pazifistischen Interpretation zumindest nicht verschließenden Westfront 1918 etwas entgegenzusetzen, unternahm im August des Folgejahres 1931 Heinz Paul mit Douaumont, der sich schon zuvor mit Kriegsstummfilmen einen Namen gemacht hatte.34 Hier verfolgte er einen ähnlichen Ansatz wie die Ufa-Produktion Der Weltkrieg, indem er zugunsten der Authentizität auf Laiendarsteller und auf dem deutschen Publikum unbekanntes französisches Archivmaterial setzte. Die Werbestrategie bemühte sich erneut um einen neutralen Tonfall, doch wurde deutlich, an wen sich der Film in erster Linie wendete: Ein 100 % deutscher Tonfilm […] Douaumont, jenes Fort bei Verdun, vor dem weit über 1 Million Tote, Deutsche und Franzosen, den letzten Schlaf tun, jenes Fort, um das die erbittertsten Kämpfe des gewaltigen Ringens tobten, jeder Fußbreit Boden mit Blut getränkt, ist ein Stück Erde, das uns allen und der Nachwelt gezeigt werden muss, um diejenigen, gleich ob Deutsche oder Franzosen, zu bewundern und als Männer zu ehren, die in höchster Pflichterfüllung ihre Schuldigkeit getan haben, um Vaterland und Familie mit eigenem Leben zu verteidigen. »Ehre den Kämpfern.«35

Der abschließende Hinweis »Kein Tendenzfilm!«36 kann daher als Floskel bezeichnet werden. Dem Low-Budget Film, der im Verleih der Ufa erschien, war dennoch oder gerade deswegen ein großer Erfolg an den Kassen beschieden. Selbst die linke Presse konnte dem Film etwas abgewinnen und bezeichnete ihn als einen »Antikriegsfilm ausversehen«: Zweifellos hergestellt als eine Art Anti-Remarque mit Hinzuziehung alter Frontkämpfer und ebenso zweifellos gedacht als das hohe Lied auf das persönliche Heldentum des Soldaten, wirkt dieser Film nicht weniger abschreckend und pazifistisch als alle anderen Kriegsfilme, denen angeblich eine antimilitaristische Tendenz innewohnte. Dieser vorläufig letzte Weltkrieg ist eben nicht zu heroisieren […]. Man kämpft und schießt, um aus der Hölle endlich herauszukommen, aus keinem anderen Grunde. Dies zeigt der Film, auch wenn er es wohl gar nicht zeigen wollte.37

34 Douaumont. Die Hölle von Verdun. Deutschland 1931. Regie: Heinz Paul. Vgl. zu Pauls Karriere vor dem Tonfilm u. a. Klaus Ulrich: Deutsche Tonfilme, Jahrgang 1931. Berlin: Klaus 1989, S. 48f. Paul drehte 1932 noch einen weiteren Spielfilm mit dem Titel Die andere Seite, den ebenfalls 1933 das Aufführungsverbot der Nationalsozialisten traf. Dies beruhte aber allein auf der Tatsache, dass dieser Film auf der ›anderen Seite‹, sprich im englischen Lager, spielte und hier die Offiziere zu wenig schmeichelhaft gekennzeichnet waren. Vgl. hierzu den Entscheid der Film-Oberprüfstelle, Nr. 6491 vom 27. 4. 1933, BArch, R 1501, 125684, Bl. 497ff. 35 Werbung der Panzer Film Produktion zu Douaumont. In: Film-Kurier vom 10. 1. 1931, S. 13. 36 Ebd. 37 H. P.: Der Kriegsfilm Douaumont. Universum. In: Vossische Zeitung, Nr. 382 vom 15. 8. 1931, BArch, R 1501, 125684, Bl. 6.

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Die konservative Presse lobte den Film hingegen für seine heldenhafte Darstellung des Ringens um das Fort Douaumont. So schrieb die Deutsche Zeitung: Der Film Douaumont verschweigt keineswegs das Grauen des Krieges, aber er stellt es nicht als das Wesen des Krieges dar. Im Vordergrunde steht vielmehr, wie bei den Männern, die die Schrecken des Krieges erlebten, aber seine Größe bejahen, die andere Seite. Der zusammengefaßte Wille einer todbereiten und kämpfenden Gemeinschaft, die Kameradschaft, die für die Gesamtheit alles erträgt, das Herrentum von Hunderttausenden von Soldaten, die das Feldgrau der Uniform adelte. Wir sollten alles fördern und vorwärtstreiben, was unserem Volk diese Dinge erhält, die nicht käuflich sind. Deshalb begrüßen wir den Film Douaumont, denn er ist in seiner Art eine Tat.38

Dennoch scheiterte der Film wie zuvor die Produktion Der Weltkrieg in den Kritiken daran, dass die Darstellung der Schlacht als zu wenig emotional empfunden wurde und auch die schauspielerischen Leistungen des DouaumontErstürmers Hauptmann Haupt nicht zu überzeugen vermochten.39 Die angepriesene Tendenzlosigkeit verfing im Ausland ebenfalls nicht. In Frankreich kam er zwar in die Kinos, aber unter dem Titel Douaumont – wie es die Deutschen sahen.40 Victor Trivas unternahm ein halbes Jahr später den Versuch, mit Niemandsland 41 dem ›realistischen‹ Kriegsfilm eine positive, allegorische Deutung entgegenzusetzen: In dem Film […] wollte ich nicht die Greuel des Krieges, sondern seine grausame Absurdität aufdecken. Daher wollte ich, daß sich dem kollektiven Wahnsinn entrissene Feinde auf einem Fleckchen Erde zwischen den Schützengräben […] von Angesicht zu Angesicht begegnen. So konnte ich ihre gemeinsame Sprache finden, jene Sprache der einfachen menschlichen Gefühle, die, so glaube ich, die beredteste Anklage gegen den Krieg ist.42

Doch gerade seine offen pazifistische Ausrichtung erleichterte es der konservativen Presse, den Film als ›Rührstück‹ abzutun: »Niemandsland«, der neue Deutsche Frontfilm, den man im Mozartsaal sieht, bemüht sich, auf dem Wege über einen Appell an die Rührsamkeit der Herzen Propaganda für Völkerversöhnung zu machen. Es ist etwas sonderbares »Niemandsland«, das dieser Film zeigt, ein Niemandsland, wie es wohl in Remarque infizierten Filmhirnen be-

38 C. C.: Frontsoldaten von Verdun. Zur Uraufführung des Films Douaumont. In: Deutsche Zeitung, Nr. 189 vom 14. 8. 1931, BArch, R 1501, 125684, Bl. 64. 39 Man wurde »den Eindruck nicht los, daß Hauptmann Haupt doch den versteifenden Einflüssen der Filmkamera nicht ganz entgangen« war (D.: Douaumont: In: Germania, Nr. 875 vom 14. 8. 1931, BArch, R 1501, 125684, Bl. 65). 40 Vgl. hierzu Kester: Film Front Weimar (Anm. 2), S. 109. 41 Niemandsland. Deutschland 1931. Regie: Victor Trivas. 42 Victor Trivas: Aus den Werbeunterlagen zum französischen Start von Niemandsland. Abrufbar unter http://www.cinegraph.de/filmmat/fm9/fm9_02.html (Stand: 2. 7. 2014).

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stehen kann, wie es aber niemals zwischen den Schützengräben der Westfront existierte.43

Dennoch hoffte die LichtBildBühne, dass der Film seinen Weg in den regulären Spielplan finde: Es bleibt zu hoffen, dass der Film in der Zeit heutiger Überempfindlichkeit und Übererregtheit auch in den normalen Spielplan zu übernehmen ist. So wenig er ein überzeugendes Argument gegen den Krieg ist, so sehr kann seine psychologische Wirkung von Segen sein.44

Die Fachzeitschrift Der Film zeigte sich von der Botschaft des Films dagegen gerade begeistert: Hat man uns je schon einmal in wenigen prägnanten Bildern gezeigt, mit welchen Mitteln die Vernunft der Völker zerstört wurde? Wie schwer die Männer sich von Haus und Hof trennten, um plötzlich, vom Schmettern der Musik aufgestachelt, sich in Heldenpose zu begeben? Wie überall in der Welt die gleichen Lügen, die gleichen Redensarten, die gleichen Begriffe und Gebete ihr Wesen trieben? Dies ist der erste Film, der nicht nur den Krieg und seine Psychologie, sondern auch seine Wurzeln bloßlegt. Der nicht spezialisiert ist, sondern das Gesamtphänomen erfaßt.45

Der Roten Fahne ging er angesichts der sich immer mehr verschärfenden politischen Situation nicht weit genug: Man erfährt nichts über die wahren Ursachen des imperialistischen Krieges, und man vermißt jeden Hinweis auf aktuelle Vorgänge, auf das Wettrüsten zu einem neuen Kriege, auf die Abrüstungslüge. Mag sein der Film ist aus Rücksicht auf die Zensur oder aus anderen taktischen Erwägungen unklarer geworden, als die Autoren selbst gewünscht hätten.46

Auch der Vossischen Zeitung fehlte die Anbindung an das aktuelle Zeitgeschehen: Es genügt aber nicht, das Ideal der Einigkeit zu zeigen; man muß vorher die gewaltigen Mächte des in den einzelnen hineingepflanzten Hasses aufmarschieren lassen, um sie zu schlagen. […] Gewiß ist es ein erhebendes Schlußbild, wenn der Deutsche, der Franzose, der Engländer, der Schwarze und der Irgendwer über das Niemandsland marschieren und mit gemeinsamem Schlag den Drahtverhau niederschlagen. Aber das Bild wird nur lebende Wirkung haben, wenn man den heutigen Zustand nicht schwärmerisch überfliegt, sondern die Distanz zwischen dem heutigen fragwürdigen

43 Filmschau. In: Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 11. 12. 1931, S. 10. 44 …n.: Niemandsland. Filmbesprechung. In: LichtBildBühne vom 10. 12. 1931, S. 2. 45 Kurt London: Ein tiefgehendes Erlebnis im Mozartsaal. Niemandsland. In: Der Film vom 12. 12. 1931. Abrufbar unter http://www.collate.eu (Stand: 2. 7. 2014). 46 H. B.: Filmbühne. »Niemandsland« Mozartsaal. In: Die Rote Fahne vom 20. 12. 1931, S. 15.

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Donnerstag und der monumentalen Schlußapotheose durch immer neue Aufklärung auszufüllen sucht.47

Dennoch oder gerade wegen seiner klar pazifistischen Botschaft fand der Film »Beifall von nicht häufig gehörten Dimensionen«,48 »stürmische Zustimmung«49 und man sollte ihm bei aller Kritik »dankbar sein«.50 Nach dem als zu wenig emotional kritisierten Versuch von Heinz Paul wagte parallel zu Victor Trivas im selben Jahr Luis Trenker mit Berge in Flammen51 einen dritten Versuch, den Weltkrieg auf die Leinwand zu bannen, und setzte hierbei auf einen rein fiktionalen Ansatz. Dennoch durfte zur Legitimierung des Gezeigten der Verweis auf Trenkers eigene Kriegserfahrung nicht fehlen: Diesem Film hat Luis Trenker, der im Weltkriege selbst an den Kampfhandlungen in den Dolomiten teilgenommen hat, die folgenden Worte mit auf den Weg gegeben: Der Film zeigt entscheidende Momente aus den Kämpfen in den Dolomiten. Die Sprengung des Col di Lana, die von mir miterlebten Kämpfe am Lagazoi, sowie die verwegenen Gänge einzelner Tiroler Soldaten in ihre vom Feind besetzten Heimatorte gaben die Motive zu seinem Inhalt. Die Handlung ist also, wenn auch in ihren Zusammenhängen frei gestaltet, dokumentarisch belegt.52

Die Strategie ging auf, der Film war ein großer Erfolg in den Kritiken wie auch an der Kinokasse. Fritz Olimsky lobte den Film überschwänglich: [Es] wurde ein Filmwerk von unerhörter Schönheit geschaffen. […] Unvergleichlich schöne Bilder aus der Hochgebirgswelt […], und in diese großartige Natur wurde ein Stück Weltkriegsgeschehen gestellt, ganz ohne Pathos, aber gerade dadurch überwältigend und heroisch.53

Republikanisch gesinnte Kritiker konnten sich bei allem Lob für die technische Brillanz des Films eines gewissen Unbehagens nicht erwehren: »So objektiv die Darstellung ist – der Krieg ist nur als Spannungsreiz wie eine gefahrvolle Wanderung, wie ein Naturereignis dargestellt. […] Ein sehr guter, peinlicher Film. Ein glänzend gemachter Anachronismus. Weg von den Kriegsfilmen.«54 Nach dem Erfolg der drei Filme 1931 versuchte die bayerische Emelka mit 47 Ludwig Marcuse: Niemandsland. Mozartsaal. In: Vossische Zeitung vom 11. 12. 1931, S. 5. 48 Film-Kurier, zit. n. einer Werbeanzeige der Zentral Film Fett & Co. G.m.b.H. In: Der Film vom 12. 12. 1931. Abrufbar unter http://www.collate.eu (Stand: 2. 7. 2014). 49 …n.: Niemandsland (Anm. 44), S. 2. 50 Marcuse: Niemandsland (Anm. 47), S. 5. 51 Berge in Flammen. Deutschland 1931. Regie: Luis Trenker. 52 Das Programm von Heute, Berge in Flammen, Nr. 1074, 1936, BArch, 1438, Berge in Flammen, FilmSig1. 53 Fritz Olimsky : Berge in Flammen. Ufa Palast am Zoo vom 29. 9. 1931, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, 484. 54 Herbert Ihering: Berge in Flammen. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 454 vom 29. 9. 1931, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, 4845.

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Kreuzer Emden55 im Frühjahr 1932 daran anzuknüpfen. Dabei zeigte sie sich allerdings sparsam, indem sie einfach die Stummfilmfassung des Films von 1926 nachvertonte und, dem Beispiel von Berge in Flammen folgend, um eine Liebesgeschichte für den ›emotionalen Faktor‹ ergänzte. Die erste Fassung verbarg nicht ihre revanchistische Haltung und endete mit dem Bild der auslaufenden neuen Emden zu den Klängen des Deutschlandliedes.56 Konnten schon für die Stummfilmfassung die ehemaligen Helden der Emden gewonnen werden, so wurden diese nun einfach erneut verpflichtet.57 Zudem kam der Film in den Genuss der vollen Unterstützung Hindenburgs und der Marine.58 Die Werbung verzichtete nun auf die nur vorgegebene Tendenzlosigkeit und zeigte sich offen nationalistisch wie in dem im Werberatschlag empfohlenen »Lied der Treue«: Volldampf voraus! – Kameraden gebt mir Eure Hand! Wir kennen nur die eine Pflicht: Treue zum Vaterland! Volldampf voraus! – Die Fahne flattert stolz im Wind, Es gilt vereint den Kampf fürs Vaterland, für Weib und Kind! […] Vereint gelebt, vereint gekämpft, und wenn es sein muss, auch vereint gefallen! Von Sieg zu Sieg zieht Kreuzer Emden bestes Schiff von Allen!59

Bei der Premiere ließ es sich die Emelka nicht nehmen, einen großen Aufwand zu betreiben, und garnierte das Publikum mit Persönlichkeiten der Reichswehr und bekannten Gesichtern Münchens.60 In den Kritiken kam die Neuauflage indes nicht besonders gut an. Zu durchsichtig war die Absicht, einfach an den Erfolg von Douaumont und Berge in Flammen schnell anschließen zu wollen, ohne dass man etwas wirklich Ungesehenes hätte bieten können. Die Liebesgeschichte wurde in den Kritiken regelrecht abgewatscht. Der Film-Kurier sparte sich die Mühe einer neuen Kritik und druckte einfach dieselbe von 1926 ab.61 Die linke Presse spöttelte: »Es hält [!] schwer, sich über diesen Film nicht lustig zu machen. Das Grausige, das Furchtbare des Seekrieges, das Absacken und Versaufen wird als Atelierkitsch serviert«.62 Nach dem großen Erfolg von Douaumont konnte sich im selben Jahr Heinz 55 Kreuzer Emden. Deutschland 1932. Regie: Luis Ralph. 56 Vgl. Kester: Film Front Weimar (Anm. 2), S. 164–168. 57 Vgl. Emelka Reklameberater zu »Kreuzer Emden«, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, 1696, S. 3. 58 Vgl. Kester : Film Front Weimar (Anm. 2), S. 165 und: Der Emden-Erfolg. In: Film-Kurier vom 7. 1. 1927, S. 3. 59 Emelka Reklameberater (Anm. 57), S. 6. 60 Kreuzer Emden. Emelkafilm / Titania- und Primus-Palast. In: LichtBildBühne, Nr. 117 vom 21. 5. 1932, S. 4. 61 Vgl.: Filmkritik. Unsere Emden. In: Film-Kurier vom 23. 12. 1926, S. 2 und Filmkritik. Kreuzer Emden. Primus und Titaniapalast. In: Film-Kurier vom 21. 5. 1932, S. 2. 62 Welt am Abend vom 21. 5. 1932, zit. n. Kester : Film Front Weimar (Anm. 2), S. 172.

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Paul nun mit größerem Budget an sein nächstes Projekt wagen, die Verfilmung der Tannenbergschlacht.63 Die ausführende Schweizer Produktionsfirma Praesens kann dabei als unverdächtig gelten, politische Intentionen gehabt zu haben, hatte sie doch zuvor Brechts Kuhle Wampe herausgegeben.64 Allerdings kam es bei Abnahme des Films durch die Zensur zu Schwierigkeiten. Angesichts der aufgeheizten Stimmung zur Reichstagswahl befand es die Zensurstelle als problematisch, dass Hindenburg von einem Schauspieler dargestellt wurde, und verbot kurzerhand den Film, obwohl sie an dessen Gesamttendenz nichts zu kritisieren hatte. Zudem bestand die Filmprüfstelle darauf, dass es sich explizit nicht um einen Dokumentarfilm handelte.65 Die Produktionsfirma und die Zensurstelle einigten sich schließlich auf den Kompromiss, Hindenburg bis auf eine letzte Sequenz einfach zu streichen.66 Wie schon bei Kreuzer Emden zeigte sich die Werbung des Films nun wenig zurückhaltend, sondern zum Teil offen rassistisch, wenn sie auf den russischen »Menschenüberfluss« verwies oder die russischen »billige[n] Erntearbeiter«67 im Kontrast zu den fleißigen und kulturell überlegenen Deutschen setzte. Dennoch behauptet Heinz Paul weiter tapfer, der Film wäre dokumentarisch, auch wenn sich keine einzige Archivaufnahme mehr in ihm fand: Ich war früher Offizier und habe den ganzen Krieg mitgemacht. Daher wurde die filmische Gestaltung der Schlacht bei Tannenberg von mir mit besonders großer Liebe und Begeisterung übernommen, eine Regieaufgabe, die mich selbst wie selten ein Film ergriff. Galt es doch einen dokumentarischen Film zu drehen, ein Stück Geschichte unseres Volkes und unserer Heimat vorzuführen, galt es doch neben der historischen Handlung Lebensschicksale zu schildern, die im Wirken und Leiden, im Schaffen und Hoffen das schwere Erleben unseres gesamten Volkes im Kriege darstellen.68

Die Kritiken indes konnten sich zum Teil auch für diesen Kriegsfilm nicht erwärmen. Der pseudo-dokumentarische Ansatz störte nur noch. So mangelte es nach Ansicht des Kritikers P. A. Otto den Autoren des Films nicht »an würdiger und ernster Haltung«, aber »an allen anderen Eigenschaften und Talenten, die 63 Tannenberg. Deutschland 1932. Regie: Heinz Paul. 64 Vgl. hierzu H. H.: Tannenberg. H. P.-Film der Praesens im Bezirksverleih Primus- und Titania-Palast. In: LichtBildBühne vom 28. 9. 1932, S. 2. 65 Zensurentscheidung der Filmprüfstelle Berlin vom 29. 8. 1932, S. 2, BArch, R 1501, 125684, Bl. 300. 66 Dies nahm Ludendorff zum Anlass, seinen alten Streit mit Hindenburg wieder aufzuwärmen, indem er sich öffentlich darüber beschwerte, dass er ebenfalls nicht herausgeschnitten worden war. Anhänger von ihm störten immer wieder Aufführungen des Tannenbergfilms. Vgl.: Ein Filmflugblatt Ludendorffs. In: Film-Kurier vom 19. 10. 1932, S. 1 und: TannenbergDemonstration in Nürnberg. In: Film-Kurier vom 28. 10. 1932, S. 3. 67 Illustrierter Filmkurier, Tannenberg, Nr. 1806 (1932), S. 2. 68 Werbeplakat zu Tannenberg. Ufa Palast Astoria, BArch, 16691, Tannenberg, FilmSig1.

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ein Film erfordert.«69 Vor allem störte er sich an der zu sachlichen Darstellung der Schlacht: Nirgends der Versuch die gewaltigen Marschleistungen und Strapazen der Truppe und die unerhörten Nervenanspannungen der Führer durch lebenswahre Bilder zu verdeutlichen. Alles ist verniedlicht und verkleinert, alles ist genrehaft zurechtgestutzt. Man glaubt nicht die Schlacht bei Tannenberg, sondern deutsch-russische Manöver zu sehen.70

So verkam der Film für ihn zu »Geländespiele[n] mit dem Kommandant[en] Heinz Paul«.71 Dennoch ging der Plan der Praesens, mit dem Film Geld zu verdienen, auf. Er fand Anerkennung als Lehrfilm und wurde somit von den Steuern befreit.72 Zudem fand er im Dritten Reich seine Aufnahme in die Reihe Staatspolitische Filme, in der er Jugendliche für einen erneuten Waffengang gegen Russland mobilisieren sollte.73 Wo der quasi-dokumentarische Ansatz scheiterte, brillierte der 1932 von der Ufa produzierte U-Boot-Film Morgenrot.74 Die Vorlage lieferte Edgar Freiherr von Spiegel von und zu Peckelsheim. Die Entscheidung, den Film zu drehen, war auch eine offen politische, durfte doch Deutschland 1932 keine eigenen U-Boote besitzen. Aufgrund der gezeigten Selbstmorde sprach die Filmprüfstelle zunächst ein Jugendverbot aus, das aber die Film-Oberprüfstelle gleich wieder kippte, da der Selbstmord in dem Film durch die soldatische Haltung gedeckelt sei.75 Die Ufa setzte in ihrer Werbekampagne nun komplett auf den fiktionalen Ansatz und warb mit dem Hinweis »Keine Wochenschauaufnahmen«.76 Zur Legitimierung der Authentizität setzte sie wieder auf die Kriegserfahrung der Hersteller.77 Die Werbung fokussierte zudem das Kennzeichen »Nationaler Großfilm« und erklärte auch, was unter »National« zu verstehen sei: 69 P. A. Otto: »Tannenberg« Titania Palast. In: Berliner Tageblatt, Nr. 96 vom 28. 9. 1932, BArch, R 1501, 125684, Bl. 333. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. hierzu: Verkitschung militärischer Überlieferung und deutscher Geschichte. Eine neue Aufgabe für die Filmzensur. In: Deutsche Zeitung, Nr. 204 vom 31. 8. 1932, BArch, R 1501, 125684, Bl. 317. 73 Vgl. hierzu Walther Günther : Tannenberg. Berlin: Reichspropagandaleitung der NSDAP, Amtsleitung Film 1937 (Staatspolitische Filme, H. 5). 74 Morgenrot. Deutschland 1933. Regie: Gustav Ucicky. 75 Vgl.: Entscheidung der Film-Oberprüfstelle, Nr. 6209 vom 26. 1. 1933, BArch, R 1501, 125684, Bl. 416. 76 Ankündigung des Capitol Kinos in Heidelberg zu »Morgenrot«, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, 1206. 77 Vgl.: Ufa-Reklameratschlag zu »Morgenrot«, Deutsche Kinemathek, Nachlassarchiv, 4.3.–79/07–0, S. 20.

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B: National – I – Stählener Haifisch der Meere – / Wunderwerk der Technik / U-Boot / In seinem stählernen Leib / atmet eine Handvoll Menschen / U-Boot-Bemannung / Männer der Tat / Freunde in der Not / Kameraden / – es sind die Vorposten auf hoher See / und Kampf ist ihre Parole! / Diesen wackeren deutschen Männern ist der Film geweiht / Er singt das Hohe Lied des deutschen Seehelden / der lebt und stirbt für die Freiheit und Vaterland!78

Zur Premiere wurde der Ufa-Palast wie schon für Kreuzer Emden regelrecht militarisiert und mit U-Boot-Attrappen und ähnlichen Accessoires ausgestattet. Die Premiere fand Anfang Februar 1933 in Anwesenheit von Adolf Hitler statt, so dass der Film zurecht als »Morgengabe« der Ufa an das neue Regime bezeichnet werden kann.79 Die Kritiken zeigten sich restlos begeistert und sahen ihn durchaus im Zeichen des Machtwechsels: Laßt uns wieder einmal vom Krieg reden und von unseren U-Boot Helden. Die sich überstürzenden politischen Ereignisse der letzten Zeit haben uns kaum Muße gelassen zu einem solchen Gedenken. Und doch ist gerade jetzt der rechte Augenblick dazu, wo wir alle das Morgenrot einer neuen und, wie wir hoffen, besseren Zukunft aufgehen sehen. Die Ufa bringt diesen Film just zur rechten Stunde heraus, um den vaterländischen Geist in uns vollends aufzurütteln.80

Ausgestattet mit dem Prädikat ›künstlerisch‹, war der Film ein Erfolg an der Kinokasse. 1939 kam er in einer geschnittenen Fassung erneut zur Kriegsmobilisierung in die Kinos, bis auch ihn Goebbels’ Verbot aller Weltkriegsfilme ereilte.81

3.

Von Kameraden und Offizieren, von der Kriegsschuldlüge zur Dolchstoßlegende

Nach der Machtergreifung erließ auf Betreiben des Reichsinnenministeriums von Thüringen und Bayern die Oberfilmprüfstelle in Berlin ein Aufführungsverbot für Westfront 1918 und Niemandsland. Alle anderen Filme erhielten vom Propagandaministerium die Zulassung zum Heldengedenktag und damit das staatliche Siegel, das Weltkriegsgeschehen in ihrem Sinne zu zeigen. Tatsächlich 78 Ebd., S. 24f. 79 Klaus Kreimeier : Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München: Hanser 1992, S. 241. 80 Fritz Olimsky : Morgenrot. Kritik vom 3. 2. 1933, ohne weiteren Erscheinungsnachweis, Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv, 1206. 81 Vgl. hierzu Michael Truppner: »Zeitgemäße Neu-Aufführungen«. Eine textgenetische Untersuchung zum U-Boot-Drama Morgenrot. In: Michael Schaudig (Hg.): Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte. München: Diskurs-Film-Verlag 1996, S. 155–178.

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lassen sich Unterschiede zwischen den von den Nationalsozialisten verbotenen Filmen einerseits und den nationalkonservativen andererseits bei der Beantwortung der in Weimar strittigen Fragen bezüglich der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ausmachen. In der auch für die Rechtfertigung des Versailler Vertrages lebensnotwendigen Frage nach der deutschen Kriegsschuld fand Westfront 1918 einen salomonischen Urteilsspruch. Mit den Worten »Alle sind wir schuld« auf den Lippen stirbt Karl, einer der Infanteristen im Lazarett am Ende des Films. Ähnlich verfährt Niemandsland. Zu Beginn des Films werden nacheinander die Kriegserklärungen Russlands, Deutschlands und Frankreichs eingeblendet. Alle Nationen, so die Sichtweise, tragen hiermit ihren Anteil am Ausbruch des Krieges. Konkreter wird die Kriegsschuld noch einmal im Unterstand thematisiert. Hier ist es der Artist, der die Sinnlosigkeit durch sein Gelächter bloßstellt und durch das Ausziehen seiner Uniform den eigentlichen Schuldigen am Weltkrieg benennt – den Nationalstaatsgedanken, der die Menschen daran hindert, sich wie Brüder zu verhalten:82 Niemals aber wurden wie hier die Wurzeln in allen Ländern bloßgelegt, niemals die Gemeinsamkeit des europäischen Schicksals so eindringlich bewiesen, niemals die Uniformität der Gedanken und Empfindungen bei Kriegsausbruch sinnfälliger klargemacht. Die Völker Europas, in den schlimmsten aller Kriege gehetzt, stehen dem Ausbruch und den Folgen dieses Jammers völlig gleichartig gegenüber ; wider Willen künstlich aufgestachelt, finden sie sich innerlich im Grauen des Trommelfeuers und wünschten ihren Frieden mit dem Gegner zu machen, den sie nicht hassen, mit dem zu kämpfen sie für sinnlos halten. Patriotisch gefärbte Lügen entlarven sich selbst unter dem zerstörenden Eisenhagel und den tückischen Gasschwaden eines aufgezwungenen Gegners.83

Douaumont, konservativ ausgerichtet, fand indes einen sehr pragmatischen Weg. Der Film thematisiert einen möglichen Grund für den Ausbruch des Krieges nicht. Stattdessen ist dieser zu Beginn einfach schon im Gange und rekurriert damit auf die im konservativen Lager gängige Sichtweise vom Krieg als Schicksal, dem man sich mannhaft zu fügen hat.84 Berge in Flammen wird deutlicher. Hier ist der Krieg ein reiner Verteidigungskrieg, der Österreich und Deutschland aufgezwungen wird. Der Verrat der Italiener führt nun die Frontlinie direkt in die Heimat. Der Kreuzer Emden verteidigt zwar die Heimat in der Fremde, doch auch hier ist der Krieg ein 82 Vgl. auch Kester: Film Front Weimar (Anm. 2), S. 144. 83 London: Ein tiefgehendes Erlebnis (Anm. 45). 84 Vgl. beispielsweise für den Stahlhelm Joachim Tautz: Militaristische Jugendpolitik in der Weimarer Republik. Die Jugendorganisationen des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten: Jungstahlhelm und Scharnhorst, Bund Deutscher Jungmannen. Regensburg: Roderer 1998, S. 161.

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aufgezwungener. Deutschland ist der Verlautbarung des Kapitäns der Emden nach gezwungen zu mobilisieren. In Tannenberg springt Deutschland erst dem angegriffenen Österreich zu Hilfe, doch dann wird die Sache persönlich. Schließlich muss blühendes deutsches Land, »Stätten alter Kultur, eine wehrlose Bevölkerung vor der Willkür des Feindes« gerettet werden. In Morgenrot braucht es analog zu Douaumont keinen Grund für den Krieg. Hier ist er von Beginn an ein Naturereignis, dem man nicht ausweichen kann. Die Hauptfigur des Films, Kapitänleutnant Liers, schwadroniert so auch: »Solange Krieg ist, solange ist mein Posten draußen auf dem Boot«. Somit verfolgen die Filme drei Strategien, um die Frage nach dem Grund des Krieges zu beantworten. Entweder sie lassen sie schlicht aus, oder es handelt sich um einen Angriffskrieg, der von außen aufgezwungen wurde bzw. alle Nationen tragen ihren Anteil daran. Die Sichtweise des Versailler Vertrages, die Deutschland eine Alleinschuld zusprach, akzeptierte allerdings keiner der Filme, gleich welchem politischen Spektrum er sich zuordnen ließ. Ein weiterer kritischer Topos war die Frage nach der funktionierenden Frontgemeinschaft und nach der Einheit von Führungspersonal und gemeinem Soldaten. Hier ist die Antwort linker wie konservativer Filme zunächst gleich. Die Frontgemeinschaft hat keine Risse. Stattdessen zeigt Westfront 1918 beispielsweise die tiefe Kluft zwischen Heimat- und Kampffront. Angesichts des Betrugs seiner Frau ist der Infanterist geradezu froh, wieder an die Front zurückkehren zu dürfen. Seine freiwillige Meldung zu einem Himmelfahrtskommando wird von seinem Kameraden, dem Bayern, mit den Worten »Kann dich doch nicht allein gehen lassen« unterstützt. Auch wenn der Krieg vom selben Infanteristen mit »Wenn wir Helden wären, wären wir längst zu Hause« konkret in Zweifel gezogen wird, bleibt die Frontgemeinschaft an der Westfront unangetastet. Auch der Leutnant teilt das Leid seiner Soldaten und fällt schließlich angesichts der Verluste seiner Einheit dem Wahnsinn anheim. Hurraschreiend wird er in das Notlazarett eingeliefert. Schlechter schneidet indes die weitere Führungsebene ab. Als unter Einsatz seines Lebens der Student die Nachricht vom seine Einheit bedrohenden ›friendly fire‹ hinter die Linien bringen kann, kommen die diensthabenden Kommandanten nicht auf die Idee, ihm etwas zu trinken oder gar zu essen anzubieten. Hier greift wieder die Kampfgemeinschaft der unteren Dienstränge. Ein untergeordneter Soldat stiehlt vor den Augen der Offiziere etwas von deren Ration und versorgt damit den Studenten. Im Gegensatz dazu lässt Trenker seine Hauptfigur Dimai in Berge in Flammen eine direkte Kritik zumindest an der Führung kurz anklingen, die die Briefe in die Heimat zensiert. Auch erliegt Dimai der Versuchung, nach seiner Frau zu sehen, doch führt ihn sein Pflichtgefühl zurück zu den Kameraden. Allerdings bestraft der Film seine Desertion auf Zeit konsequent. Da ihn seine Kameraden

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für tot halten, gerät er ins ›friendly fire‹ und verliert seinen Arm. Der in Westfront 1918 noch der Ignoranz und Fehlplanung der oberen Ränge geschuldete Beschuss durch die eigenen Kameraden wird hier zur konsequenten Bestrafung für die zumindest zeitweise Desertion aus der Frontgemeinschaft. Kreuzer Emden zeichnet abseits des Kampfgeschehens ein entspanntes Bild der Kameradschaft. Man spielt Karten, geht schwimmen, hilft sich beim Formulieren von Briefen und geht auch sonst humorig seinen Pflichten nach. Man opfert sich freudig und mit Galgenhumor für den anderen auf. So löscht ein Matrose mit seinem Körper einen Brand im Munitionsraum und verhindert so einen vorzeitigen Untergang der Emden. War in Westfront 1918 und Berge in Flammen zumindest noch ansatzweise Platz für Kriegskritik des gemeinen Soldaten, so huldigt Tannenberg allein dem Generalstab. Stellvertretend für ihn darf aber die Figur des Rittmeisters ohne zu zögern sein Gut, und damit seine Frau und sein Kind, zum Beschuss freigeben, wenn dadurch das große Ganze der Aktion gesichert ist. Für diese Haltung gibt es am Ende schriftliches Lob von Hindenburg: »Nebst Gott dem Herrn ist dieser glänzende Erfolg eurer Opferfreudigkeit, euren unübertrefflichen Marschleistungen und Eurer hervorragenden Tapferkeit zu danken«, lässt dieser in einem Brief seinen Soldaten mitteilen. Mit diesen Eigenschaften, so der Film, kann auch die »russische Walze« besiegt werden. In Morgenrot schließlich formt die Front die neue Volksgemeinschaft. Die Standesgrenzen lösen sich angesichts der gemeinsam erfahrenen Bedrohung auf. So dankt Liers seiner Mannschaft, als sie sich zwischendurch zum gemeinschaftlichen Selbstmord aller zehn entschieden haben, mit den Worten: Für alles, ich danke euch allen, und es freut mich, mit euch zusammen rüber marschieren zu können. Zu leben verstehen wir Deutschen vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft. Wollen auch drüben zusammen bleiben. Ganze Mannschaft.

Der Selbstmord der Figuren Petermann und Frederiks verhindert diesen kollektiven Suizid. Der im Film als melancholisch beschriebene und sich selbst isolierende Petermann wird durch sein freiwilliges Opfer in die Gruppe letztendlich doch noch integriert. Er und Frederiks sterben als Freunde – als Paul und Fips. Die Frontgemeinschaft formt hier schon die neue Volksgemeinschaft. Morgenrot eröffnet zudem eine neue Ebene im Verhältnis von Offizieren und Soldaten, indem er mit Frederiks das Protobeispiel des neuen Führers innerhalb der noch zu gründenden Wehrmacht einführt. Er entstammt nicht mehr der noch in Westfront 1918 kritisierten Adelsschicht. Im Stahlgewitter gehärtet trifft er die Entscheidung, für die sein Offizier (noch) zu schwach ist. Der Rangordnung nach müssten er und Liers als die beiden ranghöchsten Offiziere unten bleiben und der Mannschaft den Aufstieg befehlen. Die Mannschaft meutert und

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entgegen des Offizierskodex’ nimmt Liers ihr freiwilliges Opfer an – ein Fehler, den Frederiks mit seinem Selbstmord korrigiert.85 Die Frage nach der in der Werbung versprochenen Tendenzlosigkeit lässt sich für alle Filme klar verneinen. Selbst Westfront 1918 verschließt sich zumindest nicht in Teilen einer rassistischen Deutung, denn in der einzigen ausführlichen Tötungssequenz ist es ein dunkelhäutiger Soldat im Einsatz für das französische Heer, der sich an den Studenten heranschleicht und ihn hinterrücks im Schlamm des Bombentrichters ertränkt.86 Diese in der Kritik als besonders drastisch empfundene Szene hinterließ ihren Nachhall noch über ein Jahr später in den Kritiken zu Niemandsland. Gerade die Wahl eines schwarzen Soldaten als Stimme der Vernunft missfiel eingedenk der Sequenz aus Westfront 1918 beispielsweise der Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung: Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Schweizer Poilu, der von Menschlichkeit trieft – die nettoyeurs, die die Franzosen in unsere Gräben schickten, um deutsche Soldaten mit langen Messern abzuschlachten, stehen uns jedoch zu deutlich vor der Seele, als daß wir auf so plumpe und verlogene Propagandamätzchen hereinfielen. Nach Schluß des Spiels umarmte der deutsche Hauptdarsteller den französischen zum Bruderkuß – man wird von uns nicht verlangen dürfen, daß wir uns an solchem Verbrüderungstheater erfreuen.87

Selbst wenn die dramaturgische Bedeutung des Artisten wohlwollend in den Kritiken beurteilt wurde, implizierte sie einen gewissen ›positiven‹ Rassismus: Ein Schwarzer muß kommen, ein internationaler Mensch, ein Außenstehender, der sie eines Besseren belehrt. Der sie auslacht, der sie, bittere Lektion, zurechtweist. Afrika lehrt Europa, sich nicht zu zerfleischen. Afrika schreit wider den Krieg, beschwört ihn, in äußerster Erregung, mit wilden Tanzrhythmen, atavistischen Ueberbleibseln seiner Urwaldahnen.88

In Douaumont sind die Franzosen den Texttafeln nach ehrenhaft gekennzeichnet, doch bei genauerem Hinsehen spielen sie nicht fair. Den ausgezehrten Deutschen wird Archivmaterial vom immer näher rückenden französischen Gerät entgegengestellt. Unter normalen Umständen, bei gleicher Waffenlage, so der Film, hätten die Franzosen gegen die Deutschen keine Chance. 85 Liers unterläuft noch ein weiterer Fehler, der zunächst seine Führungskompetenz infrage stellt. Die Briten nutzen ein neutrales Schiff in angeblicher Seenot als Lockmittel für das UBoot. Kapitän Liers geht darauf ein, will die angeblich in Seenot geratene Mannschaft retten und riskiert damit seine Mannschaft. Frederiks erkennt den Fehler, warnt sogar noch – doch zu spät: Das U-Boot wird versenkt. Bitter bemerkt er, und attackiert damit eigentlich seinen Vorgesetzten: »Das haben wir nun von unserer Ritterlichkeit«. 86 Vgl. zur rassistischen Interpretation dieser Sequenz Kester : Film Front Weimar (Anm. 2), S. 132 u. 148. 87 Filmschau (Anm. 43), S. 10. 88 London: Ein tiefgehendes Erlebnis (Anm. 45).

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Die Italiener in Berge in Flammen kommen ebenfalls nicht gut weg. Da sie den Deutschen auf dem Feld der Ehre nicht Herr werden können, beschließen sie, eben den gesamten Berg zu sprengen, und verletzen damit nicht nur die Deutschen, sondern begehen ein Sakrileg an der Natur. Die Russen sind in keinem der Filme ein ernst zu nehmender Kriegsgegner. In Kreuzer Emden gehen sie lieber zu Prostituierten als auf ihrem Posten zu bleiben. Tannenberg bedient das Bild von der »russischen Walze«, aber auch hier ist der Russe kein würdiger Feind, sondern stellt – wenn überhaupt – durch seine bloße Masse eine Gefahr dar. Der Brite erscheint als der Hauptfeind des konservativen Kriegsfilms. Er bricht die Regeln des Krieges, indem er sich offen unfair verhält. In Kreuzer Emden sind es die Engländer, die neutrale Häfen zwingen, sich nicht neutral zu verhalten. In Morgenrot gelingt es den Engländern erst mit einer List, das U-Boot zu versenken. Wie beschrieben, schieden sich die Geister in der Kritik vor allem daran, ob es den Filmemachern gelang, ihre Umsetzung des Weltkriegs als ›echt‹ zu legitimieren. Hierbei standen die Filme vor einem Dilemma. Zeigten sie das Sterben zu explizit, wurden sie für das rechte Spektrum wie Westfront 1918 und Niemandsland untragbar. Selbst Berge in Flammen verschloss sich nicht kriegskritischen Interpretationen. Hielten sie sich jedoch zurück, liefen sie Gefahr, die emotionale Bindung an den Zuschauer zu verlieren. So erging es Douaumont, Tannenberg und Kreuzer Emden, deren Kampfszenen letztlich nicht zu überzeugen vermochten. Neue Wege beschritt hier, zumindest ästhetisch, Morgenrot. Dieser Film schaffte es, durch das Ausweichen auf Stellvertreterbilder des U-Bootes und mit einer schnellen Montage mit bis zu drei Schnitten pro Sekunde das Sterben der U-Boot-Mannschaft hochemotional zu visualisieren, ohne hierfür einen einzigen Toten zeigen zu müssen. Eine ähnliche Problematik offenbarte sich im Umgang mit Kriegsversehrten. Gerade die ausführlichen Szenen von Verwundeten führten, mit Verweis auf den vierten Paragraphen des Lichtspielgesetzes, unter anderem zum Verbot von Westfront 1918: […] die breite Ausmalung der Szenen, in denen man das nervenerschütternde Brüllen und Schreien der Verwundeten höre, seien Darstellungen, die dem Wesen des großen Krieges in keiner Weise gerecht würden. […] Daß im Kampf gegen den Feind, im Tod der Gefallenen vor allem ein hohes vaterländisches Opfer liege, sei in dem Film in keiner Weise gewürdigt. Diese Darstellung des Krieges werde der Erinnerung des deutschen Volkes an die Heldentaten und die Opfer seiner Kämpfer im großen Kriege nicht gerecht. Eine solche Darstellung sei [nach § 4 des Lichtspielgesetztes] geeignet, den Willen des deutschen Volkes zur Verteidigung seiner Heimat und die wehrhafte

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Gesinnung des Volkes, insbesondere der deutschen Jugend zu untergraben. Der Bildstreifen gefährde damit lebenswichtige Interessen des Staates.89

Daher verwundert es nicht, dass Filme, die sich dem nationalkonservativen Spektrum zuordnen lassen, im Umgang mit Kriegsversehrten andere dramaturgische Wege beschritten. Ein schwer Verwundeter in Douaumont stirbt an seinem ›Heimatschuss‹, ansonsten begegnen dem Zuschauer klinische Verbände. Amputationen oder Ähnliches zeigt Paul nicht, ebenso wie Tannenberg, mit dem Unterschied, dass die Versehrtheit hier komplett an den Feind ausgelagert wird. In Berge in Flammen verliert die Hauptfigur zwar ihren Arm, doch ist dies Strafe genug und halb so tragisch, so der Film, schließlich kann Dimai am Ende wieder Bergsteigen. Morgenrot spart Verwundete ebenfalls aus. Aber psychisch Verwundete wie Petermann dürfen, im Gegensatz zum Leutnant in Westfront 1918, hier ihren Wert im freiwilligen Opfer für die Frontgemeinschaft wiederherstellen. Das wohl strittigste Thema im Weltkriegsgedenken stellte die Frage nach dem Umgang mit der Niederlage dar. Auf pazifistischer Seite hatte Niemandsland nur die Utopie zu bieten: »›Genug‹, sagt der stille Engländer, und sie machen sich auf, ersteigen den Trichter und gehen, in gemeinsamer Front, mit gefälltem Bajonett, vor. Gegen wen? Gegen den Krieg.«90 Es folgt die Einblendung »Der Frieden«. Als prophetischer erwies sich hier das Ende von Westfront 1918 im Jahr davor. Pabst ließ seinen Film mit der Einblendung »Ende?!« schließen. Die Schlacht um Douaumont war leider zu bekannt, als dass Heinz Paul es hätte wagen können, im gleichnamigen Film ein anderes Ende zu erzählen. Doch verlassen hier die Deutschen das Fort erst – so die Erzählhaltung des Films –, als es ein wertloser Trümmerhaufen ist, der auch den Franzosen nichts mehr nützt. Ähnlich verfährt Kreuzer Emden. Zwar ist im Film die Unterlegenheit der Emden gegenüber der Sydney absehbar, aber die Emden wird erst als Wrack aufgegeben. Dass dieses sture, in den Filmen heroisierte Festhalten am Kampf angesichts einer zu erwartenden Niederlage noch Tote fordert, sei hier noch am Rande ergänzt. Berge in Flammen dagegen spart das Kriegsende einfach aus und endet mit einem Sieg der Österreicher bzw. Deutschen über die Italiener. Gleiches gilt für Tannenberg. Dieser Film ist eine einzige Huldigung an den Generalstab und den glorreichen Sieg bei Tannenberg. Morgenrot führt schließlich eine Sichtweise ein, die von nun an in ihrem Revanchismus nicht mehr zu steigern ist. Hier geht der Krieg überhaupt nicht verloren, er ist nur noch nicht beendet, und kann noch eine ganze Weile dauern: Mit »50 Jahre Nacht, davon wird kein Deutscher 89 Zensurbescheid der Film-Oberprüfstelle, Nr. 6490 vom 27. 4. 1933, BArch, R 1501, 125604, Bl. 494f. 90 London: Ein tiefgehendes Erlebnis (Anm. 45).

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blind«, verabschiedet sich Liers vom Bürgermeister. Er und seine Mannschaft müssen »fahren, solange [sie] noch einen Finger krumm machen können, wieder auf dem Boot und wieder, und wieder, bis [sie] der liebe Gott beurlaubte.« Der Film vertritt damit die auch in den konservativen Veteranenverbänden vorherrschende Sichtweise, dass der Krieg durch die Dolchstoßlegende abgebrochen, aber nicht ordentlich beendet wird und es sich bei der Weimarer Republik nur um eine Phase der Waffenpause handelt.

4.

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Alle hier vorgestellten konservativen Kriegsfilme überlebten den Machtwechsel und bekamen vom Propagandaministerium das zensurrechtliche Siegel, in seinem Sinne zu sein, indem sie eine Zulassung für den Heldengedenktag erhielten. Die in der Werbung oft beschworene Tendenzlosigkeit blieb eher Beschriftung denn Programm. Mit Morgenrot wurde schließlich eine Sicht auf den Krieg eingeführt, die nun Schablone für alle weiteren Filme bildete. Der Krieg war nicht verloren, sondern bloß noch nicht beendet, und die Konsequenz aus dem letzten Kriege musste sein: ein noch härterer Krieg, eine Lektion, die die Wehrmacht berücksichtigte. Filme wie Westfront 1918 und Niemandsland blieben die absolute Ausnahme. Bei so viel Sehnsucht nach der heroischen Seite des Krieges hofften so manche, dem müsse doch einmal genug sein: Nach der allzu großen Zahl von Kriegsfilmen, die wir in den letzten Jahren über uns ergehen lassen mußten, darf die offensichtliche Müdigkeit des Publikums zu Kriegsstoffen, auch der verantwortungsbewußteren Kreise, die den Problemen durchaus nicht aus dem Wege gehen wollen, nicht wundernehmen. Die Konjunktur der Kriegsfilme ist zweifelsohne vorüber.91

Die Annahme des Kritikers der LichtBildBühne erfüllte sich nicht. Vielmehr dienten die Filme des konservativen Spektrums wie Tannenberg zur Mobilisierung für den nächsten Krieg. Die verblassenden Erinnerungen aus Erzählungen oder im Kino an den letzten waren nicht schrecklich genug: Es mag sein, daß derjenige Teil der Zuschauer, der vor zwölf Jahren an der Westfront kämpfte, mit ganz anderen Gefühlen diesen Film betrachtet und tiefere Erschütterungen verspürt (also viel weniger kritische Einwendungen erhebt), als die Generation der 20- bis 30-jährigen, die den Weltkrieg nicht kannten […]. Jedenfalls sollten die Regisseure der Kriegsfilme bedenken, daß die Zahl der Nichtkriegsteilnehmer steigt und daß es also immer mehr darauf ankommt, diese jungen Menschen zu überzeugen.92 91 …n.: Niemandsland (Anm. 44), S. 2. 92 H. P.: Westfront 1918. In: Vossische Zeitung vom 25. 5. 1930, S. 5.

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In einer fatalen Hinsicht behielt der Kritiker der Vossischen Zeitung leider Recht. Die Filme überzeugten die nachgeborene Generation allerdings nicht zum Frieden, sondern zum neuen Krieg.

Thomas Althaus

Kriegsgeschrei und filmischer Exzess. Georg Wilhelm Pabsts früher Tonfilm Westfront 1918

Georg Wilhelm Pabsts Kriegsfilm Westfront 1918 steht im Schatten von Lewis Milestones Remarque-Verfilmung All Quiet on the Western Front, noch aus demselben Produktionsjahr 1930. Der Vergleich lässt aber leicht übersehen, dass der Film von Pabst die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg im Wirkungsfeld der europäischen, von Sprachkritik getragenen Ästhetik des Films und ihrer drohenden Nivellierung durch den Ton sucht. Im Folgenden soll untersucht werden, wie Westfront 1918 auf die Problematik des Übergangs vom visuellen zum audio-visuellen Medium reagiert und wie die Ausdrucksgewalt dieses Kriegsfilms hier auf höchst dialektische Weise von Einschränkungen getragen wird. Das Arrangement aus Kriegskatastrophe und ›bloßem Gerede‹ schafft Darstellungsoptionen, die direkt dieser Bezugnahme zu danken sind. Dabei zeichnet sich die Entscheidung für ein Kriegsfilmprojekt im Jahr 1930 unter medienästhetischen und -technischen Aspekten als nachgerade zwingend ab, jenseits aller weiteren Fragen zur Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und zu ihren kulturhistorischen Verzögerungen auf die späten 1920er Jahre, auch jenseits aller politischen oder pazifistischen Intentionen des ›roten Pabst‹. Ren¦ Clair sieht in R¦flexion faite (1951) Vergangenheit und Gegenwart durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs getrennt. Für ihn »endet das 19. Jahrhundert erst 1914, und um 1918 ist das 20. Jahrhundert in seinen Zügen bereits festgelegt«.1 Dabei geht es ihm um den großen Krieg aber eher unter einem platzschaffenden Aspekt. Das historische Geschehen wird zum Abgrund ausgehöhlt, in dem Clair die ästhetische Anerkennung des Films und die Etablierung des Kinos als mediengeschichtliches Ereignis aufblenden lässt. Das stimmt nur sehr bedingt mit der Entwicklung des neuen Mediums überein, lässt aber an eine Kluft disposi1 Ren¦ Clair : Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920–1950. [R¦flexions faite. Notes pour servir — l’histoire de l’art cin¦matographique de 1920 — 1950]. Aus dem Franz. von Eva Fehsenbecker. Zürich: Diogenes 1995, S. 20.

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tioneller Veränderungen denken, in der mit dem Film eine neue Art des Sehens Raum greift und die Dominanz textlich geprägter Kultur bricht. Für diese Ursprungserzählung schiebt Clair die Moderne-Debatte aus der Jahrhundertwende 1900 mit ihren kulturkritischen Implikationen nach vorn, so dass nun der Krieg die epochengeschichtlichen Daten für beides liefert und die große Endsetzung – Fin de siÀcle – den Eintritt in die Epoche des Films bedeutet. »In jener Zeit, da manch einer von uns geneigt war, Literatur und Theater einer fossilen Ära zuzurechnen, deren Überbleibsel von dadaistischen Bilderstürmern in alle Welt zerstreut wurden«, lag »das revolutionärste Mittel des Ausdrucks im Film«.2 Die Filmtheorie und -ästhetik der 1920er Jahre arbeitet sich mit einem fulminanten Intentionsgewinn aus der Kritik am Kino als Befriedigung lediglich von Schaulust hervor. Das Abenteuer filmischen Sehens wird zum entscheidenden Argument gegen den Kulturträger Text. Seit der »Erfindung der Buchdruckerkunst«, resümiert B¦la Bal‚zs in Der sichtbare Mensch (1924), müsse alles durch den Filter, den die »Kultur der Worte« als »entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur« geschaffen habe: »Unser Gesicht ist jetzt wie ein kleiner, unbeholfener, in die Höhe gestreckter Semaphor der Seele«, ein Signalmast, »der uns Zeichen gibt, so gut er kann. Manchmal nur helfen die Hände nach, deren Ausdruck immer die Melancholie verstümmelter Fragmente hat.«3 Der Film aber gebe dem Menschen, der in seiner Sprache verkümmert sei, durch »eine neue Wendung zum Visuellen« »ein neues Gesicht«.4 Clair bezieht sich in geradezu derber Fortschreibung dieser Kulturkritik – damit aber eingebettet in die avancierte Filmästhetik jener Jahre – auf »dreißig Jahrhunderte Geschwätz: Lyrik, Theater, Roman…«, den »Ballast verflossener Literatur« und andererseits auf »das Medium Film« als »eine Art visuelles Esperanto«, um »der alten ›Knechtschaft durch das Wort‹ entrinnen« zu können.5 Beim Film habe ein »schmerzverzerrtes Gesicht […] nicht bloß die Aufgabe, einen dummen Satz zu 2 Ebd., S. 21f. Vgl. Helmut Korte: Der Krieg und das Kino: Von Weihnachtsglocken (1914) bis Gewehr über! (1918). In: Werner Faulstich u. Helmut Korte (Hg.): Fischer-Filmgeschichte. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum etablierten Medium 1895–1924. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 306–325, hier S. 321 zum Zusammenhang von Film und Erstem Weltkrieg (der in Deutschland u. a. zur Gründung der Ufa führt): Nach dem Krieg hatte sich der Film »als ökonomisch, politisch und auch kulturell ernstzunehmender gesellschaftlicher Faktor etabliert.« 3 B¦la Bal‚zs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachw. von Helmut H. Diederichs u. zeitgenössischen Rezensionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 [1924], S. 16–18. 4 Ebd., S. 16. Das schaffe auch den Dingen, über die sich die selbstbezügliche Geschwätzigkeit hinwegsetze, eine völlig neue Präsenz und Wertigkeit: »In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades« (ebd., S. 31). 5 Clair: Kino (Anm. 1), S. 12–14. Direkt einbezogen in die vehement sprachkritische Argumentation werden u. a. Pierre Dumarchais und Paul Val¦ry (S. 18f.), Albert Valentin und L¦on Moussinac (S. 25f.).

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bekräftigen«,6 weshalb in dieser Sicht der stumme Film auch nicht wirklich der Rede entbehrt. Seine kulturgeschichtliche Relevanz besteht für die avantgardistische Theorie des neuen Mediums vielmehr darin, dass hier »endlich mit Worten Schluß gemacht« wird.7 Stummheit ist in diesem Argumentationszusammenhang kein medientechnisches Defizit des Films der frühen Jahre, auch nicht bloß aus der Not geborene Tugend, sondern eine entscheidende Gewichtungsstrategie: »Wir sehen stumm handelnde Personen, denen ein tragisches Ereignis das Wort verschlagen zu haben scheint.«8 Diese kultur- und sprachkritische Ästhetik des Films verliert jedoch ihren Sinn, als die medientechnische Entwicklung über die Schwelle zum Tonfilm führt. Er macht die Errungenschaft einer unabgelenkt stummen Wahrnehmung zunichte. Aus ›Movies‹ werden ›Talkies‹. Damit wird die neue Kunst selbst zum letzten Zeugen des ewigen Geredes, wie es auf alles zugreift, alles überstimmt und »Leben« in »nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Dialogen« verwandelt.9 In kaum zwei Jahren, zwischen 1928 und 1930, setzt sich der Tonfilm vollständig durch und verweist den ›Stummfilm‹ (der zur Bezeichnung seiner Unfertigkeit jetzt erst so heißt) in die Frühgeschichte des Kinos. So wird denn auch die gerade erst entwickelte ›genuine‹ Ästhetik des Films von der Entwicklung des Mediums überholt und durch sie widerlegt. Bald ist vergessen, »daß wenige Jahre vor Erscheinen des Tonfilms niemand die Stummheit des Films bedauerte« und dass auch noch »die ersten Tonfilme […] in allen Kinos ausgezischt und für klägliche, schnell überwundene Versuche gehalten« wurden.10 Es braucht nicht lange, bis das in diesem Zusammenhang entscheidende Argument seine Evidenz entwickelt, dass der Tonfilm ja schließlich die leidigen Zwischentitel erübrige, in denen sich trotz der vermeintlichen Überwindung der Sprache im Stummfilm doch immer die Unvollkommenheit des Redeverzichts 6 Ebd., S. 44. 7 Ebd., S. 12. 8 Ebd., S. 82. In diesem Argumentationsmodell spricht auch der offensichtliche Befund trivialer Realisierungen nicht gegen die Intention. Womöglich hat er sogar Weisungscharakter : »Als wir nicht Worte, sondern nur Blicke verstanden, die Blicke einer Asta Nielsen[,] einer Lilian Gish, eines Chaplin, so hatten wir gerade an diesen stummen Dialogstellen tiefste menschliche Offenbarungen erlebt, selbst wenn die Gesamtfabel des betreffenden Films der ödeste Kitsch gewesen ist.« (B¦la Bal‚zs: Der Geist des Films. Mit einer Einl. von Hartmut Bitomsky. Frankfurt/M.: Makol 1972 [1930], S. 174). 9 Clair : Kino (Anm. 1), S. 147. Wenn Clair in R¦flexion faite zu Beginn der 1950er Jahre noch einmal auf diesen Bruch zurückkommt, ist das eine nostalgische Erinnerung an das längst Verlorene und Vergessene eines schweigsamen Kinos, in zwei Stimmen ausgeführt (»RC 1923«, »RC 1950«), von denen die eine Clairs frühe filmtheoretische Schriften (als paradigmatisch für die Filmästhetik der 1920er Jahre) rekapituliert, während die andere fast mit Verwunderung registriert, dass so einmal gedacht wurde und das frühe Kino von der Beschränktheit seiner Mittel solche Intention bezog. 10 Ebd., S. 19 u. 124.

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manifestiert habe, dies gerade auch noch in textlicher, bildferner Form und zu ständiger Unterbrechung des visuellen Geschehens. So mag argumentiert werden,11 während jedoch die ersten Tonfilmproduktionen einer alten Befürchtung Recht geben, die bisher eben nur die Zwischentitel betraf. Aus der Perspektive jener sprachkritischen Ästhetik des Films waren »die Aufschriften« nämlich nichts anderes als »vergängliche Rudimente der noch unentwickelten Formen«, bei denen sehr darauf zu achten war, dass sie den Film nicht »zum Kehrrichthaufen für literarische Abfälle machen«.12 Der Tonfilm scheint nun aber genau das zu befördern. Wie er »von den unerträglichen Zwischentiteln des Stummfilms befreit«, wird »der Text dieser Titel, fast ausnahmslos prätentiös und kitschig«, den Kinogängern nun in Permanenz zugemutet: Er ist »von Anfang bis Ende des Films über einen Lautsprecher« zu hören.13

»Radau, n’est-ce pas?« Als mit Westfront 1918. Vier von der Infanterie14 Georg Wilhelm Pabsts erster Tonfilm in die Kinos kommt, stehen die Möglichkeiten ästhetischer Innovation auf dem Spiel. Das ›revolutionärste Mittel des Ausdrucks‹ wird von der verworfenen Rhetorik eingeholt und von ihren Defiziten regiert. Die medientechnische Entwicklung führt hier sogar zu erheblich stärkeren Reduktionen, als sie 11 Selbst Bal‚zs: Der Geist des Films (Anm. 8), S. 173 versteht sich deshalb schnell zum Tonfilm und macht in jenem Sinne das Beste daraus: »Ein Gewinn ist vor allem, daß die Kontinuität der Bilder nicht mehr mit Schrifttiteln unterbrochen wird.« 12 Bal‚zs: Der sichtbare Mensch (Anm. 3), S. 17 u. 93. 13 Clair : Kino (Anm. 1), S. 143. Vgl. auch Rudolf Arnheim: »Atlantic« [1929]. In: Ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film. Hg. von Helmut H. Diederichs. Frankfurt/M.: Fischer 1977, S. 66–68, hier S. 67f.: Arnheim schimpft, »daß ordinäre Filmhandlungen, die bisher mit der überirdischen Stummheit des nichttönenden Films ihre Blöße wie mit einem Hermelinmantel bedeckten, nun in volltönender Robustheit auf die Nerven jedes geschmackvollen Zuhörers losgehen.« 14 Westfront 1918. Vier von der Infanterie. Deutschland 1930. Tobis-Klangfilm der Nero-Film AG (Berlin). Uraufführung: 23. 5. 1930. Regie: Georg Wilhelm Pabst. Drehbuch: Ladislaus Vajda, Peter Martin Lampel. Kamera: Fritz Arno Wagner, Charles M¦tain. Schnitt: Wolfgang LoÚ-Bagier, [Hans Oser]. Ton: Karl Brodmerkel, Guido Bagier, Joseph Massolle. Musik: Alexander L‚szlû. Hauptdarsteller : Gustav Diessl, Hans Joachim Moebis, Jackie Monnier, Fritz Kampers, Claus Clausen, Gustav Püttjer, Ariberg Mog, Emil Wabschke. Länge: ca. 88 Min. DVD: Universum Film München 2009. Einzelne Bezüge nach der Zählung der 367 Einstellungen (ohne Vorspann) unter der Sigle E im fortlaufenden Text. Zur grundsätzlichen Orientierung ist eine Unterteilung in zehn Sequenzen möglich: Einquartierung (E 1–40, 6.40 Min.), An der Front (E 41–98, 8.43 Min.), Meldegänger : der Student (E 99–143, 11.38 Min.), Fronttheater (E 144–169, 8.22 Min.), In der Heimat: Karl (E 170–230, 13.42 Min.), Französischer Spähtrupp (E 231–257, 7.23 Min.), Rückkehr an die Front: Karl (E 258–270, 3.26 Min.), Vor der Schlacht (E 271–291, 6.52 Min.), Die Schlacht (E 292–355, 13.31 Min.), Im Lazarett (E 356–367, 6.07 Min.).

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der verfemten Textkultur anzulasten waren. »Der Tonfilm wird die oft unpräzise, fetzenhafte Sprache des Alltags bringen, die auch von unartikulierten Lauten unterbrochen und unverständliches Gemurmel sein darf«.15 So weit konnte die alte Kultur der Texte nicht herabkommen, auch nicht durch ›dreißig Jahrhunderte Geschwätz‹. Pabsts Film demonstriert das im Tongeschehen seines Beginns: Ein einquartierter Infanteriezug vertreibt sich mit allerlei Späßen die Langeweile zwischen Fronteinsatz und Fronteinsatz. Die Überlagerung filmischer Wahrnehmung durch Gerede tangiert direkt auch die Intention dieses Films auf eine möglichst eindrückliche Darstellung von Krieg. Sie wird fürs Erste aufgespart. Die lange Eingangssequenz (mit 40 Einstellungen und einer Laufzeit von 6.40 Minuten) verdichtet sich im Ton lediglich zu einer Aneinanderreihung von Phrasen, die zugleich ein cross-hearing durch die deutschen Dialekte ist. Solche Querung der Jargons geht auf die Kriegsberichterstattung und Kriegsprosa zu 1870/71 zurück, in der die Vielstimmigkeit jenes ›Einigungskrieges‹ zu zelebrieren war, als man aus mancher Herren Länder, von Preußen bis Bayern, vom Rheinland bis Schlesien, zum ersten Mal gemeinsam ›im Feld stand‹.16 Jetzt ist daraus ein Moment abwechslungsreicher Unterhaltung geworden, das die Abwesenheit von Sinn kaschiert und durch Unverständlichkeit, Undeutlichkeit selbst zu ihr beiträgt. Das sinnfreie Parlando führt deshalb mühelos auch über die eigentliche Sprachgrenze zum Französischen hinweg. Freund und Feind sprechen in einer Weise miteinander, bei der es auf das Gesagte gar nicht ankommt. – Die Analysen von Westfront 1918 als deutschem Pendant zu Milestones All Quiet on the Western Front gehen darauf bestenfalls marginal ein. Dem Wissen um die große Funktion des Ganzen stellt sich dies ja auch als schiere Marginalität und Nichtigkeit dar. So aber begleitet und durchsetzt das leere Gerede nahezu unentwegt die filmische Präsentation von Krieg, ist selbst jeweils sofort wieder präsent, wenn es nicht vom Getöse und Geschrei an der Front überlärmt wird. Damit ist sein Einfluss auf die genau hier ansetzende Darstellung von Krieg unabweislich. Westfront 1918 wird zuvor jedoch mit einem zweiminütigen Adagio morendo für Streicher eröffnet, das dem Vorspann unterlegt ist. Die Ouvertüre erhebt diesen Tonfilm medialiter zum Requiem auf die verstummten Toten. Anders 15 Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Mit einem Nachw. von Karl Prümm und zeitgenössischen Rezensionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 [1932], S. 200. 16 Vgl. etwa Julius von Wickede: Kriegsbilder des Jahres 1870. Hannover: Rümpler 1871, S. 16: »Die baierischen und preußischen Soldaten hatten sonst noch von 1866 her einen gewissen Groll gegen einander […]. Das war aber jetzt glücklicherweise vollständig verschwunden.« »Gerade die Anwesenheit und die treffliche Kameradschaftlichkeit der baierischen und preußischen Truppen […] trägt selbst sehr viel zu dieser guten Mannszucht bei, denn beide Truppen haben jetzt förmlich einen regen Wetteifer, darin zu rivalisiren und sich auszuzeichnen.« (Ebd., S. 108).

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geht es zu, als der Film dann mit der Quartierszene (E 1–40) beginnt. Drei der »vier Infanteristen«, wie sie der Vorspann nennt, genießen hier das Leben in der Etappe (»Der Bayer«, »Karl«, »Der Student«). Die Abwesenheit des Vierten (»Der Leutnant«) sorgt für Unordnung, die schon von draußen zu hören ist.17 Gelächter und Stimmengewirr dringen aus dem Haus. Unter den dunklen Stimmen der Soldaten ist die helle Stimme einer jungen Französin zu erkennen. Der Student geht mit einem Eimer Wasser darauf zu. Die Kamera folgt ihm in die Diele. Da macht es sich der Infanteriezug bequem. Die Kamera läuft die Gegenstände im Raum ab. Sie fungieren als Ablage und Kleiderhaken für Uniformstücke, Feldflaschen, Waffen, Stahlhelme. An der Hinterwand wird ein Andachtsbild von einem Waffengurt aus der Waagerechten gedrückt. »Yvette, die Französin« ist am Herd mit der Zubereitung von Kaffee beschäftigt, umringt von deutschen Soldaten. Sie suchen ihre Nähe. Unterschiedliche Dialekte, markant das Hamburgische, und Yvettes unbehilfliche Versuche, ihr Französisch da hinein zu übersetzen, ergeben ein fröhliches Babel, dem allerdings deutlich genug handgreifliches Verhalten unterlegt ist. Man fraternisiert. Yvette lenkt durch ein Küchenlied die Aufmerksamkeit auf das Kaffeekochen zurück. Die Umstehenden summen ohne Kenntnis des Französischen mit. An ihrer Zudringlichkeit ändert das aber nichts. Der Hamburger gibt sich galant, was ihm eine angedeutete Ohrfeige einträgt (»Non, n’est pas bon«), worauf sich schon der Nächste an der Reihe sieht: »Lass mich auch mal ran an die Kleine.« Mit der Zurechtweisung »Nein, vous Þtes alle meine Kinder!« versteckt Yvette sich förmlich in der Rolle einer Puppenmutter. Der Student kommt für einen kurzen Wortwechsel am Bayern und an Karl vorbei, die auf dem Boden Schach spielen. Zum Stand des Spiels bemüht der Bayer in reduziertem Dialekt das alte Schema des Nord-Süd-Konflikts: »i sags ja oweil, was mit aich Preußen muss man sich scho einlassen, weil’s man geschnapst«. Der Student überspielt sein Unverständnis mit stets passender Formel: »Na, gib ihm feste Saures, Karl!«, was wiederum der 17 Vgl. Hermann Kappelhoff: Der möblierte Mensch. G. W. Pabst und die Utopie der Sachlichkeit. Ein poetologischer Versuch zum Weimarer Autorenkino. Berlin: Vorwerk 8 1995, S. 185: »Das Bild schließt sich nach außen ab, um ein inneres Universum von Brechungen, Analogien und Gegensätzen zu entfalten, den Bildraum. Von Anfang an ist dieser auf der akustischen Ebene vorbereitet. Im Tonraum entfaltet sich die imaginäre Dimension des Bildes, mit der die Darstellung häuslichen Friedens kontinuierlich in die des Schlachtfelds übergeht, das eine fest mit dem anderen verbindend«. Dazu gehören Bildanalogien (v. a. zwischen einer spielerischen Rauferei hier, E 18–22, und einem späteren Zweikampf im Graben auf Leben und Tod, E 255–257). Im »Tonraum« geht es aber wesentlich um »ausgelassene Stimmung« und »derbe Komik« (ebd., S. 186), und das dient dezidiert nicht der Konzentration auf den Krieg, vielmehr seiner Verdrängung. Die folgende Sequenzanalyse (E 1–31) gilt diesem Unverhältnis, dem Pabsts Kriegsfilm seinen Eingang widmet. Für die Argumentation hier ist entscheidend, dass das Ablenkungsmanöver ausgelassener Stimmung eine aus dem Filmplot kommende Offerte bildet, die ›Reduktionsmöglichkeiten‹ des Tonfilms markant in Szene zu setzen.

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Bayer nicht versteht. Er stutzt für einen Moment, sieht aber von Nachfrage ab, wie denn überhaupt alles Gerede im Unverständlichen belassen wird. Am Herd gönnt man sich mit Yvette das Vergnügen nichtgelingender Kommunikation, als sie einen um den anderen abwehrt: »Oh l’amour, ni comme Åa!« – »Was hat sie g’sagt?« – »Daß du ein Rindvieh bist«. Wie Yvette dies belustigt und erstaunt nachspricht (»-fi, vous?«), resümiert der Hamburger in seinem Sinne: »Die hält das für ein Kompliment. Kinner, für die nächste Viertelstunde ist diese Dame meine Braut.« Solches Gerede will im Einzelnen gar nicht verstanden sein. Es lohnt der Mühe nicht, ist »Radau, n’est pas?« Mit diesem Kommentar wendet sich der Student dem Großvater Yvettes zu. GrandpÀre sitzt dabei und schweigt. Er goutiert die Anrede lediglich mit einem angedeuteten Nicken. Die ganze Sequenz hindurch bleibt er eine unfilmische, statuarische Gestalt, die von alters her dem neuen Medium zum Kontrast einzitiert erscheint, ohne Verhältnis zu den beweglichen Figuren dieses Mediums und ihrer schnellen Rede. Seine Beteiligung am Parlando bleibt auf eine Bemerkung zum Kaffee (»Ah, enfin du caf¦.«, »Ah, c’est bon, c’est chaud.«) eingeschränkt. Die Anderen sind mit ihren Floskeln und Kalauern und ihrem Imponiergehabe eher nachlässig auf diesen kleinen Zweck bezogen: »Nu hör doch uff, der ganze Kaffee geht doch verschütt, ihr Kindchen, Luder.« – »Geh, dass ihr mi kein Zichorie n’einklötzt in di Kaffee.« – »Na, Mensch, will’ste vielleicht det blanke Wasser trinken?« Mit der Verteilung des aufgebrühten Kaffees geht das Gerangel um Yvette auf weitere Personen im Raum über. »Herzl, geh, do geh her. Geh, lang herüber dein Negerschweiß!« Als Yvette der Bitte des Bayern nachkommt und den liegenden Schachspielern Kaffee herunterreicht, wird daraus: »Sche t’amour, he! Donnez moi a busserl! Je suis scharf sur toi.« Er zieht sie zu sich herab, während ein anderer sie zurückreißt. Seine ›rettende‹ Hand fährt über ihren Busen, und dabei erklärt er das Gezerre von oben und von unten zu freier Partnerwahl: »Sie, Fräulein, lassen se doch den. An so’n Bayern ist ja doch nischt dran.« Der Bayer nimmt die Herausforderung an. Mit weit aufgerissenen Augen wird sein Gesicht in extremer Aufsicht gezeigt (Abb. 1). »Machen wa ein Gang, machen wa ein Gang!« Das bezieht sich über Yvette hinweg auf den Kontrahenten (»Komm mi her, wenn’s a Schneid haost!«), aber auch immer noch auf sie selbst. Der Bayer hat sie beide im Visier. Wer und was gemeint ist, ergibt sich aus der Aggression, die ihr Objekt oder ihre Objekte fixiert. Das ist denn auch der Moment, in dem sich aus der Rangelei — la main chaude die Belustigungsstrafe des Schinkenklopfens entwickelt. Das pausenlose Geschwätz und darunter die Affekte entladen sich so in handfester Kameradschaft, – als im selben Augenblick die Detonation einer Granate daran erinnert, dass Krieg ist. Das schrille Pfeifgeräusch und der dumpfe Einschlag weiterer Granaten ergeben einen deutlich anderen Ton. Das Licht fällt aus. Die Figuren sind nur noch schemenhaft zu erkennen, als letzte der Hamburger, als

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Abb. 1

Allerletztes seine Stimme: »Au backe!« Dann erhebt sich im Dunkeln eine andere Gestalt. Während kurz eine Sirene tönt, schaltet sie ihre Taschenlampe an. Das Licht fällt auf ihr Gesicht. Es ist Karl, der wortkarge Protagonist des Films. Bis hier fungierte er nur als Statist. Zwischen der letzten und dieser nächsten Szene (E 22/23) wird das Bild vollständig abgedunkelt. Das hat die Wirkung eines zweiten Beginns. Im neuen Licht von Karls Taschenlampe sucht die Kamera nach den Figuren. Wie mit einer Irisblende rückt sie den Kellereinstieg ins Bild, durch den einige hinabflüchten. Über den wandernden Lichtkegel wird eine Kontrastmontage (E 24/25) motiviert: Andere, voran der Bayer, hasten zu einem zweiten Schauplatz nach draußen. Unten im Keller (E 26) ist der Hamburger gleich wieder vernehmlich dabei, als man zum Skat auftrumpft: »Achtzehn!« – »Ja« – »Zwanzig« – »Hab ich« – »Dreiundzwanzig« – »Jawoll« – »Siebenundzwanzig« – »Passe!« – »Au, das war warmer Regen.« Die Skatspieler bilden den optisch-akustischen Hintergrund für die Liebesszene zwischen Yvette und dem Studenten, die sich in einer anderen Ecke des Kellers mit wenigen ungeschickten Sätzen anbahnt (E 27: »Bumbum, Mademoiselle. Unhöflich, ihre Landsleute. Pas galant.«),18 um nach einem kurzen Liebesgeständnis in stille Zuneigung überzugehen. Für dieses Schweigen streicht Yvette dem Studenten mit dem Finger über den Mund. Noch einmal wird das Bild vollständig abgedunkelt, dieses Mal mit einer zeitlich gedehnten Schwarzblende. Sie funktioniert gleichzeitig als 18 Hier – und sonst kaum – folgt der Film genauer seiner Romanvorlage: Ernst Johannsen: Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918. Hamburg-Bergedorf: Fackelreiter 1929, S. 9–11. Dazu gehören allerdings (entproblematisierende) Verfremdungen, auf die im Folgenden noch näher einzugehen ist.

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Schnittstelle für die Weiterführung der Kontrastmontage, deren anderer Part nun eine laute Szene draußen bildet. Man trifft sich am Krater eines Artilleriegeschosses. Das Gerede wird wieder dominant. Der Bayer führt das große Wort. Als ein nächster Einschlag zu hören ist, springt er in den Krater (»Schon wieder so a Gruß aus der Ferne. Fürt di gut, ich duck mi.«) und inszeniert sich dort als Ausrufer eines Bierkellers: »Hereinspaziert, hereinspaziert, meine Herrschaften! […] Das kostet keine 20 Pfennige, das kostet keine 10 Pfennige, das kostet heute für Militär und für die Pupperln gratis.« Die Umstehenden springen nach, als plötzlich aus dem Off der Befehl zum Antreten zu hören ist, der die burleske Brauhausszene beendet (»Ah, mir leckt am Arsch!«), auch die Liebesszene und auch das Kartenspiel, »Ausgerechnet, wo ich einen Grand mit Vieren hab!« Solche Abschlusskommentare sind allerdings von genau gegensätzlicher Wirkung. Das Signal ist: Nach jeder Geschehenswende, ihrer audio-visuellen Inszenierung hat doch nicht der Krieg das Sagen, sondern wieder die unverwüstliche Phrasendrescherei, vorerst jedenfalls. Aber das wird sich den Film hindurch tatsächlich ständig wiederholen.

Die Herrschaft der Phrase im Film Dass die Fähigkeit zum Ton einhergeht mit der Entscheidung für eine denkbar reduzierte Sprache, hat tatsächlich medienästhetische und insofern ursächliche Gründe. Sie ergeben sich aus den Bedingungen der Wahrnehmung im Film. »Die Apperzeption eines Tones dauert länger als die eines Bildes. Die Bildmontage konnte im Kurzschnitt fast das Originaltempo des tatsächlichen Assoziationsvorganges erreichen. Die Tonmontage wird das nicht können« – »man muß doch bei einer Einstellung bleiben, bis der Text fertig gesprochen ist«.19 Das wirkt sich als »Zurückdrängung des kurzen Bildschnitts (nach russischer Art)« und hierin als Beeinträchtigung der Möglichkeiten des Films aus, indem »die Fixierung der Filmszene an längere, am gleichen Ort stattfindende Dialoge«, vorsichtig ausgedrückt, »eine gewisse Fesselung der Bildbeweglichkeit erfordert«.20 Zunächst 19 Bal‚zs: Der Geist des Films (Anm. 8), S. 170 u. 173f. 20 Rudolf Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms [ca. 1934]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk. Hg. u. mit einem Nachw. von Helmut H. Diederichs. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 232–247, hier S. 245. Dabei handelt es sich lediglich um Einschränkungen, die in historischer Perspektive mit den grundsätzlichen Möglichkeiten des Tonfilms verbunden sind. Außen vor bleiben solche Einschränkungen, die aus den akuten technischen Problemen resultieren: »die Schauspieler müssen, damit der Lautsprecher die Worte nicht zu Brei macht, mit der Feierlichkeit von Leichenpredigern deklamieren (und natürlich entsprechend auch in einem opernsängerhaften Zeitlupentempo gestikulieren), aus demselben Grunde setzt notgedrungen alles Situationsgeräusch (Stimmengewirr, Musik, Schrittegeklapper) aus, sobald die Solistenstim-

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ist das nur ein filmästhetisches Detail. Als solches entfaltet es aber durchschlagende Wirkung: »Dadurch ist die Kameraführung unintelligenter, witzloser geworden. Die Bildeinstellung hat ihre formende Funktion fast völlig verloren«.21 Gerade unter dem Aspekt der Entdynamisierung durch lange Einstellungsdauer und geringe Schnittfrequenz, eingeschränkte Kamerabewegung und Sistierung des Bildflusses in Gesprächsräumen, alles in Rücksicht auf die Erfordernisse der Tongebung, wirkt nachträglich der stumme Film als »negative Wertbestimmung durch Subtraktion«.22 Seine Sprachunfähigkeit schuf Darstellungsmöglichkeiten, über die jetzt eben nur noch mit Einschränkung durch den Ton zu verfügen ist. Das nimmt sich deshalb im Nachhinein wie ein früher Verzicht aus, wie ein damals bewusstes Schweigen. Die alte Sprachunfähigkeit kommt nun also einem gelingenden ›Abzug‹ von Rede gleich. Er diente der Vervollständigung filmischer Wahrnehmung, vom Montagerhythmus bis zur ›entfesselten‹ Kamera.23 Hingegen ist neuerdings, im Tonfilm ein erheblicher technischer Aufwand notwendig, um sich einfacher Abbildung und der Rückkehr der Kamera auf den festen Punkt des Stativs zu erwehren. Wenig fehlt, dass sich die Komplettierung des Mediums als die eigentliche Beschränkung seiner Mittel erweist. In ungenauer Einschätzung macht der Tonfilm nun alles an Dialog möglich: »von der gedankenschweren Verschlungenheit Shakespeares, die der Fassungskraft des menschlichen Geistes schon bei reiner, gänzlich bildloser Rezitation fast unlösbare Aufgaben stellt, bis zur lockersten, simpel-konkretesten Wechselrede.«24 Filmästhetisch und in praktischer Handhabung geht es aber

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men zu sprechen haben – hat der Solist seinen Satz ausgesungen, so fällt das Rhabarber der Geräuschkulisse mit der belustigenden Abruptheit eines Orchestertutti ablösend ein« (Arnheim: »Atlantic« (Anm. 13), S. 66f.). Rudolf Arnheim: Tonfilm auf Abwegen [1932]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht (Anm. 20), S. 102–104, hier S. 103. Vgl. auch Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 216: »Die Bildeinstellungstechnik in den Tonfilmen wird wieder primitiv, wie vor Jahren.« Rudolf Arnheim: Die Verkoppelung der Medien [1999]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht (Anm. 20), S. 413–417, hier S. 414. Ohne Voraussicht auf die Tonfilm-Ära macht der Film mit der seit 1925 vorangetriebenen Entwicklung der entfesselten Kamera einen ›letzten‹ und entscheidenden Schritt zur »Eroberung seiner Wesenseigentümlichkeit« (Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Übers. von Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 16). Das »Starren auf die große Pose und das überdramatische Hinspielen auf die Apparatur« hören auf (Karl Prümm: Das schwebende Auge. Zur Genese der bewegten Kamera. In: Harro Segeberg (Hg.): Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte. Marburg: Schüren 2004, S. 235–256, hier S. 243). »Das gleitende, schwebende, unablässig changierende Bild nimmt die Verflüssigungsdynamik der urbanisierten Moderne auf«, aber all das »drohte nun von der neuen Technologie des Tonfilms verdrängt zu werden.« (Ebd., S. 248 u. 237). Rudolf Arnheim: Neuer Laokoon. Die Verkoppelung der künstlerischen Mittel, untersucht anläßlich des Sprechfilms [1938]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht (Anm. 20), S. 377–412, hier S. 389.

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doch nur um einen restringierten, nicht um einen elaborierten Kode, sofern jedenfalls »die Ersetzung des optisch ergiebigen handelnden durch den optisch unergiebigen sprechenden Menschen«25 als ›Fehler‹ des Tonfilms wirkungslos gemacht werden soll. »Wenn schon gesprochen werden muß, so kurz und möglichst in Pointen«; lange Rede führt schon als solche zu den »plumpsten Dialogen«, die »keinen Einstellungswechsel und keinen Montagerhythmus zulassen.«26 Dabei ist es aber nicht nur um die Vermeidung von Weitschweifigkeit zu tun, was sich ja auch als sprachliche Konzentration auswirken könnte, sondern dezidiert um ungewichtige Rede, die sich nicht allzu sehr bemerkbar machen darf, auf dass sie das optische Geschehen nicht stört. Die denkbare Synthese von Bildfluss und lakonischer oder aphoristischer Sprechweise stellt eher eine Scheinlösung des Problems dar. Die »strenge Schönheit eines lapidaren Kurzdialogs« ergibt nämlich in der filmischen Konkretion »abgehackte Telegrammsprache«, womit denn gerade eine genauere Absicht auf den Dialog eigentlich erzwingt, dann doch lieber ganz, »vom Manuskript her Sprechszenen zu vermeiden«.27 Das liefe aber in paradoxer Umkehrung auf eine Wiederentdeckung des Stummfilms im Tonfilm hinaus. Zu den Figuren in Westfront 1918, die sprachlich zurückgenommen agieren, gehört der Leutnant. Sein Reden ist auf Verstummen angelegt. Hageren Aussehens, das Antlitz schon beim ersten Erscheinen (E 39) von Totenblässe überzogen, dabei hochdekoriert (mit Halsorden und Eisernem Kreuz), nimmt er annähernd starr Meldungen entgegen und erteilt Befehle. Dynamik gewinnt sein Verhalten erst, als er sich in seinem Ordnungswillen von der Regimentsleitung zur Ausführung eines Durchhaltebefehls (E 285) missbraucht sieht und das zerstörerische Geschehen durch seine militärische Stellung in nichts mehr re25 Ebd., S. 405. Vgl. auch Erwin Panofsky : Stil und Medium im Film [1936/47]. Übers. von Helmut Färber. In: Ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film. Mit Beiträgen von Irving Lavin u. William S. Heckscher. Frankfurt/M.: Campus 1993, S. 17–51, hier S. 24: »Die Möglichkeiten des Tonfilms unterscheiden sich von denen des Stummfilms dadurch, daß der sichtbaren Bewegung der Dialog integriert wird, der deshalb besser nicht Poesie sein sollte.« Greta Garbo ist in ihrem zweiten Tonfilm Anna Karenina »am schwächsten bestimmt in der langen Ibsen-Rede, die sie ihrem Gatten hält, und am stärksten, wenn sie schweigend den Bahnsteig entlanggeht, während ihre Verzweiflung Gestalt gewinnt, im Zusammenhang ihrer Bewegung […] mit der Bewegung des nächtlichen Raumes um sie […]. Kein Wunder, daß man bisweilen etwas wie Heimweh nach dem Stummfilm verspürt.« (Ebd., S. 43). 26 Bal‚zs: Der Geist des Films (Anm. 8), S. 176 u. 180. Unter diesem Aspekt muss in Fragen des Films »der ›Dichter‹, der unbekümmert seinen Dialog schreibt, ohne ein Gefühl für dessen Funktion innerhalb des optisch akustischen Gesamtwerks«, bei Ähnlichem auskommen wie der »Manuskriptautor des heute üblichen Schlages, der seine Figuren so reden läßt, wie den Leihbibliotheksromanschriftstellern der Schnabel gewachsen ist« (Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms (Anm. 20), S. 244f.). Letztere machen hier im Grunde sogar weniger Umstände, was die spezifische Eignung von Kolportageliteratur als Drehbuchvorlage erklärt. 27 Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms (Anm. 20), S. 234f.

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gulieren kann. Folglich nützt es dann auch nichts mehr, dass er sich zur Ruhe zwingt. Bis dahin jedoch grenzt er sein Reden immer wieder auf knappe Erkundigungen ein. Gleichzeitig werden die Imperative und der Befehlston vom durchgehend traurigen Blick aus tiefliegenden Augen, ohne irgendein Lächeln, als disziplinierte Melancholie enttarnt. Im Offiziersunterstand kommt es zu einem auf Stichworte reduzierten Dialog mit dem Feldwebel (E 122f.), während draußen im fehlgeleiteten Feuer der eigenen Artillerie gestorben wird, noch sinnloser, als es der Krieg ohnehin schon ist. Man stellt die Verluste fest und nimmt Urlaubszuweisungen vor. Währenddessen hakt der Leutnant Meldelisten aus. Der Blick auf diese Listen, der dadurch jeweils verzögerte Blick auf sein Gegenüber erzeugen Gesprächspausen. Sie haben die Wirkung von Aposiopesen. So entsteht die paradoxe Situation, dass man miteinander spricht und fast nichts sagt. Der Bursche schenkt den beiden einen Schnaps ein. Wie sie ihn trinken, ersetzt auch das für einen Moment Rede und Gegenrede. Man spricht kein Wort zu viel. Als sich der Leutnant erst nach dem Zug erkundigt (»Die Leute?«), dann nach der »Stimmung?«, ist dieses Zweite für sein Gegenüber gar keiner Antwort mehr wert. Der Unteroffizier winkt ab, mit dem Glas in der Hand. Danach wird Fronturlaub erteilt. »Der Karl« ist »an der Reihe«. Dazu äußert sich der Leutnant vergleichsweise ausführlich: »Wissen Sie, ich schick’ die Leute gar nicht mal so gern auf Urlaub. Nachher versauen die hier draußen bloß die Stimmung.« Diese Rede wird optisch durch eine Veränderung der Bildachse gewichtet. Vorher ist der Leutnant nur im Profil zu sehen, jetzt wird mit einer Drehung um 90 Grad der Feldwebel zur Randfigur und der Leutnant halbnah in einer Portraitaufnahme gezeigt. Die Aufnahme konzentriert sich aber gar nicht auf den Redevorgang. Es wird vielmehr gezeigt, wie der Leutnant währenddessen den Blick abkehrt zu weiterem Schweigen (Abb. 2). Auch Karl, der als letzter sterben wird, in der Schlussszene, und dem zumindest hierdurch eine tragende Rolle in diesem episodisch auf das Schicksal der vier Infanteristen bezogenen Film zukommt, verhält sich auffällig wortkarg, dies nicht nur in der Eingangssequenz (Einquartierung) über das Leben in der Etappe. Auch während des Fronturlaubs hat er nichts zu sagen. Das bekommt allerdings einen geradezu redseligen Vorlauf, als sich in der weiten Öde der Kriegslandschaft Karls Weg hinter die Front mit dem des Studenten kreuzt, der sich nach einem Meldegang unerlaubt von der Truppe entfernt hat für eine Nacht mit Yvette. Nun muss er wieder nach vorn. Karl spricht begeistert von seiner Frau: »[…] sieht noch immer wie’n Mädl’ aus. Endlich mal wieder was zum Liebhaben. […] Du kannst ja gar nicht wissen, was das heißt, du hast ja kein Mädl’.« Der Student kann nun doch mitreden: »Seit gestern hab’ ich eine.« Der Zweck dieser Redeszene E 141–143 liegt aber in ihrer Widerlegung durch nachkommendes Schweigen, als Karl zuhause wahrnehmen muss, dass es mit der Mädchenhaftigkeit seiner Frau nicht mehr sehr weit her ist. Die Roman-

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Abb. 2

vorlage behandelt die große Enttäuschung in einem teichoskopischen Bericht. Der visuell-performative Vollzug dieser Passage im Film ergibt nach der Liebesszene in der Eingangssequenz eine zweite (und letzte) deutliche Bezugnahme von Westfront 1918 auf den gleichnamigen kleinen Roman: »Ihr wißt ja, als ich raus mußte, habe ich vorher geheiratet. […] Der erste Urlaub kam, schließlich auch der zweite. […] Ich machte leise die Tür auf, meine Herren – nee – platt ist gar nichts, die ganze Bude schaukelte. Ich dachte, ich wäre wahnsinnig geworden. Liegt sie in der Falle und dabei hockt so ein Junge, vielleicht zwanzig oder neunzehn Jahre alt. Sie schreit auf, zieht die Decke heran und über den Kopf. Und er – der Junge, starrt mich an, starrt mich an wie eine Puppe. Dann hebt sich langsam seine rechte Hand und legt sich auf den Mund. Ich stand und stand und – was weiß ich, vielleicht waren es nur Sekunden. […] Ja, und da habe ich getan, als sei nichts weiter. Bin in die Küche gegangen, habe Tee gekocht, dann gebadet und gefuttert. Schließlich kam sie an, stellte sich in eine Ecke und winselte herum. ›Lange Fahrt gehabt‹, sagte ich fröhlich. ›Bin verdammt müde.‹ Sie starrte mich an wie ein Wunder. Wozu alles genau erzählen, jedenfalls tat ich so, als sei nichts, aber ich faßte sie auch nicht an. Als sie einmal meinen Arm berührte, sagte ich kurz: ›Laß das!‹ Darauf sprach ich vom Wetter. […] Sie wußte nicht, was das alles bedeutete. Jeden Tag flehte sie um Verzeihung. Wenn sie wieder still war, sprach ich sofort von ganz gleichgültigen Dingen, als hätte sie nichts gesagt.« »Böse Rache«, bemerkt Müller.28

In Pabsts Film funktioniert diese Episode trotz der recht genauen Umsetzung anders, weil sie sich hier vor dem Hintergrund der Krise des Films durch den hinzugewonnenen Ton vollzieht. Schon die Eröffnung der Heimatsequenz macht 28 Johannsen: Vier von der Infanterie (Anm. 18), S. 20–23.

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dies deutlich, als Neurekrutierte mit ›klingendem Spiel‹ (Uhland/Silchers Kriegs- und Sterbehymne vom »Guten Kameraden«) vorbeiziehen, ein behäbiger Kleinbürger darüber noch einmal der Augustbegeisterung von 1914 verfällt und sich Karl zuwendet: »Hallo, wie geht’s denn draußen?« – »Wir halten schon durch.« – »Und wann seit’er endlich in Paris?« (E 170) Darauf hat Karl nichts mehr zu erwidern, ebensowenig auf den Erklärungsversuch seiner Frau, als er sie mit dem Fleischergesellen überrascht: »Ich kann doch nichts dafür.« (E 207), »[…] was soll eine Frau anfangen in der schrecklichen Stadt, mutterseelenallein« (E 216f.). Das meint nicht nur Einsamkeit, auch Hunger und Not (»Der Fleischer-Willi von unten. Manchmal bringt er was mit.« E 215). Aber es gibt keine Begründung, die Karls Enttäuschung genügen könnte, auch nicht die gut gemeinten Phrasen, mit denen die Mutter dies versucht: »Du bist zu lang von zu Hause weg gewesen. […] Man soll die Frau nich so lang allein lassen, nee, nee, das soll man nich.« (E 222–225) Das ist alles weit entfernt von zureichender Wahrnehmung. An eine zureichende Wahrnehmung durch im Film Gesagtes lässt jedoch der Krieg mit seinen Schrecken ohnehin nicht denken. Für ihn scheint es keine Artikulationsebene in Kongruenz zu seiner visuellen Präsentation zu geben. Jedes Wort darüber ist schon als solches falsch.29 Da trotzdem gesprochen werden muss, verlegt sich Karl eben auf das vorstellungsferne Gerede, als ob nichts sei. Des Ganzen müde, redet er so, als sei er es nur wegen der langen Heimfahrt im engen Waggon: »Ich bin doch hundemüde. Akkurat wie die Pökelheringe.« (E 203). Mit einem »Jetzt lass das, koch lieber Kaffee« reagiert er auf die Berührung seiner Frau (E 207), und als die Mutter mit einem »Wie war’s?« vorsichtig nach dem Leben und Sterben an der Front fragt, verfehlt die verkleinernde Formel ihre absorbierende Wirkung nicht, ist »Alles in Ordnung, es dauert nur ein wenig zu lang.« (E 217f.) Völlig unverhältnismäßig trifft der Alltagsjargon auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, und wer wie Karl deswegen zu schweigen versucht, den holen die Floskeln erst recht ein.

29 Dieser filmischen Diagnose des Geredes assistiert der Roman mit eigenen Verwerfungen, ohne dass es freilich zu weiteren deutlichen Bezugnahmen darauf im Film kommt, dem folglich auch explizite Sprachkritik fehlt: »die meisten Menschen kennen nur Grade von Lügen. Sie lügen selbst noch, wenn sie die Wahrheit sagen.« (Ebd., S. 68) »Worte sind immer nur Worte, das rauscht so dahin, das ist alles so unzulänglich.« (Ebd., S. 90) Wie im Folgenden wenigstens noch anzudeuten ist, erweist sich aber auch Johannsens Roman, gleichsam zur Selbstbestätigung des Befundes, als ausgesprochen phrasenanfällig.

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»Läppische Szenen« So zeigt denn gerade Pabsts Westfront 1918 als deutsches Paradigma der filmischen Auseinandersetzung mit dem Krieg, wie sehr das Kino durch den Tonfilm unter die Herrschaft der Phrase geraten ist, wie die medienspezifischen Erfordernisse kurzer Rede den Tonfilm dazu konditionieren, wie andererseits auch der medienspezifische Widerstand stummen Agierens davon erfasst und dem selbst dienlich wird. Wie Karl beim stillen Eintritt in seine Wohnung die eigene Frau mit »Fleischer-Willi« im Schlafzimmer überrascht und für Karl plötzlich auch nicht mehr an ein gelingendes Leben jenseits von Krieg zu denken ist, entfährt ihm – vor der selbstquälerischen Forderung »Na, küsst euch nur ruhig weiter!« – zunächst ein »Ach so!« (E 180) Davon hat der Kinogänger der frühen 1930er Jahre bald schon »eine hübsche Kollektion beieinander«: »Seit es einen Tonfilm gibt, ist es üblich, den Augenblick der großen Enthüllung durch diesen schlichten Ausruf zu schmücken«,30 als unter den filmischen Bedingungen perfekte Reduktion sprachlicher Mitteilung auf fast nichts. Pabsts Film bildet darin eine Zitatgrundlage für jene »hübsche Kollektion«. Im Zusammengang von aufwendig inszenierter Klimax und blasser Interjektion gibt Westfront 1918 die Perspektive vor, in der das jetzt audiovisuelle Medium durch seine Sprachfähigkeit auf Sprachverkümmerung tendiert. Dabei ist von einigem Belang, dass sich diese Konsequenz so für einen Tonfilm als Kriegsfilm ergibt und zunächst hier ihre Problematik entfaltet. Zu dieser Problematik gehört nämlich nicht nur die völlige Diskrepanz zwischen Kriegsgrauen und sprachlicher Vergegenwärtigung. Noch entscheidender ist – in der historisch eminent wirksamen Akzentuierung des Sprachkritikers Karl Kraus – eine darin tatsächlich auch begründete Kausalität. Zur Analyse des reduzierten Wortgebrauchs gehört für Kraus die Kriegsschuld der Phrase: Die »maßlose geistige Unterernährung, die das Leben der Phrase herbeigeführt hat«, als Austreibung von Bewusstsein, wird im großen Krieg »von den blutigsten Kontrasten ihrer dummacherischen Übung nicht satt«.31 Für Kraus ist das Amalgam von »Regimentsmusik zu Todeszuckungen und allem Diskant von 30 Rudolf Arnheim: Philosophie des Ach so [1933]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht (Anm. 20), S. 125–127, hier S. 125: »Im letzten Albers-Film [E. P. 1 antwortet nicht, 1932] kam es gleich zweimal vor. Als der Erfinder begriff, daß sein Chefingenieur ein Saboteur war, biß er die Lippen aufeinander und preßte ein ›Ach so!‹ hervor. Und als der Flieger Ellissen begriff, daß Fräulein Claire eigentlich den Erfinder liebte, biß der Flieger seinerseits die Lippen aufeinander und preßte ein gleiches ›Ach so!‹ hervor.« Vgl. auch ders.: Film als Kunst (Anm. 15), S. 218: »wenn in Richard Oswalds Dreyfus [1930] die Handelnden in den dramatischen Augenblicken schweigen, ein ›Ach so!‹ durch die Zähne zischen und abgehen«. 31 Karl Kraus: Er ist doch ä Jud. In: Die Fackel. Reprint der Ausgabe 1899–1936. Frankfurt/M.: Zweitausendeins o. J. [1977], 15 (1913) Nr. 386, S. 1–8, hier S. 5 und ders.: Made in Germany. In: Die Fackel (1916) Nr. 437–442, S. 24–29, hier S. 27.

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Phrase und Qual in dieser Dreck- und Feuertaufe«32 nicht mehr auseinander zu bekommen. »Das Problem, im Weltkrieg erkannt, ist die Gleichzeitigkeit von Phrase und Waffe«,33 heißt es in der Rückschau und vorwarnend zu Beginn der 1930er Jahre. Da aber präsentiert Westfront 1918 unter den neuen medialen Bedingungen des Tonfilms denkbar sinnfällig das »›Panta rhei‹ des Wortschleims, in den die Tat sich löst und aus dem sie wird«.34 In Pabsts Film nimmt diese Dialektik unter dem Druck der dargestellten Ereignisse keineswegs ab. Je präsenter der Krieg ist, desto mehr sind es auch die Phrasen. Wenn in E 29 sich der Bayer in den Krater einer Granate duckt und hier den Conf¦rencier des ›Stahlgewitters‹ gibt (»Is’ a ganz schöne Brocken wes’n, was? […] so a Hergelaufener«), restituiert der Kino-Voyeurismus in einem Endstadium die Situationen plappernder Kriegsberichterstattung, wie sie Kraus an der »Eindrücke-Hyäne«35 Alice Schalek gegeißelt hat. ›Die Schalek‹ hatte als Journalistin und Photographin für die Wiener Neue Freie Presse das Geschehen an der Isonzo-Front in Wort und Bild festgehalten: Die Batterie unter uns schießt. […] »Zu hoch!« schreit der Leutnant. »Zu tief!« nach dem zweiten Schuß. Und: »Ausgezeichnet, der sitzt! Jetzt haben sie’s!« nach dem dritten. »Nach drei Schuß sind wir jedesmal eingeschossen,« erklärt er uns einfach und doch voll Stolz. »Jetzt wiederholen!« Und genau an derselben Stelle platzt wieder ein Schrapnell. »Die arbeiten dort nicht weiter!«36

Die Phrase zeigt den Krieg und blendet aus, was er und was es bedeutet, wenn ein Schuss »sitzt« und wenn ›die dort nicht mehr weiterarbeiten‹. In Westfront 1918 betrifft das Unverhältnis über die Leerformeln der Figurenrede hinaus auch die Einbringung filmischer Darstellungshülsen. Mit ihnen hat das Versatzstückartige sinnenthobener Rede seine Fortsetzung in Klischees der Kinoästhetik. Dies gilt zumal für die episodische Verwandlung des Kriegsfilms in die Kriegsromanze, den Nebenplot der Liebesepisode zwischen dem Studenten und Yvette. Die Figur aus der Romanvorlage von Ernst Johannsen verliert im französischen Filmstar Jackie Monnier zur Gänze ihr bedenkliches Aussehen: [D]er Student […] sitzt auf einer Steinbank bei einem französischen Mädchen. Es hat rostig-rote Haare, fast weiße Augenwimpern und graublaue Augen. Auf der einen Wange keimt aus einem Muttermal ein Büschel farbloser Haare, dazu ist das blasse 32 33 34 35 36

Karl Kraus: Nachruf. In: Die Fackel 20 (1919) Nr. 501–507, S. 116. Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint. In: Die Fackel 36 (1934) Nr. 890–905, S. 142. Ebd. Karl Kraus: Innsbruck und Anderes. In: Die Fackel 22 (1920) Nr. 531–543, S. 45. Alice Schalek: Tirol in Waffen. Kriegsberichte von der Tiroler Front. Mit 36 Abbildungen. München: Schmidt 1915, S. 69f. Vgl. Karl Kraus: Die Schalek dringt weiter vor. (Glossen). In: Die Fackel 17 (1915) Nr. 406–412, S. 17–19, hier S. 18.

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Gesicht mit Sommersprossen bedeckt. Es wäre sicherlich vor dreihundert Jahren eines Tages als Hexe verbrannt worden. Aber es ist immerhin ein Mädchen […].37

Dieses Mädchen wird in Monnier, der Muse aus Jean Renoirs letzten films muets (Le Tournoi dans la Cit¦, 1928; Le Bled, 1929), zur Schönheit verfremdet. Das gilt auch für den Studenten. In der Romanvorlage hat der Krieg ihm das Gesicht verwüstet. »›Ist besser, man fällt mit solcher zerschossenen Fresse‹, sagt er«. »›Für die Weiber ist das freilich nichts‹, grinst« sein Gesprächspartner.38 Die Rolle des Studenten ist im Film mit Hans-Joachim Moebis als strahlender Erscheinung in der Charge des jugendlichen Liebhabers besetzt. So wird zu einer Geschichte von Liebe und von ihren zarten Banden im Krieg, was bei Johannsen eine Geschichte von ihrer Verrohung im Krieg war, von organisierter und unorganisierter Prostitution (»›da sind mir die in Sedan doch lieber‹«, aus dem »Bordell in Sedan«), »Geschlechtsnot« und Geschlechtskrankheit: »Ich habe Angst«, flüstert aufgeregt die Französin. Nimmt der Student ihre Hände: »Hier im Keller sind Sie geschützt, außerdem bin ich doch bei Ihnen.« Erbleichend lächelt sie schwach über sein Französisch. »Abah, Maschin kaputt, Maschin kaputt!« »So, so!« meint er gedehnt, »Maschin kaputt!« und wird merklich kühler. »Hoffentlich ist es nicht wahr.« Leider sei es wahr. Nun habe der Herr wohl keine Lust mehr, im Keller zu bleiben.39

Im Film müssen es schon schöne Bilder sein, die die schrecklichen Bilder des Kriegs ergänzen. Gleichzeitig sind die langen, oft mehrseitigen Spekulationen des kleinen Romans über Zivilisationsverfall, falsches Heldentum, Bestialisierung, Mitschuld der Kirchen am Krieg40 als unfilmische Digressionen aus Westfront 1918 herauszuhalten. So adaptiert der Film den Roman fast nur noch in dessen Phrasen. Die Herrschaft der Phrase im Krieg ist dem Roman selbst auch wichtig, als »eine Art Frontsprache«: »Brot: Karro einfach«, »schweres Feuer : Schlamassel«, und was sonst alles als »Ausdruck […] an der ganzen Front Mode geworden ist« (etwa: »›Meine Herren, der Franzmann wird bald wieder Dunst machen.‹«).41 Johannsens Roman zeigt sich dort jeweils merklich als ein trivialliterarischer Text, wo er dieses Vokabular beleiht und in der Kriegsdarstellung zu dem eigenen macht. Pabsts Film verkürzt ihn aber auch hierauf, zumal er nicht einmal der schonungslosen Beschreibung des Krieges, die dem 37 Johannsen: Vier von der Infanterie (Anm. 18), S. 9f. 38 Ebd., S. 42. 39 Ebd., S. 12 u. 11. Mit »Geschlechtsnot an der Front« (ebd., S. 41) bezeichnet der Roman immer wieder die »erzwungene Enthaltung« der Soldaten und Gefangenen, das »Abgeschnittensein von dem anderen Geschlecht«, »als ob sie kastriert wären« (ebd., S. 62). 40 Ebd., S. 34–37 u. 54–57. 41 Ebd., S. 18f.

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Roman ebenfalls eignet, angemessene Bildgewalt verschaffen kann. »Der Leutnant wischt sich Gehirnteile aus dem Gesicht«; dort hat es einem »die Beine weggerissen«, sind »Köpfe […] kurz und klein geschlagen«, hier »liegen die Gedärme frei, in dem fettigen Brei wimmeln Maden.«42 Das ist filmisch nicht zu konstruieren. Daran hindert den Film ein grundsätzlicher ästhetischer Vorbehalt. Dieser Vorbehalt hängt direkt mit der faszinatorischen Macht des bewegten Bildes zusammen. Sie zwingt den Film gerade auf Grund seiner Möglichkeiten, den Blick vor allem zu bergen, was auf grässlichste Weise zeigbar wäre. Freilich kann der gängige Vergleich mit All Quiet on the Western Front schnell zeigen, dass die bis hier diskutierten filmgeschichtlichen Bedingungen die ästhetische Produktion nicht notwendig disponieren. Sie sind durch sie veränderbar (auch schon vor der technischen Verbesserung ihrer Möglichkeiten). Überhaupt hat sich ja der Tonfilm eben nicht als Aporie erwiesen (auch wenn die verbale Restriktion des audiovisuellen Mediums erheblich größer sein dürfte, als die zunehmende Gewöhnung daran heute noch erkennen lässt). Westfront 1918 markiert jedenfalls die Differenz zwischen dem Darstellungsanspruch als Kriegsfilm und der sprachlichen Einlösung dieses Anspruchs ungleich stärker als All Quiet on the Western Front. Das hat zunächst damit zu tun, dass das Projekt von Pabst der hier rekonstruierten Filmästhetik aufruht und über sie an die sehr europäische Modernedebatte um und seit 1900 rückgekoppelt ist. Von den damit verbundenen Selbstinfragestellungen ist das Hollywood-Kino frei. Es muss sich nicht in solcher Weise mit der Dialektik von Tongewinn und Sprachverlust auseinandersetzen, wie dies von Pabst vor allem Bal‚zs’ Der sichtbare Mensch als Filmtheorie verlangt, die das neue Medium gerade erst aus der Konkurrenz zu den ›alten‹ Künsten herausgebracht, in seiner Visualität bestärkt hat und die nun womöglich um ihre Begründungen kommt. Umso irritierender ist aber die starke Intention von Pabsts Film auf versatzstückartige Darstellungselemente, die er anzielt, statt sie zu vermeiden, im Nukleus als dialogkonstituierende Phrase und in der weiteren Ausführung als Häufung von Klischees. Diese deutliche Bemühung um das Triviale bringt Westfront 1918 im Unterschied zur Remarque-Verfilmung in eine merkwürdig doppelwertige Position. Das hätte sich Edlef Köppen, der Autor von Heeresbericht aus demselben Jahr 1930, in seiner hierin kritischen Rezension gern weggedacht:

42 Ebd., S. 18, 43 u. 63. Angesichts der vielen Brüche zwischen dem Roman und seiner ›Verfilmung‹ ist das Drehbuch von Ladislaus Vajda wirklich nur »frei nach dem Roman« verfasst, wie es im Vorspann heißt. Außer an partikelhaften Übernahmen ist der Roman nur über den gemeinsamen Titel und die zwei zitatähnlichen Parallelen (in den Sequenzen (vgl. Anm. 14) Einquartierung, E 27f. u. In der Heimat, E 176–194; im Roman: S. 9–11 u. 20–23) genau als Filmvorlage identifizierbar. Diese Parallelen waren schon aufzurufen.

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Da ist […] zum Beispiel ein junger feldgrauer Student. Er hat das Glück, das erste Glück seines kurzen Lebens: mit einem französischen Mädchen seine erste Umarmung erleben zu dürfen. Da ist zum Beispiel ein Frontkabarett, eine ach wie humorige, stimmungsvolle Sache, mit Militärmärschen, mit der bekannten schäumenden Lebensfreude und dem so beliebten Tingeltangelstar. Da ist zum Beispiel ein trautes Heimatheim, in dem das herzig Weib in fremden Armen erwischt wird; und dazu, ach, ertönt das Volksliederpotpourri aus allen letzten und darum so wehmutsvollen Löchern. […] Ein Film, nicht wahr, gegen den Krieg. Und da, wirklich, war es nötig, solche läppischen Szenen zu dulden? […] Laßt doch endlich den feldgrauen Humor beiseite […]: während die einen sich in den Etappen vor Lachen bogen, krümmten sich andre im Tode.43

Das reicht tatsächlich bis zur Kombination von Kriegsfilm und Filmoperette. Über die Fronttheatersequenz (als Vorbild für ähnliches z. B. in Stanley Kubricks Paths of Glory, 1957) wird als Filmschlager ein Operettencouplet integriert: »Wenn die Gänseblümlein blühn« (E 145–155).44 In einer zweiten Etappenszene (mit dem Studenten als Meldegänger) braucht bei fragmentiertem Volksliedgesang während des Waffenreinigens (E 124: »[…] die pflanzt’ ich auf mein Grab, Fallera. Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab«; E 140: »Wenn wir marschieren, zieh’n wir zum deutschen Tor hinaus, schwarzbraunes Madel, du bleibst zu Haus«) nicht lange nach guter »Stimmung?« gefragt werden. Ein Akkordeon gibt den Ton an. Selbst im Graben vorn kommt das vor, wenn sich der Bayer in einer Gefechtspause die Zeit mit Läuseknacken und Gesang vertreibt. Von einer Mundharmonika begleitet, hört man »Horch, was geht im Schlosse vor« (E 231f.) und »Teure Heimat, sei gegrüßt« (E 234f.). Hier grenzt gefühlsselige Musikalität direkt an Krieg. 43 Edlef Köppen: Vier von der Infanterie und ein bißchen von der Konfektion. In: Die Weltbühne 26 (1930) 1. Halbjahr, S. 957–959. Abrufbar unter https://archive.org/stream/Die Weltbhne26-11930#page/n974/mode/1up (Stand: 27. 7. 2014). Vgl. Helmut Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 213f., mit einem Überblick (S. 213–217) zu den Reaktionen, die Westfront 1918 »als erster deutscher 100prozentiger Tonfilm« (Reichsfilmblatt vom 24. 5. 1930, zit. n. ebd., S. 211) in der Filmkritik erfuhr. 44 Als Komponist des Films fungierte der ›Farblichtmusiker‹ Alexander L‚szlû, der mit medialen Überkreuzungen, technisch bewerkstelligten Synästhesien bestens vertraut war. Das führt hier zu einer genauesten Abstimmung von musikalischer Rhythmik und filmisch inszeniertem Voyeurismus. Die Operettensoubrette – eine neue, frivole Christel von der Post – hebt ihr Dirndl im genauen Zusammenspiel von musikalischem Takt und tänzerischer Bewegung. Nur die Kamera bleibt bis auf bezeichnende Hervorhebungen starr ausgerichtet und imitiert darin die Blickfixierung des soldatischen Publikums. – Zu den Musikeinlagen des frühen Tonfilms vgl. grundsätzlich Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms (Anm. 20), S. 242: »Da die Filmverleiher […] keinen Film mehr abnehmen wollten, der nicht neue ›Schlagerlieder‹ enthielt, unterbrach man die Handlung jedes beliebigen Films durch solche Gesangsdarbietungen, auch wenn sie durch nichts motiviert waren.«

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Die Zusammenführung von Krieg und Operette, von brachialer Zerstörung und Filmklischees gründet in ihrer Gegensätzlichkeit darin, dass auf einen Granateneinschlag mit »Au backe!« reagiert wird, es einen Marschbefehl gibt, »Ausgerechnet, wo ich einen Grand mit Vieren hab!«, oder Unglück abgegolten wird mit einem »Ach so!« Das durch den Ton revolutionär veränderte Kino bequemt sich auch in diesem Fall der leeren Rede an, die der filmischen Präsentation angemessen sein mag, sonst aber vor jeder Beurteilungsinstanz versagt. Die Filmästhetik der 1920er Jahre mit ihrer Sprachkritik wird vom Wortschleier der alten Kultur in seinen letzten Derivaten überholt. »Kalauer«, »abgedroschene Phrasen«, »die fertige Phrase, vor der wir uns einst aus dem Theater in das goldene Schweigen der Leinwand flüchteten«, – all das findet man jetzt genau dort: Der Beginn der Tonfilmära ist »die Revanche von Edelschmus und verbrauchten Tiraden«,45 und ein Kriegsfilm wie Westfront 1918 bildet da keine Ausnahme.

Film und Krieg Für Köppen ist dieser Film trotzdem »Zweifellos eine außerordentliche Leistung […], auch was das Technische, das Tonfilmische anbelangt, […] gültiger Anfang, bahnbrechend, erstmalig.«46 Das hat mit einem völlig anderen Einsatz des Tones zu tun, der durch »kontrapunktische Ausnützung«47 aus bloß supplementärer Verwendung herausgelöst wird. Von Eisenstein her durchziehen Überlegungen zu »kontrapunktische[n] Kontrastwirkungen zwischen Ton und Bild«48 die frühe Diskussion um das audiovisuelle Kino. Anders als bei Eisenstein geht es dabei aber kaum noch um experimentelle Gegenführung, sondern um das Lancieren von Kontrasten, das sich wie »eine asynchrone Verwendung des Tons« ausnimmt, wenn z. B. ein Dialoggeschehen »zu einer mit eine Musikapelle durchs Bild marschierenden Soldatentruppe«49 störend ins Verhältnis gesetzt wird. Unter diesem Aspekt operiert Pabsts Kriegsfilm als Tonfilm gar nicht so sehr mit Stimme und Sprache, sondern mit Lärm, der sie übertönt. Als Karl sich in der Heimat, schon fast vor 45 Clair : Kino (Anm. 1), S. 115 u. 121–123. »Ich hielt mir die Ohren zu […]. Auf diese Weise wurde die Szene eindrucksvoll.« (Ebd., S. 121). 46 Köppen: Vier von der Infanterie (Anm. 43), S. 957. 47 Sergej M. Eisenstein: Schriften. Bd. 4: ›Das Alte und das Neue‹ (›Die Generallinie‹). Mit den Notaten eines Vertonungsplanes und einem Briefwechsel mit Wilhelm Reich im Anhang. Hg., übers. u. komm. von Hans-Joachim Schlegel. München: Hanser 1984, S. 168. 48 Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms (Anm. 20), S. 246. 49 Arnheim: Asynchronismus [1934]. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht (Anm. 20), S. 207–210, hier S. 208.

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der Haustür, auf den Kriegserfolg ansprechen lassen muss (»Und wann seit’er endlich in Paris?«, E 170), geschieht dies bei lautstarker Militärmusik, mit einer angedeuteten Tonbrücke zur letzten Sequenz (Fronttheater, E 144–169), die mit Paukenschlägen und schrillem Gepfeife so endet, wie diese beginnt. Das kann der Frager kaum noch überschreien, während der resignierte Karl dies gar nicht weiter versucht, sich abkehrt und die unsinnige Rede in der Geräuschkulisse untergehen lässt. Auf andere Weise, doch mit ähnlichem Effekt, setzt sich die Lärmakustik durch, als sich der Student nach seinem Meldegang zum Regimentsgefechtsstand für die kommende Nacht zu Yvette davonstiehlt. In einer nahezu allegorischen Situation, wie in einem Stationendrama, wird er durch die karge Kriegslandschaft geführt, an einem Holzverschlag vorbei, an dem Kreuze für die Ernte des Krieges gezimmert werden (E 114). Es stehen Männer an einer Sägemaschine. Bei ihnen erkundigt er sich nach dem Weg, um sich dann vor Erschöpfung weiterzuschleppen (»Au weh, den hast’s aber erwischt.«). Aber die Kamera verharrt bei der Mannschaft, die ihm nachschaut und jetzt den Motor der Säge anwirft, der mächtig aufheult. Dem ist erst Genüge getan, als der ansteigende Lärm jeden anderen, auch den visuellen Eindruck überbordet und eine Akustik erzeugt ist, der die menschliche Stimme unmöglich noch gewachsen sein kann. Dabei sind das alles nur Nebengeräusche des Krieges, dessen heilloser Lärm den Kämpfenden vorn an der Front das Wort abschneidet. »So schlecht meistens die menschliche Rede herauskommt, die Reproduktion des Geschützspektakels ist gelungen.«50 Der Film konzentriert sich auf diese Einbringung von Kriegslärm, die technisch schwierig zu bewerkstelligen ist. Im noch ganz neuen Lichttonverfahren mussten nicht nur Bild und Ton auf einer Filmspur montiert, sondern dazu noch die »beiden Tonspuren des Dialogs und der Explosionseffekte […] übereinander kopiert«51 werden: Im Laboratorium kopierten wir die Tonspur mit den Geräuschen und die Dialogspur […] zusammen, aber weil es keine Mischung gab, mußte man ein Stück von der Tonspur mit der Explosion herausschneiden, wann immer jemand auf der Leinwand den Mund aufmachte. Wir fügten die Explosionen zwischen die Worte. […] Ein Fehler von nur einem Bild, und die Explosionen überdeckten den Dialog.52

50 Siegfried Kracauer: Westfront 1918. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 389–391 vom 27. 5. 1930. Abrufbar unter http://www.filmportal.de/node/8133/material/678941 (Stand: 26. 7. 2014). 51 Andre Kagelmann u. Reinhold Keiner : »Lässig beginnt der Tod, Mensch und Tier zu ernten.« Überlegungen zu Ernst Johannsens Roman Vier von der Infanterie und G. W. Pabsts Film Westfront 1918. In: Ernst Johannsen: Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918. Hg. von dens. Kassel: MEDIA-Net 2014, S. 80–113, hier S. 90. 52 Interview mit dem Cutter Mark Sorkin 1955, zit. n. Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München: Fink 2003, S. 222.

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Dieser Fehler kommt wiederholt vor, wenn in die Rede hinein fragmentiert wird. Er ist schließlich auch gar nicht mehr zu vermeiden. Die Darstellung der Kampfhandlungen unterliegt einer Klimax, die »Schüsse und Rufe nahtlos ineinander übergehen« lässt, womit denn selbst »fulminante Ton-Collagen« – des im Vorspann ungenannten Tontechnikers Hans Oser – »aus lauter kleinen Tonspur-Schnipseln« (»aus den Geräuschen von großen und kleinen Mörsern, Kanonen, dem Pfeifen und Detonieren von Granaten, Maschinengewehrfeuer und Einzelschüssen«)53 nur für das jeweilige Frühstadium der Geräuschentwicklung deutlich voneinander absetzbare Tonelemente in genauer Koordination und Distinktion zur Absicht haben. Die akustische Choreographie der Kriegshandlungen ist auf den Trennverlust zugespitzt und darf auf den Zusatzeffekt von beschädigender Koppelung und Verschneidungen rechnen. Dass in E 345–347 der Warnruf französischer Soldaten »le gaz!« als Tongefüge vom Gasalarm selbst, dann vom dumpfen Zerplatzen der Kartuschen zerstückelt wird, funktioniert im Sinne der Zerstörungshektik und des Sterbetempos, das der Schutzsuche zuvorkommt. Dieser Darstellungsstrategie arbeiten letztendlich sogar die Probleme des frühen Tonfilms zu, »wenn die Ohren zwei Stunden lang einem barbarischen Lärm ausgesetzt sind, umso mehr als überlaute Tonwiedergabe der Deutlichkeit der Sprache nicht förderlich, sondern hinderlich ist und man intensiv aufpassen muß, um überhaupt etwas zu verstehen.«54 Daraus wird im Fall von Westfront 1918 eine Lösung. Der Film akzentuiert den Ton als Sprache immer nur mit den Abstrichen des Defizitären, ob nun durch die Oberflächlichkeit und Versatzstückartigkeit des Gesagten oder schlicht durch dessen Unverständlichkeit, – und spielt ihn stattdessen als Kriegsgeräusch aus. Bei dem großen Aufwand, der hierfür um die Tonmontage betrieben wird, kann gleichzeitig nachlässig mit der Schwierigkeit umgegangen werden, dass in den neuen Talkies alle möglichen Stör- und Nebengeräusche den auditiven Erfolg einschränken. Ohne einen höchst selektiven Einsatz der Akustik gibt es dort keine Stimmführung durch den Dialog. An sich wird deshalb »das Geräusch […] nur gelegentliche, requisitenhafte Funktion haben dürfen, wie auf dem Theater.«55 Damit sind aber auch die ästhetischen Möglichkeiten der Umkehrung klar, wenn die Geräuschkulisse der natura denaturata des technisch bewerk53 Ebd., S. 224f. 54 [A. K. von Hübbenett:] Schlechte Tonwiedergabe – der Hauptgrund der Tonfilmfeindlichkeit. In: Der Film 15 (4. 10. 1930) Nr. 40, zit. n. Corinna Müller : Tonfilm – eine audiovisuelle ›Revolution‹? In: Segeberg (Hg.): Medien und ihre Technik (Anm. 23), S. 257–270, hier S. 269. – »Der Regelfall im frühen Tonfilmkino war in den ersten Jahren, dass man von Filmdialog nur 20 bis 30 % verstehen konnte« (ebd.); »bis heute« (1932) ist es »nichts Seltenes, daß man in einem mittelgroßen Kino 60–80 % des Dialogs nicht versteht!« (Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 214). 55 Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 217.

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stelligten Krieges, der ohrenbetäubende Lärm seiner Maschinen die menschliche Rede für nichts achtet. Wo diese Kriegsmaschinerie aufdröhnt und sich das Getöse ständig selbst unterbricht, verschwindet jeder artikulierte Laut, wenn er sich darin nicht noch als Schrei geltend machen kann.56 Der unbändige Lärm erweitert die an Visualität gebundene Wahrnehmung. Über deren Grenzen hinaus hat er seinen eigenen Tonraum im hors-champ.57 Er fügt sich dem Bildkader gerade in den Momenten voller akustischer Signale des Krieges nur bedingt. Die Inkongruenz zieht eine audio-visuelle Erweiterung der Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Einschränkung von Orientierungsfähigkeit nach sich. Indem wir nur »einen Teil des Handlungsschauplatzes sehen, wird stark akzentuiert, daß wir jenen andern, aus dem der Ton erklingt, nicht sehen.«58 Unter den hier forcierten Bedingungen einer Asynchronie von Bild und Ton hängt nun allerdings das weitere Vorhandensein des Bildbestandes davon ab, dass sich das alles nicht vollständig zu einem einheitlichen Eindruck fügt. Mit der thematischen Projektion der Kontrapunktik auf den Alltag des Stellungskrieges ist zumal bei größeren Einstellungen (vom medium long shot bis zum close-up) verlangt, dass der widernatürlich schrille Ton anfliegender Granaten eben keine Einlösung im Feld des Sichtbaren erfährt. Ob und wie sich das zusammensetzt, wird auf der Darstellungsebene zu einer Frage von Leben und Tod.59 Der »differentielle Denkansatz«, »der das audiovisuelle Zusammenspiel im Film nicht als Synthese, sondern als Kräftefeld unterschiedlicher Bestandteile

56 Vgl. die anonyme Rezension des Films in: Brandenburgische Zeitung vom 1. 10. 1930, zit. n. Barbara Ziereis: Kriegsgeschichte im Spielfilmformat. Der Erste Weltkrieg im Tonspielfilm der Weimarer Republik. In: Bernhard Chiari, Matthias Rogg u. Wolfgang Schmidt (Hg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg 2003, S. 297–316, hier S. 300: »die Todesschreie der Verwundeten und das Krachen der Geschütze mischen sich in das Gellen des Wahnsinns der Opfer des Mordens, daß man erschüttert hinausgeht«. 57 Bal‚zs: Der Geist des Films (Anm. 8), S. 166: »Der Ton klingt in den Bildraum hinein. […] Wir sehen nicht die Waffe. Wir hören nur den Schuß und sehen nur den Getroffenen. Der akustische Raum der Szene ist größer als der im Bildausschnitt dargestellte.« Solche »asynchronen Töne« sind deshalb aber auch nur bedingt »bildgegenläufig«, »vielmehr unterstützen sie die Narration sogar und erweitern das Bild«; indem sie »hörbar machen, was nicht sichtbar ist, fügen sie dem Bild eine weitere (dramaturgische oder räumliche) Ebene hinzu.« (Silke Martin: Überlegungen zur hybriden Form des vermeintlich ersten Tonfilms »The Jazz Singer« [USA 1927, Alan Crosland]. In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 3 (2009), S. 57–68, hier S. 65) Zum Konzept des hors-champ (Michel Chion, Gilles Deleuze) vgl. Kayo Adachi-Rabe: Abwesenheit im Film. Zur Theorie und Geschichte des hors-champ. Münster : Nodus 2005. 58 Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 227. 59 Vgl. Jaimey Fisher : Landscapes of Death: Space and the Mobilization Genre in G. W. Pabst’s »Westfront 1918« (1930). In: Christian Rogowski (Hg.): The Many Faces of Weimar Cinema. Rediscovering Germany’s Filmic Legacy. Rochester, NY: Camden House 2010, S. 268–285, hier S. 273, von Westfront 1918 her : »War films, one might say, depict above all the unsettling experience of ubiquitous offscreen sound effects and the subsequent reaction to it.«

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begreift«,60 hat sich im Stellungskrieg gewissermaßen einen Gegenstand gesucht, mit dem der asynchronen Montage auf der Ebene der histoire letzte Notwendigkeit hinterlegt werden kann. Zumeist wird für solche Einstellungen auch noch die Geräuschentwicklung von Artilleriegeschossen (Flug- und Detonationsgeräusche) simuliert, mit Verzögerungseffekten in der Tonfolge, zur spannungssteigernden Unsicherheit zwischen akustischer Präsenz und optischer Präsenz der technisch entfesselten Gewalt. Rücken Bild und Ton bei einem Volltreffer ineinander, ist nach dem Aufstieben und Herabprasseln der Erdfontänen selbst ohne Einstellungswechsel die Gegend womöglich nicht mehr wiederzuerkennen und sind Dinge und Menschen in ihr nicht mehr da. Unter solche Spannung lässt Westfront 1918 selbst portraitartige »Großaufnahmeszenen« geraten, die angesichts der Entwicklung des Tonfilmkinos grundsätzlich in der Gefahr stehen, zu bloßen inquit-Formeln zu verkommen: dass man also den Figuren hier nur noch auf den Mund sieht und diese Szenen dann weiter »nichts sind als optische Begleitung des Wortes«.61 Doch in den Kampfszenen des Films, in den Momenten ihrer Zuspitzung, reißt Geschützdonner den Figuren die Worte vom Mund. So projiziert der Film den Lärm des Krieges auf die schauspielerische Aktion. In derartigen filmischen Portraits zu den Irrsinnsgeräuschen dieser modernen Apokalypse zeigt er das Antlitz und Mienenspiel getriebener Menschen, über die von allen Seiten Zerstörungsgewalt hereinbricht. Da erweist sich die stumme Mimik in ihrer Intensität mitten im Getöse der Waffen als wiederherstellbar. Die Schlachtszenen des Stellungskrieges tendieren hier auf den Überschuss an Intention, den die neuere Filmästhetik als cinematic excess bezeichnet. Das meint eine eigenwertige, auf mimetische Funktionen nicht mehr eingrenzbare Akzentuierung ästhetischer Mittel. Dem Modell nach richtet sich der filmische Exzess gegen die Geschlossenheit der Diegese. In einem Konzeptionsvorgang, der als Konfliktgeschehen verstanden wird, sprengt er der Darstellung unkontrollierbare, heterogene, expressive, spektakuläre Wahrnehmungsmomente ein.62 Das führt zu einer Refragmentisierung filmischer Texturen im Entste60 Silke Martin: Vom klassischen Film zur Zweiten Moderne – Überlegungen zur Differenz von Bild und Ton im Film. In: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2 (2008), S. 54–67, hier S. 54. 61 Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 215. 62 Kristin Thompson: The Concept of Cinematic Excess. In: Cine-Tracts 2 (1977), S. 54–63, hier S. 54: »films can be seen as a struggle of opposing forces. Some of these forces strive to unify the work, to hold it together sufficiently that we may perceive and ›follow‹ its structures. Outside of any such structures lie those aspects of the work which are not contained by its unifying forces – the ›excess‹.« Das hat filmhistorisch weitere Rückführungen, etwa auf die ›Attraktionsmontage‹ Eisensteins und grundsätzlich auf jede insistente Bemühung, die Möglichkeiten des Films zu wahren gegen die Funktionalisierung filmischer Mittel (ob nun für den plot und das Erzählkino oder für die Bild-Ton-Synchronie). Vgl. Tom Gunning: Das

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hungsprozess schon selbst, was nun aber in Westfront 1918 nicht auf störenden Eingriffen in die filmische Textur beruht, sondern mit dem Darstellungsauftrag direkt zusammenhängt. Dazu gehört nicht nur das Kriegsgetöse, von dem das Bildgefüge invasiv durchwuchert wird. Wesentlich ist auch eine völlig veränderte Bewegung der Kamera. Da der Film nicht mehr auf ein narratives Konzept abstellt, im Einzelnen auf das Wohl und Wehe von Figuren, vielmehr das Gegenteil einer Durchbrechung von Lebenszusammenhängen erreicht werden muss, fährt die Kamera darüber hin, protokolliert eine Fülle von Objektbewegungen, aber immer nur episodisch und keine genau. Phasenweise die Identifikation von Personen gänzlich vermeidend, nimmt sie gleichzeitig deren Bewegung, die Hektik von Angriffs- und Fluchtbewegungen auf und drückt sich in Fahrten über den Grabenrand auf die normalitätsferne Optik des Stellungkrieges (die bodennahe extreme Untersicht) herab. Filmischer Exzess heißt hier exzessive Imitation solchen Wahrnehmungsverhaltens,63 mit dem zusätzlichen Dynamisierungsschub, dass die Kamera in ihrer Bewegung einerseits den Figuren vorauseilt und andererseits sich auch wieder von ihnen überholen lässt. Hier wird »viel mit Kamerafahrten gearbeitet. Sie erstehen [!] mittels einer Kamera, die über weite Strecken fahren kann, um eine Szenerie oder Handlung als Ganzes einzufangen«,64 wobei aber dieses Ganze nicht mehr der Zusammenhang irgendeiner Geschichte ist, sondern die Auflösung aller Geschichten im Ganzen des Krieges. Das zersprengt nicht notwendig auch die narrative Klammer des Films, ebensowenig wie der unerträgliche Lärm als Kriegsakustik. Es ist nur die Frage, ob an eine solche Klammer überhaupt noch zu denken ist, wenn die harsche Überwältigung durch den Ton mit visueller Verunklärung und der Richtungslosigkeit von kriegerischen Aktionen bei ständig wechselnden Bilddurchquerungen zusammenfällt. Eine Fülle von Akteuren ist als Freund oder Feind nur noch an akustischen Bruchstücken der einen oder anderen Sprache und an der Uniform zu unterscheiden. Aber der Stahlhelm macht die Gesichter allemal unkenntlich, bis das alles nicht mehr zu entwirren ist und die Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. In: Meteor. Texte zum Laufbild 4 (1996), S. 25–34, hier S. 29f.: »Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang gegeben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oder Überraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Erschaffen eines diegetischen Universums.« 63 Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Aus dem Franz. von Frieda Grafe u. Enno Patalas. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 35f. führt diese filmische Destruktionsästhetik direkt auf einen Zusammenhang von Krieg und Film zurück. Er leitet sie von dort ab: »Die Filmer, die den Krieg überlebten, gingen vom Kampf auf dem Schlachtfeld unmittelbar zur Produktion von Wochenschauen und Propagandafilmen und weiter von ›Kunstfilmen‹ über. […] Diese Filmer, die das Bild ›aus der Bahn werfen‹ wie die Surrealisten die Sprache, hatte ihrerseits der Krieg aus der Bahn geworfen.« 64 Siegfried Kracauer : Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übers. von Ruth Baumgarten u. Karsten Witte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 245f.

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Figuren (mit ihnen ihre filmische Biographie) in dem Gewirr verschwinden. Sind Einzelne doch wiederzuerkennen, wird das so als Identifikationsleistung des filmischen Blicks inszeniert.65 Das ist ein Produktionsvorgang, der sich aus der wechselseitigen Durchbrechung seiner Elemente zusammensetzt. Dabei kann potentiell jede Zerschneidung von Bild und Ton, weil es um Krieg geht, den mimetischen Charakter der Darstellung erhöhen. Als ein französischer Stoßtrupp in die deutsche Stellung eindringt, um Gefangene zu nehmen, und bei hohen Verlusten auf beiden Seiten zurückgeschlagen wird (E 236–257), vermengen sich die ohnehin kaum verständlichen Zurufe in beiden Sprachen schon bloß mit dem Geklirre der Monturen. (Das Geschirr der Waffen, Patronengurte, Gasmaskenbehälter, schlägt im Vorwärtshasten durch die Gräben aneinander.) Dann werden die Stimmen vom Maschinengewehrfeuer und von den Detonationsgeräuschen der Handgranaten akustisch zerfetzt. Das Durcheinander spiegelt sich in der völligen Verwirrung des Studenten, der aus einem Graben heraus einzuschätzen sucht, wo der Feind ›steht‹. Alle kommen aus allen Richtungen. Als er an einer Stielhandgranate nestelt, fällt ihn rücklings ein französischer Infanterist an. Sie reißen sich im Zweikampf in einen Krater. Dort wird der deutsche Soldat von dem französischen im Brackwasser ertränkt.

Die Lazarettsequenz Der filmische Exzess bedarf allerdings jeweils einer merklichen Genese. Es muss immer wieder neu zu Akzelerationen angesetzt werden. Ohne Steigerungsprozess gibt es keine Klimax. Für das »Zuviel« ist deshalb die Ergänzung »durch ein Zuwenig, eine rigorose Reduktion« verlangt, »beispielsweise in Form von unbeweglichen, langen, tableauartigen Einstellungen«66 oder durch »Stille« als »negative Detonation«.67 Derartige Unterbietungsgesten sind eigentlich sogar für jede Auszeichnung eines exzessiven Moments notwendig, damit sich Eklatantes im Stakkato der Geräusche und der Bilder überhaupt noch gehörig be65 Vgl. Ralph Winkle: Der Schock und die Ästhetik des Erhabenen. Darstellungsformen des Weltkrieges in Filmen der zwanziger und dreißiger Jahre. In: Chiari, Rogg u. Schmidt (Hg.): Krieg und Militär (Anm. 56), S. 319–342, hier S. 326: Permanent sucht die Kamera »die zerschossene, mit Granattrichtern übersäte und mit Schützengräben durchzogene Destruktionslandschaft« »nach Zeichen des niemals als Individuum sichtbaren Feindes ab, bis sich der Nebel über der Todeslandschaft lichtet und Panzer in Kampflinie aus dem Vakuum auftauchen und nach und nach die Leinwand füllen.« 66 Thomas Christen: Filmischer Exzeß. Annäherung an ein vermeintlich oberflächliches Phänomen. In: Hans-Georg von Arburg u. a. (Hg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. Zürich, Berlin: diaphanes 2008, S. 269–282, hier S. 271. 67 Bal‚zs: Der Geist des Films (Anm. 8), S. 154.

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merkbar machen kann. Während heftiger Kämpfe im Graben fühlt ein Unteroffizier des Infanteriezuges bei einem Streifschuss am Hals mit der Hand nach (Abb. 3) und beschaut sich in ihr das eigene Blut (E 84). Zeitlupenartig und für eine lange Großaufnahme (von 13 Sekunden) hebt sich das Gesicht mit dem Ausdruck völligen Erstaunens in die Kamera, um ebenso allmählich wieder auf den Grabenrand zu sinken. Für diesen Moment deutlicher filmischer Akzentuierung wird völlig auf die Hintergrundgeräusche des Grabenkrieges verzichtet. Die Augen sind weit, der Mund ist halb geöffnet. Es ist aber nur das Rauschen der leeren Tonspur zu hören. Früher nicht, als bis sich der Kopf wieder nach vorn neigt, sich damit der Stahlhelm ins Gesichtsfeld schiebt, die Augen schon nicht mehr zu sehen sind, nur noch der Mund, kommt die Stimme hinzu. Der Verletzte bringt ein unbehilfliches »Na, so was« heraus.68 Die Zunge löst sich in höchster Verwunderung darüber, dass es ihn selbst auch treffen kann, oder darüber, dass er noch lebt. Die Vision Clairs, es seien die Figuren des Stummfilms eigentlich gar nicht »stumm handelnde Personen«, sondern solche, denen »ein tragisches Ereignis« die Sprache verschlagen hat, bewahrheitet sich auch noch unter den Bedingungen des Tonfilms. Wie im ›alten‹ Gesichterfilm (Jacques Feyder Visages d’enfants, 1925, oder Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc, 1928) gewinnt durch die Großaufnahme »jedes flüchtige Zucken eines Muskels […] ein frappantes Pathos« und zeigt »das Gesicht ›das Ganze‹, in dem das Drama enthalten ist.«69 Eben deshalb und für dessen Hervorhebung reduziert sich aber das dann noch Gesagte, zeitlich verzögert zur Mimik, auf einen leeren Kommentar und überzeugt als völlig depravierter Ausdruck von der Überflüssigkeit der Rede. Damit gewinnt denn auch die den Film dennoch ja durchherrschende Reduktion aus Phrasendrescherei und filmischen Klischees darstellungsstrategische Relevanz. Die Marginalisierungen dienen der Auszeichnung intensiver Ton- und Bildgestaltung, die scharf an sie heranrückt. Wird in der zweiten Etappenszene E 140 fröhlich »Wenn wir marschieren, zieh’n wir zum deutschen Tor hinaus, schwarzbraunes Madel, du bleibst zu Haus« angestimmt, hat das seine nicht einmal adversative Begründung darin, dass sich der Student nun schon zum zweiten Mal von Yvette losreißen muss. Ihr Schluchzen wird von der bemühten Fröhlichkeit des Gesangs akustisch überboten, bleibt aber darin optisch präsent, wie sie sich die Tränen mit der Schürze abwischt, und auch noch darin, wie sie sich von ihrem Schmerz durch wieder einmal ein Kaffeekochen abzulenken trachtet. – Das »Teure Heimat, sei gegrüßt« (E 234f.), das der Bayer 68 E 84 ist insofern eine paradigmatische Einlösung von Forderungen, auch im Tonfilm »genug stumme Mimik« (Arnheim: Film als Kunst (Anm. 15), S. 233) zu erhalten. Das Gesagte funktioniert als nachgerade verschämter Zusatz, zeitlich versetzt, in gezielt ungenauer Abstimmung. 69 Bal‚zs: Der sichtbare Mensch (Anm. 3), S. 49.

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im Graben bei der Entlausung seiner Kleidung anstimmt, dient dem Zweck, schnitthaft von einem Granateneinschlag beendet zu werden. Die Kamera schwenkt vom Singenden zu einer Wache auf dem Gefechtsposten, die zu schießen beginnt; unmittelbar da überstürzen sich die Ereignisse und ist der plötzliche Einbruch des französischen Stoßtrupps schon nicht mehr zu verhindern. Der ästhetische Effekt beruht entscheidend auf dem ganz und gar harmlosen Vorspiel und folglich auf dem kalkulierten Umgang mit den Klischees des Operettenfilms. – So dient denn auch das zu Phrasen verkümmerte Reden im Tonfilm hier insgesamt dem notwendigen Kontrast, über den Westfront 1918 seine Eindringlichkeit erzeugt. Als Karl nach dem trostlosen Heimaturlaub an die Front zurückkommt, wird kräftig schwadroniert (E 280–282): »Ja, grüß di Gott, du feiner Pinkel!« – »Des is nett von di, dass grad zum Schlamassel zurechtkummst.« – »Seit wann habt ihr hier dicke Luft?« … Aber dann fragt Karl nach dem Studenten, wozu der Bayer, wie er an der Brüstung des Grabens hockt, nur hinter sich ins Niemandsland zeigt (Abb. 4) und erst nach langer Verzögerung dazu noch ein verweisendes »Draußen« herausbringt (E 289). Das ist die Richtung, aus der dann das langgezogene Stöhnen eines sterbenden Franzosen zu hören ist, fast als Klagegesang. Es untermalt den weiteren Dialog zwischen den Beiden, der teils darauf Bezug nimmt und teils davon abzulenken trachtet: »Das ist ja nicht auszuhalten.« – »Aber geh Karl, der hört scho auf.« – »Den hol ich noch heute.« – »Mein Lieber, spar du di deine Knochen.« (E 290f.) Bei schnell erreichten Grenzen visueller und akustischer Präsentation des Grauens haben solche Konstellationen und hat selbst die beredte Unfähigkeit, irgendwie ad-

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Abb. 4

äquat davon zu sprechen, einen wesentlichen Anteil an der Darstellung von Krieg. An ihr ist das Unsägliche zu ermessen. Die berühmte Lazarettsequenz wird als Kulminationspunkt des Films durch eine betont anders funktionierende Sequenz zeitlich gedehnt vorbereitet. Die große Schlacht (E 310: »Sie kommen!«) wird als starre filmische Kriegsberichterstattung inszeniert, mit einer trotz des Kampfszenarios schnell monotonen Darstellung, in E 313 mit einer für 109 Sekunden statischen Kamera. Der Blick über den Grabenrand, Trommelfeuer, Granateneinschläge, Soldaten, die Deckung suchen, in Richtung Kamera oder von ihr fort aufspringen und sich getroffen aufbäumen, auch die im Nebel allmählich vorrückenden Tanks, das alles wird in seiner Langatmigkeit zu einer Art Dauerzustand um sich greifender Zerstörung. Indem die festgestellte Kamera nicht mehr den suchenden Blick der Kämpfenden imitiert und nur noch zu registrieren scheint, was ihr ins Bildfeld gerät, entsteht der Eindruck von ›objektiver‹ Kriegsberichterstattung, »konzessionslosem Wirklichkeits-Fanatismus«.70 Er vor allem hat Pabst zu dem Regisseur des Neusachlichen Kinos gemacht. Aber diese Neue Sachlichkeit im Film wird geradezu rücksichtslos gegen die Gebote des Erzählkinos durchgesetzt. Das 70 Hans Wollenberg: Westfront 1918 (Vier von der Infanterie). In: Lichtbild-Bühne, Nr. 124 vom 24. 5. 1930. Abrufbar unter http://www.filmportal.de/node/8133/material/678943 (Stand: 27. 7. 2014). Vgl. u. a. Burkhard Röwekamp: Antikriegsfilm. Zur Ästhetik, Geschichte und Theorie einer filmhistorischen Praxis. München: Ed. Text + Kritik 2011, S. 89f. und allgemein zu filmischen und anderen Gedächtnisinszenierungen des Ersten Weltkriegs (bis zu Heinz Pauls Douaumont. Die Hölle von Verdun, 1931) Susanne Brandt: Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum: Die Westfront 1914–1940. Baden-Baden: Nomos 2000, S. 127–226.

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ermüdet nicht zuletzt durch unabgebrochenes Kriegsgetöse. Die ästhetische Funktion dieses inszenierten Realismus liegt jedoch darin, dass die Lazarettsequenz danach so sehr anders sein kann. Vorher überrollt der Großangriff der Franzosen mit der neuen Panzerwaffe die deutschen Stellungen und vernichtet den ganzen Zug. Im Kampfgewirr sind die Infanteristen – den Stahlhelm in die Stirn, sich selbst in die aufgewühlte Erde gedrückt – nur für den einen Augenblick noch einmal deutlich voneinander zu unterscheiden, in dem es ans Sterben geht. Den Hamburger reißt in einer provisorischen MG-Stellung ein tödlicher Schuss hoch (E 331). Der Bayer verkrümmt sich nach einem Bauchschuss. Dabei entgleitet ihm das Nahkampfmesser, das er sich fürs Töten mit bloßen Händen wie ein Indianer zwischen die Lippen gepresst hat (E 324–328). Er wird es noch bis in das Lazarett schaffen. Die verschiedenen Todesarten des Krieges garantieren ein letztes Moment von Individualität. Hoch auf einem Leichenberg nimmt der Leutnant zitternd Haltung an. Er hat nun genug Befehle entgegengenommen und ausführen lassen. Das gilt auch für den heimlich erteilten Durchhaltebefehl (E 285, am Telefon: »Exzellenz persönlich? Ob ich im Unterstand allein bin? Ja sofort. […] Zu Befehl, jawohl.«), dass die Stellung bis auf den letzten Mann zu verteidigen sei. Jetzt ist sogar dieser Befehl ausgeführt und der Leutnant selbst der letzte Mann. Allerdings schert er nicht einmal in diesem Augenblick wirklich aus der militärischen Ordnung aus. Er wird in ihr wahnsinnig. Damit setzt die Lazarettsequenz ein. Der Leutnant steht mit wirrem Haar, zitternden Lippen und den aufgerissenen Augen eines Wahnsinnigen vor leerem Himmel (low shot). Aus dem Off ist das Hurra-Geschrei eines Angriffs zu hören. Auf Schlag folgt also Gegenschlag. Der Krieg geht weiter. Das Gesicht des Leutnants verzerrt sich zu irrer Begeisterung. Der Schrei geht auf ihn über, und er schreit sich die Seele aus dem Leib, während sich das Profil eines Sanitäters von rechts ins Bild schiebt. Sein Arm mit der Binde des Roten Kreuzes umfasst den Leutnant, dessen Stimme sich überschlägt. Durch einen markanten cameo shot (Abb. 5, E 355/356) wird er förmlich aus dem Bild dieses Kriegsschauplatzes in dasjenige des Lazaretts gehoben. Gleichzeitig sorgt eine Tonbrücke akustisch für Übergang. Das Lazarett ist in einer zerstörten Basilika untergebracht. Hier reißt das irre Geschrei kurz ab, als der Leutnant den Sanitäter und eine Krankenschwester, die ihn stützen, aus dem Bildhintergrund mit nach vorn schleppt und dort coram publico, vor der Kamera und vor den Augen der versammelten Kinogemeinde zusammenbricht. Über die so erzeugte akustische Lücke als letzte ›negative Detonation‹ von Stille erreicht der filmische Exzess nun auch in der Tongebung seinen Höhepunkt: Das Geschrei setzt neu ein und verzerrt sich zu einem einzigen überdehnten Verzweiflungsschrei, der sich über Einstellungswechsel hinzieht und nicht mehr aufhören will. Wie der Leutnant in das Kirchenschiff getragen wird, verwandelt sich die Halle zum sakralen Klang-

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körper dieses Geschreis. Mit einer Kamerafahrt im Darstellungsraum des Lazaretts wird nun noch einmal die Bewegung entwickelt, auf die im offenen Raum des Schlachtfeldes zuletzt zu verzichten war. Entsprechend stark wirkt die Dynamisierung des Bildes. Dabei sind im Hintergrund nun auch wieder Granateneinschläge zu hören. Die Kamerabewegung richtet sich an dem Transport des Leutnants, seines nun endlich leblos stillen Körpers aus, streift im Vorgrund einen Säulenstumpf und ein halb unter Schutt begrabenes Kruzifix. Allerletzte Wirkung wird aber dadurch erzeugt, dass jetzt Schwerverletzte ihre Verstümmelungen ausschreien (»Ich bin blind, ich bin blind!«), – und dadurch, dass selbst hier noch wieder die Phrase zum Zuge kommt. Denn als ein Amputierter auf einer Trage nach vorn ins Bild gerückt wird, zu sich kommt und an sich herabsieht und mit Schrecken seinen Zustand wahrnimmt (»Ah, ich habe keine Beine mehr.«), beugt sich ein Sanitäter über ihn und weiß mit hilflos begütigender Geste Rat: »Hast ja noch Arme, mein Junge, denk an dein Mädel.« (E 358)

Abb. 5

Gern wird der Ausgang des Films zitiert, wenn, Trage an Trage, ein gasblinder französischer Soldat den Arm des toten Karl neben ihm mit der pathetischen Formel »Camerade, pas ennemi, pas ennemi« ertastet. Im Verhältnis zur Bildgewalt ist das aber auch nur ein zu kurz greifendes Klischee, eine gutgemeinte Phrase. Filmisch tragfähig wird das erst durch letzte exzessive Bilder : von dem zum Totenkopf abschattierten Gesicht des sterbenden Karl, – von dem des Bayern; er deliriert in Wundfieber und Zuckungen und summt mit verdrehten Augen, irre lächelnd, ein letztes Lied vor sich hin. Die absurde Revokation macht den Zweck der Operetteneinlagen klar. Unter all den Sterbenden hat sich ein jammernder Kleinbürger in den Krieg verloren. Als offensichtlich leichter Fall

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wird er auf den Operationstisch gehoben. Da kommt er den erschöpften Ärzten mit der unsinnigen Bitte um Verschonung: »Ich habe zu Hause fünf Kinder« (E 366). Bis zuletzt also bedient sich Westfront 1918 der ›Reduktionsmöglichkeiten‹ des Tonfilms für die kontextuelle Auszeichnung des filmischen Exzesses. Als der Film in die Kinos kommt, droht die von der Filmästhetik ausgelobte Wiederbefähigung sinnlicher Wahrnehmung gerade durch die audiovisuelle Erweiterung des Mediums zu einer Episode zu werden. Westfront 1918 markiert als hörbarer Kriegsfilm die Zeit bisherigen Gelingens in ihren Eckdaten 1914/18 und 1930. Er ist ›großes Kino‹, das Pabst als Entscheidung darüber inszeniert, ob es für jene emphatische Ästhetik und die in ihr entwickelte Option des stummen Blicks, dem Schweigen verpflichtet, noch eine Perspektive nach vorn geben kann, der neuen Beredsamkeit des Mediums zum Trotz. Unter den spezifischen Bedingungen einer sprachkritischen Grundlegung nicht nur des Stummfilmkinos, sondern eben auch dieses frühen Tonfilms geht Pabst das Risiko ein, die filmische Skepsis gegenüber Sprache und Text durchaus zu bedienen. Über weite Strecken stellt er den eigenen Dialog und tragende Elemente der Narration als trivial aus, um in Abhebung davon eine Klimax überwältigender Bildgestaltung und Tongebung aufzubauen. Hierzu wiederum gehört, dass Bild und Ton dieses Films einander den Stellenwert des intensivsten filmischen Ausdrucks streitig machen. Die Inszenierung dieses agonalen Geschehens wird bis zu visueller und akustischer Verzerrung gesteigert. Es wird der Eindruck einer gegenseitigen Zerfetzung von Bild- und Tonspur erzeugt. Mit dem über solche Extreme definierten Kriegsfilm steht die ästhetische Möglichkeit und Berechtigung des Tonfilms außer Frage.

Philipp Stiasny

»Franzosen? Deutsche? Die Unterschiede verschwinden«. Verdun in der filmischen Erinnerung in Deutschland und Frankreich 1928–1933

Zwei Männer – ein Deutscher, ein Franzose – stehen im Nieselregen vor dem Beinhaus von Douaumont, vor ihnen ist ein Sarg aufgebahrt, der zur Hälfte mit der schwarz-rot-goldenen Flagge und zur anderen Hälfte mit der Trikolore bedeckt ist.1 Sie stehen still und allein, nebeneinander, aber unverbunden, als ein Militärorchester die deutsche Nationalhymne anstimmt, und stehen genauso still und allein, als danach die Marseillaise erklingt. Der Franzose ergreift die Hand des Deutschen. Gemeinsam, Hand in Hand, gedenken die beiden wichtigsten Vertreter ihrer Länder, der Präsident der Republik FranÅois Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl, am 22. September 1984 der Toten des Ersten Weltkriegs.2 Mitterrands Geste der Versöhnung und Zusammengehörigkeit zweier einst verfeindeter Nationen hat auch über 30 Jahre später nichts von ihrer symbolischen Kraft verloren. Und wie die Geste war auch der Ort symbolhaft: In Douaumont, einem der am heftigsten umkämpften Forts in der Schlacht von Verdun, liegen – umgeben von riesigen Friedhöfen – die sterblichen Überreste von 130.000 nicht mehr identifizierbaren französischen und deutschen Soldaten. Von heute aus betrachtet, erscheint Verdun zugleich als »Urschlacht des Jahrhunderts« und »europäischer Erinnerungsort«.3 Verdun wurde zum Inbe1 Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des deutsch-französischen Forschungsprojekts »Der Oberrhein im Gebrauchsfilm« (Interreg IV Wissenschaftsoffensive, Projekt Nr. A 25) am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2 Die Geste erinnert an den Schluss von Georg Wilhelm Pabsts Westfront 1918 (D 1930), wo in einem Bild größter Einsamkeit und Verlorenheit ein Franzose und ein Deutscher sterbend nebeneinander im Lazarett liegen und der Franzose die Hand des anderen ergreift und feststellt, sie beide seien keine Feinde, sondern Kameraden. Diese Versöhnungsgeste folgt im Film der Schilderung einer Liebesgeschichte zweier anderer Verlorener : eines französischen Bauernmädchens im Hinterland der Front und eines jungen deutschen Soldaten, der wenig später bei einem Angriff getötet wird. 3 Vgl. Olaf Jessen: Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts. München: C. H. Beck 2014 und Gerd Krumeich: Verdun. In: Pim den Boer u. a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa. München: Oldenbourg 2012, S. 437–444.

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griff der Materialschlacht mit minimalem Geländegewinn; es war jene Schlacht des Ersten Weltkriegs, die im kollektiven Gedächtnis von Deutschen und Franzosen wie keine andere für das Grauen des industriellen Krieges und das Verheizen hunderttausender Soldaten steht. Verdun steht auch beispielhaft für Veränderungen der öffentlichen Erinnerungskultur. In der Nachkriegszeit pflegte Frankreich ein heroisches Gedenken an Verdun, denn man hatte die Stadt, die in der französischen Geschichte schon lange einen besonderen historischen und militärischen Symbolwert besaß, gegen einen feindlichen Angriff verteidigt. Und weil die Franzosen den Angriff schließlich abwehren konnten, feierte man diese Verteidigung als einen Sieg – einen Sieg der Moral. Der in Frankreich über das Kriegsende hinaus gültigen Deutung zufolge wurde in Verdun die Freiheit der gesamten Nation – der Menschen, der Kultur und des Bodens – gegen die Invasoren aus Deutschland bewahrt. Die Schlacht von Verdun wurde deshalb auch verstanden als Wendepunkt des Krieges, an dessen Ende – zwei Jahre später – nicht die Deutschen, sondern die Franzosen bei den Siegern waren. Bei der nationalen Verbreitung dieser Erzählung von einem mythischen Sieg spielte eine wichtige Rolle, dass aufgrund der regelmäßigen Ablösung der an der Front eingesetzten Truppen fast jeder französische Soldat auch einmal bei Verdun gekämpft hatte und sich daher dem Mythos zugehörig fühlen konnte. In Deutschland nahm ein spezifischer Verdun-Mythos erst im Verlauf der 1920er Jahre Gestalt an.4 Bestärkt durch Publikationen des Reichsarchivs und zunehmend monopolisiert von den Vertretern des Soldatischen Nationalismus wurde Verdun als moralischer Sieg der deutschen Frontkämpfer begriffen, die in der »Blutmühle« ausharrten, stets aufs Neue angriffen und ihr Leben einem höheren Ziel – dem ›neuen Menschen‹, der neu geschaffenen, klassenübergreifenden Gemeinschaft der Frontkämpfer, der ›Volksgemeinschaft‹ – freiwillig opferten.5 Der Verdun-Mythos zielte erst recht im Dritten Reich auf die quasireligiöse Umdeutung einer Niederlage in einen Sieg des Glaubens. Die Gedenkkultur, die sich in Verdun nach dem Krieg entwickelte, betraf die 4 So die These von Matti Münch: Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht. München: Meidenbauer 2006, dort v. a. Kap. 4.3. 5 Pointiert findet sich diese Idee bei Hans Zöberlein, der den Schauplatz seines in Verdun einsetzenden Buches so beschreibt: »Dort, wo der Glaube an das alte Reich an Drahtverhauen und in Trommelfeuern zerbrach – und aus Trichterfeldern in Blut und Feuer, bei Hunger und Tod der neue Glaube an ein besseres Deutschland geboren wurde.« (Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz. München: Eher 1931, S. 9, zit. n. Jörg Friedrich Vollmer : Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Berlin: Univ. Diss. 2003, S. 253. Abrufbar unter : http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_00000000 1060 – Stand: 10. 8. 2014).

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Stadt selbst, aber ebenso die Ruinen der Forts in der Umgebung, die Friedhöfe, die ehemaligen Schlachtfelder und die durch den Krieg umgeformte Landschaft. Eine Vielzahl von Erinnerungsbüchern, kriegsgeschichtlichen Publikationen und fiktionalen Texten orchestrierte diesen Diskurs über Verdun, die Erinnerung an die Schlacht und ihre Deutung. Eine wichtige Rolle spielte auch das Kino. Im Folgenden soll nach einem Überblick über die Darstellung Verduns im deutschen und französischen Kino der Nachkriegszeit der wichtigste französische Verdun-Film näher untersucht werden: Verdun, visions d’histoire von L¦on Poirier aus dem Jahr 1928 sorgte auch in Deutschland für Aufsehen und wurde nach der Berliner Premiere der deutschen Fassung im Juni 1929 nicht nur von vielen deutschen Kritikern gelobt, sondern entwickelte sich auch zu einem außerordentlichen Publikumserfolg. Auf der Liste der populärsten Filme der Kinosaison 1929/30 landete er auf Platz drei.6 Von den insgesamt drei französischen Weltkriegsfilmen, die vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten auch in Deutschland vertrieben wurden, hatte der Verdun-Film die bei weitem größte Resonanz.7 Unter dem Titel Verdun, souvenirs d’histoire wurde Verdun, visions d’histoire 1931 in einer stark veränderten Tonfilmfassung neu ins Kino gebracht.8 Auch diese Version wurde – wiederum nach Bearbeitung – zwei Jahre später in Deutschland vorgeführt – nun unter dem Titel Das Ringen um Verdun. Der doppelte Sinn kommt wohl erst im Rückblick zum Vorschein: Neben dem militärischen Ringen um die Eroberung der Stadt stand das Ringen um die Erinnerung an die Schlacht von Verdun, also das Ringen um Deutungshoheit. Die knapp fünf Jahre, die zwischen der Premiere von Verdun, visions d’histoire und Das Ringen um Verdun lagen, markieren eine filmhistorisch und filmästhetisch bedeutsame Schwellenzeit, nämlich den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. In diesem Zeitraum wurde der Verdun-Film auch aus kommerziellen Gründen mehrmals verändert, gekürzt und an anderer Stelle ergänzt, mit neuen Deutungen aufgeladen und kontrovers diskutiert. Wie vor allem die Aufführungsgeschichte von All Quiet on the Western Front (USA 1930) nach dem Buch von Erich Maria Remarque zeigte, sorgten damals Bearbeitungen ausländischer Kriegsfilme nicht allein in Deutschland für erhebliche Bedenken, weil 6 Vgl.: Das Ergebnis der Abstimmung. In: Film-Kurier, Sondernr. vom 31. 5. 1930. 7 Daneben liefen noch L’¦quipage (F 1928, dt.: Kameraden) und Les croix de bois (F 1931, dt.: Die hölzernen Kreuze). Zu den in Deutschland herausgebrachten britischen und französischen Kriegsfilmen zwischen 1918 und 1933 vgl. Philipp Stiasny : »Das Feuer ist notwendig, damit alles wieder weich wird«. Zum Nach(er)leben des Weltkrieges im Weimarer Kino. In: Filmblatt (Sommer 2001) Nr. 16, S. 39–50. 8 Für eine exzellente Analyse der beiden französischen Fassungen des Verdun-Films vgl. Cl¦ment Puget: Verdun … de L¦on Poirier. In: 1895 (April 2005) Nr. 45, S. 5–29. Vgl. auch Joseph Daniel: Guerre et cin¦ma. Grandes illusions et petits soldats 1895–1971. Paris: Colin 1972, S. 98–104.

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man fürchtete, die unterschiedlichen Versionen könnten womöglich gegensätzliche Botschaften transportieren. Wie also wurde der Verdun-Film verändert? Welche Elemente wurden gestrichen, welche hinzugefügt? Und welche Auswirkungen hatte das auf die Aussage des Films – oder besser gesagt: auf die je nach Bearbeitung unterschiedlichen Aussagen?

Zwischen Rekonstruktion und Erlebnis: Der Weltkrieg (1927/28) Im deutschen Kino setzte eine direkte, unverhüllte Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg spürbar erst Mitte der 1920er Jahre ein. Bis dahin hatten vorwiegend Historien- und Science Fiction-Filme, antibolschewistische Filme, Heimkehrergeschichten und Thriller den filmischen Diskurs über Kriege, Kriegserfahrungen und Traumatisierung bestimmt.9 Dagegen kam in Großbritannien die Verwendung von nicht-fiktionalen Weltkriegsfilmen im Kontext des nationalen Gedenkens und der Erinnerungsarbeit schon in den frühen 1920er Jahren auf.10 Einen Wendepunkt stellte hier die Premiere von Der Weltkrieg (D 1927/28) dar, einem ursprünglich auf drei Teile angelegten Großprojekt, dessen ersten Teil die größte deutsche Produktionsfirma, die Ufa, nach jahrelanger Vorarbeit 1927 herausbrachte. Das Manuskript stammte von zwei ehemaligen Offizieren, den Reichsarchivräten George Soldan und Erich Otto Volkmann. Initiiert wurde das Projekt von Major a. D. Ernst Krieger, während des Krieges Abteilungsleiter im Bild- und Filmamt (BUFA) und 1919 als Direktor der Ufa-Kulturfilmabteilung 9 Vgl. Anton Kaes: Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War. Princeton, Oxford: Princeton UP 2009 und Philipp Stiasny : Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914–1929. München: Ed. Text + Kritik 2009. Zum Heimkehrerfilm vgl. auch Philipp Stiasny : »Überall das gleiche, wie bei uns«. Der deutsch-französische Doppelgänger in »Dr. Bessels Verwandlung« (1927) und die Figur des Heimkehrers im Weimarer Kino. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 24 (2014) H. 3, S. 582–596. 10 Wegweisend waren die Filme der Firma British Instructional Films über einzelne Schauplätze des Weltkriegs. Die Filme versprachen Schlachten zu rekonstruieren, die aus britischer Sicht besonders wichtig erschienen und sich als Erinnerungsorte eigneten. Dazu zählten The Battle of Jutland (UK 1921), Zeebrugge (UK 1924), Ypres (UK 1925), Mons (UK 1926), The Battles of the Coronel and Falkland Islands (UK 1927) sowie die New Era-Produktion The Somme (UK 1927). Vgl. dazu Lawrence Napper: Remembrance, Re-membering and Recollection: Walter Summers and the British War Film of the 1920s. In: Michael Hammond u. Michael Williams (Hg.): British Silent Cinema and the Great War. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, S. 109–117. Verdun war in diesem Zusammenhang eher unbedeutend: Britische Truppen waren an der Schlacht von Verdun nicht beteiligt, es gab daher in England kaum verwendbares historisches Filmmaterial zu diesem Thema, und man vermutete wohl auch nur ein geringes Interesse des einheimischen Publikums daran. Von den aufgeführten Filmen lief in Deutschland nur The Battles of the Coronel and Falkland Islands.

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zuständig für die teilweise Übernahme des BUFA-Materials durch die Ufa. Der restriktive Umgang mit diesem Material führte bei linken und liberalen Kritikern immer wieder zu Unmutsäußerungen und zur Spekulation, es würden vom Reichsarchiv Aufnahmen von der Front, die abschreckend wirken könnten und als Antikriegspropaganda nützlich seien, bewusst zurückgehalten.11 Der Anspruch an Der Weltkrieg war hoch. Durch die Zusammenarbeit der Kulturfilmabteilung der Ufa mit einer staatlichen Einrichtung, dem Reichsarchiv, sollte ein Werk mit möglichst breiter, möglichst unangreifbarer Wirkung entstehen. Es sollte nicht eine, sondern die Darstellung und Interpretation des Krieges aus deutscher Sicht sein. Da die Ufa den Film vor seiner Premiere von Regierungsvertretern absegnen ließ, kann man durchaus von einer offiziellen Geschichtsschreibung sprechen.12 Die erinnerungspolitische Dimension des Films zeigte sich dann auch am 22. April 1927 bei der Uraufführung des ersten Teils mit dem Titel Des Volkes Heldengang. Dabei waren unter anderem Außenminister Gustav Stresemann – der 1926 zusammen mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand für seine Verdienste um die deutsch-französische Verständigung mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde –, Vizekanzler und Reichsjustizminister Oskar Hergt, der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der Vizepräsident des preußischen Landtags Wolfgang von Kries, der frühere General und Minister Wilhelm Groener, Geheimrat Alfred Hugenberg sowie mehrere Staatssekretäre und Bürgermeister zugegen.13 Im 1928 gestarteten zweiten Teil von Der Weltkrieg mit dem Titel Des Volkes Not nahm die Schilderung der Schlacht von Verdun einen wichtigen Platz ein. 11 Vgl. u. a. Ignaz Wrobel [d. i. Kurt Tucholsky]: Kriegsfilme. In: Die Weltbühne 23 (1. 2. 1927) Nr. 5, S. 195; ders.: Das Reichsarchiv. In: Die Weltbühne 22 (16. 2. 1926) Nr. 7, S. 273; Heinrich Kanner: Das Reichsarchiv und sein Werk. In: Die Weltbühne 22 (9. 3. 1926) Nr. 10, S. 361–363; Arthur Seehof: Filme im Reichsarchiv. In: Film und Volk 1 (März 1928) H. 1, S. 30. Zur zeitgenössischen Debatte, wie mit kriegsgeschichtlichem Material aus Reichsbesitz umzugehen sei, vgl. auch Garth Montgomery : ›Realistic‹ War Films in Weimar Germany : Entertainment as Education. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 9 (1989) Nr. 2, S. 115–133, bes. S. 117f. 12 Laut Michael Töteberg: Vermintes Gelände. Geschäft und Politik: Der Weltkrieg. In: HansMichael Bock u. ders. (Hg.): Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen. Stars und Regisseure. Wirtschaft und Politik. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1992, S. 204f. wurde der Film Außenminister Stresemann am 20. 4. 1927 vorab vorgeführt (Töteberg nennt irrtümlich den 20. 4. 1926). Stresemann sei zufrieden gewesen und habe lediglich darum gebeten, eine Szene mit dem amerikanischen Präsidenten Wilson herauszuschneiden, was auch geschah. In einem Brief des deutschnationalen Reichsinnenministers Walter von Keudell an Reichskanzler Wilhelm Marx vom Zentrum vom 11. 3. 1927 wurde Marx eingeladen, einem Preview des Weltkriegsfilms beizuwohnen mit der Erklärung, von Keudell könne Einfluss auf die endgültige Fassung nehmen. Vgl. Bundesarchiv, R 43 I/2499, Bl. 13f. Man darf annehmen, dass die Premierenfassung den Vorstellungen der Regierung entsprach. 13 Vgl. Hans-Walther Betz: Der Weltkrieg. In: Der Film 12 (1. 5. 1927) Nr. 8, S. 11.

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Dem überlieferten Material nach zu schließen setzte der Film speziell zur Visualisierung der Angriffe, die während des Krieges von den Frontkameraleuten nicht gefilmt werden konnten und nun Schlüsselmomente bildeten, auf gestellte bzw. nachinszenierte Szenen, für deren Herstellung der Regisseur Leo Lasko verantwortlich war.14 So stürmt die Kamera im Verbund mit den Soldaten vor, filmt aus deren Blickwinkel und setzt eine neuartige physische Nähe und Dramatik ins Bild. Die Filmemacher wollten die historische Distanz zudem durch die Verwendung des Präsens in den Zwischentiteln und eine auf Spannung zielende Dramaturgie und Inszenierung überwinden. In ihrer Wirkung unterstützt durch eine dynamische Montage sollte die bewegliche Kamera in den gestellten Szenen ein Erleben und nicht nur ein distanziertes Beobachten der Schlacht ermöglichen. Es scheint, dass dem Publikum dabei nicht immer bewusst war, welche Aufnahmen historisch und welche nachinszeniert waren.15 Der Weltkrieg wollte weniger eine Chronik sein als das, was heute als ›Doku-Drama‹ bezeichnet wird. Wie Soldan, Mitautor des Films und im Reichsarchiv zuständig für die Schriftenreihe Die Schlachten des Weltkrieges, schrieb, habe man nach langer Überlegung »nicht Schlachtenbilder, sondern allein Kampfeindrücke« vermitteln wollen.16 Durchaus nicht im Widerspruch dazu betonte die Ufa den rein historischen und unparteiischen, informativen und erzieherischen Charakter des Films sowie seine Objektivität und Eignung für den Schulunterricht. Am Ende des Films wurde der Betrachter in mehreren Zwischentiteln direkt angesprochen: »Denkt daran, wie der deutsche Soldat diesen ungeheuren Kampf bestand! […] Vergeßt nie deutsche Heldennamen: Boelcke, Immelmann, Frhr. v. Richthofen, Weddigen, Graf Dohne. 14 Da die 1927/28 publizierte zweiteilige Version von Der Weltkrieg nicht überliefert ist, beziehen sich meine Bobachtungen und die Zitate der Zwischentitel im Folgenden auf die gekürzte einteilige Version aus dem Jahr 1933. Abrufbar unter dem Titel Der Weltkrieg. Ein historischer Film auf http://www.filmportal.de (Stand: 10. 8. 2014). Zur Produktion und Presserezeption vgl. u. a. Töteberg: Vermintes Gelände (Anm. 12) und Bernadette Kester : Film Front Weimar. Representations of the First World War in German Films of the Weimar Period (1919–1933). Amsterdam: Amsterdam UP 2003, S. 87–105. 15 Aufgrund der Verwechslung von nachinszenierten Aufnahmen des Angriffs von Verdun mit historischen Aufnahmen forderte etwa ein Kritiker, man müsse diese Aufnahmen zu Nationaleigentum erklären und die Verwendung »solch heilige[r] Dokumente im ermüdenden Rahmen einer gänzlich unzureichend gemachten Filmhandlung« gesetzlich verbieten (–ma.: »Der Weltkrieg«, II. Teil. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 69 vom 10. 2. 1928). Nach dem Hinweis des Regisseurs Lasko, bei den Schlachtszenen sei nur etwa ein Zehntel der Aufnahmen historisch, der Großteil aber nachgedreht worden, relativierte der Kritiker seinen Vorwurf. Vgl. Maxim Ziese: Nachwort zum Weltkriegsfilm. In: Ebd., Nr. 82 vom 17. 2. 1928. 16 George Soldan: Wie der Weltkriegsfilm entstand. In: Ufa-Magazin. Sondernr.: Der Weltkrieg. Ein historischer Film. Hg. von der Presseabteilung der Ufa. [1927] (Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin, Schriftarchiv). Soldans Äußerung bezieht sich auf Teil 1, gilt aber wohl v. a. für Teil 2, dessen Machart viele Kritiker besser bewerteten als die des Vorgängers.

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Vergeßt aber auch nicht den unbekannten Soldaten, der in fremder Erde ruht.« An der Kinokasse entwickelte sich Der Weltkrieg zu einem großen Erfolg. Obwohl der Film klar erkennbar eine patriotisch-deutsche Perspektive einnahm, enthielt der Film auch historische Aufnahmen französischer Herkunft, die dem deutschen Publikum in der Verdun-Sequenz neben den Ruinen der zerbombten Stadt insbesondere das Eingreifen General Joseph Joffres und die damit eingeleitete Wende zugunsten Frankreichs vor Augen führten. Dem gegnerischen Befehlshaber Joffre, der voller Respekt eingeführt wird, stellt der Film auf deutscher Seite keine vergleichbare Persönlichkeit gegenüber, was auch daher rühren mag, dass das deutsche Vorgehen unter Generalstabschef Erich von Falkenhayn zur Entstehungszeit des Films durchaus kritisch beurteilt wurde und Falkenhayn als Held nicht taugte. Ganz verzichtete Der Weltkrieg nicht darauf, aus der Masse anonymer Soldaten in der Verdun-Sequenz auch auf deutscher Seite zwei Personen namentlich hervorzuheben und in kurzen gestellten Aufnahmen mitten im Gefecht zu zeigen: Hauptmann Hans-Joachim Haupt und Leutnant Radtke, die als Erstürmer von Fort Douaumont am 25. Februar 1916 eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten.17 Knapp zwölf Jahre nach den Ereignissen spielten sie ihre eigene ›Heldentat‹ nach, so dass hier Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion, Authentizität und Inszenierung ein Knäuel bildeten.

Mit oder ohne Tendenz: Douaumont (1931) Drei Jahre später wiederholten Haupt und Radtke diese Wiederholung im kommerziell sehr erfolgreichen Film Douaumont (D 1931), der als »Versuch einer Rekonstruktion des wechselvollen Kampfes um das Fort Douaumont« und nicht als Spielfilm verstanden werden wollte. Der Film »wurde ohne jede Tendenz geschaffen unter Verwendung authentischer Aufnahmen und unter persönlicher Mitwirkung ehemaliger Mitkämpfer, unter ihnen die Erstürmer Hauptmann Haupt und Leutnant der Reserve Radtke.«18

17 Im Zwischentitel genannt, aber nicht im Bild gezeigt wird auch ein dritter an der Erstürmung beteiligter Offizier, Oberleutnant Cordt von Brandis, der danach mehrere Bücher über diese Episode verfasste. Haupt und Brandis wurden beide mit dem Pour le M¦rite ausgezeichnet. 18 Vorspanntitel von Douaumont, zit. n. der Zensurkarte: Film-Prüfstelle Berlin, Nr. 29594 vom 10. 8. 1931 (Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin, Schriftarchiv). Vgl. ausführlich zum Film Rainer Rother : Germany’s ›Douaumont‹ (1931): Verdun and the depiction of World War I. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 19 (Juni 1999) Nr. 2, S. 217–238 und Daniela Kalscheuer : Sieg! Heil? Strategien zur mentalen Aufrüstung im deutschen Weltkriegsfilm 1931–1939. München: Ed. Text + Kritik 2014, bes. S. 109–124.

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Abb. 1: Anzeige für Douaumont (1931) (Bundesarchiv-Filmarchiv)

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Der Regisseur des Films, Heinz Paul, hatte seit 1927 mehrere fiktionale und nicht-fiktionale Filme über bedeutende Kriegsschauplätze und Schlachten des Weltkriegs realisiert, über den U-Boot-Krieg, die Westfront, die Schlacht an der Somme und – ein Jahr nach Douaumont – über Tannenberg gedreht. Speziell die Aufnahmen vom Angriff waren in Douaumont allesamt nachinszeniert; der als Stummfilm gedrehte und mit Musik und Geräuschen unterlegte Film folgte somit dem ästhetischen Muster von Der Weltkrieg, erzielte aber durch die dramatische Zuspitzung auf ein Ereignis eine stärkere Wirkung. Während der Film vor allem auf die Selbstaufopferung der Soldaten abhob, blieb offen, wofür dieses Selbstopfer gut war. Das Schlussbild zeigt einen Grabstein mit der Aufschrift »Sie starben für ihr Vaterland.« Wie schon im Fall von Der Weltkrieg taten sich viele Kritiker schwer damit, dem Film eine eindeutige Botschaft zuzuschreiben, weil – so die Wahrnehmung – stets eine Reibung blieb zwischen den Bildern und den erklärenden, deutenden, mitunter heroisierenden Aussagen der Zwischentitel. So urteilte beispielsweise die rechtsstehende Neue Preußische Zeitung, dass man natürlich die Intention des Films begrüße, denn es »soll und es muß Kriegsfilme geben, um die Erinnerung wach zu halten an jene Zeiten, da der Opfermut des einzelnen nicht vor der Frage Sein oder Nichtsein haltmachte, es muß Kriegsfilme geben, die ein Volk zur Besinnung rufen können, zur Besinnung auf sich selbst und seine besten Kräfte.« Douaumont versage aber, weil der Film nur »authentische und gestellte, gute und schlechte« Bilder aneinanderreihe und keine sinnhafte Ordnung in die Schilderung bringe: Solche Versuche werden immer den Eindruck hinterlassen, daß es sich um den Ablauf eines völlig sinnlosen Geschehens handelt, daß die »blind-wütenden Gewalten« am Werke sind, mit denen der Pazifismus so gern alles, was mit dem Begriff des Krieges zusammenhängt, diffamieren möchte.19

Einen Widerspruch erkannte auch die liberale Vossische Zeitung: Zweifellos sei Douaumont »hergestellt [worden] als eine Art Anti-Remarque […] und ebenso zweifellos gedacht als das Hohe Lied auf das persönliche Heldentum des Soldaten«. Dennoch wirke das Werk »nicht weniger abschreckend und pazifistisch als alle anderen Kriegsfilme, denen angeblich eine antimilitaristische Tendenz innewohnte.«20 Die Bilder verweigerten den Heroismus, sie zeigten mehr als sie zeigen wollten. Die Wahrnehmung einer vielleicht sogar gegen die Absichten der Filmemacher laufenden Antikriegstendenz mochte dabei auch mit der Darstellung der ehemaligen Feinde zu tun haben: »[D]as Bestreben, die Franzosen nicht weniger 19 D.: »Douaumont«. In: Neue Preußische Zeitung, Nr. 226 vom 14. 8. 1931. 20 H. P. [d. i. Heinz Pol]: Der Kriegsfilm »Douaumont«. In: Vossische Zeitung, Postausg., Nr. 194 vom 15. 8. 1931.

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heldenmutig zu zeigen als die Deutschen und den Krieg hüben und drüben als ›ein roh gewaltsam Handwerk‹ erscheinen zu lassen, schafft eine pazifistische Tendenz, die diesem Film erzieherischen Wert gibt.«21 Analysiert man Douaumont und seine Rhetorik genauer und beachtet auch seine Auswertung und ideologische Inanspruchnahme, erscheint seine Deutung als Antikriegsfilm wenig plausibel. Vielmehr erweist er sich als Teil des heroischen Kriegsdiskurses auf der politischen Rechten. Trotzdem bleibt die Widersprüchlichkeit in der zeitgenössischen Kritik bestehen – und irritiert. Davon abgesehen durfte der Film im Dritten Reich weiter gezeigt werden und wurde auch in der Bundesrepublik 1956 für Jugendliche ab zehn Jahren wieder zugelassen, weil er »weder zur militaristischen noch nationalen Propaganda« nütze.22

Mit dem Krieg abrechnen: Von J’accuse! (1919) zu Pour la paix du monde (1927) Im Frankreich der Nachkriegszeit begann die filmische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg mit einer Sensation: Mit J’accuse! kam bereits im April 1919 eine große Abrechnung mit dem Krieg und seinen Schrecken in die französischen Kinos. Beeinflusst von Henri Barbusses Schilderungen in Le Feu (1916) und noch zu Kriegszeiten begonnen, entwickelte sich der Film von Abel Gance zu einem weltweiten Erfolg; in Deutschland war er freilich nicht zu sehen. In den Jahren danach mied die französische Filmindustrie den Weltkrieg als Filmstoff, »als sei dieses Thema mit einem stillschweigenden Tabu belegt gewesen«.23 Nur vereinzelt gelangten Filme mit Bezug zum Weltkrieg in die Kinos. Das änderte sich nach dem Erfolg des im Dezember 1926 auch in Frankreich herausgebrachten amerikanischen Weltkriegsfilms The Big Parade (USA 1925) unter dem Titel La grande parade und der danach einsetzenden Einfuhr weiterer amerikanischer, britischer und deutscher Kriegsfilme.24 Im Zusammenhang mit 21 K. M. [d. i. Kurt Mühsam]: »Douaumont«. In: B. Z. am Mittag, Nr. 188 vom 14. 8. 1931. 22 Entscheidung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft zu Douaumont, Nr. 13100 vom 16. 10. 1956, zit. n. Kalscheuer : Sieg! Heil? (Anm. 18), S. 123. Kalscheuer spricht von einem »neutralen Kriegsfilm ›aus Versehen‹« (ebd., S. 124). 23 Richard Abel: French Cinema. The First Wave, 1915–1929. Princeton: Princeton UP 1984, S. 202. 24 An jüngeren Kriegsfilmen liefen in Frankreich 1927/28 u. a. What Price Glory? (USA 1926), Die versunkene Flotte (D 1926), Der Mann aus dem Jenseits (D 1926), Hotel Imperial (USA 1927), Wings (USA 1927), Blighty (UK 1927) und Dawn (UK 1928). Es war üblich, dass diese Filme für den Import verändert wurden, mal mehr, mal weniger. Beispielsweise berichtete der pazifistische Schriftsteller Klabund alias Alfred Henschke nach der Aufführung von What Price Glory? in Davos: »Mein Erstaunen war aber groß, als ich unter gleichem Titel nicht den gleichen Film zu sehen bekam! Der Text, in Deutschland auf die Formel ›Nie wieder

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diesem neuen Interesse an Kriegsfilmen entstanden 1927/28 in Frankreich zunächst mehrere nicht-fiktionale Filme, die historische Aufnahmen aus der Kriegszeit wiederverwendeten: der von der Association des Camarades de Combat hergestellte Film Pour la paix du monde (F 1927), Verdun tel que le poilu l’a v¦cu (F 1927) von Emile Buhot und Le Film du poilu (F 1928) von Henri Desfontaines.25 Lenkte in Verdun tel que le poilu l’a v¦cu bereits der Titel das Interesse auf den zentralen Erinnerungsort Verdun, so drehte sich Pour la paix du monde zwar nicht hauptsächlich um Verdun, machte aber in der Auswahl historischer Filmausschnitte von Flüchtlingen, Verwundeten, Toten und Kriegsgefangenen, den zerbombten Orten und Mondlandschaften die Bedeutung gerade dieser Schlacht sehr deutlich. Folgt man der überlieferten Version von Pour la paix du monde, verzichtete der Film darauf, eine nachvollziehbare Chronologie der Ereignisse vorzustellen. Dagegen bot Verdun tel que le poilu l’a v¦cu eine Art Erzählung mit Anfang und Ende und somit Orientierung, setzte durch die Montage dramatische Akzente und verwendete erklärende Zwischentitel und Kartentrickbilder zur Veranschaulichung militärischer Pläne. Zusätzlich wurde gestelltes, offenbar nicht im Kampfgebiet, sondern bei Manövern hinter der Front gedrehtes Material eingeschnitten.

Krieg!‹ gebracht, erschöpfte sich hier in Verherrlichungen der ›gloire‹ und der Schönheit des Kriegertums – dem die (mit Recht) abschreckenden Kriegsaufnahmen einigermaßen widersprachen. Es waren ganze, z. T. sehr geschmacklose Szenenreihen in der hiesigen Fassung zu sehen, die in Deutschland völlig fehlten. […] Der Film hat in der hier gezeigten, offenbar für den Vertrieb in Frankreich bestimmten Fassung längst nicht die künstlerische Geschlossenheit, die er in Deutschland zeigte. Es scheint, daß die äußerst smarte Foxproduktion zwei Fassungen dieses Films hergestellt hat: eine für Deutschland mit pazifistischem Grundton, eine für Frankreich mit der Verherrlichung der gloire und des brave soldat.« (Klabund: Ein Film und – zwei Filme. In: Die Weltbühne 24 (20. 3. 1928) Nr. 12, S. 459f.) What Price Glory? galt auch William Marston Seabury : Motion Picture Problems. The Cinema and the League of Nations. New York: The Avondale Press 1929, S. 70f. als Beispiel eines Films, von dem es eine pazifistische Fassung für den deutschen und eine kriegsverherrlichende Fassung für den französischen Markt gab. Seaburys Kritik zielte speziell auf die Verleihpraxis der amerikanischen Filmproduzenten. 25 Zu diesen Filmen vgl. Laurent Veray : Fiction et ›non-fiction‹ dans les films sur la Grande Guerre de 1914 — 1928. La bataille des images. In: 1895 (Sommer 1995) Nr. 18, S. 235–255. Von Pour la paix du monde, herausgebracht im Juni 1927, existiert eine niederländische Fassung im Eye Film Institute (Amsterdam). Der Film lief zwar nie regulär in Deutschland, war einigen Kritikern aber bekannt. Vgl. etwa die Rezension von Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung vom 10. 10. 1927, abgedruckt in ders.: Werke. Bd. 6.1. Hg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 397–399. Verdun tel que le poilu l’a v¦cu, herausgebracht im September 1927, ist abrufbar unter http://www.cnc-aff.fr/internet_cnc/ Internet/ARemplir/parcours/EFG1914/pages_FR/73024.html (Stand: 10. 8. 2014). Le Film du poilu, herausgebracht Anfang 1928, ist in Frankreich auf DVD erschienen.

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Den Märtyrern gewidmet: Verdun, visions d’histoire (1928) Die größte Reichweite aller französischen Verdun-Filme hatte L¦on Poiriers Großfilm Verdun, visions d’histoire, der anlässlich des zehnten Jahrestages des Kriegsendes am 8. November 1928 in der prachtvollen Pariser Grand Op¦ra uraufgeführt wurde – in Anwesenheit des französischen Präsidenten Gaston Doumergue und der als Kriegshelden verehrten Generäle Ferdinand Foch, Joseph Joffre und Philippe P¦tain.26 Wie die politische, künstlerische und militärische Prominenz bei der Premiere unterstrich, wurde dem zweieinhalbstündigen Epos von Anfang an eine Sonderstellung im Diskurs über die Kriegserinnerung zugewiesen.27 Darüber hinaus verbanden sich mit dem Film auch in ästhetischer und wirtschaftlicher Hinsicht besondere Erwartungen. Verdun, visions d’histoire, dessen Titel übersetzt »Verdun, Sichtweisen der Geschichte«, »Visionen oder Traumbilder der Geschichte« oder einfach »Bilder der Geschichte« bedeutet, entstand auf dem Höhepunkt der von Aristide Briand und Gustav Stresemann vorangetriebenen deutsch-französischen Aussöhnung und den Bemühungen, das gegenseitige Misstrauen zu überwinden. Zur gleichen Zeit veränderte sich der gesellschaftliche, politische und kulturelle Diskurs über den Ersten Weltkrieg und die zentrale Frage, wie dieser Krieg zu erinnern und welche Schlussfolgerungen aus ihm zu ziehen seien. In Frankreich waren die ›Ancien Combattants‹ und ihre Verbände bedeutende Akteure in diesem auch im Kino wirksamen Diskurs.28 Gewissermaßen in der dritten Person schildert Verdun, visions d’histoire den Ablauf der Ereignisse bei Verdun im Jahr 1916 und zwar chronologisch, mithilfe erklärender Zwischentitel und trickanimierter Landkarten. Zwar wurden Aufnahmen vom Schlachtfeld, vom durch Granaten zerpflügten Gelände, Aufnahmen in den umkämpften Forts, namentlich Fort Douaumont und Fort Vaux, eigens für 26 In London wurde der Film unter dem Titel Verdun bereits am 15. 10. 1928 aufgeführt. Laut dem ausführlichen Programmheft der Verleihfirma, der britischen Abteilung von Gaumont, stand der Film unter dem Patronat Gaston Doumergues, des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincar¦, des französischen Kriegsministers Paul Painlev¦, des britischen Innenministers William Joynson-Hicks und des britischen Kriegsministers Laming Worthington-Evans. Es heißt dort auch, dass Poirier von einem Briten auf die Idee für einen Verdun-Film gebracht wurde; seine Produktion sei sowohl vom französischen wie vom britischen Kriegsministerium unterstützt worden. Vgl. das Programmheft Verdun. British Film Institute, London, Schriftgutsammlung, S. 18. Der britische Anteil an der Produktion ist unerforscht. Auffallend ist, dass in Verdun, visions d’histoire eine britische Nebenfigur eine Verbindung der Briten zu Verdun herstellt. Unerforscht ist auch der europäische Handel mit historischem Filmmaterial aus behördlichem Besitz. 27 Verdun, visions d’histoire wurde von der Cin¦mathÀque de Toulouse restauriert. Die restaurierte Fassung hat eine Länge von 3.449 Metern (151 Min. bei 20 Bildern pro Sek.) und ist auf DVD erhältlich. 28 Vgl. dazu Veray : Fiction et ›non-fiction‹ (Anm. 25).

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Abb. 2: Die Dreharbeiten von Verdun, visions d’histoire (1928) bei Fort Vaux. Fotos aus dem englischen Programmheft (Deutsche Kinemathek)

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den Film gestellt; es sind also ganz überwiegend keine historischen Aufnahmen aus dem Jahr 1916. Doch unternahm der Film große Anstrengungen, um seinem Anspruch auf Authentizität gerecht zu werden: Gedreht wurden diese ›Re-enactments‹ an den Orten der Schlacht in und bei Verdun. Ein deutscher Kritiker bemerkte, dass der Film »authentisch die nachkonstruierten Schlachtenbilder« zeige.29 Darüber hinaus waren neben dem Regisseur L¦on Poirier, selbst ein ›Ancien Combattant‹, noch zahlreiche Veteranen am Film als Darsteller und Komparsen beteiligt, die ihre eigenen Kriegshandlungen nachspielten.30 Wo vorhanden, wurden historische Aufnahmen aus der Kriegszeit mit eingefügt, teilweise sehr geschickt, so dass diese Einfügungen manchmal nur wegen ihrer materiellen Anmutung – einer anderen Körnung oder Laufstreifen – erkennbar sind. Wir sehen etwa kurze Aufnahmen der französischen Generäle Foch und P¦tain sowie von Wilhelm II. und seinem Sohn, Kronprinz Wilhelm von Preußen, dem Kommandierenden der deutschen Armee bei Verdun. Zum Schluss, wenn der Film einen Bogen von 1916 zum Kriegsende 1918 schlägt, sehen wir ebenfalls historische Aufnahmen: Franzosen, die jubeln, weil der Krieg zu Ende ist. Der nicht-fiktional dokumentarische Charakter des Verdun-Films wurde, glaubt man zeitgenössischen Stimmen, auch nicht dadurch gemindert, dass Poirier den Film in drei Kapitel bzw. »Visionen« einteilte, die überschrieben waren mit »Die Gewalt« (»La Force«), »Die Hölle« (»L’Enfer«) und »Das Schicksal« (»Le Destin«). Außerdem baute er eine Reihe symbolisch besetzter, miteinander verbundener Figuren ein, die von Schauspielern verkörpert wurden, darunter »Der Bauer«, »Der Soldat« und »Die Mutter«. Das durch Allegorien und christliche Symbole erzeugte Pathos erinnert bei Poirier verschiedentlich an J’accuse und wirkt heute etwas befremdlich, wenn zum Beispiel am Ende einer der Überlebenden in einer so archaischen wie hoffnungsfrohen Geste als Sämann frisches Saatgut auf dem Feld auswirft. In der Stummfilmzeit, die das Erzählen in Bildern zur Perfektion brachte, war das nicht ungewöhnlich. Poirier widmete Verdun, visions d’histoire den »Märtyrern« des Krieges, wie es zu Beginn in einem Zwischentitel hieß. Zwar kann im Französischen im Wort »martyr« durchaus auch »Marter«, »Qual« und »Misshandlung« mitklingen, doch überwiegen die religiösen Assoziationen; sie werden auch an anderer Stelle aufgerufen. Die Schlacht um Verdun eint im Film die gesamte französische Gesellschaft, die Bauern und Soldaten, ein ungleiches Brüderpaar, der eine zögernd, der andere entschlossen; sie alle verteidigen den Boden Frankreichs und

29 Kurt Lenz: »Verdun«. In: Vorwärts, Nr. 568 vom 1. 12. 1928. 30 Vgl. das Programmheft Verdun (Anm. 26), S. 18. Als militärtechnischer Berater des Regisseurs diente dessen Bruder, der als Hauptmann an der Schlacht von Verdun teilgenommen hatte.

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zeigen, »was Frankreich für seine Freiheit gelitten hat«.31 Sie alle haben Teil an dem »Sieg von Verdun, dem unsterblichen Symbol für französische Werte und französische Zähigkeit«, wie es Colonel Grasset ausdrückte, der in einem Zwischentitel zitiert wird. Die Beschwörung der Zähigkeit und des Durchhaltens unter extremen Bedingungen ist ein zentrales Motiv des Films. Diese Beschwörung richtet sich nicht allein nach innen, an die Kämpfer von Verdun und das französische Publikum, sondern genauso an die deutsche Militärführung, die – im Film symbolisch dargestellt durch einen uralten General (verkörpert von Maurice Schutz) – zu früh an einen deutschen Sieg glaubt und eines besseren belehrt wird.32 Um diese Hybris ins Bild zu rücken, werden nach der Eroberung von Fort Douaumont durch die Deutschen historische Aufnahmen von einer prachtvollen Militärparade vor dem Kaiser eingeschnitten. Entspricht die beinahe karikaturhafte Darstellung dieses Generals mit ordensbehängter, schlecht sitzender Uniform noch sehr einem negativen Klischee, so gilt das kaum für die beiden anderen symbolisch besetzten Figuren auf deutscher Seite, »Den Hauptmann« und »Den einfachen Soldaten«. Auch wenn der »Hauptmann« einmal Nietzsche zitieren muss, erscheinen er und der Soldat als den Franzosen ebenbürtige Gegner, als ebenso zähe und tapfere Figuren wie sie. Nach der Eroberung des Forts salutieren die deutschen Soldaten vor den geisterhaft wirkenden, sich dahinschleppenden letzten französischen Soldaten. Welche größere Respektsbezeichnung könnte es geben, als zu zeigen, wie selbst der Gegner Respekt bekundet? Der ›einfache deutsche Soldat‹, der ›Feldgraue‹, wird vom jungen, pausbäckigen deutschen Schauspieler Hans Brausewetter gespielt und mit deutlicher Sympathie gezeichnet; er erscheint als zunehmend desillusioniertes Opfer der Selbstüberschätzung der militärischen Führung. Brausewetter verkörpert den guten, aber betrogenen Deutschen, der am Schluss in einer Überblendung seine Fesseln sprengt. Die Filmpremiere in Paris wurde auch von deutschen Kritikern aufmerksam verfolgt. Peter Panter alias Kurt Tucholsky urteilte danach: Kein sehr pazifistischer Film – aber ein anständiger Film. […] Der Deutsche darf anmerken: In keinem Falle wird der deutsche Soldat anders als mit höchstem Respekt dargestellt – hier gibt es keine Schießbudenfiguren, keine Kinderfresser und Uhrenräuber … gezeigt werden Männer und junge Leute, die ihr Leben in gutem Glauben einsetzen […].33 31 Lenz: »Verdun« (Anm. 29). 32 Wie es im englischen Programmheft zu Verdun heißt, wurde die Figur nach dem Vorbild des Generalfeldmarschalls Gottlieb von Haeseler (1836–1919) gestaltet, einem Berater des Kronprinzen. Vgl. das Programmheft Verdun (Anm. 26), S. 4. 33 Peter Panter [d. i. Kurt Tucholsky]: Deutsche Soldaten in der Pariser Oper. In: Vossische Zeitung, Nr. 531 vom 9. 11. 1928.

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Abb. 3: Aus dem englischen Programmheft von Verdun, visions d’histoire (1928) (Deutsche Kinemathek)

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Abb. 4: Aus dem englischen Programmheft von Verdun, visions d’histoire (1928) (Deutsche Kinemathek)

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Für den Berliner Lokal-Anzeiger, eine rechts stehende, nationalistische Boulevardzeitung des Scherl-Verlags, berichtete Willy Rath, selbst Autor von Weltkriegsfilmen wie Die versunkene Flotte (D 1926), U 9 Weddigen (D 1927) und Richthofen, der rote Ritter der Luft (D 1927), aus Paris. Verdun, visions d’histoire sei bei allem erfreulichen Bemühen um Verständnis für die deutschen Gegner ein durch und durch französischer und keineswegs objektiver Film. Die Deutschen an sich hätten ohnehin »mehr Anlage zur Sachlichkeit«. Einzuräumen sei immerhin, dass der Verdun-Film »sich ja auch offen genug als französischer Film« zu erkennen gebe.34 Während Tucholsky sich noch darüber Gedanken machte, ob und wie Verdun, visions d’histoire pazifistisch wirken könnte, und zu dem Schluss kam, dass die Wirkung allein von den Zwischentiteln abhinge, empfahl Rath im Lokal-Anzeiger den Lesern bereits jene heroische Brille, die sich damals in der rechten Presse bei der Betrachtung von Kriegsfilmen durchsetzte: »Der Großfilm [Verdun, visions d’histoire], der mit Marseillaise und Siegesjubelfeiern in Frankreich schließt, stellt allermeist dar (und könnte nach geringen Retouchen auch so betitelt werden): ein deutsches Heldenlied im Bilde.«35

Eine schillernde Projektionsfläche: Verdun. Das Heldentum zweier Völker Die von Willy Rath empfohlenen Retuschen fielen umfangreich aus. Ein gutes halbes Jahr nach der Pariser Premiere feierte am 13. Juni 1929 die deutsche Version von Verdun, visions d’histoire im Berliner Mozartsaal ihre deutsche Erstaufführung im Beisein des Regisseurs Poirier, des sozialdemokratischen Reichsinnenministers Severing und anderer hoher Gäste – nun unter dem schlichten Titel Verdun. Als weitere Titel waren im Umlauf: Das Völkerringen an der Westfront und Das Heldenlied der deutschen Waffen36 sowie Verdun. Das Heldentum zweier Völker.37 Wenn man die Pressekritiken liest, scheint es, als habe die deutsche Version des Verdun-Films ebenso gut antipazifistische wie pazifistische Bedürfnisse 34 Willy Rath: »Verdun«. In: Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 544 vom 16. 11. 1928. 35 Ebd. 36 Vgl. die Zensurkarte der Film-Prüfstelle Berlin, Nr. 22660 vom 12. 6. 1929: jugendfrei, Länge: 2.179 Meter (95 Min. bei 20 Bildern pro Sek.). Ausgefertigt am 5. 7. 1932 (BundesarchivFilmarchiv, Bibliothek). Die Zwischentitel werden im Folgenden nach der Zensurkarte zitiert. 37 Vgl. die Rezensionen von r.: Ein französischer Kriegsfilm. In: Der Abend (Spätausg. des »Vorwärts«), Nr. 274 vom 14. 6. 1929 und myr : »Verdun, das Heldentum zweier Völker«. In: Der Tag, Nr. 142 vom 15. 6. 1929.

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Abb. 5: LBB-Kinoprogramm zur Premiere von Verdun. Das Heldentum zweier Völker (1929) (Deutsche Kinemathek)

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befriedigen können und das zu einem Zeitpunkt, als sich das öffentliche Gedenken an den Krieg bereits zu einem Schauplatz des Kampfes für oder gegen die Republik entwickelt hatte.38 Wurde der Film von den Kommunisten scharf angegriffen, weil er den »imperialistischen Charakter« des Weltkriegs verschweige und deshalb dem »offiziellen imperialistischen ›Pazifismus‹ des Völkerbundes« gleiche,39 so lobte der Linksliberale Hans Sahl einen »Bildbericht, dessen harter, grausamer Realismus, erschütternder als jeder Kriegsroman, heftiger und im Detail ausgeprägter als die aus Amerika und Rußland herübergekommenen Schlachtenfilme, zuweilen die blutige Aggressivität Dixscher Kriegsvisionen erreicht«.40 Für die Sozialdemokraten ging vom Film dagegen die Lehre ›Nie wieder Krieg!‹ aus: Eines Tages wird das Wort »Held« aus der Kriegsbetrachtung verschwunden sein und wir werden nur noch von den Opfern der hoffentlich letzten großen Menschheitsirrung sprechen. Denn das ist schon die Philosophie dieses Filmes, daß der unerhörte Einsatz von Menschen und Material, der an den verfluchten Stätten von Douaumont und Vaux vergeudet wurde, für nichts war.41

Währenddessen nahmen die Deutschnationalen den französischen Film zum Anlass für ein Hoch auf den Heroismus und eine Polemik gegen die als »unmännlich« und »feige« hingestellten Befürworter der Republik: Die andere Seite wird versuchen, gerade weil in diesem jene gewisse, peinliche Dosis Pazifismus fehlt, diesen wahrhaftigen Bericht zu einem abschrecken sollenden Spectaculum umzudeuten. Aber ist es nicht so, daß unser krankes Volk bewußt nach der bitterstarken Medizin der wahrhaftigen Kriegsschilderung – im Buch und Film und Schauspiel – zu greifen beginnt, aus der Haltlosigkeit der letzten Jahre wieder zu einer inneren Sicherheit strebt, eine neue Einstellung zum Kampf als solchem und dem Weltkrieg als besonderem sucht, um zu den männlichen Werten zu gelangen, die bisher den Feigen versagt geblieben sind? Hierin wird einer der Gründe zu suchen sein für den Erfolg, der dem Film von Verdun auch in Deutschland sicher ist.42

Obwohl die deutsche Fassung nicht überliefert ist, lassen sich anhand der Zensurunterlagen die Veränderungen im Vergleich mit der französischen Ori38 In einem Interview mit Poirier heißt es, jede Partei bekomme etwas zu sehen – Nationalisten und Pazifisten. Poirier zufolge wollte sein Film »allen Kombattanten gerecht werden; denn fraglos haben alle kämpfenden Parteien Ungeheueres an Mut und Ausdauer geleistet.« Vgl. h. h. im Gespräch mit L¦on Poirier. In: Der Film 14 (1929) Nr. 1, Neujahrsnr. 39 Durus [d. i. Alfr¦d Kem¦nyi]: Ein »pazifistischer« Film des französischen Imperialismus: »Verdun«. In: Die Rote Fahne vom 7. 7. 1929. 40 Hans Sahl: Der Verdun-Film. In: Montag Morgen, Nr. 21 vom 17. 6. 1929. 41 r.: Ein französischer Kriegsfilm (Anm. 37). 42 myr : »Verdun, das Heldentum zweier Völker« (Anm. 37). Vgl. auch f.: »Verdun«. In: Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 277 vom 14. 6. 1929 und Fritz Olimsky : Der französische Verdun-Film. In: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 273 vom 15. 6. 1929. Selbst die nationalsozialistische Kampfpresse empfahl den Film. Vgl. L.: »Verdun«. In: Der Angriff, Nr. 26 vom 1. 7. 1929.

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ginalfassung ziemlich genau bestimmen. Besonders auffällig ist der Längenunterschied; die deutsche Fassung war gut 50 Minuten kürzer als die französische. Gestrichen wurde der Großteil der Szenen mit symbolischen Figuren auf beiden Seiten, darunter der alte deutsche General. Erhalten blieb eine romantische Episode, in der sich ein französischer Soldat während einer Ruhepause hinter der Front in ein Bauernmädchen verliebt. Gestrichen wurden außerdem die namentliche Nennung einiger französischer Akteure der Schlacht und Details zu ihrem Verlauf, die zuvor in Zwischentiteln mitgeteilt worden waren. Auch der Brückenschlag vom Jahr 1916 zum Kriegsende 1918 wurde offenbar geschnitten. Es fehlte demnach die Pointe von Verdun, visions d’histoire, dass nämlich die Schlacht von Verdun aus französischer Sicht die Geschichte eines unter größten Opfern errungenen Sieges war, der sich erst im Siegesjubel von 1918 sichtbar manifestierte. Als Schlüsselmoment für Frankreich im Ersten Weltkrieg, wie ihn Verdun, visions d’histoire doch behauptet, also als Entscheidung zwischen Widerstand und Untergang, Sieg und Niederlage, erscheint die Schlacht von Verdun nun nicht mehr. Da aus deutscher Sicht der in der Originalversion für die Franzosen erkennbare Lohn des als heroisch verstandenen Kampfes ausblieb, legte die deutsche Version dem Publikum womöglich eine tragische Deutung der Geschehnisse nahe. An die Stelle der Widmung an die »Märtyrer« des Krieges trat die Widmung an die »Toten von Verdun«; das Moment der Sinnstiftung, das im Wort »Märtyrer« steckt, wurde zurückgenommen. Einleitend verkündete ein Zwischentitel: »An den historischen Stätten, an denen zwei große Völker ihr Blut vergossen haben, wurden unter Mitwirkung von ehemaligen deutschen und französischen Kriegsteilnehmern von L¦on Poirier in den Jahren 1927/28 diese Ereignisse aufgenommen.« Der für die deutsche Bearbeitung zuständige Archivrat Alfred Stenger, Mitarbeiter des Reichsarchivs und Verfasser mehrerer Beiträge zur Buchreihe Schlachten des Weltkrieges, tat viel, um die französische Perspektive zu relativieren, ja teilweise zu eliminieren: Hinweise auf Deutschland als Angreifer fehlten deshalb ebenso wie die Hinweise in der Originalfassung auf die herausragende Bedeutung Verduns für die Einheit der französischen Nation und die Erinnerung an den Krieg. Natürlich wirkten weder dieser noch andere Filme allein durch Deklarationen in den Zwischentiteln. So mochte die Beschwörung der Zähigkeit und des Opfermutes der Franzosen in den Zwischentiteln fehlen, doch wenn man unterstellt, dass so etwas überhaupt sichtbar sein kann, waren Zähigkeit und Opfermut weiterhin zu sehen: Die Bilderzählung konzentrierte sich schließlich auf den Widerstand der Franzosen und räumte deren Kampf deutlich mehr Raum ein als den Bemühungen der Deutschen. Die Kürzungen gingen zulasten patriotischer Aussagen der Originalfassung – und zugunsten eines weiter redu-

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zierten, von pathetischen Erklärungen und Sinnstiftungen entschlackten Berichts, der sich in Deutschland Mitte 1929 auf etwas unheimliche Weise als Projektionsfläche für vollkommen unterschiedliche Kriegsdeutungen anbot.

Der Zeuge spricht: Verdun, souvenirs d’histoire (1931) Kann ein Film über Verdun, der Wahrhaftigkeit und Authentizität beansprucht, ohne Ton und Geräusch auskommen? In der Zeit des Stummfilms – als offensichtlich andere Kriterien an den Begriff der Authentizität angelegt wurden – konnte diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet werden. Sowohl Verdun, visions d’histoire wie dessen deutsche Bearbeitung von 1929 waren Stummfilme, die im Kino – meist sehr unterschiedlich – musikalisch begleitet wurden. Sie konnten Bilder von der Materialschlacht zeigen und sich dabei auf die universell verständliche Bild- und Zeichensprache des Stummfilms verlassen. Den ungeheuren, fortwährenden Lärm der Geschütze und Granaten konnten sie jedoch nicht hörbar vermitteln. Dabei hatte dieser Lärm eine unvorstellbare Dimension, und die nackten Zahlen geben uns davon höchstens eine Ahnung: Zwischen Februar und Juli 1916 feuerten bei Verdun auf einem relativ schmalen Frontabschnitt von 15 Kilometern an die 1.000 Geschütze ca. 140.000 Granaten pro Tag ab (das bedeutet mehr als einen Granateneinschlag pro Sekunde). Insgesamt wurden in diesen fünf Monaten 31 Millionen Granaten abgeschossen.43 Die Materialschlacht verursachte damit eine Form von Schmerzen, an deren Ausdruck ein Stummfilm allermeist scheitern musste. Umso bedeutender war die Innovation des 1929/30 in größerem Maßstab eingeführten Tonfilms. Und es ist kein Zufall, dass im Zusammenhang mit der Darstellung des Weltkriegs überwiegend frühe Tonfilme wie All Quiet on the Western Front (USA 1930) und Westfront 1918 (D 1930) als Beispiele angeführt werden und die Stummfilme unter den Tisch fallen. Die Ergänzung des Bildes durch die Tonspur eröffnete der Kriegsdarstellung ungeahnte Möglichkeiten: Welche Möglichkeiten das waren, zeigt sehr anschaulich Verdun, souvenirs d’histoire, die am 6. November 1931 uraufgeführte und mit einer Tonspur versehene Überarbeitung des Stummfilms von 1928, ebenfalls hergestellt unter der Regie von L¦on Poirier.44 Diese Tonfassung un-

43 Vgl. Jean-Jacques Becker : Mourier — Verdun. In: St¦phane Audoin-Rouzeau u. a.: 14–18. Mourir pour la patrie. Paris: Êd. du Seuil 1992, S. 152–169, hier nach Puget: Verdun (Anm. 8), S. 6. 44 Eine Kopie von Verdun, souvenirs d’histoire aus den Archives du Film du Centre National de la Cin¦matographie wurde in der Reihe Les Documents Cin¦matographiques auf DVD ver-

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Abb. 6: Tonaufnahmen auf dem ehemaligen Schlachtfeld. Aus der Werbebroschüre zu Verdun, souvenirs d’histoire (1931) (Deutsche Kinemathek)

Abb. 7: Der Veteran spricht zu den Kindern. Aus der Werbebroschüre zu Verdun, souvenirs d’histoire (1931) (Deutsche Kinemathek)

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terschied sich bereits in der Länge vom älteren Stummfilm: Sie war mit rund 90 Minuten etwa 60 Minuten kürzer ; fast alle Zwischentitel wurden gestrichen. Ganz verzichtete der Film aber nicht auf Zwischentitel. Im Gegenteil, ihre geringere Zahl gab dem einzelnen Zwischentitel nun ein größeres Gewicht. Weitgehend verzichtet wurde auf die symbolischen Figuren. Zwar recycelte die Tonfassung auf der Bildebene ganz überwiegend das ältere Material, doch besaß sie einen sehr veränderten, stärker didaktischen Charakter. Neu hinzugefügt wurde eine Rahmenhandlung, die in der Gegenwart angesiedelt war und einen Veteranen der Schlacht von Verdun vorstellt, der mit einer Gruppe von Pfadfindern über das ehemalige Schlachtfeld wandert, die Ruinen der Forts und die bereits eingerichteten Gedenkstätten besucht. Seine Stimme, die den Jugendlichen von den 15 Jahre zurückliegenden Ereignissen an diesem Ort berichtet, ist zugleich die Stimme des Erzählers, der die als Rückblenden eingebauten Bilder aus der Schlacht kommentiert. Der Titel des Films, Verdun, souvenirs d’histoire, akzentuiert bereits, dass es in dieser Tonfassung um Erinnerungen geht. Das Wiedererwecken von Erinnerungen geschieht nicht allein durch Bilder, sondern wesentlich auch durch die Stimme des Veteranen. Im Unterschied zur chronologischen Präsentation der Ereignisse im Stummfilm findet so eine Verschränkung der Zeitebenen statt – der Erzählzeit in der Gegenwart des Jahres 1931 und der erzählten Zeit von 1916. Den vormals stummen Bildern wurde eine karge Tonspur unterlegt, die die Monotonie und Allgegenwart des Geschützlärms allenfalls zu suggerieren versucht. Stellenweise wurde auch Musik eingefügt. Besonders markant ist gleich zu Beginn die Verwendung des Trauermarschs von Chopin, des »Marche funÀbre«, der – ergänzt durch die Bildebene – das Opfer der französischen Soldaten unterstreicht und ihm eine emotional ergreifende Dimension verleiht. Auch dieser Film schlägt den Bogen zum November 1918: In der letzten Szene verkündet Glockengeläut das Ende des Krieges und symbolisiert die Hoffnung auf einen Neuanfang. Die zentrale Botschaft, dass die französischen Verdun-Kämpfer »La France« gerettet haben, teilte Verdun, souvenirs d’histoire mit dem Stummfilm von 1928. »La France« wurde nun jedoch, deutlicher als im Vorgänger, besonders durch junge Frauen und Mütter vertreten, also weiblich konnotiert.

öffentlicht (Länge: 91 Min.). Poiriers neue Version dürfte auch von kommerziellen Erwägungen motiviert gewesen sein.

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»Jasagen zu der Gewalt des soldatischen Heldentums«: Das Ringen um Verdun (1933) Zwei Jahre später, im September 1933, fand in Berlin die Premiere der deutschen Fassung von Verdun, souvenirs d’histoire unter dem Titel Das Ringen um Verdun statt.45 Die 1928/29 vorangetriebene Politik der deutsch-französischen Aussöhnung war zu diesem Zeitpunkt längst Geschichte: Aggressiv verfolgte die neue nationalsozialistische Regierung das Ziel einer auch gegen Frankreich gerichteten Revision des Versailler Vertrages und der Kriegsfolgen. Auch das öffentliche Gedenken an den Krieg wurde einer Revision unterzogen. Das äußerte sich unmittelbar darin, dass kurz nach Hitlers Machtantritt neben All Quiet on the Western Front auch noch andere bekannte Kriegsfilme verboten wurden, denen man »ein übertrieben realistisches, einseitiges, tendenziöses und fast defaitistisches Bild des Krieges« vorwarf. Durch sie werde der »Verteidigungswillen des Volkes untergraben, der Ertüchtigung der Jugend und der Wehrhaftmachung des Volkes entgegengewirkt und das nationale Empfinden weitester Volkskreise verletzt«. Mit dieser Begründung wurde Anfang März 1933 die Zulassung von Les croix de bois (F 1931) widerrufen.46 Der unter dem Titel Die hölzernen Kreuze ab September 1932 auch in Deutschland gezeigte Film nach dem gleichnamigen, 1919 auf Französisch und 1930 auf Deutsch erschienenen Roman von Roland DorgelÀs erzählte aus der Sicht eines einfachen »Poilu« vom Krieg an der Westfront; er wurde auch als französisches Pendant zu All Quiet on the Western Front und Westfront 1918 bezeichnet.47 Als Präzedenzfall erwies sich Die hölzernen Kreuze, weil mit direktem Bezug auf die zitierte Verbotsbegründung im April 1933 auch die Zulassung von Westfront 1918 und Die andere Seite (D 1931) widerrufen wurde.48 Dass die deutsche Version von Verdun, souvenirs d’histoire im Herbst 1933 in Deutschland laufen konnte, war vor diesem Hintergrund nicht ganz selbstverständlich und nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich: Zum einen wurde der Film erneut stark 45 Das Ringen um Verdun wurde am 16. 8. 1933 mit einer Länge von 2.179 Metern (80 Min.) jugendfrei zugelassen. Überliefert ist allerdings nur eine Kopie von 1.712 Metern Länge (62 Min.) im Bundesarchiv-Filmarchiv. Abrufbar unter dem (nicht korrekten) Titel Verdun, vision d’histoire auf http://www.europeanfilmgateway.eu (Stand: 10. 8. 2014). 46 Protokoll der Film-Oberprüfstelle unter Vorsitz von Ministerialrat Dr. Seeger betreffend Die hölzernen Kreuze, Nr. 6324 vom 2. 3. 1933, S. 8 (Bundesarchiv-Filmarchiv, Schriftgutsammlung). 47 Wie bei den früheren Weltkriegsfilmen zeichnete sich die deutsche Kritik durch sehr ambivalente Bewertungen aus. Beispielhaft dafür ist das von Herbert Ihering verwendete Paradox. Er schrieb von einem »Heroismus des Unheroischen« (Herbert Ihering: »Hölzerne Kreuze«. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 442 vom 21. 9. 1932). 48 Vgl. die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle, Nr. 6490 u. 6491 vom 27. 4. 1933, Bundesarchiv, R 1501/25684, Bl. 493ff. u. 497ff.

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überarbeitet und gekürzt; zum anderen trafen bei ihm aus Sicht der Zensurbehörde die gegen Die hölzernen Kreuze vorgebrachten Vorwürfe nicht zu. Verantwortlich für die deutsche Bearbeitung war Heinz Paul, der sich 1931 bereits mit seinem auch in Frankreich aufgeführten Film Douaumont als Verdun-Experte empfohlen hatte.49 In den frühen 1930er Jahren besaß Paul fast eine Art Monopol für Weltkriegsfilme, in denen sich fiktionale und nicht-fiktionale Elemente mischten. Zwar war im Frühjahr 1933 mit Die andere Seite auch einer seiner Filme verboten worden; die Fortsetzung seiner Regiekarriere im Dritten Reich behinderte das aber nicht. Folgt man den Besprechungen der deutschen Fassung in der weitgehend gleichgeschalteten Presse, so ging es in Das Ringen um Verdun speziell um die Heroisierung der deutschen Soldaten. Wichtig sei es vor allem, schrieb die Fachzeitung Der Film, dass die junge Generation den Film sehe, »um zu ermessen, was unsere Väter für Deutschland geleistet haben«: Sie gaben ihr Leben, auf daß wir leben können. Jeder, jeder, der nicht im Weltkrieg an der Front stand – und das gilt ganz besonders für die heutige Jugend – sollte sich dieses Bilddokument ansehen; er wird dann unsere Zeit besser verstehen können! Er wird dann den geforderten »Frontgeist« besser und schneller erfassen […].

Notwendig sei es, »die Erinnerung an unsere Kämpfer hoch und rein zu halten«. Außerdem gelte für die Jugend: »Wir werden das Erbe unserer Väter zu verteidigen wissen!«50 Zwar seien im Film das »Toben der Geschütze«, die »Verödung der Landschaft« und der »Tumult der Hölle« zu sehen und zu hören, so das Berliner Tageblatt, das in der Weimarer Republik ein Flaggschiff des demokratisch-liberalen Geistes war. Sinn erhielte all diese Zerstörung jedoch durch etwas neu Geschaffenes, durch das Lied des »opferschweren Heldentums« und durch »ein ehrliches Jasagen zu der Gewalt des soldatischen Heldentums, das diesseits und jenseits der Grenzen und überall seine Heimat hat«. Weiter heißt es: »Die Bilder könnten so alt sein und so weit zurückliegen wie der Krieg selbst: sie waren aber frisch genug, Eindruck, dankbare Bewunderung und erschütterndes Grauen zu wecken.«51 In Das Ringen um Verdun wurde die Rahmenhandlung des französischen Originals gestrichen; die Erzählung des Veteranen vor den Pfadfindern und der Besuch der Schlachtfelder und Gedenkstätten von 1931 fiel damit weg. An die 49 Douaumont lief in Frankreich in einer durch Charles de Rochefort bearbeiteten, französischen Synchronfassung unter dem Titel Douaumont vu par les allemands. Vgl. Ulrich J. Klaus: Jahrgang 1931. München: Klaus-Archiv 1989 (Deutsche Tonfilme, Bd. 2), S. 49 und Daniel: Guerre et cin¦ma (Anm. 8), S. 104. 50 Das Ringen um Verdun. In: Der Film 18 (16. 9. 1933) Nr. 38. 51 W. B.: »Das Ringen um Verdun«. In: Berliner Tageblatt, Nr. 436 vom 16. 9. 1933. Für ein negatives Urteil vgl. etwa O. A. P.: »Das Ringen um Verdun«. In: Vossische Zeitung, Nr. 444 vom 16. 9. 1933.

»Franzosen? Deutsche? Die Unterschiede verschwinden«

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Stelle des französischen Erzählers trat ein vom berühmten Schauspieler Theodor Loos gesprochener Vortrag, der den ansonsten chronologischen Ablauf des Films mehrfach unterbrach: ein Verfahren, das eine deutliche Historisierung des Geschehens bewirkt. Der Unterschied liegt darin, dass der Veteran im französischen Film seine Erzählung sowohl durch seine eigene Zeugenschaft und den Ort der Erzählung auf den Schlachtfeldern beglaubigt hatte, Loos’ Vortrag in Das Ringen um Verdun – der klar aus einer deutschen Perspektive heraus argumentiert – dagegen einem unpersönlichen Bericht gleicht. Dessen distanzierte Wortwahl wird freilich unterlaufen durch Loos’ ernsten Tonfall, der dem Ganzen eine tragische Bedeutung gibt. Am Schluss von Das Ringen um Verdun sehen wir – aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – eine Straße, auf der Truppen in geordneter Formation in die Bildtiefe abmarschieren, einem heller werdenden Himmel entgegen. Es wird suggeriert, dass es sich um die abmarschierenden Deutschen handelt. Dazu hören wir Loos’ Stimme: Blieb auch den deutschen Waffen durch eine Verquickung tragischer Umstände der Erfolg versagt, so ist doch stets der feldgraue, lehmverkrustete Kämpfer von Verdun ein leuchtendes Beispiel deutschen Heldenmutes, soldatischer Tüchtigkeit und selbstverständlicher Pflichterfüllung bis zum Tode.

Es folgen zum Schluss ein Trauermarsch und ein Blick ins Innere der Neuen Wache in Berlin, die 1931 zur Gedenkstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet worden war. Aus einer Erzählung, die dem Andenken an das Opfer der Franzosen für die Freiheit ihrer Heimat gewidmet war, wurde – glaubt man dem Fazit des Sprechers in Das Ringen um Verdun – eine Eloge auf den deutschen Soldaten, wobei der behauptete Heroismus, den die Bilder des Films so eindeutig nicht vermittelten, primär ein Produkt des Kommentars auf der Tonspur war. So sehr der Kommentarsprecher und die deutschen Kritiker das Heldentum der deutschen Soldaten betonten, so wenig lässt sich bestreiten, dass der Zuschauer damals und heute im Film mehr von den Franzosen als von den Deutschen sieht. Der Wegfall der Rahmenhandlung bewirkte zwar die Einengung des Blicks auf die Welt der Soldaten, jedoch nicht allein auf die der Deutschen. Während Werner Schmidt-Boelcke für die deutsche Fassung eine neue, sparsam eingesetzte Musik verfasste, fällt auf, dass die französischsprachigen Dialoge der Soldaten weitgehend unverändert blieben und lediglich untertitelt wurden; nur ausnahmsweise wurde deutsch nachsynchronisiert. Auch fällt auf, dass zwar auf den Einsatz französischer Kolonialtruppen hingewiesen wurde, aber nichts von den rassistischen Beschimpfungen verlautete, die für die nationalistische Publizistik charakteristisch waren.

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»Franzosen? Deutsche? Die Unterschiede verschwinden.« »Wir müssen den Franzosen dankbar sein. Denn sie suchen das menschlich Gute an den deutschen Soldaten hervorzukehren«, konstatierte Kurt Lenz 1928 nach der Pariser Premiere von Verdun, visions d’histoire und fuhr fort: »Ich denke an alle, die leiden werden«, sagt der deutsche Soldat beim Abschied von seiner Mutter. Und ganz ähnlich sagt der französische, als er fortzieht: »Ich werde mich ohne Haß schlagen«. – »Glücklich, wer aus der Hölle von Verdun zurückkommt!«, sagen sie beide. […] Man sollte diesen Film auch in Deutschland zeigen. Dann soll man ihn in den Kasten tun und in hundert Jahren wieder hervorholen, damit unser Wahnsinn noch nachträglich offenbar werde. Dann wird die Saat des Friedens aufgegangen sein, die der Sämann nach dem Waffenstillstand in den letzten Bildern des Films ausstreut.52

Es sind fast 100 Jahre seit der Schlacht von Verdun und 85 seit der Erstaufführung von Verdun, visions d’histoire vergangen. Die Saat des Friedens zwischen beiden Ländern ist aufgegangen, nachdem im Zweiten Weltkrieg noch mehr Blut von Deutschen vergossen wurde. Auch das gehört zur kurvenreichen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des Verdun-Films, den Hoffnungen und Enttäuschungen, Deutungen und Umdeutungen, die mit ihm verknüpft waren. Sprach die Originalfassung von 1928 mit ihren allegorischen Figuren noch die ganze französische Gesellschaft an, also die Soldaten und die Zivilisten, die Männer und die Frauen, so nahm die Tonfassung von 1931 diese Ansprache zurück, machte das Erzählen vom Krieg selbst zum Thema und baute eine Brücke zwischen der Generation der französischen Kriegsteilnehmer und den französischen Jugendlichen, die den Krieg nicht miterlebt hatten. Die deutschen Bearbeitungen des Verdun-Films schlossen sich gegenüber diesen zumindest rhetorischen Bemühungen um eine Kommunikation zwischen der Fronterfahrung und anderen Formen der Kriegserfahrung ab und ließen nur noch eine Kriegserfahrung gelten: die der Frontsoldaten. Selbst die deutsche Bearbeitung von 1933 verzichtete dabei auf allzu nationalistische Töne und führte stattdessen mithilfe einer in der Kriegsliteratur in dieser Form fast vollkommen abwesenden Doppelperspektive auf Angreifer und Verteidiger die Ähnlichkeit, wenn nicht gar Austauschbarkeit deutscher und französischer Fronterfahrungen vor Augen. Unter dem dick aufgetragenen Militarismus lässt sich die Idee einer grenzüberschreitenden Kameradschaft der Frontsoldaten erahnen. Und tatsächlich kam in mehreren Besprechungen zum Ausdruck, dass dies ein Film der Frontsoldaten beider Länder sei; die Differenz sei keine zwischen Deutschen und Franzosen, sondern zwischen Frontsoldaten auf der einen und Zivilisten und Etappe auf der anderen Seite. »Franzosen? 52 Kurt Lenz: »Verdun« (Anm. 29).

»Franzosen? Deutsche? Die Unterschiede verschwinden«

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Deutsche? Die Unterschiede verschwinden. Man sieht nur Frontsoldaten, Kämpfer. Angreifer und Verteidiger. Und aus den Angreifern werden bald Verteidiger.«53 Führt eine solche Beobachtung die Rhetorik der nationalen Sinnstiftung und Vereinnahmung nicht ad absurdum? Im Oktober 1934 nahm die Geschichte des Verdun-Films eine weitere Wendung. Von der nationalsozialistischen Filmzensur wurde Das Ringen um Verdun in einer erneut gekürzten 62-minütigen Schmalfilmversion für den Einsatz in Schulen und sonstigen Veranstaltungen außerhalb des Kinobetriebs zugelassen. Der Verdun-Film schien geeignet, um ihn gezielt vor Schülern vorzuführen, wie es 1933 schon empfohlen worden war.54 Allerdings stand bei solchen Vorführungen außerhalb des Kinobetriebs gewöhnlich keine Tonapparatur zur Verfügung, weshalb die Version von 1934 wiederum eine Stummfilm-Version war. Nachdem man gerade erst die enorme Bedeutung des Tonfilms im Bereich der Kriegsdarstellung kennengelernt hatte, machte man nun wieder eine Rolle rückwärts – und der Kriegslärm verstummte.

53 k. w.: »Das Ringen um Verdun«. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 434 vom 16. 9. 1933. 54 Auch schon 1933 war der Film in morgendlichen Kinovorführungen gezeigt worden. Vgl.: Schulvorstellungen »Das Ringen um Verdun«. In: Film-Kurier, Nr. 275 vom 23. 11. 1933.

Autorinnen und Autoren

Thomas Althaus, Prof. Dr. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen Fabian Beer, M.A. Doktorand in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Anna S. Brasch, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Christian Haller, Dr. Historiker, Publizist, freier Privatschullehrer und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter im Records Information Center Europe von AbbVie Deutschland GmbH, Ludwigshafen Alexander Honold, Prof. Dr. Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel Daniela Kalscheuer, Dr. Studienleiterin für das Referat Zeitgeschichte und Interkulturelles an der Katholischen Akademie Rabanus Maurus des Bistums Limburg Manuel Köppen, PD Dr. Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der HumboldtUniversität Berlin Christian Meierhofer, Dr. Akademischer Rat auf Zeit für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

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Autorinnen und Autoren

Sarah Monreal, M.A. Doktorandin in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dirk Rose, Jun.-Prof. Dr. Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf Thomas F. Schneider, PD Dr. Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück und Leiter des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums Matthias Schöning, PD Dr. Privatdozent und Akademischer Rat für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz Uwe Spörl, Dr. Senior Lecturer für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen Philipp Stiasny, Dr. Mitarbeiter der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und des Filmmuseums Potsdam, Redakteur der Zeitschrift Filmblatt und Vorstandsmitglied von CineGraph Babelsberg. Berlin-Brandenburgisches Centrum für Filmforschung e.V. Johannes Waßmer, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Jens Wörner, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn