Material und Design: Untersuchung zu einem materialorientierten Gestaltungsansatz 9783839445228

An analysis of different materials, their qualities and production methods as well as the processing options as a design

185 97 13MB

German Pages 210 [208] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
1. Einführung
2. Designtheoretischer Diskurs: Materialbewertung im 20. Jahrhundert
3. Erweiterte Materialbetrachtung
4. Interpretation der Materialeigenschaften weich und fest an Textilien und Schalenbauteilen
5. Riccio – Schalenkonstruktion aus textilverstärkter Keramik
6. Resümee
Verzeichnisse und Nachweise
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Material und Design: Untersuchung zu einem materialorientierten Gestaltungsansatz
 9783839445228

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Nico Reinhardt Material und Design

Design  | Band 42

Nico Reinhardt (Dipl.-Designer), geb. 1982, lebt und arbeitet als freischaffender Produktgestalter im Rhein-Main-Gebiet und lehrt als Dozent für Gestaltungsund Medientechnik an der Akademie für Kommunikation in Karlsruhe. Der Designwissenschaftler promovierte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main am Fachbereich Design und am Institut für Materialdesign IMD. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen den Einfluss von Materialien auf den Gestaltungsprozess im Produktdesign.

Nico Reinhardt

Material und Design Untersuchung zu einem materialorientierten Gestaltungsansatz

Ursprünglich Dissertation an der Hochschule für Gestaltung Offenbach im Fachbereich Design sowie am Institut für Materialdesign (IMD). Das Promotionsprojekt umschließt auch einen praktischen Teil, bestehend aus diversen Material-Formstudien, der Materialüberprüfung der textilarmierten Keramik an der FH Frankfurt, Workshops und Ausstellungen. Die Ergebnisse wurden in einer eigenen Dokumentation zusammengetragen und sind in der Bibliothek der HfG einsehbar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Nico Reinhardt, Offenbach am Main, 2015 Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4522-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4522-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einführung | 07 1.1 Aufbau | 10 1.2 Materialbefragung anhand der phänomenologischen und hermeneutischen Methode | 14 2.

Designtheoretischer Diskurs: Materialbewertung im 20. Jahrhundert | 21

2.1 Ideologie und Debatte um ‚Materialgerechtigkeit‘ | 25 2.2 Semantische Materialbewertung | 35 2.3 Designhistorische Betrachtung: Gestaltung aus dem Material heraus | 37 2.4 Hinterfragung von Herstellungsprozessen zur Erschließung von Gestaltungsinformationen | 40 2.5 Gestalterische Auseinandersetzung mit weichen und synthetischen Materialien | 43 2.6 Weiche und feste Materialien im Gestaltungsprozess | 50 2.6.1 Material-Form-Versuche | 51 2.6.2 Exkurs: Materialuntersuchungen am Institut für leichte Flächentragwerke (IL) | 53 2.6.3 Bedeutung der Material-Form-Modelle als Kommunikationsmedien | 55 2.7 Zusammenfassung | 58 Erweiterte Materialbetrachtung | 59 3.1 Materialien als gestaltete Produkte | 62 3.2 Materialien im digitalen Zeitalter | 64 3.2.1 Virtuelle Formgenerierung als quasi ‚weiche‘ Materialien | 66 3.2.2 Virtuelle Formgenerierung auf der Basis ‚realer‘ Materialeigenschaften | 71 3.3 Betrachtung von Materialien in Produktgestaltung und Designforschung | 76 3.4 Fallbeispiel: Automobilinterieur | 78 3.4.1 Fahrzeuginterieur als haptischer Erfahrungsraum | 79 3.4.2 Materialien als designstrategische Differenzierungsmerkmale | 80 3.4.3 Inszenierung weicher Materialeigenschaften | 82 3.4.4 Inszenierung fester Materialeigenschaften | 85 3.

3.4.5 Zusammenfassung | 90 3.5 Fallbeispiel: Materialinterpretation als Initiator eines Gestaltungsprozesses | 91 3.5.1 Wachsendes Weidenholz im produktgestalterischen Kontext | 92 3.5.2 Weidenholz als biegefähige Stabkonstruktion im architektonischen Kontext | 94 3.5.3 Zusammenfassung | 99 4.

Interpretation der Materialeigenschaften weich und fest an Textilien und Schalenbauteilen | 101

Einstieg in die Materialinterpretation | 103 Elastische Textilflächen | 106 Spezifisches Formverhalten von Maschenwaren | 108 Verbundwerkstoff und Verformung | 109 Formstudien mit elastischem Textilschlauch | 111 Digitalisierung und Simulation elastischer Textileigenschaften | 118 Überprüfung der interpretatorischen Gestaltungsinformationen anhand eines Modells aus individualisierten textilen Schalenbauteilen | 123 4.8 Interpretation eines Materialprototyps | 127 4.9 Materialprototyp als weiterführende Diskussionsgrundlage | 131

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

5.

Riccio – Schalenkonstruktion aus textilverstärkter Keramik | 139

5.1 Abstandsgewirke als Formträger und textile Armierung | 140 5.2 Chemically Bonded Phosphate Ceramic (CBPC) | 145 5.3 Evaluierung der Technik für die Textilinfiltrierung und Modifikation der Phosphatkeramik | 150 5.4 Textilinfiltrierungsversuch | 156 5.5 Analoge und digitale Synthese | 160 5.6 Konkretisierung am Beispiel der Schalenkonstruktion Riccio | 166 5.7 Materialisierung | 176 5.8 Kritische Bemerkungen und Anregungen zur Materialisierung | 177 6. Resümee | 185 6.1 Ausblick: Experimentelle Materialgestaltung | 188 Verzeichnisse und Nachweise

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Einführung

Die vorliegende Dissertation ist ein Beitrag zur praxisorientierten Designwissenschaft, indem das Entwurfsvorhaben in der Produktgestaltung ausgehend von Materialien und deren Eigenschaften betrachtet wird. Im Speziellen geht es um das Eigenschaftspaar weich und fest. Dazu wird im Folgenden ein Ansatz zu einem ‚materialorientierten‘ Gestaltungsprozess designhistorisch wie -theoretisch untersucht und beschrieben, um schließlich die Entwicklung eines neuartigen Verbundwerkstoffes aus einer textilarmierten Keramik aufzuzeigen. Hierzu wird folgende These aufgestellt: Eine gestalterische Materialauseinandersetzung, in der die Materialeigenschaften über abstrakte Material-Form-Zusammenhänge befragt werden, kann zu gestaltungsrelevanten Erkenntnissen für den Produktgestaltungsprozess führen. Ausgehend von materialbasierten Studien lassen sich anwendungsbezogene Material- und Produktszenarien bilden. Im konkreten Fall führen die Gestaltungsstudien von weichen Textilien und selbsthärtenden Flüssigkeiten zu einem Faserverbundwerkstoff und darüber hinaus zu einer Gestaltungsstrategie für die Materialisierung großformatiger Schalenelemente. Man kann sagen, dass sich Werkstoffe wie Gebrauchsgegenstände durch den Gestalter produktsprachlich1 erschließen lassen, zumal heutzutage Materialien

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Als ‚Offenbacher Ansatz‘ deklariert entwickelte man in den 1980er Jahren am Fachbereich Produktgestaltung der HfG Offenbach die ‚Theorie der Produktsprache‘. Dieser Schritt war nötig geworden, da sich die Gestaltungsaufgaben und damit der Gestaltungsweg neu zu orientieren begannen, was eine erweiterte Artikulationsstrategie erforderte. Nachdem die Funktionalismus-Idee und die Rationalisierungsprozesse (HfG Ulm) im Bereich der Produktentwicklung an gesellschaftlich akzeptierte Grenzen gestoßen waren, führt Dagmar Steffen über die geisteswissenschaftlich designtheoretische Neuausrichtung aus, dass „an der HfG-Offenbach ein disziplinärer, geisteswissenschaftlich orientierter Ansatz zur Design-Theorie entwickelt [werden musste]; disziplinär, weil gerade auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Produktentwick-

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selbst als gestaltete Produkte mit praktischen und sinnlichen Funktionen vorausgesetzt werden können. In diesem Zusammenhang verweist Markus Holzbach2 darauf, dass „gestaltete Materialien mit sensitiven, smarten oder graduell variierenden Eigenschaften […] zu neuen, vielschichtigen und unterschiedlichen Gestaltungskonzeptionen mit häufig variierenden Eigenschaften oder nebeneinander vorliegenden Potenzialen“ führen, wenn man den Werkstoffen mit einer gestalterisch offenen „Experimentierfreude“ begegnet. Hierzu bietet sich eine interpretatorische Herangehensweise an das Materialthema an, indem man den ausgewählten Untersuchungsgegenstand hinsichtlich seiner Eigenschaften und im Kontext seiner Herstellung, Verwendung und des kreativen Gebrauchs betrachtet. Letzeres zielt darauf ab, die Materialien in praktischen Versuchen umzuinterpretieren, wobei digitale wie analoge Entwurfsmethoden gleichermaßen beteiligt sind, um somit an gestaltungsrelevante Informationen für die Produktgestaltung zu gelangen. Das beinhaltet auch die Möglichkeit einer Weitergestaltung der untersuchten Materialien und deren Kontexte. Jene materialbedingten Informationen, so die Annahme, bleiben einem Entwurfsvorhaben verborgen, das sich nur mit den Gebrauchsdingen unserer ‚Warenwelt‘ auseinandersetzt. Die folgenden Materialbefragungen3 sind daher als designspezifische Interpretationsmethode zu verstehen und sollen dabei behilflich sein, die Artikulationssicherheit über den zu gestaltenden Gegenstand und den beteiligten Protagonisten in einem Entwurfsprozess zu schärfen. Darüber hinaus verweist Holzbach darauf, dass eine erneute „Sensibilisierung für Materialien, Strukturen und Oberflächen sowie deren Übertragung in lungsprozess profilierte Disziplinen voraussetzten, die über spezifisches, artikulierbares Fachwissen verfügen; und geisteswissenschaftlich, da es sich beim Erkenntnisgegenstand von Design-Theorie – nämlich die Produktsprache bzw. das Zusammenwirken von gestalterischen Mitteln und ihrer Bedeutung – […] (handelt).“ Siehe hierzu: Steffen, Dagmar: Design als Produktsprache. Der „Offenbacher Ansatz“ in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main: Verlag Form 2000. S. 9. 2

Holzbach, Markus: Material Gestaltet. In: Material Grove. Von traditionellen Materialien zu zukunftsorientierten Materialentwicklungen. Hrsg. v. Präsident der Hochschule für Gestaltung. Offenbach am Main: 2014. S. 24.

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Die Materialbefragung meint hier einen hermeneutisch hergeleiteten Verstehensprozess zur Generierung von Gestaltungsinformationen, die auf spezifischen Kennwerten eines Werkstoffs oder einer Werkstoffkombination beruhen und die unter der Berücksichtigung des Herstellungs- und Anwendungskontextes aus dem Untersuchungsgegenstand herausgelesen werden. Darüber hinaus soll dieser Ansatz dazu beitragen, komplexe Gestaltungsvorhaben auf der Grundlage einer gestalterisch geprägten Materialuntersuchung zu verbalisieren.

Einführung | 9

unkonventionelle konzeptionelle und kontextuelle Gestaltungskonzepte und Anwendungen [zu einer] Sensibilisierung für die Wechselwirkung zwischen Mensch und Objekt sowie Mensch und Raum“ beiträgt.4 Die gestalterische Hinterfragung eines Materials oder einer Materialkombination zielt besonders darauf ab, ‚Materialprototypen‘5 zu realisieren, um beispielsweise abstrakt technische Materialkennwerte in sinnliche Erfahrungen zu übersetzen und somit für die Gestaltung potentieller Gebrauchsgenstände nutzbar zu machen. Damit rücken der Gebrauch und die Umnutzung von Materialien als grundlegende Gestaltungsmittel in den Fokus der Untersuchung. Deswegen wird auch im Folgenden von einem ‚materialorientierten Gestaltungsprozess‘6 gesprochen, der einen praxisorientierten sowie theoretischen Gestaltungsansatz designwissenschaftlich zu verorten versucht. Der Ansatz ‚Theorie der Produktsprache‘7, der dazu dient, sich den Gegenständen mit ihren variablen Bedeutungen anzunähern, soll durch die Materialbefragung eine ‚materialorientierte‘ Erweiterung erfahren. Auch die Tendenz einer zunehmenden Spezialisierung des Gestalters stützt diesen Ansatz, weil sich das

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Holzbach, Markus: Material Denken. Materialität und (ihre) Gestaltung. In: Über Form und Struktur. Geometrie in Gestaltungsprozessen. Hrsg. v. Cornelie Leopold. Wiesbaden: Springer 2014. S. 69.

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Materialprototyp ist ein Begriff, der die Ergebnisse des materialorientierten Gestaltungsprozesses bezeichnet und meint dreidimensionale, physische Skizzen, die als Kommunikator-Ding das menschliche Sinnessystem ansprechen und somit disziplinübergreifend gelesen werden können.

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Mit der Forderung nach einem ‚materialorientierten Gestaltungsprozess‘ wird eine Gegenposition zum ‚produktorientierten Gestaltungsprozess‘ eingenommen. Letzterer, so zeigen es Erfahrungen als dienstleistender Designer, bestimmt die Gestaltungstätigkeit, die sich an einem wirtschaftlich ausgerichteten Markt orientiert. Kurz gesagt, ist es die primäre Aufgabe eines Gestalters, sich an der vorhandenen Warenwelt, an gestalteten Produkten wie Konsumgütern, zu orientieren, um aus der Fülle der konkreten Gegenstände neuere Varianten zu gestalten. Dieser etablierten Herangehensweise, die auch an den Ausbildungseinrichtungen gelehrt und trainiert wird, setzt diese Arbeit eine weitere, nämlich die vom Material ausgehende Position entgegen.

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Wurde beim ‚Offenbacher Ansatz‘ noch von der ‚Theorie der Produktsprache‘ gesprochen, so ersetzt Thilo Schwer in seiner Dissertation den Singular durch die Pluralform ‚Produktsprachen‘ und verweist damit auf eine erweiterte Ausdifferenzierung der Designtheorie. Schwer, Thilo: Produktsprachen. Design zwischen Unikat und Industrieprodukt. Bielefeld: transcript-Verlag 2014.

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‚Thema Material‘8 anbietet, um es erneut als konkrete Untersuchungsgrundlage im Entwurfsprozess der Gestaltungsdisziplinen zu hinterfragen und in Bezug auf Digitalisierung bzw. auf Materialisierung zu diskutieren. In diesem Zusammenhang ist die gestalterische Auseinandersetzung mit den Prozessen und den Produkten der materialerzeugenden Disziplinen als gestaltungsstrategisches Mittel für den Entwurfsprozess zu verstehen. An diesem Punkt anknüpfend werden zwei Verfahren der Materialauseinandersetzung im Gestaltungskontext aufgezeigt: • Von der Interpretation weicher und fester Materialeigenschaften im Produkt-

design • zur Erarbeitung eines materialorientierten Entwurfsprozesses anhand eines textilarmierten keramischen Verbundwerkstoffes.

1.1 AUFBAU Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer designhistorischen und -theoretischen Annäherung an einen Materialbegriff und an Formen der Materialbewertung im Übergang vom Industrie- zum Kommunikationszeitalter, um zu zeigen, dass Veränderungen in der Materialbedeutung Folgen für den Entwurfsprozess haben. Daran anschließend wird auf momentane Strömungen in der Produktgestaltung eingegangen, bei denen ‚forschende Gestalter‘ Entwurfsprozesse initiieren, die erneut von den Werkstoffen, deren Eigenschaften, Verarbeitungsmöglichkeiten und Bedeutungen ausgehen. Mit einem besonderen Blick auf die Materialität zeigt sich in der Designgeschichte, dass von Produkten eine nachhaltige Wirkung durch ihre Funktion, Form und Ästhetik ausgeht, wenn der Gestaltungsprozess durch die Auseinandersetzung mit Materialien, wie Stahl, Glas, Holz, Beton, Kunststoff und den jeweiligen Bearbeitungsverfahren geprägt ist. Auch wenn der Begriff „Materialgerechtigkeit“, auf den im zweiten Kapitel eingegangen wird, für Gestaltungsvorhaben als überwunden gilt, liefern natürliche und synthetische Materialien wegen ihrer teils komplexen Eigenschaften weiterhin primäre Voraussetzungen, erneut über einen ‚materialinitiierten‘ Gestaltungsprozess nachzudenken, denn heute erhalten die Materialien „ihre Informationen und Bestimmungen über den

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Zu dieser Material-Debatte für den Gestaltungsprozess siehe hierzu die gleichnamige Publikation der Architekten Pahl, Katja-Annika und Weber, Ralf: Thema Material. Dresden: TUD press 2008.

Einführung | 11

Herstellungs- und Formprozess.“9 Das heißt, man muss den Materialisierungsprozess nicht nur stärker in Betracht ziehen, sondern kann diesen auch gestalterisch interpretieren. Im Unterschied zur ideologischen Auslegung des Materials als erzieherisches Artikulationsmittel und kategorischem Grundbestand der Formgebung bei der Entscheidungsfindung im Entwurfsprozess plädiert diese Arbeit für eine heterogene und offene Materialbetrachtung.10 Vielmehr geht es darum, eine Umgebung bereitzustellen, wie es beispielsweise am Institut für Materialdesign (IMD)11 an der HfG Offenbach versucht wird, um im experimentellen Umgang Materialien bewusst auf gewollte oder zufällig eintretende Materialphänomene untersuchen zu können, um mit den Materialprototypen das menschliche Sinnessystem anzusprechen, nachhaltig zu beeinflussen oder auch zu provozieren und schließlich in Anwendungsszenarien zu erproben. Man kann daher von einem dialogischen Entschlüsselungsprozess der Materialeigenschaften sprechen, dem der Gestalter mit seinem Sinnessystem entgegenfühlt und ihn mit Hilfe von Entwurfstechniken in materialisierte Sinnesreize umformt. Anhand der Grafik (Abbildung 1) zeigen Hegger, Drexler und Zeumer drei Möglichkeiten, in eine gestalterische Materialuntersuchung einzusteigen: • die Materialwahrnehmung, • kontextbedingte Materialanforderungen 12 • und die technischen Materialeigenschaften.

Es wird darauf verwiesen, dass sich aus „wahrnehmungsorientierten [Material-] Leistungen, die den Entwurfsprozess leiten, nutzungsbezogene, ökologische, ökonomische und technische Leistungen“ ergeben.13 Weiter heißt es: „Von einem Architekten [wie auch Designer] erwartet man nicht, dass er alle [technischen Material-] Eigenschaften bis ins Detail kennt, wohl aber das Wissen 9

Holzbach, Markus: Fragen an Markus Holzbach. HfG Offenbach. In: Material Grove. Von traditionellen Materialien zu zukunftsorientierten Materialentwicklungen. Hrsg. v. Präsident der Hochschule für Gestaltung. Offenbach am Main: 2014. S. 16.

10 Gemeint sind hier Materialbewertungstendenzen in der Industrialisierungsphase des frühen 20. Jhs. am Beispiel des Deutschen Werkbunds. 11 Seit April 2015 besteht das Institut für Materialdesign (IMD) unter der Leitung von Prof. Dr. Markus Holzbach. Es erweitert das Lehrgebiet ‚Visualisierung und Materialisierung‘ um das Materialthema. 12 Hegger, Manfred, Drexler, Hans u. Zeumer, Martin: Grundlagen für die Materialwahl. In: Basics Materialität. Hrsg. v. Bert Bielefeld. Basel: Birkhäuser 2007. S. 11. 13 Ebd. S. 12.

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um Zusammenhänge und Folgen. Er [, der Gestalter,] führt in Kenntnis der Leistungen von Materialien innerhalb eines Entwurfes und in der späteren Ausführung alle Betrachtungen des Materials zusammen.“14 Dieser Forderung einer ganzheitlichen Materialbetrachtung geht die vorliegende Arbeit nach. Abbildung 1: Leistungen von Materialien

Da es nicht zielführend ist, alle Materialien in diese Untersuchung einzubeziehen, wird ein Filter vorgenommen (Abbildung 2). Nach Axel Schönbucher15 unterscheidet man prinzipiell vier Hauptwerkstoffgruppen aufgrund ihrer typischen Eigenschaftsprofile: • Metalle (hohe elektrische Leitfähigkeit, d.h. gute elektrische Leiter, hohes Ref-

lexionsvermögen für Licht, plastisch verformbar, auch bei tiefen Temperaturen, chemisch häufig nicht sehr beständig) • Keramische Stoffe (geringe elektrische Leitfähigkeit, d.h. schlechte elektrische Leiter, häufig lichtdurchlässig [durchsichtig], plastisch nicht verformbar [Druckfestigkeit], chemisch sehr beständig, hohe Schmelzpunkte)

14 Ebd. 15 Eine ausführliche Einführung in die Klassifizierung von Werkstoffen findet sich in Axel Schönbuchers Werkstoffkunde (Vorlesung Technische Chemie am Lehrstuhl für Technische Chemie I, Universität Essen). S. 6 f. Das Gesamtmanuskript ist als PDF online abrufbar unter: https://www.uni-due.de/tchem/as/skripte/Werkstoffe.pdf, Abrufdatum: 05.05.2015.

Einführung | 13

• Kunststoffe (Polymere) (geringe elektrische Leitfähigkeit, d.h. schlechte elekt-

rische Leiter bzw. Isolatoren, spröde bei tiefen Temperaturen; plastisch verformbar bei erhöhter Temperatur, chemisch beständig [an Luft, bei Raumtemperatur] geringe Dichte, relativ niedrige Schmelz- oder Zersetzungstemperaturen bzw. -temperaturbereiche) • Verbundwerkstoffe (entstehen durch Kombination von jeweils mindestens zwei Werkstoffen mit unterschiedlichen Eigenschaften aus verschiedenen Werkstoffgruppen oder der gleichen Gruppe, Verbundwerkstoffe haben neue Eigenschaften, welche die der ursprünglichen Werkstoffe übertreffen). Abbildung 2: Die drei großen Werkstoffgruppen sowie die Verbundwerkstoffe als vierte Gruppe; M: Metalle (metallische Bindung), K: Keramik (kovalente Bindung), P: Polymere bzw. Kunststoffe (Makromoleküle), V: Verbunde bzw. Verbundwerkstoffe

Der Untersuchungsgegenstand, der dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, ist der Materialgruppe der Verbundwerkstoffe zugeordnet. Daran wird die entgegengesetzte Eigenschaftspaarung ‚weich (formbar) und fest (tragfähig)‘ gestalterisch interpretiert. Aus der Sichtweise einer praxisorientierten Designforschung, die einen materialorientierten Gestaltungsprozess für die Produktgestaltung untersucht, sind ‚weich – fest‘ nicht nur als materialcharakterisierende Begrifflichkeiten zu verstehen, sondern auch als Begriffspaar, mit dem sich das Vorgehen in der Produktgestaltung als ebensolcher Prozess umschreiben lässt: Der Gestaltungsprozess selbst findet zwischen den Polen ‚weich‘ und ‚fest‘ statt. Schließlich wird im dritten Teil der Arbeit die Entwicklung eines neuartigen keramisch-textilen Kompositmaterials für großformatige Keramikschalen aufgezeigt und im Speziellen, wie durch die Interpretation der abstrakten Materialpa-

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rameter weich und fest gestaltungsrelevante Entscheidungen für die Ausführung der begehbaren Schalenkonstruktion ‚Riccio‘ herbeigeführt werden. Mit der Untersuchung des neuartigen Faserverbundwerkstoffes aus dem technischen Textil ‚Abstandsgewirke‘ und einer chemisch abbindenden Keramik erfährt die interpretatorische Materialbefragung eine Konkretisierung und eröffnet zugleich einen Diskurs möglicher Anwendungen, die über singuläre Einsatzszenarien des Textils oder der Keramik hinausreichen. Folglich erscheint die begehbare Raumstudie nun nicht mehr als der Versuch einer Objektgestaltung, sondern als ein ganzheitliches Entwurfsdenken, das auch die Gestaltung der neuartigen Materialkombination einbezieht, den Materialisierungsprozess mit definiert und die Ergebnisse in Form von Materialprototypen nutzt, um Gestaltungsideen innerhalb einer interdisziplinär aufgestellten Entwicklergruppe durchzusetzen. Um so wichtiger ist es, in diesem Zusammenhang nochmals darauf zu verweisen, dass das Demonstrationsobjekt wiederum nur eine Momentaufnahme des materialorientierten Gestaltungsprozesses darstellt, denn aufgrund der ganzheitlichen Reflexion des Werdeganges öffnet sich über die Konkretisierung des einen Objektes ein Potential weiterer Anwendungen. Diese lassen sich beispielsweise im architektonischen Sinne als tragfähige Schale oder Fassadenelement genauso weiterentwickeln wie als Strukturbauteil in sensiblen Anwendungsfeldern mit extremen Belastungen, wie sie in einem Flugzeug, Schiff oder Zug vorliegen. In gleichem Maß ließe sich die textilverstärkte Keramikschale auch als hitzebeständige Hülle für die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen weiterdenken oder für Anwendungen im Transportation Design und Industriedesign nutzen.

1.2 MATERIALBEFRAGUNG ANHAND DER PHÄNOMENOLOGISCHEN UND HERMENEUTISCHEN METHODE In der vorliegenden Arbeit werden die phänomenologische und die hermeneutische Methode wechselseitig angewendet, um Materialien zu interpretieren und als Grundlage gestalterischen Handelns in der Produktgestaltung zu deuten. Hierbei entspricht die ‚Materialbefragung‘ einem dialogischen Vorgehen, bei dem der Gestalter die Materialeigenarten als Beobachter erfasst und gleichzeitig als Akteur agiert, indem jene Materialwirkungen manipuliert und in andere Kontexte übertragen werden: Dem ‚Be-Fragen‘ folgt ein ‚Be-Handeln‘ und umgekehrt.

Einführung | 15

Dagmar Steffen16 verweist in ihrer Betrachtung der Produktgestaltung, indem sie die Produktsprache von Gebrauchsgegenständen untersucht, auf drei Methoden: • die hermeneutische, • die historische • und die phänomenologische Methode.

Die hermeneutische Methode, die ursprünglich zur Auslegung (Deutung) und Übersetzung griechischer und lateinischer Texte angewendet wurde, ist eine geisteswissenschaftliche Methode und eignet sich nach Steffen zum „Verstehen und Interpretieren von Zeichen beziehungsweise sprachlichen oder nichtsprachlichen Bedeutungsträgern“17. Steffen betont, dass die hermeneutische Interpretation sich nicht auf die Wahrnehmung und Interpretation eines einzelnen Zeichens (Einzelobjekt) beschränkt, sondern auf die Betrachtung des Untersuchungsgegenstands möglichst als Ganzes in den jeweiligen Kontext eingebettet, und sie bezieht so das persönliche Vorwissen in die Betrachtung ein; sie schreibt weiter, dass: „[…]man sich bei der Interpretation also ständig zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen [wie in einer Spirale] hin und her bewegt, spontane Assoziationen in einen übergeordneten, rationalen Zusammenhang einordnen, hinsichtlich ihres Sinnes prüfen, verwerfen, modifizieren und vertiefen muss […].“18

Dagegen ziele die phänomenologische Methode darauf, das Gegebene an sich zu beschreiben, indem man eine objektivistische Haltung bezieht, das eigene theoretische Vorwissen sowie fremde Lehrmeinungen ausblendet.19 Bernhard E. Bürdek20 konstatiert, dass „jede phänomenologische Aussage […] nur im Rahmen eines bestimmten, räumlich und zeitlich begrenzten historischen Horizonts Gültigkeit besitzt. [Es wird] der gesamte Horizont eines Produktes untersucht und beschrieben.“ Dabei bestehe die Schwierigkeit darin, um noch einmal Steffen zu zitieren, den „Hang zur Assoziationsbildung auszuschalten und [sich] auf das reine Schauen des Gegebenen zu beschränken“21. Wie es von Jens Soentgen 16 Steffen, D.: Design als Produktsprache. S. 22ff. 17 Ebd. S. 24. 18 Ebd. S. 25. 19 Ebd. S. 29. 20 Bürdek, Bernhard E.: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. 3. Auflage. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2005. S. 240. 21 Steffen, D.: Design als Produktsprache. S. 29.

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dargelegt wird, gerät man in die „Situation, die ein Gegenstand selbst mitbringt […], [um] ihn von dort aus zu studieren [und] das Erscheinende in seiner eigenen Situation zu betrachten, in der Situation, die für es typisch ist“ 22. Soentgen verweist auf eine bewusste Veränderung der ‚Sehweise‘ auf die Dinge, um die Stofflichkeit dahinter wahrzunehmen, und so führt er aus: „Man blickt dann nicht frontal, sondern seitlich, und möglichst im gebündelten Streiflicht, wie es zum Beispiel morgens oder abends in unsere Räume hereinscheint, nicht im diffusen Licht eines etwas diesigen Mittags, das die Dinge perfekt in Szene setzt. Dem seitlichen Blick und dem Streiflicht erschließen sich die Mikrostrukturen, welche für Stoffe typisch sind, oft auch dann noch, wenn der Stoff selbst zum Beispiel unter Farbschichten verborgen ist. Noch müheloser können wir Stoffe wahrnehmen, wenn wir unsere Augen schließen und uns auf die Wahrnehmung unserer Finger […] verlassen.“23

Diese bewusst manipulierte Wahrnehmungsweise der Alltagsdinge soll auch auf Halbzeuge und Materialien übertragen werden, um weiterführende Gestaltungsinformationen freizulegen. Prinzipiell betrachtet diese Arbeit Materialien als industriell erzeugte Produkte und Halbzeuge, die Ergebnisse eines vorangestellten Kreativprozesses sind. Auch wenn dieser Entwicklungsprozess auf Seiten der Materialwissenschaft stattfindet, kann man sagen, dass jede Materialerzeugung ein Gestaltungsprozess ist, da einem Stoffgemisch spezifische Eigenschaften, eine Form und kontextbedingte Informationen auferlegt werden. Im Gegensatz zur Materialwissenschaft, deren Rolle darin besteht, Materialien zu konstruieren, ihnen Eigenschaften einzuschreiben und diese zu berechnen, ist es aus der Sicht einer praxisorientierten Designwissenschaft möglich, zum einen decodierend auf die Materialinformationen einzugehen, indem man die eingeschriebenen Materialeigenschaften interpretatorisch auf ihre Gestaltungsrelevanz überprüft, und zum anderen neu codiert, indem das Material oder Verbundmaterial samt der Erzeugungswie Verarbeitungsprozeduren in einen weiterführenden Kontext gesetzt werden. Durch die gleichzeitige Anwendung einer phänomenologischen sowie hermeneutischen Interpretation lässt sich eine Transformation vornehmen, so die An22 Soentgen, Jens: Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden. Berlin: Akademie Verlag 1997. S. 26. (Als PDF online abrufbar unter: http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/ frontdoor/index/index /docId/1585, Abrufdatum: 23.03.2013). 23 Ders.: Stoffe und Dinge. Universität Augsburg: 2011. S. 3f. (Als PDF online abrufbar unter https://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4 /frontdoor/index/index/docId/154, Abrufdatum: 01.08.2012).

Einführung | 17

nahme, um abstrakte Materialeigenschaften in kontextabhängige und erlebbare Demonstrationsobjekte zu überführen. Holzbach weist darauf hin, dass Materialien auch „sensitive Qualitäten [enthalten], die man theoretisch nur schwer beschreiben kann. [Doch im] Erkennen dieser spezifischen Materialqualitäten – jenseits gegebener Werkstoffkenngrößen wie Zugfestigkeit, untere Streckgrenze oder Elastizitätsmodul – liegt ein großes [Gestaltungs-]Potenzial […].“24 Durch das Intensivieren oder Kontrastieren der sensitiven Materialqualitäten in Materialprototypen wird der Gegenstand nicht nur funktional, ästhetisch und formal untersucht, sondern auch mit kommunikativen Eigenschaften aufgeladen, sodass der Dialog mit Materialientwicklern und -verarbeitern verbessert und darüber hinaus ein Einfluss des Gestalters auf die Materialgestaltung und -verarbeitung ermöglicht wird. Es befähigt den Gestalter, weiterführende Anwendungsbereiche für den Untersuchungsgegenstand im Voraus zu entwickeln und diese beispielsweise einem materialherstellenden Unternehmen durch erlebbare Prototypen und Szenarien aufzuzeigen. Damit zeichnet sich auch eine Ausrichtung für die ‚Methode der Materialbefragung‘ ab, denn, wenn der Gestalter sich für das Thema Material sensibilisiert, sollte es in seinem Interesse liegen, eine materialspezifische Sprachlichkeit zu entwickeln, die in beide Richtungen zielt: • Zum einen in die Richtung der Materialerzeugung, damit zur Quelle, • und zum anderen in die Richtung der Produktgestaltung, damit zur Anwen-

dung. Ferner wird davon ausgegangen, dass alte wie neue Materialien, ob natürlich oder künstlich, bereits von Nutzern (Gestaltern) mit Bedeutungen aufgeladen werden, also vergleichbar mit Gegenständen sind, die über ihren Gebrauch Bedeutungen zugeschrieben bekommen. So zeigt sich am Beispiel des textilen Halbzeugs Abstandsgewirke, das unter anderem als Untersuchungsgegenstand in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, dass bereits die rohe Textilfläche mit funktionalen und ästhetischen Bedeutungen aufgeladen ist, so als sei sie ein Gebrauchsgegenstand, wie ein Zelt oder ein Kleidungsstück. Die Bedeutungszuweisung selbst resultiert aus dem Gebrauch und der Nutzung des textilen Gegenstands durch Akteure. In diesem Fall ist es der ‚forschende Gestalter‘ und sein produktspezifisches Vorwissen, eben dann, wenn eine Textilfläche noch keine finale Gebrauchsform im Sinne eines Gebrauchsgegenstands besitzt. Dennoch kann man sagen, dass bereits in einer Textilfläche die scheinbare Funktion einer zeltartigen Hülle oder einer bekleidenden Haut 24 Holzbach, M.: Fragen an Markus Holzbach. S. 14f.

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vorab angelegt ist, insofern die Vorstellungen diverser Gebrauchsgegenstände bereits als abgespeichertes Bild im Gedächtnis des Gestalters vorhanden sind. Diese Bilder werden beim Untersuchen des textilen Halbzeugs auf jene projiziert. Man kann davon ausgehen, dass der Gestalter aufgrund seiner berufsbedingten Qualifikation und seinen Erfahrungen in der Lage ist, aus einem Textil, das aus einem bestehenden Kontext entlehnt wird und in einen anderen transferiert wird, vorab mögliche Gebrauchsgegenstände assoziativ abzuleiten. Dieser materialorientierte Interpretationsakt folgt einem hermeneutischen Vorgehen. In diesen Abwägungsprozessen werden immer auch Gedanken auf die ‚Begehrnisse‘25 potentieller Nutzer gerichtet, denn es ist ein untrennbarer Teil des Gestaltungsprozesses, den Nutzer in die Überlegungen zur Produktgestaltung einzubeziehen. Auch wenn sich der Gestalter in der Durchführung seiner kreativen Tätigkeit näher an der Materialentwicklung positioniert, damit vielleicht erst einmal unkonkreter oder abstrakter in Hinblick auf die Produktgestaltung agiert, so verliert er dennoch nicht das Gespür für die Begehrlichkeiten sowie Bedürfnisse potentieller Nutzergruppen. Man kann eine Textilfläche auch auf der Grundlage von abstrakten phänomenologischen Hintergrundbildern betrachten, so wie die der weichen Eigenschaften, um sich davon anregen zu lassen, Textilien als leicht zu verformende Medien zu begreifen, die sich zusammenfalten, knittern und aufspannen lassen. Es dominiert die Materialeigenschaft weich und damit wird der Handlungsbedarf des ‚in-eine-Form-Bringens‘ und Umhüllens prädestiniert. Bei der ‚Befragung‘ des textilen Untersuchungsgegenstands nimmt der Gestalter zwei Rollen ein, die eines Beobachters und die eines Akteurs, um den Untersuchungsgegenstand zwecks seines Materialcharakters und -effekts objektiv zu verstehen und daraus Anreize für eine erneute Materialmanipulation zu entwickeln. Aus dieser Position heraus wird ein kreatives Handeln angeregt, welches dahin führen kann, dass man nach ‚weichen‘ Materialeigenschaften in einem zweiten oder dritten Material sucht, das sich kombinieren lässt, aber völlig anders aufgebaut ist, weil es sich beispielsweise um eine amorphe Masse handelt, die über eine zeitlich begrenzte ‚Weichheit‘ verfügt. Eine solche Materialkombination basiert dann auf dem Phänomen einer leichten Formbarkeit und auf der Möglichkeit einer Formkonservierung.

25 Im Hinblick auf die Entwicklung von Gebrauchsgegenständen spricht Andreas Dorschel von der Ablösung einer Bedürfnisbefriedigung des Nutzers von Gebrauchsgegenständen durch die Erzeugung von immer neuen Begehrlichkeiten. Vgl. Dorschel, Andreas: Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren. Heidelberg: Winter 2002. S. 21.

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Befragen heißt in diesem Zusammenhang, dass der Untersuchungsgegenstand einem multisensorischen Aneignungsprozess unterliegt. Das heißt, • die Ausgangsmaterialien werden in ihrem Entstehungsprozess durchleuchtet, • auf deren spezifische Verarbeitungsmöglichkeiten überprüft • und vor allem gestalterisch experimentell analysiert.

Das bedeutet für die Interpretation von Textilien, dass es sich um leicht zu formende Flächengebilde handelt. Elastische Textilien im Speziellen sind darüber hinaus in der Lage, selbstformend auf die vom Gestalter initiierten Designvorgaben zu reagieren. An dieser Stelle setzt der materialorientierte Gestaltungsprozess ein, denn ein reaktives Ausgangsmaterial, das auf Formveränderungen reversibel reagiert, erlaubt einen anderen Blick auf den Gestaltungsprozess als solches, sodass nicht nur eine Art Formgebung betrachtet werden muss, sondern auch die Materialisierung und damit der Formenbau. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine dialogische Wechselbeziehung zwischen dem Gestalter und dem zu gestaltenden textilen Material als Formträger, insbesondere vor dem Hintergrund einer großflächigen Anwendung einer Umhüllung im architektonischen Maßstab. Ein elastisches Textil verfügt über die ‚vorkonstruierte‘ Fähigkeit, auf minimale Formungsimpulse durch den Gestalter mit einem spezifischen Formenrepertoire aus antiklastisch gekrümmten Flächenverläufen zu antworten (phänomenologische Betrachtung). Jene Formartikulation ist gestalterisch wie konstruktiv interessant, da die Flächenkrümmungen in eine harte Schale transformiert werden können (hermeneutische Betrachtung). Aus diesem Grund werden Textilien mit elastischen Eigenschaften hier als Untersuchungsgegenstand für die Erzeugung spezieller Freiformflächen herangezogen und durch die Methode der Materialbefragung auf weiterführende Gestaltungsinformationen untersucht, ohne dass man einen konkreten Gebrauchsgegenstand vorab fixiert. Daher die Fragestellung: Wie verändert sich der Entwurfsprozess einer Produktgestaltung, wenn beispielsweise das Textil über seine spezifischen Materialeigenschaften die Formgebung beeinflusst und aus diesem Spannungsfeld Produkte abgeleitet werden? Dazu wird die Materialbefragung zuerst auf einer abstrakten Material-FormUntersuchung durchgeführt, um ein primäres Verständnis für den Zusammenhang der Form und der Realisierung herzuleiten, danach werden die Ergebnisse in ein Demonstrationsobjekt übersetzt, um es am Gebrauch durch Benutzer zu erproben. Mit der Überprüfung der Materialprototypen anhand von Szenarien ist die Produktgestaltung immer schon ein Bestandteil des hier vorgestellten materi-

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alorientierten Gestaltungsprozesses. Das heißt, der materialinteressierte Gestalter agiert interdisziplinär und fungiert als ‚Brückenbauer‘ mit dem Ziel, eine disziplinübergreifende Verständigung zwischen gestaltenden Expertengruppen und Nutzern zu erzeugen. Wenn man in dieser Hinsicht einmal die Prosperität der materialerzeugenden Industrie einbezieht, dann öffnen sich für den Gestalter gestaltungsrelevante Nischen. Wie nie zuvor steht dem Gestalter eine stetig wachsende Menge neuer Materialien zur kritischen Hinterfragung gegenüber. Zu keiner Zeit war der Zugang zu den dazugehörigen Material- und Verarbeitungsinformationen so einfach. Zu den veränderten Rahmenbedingungen zählen eine problemlose Materialverfügbarkeit genauso wie das zunehmende Bewusstsein über einen schonenderen Ressourcenumgang. In der Summe ergibt sich ein kreativer Handlungsbedarf, der eine materialspezifischere Artikulation geradezu herausfordert. Diese Arbeit stellt sich der Aufgabe, einen besonderen Gestaltungsprozess zu beschreiben und entsprechend so zu organisieren, dass Materialien aufgrund ihrer Eigenschaften sowie ihrer Produkthaftigkeit als Initiatoren für die Produktgestaltung fungieren. Die materielle Umsetzung eines Gegenstandes findet bei derartiger Betrachtung nicht mehr am Schluss des Designprozesses statt, sondern das Verhältnis aus Material – Form – Kontext wird selbst zum Substrat und somit untrennbarer Bestandteil des gesamten Gestaltungsvorganges. Um dieser Forderung nachzugehen, werden im Folgenden drei Grundbetrachtungen vorgenommen: • In der ersten Betrachtung geht es um die sich verändernden Materialbewertun-

gen in der Produktgestaltung seit ihrer Etablierung als eigenständiger Berufszweig. • Im zweiten Schritt werden die Materialeigenschaften weich - fest und die veränderten analogen wie digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten in die Interpretation einbezogen. Hier folgen Betrachtungen produktspezifischer Fallstudien, denen ein designstrategischer Materialeinsatz nachgewiesen werden kann, um durch die Entschlüsselung einen materialorientierten Gestaltungsansatz zu fördern. • Auf der dritten Betrachtungsebene, die aufgrund der konkreten Materialauseinandersetzung der praxisorientierten Designwissenschaft entspricht, geht es um die Entwicklung und Nutzung eines neuartigen Faserverbundwerkstoffs aus Abstandsgewirke und Keramik für die Produktgestaltung. Anhand der Materialinterpretationsstudie werden Gestaltungsinformationen herausgearbeitet, die schließlich in die Entwicklung einer textilverstärkten Keramikschale fließen und demonstrativ in einer Material-Raumstudie zur Anwendung kommen.

2

Designtheoretischer Diskurs: Materialbewertung im 20. Jahrhundert „Je umfangreicher der durch die Industrielle Revolution erschlossene Kosmos neuer Stoffe und neu entwickelter Elemente wurde, welche die Herstellung synthetischer Materialien versprachen, desto stärker diente das Argument der dem Material angemessenen Form als Instrument der ästhetischen Kontrolle gegenüber dem Kitsch industrieller Produktion. […] Die Praktiken des Ersatzes eines Materials durch ein anderes, das Spiel der Illusion, dem die maschinelle Produktion und die flexiblen Materialien des Industriezeitalters Vorschub leistete, wurden um 1900 von Vertretern der Materialgerechtigkeit der Lüge bezichtigt. ,Reines‘ Material dagegen schien Ehrlichkeit zu verbürgen.“1

Anknüpfend an dieses Zitat wird nun dargestellt, welchen Veränderungen die Materialbewertung im Design unterworfen ist. Ein wichtiger Vordenker in der Zeit der industriellen Umstrukturierung während des 19. Jhs. ist Gottfried Semper. In seinem Werk über die Weiterentwicklung des architektonischen Stils und der angewandten Kunst nimmt Semper die Themen „Material, Bestimmung [Zweck] und Technik [als] wesentliche Kriterien der Gestaltung und der richtigen Beurteilung“ auf, um eine neue „Geschmackslehre“ für die Gesellschaft als 1

Wagner, Monika: Material. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 3. Hrsg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkahrt Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel. Stuttgart, Weimar: Metzler 2010. S. 874f.

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Konsumenten herzuleiten.2 Nach Heinz Quitzsch3 sind Sempers kunsttheoretische Untersuchungen ein ganzheitlicher Versuch, die positiven, aber auch negativen Einflüsse und Auswirkungen der Industriellen Revolution mit neuen Industrietechniken, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, freiem Kapital und neuen Materialien auf das ‚Kunstschaffen‘ einer erwachenden Massenproduktionskultur aufzuzeigen. Semper, der den Naturwissenschaften und den Künsten gleichermaßen offen gegenüber stand, sieht in der industriellen Entfaltung weitgreifende Chancen für die „Entwicklung der Kunst zu einer neuen Blütezeit“ 4, eben für die Architektur und für die Steigerung der Qualität einer neuen Produktwelt aus Gebrauchsgegenständen, derer man aber nur habhaft werden kann, wenn die Gestaltung Wege findet, „[…] den jetzt möglichen ,Überfluss an Mitteln‘ entsprechend den funktionellen Erfordernissen der Gegenstände und den Eigenschaften neuer Materialien künstlerisch zu bewältigen.“5 Zwar unterscheidet Semper zwischen einer konstruktiven Materialbetrachtung (Zweck), bei der das Material als das, was es ist, sichtbar sein soll, und einer symbolisierenden Oberflächenbetrachtung (Schmuck), bei der das Material durch eine weitere Beschichtung ‚bekleidet‘ wird. In der textilen Kunst sieht Semper eine Art Urquelle (Urform und Urmaterial6), aus der sich die vielfältige Formensprache entfaltet

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Marzek, Wilhelm: Gottfried Semper und die museal-wissenschaftliche Reformbewegung des 19. Jhs. In: Gottfried Semper. Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht. Hrsg. v. Hans M. Wingler. Mainz: Kupferberg 1966. S. 116f. Vgl. auch: S. 117. Nach Marzek ist Sempers aufklärerisches Streben und seine ‚praktische Ästhetik‘ als Erziehungsreform (‚Volksgeschmack‘) zu verstehen, nach welcher „der Geschmack der Konsumenten aus allen Kreisen gebildet werden“ soll, indem man beispielsweise spezielle Musterausstellungen in Museen und Messen ausrichtet und die Öffentlichkeit durch Vorträge informiert.

3

Vgl. Quitzsch, Heinz: Sempers Kunsttheorie. In: Gottfried Semper 1803 – 1879. Baumeister zwischen Revolution und Historismus. Hrsg. v. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. (2. Aufl.) München: Callwey 1980. S. XXVI.

4

Vgl. Quitzsch, Heinz: Die ästhetische Anschauung Gottfried Sempers. Berlin: Aka-

5

Vgl. Quitzsch, H.: Sempers Kunsttheorie. S. XXVI.

6

Vgl. Semper, Gottfried: Der Stil. Die Textile Kunst. In den technischen und tektoni-

demie-Verlag 1980. S. 23.

schen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. [Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1860]. Mittenwald: Mäander 1977. S. 13. Semper sieht die textile Kunst als „Urkunst, [nach der sich] alle anderen Künste, die Keramik nicht ausgenommen, ihre Typen und Symbole aus der textilen

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hat, in der sich textile Spuren noch immer zu erkennen geben, auch wenn sie sich in unterschiedlichsten Materialien darstellen (‚Stoffwechsel-These‘). Nach Quitzsch7 steht über dem Semperischen Gestaltungsansatz der Zweck als der „bestimmende Faktor“, der auch die „Auswahl des Materials [nach sich zieht, und] sich nach der Aufgabe richtet und ihr untergeordnet ist“, aber gleichzeitig soll die Gestaltung auch dem Material entsprechen, auch wenn der Gestalter „alle Möglichkeiten des Materials [nutzen soll] und auch die Mängel in den Dienst seiner Aufgabe [einbezieht, darf er] nicht gegen das Material wirken [...].“ In Sempers Auslegung einer materialbedachten Gestaltung steckt die Forderung nach ‚Materialgerechtigkeit‘ (technisches Denken) und die nach einer adäquaten, aus der Historie hergeleiteten Oberflächendekoration (symbolisches Denken). Beide Forderungen sind in Sempers Stillehre zwar getrennt, aber nicht als Widersprüche gemeint. Adrian von Buttlar8 verweist auf die einseitige Auslegung der Semperischen Reformbemühungen auf Material-Form-Zweck des sich herausbildenden Funktionalismus, der „schließlich das Axiom der Zwecklichkeit und Materialgerechtigkeit zu einer funktionalistischen Ethik [verabsolutierte], die keinen Raum mehr für die Symbolqualität des künstlerischen Gegenstandes ließ.“ Um die Jahrhundertwende vom 19. Jh. zum 20. Jh. zeigt sich, dass die Produktgestaltung in ihrer Entwicklungsphase hin zu einer Entwurfsdisziplin der Warenwelt von dem Begriff „Materialgerechtigkeit“9 begleitet wird und dass

Kunst entlehnten, während sie selbst in dieser Beziehung ganz selbstständig erscheint und ihre Typen aus sich heraus bildet oder unmittelbar der Natur abborgt.“ 7

Quitzsch, H.: Die ästhetische Anschauung Gottfried Sempers. S. 59.

8

von Buttlar, Adrian: Gottfried Semper als Theoretiker. In: Kunstwissenschaftliche Studientexte. Band 3/1. Hrsg. v. Friedrich Piel. Mittenwald: Mäander 1977. S. 20.

9

Deutungen des Begriffes finden sich bei: Dorschel, A.: Gestaltung. S. 56. Bei dem Begriff Materialgerechtigkeit verweist Dorschel darauf, dass „[g]emeint sein muß, es dürfe gleichsam der Geist oder das Wesen des Stoffes, etwa wie die Natur der Sache, nicht verletzt werden, selbst wenn er die Prozedur, der er unterworfen wird, physisch überstände“. / Wagner, M.: Material. S. 867ff. / Wagner, Monika: Materialgerechtigkeit. Debatte um Werkstoffe in der Architektur des 19. und frühen 20. Jhs. In: Historische Architekturoberflächen. Kalk-Putz-Farbe. Hrsg. v. J. Pursche. München: Lipp Verlag 2003. S. 135-138. / Im Begriffsregister der Forschungsarbeit `Material Mind´ von Marina-Eva Wachs reiht sich der Begriff der Materialgerechtigkeit in eine Kette von weiteren 86 Komposita aus dem Grundwort ‚Material‘. Wachs, Marina E.: Material Mind. Neue Materialien in Design, Kunst und Architektur. Hamburg: Kovač 2008. S. 303-305.

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man diesem Begriff eine wesentliche Bedeutung für die Produktentwürfe während der Industrialisierung zuschreibt. Die Begriffsetablierung „Materialgerechtigkeit“ fällt in die Gründungsphase des Deutschen Werkbunds im Jahr 1907. Aus diesem Grund wird hier zuerst auf die besondere Rolle des Deutschen Werkbundes verwiesen. Die Protagonisten der ersten Stunde stellen die „Kardinalsfrage“10, um eine neue Kunstbewegung zu initiieren, die Gestaltung im „Maschinenzeitalter“11 neu zu verorten und das Verhältnis von Form und Material neu zu definieren. Eine Strategie besteht darin, dass man zum Beginn des 20. Jhs. eine Materialbewertung vornimmt, die bestimmte Materialien als reine Werkstoffe propagiert und Werkstoffe mit scheinbar unspezifischen Eigenschaften als charakterlose Surrogate 12, sogenannte Ersatzstoffe, abwertet. Als Kompositum verweist der Begriff ‚Materialgerechtigkeit‘ auf einen designhistorischen Diskurs, in dem im positiven Sinne ein wohlgesonnener Um10 Vgl. Osthaus, Karl Ernst: Material und Stil. In: Die Durchgeistigung der deutschen Arbeit. Ein Bericht vom deutschen Werkbund. Jena: Diederichs 1911. S. 23. Mit der Kardinalsfrage bezieht sich Osthaus auf die industriellen Umwälzungsprozesse, die neue Materialien und Herstellungsverfahren hervorgebracht haben, und so äußert er sich wie folgt: „Wieder einmal stehen wir vor der Frage nach dem neuen Stil. Was ist es, das den Stil schafft? Ist es die Form, die der Künstler in seiner Phantasie erdenkt, für die er dann das entsprechende Material oder die entsprechende Technik sucht? Oder sind es die technischen Erfindungen, die Materialien, die dem Künstler geboten werden und die ihn dann veranlassen, seine Phantasie mit den Materialien spielen zu lassen? […] Und wenn […] da[s] Material und [die] Technik der formalen Gestaltung vorausgehen [, dann ist] die künstlerische Gestaltung eben eine Anwendung geistiger Gesetze auf das vorhandene Material, auf die vorhandene Technik […].“ 11 Naumann, Friedrich: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. 2. Aufl. Berlin 1908. S. 526. (Online abrufbar unter http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/Autoren/Naum ann/Naumann1908.htm, letztes Abrufdatum 31.03.2015). / 1904 formuliert der wilhelminisch liberal geprägte Politiker, Verfechter einer expansiven Außenpolitik und späterer Mitgründer des Werkbunds Friedrich Naumann in seinen Überlegungen zur ‚Kunst im Zeitalter der Maschine‘ die Grundzüge für die Ausrichtung des Deutschen Werkbunds. 12 Vgl. Wagner, M.: Materialgerechtigkeit. S. 136f. Materialien sind hierarchisch geordnet, natürliche Materialien, wie Stein, Holz und Bronze, werden höher eingestuft als Gusseisen, Beton und Kautschuk. Als Surrogate bezeichnet man Materialien, die einen Abstieg in der Materialordnung bedeuten. Bereits in der Mitte des 19. Jhs. werden laut Wagner durch die Verbreitung von vollsynthetischen Kunststoffen „alle Postulate nach der materialgerechten Form obsolet.“

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gang mit Material im Mittelpunkt zu stehen scheint, ohne dass durch die Bearbeitung das Wesen des Materials zerstört wird und so fordert man, „Materialien eine Form zu geben, die diesen gemäß ist oder entspricht. […] Von Physik und Technik rückt der Begriff [aber] hinüber in Metaphysik und Moral; auf letztere scheint ja die Rede von Gerechtigkeit dem Material gegenüber deutlich genug zu verweisen.“13 Über die Wortschöpfung versucht man aber auch, Gestaltungs- und Materialisierungsprozesse, die aus dem Kunsthandwerk stammen, den industriellen Entwicklungen anzupassen, indem man Materialien in gerecht und ungerecht unterteilt. Ein Grund hierfür ist die Entwicklung neuer synthetischer Materialien, wie erste Kunststoffe, durch deren mannigfaltige Anwendbarkeit man den Stellenwert der Form gegenüber dem Material gefährdet sah und sie als Surrogate abwertete. Materialien, wie Eisen und Glas, die auf die industrielle Fertigung ausgelegt werden, erhalten eine Art Wertigkeitsprädikat und werden höher eingestuft als beispielsweise die Erzeugnisse aus der sich langsam entwickelnden Kunststoffindustrie. Doch was ist von der historischen Wirkung des ‚Kampfbegriffes‘14 der Moderne geblieben? Ist der Begriff der Materialgerechtigkeit unter den heutigen Gestaltungsthemen und Materialverwendungen noch tragfähig? Dieses Kapitel zeigt, wie sich der Begriff der Materialgerechtigkeit entwickelt, wie er wirken kann und wieder vergeht. Explizit geht es hier um die Rolle der weichen, flüchtigen und amorphen Ersatzmaterialien, also um diejenigen, die der Materialgerechtigkeitsbegriff zu deklassieren versuchte.

2.1 IDEOLOGIE UND DEBATTE UM ‚MATERIALGERECHTIGKEIT‘ Designhistorisch betrachtet formen sich der Begriff Materialgerechtigkeit und seine Deutung während der Industrialisierung aus dem Diskurs über Material, Form und Zweck zwischen Architekten, Künstlern, Handwerkern und Industriellen. In der heutigen Umgangssprache über Design tauchen die Begriffe wie ‚materialgerechte Form‘ oder ‚herstellungsgerechtes Design‘ noch immer auf. In der gestalterischen Praxis wird das Gerechtigkeitsvokabular von Auftraggebern,

13 Dorschel, A.: Gestaltung. S. 56. 14 Vgl. Wagner, M.: Materialgerechtigkeit. S. 135. Wagner führt auf, wie zur Zeit der Jahrhundertwende im „Namen des Materials, der Materialstimmung oder des Materialgemäßen“ gegen eine historistische Formenflut und gegen eine Flut an „neuen Universalstoffen“ mit aller Kunst der Argumentation vorgegangen wird.

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Herstellern und Designern weiterhin verwendet, um die Produktgestaltung in möglichst effiziente Bahnen zu lenken. Folgt man der Begriffsdeutung von Marina E. Wachs15, so ist der Begriff der Materialgerechtigkeit weiterhin gültig, muss aber durch einen ökologisch nachhaltigen Ressourcenumgang erweitert werden. Wachs unterscheidet zwischen einer designtheoretischen und kunstwissenschaftlichen Bedeutung des Begriffs der Materialgerechtigkeit: Für den ersten Fall bezieht sich der Begriff Materialgerechtigkeit auf „die [rein] technische Umsetzbarkeit der Idee in Abhängigkeit vom Material und den technisch verfügbaren Mitteln“, die kunstwissenschaftliche Betrachtung hingegen bezieht den „künstlerisch gewollten Ausdruck und Material sowie […] eine Material-Alternative“ mit ein.16 Aus Sicht der anwendungsbezogenen Gestaltung von Gebrauchsgegenständen verbirgt sich hinter dem Begriff Materialgerechtigkeit eine Auf- bzw. Abwertung von natürlichen und historisch aufgeladenen Materialien gegenüber industriell erzeugten Ersatzstoffen, um eine Argumentationsstrategie zu erzeugen, die die zweckdienlichen Formen der industriellen Moderne legitimiert. Der Kunstpädagoge Gert Selle17 verweist bei dem Versuch einer Materialabwertung auf das Aufkommen synthetischer Plastik-Werkstoffe, die vor allem von den Formgestaltern des Deutschen Werkbundes abgelehnt und im Gegensatz zu den bekannten Naturstoffen als „charakterlos-neutrale“ und „anorganisch-strukturlose“ Surrogate deklariert werden. Auch die Kunsthistorikerin Monika Wagner18 weist darauf hin, dass die Argumentation des materialgerechten Umgangs mit Werkstoffen besonders heftig verläuft, wenn neue Industriewerkstoffe ein tradi15 Vgl. Wachs, M. E.: Material Mind. S. 148. 16 Ebd. S. 148. 17 Selle, Gert: Geschichte des Design in Deutschland. Frankfurt, New York: Campus Verlag 2007. S. 358. Die gestalterischen Möglichkeiten, die massenhafte Verfügbarkeit und günstigen Materialkosten des Plastiks waren insbesondere in Deutschland zur Zeit der 1950er und -60er Jahre, während der Nachkriegszeit, so verführerisch geworden, dass sich die ‚materialgerecht‘ denkenden Designer dem Alleskönner nicht mehr entziehen konnten. Mit dem Beginn des ‚Kunststoffzeitalters‘ löst sich die Frage nach echtem und unechtem Material auf. 18 Vgl. Wagner, M.: Material. S. 874f. Insbesondere Gusseisen, Beton und die flexiblen Kunststoffe (Kautschuk) passen nicht in das ‚materialistische‘ Argumentationsmodell über Material-Form-Zweck des 19. und frühen 20. Jhs. / Vgl. ebenso: Wagner, M.: Materialgerechtigkeit. S. 135. Gusseisen entmystifiziert die durch die Antike geadelte Schmiedeeisenkunst. Im industriellen Herstellungsprozess entpuppt sich Eisen als formwilliger und billiger Ersatzstoff. Es musste nicht mehr geschmiedet werden, um geschmiedet auszusehen.

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tionelles Material zu unterlaufen beginnen. Im Historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB) findet sich unter dem Thema Material ein eigener Abschnitt zum Begriff der Materialgerechtigkeit. Somit bedeutet der Diskurs über die Materialgerechtigkeit für die Kunsthistorikerin einen Schritt in die Moderne. Dabei erfährt das Material gegenüber der Form eine Aufwertung, bis man schließlich die Rolle des Materials als „normative Instanz“ erneut zu hinterfragen beginnt.19 Die am Material angelegte Diskussion über Echtheit und Gerechtigkeit sowie über Form und Zweck durchzieht, laut Wagner, die gesamte Phase der europäischen Industrialisierungsgeschichte wie ein roter Faden.20 Im 19. Jh. stehen sich der technologische Fortschritt, die massenhaft neuen Materialien, wie Gusseisen, Eisenträger, Industrieglas und vulkanisierter Kautschuk als erster Kunststoff und die unüberschaubare Vielfalt der Produkterzeugnisse diametral gegenüber. Werner Finke21 verweist auf die fundamentalen Auswirkungen der Industriellen Revolution durch neue Bautechniken, Konstruktionsmöglichkeiten und Materialien. Hinzu kommt, laut Finke, ein sachliches, am „naturwissenschaftliche[n] Denken orientiertes Welterfassen und -bewerten“ sowie ein rationales Denken, das von den Natur- und Ingenieurwissenschaften inspiriert ist, und eine „Ästhetikauffassung […], die im Material und seinen Anwendungen die entscheidenden Wertmaßstäbe der Architektur [sieht]“22. Doch auf dem Weg ins Industriezeitalter kollidieren die Materialansichten des traditionellen Kunsthandwerkers mit den Vorstellungen der explorierenden Industrie, wie es die erste Weltausstellung im Jahr 1851 ‚The Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations‘ in London zeigte. So verweist bereits das Ausstellungsgebäude des Architekten (Treibhauskonstrukteur) und Botanikers Joseph Paxton auf die Diskrepanz der industriell erzeugten Warenwelt in Bezug auf Materialität. Das ‚Crystal Palace‘ (Kristallpalast) genannte Bauwerk ist eine gläserne Hülle, die einem überdimensionierten Gewächshaus gleicht. Als Leichtbaukonstruktion angelegt folgen die Bauelemente aus seriell hergestellten Fensterglas und Eisenträgern einem gleichbleibenden Raster, wodurch der Aus19 Wagner, M.: Material. S. 867. 20 Vgl. Wagner, M.: Materialgerechtigkeit. S. 135. Ausgehend von England (Arts and Crafts Movement) schwappt die Debatte über den ‚gerechten‘ Umgang mit Material mit einer zeitlichen Verzögerung auf den europäischen Kontinent über. Wagner führt aus, dass die Personalisierung des Materials mit den Begriffen ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Wahrheit‘ als eine Art moralische Verpflichtung verstanden wurde, die sich gegen die Imitation, Fälschung und ‚Vergewaltigung‘ der traditionellen Werkstoffe richtet. 21 Finke, Werner: Zur ästhetischen Wirkung von Material und Konstruktion in der Architektur. Aachen: 1981. S. 7. 22 Ebd.

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stellungspavillon nicht nur in Rekordzeit errichtet werden konnte, sondern über eine einzigartige Lichtdurchlässigkeit verfügen sollte. Paxtons Glasarchitektur nimmt die Forderung nach einer schnörkellosen Industrieästhetik radikal vorweg. Dagegen erscheinen die Ausstellungsgegenstände trotz industrieller Produktionsmethoden in tradierten Ausdrucksformen konserviert. Eugen Leitherer23 umschreibt die Wirkung der Weltausstellung als „eine Eruption, ein Ausbruch der Design-Bewegung, des Historismus nämlich, durch Ideologien offenbar kaum gesteuert, eine Art von Paukenschlag, ungeheures Aufsehen erregend.“ Somit ist das Postulat nach Materialgerechtigkeit zuerst eine Reaktion auf die „neuen Universalstoffe und deren mechanisierte Verarbeitungstechniken“24, jedoch nicht in Form einer neutralen, aber kritischen Auseinandersetzung, sondern im Sinne eines allgemeinen Negierens der neuartigen synthetischen Werkstoffe. Die Industrieproduktion versetzt die Bedeutung künstlerischer Materialien ins Wanken, denn ein Werkstoff wie Gusseisen ist unabhängig von dem Geschick eines Kunstschmiedes, der die Form von außen in das Rohmaterial hineintreibt. Vielmehr erschließt sich das Metall im flüssigen Zustand jede vorgegebene, anonyme Hohlform. Der gleiche Stoff fließt in die Form einer Statue, eines Maschinenbauteils oder in die Gestalt eines Kronleuchters. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint die Londoner Weltausstellung von 1851, als Gusseisen gleichzeitig für architektonische Leichtbaustrukturen und als Universalstoff für historistische Massenwaren in Erscheinung tritt, nicht als ein ‚entwederoder‘, sondern als ein ‚Möglichkeitsraum‘ des damaligen materialtechnologischen, konstruktiven und gestalterisch formalen Ausdrucks. Aus einer weniger materialpathetischen Sicht manifestiert hier ein Material einen umfangreichen Wissensstand über die Beherrschung eines formneutralen Massenproduktes und das damit verbundene, noch nie dagewesene Gestaltungspotential, nämlich vom blanken Eisenträger bis hin zum detailliert verspielten Gebrauchsobjekt. Statt das Potential der vielfältigen Ausdrucksformen, die in diesem Werkstoff bereits vorcodiert vorliegen, positiv zu interpretieren, wird mit dem Begriff der Materialgerechtigkeit das anpassungsfreudige Material moralisch diskreditiert.

23 Leitherer, Eugen: Industrie – Design. Entwicklung – Produktion – Ökonomie. Stuttgart: Poeschel 1991. S. 32. 24 Vgl. Wagner, Monika: Vom Ende der materialgerechten Form. Kunst im Plastikzeitalter. In: Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in Künsten und Wissenschaften. Hrsg. v. Barbara Naumann, Thomas Strässle und Caroline Torra-Mattenklott. Zürich: Vdf Hochschulverlag 2006. S. 232. Hierzu Wagner weiter: „Insbesondere gegenüber den Naturstoffen wurde eine Art moralische Verpflichtung postuliert, die sich gegen ,Imitation‘ [wie] ,Fälschung‘ oder ,Vergewaltigung‘ richtet.“

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Um schließlich die wirtschaftliche Stellung Deutschlands gegenüber der internationalen Konkurrenz wesentlich zu verbessern, wird am 5. Oktober 1907 der Deutsche Werkbund gegründet. Im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk galt es, alle Produkte (vom Gebäude bis zum Gebrauchsgegenstand) sachlich zu veredeln und mittels pädagogischer Maßnahmen ein Verständnis für eine neue Produktqualität im modernen Zeitalter zu erschaffen.25 Nach Sebastian Müller26 ist der Werkbund eine „kunstpolitische Organisation[, die sich] als Regulator der Produktionsweise von Kunst“ sieht. Die Aufladung des Materialbegriffs als erzieherisches Mittel, um damit eine gesellschaftsprägende Produktästhetik anzuerziehen, wird vor allem in der Gründungsphase des Deutschen Werkbunds deutlich. In dieser Phase propagiert man, wie es Junghanns darstellt, primär den „Kampf gegen die Oberflächlichkeit“, die „Orientierung auf Funktion und Material als Urelemente der Formgebung“ und man strebt danach, „den geistigen Gehalt der Form und eine realistische Einstellung [vom Einzelgegenstand zur gestalteten Umwelt] wieder in das Zentrum des schöpferischen Schaffens“ zu rücken. 27 Für die frühe Werkbundgruppe, die sich aus den unterschiedlichen Disziplinen des Kunstgewerbes zusammensetzt, ist es unumgänglich, ein „verstärktes Interesse an der natürlichen Schönheit des Materials und seiner betonten ästhetischen Nutzung [zu propagieren]“28. Dieses kreative Interesse am Material katalysiert der Werkbund in den Dienst der Gestaltung von sachlichen Industrieformen. Die mannigfaltige Mate25 Ein historischer Gesamtüberblick über die genauen Entstehungsprozesse des Deutschen Werkbunds findet sich in: Müller, Sebastian: Zur Vorgeschichte und Gründungsgeschichte des Deutschen Werkbundes. In: Werkbund Archiv 1. Hrsg. v. Janos Freco und Diethart Kerbs. Berlin: Werkbund-Archiv 1972. S. 23-53. / Vgl. Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 115. Der Deutsche Werkbund gründet sich als heterogener Interessenverband aus Industriellen, mittelständischen Unternehmern, Werkstattinhabern, Künstlern, Publizisten, Politikern und Pädagogen. Ebd. S. 363. Der Deutsche Werkbund verstand sich als „normative Instanz“ und beanspruchte eine „design- und kulturpädagogische Führungsrolle“ im 20. Jh. Zu den Zielen des Werkbundes steht im Gründungsmanifest geschrieben: „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk, durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme“. 26 Müller, S.: Zur Vorgeschichte und Gründungsgeschichte des Deutschen Werkbundes. S. 23. 27 Junghanns, Kurt: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin: Henschelverlag 1982. S. 51. Kurt Junghanns (1908-2006), Architekt, Autor und Kunsthistoriker, gilt als wichtiger Biograf des Architekten Bruno Taut. 28 Ebd. S. 8.

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rialhandhabung, wie sie im Kunstgewerbe explizit ausgelebt wird, sollte daher aus industrieller Sicht eingeschränkt werden. Als wichtiger Vorreiter der Reformbewegung gilt der Architekt und Werkbundmitbegründer Hermann Muthesius. Mit seiner positiven Einstellung zum Industrieprodukt verfolgt Muthesius das Ziel einer Neuorientierung hin zu einer ersten industrialisierten ‚Kreativ-Wirtschaft‘, die zugunsten der damalig modernsten, industriellen Produktionstechnik gestalten soll, um schließlich ein neues Material-Form-Funktionsverständnis zu generieren. Junghanns beschreibt Muthesius‘ Forderung an die neuen Gestaltungsaufgaben so, dass mit modernen Formen die ‚modischen Dekorationen‘ verschwinden, da das sachliche Produkt im „Einklang mit den Zeitbedürfnissen von Material, Konstruktion und Funktion“ stehe.29 Ein modernes Kunstgewerbe, so Muthesius, soll sich dadurch definieren, dass die Gestalt nach dem Zweck zu entwickeln sei und die Form sich dem Materialcharakter fügen müsse, um nicht zurück in eine ‚historische Sentimentalität‘ zu verfallen.30 Mit Begriffen wie Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit als kleinste gemeinsame Nenner der sachlichen Form, die wiederum im Einklang „mit den Zeitbedürfnissen von Material, Konstruktion und Funktion“ stehen, positioniert sich Muthesius gegen die ‚Stilarchitektur‘ und die historisierten Formen.31 Nach Julius Posener32 baut der Werkbund zwar auf der Grundidee der Artsand-Crafts-Bewegung auf, entscheidet sich aber nicht gegen die Industrie, so wie William Morris und seine Anhänger, sondern für die Industrie und zwar vor dem Hintergrund eines „patriotischen Bewusstseins der sozialen Verantwortung des Bürgertums“. Mit Hilfe der Industrie soll die Gesamtqualität der Produktwelt ge29 Ebd. S. 17. 30 Vgl. Muthesius, Hermann: Die Bedeutung des Kunstgewerbes. In: Dekorative Kunst. Bd. 15 (1906/07), H. 5, zitiert nach Wend Fischer: Zwischen Kunst und Industrie. Der Deutsche Werkbund. Hrsg. v. Die Neue Sammlung. Staatliches Museum für angewandte Kunst. München: 1975. S. 42f. „Zu der Gestaltung des Zwecks kam also die Gestaltung nach dem Charakter des Materials, und mit der Rücksicht auf das Material war gleichzeitig die Rücksicht auf die dem Material entsprechende Konstruktion gegeben. Zweck, Material und Fügung geben dem modernen Kunstgewerbler die einzigen Direktiven […].“ 31 Vgl. Junghanns, K.: Der Deutsche Werkbund. S. 17. 32 Posener, Julius: Werkbund und Jugendstil. In: Der Werkbund in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. v. Lucius Burckhardt. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1978. S. 22. Weiter führt Posener auf, dass sich der Werkbund im Sinne der Versachlichung der Form durch die industrielle Massenproduktion auch entschieden vom Jugendstil distanziert.

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steigert werden, um eine sachlich bürgerliche Produktkultur im Chaos der Stilmoden des Industriezeitalters zu schaffen.33 So erklärt sich auch die Sichtweise von Friedrich Naumann34, für den die Maschinen eine geradezu wesenhafte Gestalt annehmen, wenn er sagt: „Als die Maschine sah, das[s] sie nur geringe Arbeit machte, setzte sie sich wieder hinter den Handwerker und sah ihm, nun selber geduldiger werdend, seine Kunst ab. […] Jede Ecke, jede Rundung, jeder Glanz und jede Prägung ward nun besser herausgebracht.“ Auch spricht Naumann von der Umgestaltung der Handwerkskunst hin zur „Industriekunst“, denn an die Stelle der handwerklich geprägten individuellen Herstellung von Gebrauchsgegenständen trete die „Vervielfältigung [als] Grundgedanke der Industriekunst“35. Kurt Junghanns36 beschreibt Naumann als technikbegeisterten bürgerlichen Politiker der Jahrhundertwende, der sich für den industriellen Fortschritt sowie die neuen Gestaltungsansätze der Architektur einsetzt und seine Argumente mit kämpferischer Rhetorik vertritt. Neben dem Einsatz neuester Techniken sieht man in der ‚richtigen‘ Anwendung der industriellen Materialien vielversprechende Impulse zur Steigerung der Warenqualität. Material und Industriemaschine bilden die neue und zugleich ideologische Einheit. Die historisch gewachsenen Materialbedeutungen, welche durch das Kunsthandwerk geprägt sind, gilt es, den industriell rationellen Bedürfnissen anzupassen oder durch Negierung auszuschließen. Dazu Naumann: „Solange man nur Entwürfe, die eigentlich für die Hand [Handwerk] gedacht sind, mit maschinellen Mitteln abkürzend und vereinfachend herstellt, ist es richtig, daß die Industrialisierung eine gewisse Kunstverarmung im Gefolge hat. Es dauert aber nicht lange, so

33 Vgl. Schwarz, Frederic J.: Neue Formen der Kultur im Industriezeitalter. In: 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907-2007. Hrsg. v. Winfried Nerdinger. München: Prestel 2007. S.12ff. 34 Naumann, Friedrich: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. In: Der Kunstwart. Halbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik, bildende und angewandte Künste. Hrsg. v. Ferdinand Avenarius. München: Georg D. W. Callwey 1904. S. 319. (Online abrufbar unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kunstwart17_2/0393 und unter http:// www.cloud-cuckoo.net/openarchive/Autoren/Naumann/Naumann1908.htm. Abrufdatum: 31.03. 2015). 35 Naumann, Friedrich: Kunst und Industrie. In: Das Deutsche Kunstgewerbe 1906. III. Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906. Hrsg. v. Direktorium der Ausstellung. München: Bruckmann 1906. S. 32ff. 36 Vgl. Junghanns, K.: Der Deutsche Werkbund. S. 12.

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wird die Sprache der Maschine so biegsam sein, daß es kein Ende ihrer Möglichkeiten gibt.“37

Der Blick auf das Material und die Verarbeitungstechniken verschiebt sich von der ganzheitlichen Betrachtung eines Kunsthandwerkers hin zum Blick durch die Brille der industriellen Produktionsvorgaben. Das zeigt sich erneut am Beispiel metallischer Werkstoffe, an denen sich ein ‚materialgerechtes‘ Verhältnis von Material, Technik, Form und Zweck verdeutlichen lässt. Die industrielle Massenproduktion von Eisen38 gilt als einer der Wendepunkte auf dem Weg der Architektur in die Moderne. Naumann schreibt dem Werkstoff eine führende Rolle zu, denn, wer sozusagen der ‚Herr über das Eisen‘ ist, dem gebührt der weltwirtschaftliche Vorsprung der eisernen Moderne.39 Bis dahin dominierten vorwiegend die Materialeigenschaften der natürlichen Werkstoffe, wie Holz und Stein, oder künstliche Backsteine, die gebaute Substanz. Um die Materialeigenschaften des Eisens auszuschöpfen, bedurfte es demnach eines konstruktiven ästhetischen Umdenkens. Neue Gestaltungsaufgaben waren Eisenkonstruktionen von Großhallen, Bahnhöfen oder Eisenbahnen und Schiffen, aber ohne angeklebte Dekorationen und Schnörkelei, sondern sachlich zweckdienliche Konstruktionen.40 ‚Reine‘ Formen fordern ‚reine‘ Materialien, die außer den Produktionsspuren der Maschine keine künstlerischen Verzierungen aufzuweisen haben. Die Hervorhebung des Eisens als elementarer Werkstoff lädt das Material semantisch auf, Eisen wird zum Bedeutungsträger einer technikgläubigen Industrie. Nach dem Kunsthistoriker Thomas Raff41 erfährt der Eisenwerkstoff bereits zu Beginn des 19. Jhs. eine patriotische Aufladung in der sogenannten ‚eisernen Zeit‘ und in der ‚Eisen-Mode‘, wobei das Eisenmaterial als „Metapher für die Befreiung vom Napoleonischen Joch und die nationale Erneuerung“ politisch stilisiert wird. Die Geschichte zeigt auch, dass eine wirtschaftliche und politische 37 Naumann, F.: Kunst und Industrie. S. 35. 38 Neben Gusseisen und Stahl haben auch die Werkstoffe Beton und Glas einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der architektonischen Moderne des 20. Jhs. beigetragen. Hier sei insbesondere auf die Materialkombinationen Beton und Moniereisen (Bewehrungsstahl) verwiesen und auf die damalig neuen Produktionstechniken der Flachglasherstellung. 39 Naumann, F.: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. S. 321f. 40 Ebd. S. 323. 41 Vgl. Raff, Thomas: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. Münster: Waxmann 2008. S. 87f. Für die Kunst verliert das Eisen bis zur Mitte des 19. Jhs. seine ‚vaterländische‘ Bedeutung und wird im Dienst der industriellen Massenproduktion mit einer neuen Bedeutung aufgeladen.

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Aufladung des Materialbegriffes Gefahr läuft, verabsolutiert zu werden. Hierzu äußert sich Wagner, dass insbesondere die Propaganda der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren eine materialbasierte Rhetorik ins Absurde treibt, um „einzelne Materialien mit speziellen Eigenschaften und Zuschreibungen wie Härte, Reinheit oder Unvergänglichkeit und einer entsprechenden Bedeutungsgeschichte zu höchsten Ehren [zu stilisieren]“42. Zusammenfassend kann man mit Selle sagen, dass die theoretischen Ansätze des materialgerechten und zweckmäßigen Gestaltens eine „ideologische Bestätigung von Designtendenzen [ist], die sich aus der Ökonomie des industriellen Produzierens zwangsläufig ergeben“43. Die Maschinenproduktion ermöglicht die Reproduktion von Gegenständen mit hoher Geschwindigkeit und gleichbleibender Industriequalität, was im 20. Jh. nur gelingen konnte, solange die Formen einfach, sachlich und ornamentfrei waren. Eine konstruktiv kritische Materialbefragung der ‚flüchtigen‘ Werkstoffe wird durch die Vorschreibung der einfachen Form unterbunden. Die gestalterische Qualität des Entwerfens besteht unter anderem darin, sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen von Materialien und Techniken in der Variationsvielfalt herauszuarbeiten. Dabei müssen auch kulturhistorisch gewachsene Materialbedeutungen berücksichtigt werden, genauso wie die Materialsemantik.44 Dieser Vielschichtigkeit einer kreativen Materialbetrachtung konnte das Legitimationsmodell der Materialgerechtigkeit nicht genügen, denn hier folgte man eher den industriellen Bedürfnissen, wie Rationalität, Geschwindigkeit, Kontinuität, Kostenreduktion, Qualität und Masse. Die grundsätzliche Ausrichtung des Werkbunds gegen die historisch verwurzelte Formenwelt, gegen den künstlerisch freien Gestaltungsdrang und das Streben nach Typisierung hat auch zu einer Oppositionsbewegung geführt, die sich gegen die kreativen Einschränkungen

42 Wagner, M.: Material. S. 877. 43 Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 115f. Des Weiteren führt Selle auf, dass der Protagonist des Werkbunds im Sinne der Geschmackserziehung keine Rücksicht auf den Massengeschmack der Konsumenten des „Industrie-Historismus und des Industrie-Jugendstils“ nahm. Vielmehr sollte der gegenständliche Besitz schnellstmöglich gegen Produkte der „neuen sachlichen Industrieform“ ausgetauscht werden. / Ebd. S. 363ff. Selle kritisiert das designpädagogische Profil des Deutschen Werkbundes als politisch durchsetzt und auf technisch ökonomischen Industrievorgaben beruhend, als den Versuch, eine „Identifikation [der Gesellschaft] mit einer für nationale Zwecke instrumentalisierten Technomoderne“ umzuerziehen. 44 Siehe Abschnitt: 2.2. Semantische Materialbewertung S. 28.

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durch die Materialgerechtigkeit und Zweckmäßigkeit richtet.45 In Bezug auf die synthetischen Ersatzstoffe zeigt die Designgeschichte, dass sich diese schlussendlich doch durchsetzen und unaufhaltsam verbreiten konnten, was dann auch zur Loslösung von einem stagnierenden Materialgerechtigkeitsdenken führt. Denn durch die Determinierung bestimmter Werkstoffe verliert die Materialbetrachtung bis zur Mitte des 20. Jhs. an argumentativer Flexibilität und verliert sich in typisierten Ausdrucksformen. Aus heutiger Sicht erscheint der Diskurs daher obsolet.46 Nach Selle befindet sich das Design in Bezug auf die designspezifische Materialgeschichte sogar erneut vor einem Paradigmenwechsel.47 Materialdiskurse für die Produktgestaltung sind umso fruchtbarer, wenn diese in unterschiedlichen Kontexten erfolgen und über die Bedürfnisbefriedigung einer vermeintlichen Käuferschaft durch Produkte hinausgedacht werden. Zumal sich die Gestaltungsaufgaben verändern müssen, wenn eine Befriedigung der Grundbedürfnisse eingetreten ist und es darum geht, Begehrlichkeiten zu erwecken. Im Folgenden wird daher auf die weichen ‚semantischen‘ Faktoren einer Materialbetrachtung eingegangen.

45 Vgl. Junghanns, K.: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. S. 36f. Vertreter der Gegenargumentation wie Hans Poelzig, Peter Behrens, Walter Gropius, Bruno Taut, August Endell u. a. zeigen eine aufgeschlossene Haltung gegenüber den neuen technischen, industriellen Möglichkeiten und „[…] drängten vor allem auf die Erschließung der mit den neuen Baustoffen angebotenen künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten, sie waren an neuen Bautechniken interessiert und brauchten rationale Grundsätze, nicht Ausweichen in leicht zu handhabende eklektizistische Dekoration“. / Siehe auch: ‚Thesenstreit‘ zwischen Muthesius und van de Velde anlässlich der 7. Jahresversammlung 1914. 46 Vgl. Holzbach, M.: Fragen an Markus Holzbach. S. 16. 47 Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 362. Selle verweist auf drei Paradigmenwechsel: Zuerst fand der Diskurs zwischen natürlichem Material und den Derivaten statt, darauf folgten die Phasen des Ausdifferenzierens und Synthetisierens von Kunststoffen und heute „geht es um genetische Manipulation am Material der Natur, um neurotechnische Reizungen des Sensoriums und des Bewusstseins, um informationstechnische Eingriffe in soziale Systeme“.

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2.2 SEMANTISCHE MATERIALBEWERTUNG So wie Thomas Raff48 nach dem Bedeutungsgehalt von Materialien und nach der ‚Materialsprache‘ fragt, die Kunstwerken innewohnen, wird ein erweiterter Blick über die Ideologie der Materialgerechtigkeit hinausführend auf die Materialbewertung speziell in Kunst und Architektur eröffnet. Wachs erweitert in ihrer Arbeit die Idee der Materialsprache um die Qualität des „Materialgedächtnisses“ und überträgt schließlich die Ansätze auch auf das Design. 49 Raff analysiert vor allem die Sprache tradierter Materialien und deren semantische Aufladung, Decodierung und Neuaufladung, woraus ein erweitertes Kunstverständnis abgeleitet wird. In seiner Untersuchung beleuchtet der Kunsthistoriker einleitend zwei gegenteilige Facetten in der Materialbewertung: einerseits die Negation und andererseits die Aufwertung des Materials. Denn zunächst erfährt das Material von der Antike bis ins Mittelalter eine Abwertung50, um danach mit der Renaissance, hier besonders in der Architektur, zu einer verstärkten Aufwertung zu gelangen.51 Bis ins Mittelalter hinein werden Materialien als niedrigster Bestandteil eines Kunstwerkes aufgefasst. Erst die künstlerisch höher eingestufte Idee (Idea) verhilft dem Material zur Form. Das Material dient lediglich zur Veranschaulichung der geistigen Vorstellung, wobei der Idee aufgrund der materialbedingten Begrenztheit nie zum vollen Ausdruck verholfen werden kann. Mit dem 17. Jh. beginnt eine Aufwertung des Materials gegenüber der Form und die Herausbildung einer frühen Forderung nach Materialgerechtigkeit, welche dann in Hinblick auf die Materialien eine der wichtigsten kunsttheoretischen Postulate des 19. und 20. Jhs. wird.52 Diesen beiden ästhetischen Theorien fügt Raff schließlich eine dritte, semantisch inhaltliche Betrachtungsweise hinzu, wo-

48 Vgl. Raff, T.: Die Sprache der Materialien. S. 13ff. 49 Wachs, M. E.: Material Mind. S. 70. 50 Vgl. Raff, T.: Die Sprache der Materialien. S. 27ff. Raff führt die Ablehnung der Materie auf Platons Ideenlehre zurück. Des Weiteren wird der ‚Materie – Ideen‘ – Diskurs von der Auseinandersetzung zwischen ‚Materialwert‘ und ‚Kunstwert‘ begleitet. 51 Vgl. ebd. S. 38ff. Raff stellt fest, dass die Architekturtheoretiker „[…] seit dem 17. Jahrhundert dem Material einen gewissen Eigenwert zubilligten und vom Künstler forderten, auf Charakter und Eigenschaften der Werkstoffe Rücksicht zu nehmen“. 52 Vgl. ebd. S. 42. Besonders ab dem 19. Jh. verstärkt sich die Forderung nach ‚echtem und gerechtem‘ Materialeinsatz und einer solchen Materialbehandlung. Materialien werden nach ‚quasi-moralischen‘ Maßstäben bewertet: ‚ehrlich, wahrhaftig, anständig, edel, sachlich, vaterländisch‘ stehen Bewertungen wie ‚unehrlich, oberflächlich und charakterlos‘ entgegen.

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bei „jedem Material bestimmte Eigenschaften, Bedeutungen oder Kräfte [zugeschrieben werden], die durch die Materialien in der einen oder anderen Weise auf das Kunstwerk übertragen werden“53. Anhand der Materialbewertungen von Eisen, Bronze, Gold und Stein, wie Granit und Porphyr, weist der Kunsthistoriker auf eine allgemeine Veränderlichkeit der allegorischen Materialbedeutungen und Materialsymboliken hin, welche weniger mit den natürlichen Materialeigenschaften zusammenhängen, sondern in einem kulturhistorischen, wirtschaftlichen, technischen, topografischen, materialhierarchisch und religiös mystischen Bedeutungsgeflecht stehend zu deuten sind und sich deshalb nur aus der Analyse historischer Schriftquellen und Überlieferungen herauslesen lassen. Künstliche Materialien, wie beispielsweise Plastik, Textil, Faserwerkstoffe und Materialkomposite, werden nicht behandelt. Raff zeigt dafür die ‚semantische Anreicherung‘ von traditionellen Werkstoffen anhand des natürlichen Granitsteins, den er als „Musterbeispiel für die Zeitgebundenheit oder Wandlungsfähigkeit der Semantik von Materialien“ bezeichnet.54 Als semantischen Wendepunkt in der Bedeutung von Granit zitiert Raff die vielschichtigen werkstofforientierten Ansätze Goethes, für den Granit ein ‚Urstoff‘ ist.55 Für Goethe liegt in der eingehenden Betrachtung und Berücksichtigung der mineralischen Materialeigenschaften ein entscheidender Einflussfaktor für den Entstehungsprozess von Kunstwerken, der sich schließlich in einer wiederbelebten ‚Granit-Kultur‘ entfaltet und schließlich mit der „Granit-Ideologie der Nationalsozialisten“ endet.56 Mit seinen Untersuchungen unterstreicht Raff eine ‚mehrdimensionale‘ Betrachtungsweise von Materialien für die Kunst und Architektur, indem die individuelle Materialsemantik einbezogen wird, um schließlich mehr über die Materialbedeutungen und damit mehr über das Objekt zu erfahren, welches sonst durch die ‚eindimensionale‘ Materialbetrachtung, durch die Brille der Materialgerechtigkeit, ungesehen bliebe.

53 Ebd. S. 45. Demnach geht ein Verstehen eines Kunstwerkes unmittelbar mit einer Interpretation der ‚Sprache seiner Materialien‘ einher. 54 Vgl. ebd. S. 167ff. 55 Vgl. ebd. S. 176. 56 Ebd. S. 188f.

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2.3 DESIGNHISTORISCHE BETRACHTUNG: GESTALTUNG AUS DEM MATERIAL HERAUS In der Geschichte des Designs zeigt sich besonders in der Bauhauslehre, dass sich aufgrund einer wachsenden Materialvielfalt immer auch neue Perspektiven auf das Material-Produkt-Verhältnis entwickeln können. Dieser Ansatz fördert einen offeneren Materialumgang mit dem Ziel, weiterführende Gestaltungsmöglichkeiten durch die kreative Hinterfragung von Materialien zu erarbeiten. Für einen solchen Ansatz ist die Materialgerechtigkeitsdiskussion zu eng gefasst. So verweist das ‚Programm des Staatlichen Bauhauses‘ in Weimar (1919) von Beginn an auf die Vereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen durch eine „gründliche handwerkliche Ausbildung aller Studierenden in Werkstätten und auf Probier- und Werkplätzen.“57 Die Ausbildung zum Werkkünstler (Produktgestalter) war von freien Materialstudien geprägt, hier ist insbesondere auf das Bemühen der Bauhaus-Grundlehre zu verweisen. Die Aufgabe des BauhausVorkurses ist es, eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Materialien jener Zeit durchzuführen, um die Materialeigenarten als Ausdrucksmittel für die eigentlichen Gestaltungsaufgaben nutzbar zu machen. Dazu schreibt Magdalena Droste58, dass die Unterrichtsausrichtung eine Art ‚Elementarlehre‘ darstellt, in der man beispielsweise räumliche Gleichgewichtsübungen aus dreidimensionalen Objekten erarbeitet, die als abstrakte Materialcollagen aus Glas, Plexiglas, Holz oder Metall zu konstruieren sind und Phänomene wie eine ‚asymmetrische‘ Balance verdinglichen. Es sind die Bauhaulehrer Johannes Itten59, der als Kunstpädagoge am Bauhaus unterrichtete, und sein Nachfolger László Moholy-Nagy60, die mit ihrem Ansatz einer vorangestellten materialbasierten Gestaltungsgrundlehre das menschliche Sinnessystem durch das ‚Materialerlebnis‘ für den Gestaltungsprozess schärfen. Moholy-Nagy bestimmt vier Schwerpunkte für die Materialanalyse: die Struktur (Materialaufbau), die Textur (Materialoberflächenbeschaffenheit), die Faktur (durch Bearbeitung erzeugte Oberfläche) und die Häufung (Materialkombination).

57 Gropius, Walter: Programm des Staatlichen Bauhauses. Weimar: 1919. (Online abrufbar unter http://dfg-viewer.de/show/?set[mets]=http%3A%2F%2Farchive.thulb.unijena.de%2FThHStAW%2Fservlets%2FMCRMETSServlet%2FThHStAW_derivate_ 00000200%3FXSL.Style%3Ddfg&set[image]=1, Abrufdatum: 02.03. 2013). 58 Vgl. Droste, Magdalena: Bauhaus 1919-1933. Köln: Taschen 2006. S. 60. 59 Vgl. ebd. S. 24ff. 60 Moholy-Nagy, László: Von Material zu Architektur. Faksimile-Nachdruck der 1929er Ausgabe. Mainz: Kupferberg 1968. S. 18f.

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In der Praxis wurden Natur- und Materialstudien durchgeführt, man fertigte sogenannte Tastreihen als plastische Tastübungen an, die auch die Erzeugung von Materialcollagen einbezogen, und erfasste den Prozess mit zeichnerischen Mitteln. Kunst, Wissenschaft und Technik gehören nach dem Verständnis der Bauhauslehre miteinander verbunden und so ist man „nicht gegen die Technik, sondern […] mit ihr“61. Der Vorkurs wird als ein ‚organisch Ganzes‘ betrachtet, über welchem die Hinwendung zu einer eher handwerklichen Ausbildung stand, nach der die Studierenden hier „auf dem technisch einfachen [aufbauen konnten], [um] im einzelnen noch übersehbaren nivo des handwerks den ganzen gegenstand, von den anfängen bis zur vollendung wachsen [zu] sehen“. 62 MoholyNagys Lehre ist auch als Reaktion auf die Entwicklung der Berufsspezialisierung zu verstehen, wonach in der Berufsbildung des 20. Jhs. ein Ausdifferenzierungsprozess stattfindet, aus welchem vor allem „sektorenhafte Menschen“63 hervorgingen, die zwar spezialisiert sind, aber dafür eine Einschränkung in der Vielschichtigkeit menschlicher Fähigkeiten hinnehmen müssen. Tomás Maldonado, ehemalige Rektor der HfG Ulm, schreibt über die Rückkehr zu einem organischen Ganzen Folgendes: „Der Student des Grundkurses muß durch die künstlerische und manuelle Praxis seine expressiven und schöpferischen Kräfte befreien und eine aktive, spontane und unvoreingenommene Persönlichkeit entfalten; er muß seine Sinne wiedererziehen, die verlorene psychobiologische Einheit wiedergewinnen, d.h. den paradiesischen Zustand, in dem die Erfahrung von Sehen, Hören und Tasten sich noch nicht gegeneinander absetzen; schließlich muß er Kenntnis erwerben, aber nicht in erster Linie intellektuell, sondern emotional, nicht durch mündliche Erklärungen, sondern durch die Praxis, nicht durch Bücher, sondern durch die Arbeit.“64

In Anlehnung an die Bauhaustradition taucht das Thema Material dann auch in der Grundlehre der HfG Ulm wieder auf, wird aber im Laufe ihrer Entwicklungsphasen zunehmend einer naturwissenschaftlich ‚exakten‘ Betrachtungsweise untergeordnet. In diesem Zusammenhang verweist Bürdek insbesondere auf den Versuch einer ‚intellektuellen Disziplinierung‘ der Studierenden durch die 61 Ebd. S. 13. 62 Ebd. S. 18. 63 Ebd. S. 11. 64 Maldonado, Tomás: Neue Entwicklungen in der Industrie und die Ausbildung des Produktgestalters (1958). In: Theorie der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design. Hrsg. v. Volker Fischer u. Anne Hamilton. Bd. 1. Frankfurt am Main: Form Verlag 1999. S. 62.

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Anwendung mathematischer Disziplinen auf das Design mittels Untersuchungen, wie der „Kombinatorik (für Baukastensysteme und Probleme der Maßkoordination), die Gruppentheorie (in Form einer Symmetrietheorie für die Konstruktion von Netzen und Gittern), die Kurventheorie (für die mathematische Behandlung von Übergängen und Transformationen), die Polyedergeometrie (für die Konstruktion von Körpern) [sowie] die Topologie (für Probleme der Ordnung, Kontinuität und Nachbarschaft).“65

Auch Selle verweist auf die Einführung ‚grundlagenwissenschaftlicher‘66 Fächer, mit denen der Gestaltungsprozess naturwissenschaftlich und damit systematisch durchleuchtet wurde, und kritisiert zugleich die „[…] formalen Ordnungsprinzipien […], die Objektivität und Kälte übergeordneten Funktionierens […]. Der Anspruch auf Lösbarkeit aller Planungs-, Integrations- und Kommunikationsprobleme durch wissenschafts- und methodologiefundierte Gestaltung wird einem Design übertragen, das […] ein glattes Funktionieren suggeriert. Unter dem Sichtbaren steckt eine Handlungsanweisung für die Gewöhnung an eine Welt der Zwecke. […] Das Design erhebt den Anspruch objektiver Endgültigkeit und entindividualisierter Gesetzmäßigkeit auf einer möglichst mathematisch-exakten Berechnungsgrundlage in emotionsloser Nüchternheit.“67

Am Bauhaus ist die Materialbetrachtung mit einer naiven Neugier belebt und ist deswegen vielleicht von einer gewissen Behelfsmäßigkeit geprägt, doch zeigt sich anhand der Ulmer Rationalisierungsbestrebungen in Bezug auf den Gestaltungsprozess, dass die rein naturwissenschaftlich geprägte Materialbetrachtung bei der Produktentwicklung klaren Akzeptanzgrenzen unterliegt, vor allem dann, wenn man die Verwendung des Materials zur reinen Funktionserfüllung betrachtet und nur mit der Nützlichkeit zu begründen versucht. Dagegen erlaubt das Loslösen von einem programmatischen Form-Material-Zweck-Denken eine freiere Interpretation des Materialstellenwerts im Gestaltungsprozess, wie es nachfolgend am Beispiel von Holz gezeigt werden kann.

65 Bürdek, B. E.: Design. S. 49. 66 Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 243. 67 Ebd. S. 246f.

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2.4 HINTERFRAGUNG VON HERSTELLUNGSPROZESSEN ZUR ERSCHLIESSUNG VON GESTALTUNGSINFORMATIONEN Holz ist ein geeignetes Beispiel für einen Werkstoff, dessen Gestaltungspotentiale noch immer nicht ausgeschöpft sind, denn das natürliche Material erneuert mit jeder erweiterten Bearbeitungstechnologie und neuartiger Materialkompatibilität ein gestalterisches Bedürfnis des Entdeckenwollens und der Experimentierfreude. Jede Form einer Gestaltregulierung durch Forderungen wie der Materialoder Produktionsgerechtigkeit sowie einer funktionalistischen Materialeinordung unter dem Deckmantel der Brauchbarkeit und Nützlichkeit ist nicht fähig, den materialbedingten Forschungsdrang nach weiterführenden Ausdrucksformen zu regulieren. Besonders deutlich wird dieser Forscherdrang in der Betrachtung der Biegefähigkeit des Naturwerkstoffes Holz. Als natürliches Fasermaterial versteht man Holz primär, das über einzigartige Festigkeitscharakteristika, wie Zug, Druck, Biegung und Schub, verfügt. Mit einer gezielten Behandlung können einige der Materialeigenschaften zeitweise verstärkt oder für die Materialverformung begünstigt werden, so lässt sich der starre Werkstoff unter bestimmten Bedingungen erweichen. Der Tischlermeister Michael Thonet, dessen Entwicklung der Bugholzmöbel hier als klassisches Beispiel herangezogen werden kann, untersuchte die Formgebungsmöglichkeit von geschichteten und verleimten Holzfurnieren sowie von Massivhölzern. Letzte werden durch eine Bedampfungstechnik bzw. Kochen so behandelt, dass die festen Bestandteile des Holzes (Lignin) zeitweilig erweichen. Dabei verändert das Holz seine physikalischen Eigenschaften, lässt sich bruchfrei mit gebogenen Metallrahmen und mit Hilfe von Stahlbändern in geschwungene Formen biegen und konserviert diese nach der Trocknung.68 Zwischen dem Material und der eigenwillig geschwungenen Form eröffnet die Biegetechnik ein erweitertes Formverständnis, denn die Form kann maximal das sein, was das Holz an Biegebelastung bereit ist aufzunehmen, bevor es zerbricht. Demzufolge ist das spielerische Verdrehen des Holzes ein Aufzeigen des Material- und Technikverständnisses. Die Entwicklung der Holzbiegetechnik im industriellen Maßstab entsteht im Schatten der Formenwelt des 19. Jhs. in einer Phase, in der die massenhafte Produktion vorwiegend zur Herstellung von historistisch verzierten Gebrauchsgegenständen für ornamentale Lebenswelten genutzt wurde.69 Neue Materialien

68 Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 53. 69 Vgl. Leitherer, E.: Industrie-Design. S. 41.

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und technische Produktionsverfahren folgten dieser Haltung. Thonets Holzmöbel hingegen passen nicht in das allgemein vorherrschende historistische Produktbild. Vielmehr begründet sich die Gestaltung der gebogenen Möbel in der damalig neuartigen Handhabung des Materials Holz als biegefähiges Halbzeug. Jene Reduktion des gestalterischen Ausdrucks auf die Möglichkeit der Biegetechnik trägt wesentlich dazu bei, dass eine neue material- und funktionsbedingte ‚Ornamentik‘ entstand. Schlussendlich steht Thonets materialbedachter Gestaltungsansatz dafür, dass sich die speziellen Holzmöbel zu erfolgreichen Industrieprodukten einer seriellen und rationalen Massenproduktion entwickeln.70 Dorschel greift das Beispiel des Holzbiegens auf, um festzuhalten, dass die ästhetische Wirkung der Thonet-Möbel von dem raffinierten und listigen Umgang mit dem Material ausgeht, denn die Biegetechnik verstößt nicht gegen den Naturwerkstoff, „sondern gegen die im Schreinerhandwerk ausgebildete Tradition der Materialbehandlung […]“ und deswegen kann Thonets Freiheit „in der Behandlung des Materials [Holzstäbe], wie sie sich in den geschwungenen Linien seiner Möbel zeigt, […] gerade als ästhetischer Reiz empfunden werden.“71 Fast hundert Jahre später erfährt die gestalterische Auslegung der Biegetechnik72 von Holz, insbesondere als geschichtetes Flächenmaterial anstelle von Massivholzstäben, eine weiterführende Bedeutung. Als sich das DesignerEhepaar Ray und Charles Eames73, bekannt für eine materialbedachte Gestaltung, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs mit Materialstudien zum Verformen von Sperrholzplatten (Plywood) beschäftigt, benötigt die US-Regierung zur Versorgung der Truppen Tragbahren und Beinschienen aus kriegsunwichtigem Material, sodass man sich für Prothesen aus geformten Plywood-Schalen entschied. Unter der Leitung der Designer wurde die Technik des Verbiegens von Schichtholz auf ergonomische Bedürfnisse perfektioniert. Die stabilen Holzschalen fanden somit den Weg in eine zivile Anwendung in der Gestalt von Sitzschalen für Möbel (Plywood Group), welche bis heute von der Firma Vitra produziert werden und somit zum Erhalt des Eames-Mythos beitragen.

70 Vgl. ebd. S. 42f. 71 Dorschel, A.: Gestaltung. S. 58. 72 Die Technik des Biegens von Halbzeugen erfährt in den 1920er und 1930er Jahren weiter an Bedeutung. Durch den Gebrauch von Stahl statt Holz entsteht eine weiterführende Möbelgeneration, die sog. Stahlrohrmöbel und Freischwinger, wie z. B. der Stuhl ‚B3‘ von Marcel Breuer. 73 Neben den experimentellen Gestaltungsansätzen mit Sperrholz erarbeiteten die Designer zahlreiche Möbelentwürfe aus Glasfaserlaminaten und Aluminium.

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Weiterführende Untersuchungen zum Herstellungsprozess von Holzformteilen aus Furnierschichtholz zeigt der Architekt Henning Rambow74 in dem Projekt ‚3D Formholz‘.75 Bei dieser Untersuchung werden unter anderem die Funktion der Presswerkzeuge hinsichtlich der digitalen Entwurfsmethoden angepasst, die Werkzeuge werden jetzt in leicht zu bearbeitenden Ausgangsmaterialien angefertigt, anstelle von einmaligen Metallformen werden Pressen aus variablen Holzbauteilen genutzt. Das hat die innovativen Vorteile, dass man sich bei der Gestaltung von hölzernen Schalenbauteilen einerseits von seriellen Gleichteilen lösen und andererseits die Bauteilgröße vergrößern kann. Dazu hat man die Temperatur als einen der Werkzeugparameter aus dem Aufbau eines traditionellen Presswerkzeugs in das zu verformende Schichtholz integriert, indem der Furnierstapel jetzt eine elektrische Heizfolie beinhaltet, die den Klebeprozess direkt im Schalenbauteil aktiviert. Das Presswerkzeug selbst bleibt kalt und damit erübrigen sich beheizbare sowie baulich begrenzte Aluminiumwerkzeuge. Mit dem Heizelement als integrierte Schicht ist es ausreichend, wenn die Pressform ebenfalls aus Holz besteht. Ein solches Werkzeug ist günstiger und einfacher zu produzieren, sodass sich Holzschalen in Kleinstserien produzieren lassen. Auch ist es nun möglich, größere Holzschalenbauteile für architektonische Anwendungen in Betracht zu ziehen. Die Komplexität des Presswerkzeugs wird in das zu formende Schalenbauteil übertragen. Über die Weiterinterpretation des Holzbiegens eröffnet die technische Betrachtung auch neuartige Gestaltungsansätze in Bezug auf die Nutzbarkeit von Formholzflächen, denn nach Rambow funktioniert die integrierte Wärmequelle auch nach der Formung noch als elektrische Flächenheizung.76 Dadurch eröffnen sich Gestaltungsansätze für Funktionsmöbel, die auch als Mikroheizelemente funktionieren und beispielsweise in einem Großraumbüro individualisierte Klimazonen erzeugen können. Anstelle einer zentralen Raumerwärmung ließe sich somit eine dezentrale Erwärmung vornehmen, die sich auch der tatsächlichen Nutzungssituation anpasst. Das Holzbeispiel zeigt, wie sich aus dem Umgang mit Materialien erweiterte Gestaltungsbereiche ableiten lassen, denn Werkstoffe können dann Initiatoren gestalterischen Handelns sein, wenn man weniger dogmatisch entweder auf die Form oder den Zweck oder auf das Material als solches schaut. Vielmehr soll die interpretatorische Hinterfragung der Materialisierungsprozesse, wie hier am 74 Leiter der Forschungsgruppe Funktionsoberflächen am Lehrgebiet Computerunterstütztes Entwerfen und Architekturanimation an der HTWK - Leipzig. 75 3D-Formholz: http://3dformholz.de/?p=51 (Abrufdatum: 13.06.2013). 76 Heizung im Holzstuhl?! Architekten der Fakultät Bauwesen starten neues Forschungsprojekt zu beheizbaren Holzelementen: https://www.htwk-leipzig.de/de/presse /pressemitteilungen/artikel/detail/heizung-im-holzstuhl/ (Abrufdatum: 13.06.2013).

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Holz als Natur- und Verbundwerkstoff dargestellt, dazu anregen, auch andere komposite Materialien ganzheitlich auf weiterführende Gestaltungpotentiale zu untersuchen. Eine ausgewogene gestalterische Materialbetrachtung und die Übertragung von Materialprototypen in verschiedene Kontexte erscheinen aus heutiger Sicht für den Gestaltungsprozess von Gebrauchsgegenständen zielführender zu sein.

2.5 GESTALTERISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT WEICHEN UND SYNTHETISCHEN MATERIALIEN Feste, ewige und reine Materialien bestimmen den Materialdiskurs vom ausgehenden 19. Jh. bis zur Mitte des 20. Jhs. Mit dem Entwicklungsschub der synthetischen Kunststoffe wie Bakelit77 verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die neuen Stoffeigenschaften des Weichen, Flüchtigen und Kompositen und den Materialisierungsprozess. Sowohl im Design als auch in der Kunst werden mit freien Materialexperimenten einerseits die Grenzen der flüchtigen Materialien ausgelotet und andererseits formiert sich aus den Aktionen ein oppositionelles Extrem des Materialgerechtigkeitsdiskurses. Aus der Maxime ‚form-followsfunction‘ wird ‚form-follows-material‘. Damit stehen organisch gewachsene Gebilde industriell konstruierten vollkommenen Produkten gegenüber: das Einzelstück dem Massenprodukt, also Unikat versus Serie oder Persönlichkeit versus Anonymität, Moment gegen Zeitlosigkeit, Kunstobjekt gegen Industrieprodukt. Diese Liste ließe sich noch weiterführen. Die Materialbetrachtung der weichen und flüchtigen Phase entwickelt sich weiter, als am Ende der 1980er Jahre der Computer und die elektronischen Medien als ‚weiche‘ Gestaltungswerkzeuge die Bearbeitungspalette erweitern. Im Folgenden wird auf die Phasenübergänge von ‚weich-variabel‘ zu ‚festdefiniert‘ und umgekehrt eingegangen. Hierbei muss erwähnt werden, dass die

77 Erster vollsynthetischer Kunststoff (1907) des belgischen Chemikers Leo Hendrik Baekeland. Der Phenolharz wird wegen seiner isolierenden und leicht zu formenden Eigenschaften erstmals massenhaft als ‚Gehäusewerkstoff‘ von der Industrie angewendet. In der frühen Entwicklungsphase von Elektro- und Automobil-Industrie war Bakelit ein unumgänglicher Werkstoff geworden. Online abrufbar unter: http://www. deutsches-kunststoff-museum.de/rund-um-kunststoff/das-lexikon-der-kunststoffe/ph enolharze/ (Abrufdatum: 02.05.2015). Eine Zeittafel zur Geschichte der Kunststoffe findet sich auf: http://www.deutsches-kunststoff-museum.de/rund-um-kunststoff/ zeittafel-zur-geschichte/ (Abrufdatum: 02.05.2015).

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Materialbetrachtung anhand des Eigenschaftspaares weich und fest keine willkürliche Setzung ist, sondern diese gegenläufigen Materialeigenschaften durchziehen vielmehr nahezu die gesamte Produktwelt und zwar entweder als extreme Gegenüberstellung oder als integrale Bestandteile von Gegenständen. In der Mitte des 19. Jhs. beginnt die industrielle Synthesewelle ausgehend vom vulkanisierten Kautschuk, über Zelluloid, Linoleum, PVC, Galaith, Polystyrol, Bakelit bis hin zum Plexiglas. Wagner beschreibt das Ende der Materialgerechtigkeitsdebatte als einen schleichenden Prozess, der mit der Weiterentwicklung von synthetischen Kunststoffen einhergeht und schließlich das „Dogma der materialgerechten Form verabschiedet“78. Bereits für die 1920er Jahre datiert Wagner, dass die transparenten, anpassungsfähigen und kulturell unbelasteten Kunststoffe wie Plexiglas „alle Kriterien der Materialgerechtigkeit“ hinter sich gelassen haben.79 Sie führt weiter aus, dass ab den 1960er Jahren ein Paradigmenwechsel stattfindet, in dessen Folge das ‚eiserne Zeitalter‘ der ersten Industrialisierung schließlich dem „Plastik-Zeitalter“80 weichen muss. Diese Phase wird von Künstlern begleitet, die vorurteilsfrei experimentieren und sich konstruktiv von den faszinierenden Materialeigenschaften, wie Elastizität, Formbarkeit, Weichheit und Instabilität, inspirieren lassen. Besonders die künstlerischen Studien mit expandierenden und freigeformten Polymerschäumen werden von Wagner als Argument herangezogen, um ein Ende der materialgerechten Form zu demonstrieren und so resümiert die Autorin über den Umgang mit Schäumen: „Das Wachsen des Materials, […] dessen Form aber nicht gezielt gestaltet, sondern wie zufällig aus chemischen Formeln und Faktoren der Anordnung zu resultieren scheint, fallen zusammen. […] Denn diese Stoffe entstehen erst mit ihrer Form; sie sind vorher als Kunststoffe überhaupt nicht vorhanden, sondern nur als getrennte chemische Substanzen, die nicht nur vollkommen andere Eigenschaften, sondern auch andere Aggregatzustände aufweisen als der generierte Stoff.“81

In dieselbe Richtung geht die Argumentation Roland Barthes82, wenn er über die ‚Mythen des Alltags‘ schreibt und darin auf Plastik als „wunderbare[n] Stoff“ verweist. Für Barthes ist Plastik „nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer 78 Vgl. Wagner, M.: Vom Ende der materialgerechten Form. S. 242. 79 Vgl. ebd. S. 236. 80 Ebd. S. 238. 81 Ebd. S. 241. 82 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Berlin: Suhrkamp 2012. S. 223. [Erstausgabe] Barthes, Roland: Mythologies. Paris: 1957.

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unendlichen Transformation; es ist […], die sichtbar gemachte Allgegenwart“, denn das flüchtige Plastik (Barthes spricht von Bewegung) entzieht sich aufgrund seiner amorphen Materialeigenschaften den starren Regularien des Materialgerechtigkeitsdiskurses.83 Synthetische Kunststoffe, deren Grundzustand entweder flüssig oder granulatartig ist, sind unkonkret geronnene Substanzen, die zwischen hart und weich rangieren und gleichermaßen Eimer wie Schmuckstücke sein können.84 Was bereits den frühen Kunststoffen eigen ist und besonders mit dem Plastikwerkstoff der Nachkriegsjahre zur Geltung kommt, ist das Versprechen, die Produktionskosten zu senken und Produktionsgeschwindigkeit sowie die damit verbundene Produktionsrate erheblich zu steigern. Dieses Potential ist bereits im vollsynthetischen Material angelegt, denn das leichte, farbige Granulat thermoplastischer Kunststoffe verfügt über einen deutlich niedrigeren Schmelzpunkt als alle metallischen Werkstoffe zuvor. Die Familie der synthetisch flüssigen Alleskönner kann sich ungehindert, durch die chemische Industrie geadelt, in unzähligen Formen und Farben von Alltagsgegenständen ergießen, denn nach Barthes hat Plastik endgültig „die Hierarchie der Substanzen […] abgeschafft, [denn] eine einzige ersetzt sie alle: Die ganze Welt kann plastifiziert werden […].“85 Mit den gestalterischen Möglichkeiten der synthetischen Kunststoffe arrangieren sich nicht nur die Designer der Nachkriegszeit, sondern auch Künstler, die mit den damals noch semantisch unbelasteten Materialien neue Ausdrucksformen entwickeln. Das künstlerische Interesse richtet sich seit den 1950er Jahren vor allem auf die flüchtigen Materialeigenschaften. Mit der Bezeichnung des ‚Flüchtigen‘ ist keine Auflösungserscheinung im Sinne einer Entmaterialisierung gemeint, vielmehr geht es um die Transformation eines Aggregatzustandes in einen anderen, wie etwa weich zu fest. Den traditionellen Kunst-Materialien mit ihrem semantisch aufgeladenen ‚Ewigkeitsanspruch‘ wird eine Kunst des Vergänglichen, Amorphen und Formlosen entgegengesetzt.86 Sebastian Hackenschmidt und Dietmar Rübel untersuchen an Möbeln in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. eine postmoderne Phase der ‚Formlosigkeit‘, die sie als gestalterischen Ausdruck einer oppositionellen Gegenreaktion auf die ‚gute

83 Ebd. S. 223f. 84 Ebd. S. 224. 85 Ebd. S. 225. 86 Zum Thema Formlosigkeit in Design und Kunst siehe Wanderausstellung Formlose Möbel im MAK Wien, 28.05. - 26.10.2008 und im Museum für Gestaltung in Zürich 10.2009- 02.2010.

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Form‘ und die Materialgerechtigkeit werten.87 Polymorphes Design ist nach Hackenschmidt und Rübel die provokativ experimentelle Antwort auf die Neuausrichtung der kriegsgezeichneten, westlichen Industrienation, wobei die Protagonisten die „utopische Hoffnung auf eine neue Lebenseinstellung, ja auf eine [neue] Gesellschaftsform“ mit ihren unförmigen Produkten verbanden.88 In den 1960er Jahren findet das künstlerische und gestalterische Interesse an freien, alternativen Formungsprozessen und Materialexperimenten besonders in den Kunststoffen unkonventionelle Materialisierungsmöglichkeiten, die als Gegenargument zur Standardisierung und Rationalisierung des Funktionalismus fungieren sollten. In dem Kapitel Die radikalen sechziger Jahre89 verweist Bürdek auf die Hinterfragung des Funktionalismus durch alternative Entwurfsthemen. Besonders im italienischen Design setze sich ein „nahezu spielerische[r] Umgang mit Formen, Materialien und Farben“ seit den 1960er Jahren durch, welche das Erscheinungsbild der Gebrauchsgegenstände nachhaltig präge.90 Hier sei insbesondere auf wichtigste Vertreter der italienischen Gegenströmung verwiesen, die vom Superstudio über Archizoom, Studio Alchimia bis Memphis und andere mehr reichen und die explizit mit den neuen Materialien im Entwurfsprozess experimentierten.91 Nach Selle handelt es sich bei den Protagonisten der italienischen Designbewegung „um arrivierte, in die übliche Entwurfspraxis integrierte Industriedesigner, die sich früh auf formale Experimente mit heterogenen Materialien und auf ein ironisches Spiel mit den Klassikern der Moderne einlassen“92. Prinzipiell ging es den Designgruppierungen darum, ein Gegenmodell zum ‚Rationalitätsmythos‘ zu entwerfen, das schließlich darin mündet, „dass sich neben der offiziellen Doktrin des Funktionalismus ‚Form Follows Function‘ andere Designauffassungen [eher nach dem Prinzip der absoluten Beliebigkeit] nunmehr rasch durchsetzen konnten.“93 Die Protestgestaltung, die Kunst, Architektur und Produktgestaltung gleichermaßen durchdringt, richtet sich gegen die ‚ab87 Hackenschmidt, Sebastian und Rübel, Dietmar: Formlose Möbel. In: Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung, MAK Wien, 28.05. - 26.10.2008. Hrsg. v. Peter Noever. Ostfildern: Hatje Cantz 2008. S. 10-116. 88 Ebd. S. 34. Die Kritik richtet sich gegen das erstarrte bürgerliche Interieur, das durch schwere, solide und wertvolle Möbel repräsentiert wird, denen man mit flexiblen, formveränderbaren und flüchtigen Sitzwelten entgegentritt. 89 Bürdek, B. E.: Design. S. 61f. 90 Ebd. S. 127. 91 Ebd. S. 133ff. 92 Selle, G.: Geschichte des Design in Deutschland. S. 269. 93 Bürdek, B. E.: Design. S. 141.

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solute‘ Form sowie gegen die bedeutungsaufgeladenen Materialien und gleichzeitig erhebt man aus künstlerisch gestalterischer Sicht Vorwürfe gegen die zweck- und funktionsorientierte Produktwelt seit den 1920er Jahren. Für den provokativen Auftritt nutzt man die polymorphen Eigenschaften der neuen synthetischen Kunststoffe (Plastik, Silicon, Polyurethanschaum, Polyesterharz, Latex u.a.). Hinzuzuzählen sind auch textile Materialien, wie Filz. Selbst Luft wird als gestaltbares Medium verstanden. Mit dünnen, transparenten und elastischen Folien lässt sich die Luft umschließen, sodass pneumatische Möbelobjekte, wie Blow on Zanotta (1967) oder architektonische Leichtbaukonstruktionen entstehen. Marcel Breuers94 Idealvorstellung aus den 1920er Jahren, nach der das Sitzen wie auf einer Säule aus Luft möglich sein sollte, konnte vierzig Jahre später als pneumatische und transparente PVC-Hüllkonstruktion Gestalt annehmen. Im Gegensatz zu harten selbsttragenden Materialien bildet sich bei pneumatischen Formen die Gestalt nur aufgrund von Druckdifferenzen zwischen dem Innenund Außenraum. Anderen amorph flüchtigen Kunststoffen obliegt ein chemischer ‚Selbstbildungstrieb‘, dessen Entfesselung das Material von einer notwendigen Form befreit. Material und Form bilden ein Kontinuum, wie es am Beispiel von Polyurethan, einem flüssigen Zweikomponentenkunststoff, deutlich wird. Sobald die beiden Komponenten miteinander vermischt werden, setzt die chemische Reaktion ein, die das Material zuerst expandieren lässt, um danach als schaumige Masse weich oder hart auszuhärten. Der metamorphe Prozess, der aus Flüssigkeiten voluminöse Gebilde entstehen lässt, wird erstmalig von dem französischen Bildhauer César Baldaccini als künstlerisches Ausdruckmittel verwendet. Im Jahr 1968 fanden unter den Augen der Museumsbesucher spezielle ‚Expansions-Happenings‘ statt, wie beispielweise in der Londoner Tate Gallery. Nach Hackenschmidt und Rübel beruhe die Faszination von Materialien mit Selbstbildungskräften auf Gestalter darin, „weil sie [als Künstler] die Generierung der Form an die Materialeigenschaften delegieren“ können.95 Über die künstlerischen Versuche hinaus entwickele sich ein Materialverständnis für den gestalterischen Umgang mit expandierenden Kunststoffen, Schaumstoffen, elastisch transparenten Folien, was schließlich dazu führe, das „Formenrepertoire der Gebrauchsgegenstände produktiv zu überschreiten und das starre Konzept eines definitiven, in seiner Form unveränderlichen Möbels hinter sich zu lassen“, um 94 Der unter der Rubrik ‚100 Masterpieces‘ des Vitra Design Museums zu findende Beitrag über Marcel Breuers B 3 (Wassily) und die Reduktion des Materials auf gebogene Stahlrohre ist online abrufbar unter: http://www.design-museum.de/de/sammlung/100masterpieces/detailseiten/b3wassily-marcel-breuer.html (Abrufdatum: 18.12.2015). 95 Hackenschmidt, S. und Rübel, D.: Formlose Möbel. S. 26.

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damit „neue Gebrauchsweisen – ungewohnte Sitzpositionen und provokante Posen [herauszufordern], die bislang nicht in das gesellschaftliche Repertoire“ gehörten.96 Auch bei technischen Geräten eröffneten die weichen Materialien neue funktionale und formalästhetische Ausdrucksweisen, wie es sich beispielhaft an einem Elektrorasierer der Firma Braun darlegen lässt, der Ende der 1970er Jahre entwickelt wurde. Hier werden die beiden Materialeigenschaften weich und fest erstmalig designstrategisch in einem technischen Gehäuse so vereint, dass sich die konträren Eigenschaften ergänzen und eine neuartige Wahrnehmung der Haptik bei technischen Geräten einleiten. Als die Firma Braun im Jahr 1979 den Rasierapparat Micron plus 2000 auf dem Markt einführt, waren die technischen Faktoren (Scherblatt, Akku, Elektronik, Miniaturisierung) und die gestalterischen Elemente (kompakte Faustkeilform, Bedienkonzept) bei Trockenrasieren weitestgehend ausgereift (Abbildung 3).97 Abbildung 3: Braun Elektrorasierer Sixtant (1962), Micron plus 2000 (1979), Series 5 (2012)

96 Ebd. S. 56. 97 Vgl. http://www.core77.com/posts/24437/a-history-of-braun-design-part-1-electricshavers-24437 (Abrufdatum: 25.12.2015). Vgl. http://sammlung-design.de/index.php? article_id=57 (Abrufdatum: 25.12.2015).

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Bis dahin waren die Gehäuse aus Hartkunststoff und Metall hegestellt. Zwar gab es bei den genannten Materialien verschiedene Oberflächenqualitäten (strukturiert, hochglänzend, matt, gebürstet etc.), aber der Korpus war stets aus hartem Material. Das gestalterische Interesse richtete sich nun verstärkt auf eine hybride Oberflächenausführung, die durch eine neuartige Materialkombination geprägt werden sollte. Roland Ullmann, damals verantwortlicher Designer für die Braun Elektrorasierer, gelingt mit seinem Gestaltungsansatz eine Verbindung der beiden konträren Materialeigenschaften hart und weich. Indem das Gehäuse mit einer partiell weichen Gummierung (Noppen) versehen wird, verbessert sich die Handhabbarkeit des Rasierapparates und darüber hinaus ist es der Einstieg in ein weiterentwickeltes Gehäusedesign für elektronische Geräte sowie andere Gebrauchsgegenstände.98 Für Klaus Klemp99 führt die hart-weiche-Materialkombination sowohl zu einer neuartig „funktionalen Griffigkeit, aber auch zu einer Visualität, die an die Lochbleche der frühen Entwürfe von Braun aus den 50er-Jahren erinnert. [Der brauntypische] Gestaltungskanon [wurde aber nicht dogmatisch auf die Gegenwart […]“ übertragen, sondern gestalterisch dahingehend reflektiert, dass der Rasierer eine subtile Anschlussfähigkeit an bestehende Vorgänger aufweist. Die spezifische Materialkombination erscheint zielgerichtet, kontrolliert und verspricht geradezu einen präziseren Gebrauch. Die harten und weichen Eigenschaften eröffnen mehr als nur ein neuartiges Tasterlebnis, denn: „[das Gerät] mit seiner […] Hart-Soft-Symbiose – war das erste Beispiel, wie Oberflächen-Technologie und Material zusammenwirken können, um ein innovatives RasiererDesign entstehen zu lassen. […] Die genoppte Oberflächenstruktur wurde rasch zum Markenzeichen von Braun, wie auch die inzwischen bewährte Schertechnologie und Farboptik, selbst über die Grenzen unterschiedlicher Produktkategorien hinweg.“100 98

Zehentbauer, Markus: Roland Ullmann. The New Sound of Braun. In: The Making of Design. Vom Modell zum fertigen Produkt. Hrsg. v. Gerrit Terstiege. Basel: Birkhäuser 2009. S. 95. Zu diesem materialbedachten Gestaltungsimpuls äußert sich Zehentbauer: “Ullmanns fused soft rubber knobs with hard surfaces for the Micron so that the device would be easier to hold: it was the beginning of the hard/soft technology.”

99

Klemp, Klaus: Dieter Rams, Braun, Vitsoe und die immer kleiner werdende Welt. In: Less and more. The design ethos of Dieter Rams. Hrsg. v. Keiko Ueki-Polet u. Klaus Klemp. Berlin: Die Gestalten Verlag 2009. S. 482.

100 http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2012-11/25097838-neuer-braunseries-5-rasierer-erobert-50-jahre-nach-dem-braun-sixtant-den-markt-004.htm (Abrufdatum: 18.12.2015).

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Heutzutage findet man die hybride Materialkombination aus weichen und harten Kunststoffen ganz selbstverständlich beispielsweise bei Zahnbürsten, Turnschuhen, Griffen, Schaltern und diversen Gehäusen für technische Geräte. Mittlerweile sind Mehrkomponenten-Spritzgießmaschinen in der Lage, verschieden eingefärbte, harte und weiche Kunststoffe in einem mehrstufigen Prozess zu verarbeiten. Nachdem nun auf die Überwindung der starren Material-Form-Zweckbetrachtungen eingegangen wurde und gezeigt werden konnte, dass jeder Doktrin bereits die gegenteilige Argumentation und damit Gegenbewegung innewohnt, soll nun verstärkt ein materialorientierter Gestaltungsprozess herausgearbeitet werden. Als Orientierung dienen die frühen Ansätze des Instituts für leichte Flächentragwerke (IL), deren Protagonisten dem Material eine besondere Stellung im Hinblick auf den Entwurfsprozess einräumen. Besonders die weichen Materialien erfahren eine interpretatorische Deutung als ‚Anzeigemittel‘ komplexer Material-Form-Verhältnisse, die man mit natürlichen Konstruktionen vergleicht und unter anderem für architektonische Anwendungen nutzbar macht.

2.6 WEICHE UND FESTE MATERIALIEN IM GESTALTUNGSPROZESS Die Kunst reagiert auf die weichen, reaktionsfreudigen Phasenwechselmaterialien mit einer materialorientierten Experimentierfreude, um eben auch das Formenspektrum zu erweitern. In der Architektur und Konstruktionslehre finden die weichen Materialien mit ihrem Formungspotential wieder eine stringentere Durchleuchtung. Wie sich eine freie und dennoch naturwissenschaftlich orientierte Materialbefragung in den Gestaltungsprozess integrieren lässt, zeigen die Experimente am IL101. Hierbei versteht man die weichen, flexiblen, elastischen und amorphen Werkstoffe als Entwurfswerkzeuge, die sich methodisch zur ‚Formfindung‘ nutzen lassen. Ferner bildet die dort entwickelte materialorientierte Entwurfsmethodik die Grundlage für eine alternative und disziplinübergreifende Herangehensweise an Gestaltungsaufgaben. Entgegen der künstlerischen Auseinandersetzung mit flüchtigen und formlosen Materialien untersuchte man am IL systematisch leicht zu formende Materialien, wie Seifenblasenhäute, Schäume, Biegestäbe aus Holz, elastische Textilien, und die daraus resultierenden Formzusammenhänge. An dieser Stelle soll keine vollständige Werkanalyse

101 Zeitlich eingeordnet betrifft es die Experimentierphase seit Mitte der 1960er Jahre bis zum Anfang der 1990er Jahre.

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erfolgen; dafür ist der Forschungsumfang zu umfangreich und zu feingliedrig. 102 Deswegen beziehen sich die folgenden Untersuchungen überwiegend auf die experimentelle Entwurfsmethodik, die als Grundlage der verschiedensten Forschungsgebiete des IL anzusehen ist und in den ‚IL-Mitteilungen‘ veröffentlicht werden. Dabei handelt es sich um eine thematisch fortlaufende Schriftenreihe, die die wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge und Versuchsaufbauten des IL vereint. Im dritten Kapitel dieser Arbeit, in der die Generierung und Materialisierung einer keramischen Schalenkonstruktion abgehandelt wird, wird der hier angedeutete materialorientierte Gestaltungsprozess wieder aufgegriffen. 2.6.1 Material-Form-Versuche Als Gestalter kann man durchaus sagen, dass eine exakte und laborhafte Auseinandersetzung mit Materialien in aller Regel von Materialingenieuren aus Wissenschaft und Industrie betrieben wird und weniger von kreativ wirkenden Gestaltern. Auch gehört das Materialexperiment in dieser Hinsicht eher in das Forschungsfeld naturwissenschaftlicher Disziplinen als zum gestalterischen Werkzeugkasten der Kreativindustrie, um beispielsweise Beziehungen vom Material zur Form und weiter zur Konstruktion abzuleiten. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass die systematische Einflechtung der Materialeigenschaften in den Gestaltungsprozess als Möglichkeit des Formverstehens und als Methode des Formerzeugens einfließt. Am IL lässt sich nachweislich ein materialorientierter Gestaltungsansatz aufzeigen. Dieser Ansatz durchzieht die jahrzehntelangen Forschungen zum Thema ‚Prinzip Leichtbau‘ und fußt mitunter auf der Grundlage von Materialeigenschaften, die kreativ und konstruktiv für die Lösung von Gestaltungsaufgaben herangezogen werden.103 Es ist interessant zu sehen, dass 102 Um einen Überblick über diese Forschung zu erhalten, eignet sich die Lektüre der IL-Mitteilungen. Diese enthalten Grundlagentexte zum Thema Leichtbau und disziplinübergreifende Wissenschaftsbeiträge, Dissertationen und Forschungsergebnisse aus Projekten sowie Tagungsbeiträge. Von 1969 bis 2004 sind 41 unterschiedliche thematische Ausgaben erschienen. 103 Das Prinzip Leichtbau ist eine Grundhaltung für die Forschung am IL und durchzieht das gesamte Forschungsvorhaben um die Themen Baukonstruktion, natürliche Konstruktionen und Architektur. Vgl.: Hennicke, Jürgen: Konstruktionen. In: Natürliche Konstruktionen. Formen und Konstruktionen in Natur und Technik und Prozesse ihrer Entstehung. Hrsg. v. Frei Otto. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt1982. S. 24f. Der Autor verweist auf das Prinzip Leichtbau als ein Denkmodell, das die „[…] Beziehungen zwischen den Erscheinungsformen und den Entstehungsprozes-

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zum Beginn der Forschungstätigkeit am IL weiche Materialien genutzt werden, um diese auf unkonventionelle, aber dennoch konstruktive Weise für Formexperimente zu hinterfragen.104 Denn nur mit „schwachen“ Materialien, die bei kleinen Kräften große Verformungen erlauben, lassen sich „phänotypische Darstellungen der wechselseitigen Einflüsse von Kraft und Form“ erzeugen. 105 Als schwache Materialien, nur um einige Beispiele zu nennen, gelten elastische Membrane, Netze, Textilien, Gummihäute, Seifenlamellen, viskose Flüssigkeiten, expandierende Schäume, Biegestäbe oder Fäden. Was den methodischen Ansatz betrifft, so werden die hier aufgeführten schwachen Materialien als materielle Datenträger für die Abbildung typischer Formen wie Minimalflächen verwendet. Denn die Versuchsmaterialien erzeugen Formen, die sich selbst organisieren und die materialbedingt zu leichten Konstruktionen führen. Die Aussagen des Modellmaßstabes, mit denen man den Formwerdungsprozess zu belegen versucht, werden kontextübergreifend diskutiert und auch in architektonische Größenverhältnisse nicht nur theoretisch skaliert, sondern auch praktisch umgesetzt. Aus dem individuellen Materialverhalten resultieren materialtypische Formen, die sich in verschiedenen Maßstäben messtechnisch in nummerische Daten übertragen lassen, um bei einer gestalterischen Einschätzung und Interpretation der angestrebten Form und dem dafür benötigten Materialaufwand zu helfen. Dazu vereinte das IL nicht nur Architekten und Konstrukteure, sondern auch Ingenieure, Biologen, Zoologen, Verhaltensforscher, Paläontologen, Botaniker, Physiker, Philosophen, Historiker und zahlreiche Industrieunternehmen, um gemeinsam an Objekten der lebenden und toten Natur sowie an technischen Produkten und Konstruktionen zu forschen.106

sen von allen materiell existierenden Objekten in der Natur und in der Technik [zu erkennen versucht, und um damit] die Gesetzmäßigkeiten der Zusammenhänge zwischen Form, Kraft und Masse [beschreiben zu können]. Des Weiteren verweist Hennicke auf den Material-Form-Bezug, indem er sagt, je „weniger Masse eine Konstruktion benötigt, um Kräfte zu übertragen, desto besser ist ihre Form.“ 104 „Form, Kraft und Masse“ ist Titel der gleichnamigen IL-Schriftenreihen mit den Nummern 21-25. 105 Vgl. Gass, Siegfried: Form-Kraft-Masse. Teil 5 Experimente. Stuttgart: Krämer 1990. S. 2.12. 106 Vgl. Otto, Frei: Gedanken zur Forschung. In: Pneu und Knochen. IL 35. Hrsg. v. Frei Otto. Stuttgart: Krämer 1995. S. 8f. Über die Aufgabenverteilung des interdisziplinären Forscherteams siehe ‚Gedanken zur Forschung‘.

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2.6.2 Exkurs: Materialuntersuchungen am Institut für leichte Flächentragwerke (IL) Als wichtigster Verfechter dieser materialorientierten und experimentellen Formgestaltung gilt der Architekt und Gründer des Instituts für leichte Flächentragwerke (IL) Frei Otto. Mit seiner visionären „Architektur für eine friedliche Gesellschaft[, die] im Einklang mit der Natur“ steht, formuliert Otto ein Gegenmodell zu zeitgenössischen Architekturströmungen.107 Mit der statt gegen die Natur zu bauen und von den natürlichen Geschöpfen zu lernen, diese zu verstehen und für technische Konstruktionen zu übersetzen, ist ein Leitmotiv in Ottos Lehre und Entwurfspraxis.108 Berücksichtigt man diese Grundhaltung des Architekten, dann versteht man auch die unkonventionelle Art der Materialbefragung, die eine zentrale Rolle in seiner Auffassung von einem Gestaltungsprozess einnimmt. Im Interview mit dem Architekturtheoretiker Heinrich Klotz verdeutlicht Otto seine Entwurfshaltung, die darauf basiert, „mit einem Minimum an Material eine Form zu finden“ und aus den Einschränkungen eine Architektur zu erzeugen, die dem Prinzip der massearmen Konstruktion folgt, die an natürliche Formenprinzipien angelehnt ist und aus unkonventionellen Materialzusammensetzungen resultiert.109 So leicht wie möglich zu bauen und dafür so wenig Material

107 Vgl. Nerdinger, Winfried: Frei Otto. Das Gesamtwerk. Leicht bauen, natürlich gestalten. Hrsg. v. Winfried Nerdinger. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2005. S. 9ff. 108 Vgl. Otto, Frei: Natürliche Konstruktionen. Formen und Konstruktionen in Natur und Technik und Prozesse ihrer Entstehung. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1982. S. 8f. Die Forschergruppe verstand sich aber nicht als Naturkopierer, sondern als Prozessversteher: „Wer die lebende Natur studiert mit dem allgemeinen Ziel, diese zu nutzen, dem erschließt sie sich nicht; wer aber die Ursache und Wirkung ohne vorsätzliche Absicht erforscht, dem entdeckt sie sich.“ 109 Vgl. Klotz, Heinrich: Architektur in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein 1977. S. 212. Heinrich Klotz‘ Interviewsammlung stellt sechs der einflussreichsten Architekten der deutschen Nachkriegszeit (Behnisch, Döring, Hentrich, Kammerer, Otto und Ungers) gegenüber und erlaubt so einen Einblick in die Architekturströmungen. Die zentralen Fragen bewegen sich zwischen einer Architektur als Mittel der Bauwirtschaft mit zweckrationaler Ausrichtung und einer Architektur als Bedeutungsträger und als Baukunst. Die Interviews dokumentieren auch die unterschiedlichen Materialanwendungsstrategien, die von technischfunktional über poetisch-emotional hin zu ökonomisch-rational rangieren. Frei Otto zählt sich selbst zur Opposition, die gegen eine Architektur gerichtet ist, die „mit

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wie nötig zu verbrauchen, ist Ottos Anspruch und Haltung zugleich.110 Die Begrenzung des Materialangebots insbesondere in den Nachkriegsjahren des 20. Jhs. hat zur Folge, dass sich die Aufmerksamkeit auf den Werkstoff richtet und dass sich die Form aus den Begrenzungen desselben ergibt. Dieser Aspekt ist umso interessanter, weil Materialien aus heutiger Sicht weder Mangelware sind noch erschwerte Beschaffungsmaßnahmen gelten. Eher sollte man von einem Materialüberfluss sprechen und davon, dass das Materialangebot unüberschaubar zu werden scheint. Aus dieser Perspektive schließt sich die Frage an, ob diese Materialvielfalt nicht sogar den Gestaltungsprozess in Bezug auf die Materialwahl nachteilig beeinflusst. Der Materialmangel hingegen verpflichtet zur sorgfältigen Prüfung, genauen Analyse und Einbindung der Materialeigenschaften in den Entwurfsprozess; ein Prinzip, das Otto als unumgängliche Erfahrung in seine spätere Forschungstätigkeit übernimmt und mit den Erkenntnissen über die Formenvielfalt der „natürlichen Konstruktionen“ aus der Natur kombiniert.111 In diesem Zusammenhang spricht Siegfried Gass112 davon, ein grundlegendes Verständnis von natürlichen Formungsprozessen zu generieren, denn man ging davon aus, dass natürliche Konstruktionen „Ergebnisse von [evolutionären] Optimierungsprozessen“ seien und damit interessant für technische Konstruktionen. Bei der Suche nach ‚optimalen‘ Konstruktionen mit minimalem Materialaufwand entstehen aus materialgesteuerten Versuchsaufbauten die typischen ‚Formfindungsmodelle‘113, die beimöglichst viel Material eine bleibende Dokumentation menschlicher Macht auf der Erde zu erzeugen“ versucht. / Siehe auch Schanz, Sabine: Frei Otto, Bodo Rasch. Gestalt finden. Auf dem Weg zu einer Baukunst des Minimalen. Der Werkbund zeigt Frei Otto, Frei Otto zeigt Bodo Rasch. Ausstellung in der Villa Stuck, München, anlässlich der Preisverleihung des Deutschen Werkbundes Bayern 1992 an Frei Otto und Bodo Rasch. 3. Auflage. München: Edition Axel Menges 2001. S. 13. 110 Vgl. Klotz, H.: Architektur in der Bundesrepublik. S. 231. Otto über die Situation als Architekt, Bauleiter und Kriegsgefangener: „Es gab aber kaum Material, und so war unser ständiges Problem: Wie kann man bauen? Wie kann man - und das war wirklich die grundlegende Frage – wie kann man aus Nichts etwas machen? […] Wie kann man mit geringstem Aufwand viel machen?“ 111 Vgl. Klotz, H.: Architektur in der Bundesrepublik. S. 234. Die Formenvielfalt der lebenden Natur sollte nicht kopiert werden, sondern die Formentstehung wurde abstrahiert und in technische Strukturen übersetzt. 112 Vgl. Gass, S.: Form-Kraft-Masse. S. 2.3. 113 Vgl. ebd. S. 6.2. Gass über den Stellenwert des physischen Modelles im Entwurfsprozess: „Zur Darstellung architektonischer Ideen spielen Modelle [und Experimente] eine zentrale Rolle, insbesondere dann, wenn sich die Form der Konstruktion und

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spielsweise die mikroskopisch kleinen Strukturen der lebendigen und toten Natur ins Makroskopische übersetzen. Entgegen der bewussten Verformung von Werkstoffen entzieht sich die Methode der Formfindung dem künstlerischen „Formwillen“, da das Material aufgrund von „Selbstbildungsprozessen“ selbstständig Formen findet. 114 Man ging davon aus, dass Formen, die auf Selbstbildungsprozessen beruhen, über einen „Gleichgewichtszustand“ zwischen inneren und äußeren Kräften verfügen, sodass die Formen „in vielen Fällen ein direktes Abbild [der] wirkenden Kräfte“ sind.115 Für die Gestaltungspraxis bedeutet dies beispielsweise eine Einsparung von Material bei gleichbleibendem Tragverhalten, sodass technische Leichtbaukonstruktionen entstehen, die eine eigenständige Ästhetik ausweisen. Die Apparate116 und Modelle sind sowohl Entwurfswerkzeuge als auch Datenspeicher mit umfangreichen Messdaten, die als nummerische Grundlagen für heutige Konstruktionssoftware dienen.117 Heutzutage erscheint es selbstverständlich, auch natürliche Konstruktionsstrategien für den Entwurfsprozess zu nutzen, um Verbesserungen von künstlichen Konstruktionen zu finden.118 2.6.3 Bedeutung der Material-Form-Modelle als Kommunikationsmedien Das Material-Form-Modell erfüllt mehrere Zwecke: Einerseits fungiert das abstrakte Gebilde als architektonischer Ideengeber und als Werkzeug für technische Konstruktionen und Gebäude, andererseits eröffnet der Versuchsaufbau einen erweiterten Blick auf mögliche Entstehungsprozesse natürlicher Formen, die mit der Versuchsdurchführung erklärbar werden.

damit auch das räumliche Gefüge nicht aus einer durch Gedanken oder Skizze vorgegebenen räumlichen Situation ergibt, sondern sich von selbst einstellt und dann anhand der ursprünglichen entwerferischen und konstruktiven Ideen beurteilt und korrigiert wird.“ 114 Ebd. S. 2.2f. 115 Ebd. S. 4.2. 116 Schanz, S.: Frei Otto, Bodo Rasch. Der Ausstellungskatalog zeigt die wichtigsten Modellversuche, Formexperimente und Digitalisierungsmethoden. 117 Ebd. S. 76. Die Einführung erster Computersimulationen auf der Grundlage der Finite Element Berechnung, die von Klaus Linkwitz erstmals 1966 auf Anregung Frei Ottos eingeführt wurde, um die analogen Modelle zu digitalisieren. 118 http://www.bionikzentrum.de/default.asp?navA=bionik&navB=geschi chte&navID=3&editable=1 (Abrufdatum: 25.05.2014).

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Um beispielsweise das natürliche Zellwachstum oder die Form von natürlichen Gitterschalen und Knochenstrukturen zu erklären, wird ein Versuchsaufbau genutzt, der auf mit Luft gefüllten Ballons, sogenannten Pneus, basiert.119 Ein Ballon, der beim Aufblasen durch Hindernisse deformiert wird, hat Ähnlichkeiten mit natürlichen Formen, wie Zellen, Knospen, Früchten oder einzelligen Lebewesen. Mehrere Ballons, die von allen Seiten verdichtet werden, bilden eine typische Zellstruktur aus. Das Wirkungsprinzip eines technischen Pneus und einer natürlichen Zelle gliedert sich auf in eine räumlich dünne Hülle und eine Druckdifferenz zwischen innen und außen. Man verbindet den Wachstumsprozess natürlicher Objekte, vom Einzeller120 bis zum komplexen Knochen, mit dem Verformungspotential pneumatischer Konstruktionen, die zuerst weich sind und durch Einlagerung von verfestigenden Substanzen spezifisch aushärten.121 Wenn Teilbereiche einer zuvor zugbeanspruchten pneumatischen Konstruktion erhärten und die elastischen Bestandteile verschwinden, dann wird aus der zugbeanspruchten Konstruktion eine feste Struktur, die Druckkräfte optimiert ableiten kann. Aus einer weichen Haut wird eine tragfähige harte Schale. Die IL-Forscher sind bei diesen Material-Form-Versuchen davon ausgegangen, dass die gitterartige Schale des Einzellers (Diatomeen) in einem Umkehrprozess von weich-flexibel zu fest-tragfähig entsteht.122 In diesem Zusammenhang beschreibt schließlich Tobias Noser123 die 119 Grundlegende Informationen zu Formstudien mit Pneus in Natur und Technik finden sich in der IL Veröffentlichung von Otto, Frei: Wachsende und sich teilende Pneus. In: Wachsende und sich teilende Pneus IL 19. Hrsg. v. demselben. Stuttgart: Krämer 1979. S. 22-92. 120 Vgl. Otto, Frei: Prozess der Formentstehung. In: Diatomeen 1. Schalen in Natur und Technik. IL 28. Hrsg. v. Klaus Bach. Stuttgart: Krämer 1985. S. 256ff. 121 Klenk, Frieder: Formbildende Prozesse. In: Pneu und Knochen. IL 35. Hrsg. v. Otto Frei. Stuttgart: Krämer 1995. S. 183. Klenk äußert sich über natürliche Formbildungsprozesse wie folgt: „Alle lebenden Objekte kennen nur Teilerhärtung. Es gibt keine völlig harten Lebewesen. Alle Wachstumsprozesse spielen sich im weichen Bereich ab. Also mit dem und in dem Pneu, unter dem Einfluß der Verknüpfung von Fasernetzen.“ 122 Vgl. Helmke, Johann-Gerhard: Diatomeen. Morphogenetische Analyse und Merkmalsynthese in Diatomeen-schalen. In: Diatomeen 1. Schalen in Natur und Technik. IL 28. Hrsg. v. Klaus Bach. Stuttgart: Krämer 1985. S.18f u. S. 28f. Diatomeen (Kieselalgen) sind Einzeller und werden den Pflanzen zugeordnet. Die schalenartige Gestalt besteht aus einem glasartigen, zweiteiligen Außenskellet aus KieselsäureVerbindungen. Diatomeenschalen zählen die IL-Forscher zu den leichten Flächentragwerken, deren Form auf dem pneumatischen Prinzip beruht.

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Versuchsmodelle, die den natürlichen Entstehungsprozess von Diatomeen mit Hilfe von pneumatischen Konstruktionsmodellen simulieren und in dem die natürlichen Strukturen in den makroskopischen Maßstab transferiert werden. Nach Noser gleichen die porösen Gitterstrukturen des analogen Modells den natürlichen Vorbildern formal und funktional: hohe Festigkeit, Steifigkeit und Leichtigkeit bei geringstem Materialaufwand.

123 Vgl. Noser, Tobias: Modelle zur Formbildung von einigen Diatomeenschalen. In: Diatomeen 1. Schalen in Natur und Technik. IL 28. Hrsg. v. Klaus Bach. Stuttgart: Krämer 1985. S. 244-252. Anhand von fünf Modellversuchen beschreibt Noser die Annäherung einer technischen Schalenkonstruktion an die natürliche Gitterschale eines Diatomeens: Ausgehend von der natürlich gewachsenen Diatomeenschale wird der weiche Zustand einer Zellhaut mit einer doppelten Gummihaut simuliert. Für die Verfestigung der Schale verwendet Noser Kunstharz, der die natürliche Einlagerung von Siliciumdioxid nachstellt. Alle formbestimmenden Parameter basieren auf Zugund Druckkräften. Gummi ist ein Material mit einem niedrigen Elastizitätsmodul und dadurch leicht zu verformen. Wird das Material durch Krafteinwirkung gedehnt, geraten die Elementarbausteine (Atome) aus der Idealposition, wobei das Material die kinetische Verformungsenergie speichert, um wieder in die Ausgangform zu gelangen, sobald die einwirkende Kraft nachlässt. In der Gummihaut erzeugt die Materialdehnung eine Gegenbewegung, die das Material zusammenziehen lässt. Insofern ist eine elastische Haut reversibel. Für den Versuchsaufbau nutzt Noser zwei aufeinanderliegende, elastische Gummimembrane, die in einem kreisrunden Begrenzungsrahmen eingespannt werden. Zwischen den beiden Membranen befindet sich eine Vielzahl kleinerer elastischer Kugeln (wassergefüllte Luftballons). Man stelle sich einen stehenden Zylinder vor, dessen Unterseite mit einer Bodenplatte geschlossen ist. In der Bodenplatte ist ein Ventil integriert. Die noch offene Zylinderseite wird mit der Ballon gefüllten Doppelmembran luftdicht verschlossen. Presst man in den Zylinder Luft hinein, dann dehnt sich die Doppelmembran nach außen zu einer Kuppel. Das hat Auswirkungen auf Positionen und Formen der elastischen Kugeln im Inneren der Doppelmembran. Zuerst werden die elastischen Kugeln flachgedrückt, bis sich Kontaktflächen bilden und Zwischenräume ausfüllen. Ist das Maximum an Ausdehnung der Doppelmembran erreicht, entsteht im Inneren ein minimales Kammersystem aus Kanälen mit typischen Verzweigungen. Füllt man anschließend die noch vorhandenen Hohlräume der Doppelmembran mit dem Kunststoff aus, so erhält man nach der Aushärtung eine offenporige Gitterschale mit minimalem Materialbedarf.

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2.7 ZUSAMMENFASSUNG Es wurde gezeigt, dass es in der Designgeschichte verschiedene Materialbetrachtungen gegeben hat und dass damit bestimmte Verlagerungen bezüglich des Material-Form-Zweck-Verhältnisses im Gestaltungsprozess einhergehen. Eine dogmatische Materialargumentation ist in der Rückschau nicht zielführend, wenn es darum geht, weiterführende Anwendungsszenarien zu entwickeln. Es ist sogar vielmehr davon auszugehen, dass wegen der dynamischen Entwicklung der Materialindustrie derartige Versuche noch schneller scheitern als bei dem Materialgerechtigkeitsdiskurs zu beobachten war. Mit der Überwindung einer starren Materialbewertung hat sich schließlich ein frei interpretierbarer Materialzugang im Produktgestaltungsprozess durchgesetzt. Hier geht es besonders um das gestalterische Ausloten weicher, flüchtiger und vergänglicher Materialeigenschaften. Die Material-Form-Versuche des IL zeigen einen erweiterten Materialzugang, indem man Formenrepertoires, z. B. aus Freiformflächen, die durch die Interpretation natürlicher Formwerdungsprozesse angeregt sind, mittels materialbedingter Selbstbildungsprozesse in Anwendungsszenarien übersetzt hat. Durch den Transfer der physischen Modelle in andere Kontexte wird darüber hinaus eine stringente Produktbezogenheit des Gestaltungsprozesses in Frage gestellt. Ferner eröffnen sich über die unkonventionelle Materialbefragung neue Anwendungsszenarien, wenn man etablierte Anwendungsweisen überwindet.

3

Erweiterte Materialbetrachtung

Nach der historischen Rückschau zum Verständnis von Material im anwendungsbezogenen und forschenden Entwurfsprozess, wobei hier nur eine punktuelle Ausführung dargestellt werden konnte, folgt im Anschluss eine Überleitung hin zu einem erweiterten Materialverständnis für den Gestaltungsprozess von heute, wobei das Material selbst als Quelle von ‚Gestaltungsinformationen‘ betrachtet wird. Andreas Dorschel1 meint, dass „[d]ie Lust, gegen die Beschränkungen des Materials zu kämpfen, […] zu den bedeutenden produktiven Motiven in der Geschichte des Gestalters“ zählt. Die Bearbeitung des „Thema[s] Material“2 wird auch im 21. Jh. weder in der Architektur noch im Produktdesign einen Abschluss finden, geschweige denn als überwunden abgelegt werden können und das trotz der digitalen Revolution und der virtuellen Lebenswelten oder eben gerade deshalb. Die Disziplinen erleben vielmehr eine umgekehrte, materialintensivierende Einwirkung auf den Designprozess. So lautet der Tenor zum Zeitpunkt der Ausarbeitung dieser Forschungsarbeit etwa so: Material formt Produkt3, Macht des Materials – Politik der Materialität4 oder Materialdesign5,

1

Dorschel, A.: Gestaltung. S. 59.

2

Thema Material. Hrsg. v. Katja-Annika Pahl und Ralf Weber. Dresden: TUD press 2008.

3

Das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung und die Hessen-Nanotech betreiben seit 2010 eine Veranstaltungsreihe zum Thema Material, Design, Architektur und Produktion. http://www.hessen-nanotech.de/ dynasite.cfm?dsmid=14407 (Abrufdatum: 19.10.2012).

4

Die Akademie der Bildenden Künste München veranstaltete in den Jahren 2012/13 eine disziplinübergreifende Vortragsreihe. http://www.adbk.de/de/cx-centrum-fuerinterdisziplinaere-studien/archiv-jahresthemen/196-macht-des-materials-politik-dermaterialitaet.html (Abrufdatum: 20.10.2012). Die gleichnamige Publikation erschien

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ferner Anything goes! Die neue Lust am Material 6, außerdem Hüllformen für Ausstellungspavillons7, um nur einige interdisziplinäre Vortagsreihen, Ausstellungen und Netzwerke zu nennen, die sich direkt mit Materialfragen auseinandersetzen. Da reihen sich Spezialmessen, wie die Materialfachmesse Materialica (seit 1998)8, Wettbewerbe, Materialbibliotheken und Architektur-Design-Fachzeitschriften mit unzähligen Materialbeiträgen ein, wie beispielsweise Werk2014: Witzgall, Susanne und Stakemeier, Kerstin: Macht des Materials. Politik der Materialität. Zürich, Berlin: Diaphanes 2014. 5

Materialdesign ist der Titel einer Ausstellung des Instituts für Materialdesign (IMD), die anlässlich der Mailander Möbelmesse 2014 unter der Leitung von Prof. Dr. M. Holzbach gezeigt wurde. Die Ausstellung zeigt einen Überblick studentischer Forschungsarbeiten im Produktdesign. Warum die frühe und ganzheitliche Auseinandersetzung mit Materialien in der Ausbildung zum Produktdesigner an Bedeutung gewinnt, beschreibt Holzbach wie folgt: „Zeitgenössische Gestaltung wird – neben den digitalen Entwurfs- und Fertigungswerkzeugen – entscheidend durch die Materialität geprägt. Erst durch ihre Materialisierung werden Ideen und Gestaltungsintentionen erfassbar. Materialien mit sensitiven, smarten oder graduell variierenden Eigenschaften führen zu neuen und vielschichtigen Gestaltungskonzeptionen, die nie gekannte Möglichkeiten auf der Ebene von Konzept, Form, Struktur und Oberfläche eröffnen. Der Weg von den statischen hin zu den dynamischen, prozessorientierten Eigenschaften ist damit geebnet.“ http://www.hfg-offenbach.de/w3.php?nodeId=6334 (Abrufdatum: 28.03.2014).

6

Im Januar 2014 wurde im Zusammenhang mit der Ausstellungsreihe des M:AI Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e.V. die Ausstellung „Anything goes!“ zum Thema Material als neue Lust in der Architektur initiiert. Ende 2014 ging die Ausstellung auf Wanderschaft und wurde im Haus der Architektur, Bayerische Architektenkammer erneut gezeigt. http://www.mai-nrw.de/Ausstellung-Anything-goes. 413.0.html?&L=-1%20UNION%252 (Abrufdatum: 10.01.2014).

7

2013/14 präsentiert die TU München Materialstudien und Hüllformen für Ausstellungspavillons als Ergebnis studentischer Forschungsarbeiten. Zu sehen gewesen 2014 im Hause der Bayerischen Architektenkammer anlässlich der Ausstellung ‚Anything goes! Die neue Lust am Material‘. https://www.ar.tum.de/aktuell/news-singleview/ article/ausstellung-einszueins/ (Abrufdatum: 10.01.2014).

8

2015 findet die Internationale Fachmesse für Werkstoffanwendungen, Oberflächen und Product Engineering-Materialica zum achtzehnten Mal statt. Der speziell ausgelobte Wettbewerb Materialica – Design und Technology Award zeichnet seit 2003 Produkte aus, die auf einer innovativen Materialauswahl basieren. Die Gründung erfolgte im Jahr 1998. http://www.materialica.com/jury-de-de/?lang=de (Abrufdatum: 30.07.2015).

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stoffe – Eigenschaften als Variablen von Sabine Kraft9, die unter dem Titel exemplarisch zeigt, dass die kreativen Disziplinen eine erneute ‚Experimentierfreude und Entdeckerlust‘ im Umgang mit Materialien gefunden haben und diese beispielweise mit den Möglichkeiten computerbasierter Techniken konfrontieren. In diesem Abschnitt wird das ‚Entdecken-Wollen‘ gestaltungsrelevanter Informationen auf der Basis von Materialien daher aus verschiedenen Blickrichtungen hervorgehoben. Dabei erscheint es völlig legitim, wenn man Materialien wieder direkt mit dem menschlichen Sinnessystem auf Gestaltungrelevanzen untersucht, so wie es der Architekt Peter Zumthor seit Jahrzehnten handhabt. Die computerbasierten Gestaltungswerkzeuge, auf die anschließend eingegangen wird, bieten eine weitere Möglichkeit, Materialien gestalterisch zu untersuchen. Im Anschluss daran soll mit Hilfe von zwei Fallstudien aus Designpraxis und -forschung gezeigt werden, wie man designstrategisch mit Materialien gestalten kann, um beispielsweise Begehrlichkeiten durch haptisch betonte Tastangebote zu wecken. Auf die Frage, was die Auslöser für neue Produktentwicklungen sind, antwortet Dorschel10 mit der Erzeugung eines ästhetischen Scheins als Auslöser zur Gestaltung immer neuer Produkte. Zwar gehe es noch immer um das Verhältnis der Menschen zu den Dingen, diese lasse sich aber nicht mehr auf den Nenner reduzieren, dass Gebrauchsgegenstände aus reinem Nutzen zur Erfüllung von Zwecken gebraucht und benutzt würden. Das Aneignen von Produkten, die eigentlich weder gebraucht noch zwingend nützlich sind, da schon vorhanden oder schlicht überflüssig, sei mehr ein Akt der Befriedigung des Bedürfnisses, Schönes zu besitzen. Vielmehr vermag also der ästhetische Schein neuer Gebrauchsgegenstände menschliche Begehrlichkeiten zu wecken, da die Benutzbarkeit eines Produktes als gegeben vorausgesetzt wird.11 Mitunter werden diese Begehrlichkeiten mit der Verwendung oder besser einer Intensivierung von Materialien erzeugt. Dies soll exemplarisch am Beispiel eines Automobilinterieurs interpretatorisch gezeigt werden. Hier lässt sich nachweisen, dass das Produkt durch eine Materialintensivierung bestimmte Produktwertigkeiten wie Premium und Fortschritt kommuniziert.

9

Kraft, Sabine: Werkstoffe. Eigenschaften als Variablen. In: Archplus 172 (12/2004). S. 25.

10 Vgl.: Dorschel, A.: Gestaltung. S. 20f. 11 Ebd. S. 21.

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Das zweite Interpretationsbeispiel geht auf die Entwicklung und Materialisierung des Pavillons ‚Engelstrompete‘12 ein. Die experimentelle Raum- und Materialstudie entstand am Institut für Materialdesign (IMD) unter der Leitung von Markus Holzbach an der HfG Offenbach. Hier berücksichtigt die Gestaltung der begehbaren Rauminstallation von Beginn an bestimmte Materialeigenschaften, wie weich, biegsam und transparent, um den Pavillon bewusst als Erlebnisraum zu inszenieren.

3.1 MATERIALIEN ALS GESTALTETE PRODUKTE Der Materialbegriff wird im Folgenden erweitert, indem das Material als Produkt verstanden wird. Holzbach spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Gestalten mit gestalteten Materialien“.13 Demnach sind Materialien gestaltete Produkte oder zumindest gestaltete Zwischendinge. Materialdinge sind Werkstoffe mit Funktionen, die eine haptische und visuell ansprechende Komponente besitzen oder über gegenteilige Eigenschaften verfügen. Weitere Werkstoffe, die im Laufe dieser Arbeit ab Kapitel 4 noch exemplarisch aufgeführt werden, besitzen durchaus produktsprachliche Funktionen. Diese liegen auf einer abstrakten Ebene, denn betrachtet man beispielsweise ein dünnes Metallblech, dann verfügt es noch nicht über eine direkte Gebrauchsfunktion. Aber dasselbe Blech kann aufgrund seiner spezifischen Wandstärke und Elastizität auf ein bestimmtes Biege- oder Faltungsvermögen verweisen, um in einen stabileren Zustand überführt werden zu können. Ein solches Blech verfügt wie ein Gebrauchsgegenstand über ästhetische Eigenschaften, die wiederum aus ihren Kontexten wahrgenommen werden. Ein Blech kann bereits glänzen, strukturiert sein, eine Patina besitzen, über diverse Perforationen oder Prägungen verfügen, geschliffen oder mit einem haptisch ansprechenden Oberflächenmaterial behandelt worden sein; all dies sind Informationen, die den Gestaltungsprozess anregen. Durch die praktische Handhabung von Materialien durch digitale wie analoge Techniken und der Deutung der Eigenschaften verraten Werkstoffe dem Gestalter, was sie als Materialdinge zur Gestaltung beitragen können. Das ‚Entdecken-Wollen‘ des Gestalters, um es nochmal im Sinne von Sabine Kraft14 auszudrücken, liegt unter anderem darin, dass Werkstoffe und Verarbeitungstechnolo-

12 Vgl. Holzbach, M. u. Bertsch, G.- C.: Material Grove. S. 30f. 13 Holzbach, Markus: Gestalten mit gestalteten Materialien. In: Bauwelt 20 (2015). S. 26. 14 Siehe Artikel: Kraft, S.: Werkstoffe. S. 24-28.

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gien als eigenständige Industrie einer dynamischen Weiterentwicklung folgen und damit immer wieder das Versprechen erneuern, dass sich im gestalterischen Umgang mit den Werkstoffen und den Technologien andersartige, neue ‚ästhetische Effekte‘ für die Produktwelt eröffnen und damit potentielle Begehrlichkeiten bei den Nutzern erweckt werden. Zu den Gestaltern, die sich seit Jahrzehnten mit dem Materialthema auseinandersetzen, gehört u. a. der Schweizer Architekt Peter Zumthor. Er gilt als ‚Atmosphären- Gestalter‘15 und seine Bauwerke kommunizieren jenes ‚Entdecken-Wollen‘, das einer unkonventionellen Materialbefragung vorausgeht. Um Zumthor verstehen zu können, muss die Beschäftigung mit den Baustoffen (Stein, Holz, Metall, Beton) erfolgen. Zur Formensprache sei gesagt, dass diese, laut Bürdek, zwar „hart und geometrisch [sei], die Gebäude selbst […] von außen wie Solitäre [wirken], im Inneren hingegen […] eine angenehme Wärme aus[strahlen].“16 Zumthors Bauwerke nutzen die Aussagekraft der Baustoffe als Kommunikationsmittel, wie die Felsentherme Bad Vals, deren Baukörper an einen Steinbruch erinnert, aus dem Steinblöcke abgetragen wurden und an deren Stelle sich Wasser sammeln konnte. Für den Besucher eröffnet sich ein feingliedriger und zugleich beruhigender Ort für die Sinne und wird zu einem „übermächtige[n] Symbol für Natur, Wasser, Entspannung und hohe[r] Kontemplation.“ 17 Wenn der Architekt über den „Zusammenklang der Materialien“18 spricht, dann so, dass eine große Leidenschaft und Freude in der Ausübung eines materialorientierten Gestaltungsprozesses anklingt. Er bedient sich der Materialcollage, die für ihn ein reaktiv vitaler Moment ist, denn: „Materialien klingen zusammen und kommen zum Strahlen, und in dieser Materialkomposition [gemeint ist die Kombination aus Beton und Zeder] entsteht etwas Einmaliges. Materialien sind unendlich – [nimmt man] einen Stein, und diesen einen Stein [kann man] sägen, schleifen, bohren, spalten und polieren, er wird wieder anders sein. Und dann [nimmt man] diesen Stein in ganz kleinen Mengen oder in riesigen Mengen, er wird wieder anders. Und dann [hält man] ihn ins Licht, er wird nochmals anders. Bereits ein Material hat schon tausend Möglichkeiten.“19

15 Zumthor, Peter: Atmosphären. Architektonische Umgebungen – die Dinge um mich herum. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2006. 16 Bürdek, B. E.: Design. S. 384. 17 Ebd. 18 Zumthor, P.: Atmosphären. S. 23. 19 Kraft, S.: Werkstoffe. S. 25.

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Das Beispiel vom Stein, welcher als ‚Elementarstoff‘ des Bauens gilt, lässt sich auf die Welt der Werkstoffe, die es zu bearbeiten gibt, übertragen, auch auf jene, die künstlichen Ursprungs sind und noch zu keiner produkthaften Anwendung gefunden haben. Zumthors Architektur, wie die Therme Vals (1996), die BruderKlaus-Kapelle (2007) oder das Kunstmuseum Kolumba Köln (2007), weist eine materialintensivierte Kommunikation auf, die den Besucher auf der sinnlich emotionalen Gefühlsebene erreicht und ihn unweigerlich auffordert, sich erst einmal auf den Ort mit allen Sinnen einzulassen. Dem Architekten geht es um materialintensivierte Baukörper, die über eine regionale Identität sowie Ortsverbundenheit verfügen und die sich jenseits einer ‚marktschreierischen‘ Erlebnisarchitektur platzieren und auf Langlebigkeit im Sinne des Erinnerns ausgerichtet sind. Zumthor zelebriert das Ausprobieren verschiedener Materialkombinationen und entschleunigt bewusst die Materialentscheidung, bis dahin, dass die Realisierung eines Entwurfs mehrere Jahre benötigt.

3.2 MATERIALIEN IM DIGITALEN ZEITALTER Wenn man sich in einem Gestaltungsprozess, wie bei Zumthor gezeigt, ganz und gar analog an das Materialthema herantastet, zeigt das eine bedeutsame Möglichkeit der Materialbefragung. Weiterhin bieten die digitalen Möglichkeiten einen weiteren Zugang der Materialbefragung. Die Grundlage der digitalen Entwurfs- und Planungswerkzeuge wird nach Eberhard Möller20 bereits im Jahr 1941 geschaffen. Denn zu dieser Zeit entwickelt der Bauingenieur Konrad Zuse den ersten Computer Z3, mit dem komplexe, statische Berechnungen in der Luftfahrtindustrie und im Maschinenbau maschinell durchgeführt werden können. Im Gegensatz zum Ingenieurwesen hegt die Architektenschaft gegenüber dem neuen Medium über Jahrzehnte hinweg große Vorbehalte. Wie Möller 21 ausführt, bedurfte es erst der massenhaften „Verbreitung des PCs und [einer] erschwinglicheren CAD-Software“ ab den 1980er Jahren, damit sich die digitalen Entwurfswerkzeuge im architektonischen Gestaltungsprozess etablieren. Trotz der rechnergestützten Entwurfsmöglichkeiten im virtuellen Raum verweist er weiter darauf, dass der „Computer bis heute […] als schnöder Ersatz von Reißschiene und Tuschefüller für das zweidimensionale Planen benutzt [wird]“. Auch Ger-

20 Vgl. Möller, Eberhard: Zu einer entfesselten Architektur. Über Industrialisierung und Digitalisierung des Bauens. In: Wendepunkt-e im Bauen. Von der seriellen zur digitalen Architektur. Hrsg. v. Winfried Nerdinger. München: Edition Detail 2010. S. 35f. 21 Ebd. S. 36.

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hard Schubert22 beschreibt in seinem Aufsatz über ‚Individuelle Industrieform‘, dass das kreative Gestaltungspotential mittels digitaler Werkzeuge nur ansatzweise ausgeschöpft wird, denn vielmehr verharren die Anwendungen in der „Visualisierung und Darstellung der Entwürfe [und so hat sich trotz des Rechners] das Zeichnen und Konstruieren […] im Unterschied zum Zeichentisch kaum verändert“. Diese Argumentation mag für die meisten Aufgabenstellungen der angewandten Entwurfsdisziplinen in der Architektur und im Produktdesign zweifelsohne zutreffen, doch an den Rändern dieser Disziplinen haben rechnergestützte Entwurfsmethoden längst einen festen Platz als unkonventionelle Kreativitätswerkzeuge für die digitale Produktion eingenommen, was Schubert schließlich zu der Aussage verleitet, dass sich der Entwurfsprozess momentan erneut in einem Umbruch befindet, der den „Wendepunkt von der seriellen zur individuellen Industrieform“ eingeleitet hat.23 In der gestalterischen Praxis des 21. Jhs. sind zu den analogen Werkzeugen die computergesteuerten Maschinen, wie CNC-Fräsen, Laser, 3D-Drucker und verschiedenste Roboter, wie selbstverständlich hinzugekommen. Eine solche computergesteuerte Maschine kann ein Nutzer sogar selbst zusammenbauen. Die Ansteuerung der CNC-Maschinen und Roboter erfolgt durch selbstgeschriebene Programme aus Open Source Software. Die Kommunikationswege zwischen Computer – Mensch – Maschine sind direkter, denn das virtuelle Objekt kann jederzeit materialisiert werden. Das gilt auch für die verschiedensten Werkstoffe und Materialkombinationen, die durch das Lasern, Fräsen, Kleben, Drucken, Biegen, Nähen etc. neu untersucht werden können. Auch öffnet sich hier ein gestalterisches Untersuchungsfeld, das durch die Materialeigenschaften motiviert wird. Der Umgang mit einem bestimmten Material bzw. Materialkomposit oder der Technik generiert grundlegende Gestaltungsfragen, ohne von einem zu gestaltenden Endprodukt ausgehen zu müssen. Vielmehr interessieren die vorgelagerten Prozesse, wie die Materialerzeugung, Bearbeitung, Formung, Substituierung, Strukturierung, Verstärkung und Schwächung, um nur einige zu nennen. Dabei entstehen Gestaltungsinformationen, die trotz des abstrakten Vorgehens interpretiert werden und dadurch konkrete Gestaltungsentscheidungen provozieren. Anders gesagt kann beispielsweise eine einfache, naiv anmutende Ausgangsbeobachtung an einem Stück Leder dazu führen, dass man mit der Untersuchung von Verbindungsmöglichkeiten von Lederhautresten beginnt, diese mit 22 Schubert, Gerhard: Individuelle Industrieform. Computereinsatz in der Planung. In: Wendepunkte im Bauen. Von der seriellen zur digitalen Architektur. Hrsg. v. Winfried Nerdinger. München: Edition Detail 2010. S. 56. 23 Ebd.

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dem Laser strukturiert, perforiert und damit licht- wie luftdurchlässig gestaltet.24 Durch die Hinzunahme des Computers als manipulierbare Kontrollinstanz für die Lasersteuerung erfährt das tradierte Naturmaterial eine Re-Interpretation, denn die gewohnt weiche Tast-Erfahrung einer Lederhaut wird nun durch die präzise Rauigkeit einer Schuppenstruktur kontrastiert und zwar so, dass die natürliche Narbung noch einmal übersteigert wird. Des Weiteren ergeben sich andersartige Fügelogiken, die sich an der computergenerierten Schuppenstruktur orientieren und ohne Nähte auskommen. Bereits während des materialorientierten Bearbeitungsprozesses, der zugleich auch immer ein produktbezogener Gestaltungsprozess ist, werden verschiedene Anwendungsszenarien vom Automobilinterieur bis zur Bekleidung mitgedacht. Im Anschluss an diese Kurzdarstellung über die digitalen Gegebenheiten werden zwei Positionen aufgeführt, die zeigen, wie der Gestaltungsparameter ‚Material‘ in die digitalen und virtuellen Werkzeuge einbezogen werden kann, sodass die Materialeigenschaften als digitalisierte Gestaltungsinformationen den Prozess der Produktgestaltung mitbestimmen. 3.2.1 Virtuelle Formgenerierung als quasi ‚weiche‘ Materialien Die frühen Arbeiten von Greg Lynn und Karim Rashid, die hier stellvertretend genannt werden, zeichnen sich dadurch aus, dass die Versuche mit den weichen und flüchtigen Materialeigenschaften der 1960er Jahre in den digitalen Arbeitsraum übertragen werden. Dazu verweist die Architekturhistorikerin Carolin Höfler25 darauf, dass „plastisch bildsame Materialien wie Beton oder Kunststoff […] Architekten und Ingenieure zwischen den fünfziger und siebziger Jahren zu Entwürfen von Freiformen inspirieren“, um aus dem Raster der architektonischen Grundkörper der funktionalistischen Moderne auszubrechen. Als Vordenker gelten Architekten wie Frank Gehry oder Peter Eisenman. Mit dem Compu24 Das Leder-Beispiel entstammt einer Projektarbeit zu Material Grove (SoSe 2013) am Institut für Materialdesign (IMD). Folgende Kriterien werden im zyklischen Gestaltungsprozess berücksichtigt: Material- und Technologierecherche, analog-digitale Materialexperimente, Filterung der spezifischen Materialeffekte als Gestaltungsparameter, Abgleich der Materialeffekte mit dem menschlichen Wahrnehmungssystem, Überprüfung des Prozesses anhand etablierter Industrieverfahren, Übertragung der Ergebnisse in Anwendungsszenarien und Produktanwendungen. 25 Höfler, Carolin: Form und Zeit. Computerbasiertes Entwerfen in der Architektur. (Dissertation an der Humboldt-Universität Berlin). Berlin: 2009. S. 15. (Online abrufbar unter: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/ hoefler-carolin-2009-09-28/PDF/ hoefler.pdf, Abrufdatum: 28.09.2012).

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ter, so Höfler, finde sich einerseits „das geeignete Instrumentarium […], um solche Freiformen präzise zu berechnen und baulich zu konkretisieren“, und andererseits kündigen die 1990er Jahre einen neuen Typ von Architekten an, die den Rechner als „Medium der Gestaltbildung“ nutzen, indem sie Computerprogramme aus dem Schiffsbau oder der Filmproduktion als neue Gestaltungswerkzeuge erforschen.26 Greg Lynn27 untersuchte zu dieser Zeit dekonstruktivistische Rauminszenierungen, indem er sich unter anderem mit Animationssoftware aus der Filmindustrie und der Methode des Morphings auseinandersetzt. Höfler beschreibt die ersten virtuellen Objekte als „zusammenhängende Masse ohne feste, regelmäßige Form“, da diese mit einer virtuellen Modelliermasse erzeugt werden. 28 So erinnern die organischen virtuellen ‚Blob‘-Formen vom Entstehungsprozess und von der Erscheinung an die Kunstobjekte der Anti-Form-Kunst aus den 1960er Jahren. Lynns computerbasierte Formstudien weisen nicht nur Analogien auf, die an organisch naturhafte Formen und Science-Fiction-Filme erinnern, sondern der Architekt nutzt die Gebilde der lebenden Natur und die Zukunftsszenarien des amerikanischen Films als ästhetisch-visuelle Grundlage.29 Der Architekt nutzt den Computer erstmals als Experimentiermaschine und implementiert dynamische Parameter, wie den natürlichen Lichteinfall und Bewegungsstrukturen des urbanen Raums, um damit ein Bedingungsgeflecht festzulegen, das daraufhin virtuelle dreidimensionale Formen verändert und ineinander fließen lässt.30 Seine Arbeiten entstammen durchgehend dem virtuellen Raum des Computers, ob es nun „Computerzeichnungen, Renderings oder Animationen sowie [RapidPrototyping] Modelle“ sind.31 Der kreative Gestaltungsakt wird nunmehr von einem Designer-Regisseur durchgeführt, womit sich die Rolle des Designers vom „Formgeber“ zum „Formfinder“ verändert, indem dieser „Erfindung und Beschreibung der prozesssteuernden Faktoren [vornimmt und die] formbestimmenden Funktionen sowie [die] Randbedingungen“ festlegt. 32 Lynn wertet den Com-

26 Ebd. 27 Nach Schubert ist Greg Lynn einer der ersten und einflussreichsten Gestalter, die den Computer als rein formgenerierendes Werkzeug benutzen. Vgl. Schubert, Individuelle Industrieform. S. 58. 28 Höfler, C.: Form und Zeit. S. 140f. 29 Ebd. S. 138. 30 Ebd. S. 91. 31 Ebd. S. 94. 32 Ebd. S. 100.

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puter als „Co-Designer“ auf.33 In einem animierten Gestaltungsprozess gibt es demnach auch keinen Einzelentwurf, wie es aus dem analogen Vorgehen bekannt ist, sondern es entstehen unendlich viele fließende Formvariationen und Hüllen. Zu Beginn des 21. Jhs. erlangte der Designer Karim Rashid34 eine mediale Aufmerksamkeit innerhalb der Gestaltungsdisziplinen. Seinen Anspruch, „die Welt zu verändern“35, begründet er mit den neuen digitalen und analogen Computertechnologien. Florian Hufnagl36, vormals leitender Sammlungsdirektor der Neuen Sammlung in München, zählt Rashid gar zu den „Pionieren, die im Design die Potentiale digital erzeugter Formen […] vom One Off bis zum Massenprodukt ausloten“. Nach Albrecht Bangert erfährt man, dass die Arbeiten des Künstler-Designers seit den 1990er Jahren die Grenzen von Virtualität und Realität aufweichen, denn das „Design [entsteht] am Screen und [die] Herstellung in der High-Tech Fabrik“37. Nach Rashids Auffassung verbirgt sich hinter der computerunterstützten Gestaltungs- und Herstellungstechnologie eine neue Form der Einbindung des Nutzers, der zukünftig in die Lage versetzt sein wird, sich aktiv an der Gestaltung und Produktion individualisierter Produkte zu beteiligen.38 „Zwanglosigkeit und Weichheit“ sind hierbei Rashids Leitlinien im digitalen Zeitalter der globalvernetzten und ständig im Fluss befindlichen Informationsgesellschaft.39

33 Knöfel, Ulrike und Wellershoff, Marianne: Das Haus mit dem Blob. Der amerikanische Architekt Greg Lynn, 38, über die Vision, mit Hilfe des Computers individuelle Fertighäuser zu produzieren. In: KulturSPIEGEL 8 (2002). S. 10. (Online abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/kulturspiegel/d-23711797.html, Abrufdatum: 24.07.2012). 34 Vgl. Rashid, Karim: I want to change the world. London: Universe 2001. 35 Ebd. S. 64ff. 36 Karim Rashid. Change. Eine Design-Ausstellungsreihe. Die Neue Sammlung - Design in der Pinakothek der Moderne München. Mit einem Vorwort v. Florian Hufnagl. Basel u. a.: Birkhäuser 2005. S. 7. 37 Ebd. S. 10f. 38 Rashid, K.: I want to change the world. S. 67. „Consumer will soon be able to use a visual program on the Internet to morph, vary, and personalize a product and to digitally transfer this ,tool-path’ information to the manufacturer, who will produce and deliver the product to the individual.“ 39 Vgl. Rashid, Karim: WOOM. The world room. In: Latent Utopias: Experiments within Contemporary Architecture = Experimente der Gegenwartsarchitektur. Hrsg. v. Zaha Hadid und Patrick Schumacher. Wien u. a.: 2002. S. 94.

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Beide Protagonisten sehen im Computer ein Werkzeug, um frei geformte Objekte zu generieren, die eine ‚zwanglose‘ Ästhetik besitzen. Man kann sagen, dass die Software den Flüchtigkeitseffekt der synthetischen Werkstoffe geradezu absorbiert. In flüchtigen Thermoplasten, Polyurethanschäumen, Silikonen, mineralischen Kunststeinen wie Corian®, aber auch in Glas und Keramik finden die diversen Modellierungssoftwares adäquate Realisierungspartner; oder anders ausgedrückt, die digitalen Werkzeuge nähren die Idee einer endlos fließenden und organischen Verformung.40 Die weiche Designsprache bei Rashids Entwürfen kann auch als Ausdrucksmittel der Konsumgesellschaft gelesen werden, die sich im Übergang vom 20. ins 21. Jh. befindet und die eine Tendenz zur Bequemlichkeit entwickelt hat.41 Abbildung 4: Pleasurscape (2001)

Repräsentativ für diese Haltung, um ein Beispiel zu nennen, steht die Sitz- und Liegelandschaft ‚Pleasurscape‘ (2001), deren digitale Herkunft unverkennbar ist (Abbildung 4). Aus einer quadratischen Ebene wölben sich Erhebungen, die an verschiedene Sitz- und Liegemöbel erinnern. Werden die unterschiedlichen Mo40 Rashid, K.: I want to change the world. S. 246. „Materials can now flex, change, morph, shift color, cool and heat etc. due to the Smart material movement.” 41 Ebd. Rashid, K.: WOOM. S. 94.

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dule zu einer großflächigen Installation kombiniert, entsteht eine abstrahierte Landschaftssituation, in der Möbel, Raum und Kommunikation miteinander verschmelzen.42 Bei der Betrachtung der ‚Pleasurscape‘ werden aber auch Assoziationen an Werner Pantons organische Rauminstallationen ‚Fantasy Landscape‘ (1970 Visiona 2, IMM Köln, Abbildung 5) hervorgerufen.43 Pantons ‚höhlenartige‘ und raumfüllende Installation erzeugt ein intensiviertes Raumerlebnis aus Material, Licht und Klang. Abbildung 5: Fantasy Landscape (1970) Visiona 2

Im Gegensatz zu Lynns radikalen Formexplorationen bezieht sich Rashid primär auf die alltäglichen Produkte und Lebenssituationen, die mittels der virtuellen Werkzeuge digital-invasiv ästhetisiert werden, da es die Zeit erlaubte.44 Doch 42 Vgl. Rashid, K.: I want to change the world. S. 85. „Inevitably our entire physical landscape will merge and connect. Furniture and space merge, Object and environment, City and town, water and ground, highway to highway, being to being.” 43 Vgl. Betsky, Aaron: Free Flow. In: I want to change the world. Hrsg. von Karim Rashid. London: Universe 2001. S. 116. „Rashid makes blobs that are results of computer programs as cold as ice. They are data made real, tangible, with weight.“ 44 Ebd. S. 66. „As a designer I am an artist of real issues of everyday life, who mediates between industries and the user, between self-expression and desire, between production technologies and human social behavior.”

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auch, wenn das Streamline-Design45 der digitalen Formensprache eine emotionale Körperhaftigkeit darzustellen versucht, muss man kritisch dazu sagen, dass den Objekten eine Beliebigkeit innewohnt, genauso wie ein schneller visueller Verbrauch. Der Computer beschleunigt diesen Prozess. 3.2.2 Virtuelle Formgenerierung auf der Basis ‚realer‘ Materialeigenschaften Ein anderer Weg der Integrierung von Materialparametern und computerbasierten Gestaltungsmitteln lässt sich an den Forschungsarbeiten des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) aufzeigen. Hier untersucht man unter anderem computergestützte Methoden zur Gestalt- und Materialoptimierung. Die Grundlagen liefert Claus Matthecks ‚Visual-Tree-Assessment-Methode‘, mit der man den Gesundheitszustand eines Baumes über dessen äußere Gestalt bestimmen lässt: „Die VTA-Methode […] interpretiert die Körpersprache der Bäume, hilft deren Warnsignale zu deuten, Defekte zu bestätigen und zu vermessen sowie Versagenskriterien zu bewerten.“46 Die Informationen, die der Baum preisgibt, bilden die Grundlage für die eigentliche Forschungstätigkeit, die der Bauteiloptimierung, und resultiert in rechnergestützten Gestaltungsmethoden, die auf natürlicher Materialanordnung und -wegnahme basieren. Die Baumformen sind keine zufälligen Gebilde, sondern sie unterliegen den inhärenten Wachstumstrieben des Baumes und den von außen einwirkenden Kräften.47 Prinzipiell gilt: Ein Baum reagiert auf externe Kräftedifferenzen (Winddruck, Astreiben, Stützen, Bodenneigung etc.) und versucht permanent, sich optimal anzupassen, indem nur dem Kräfteverlauf folgend Material angelagert wird, um mit der vorhandenen Energie und den knappen Ressourcen möglichst optimal zu wirtschaften. Matthecks Forschungen verstärken die These, dass natürliche Konstruktionen der lebenden Natur Vorbilder für Leichtbaukonstruktionen sind und dass deren Formgebung darauf beruht, mit möglichst wenig Material ‚optimale‘ Überlebensbedingungen zu erschaffen.48 Die Idee der Forscher beruht darauf, gewach-

45 Ebd. S. 118. „So Rashid makes streamlined blobs in which the presence of the body shimmers at the surface of a fluid form about to dissolve into translucency.” 46 Claus Mattheck informiert auf seiner Webseite über die wichtigsten Punkte der VTAMethode. (Online abrufbar unter http://www. mattheck.de/seiten/framestart.html, Abrufdatum: 19.05.2013). 47 Mattheck, Claus: Design in der Natur. Der Baum als Lehrmeister. Berlin: Rombach 2006. S. 65ff. 48 Vgl. ebd. S. 273.

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sene Konstruktionen mittels computerbasierenden Modellen nachzuvollziehen und für die künstliche Formgestaltung nutzbar zu machen. Mit der Entwicklung zweier rechnergestützter Simulationsmethoden, der Computer Aided Optimization (CAO)49 und der Soft Kill Option (SKO)50, ist es möglich, die Erkenntnisse über das natürliche Konstruktionsprinzip des Baumes auch auf technisch komplexe Baukörper, wie beispielsweise auf die Stützkonstruktion eines Hallendaches zu übertragen, um deren Form im Sinne einer optimaleren Materialverteilung zu verbessern (Abbildung 6).

49 Vgl. ebd. S. 51. Die CAO-Methode simuliert ein biologisches Wachstum (adaptives Verfahren), um in einem virtuell konstruierten Bauteil Kerbspannungen abzubauen und Bruchstellen vorweg zu minimieren. Es geht darum, vorab Belastungssituationen zu simulieren, um die Lebensdauer von Bauteilen zu verlängern und gleichzeitig Material einzusparen. Das Programm analysiert bei einem virtuellen Objekt potentielle Materialschwachstellen und verstärkt diese Bereiche. Zwar lässt sich der Untersuchungsgegenstand ‚optimieren‘, aber vermeintlich grobe Konstruktionsfehler bleiben unangetastet. 50 Vgl. ebd. S. 55. Die SKO-Methode generiert aus einem virtuellen Block einen ‚Designvorschlag‘ für ein gewünschtes Bauteil. Dazu müssen Parameter wie Kräftedifferenzen und Auflager vorher eingegeben werden. Danach entfernt das Programm automatisch alle nichttragenden Bereiche. Löcher und Aushöhlungen entstehen, bis eine feingliedrige Struktur übrig bleibt. Nach mehreren Durchgängen ordnet sich das Material den Rahmenbedingungen ‚optimal‘ an. Man spricht auch von einer Topologie optimierung. Das Resultat ist ein ‚Leichtbaudesignvorschlag‘, der noch Kerbspannungen enthält und deswegen nochmals mit der CAO Methode weiter optimiert werden muss.

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Abbildung 6: Ein Brückenfachwerk entsteht aus einem Designraum mit kreisförmiger Innenkontur. Letztere ist für die verbleibenden Spannungsspitzen im unteren Bereich des Pfeilers [grauer Bereich, untere Grafik] verantwortlich und ließe sich durch weiteres CAO-Wachstum abbauen. Man beachte auch die beiden engen Taillen im Bereich des oberen Bogens, wo das Biegemoment einen Nulldurchgang hat. (FEM: Gerd-Ulrich Kappler)

Dach

Designraum

SKO

CAO

Diese Methode der ‚Gestaltoptimierung‘ birgt allerdings auch einen Nachteil, da eine optimierte Form in einer neuen Situation versagen kann.51 Wie beispielsweise ein ‚optimiert‘ gewachsener Baum schlagartig bricht, kann in diesem Fall auch ein ‚optimiertes‘ Bauteil schlagartig brechen. Mattheck verweist auf den typischen Versagensfall bei Bäumen mit Drehwuchs, wobei der Stamm eine spezifisch optimierte Faserausrichtung ausbildet, um somit einer permanent gerichteten Windkraft besser standzuhalten, was aber bei einem entgegen gerichteten Sturm zum schnelleren Bruch führen kann.52 Zudem unterscheidet sich die tote Technikform von der lebendigen Naturform in der Fähigkeit der Selbstanpassung und Selbstreparatur. Wenn in einer natürlichen Konstruktion Spannungsdifferenzen, sogennante Kerbspannungen, entstehen, wie z. B. durch Verletzungen des Stammes, bei Astbruch oder durch Hindernisse, dann bewirkt dies eine 51 Vgl. ebd. S. 276. 52 Vgl. ebd. S. 173ff.

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Schwächung der Wuchssituation des Baumes, worauf dieser mit strategischen Materialanlagerungen reagiert, um den effektivsten Kräftefluss der neuen Gegebenheit anzupassen. Nach Mattheck erfordert eine Übertragung natürlicher Wachstumsstrategien in technische Anwendungen daher ein sensibilisiertes Beurteilen des Produktes und der einwirkenden Kräfte, denn eine „gedankenlose Optimierung ist Sabotage bei designfremder Belastung“53. Diese ganzheitliche Herangehensweise erweitert die Gestaltungswerkzeuge nicht nur, um bekannte Produkte in Bezug auf ihre Materialität zu verbessern, sondern auch prinzipiell den Produktgestaltungsprozess. Mattheck schlussfolgert dazu: „Das Land, das sich uns dabei auftut, ist das Grenzland zwischen Kunst und Konstruktion, zwischen Natur und Technik, zwischen Ästhetik und Funktion. […] Es war bisher die Spielwiese der Designer und soll es auch gerne bleiben. Schön und erfolgsversprechend wäre ein Mitspiel der Ingenieure mit den bunten Bällen von SKO und CAO.“54

Der niederländische Designer Joris Laarman beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Methode der virtuellen Materialorganisation. Das wohl bekannteste Beispiel ist die ‚Bone furniture‘ – Serie ab 2004 (Abbildung 7). Die Rahmenbedingungen für die digitale Gestaltfindung dieser Möbelserie sind Sitz-, Lehn- und Tischflächen sowie die Position von Regalböden, die Standpunkte der Tischund Stuhlbeine, die maximale Sitzbelastung und die Materialeigenschaften des Gusseisens oder Aluminiums. Im Rechner fließen diese Informationen zusammen und bilden schlussendlich die Form im Sinne einer Leichtbaustruktur aus. Abbildung 7: Bridge Table, Aluminium (2010)

53 Vgl. ebd. S. 276. 54 Ebd.

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Wie Laarmann forscht auch der Ingenieur Alex Brezing55 an der strategischen Einbindung von Gestaltoptimierungsmethoden mittels rechnergestützter Topologieoptimierungen. Er sieht in der Methode der rechnergestützten Gestaltoptimierung ein weiterführendes Gestaltungswerkzeug für den Kreativprozess, besonders dann, wenn die Bedienkomplexität reduziert wird, was wiederum einen interdisziplinären Austausch zwischen Ingenieur- und Designerinteressen bewirken soll.56 Der virtuelle Formungsprozess kann bezogen auf die Produktgestaltung nicht nur als technische Optimierung betrachtet werden, sondern erfährt über produktsprachliche Argumentationen eine qualitative Erweiterung. 57 Zur Erläuterung einer ‚Design-Engineering-Kollaboration‘ verweist Brezing auf die Gestaltung eines scheinbar biomorph gewachsenen Duschklappsitzes, dessen Form aus einer rechnergestützten Optimierung der Topologie resultiert.58 In dem Versuch bilden die zweigeteilte Sitzfläche und die Wandaufhängung vordefinierte, unveränderliche Bedingungen, die mit zwei Optimierungsstrategien geprüft werden, um den Materialaufwand des Sitzes zu minimieren und trotzdem die benötigte Steifigkeit zu garantieren. Je nach eingegebenen Materialparametern, seien es nun Metalle oder Kunststoffe, ergeben sich für das finale Produkt andere Stützstrukturen und Formausprägungen. Indem das virtuelle Material zu einer Formentscheidung angeregt wird, bedient man sich dem Prinzip der analogen Material-Form-Experimente, ähnlich wie es die Anti-Form-Künstler bereits in den 1960er Jahren zeigen. Was sich verändert hat, ist der hohe rechnergestützte Differenzierungsgrad durch steuerbare Parameter, wie Materialeigenschaften und Wirkungskräfte. Der Gestaltungsprozess löst sich ein Stück weit von dem absoluten Formwillen des Designers, ähnlich den Bestrebungen der Anti-Form-Künstler, denn die Topologieoptimierungsmethode erweitert und übernimmt die Formfindung je nach den vorgegebenen variablen Randbedingungen.

55 Vgl. Brezing, Alex; Kämpf, Anne-Katrin; Feldhusen, Jörg: Die rechnergestützte Topologieoptimierung als Ansatz zur Unterstützung des Industrial Designs bei der Gestaltung struktureller Bauteile. In: Entwerfen, Entwickeln, Erleben. Technisches Design in Forschung, Lehre und Praxis. Hrsg. v. Mario Linke, Günter Kranke, Christian Wölfel und Jens Krzywinski. Dresden: TUD press 2012. S. 185. 56 Ebd. S. 186. In seinem Vortrag auf der Fachtagung ‚Entwickeln – Entwerfen – Erleben. Technisches Design in Forschung, Lehre und Praxis‘, Dresden 2012, plädiert Brenzing für einen besseren Austausch zwischen Ingenieuren und Designern und verweist auf die brückenbildende Wirkung von Topologieoptimierungsprogrammen. 57 Vgl. ebd. S. 190. 58 Vgl. ebd. S. 193.

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3.3 BETRACHTUNG VON MATERIALIEN IN PRODUKTGESTALTUNG UND DESIGNFORSCHUNG Folgt man der Argumentation von Wachs59, so bedeutet Materialwissen im 21. Jh. Macht und Verführungskraft, aber weniger in der Art, dass man Materialien mit Attributen - wie Reinheit, Echtheit und Wahrhaftigkeit - aufwertet, sondern dergestalt, dass der menschliche Wahrnehmungsprozess über das Material stimuliert wird, weil sich der Blick von der Form auf das Differenzierungspotential mittels „funktionsorientierten Materialeigenschaften“ verändert hat. Dieser Gedanke wird durch die Beobachtung ergänzt, dass selbst tradierte Materialien, wenn diese einer anhaltenden Hinterfragung unterliegen und auf verbesserten Fertigungsverfahren aus anderen Produktionsbereichen geprüft werden, noch verborgene Begehrlichkeitsbedürfnisse erwecken. Die Verführungskraft von Materialien ist ein Aspekt, den Wachs hervorhebt, denn Produkte werden durch die Betonung der Materialeigenschaften charakterisiert und gehandhabt, eine Tendenz, die sich gegen die Formdominanz des ausgehenden 20. Jhs. richtet.60 Anstelle des paradigmatischen Maxims der Moderne „form follows function“, vom Architekten Louis Sullivan (1856-1924) geprägt, erscheint nun die Formel „form follows material“61 als weiterführender Diskussionsansatz. Die Wiederaufwertung des Materials als akzentuiertes Gestaltungsmittel führt zu einem Paradigmenwechsel, wobei sich die dominierende visuelle Oberflächenbetrachtung der Informations- und Kommunikationsgesellschaft der 1990er Jahre zu Gunsten einer multisensoriellen Materialbewertung verändert.62 In dem „Wunsch nach taktiler und kommunikativer Berührung“ von Objekten

59 Vgl. Wachs, M. E.: Material Mind. S. 154f. Wachs verweist mit Nachdruck darauf, dass sich die Verführungskraft und kulturelle Bedeutung in der „immateriellen Seite der Materialaussagen“ niederschlagen. 60 Vgl. ebd. S. 77. 61 Vgl. Ashby, Mike und Johnson, Kara: Materials and Design. The Art and Science of Material Selecion in Product Design. Amsterdam: Elsevier 2006. S. 101. „In every case, the form of the buildings (beschrieben wird die Entwicklung von Brücken) has been powerfully influenced by the nature of the material of which its structure is made. Form, you might say, follows material.” 62 Vgl. Wachs, M. E.: Material Mind. S. 30. Und weiter auf S. 253. Die Materialbetrachtung in Design und Industrie erfolgt weniger funktionsorientiert, sondern zunehmend prozessinitiiert.

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sieht Wachs unter anderem einen Grund als Folge des „nicht-mehr-Verstehens“ von neuen Materialkreationen.63 So verweist auch Rainer Schönhammer64 darauf, dass die Gestaltung von Produkten immer auch ein Gestalten des Umganges ist und damit das Anfassen impliziert, sodass Produktgestaltung eben nicht an einer fundierten Auseinandersetzung mit dem „Haptischen, dem Spüren der Materialien und dem Handhaben der Form“ vorbei kommt. Gleichzeitig attestiert Schönhammer dem Design jedoch weiterhin eine weitverbreitete ‚Materialblindheit‘, die sich aus einer materialentfremdeten Designausbildung und einem „substanzlosen Entwurfsuniversalismus“65 ergibt. Entgegen der Argumentation von Schönhammer aus dem Jahr 2001 lässt sich ein Jahrzehnt später sowohl in der Architektur als auch im Produktdesign, hier im Besonderen in der universitären Ausbildung, eine erneute gestalterische Materialaffinität feststellen, wobei der Generierungs- und Materialisierungsprozess als zentrale Bestandteile von Produkten mit inszeniert wird, denn, indem das ‚Produktwerden‘ transparent wie einsehbar ist, steigt der Informations- und Kommunikationswert eines Objektes.66 Dieser Veränderung in der gestaltungsbedingten Materialwahrnehmung wird im Folgenden nachgegangen und zwar zuerst als materialdecodierende Interpretation aus dem Bereich des Fahrzeugdesigns. Der Fokus liegt dabei explizit auf der Inszenierung des Innenraumes, denn, so die Annahme, Fahrzeuginterieure funktionieren als materialintensivierte Wahrnehmungsräume. Die gestalterische Aufmerksamkeit verlagert sich seit der Erfindung des Automobils weg von der Funktionalität zunehmend ins Innere und damit in den Grenzbereich zwischen dem menschlichen Körper und den technischen Häuten des mobilen Mikroraums. Am Pavillon Engelstrompete wird ein zweites Beispiel untersucht, das aus einem materialorientierten Gestaltungsprozess hervorgegangen ist und auf die Wirkung von Materialeigenschaften auf das menschliche Sinnessystem verweist. Die beiden Beschreibungen sollen Wege zur Erschließung materialbedingter Gestaltungsinformationen aufzeigen. Hierbei geht es weniger um den Anspruch, 63 Vgl. ebd. S. 59. 64 Schönhammer, Rainer: Haptische Wahrnehmung und Design. In: Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Hrsg. v. Martin Grunwald u. Lothar Beyer. Basel u. a.: Birkhäuser 2001. S. 151. 65 Ebd. S. 152. 66 Exemplarische Designprodukte sind beispielsweise: Myto – Freischwinger aus Kunststoffspritzguss von Konstantin Grcic und BASF, Plopp Stool von Oskar Zieta, Aluminiumgehäuse bei Appleprodukten, Zierteile aus Schichtfurnier im Fahrzeuginnenraum des Audi A7 u.a.m.

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dass man alle Gestaltunginformationen über die Materialien herleitet, sondern die folgenden Textabschnitte stehen vielmehr unter dem Aspekt einer Sensibilisierung im Erkennen von Materialstrategien in bereits gestalteten wie auch zu gestaltenden Produkten, um durch die Methode der Interpretation der Dinge ein materialbedingtes Artikulationsspektrum für den Gestalter aufzuzeigen. Deswegen unterliegen die folgenden Betrachtungen einer präziseren Beschreibungsform, die die Gestaltungsinformation schichtweise zu decodieren versucht.

3.4 FALLBEISPIEL: AUTOMOBILINTERIEUR Aus der Sicht einer materialorientierten Gestaltungsstrategie lässt sich anhand des Automobilinterieurs darlegen, wie die Wahrnehmung von Produktqualitäten über die Materialeigenschaften bewusst gesteuert wird, wie individuelle Materialentwicklungen unverwechselbare Produktdifferenzierungsmerkmale generieren und wie jene Materialinszenierungen fetischhafte Anziehungskräfte erzeugen.67 Die Frage nach einer vermeintlichen Produktqualität ist demnach auch eine Frage an die Materialeigenschaften, insbesondere an deren Inszenierung und Kombination. Die verschiedenen Werkstoffe im Fahrzeuginterieur treten nicht zufällig nebeneinander in Erscheinung, sondern sind an das menschliche Wahrnehmungssystem angepasst und geradezu um den sitzenden menschlichen Körper arrangiert. Wenn Hartmut Böhme68 nach dem Unterschied zwischen dem 1912 entwickelten Ford T-Modell und einem Golf VI fragt, dann nur, um darauf zu verweisen, dass es keinen prinzipiellen Unterschied gibt, denn die konstruktiven Merkmale eines Automobils seien bei beiden Fahrzeugen vollständig erfüllt. Deswegen gibt es nach Böhme „keine Fortschrittsgeschichte, die dem Auto immanent wäre. Sondern das, was wir als Fortschritt verbuchen, ist relativ zu den sich verschiebenden Systembedingungen und kulturellen Anforderungen, die wir an ein Automobil stellen.

67 Roland Wetzel, Direktor des Museum Tinguely bekennender nicht-Autobesitzer und nicht-bekennender Autoliebhaber, prägt diesen Begriff. Fetisch Auto. Ich fahre also bin ich. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Tinguely, Basel, vom 8. Juni bis 9. Oktober 2011. Hrsg. v. R. Wetzel. Heidelberg, Berlin: Kehrer 2011. 68 Vgl. Böhme, Hartmut: Auto-Fetisch. In: Fetisch Auto. Ich fahre also bin ich. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Tinguely, Basel, vom 8. Juni bis 9. Oktober 2011. Hrsg. v. R. Wetzel. Heidelberg, Berlin: Kehrer 2011. S. 57.

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[Darüber hinaus ist ein Auto] niemals nur ein Auto, sondern stets auch das Medium von Ästhetik, Prestige, Emotionen, Leidenschaften, von sozialen Distinktionen und statuserzeugenden Ausstrahlungen, es ist Schmuck, Ich-Ausstattung, Requisit, Accessoire, Schutzraum, Waffe, Geliebte, Gefährte, kurz: eine semantisch höchst variable soziokulturelle Figuration.“

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So hat sich das funktionale Grundkonzept eines Fahrzeuginnenraums von der motorisierten Kutsche bis zum modernen PKW über das Jahrhundert hinweg in einer typischen Formartikulation und Raumdefinition stabilisiert, was im Wesentlichen daran liegt, dass die Innenraumgestaltung zunächst der Ergonomie des sitzenden Menschen wie den daraus resultierenden Bedienungsabläufen folgt und weiterhin den technischen Komponenten der Antriebseinheit. Aus diesem Grund soll hier auch nicht weiter auf die primäre Formgestaltung eingegangen werden. Vielmehr konzentriert sich die folgende Betrachtung auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Materialkombination und der darüber inszenierten Materialkommunikation, welche bereits im kleinsten Detail angelegt ist und sich auf das Gesamtsystem ‚Automobilität‘ hochskalieren lässt. Als Interpretationsmodell soll hier auf das ‚Prinzip der Schichtung‘ verwiesen werden: Schichtung als Überlagerung von stofflichen wie kommunikativen Informationen. Dieser besondere Mikroraum basiert auf der Komposition dünnster Materialschichten, wie Stahlblechen, Kunststoffschalen mit Textilflächen, Folien, Lacken und den damit verbundenen Oberflächenphänomenen, wie Lichtreflexionen und Mattheitsgraden. Schicht um Schicht falten sich die Materialschichten um ein strukturgebendes Skelett ins Innere des Fahrzeugs hinein und enden mit jenen weichen Oberflächen, die auf das taktile Empfinden des menschlichen Körpers ‚maßgeschneidert‘ wirken. 3.4.1 Fahrzeuginterieur als haptischer Erfahrungsraum Folgt man der Argumentation des Leiters des Leipziger Haptik-Labors Martin Grunwald70, dann werden sowohl die Wahrnehmung des Fahrzeuginnenraums als auch die Fahrzeugfahreigenschaften insbesondere durch den Tastsinn registriert, der wiederum untrennbar an die Material- und Oberflächenbeschaffenheit gebunden ist; denn für den Fahrzeugnutzer „ist die aktive Berührung des Fahrzeuges und seiner Systemelemente der direkte Kontakt mit den funktionalen und 69 Ebd. S. 57. 70 Grunwald, Martin u. Krause, Frank: Haptik-Design im Fahrzeugbau. In: Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Hrsg. v. Martin Grunwald u. Lothar Beyer. Basel u. a.: Birkhäuser 2001. S.171.

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sensorischen Eigenschaften des Fahrzeuges“. Grunwald gehört mit seinem Team zu den führenden Forschern auf dem Gebiet der Haptik; seit Beginn der 2000er Jahre beraten diese Haptikexperten explizit die Automobilindustrie bezüglich der Verbesserung und Verfeinerung der taktilen Interaktion zwischen Mensch und Objekt. Der Fahrzeuginnenraum ist ein sogenannter ‚Nah-Raum‘, also eine Umgebung, die primär das Nah-Sinnessystem71 anregt, sodass die Raumwahrnehmung und damit die Fahrzeugwahrnehmung insbesondere durch haptische Informationen geprägt ist. So formuliert Grunwald, dass die haptische Wahrnehmungsfähigkeit die „zentrale Orientierungs- und Kontrollinstanz“ während der Fahrzeugführung sei und zugleich sei die Haptik „die wesentliche Voraussetzung für die Realisierung von Fahrverhalten überhaupt“72. Demnach konzentriert sich die Haptikforschung einerseits auf die Fahrsicherheit durch die Verbesserung der Fahrzeugbedienung mittels Drehknöpfen, Schaltern, Hebeln und interaktiven Flächen und andererseits untersucht man den Einfluss der haptischen Wahrnehmung auf das Komfort- und Wohlfühlerlebnis, was schlussendlich ein wichtiges Entscheidungskriterium für den Fahrzeugkauf darstellt. Auf das zweite Thema soll näher eingegangen werden, weil sich dort zeigt, wie mit Hilfe einer designstrategischen Materialinszenierung, die über den Gebrauch hinausweist, Produktattribute, wie Präzision, Innovation, technologischer Vorsprung oder auch Zuverlässigkeit sowie Individualität und Persönlichkeit, kommuniziert werden. 3.4.2 Materialien als designstrategische Differenzierungsmerkmale 73 Ein Blick in die Fahrzeugklassifizierung74 zeigt, dass es trotz der immer gleichen Gestaltungsansätze von Fahrzeuginnenräumen mit nahezu identischen, techni-

71 Man unterscheidet zwischen den Nahsinnen (Tasten, Schmecken und Riechen) und Fernsinnen (Sehen und Hören). 72 Grunwald, M. u. Krause, F.: Haptik-Design im Fahrzeugbau. S. 172. 73 Als Grundlage für die Aussage, Materialien als Differenzierungsmerkmale designstrategisch einzusetzen, dient eine Designstudie für den Automobilhersteller Hyundai aus den Jahren 2011-2012. Die Studie befasste sich mit dem Thema ‚Premium im Fahrzeuginterieur‘ und beruht auf einer Zusammenarbeit mit dem Designbüro DESIGN PLANET. 74 Das Kraftfahrt Bundesamt, Teil des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, führt derzeit 12 Fahrzeugsegmente, wobei die Modellreihen anhand von optischen, technischen und marktorientierten Klassifizierungsmerkmalen zu unter-

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schen Funktionen75 qualitative Unterscheidungsmerkmale gibt, die eben durch bestimmte Material- und Oberflächenqualitäten generiert werden. Bei Fahrzeugen, die einem sog. ‚Premiumsegment‘76 zugeordnet werden, ist neben der hohen Technifizierung besonders die Raumwahrnehmung durch eine gesteigerte Materialvielfalt, -detaillierung und -ausführung geprägt. In den 1990er Jahren begannen Automobilhersteller besonders die haptische Wahrnehmbarkeit des Interieurs zu verbessern.77 Im Zusammenhang mit der Oberflächengestaltung benennt Werner Tietz78 vier grundlegende Forschungsthemen, die sich mit dem Weichheitsgefühl, der Oberflächenstabilität, dem Tast-, Streichgefühl und der Temperaturempfindlichkeit befassen und die zur Verbesserung der haptischen Wahrnehmung beigetragen haben, was schließlich in der spezifischen Anpassung der Materialeigenschaften für den Fahrzeuginnenraum mündet. Hierfür werden Materialbeschaffenheiten, wie die Steifigkeit, das Rückstellverhalten, die Rauigkeit und die Wärmeableitung, zuerst messtechnisch erfasst, bewertet und anschließend mit Hilfe subjektiver Tastwahrnehmungen von Probanden interpretiert.79 Weitere Untersuchungen sollen das Zusammen-

scheidbaren Gruppen zusammengefast sind. Im monatlichen Rhythmus veröffentlicht die Behörde Statistiken über den Bestand und die Neuzulassungen der Fahrzeugsegmente. Vgl. Kraftfahrt-Bundesamt. / www.kba.de/cln_030/nn_191088/DE/Statistik/ Fahrzeuge/Neuzulassungen/Segmente/segmente__node.html?__nnn=true

(Abrufda-

tum: 09.02.2013). 75 Die Automobilindustrie funktioniert nach dem Baukastenprinzip, d.h. technische Komponenten werden größtenteils von Zulieferern bezogen und diese produzieren markenübergreifend. 76 Die Entwicklung des „Premiumsegments“ ist von vier Automobilherstellern maßgeblich entwickelt worden. Vgl. Rosengarten, Philipp G. u. Stürmer, Christoph B.: Premium Power. Das Geheimnis des Erfolgs von Mercedes Benz, BMW, Porsche und Audi. 3. Auflage. Weinheim: Wiley-VCH2011. 77 Beispiel AUDI: Entwicklung zum Anfassen, Fingerspitzengefühl fürs „Audi Feeling“. (Online abrufbar unter http://www.presseportal.de/pm/6730/311448, Abrufdatum: 08.08.2012). 78 Vgl. Tietz, Werner: Haptische Auslegung der Fahrzeuginnenausstattung bei AUDI. In: Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Hrsg. v. Martin Grunwald und Lothar Beyer. Basel u .a.: Birkhäuser 2001. S. 183f. 79 Vgl. ebd. S. 185.

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wirken der visuellen, auditiven und olfaktorischen Wahrnehmung im Fahrzeuginnenraum verbessern.80 Nimmt man Kunststoffe als Referenz für typische Materialien des Fahrzeuginterieurs, so hat sich die negativ codierte Wahrnehmung der Oberflächen binnen der letzten Jahrzehnte grundlegend geändert. Die ersten Hartplastikoberflächen waren eher berührungsunfreundlich, was Friedrich Heubach81 mit den wasserabweisenden Materialeigenschaften begründet, die zu einem „klebrig fischigen“ Tastgefühl führen. Heubach bezog sich hier auf Versuche, in denen Probanden verschiedene Küchenmöbeloberflächen berühren sollten, die einerseits aus Echtholz bestehen und andererseits mit Resopal beschichtet sind.82 Die Materialwahrnehmung aus den 1980er Jahren hat die Automobilindustrie besonders im Interieur weitestgehend überwunden, denn jetzt verführen die Kunststoffe den menschlichen Tastsinn durch eine ausdifferenzierte, eindeutig einstellbare Berühr- wie Druckhaptik; auch hinterlassen die Berührungen keine sichtbaren Schweißspuren mehr. Um diese Tastwahrnehmung zu erzeugen, erhält die Kunststoffoberfläche mikrofeine Strukturen und Soft-Touch-Effekte rufen eine samtig weiche Berührhaptik hervor. Die plastikhafte Schale wird von einer robusten, aber weichen Haut überzogen. Das technische Ding fühlt sich anschmiegsam und vertraut an. 3.4.3 Inszenierung weicher Materialeigenschaften Die Untersuchung des Gegenstands erfolgt nun rückwärts, vom vorhandenen Produkt zu den ‚Materialquellen‘. Damit sollen Gestaltungsentscheidungen, die im Kontext von Materialentscheidungen stehen, interpretatorisch rekonstruiert werden, um den materialorientierten Gestaltungsprozess transparent zu machen. 80 https://www.audi-mediaservices.com/publish/ms/content/de/presskit/2009/06/26/ qualitaet/wertigkeit___werkstoffe.standard.gid-oeffentlichkeit.html (Abrufdatum: 08.08. 2012). 81 Vgl. Heubach, Friedrich: Das bedingte Leben. Entwurf zu einer Theorie der psychologischen Gegenständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags. München: Fink 1987. S. 126f. 82 Ebd. S. 126f. Über die Taststudien schreibt Heubach: „Zunächst fühle es [Resopaloberfläche] sich angenehm kühl und glatt an, vielleicht doch eher ein wenig kalt. Bald aber werde es durch die Körperwärme warm und feucht, schließlich klebrig oder fischig kalt und glitschig. Die längere Berührung sei unangenehm bis eklig, wie die eines Toten. Man habe das Gefühl, nicht atmen zu können, nicht genug Körperwärme zu besitzen, um es aufzuwärmen. [...] [Und so] hinterlasse [man] peinliche feuchte Kränze und erlebe seinen Schweiß als Unsauberkeit, als beschmutzend und kalt.“

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Der Interpretationsvorgang gleicht einem Abtragen von Schichten in Form von Gestaltungsinformationen, die schließlich zur Herstellung einzelner Materialien zurückführen. Auf dem Weg dorthin, so die Annahme, entstehen wiederum Impulse, die zur Gestaltung von anderen Produkten führen können. Die Materialeigenschaft ‚weich‘ erfährt im Fahrzeuginterieur eine Intensivierung. Weich bezieht sich nicht mehr nur auf die Sitze, sondern auch auf das Armaturenbrett und die Innenverkleidung. Dies führt dazu, dass selbst Bauteile, wie ein Armaturenbrett, einem komplexen Materialschichtaufbau unterzogen werden. Die Aufmerksamkeitssteigerung wird hier durch ein überhöht weiches Tasterlebnis generiert. Das heißt, die ursprünglich harte Kunststoffoberfläche ist nun mit einer weichen, lederartigen ‚Softskin-Haut‘83 überzogen, die wiederum unter leichtem Druck nachgibt, sodass der Finger in das Material leicht einsinken kann.84 Selbst Kanten und Formübergänge geben bei Berührung nach (Abbildung 8). Abbildung 8: Armaturenbrett mit intensivierter Haptik

83 Mit Softskin wird eine dünne Haut aus elastisch hochfestem Polyurethan bezeichnet. BASF führt ein solches Material unter der Bezeichnung Elastoskin®. Vgl. Stump, Karl-Heinz und Schmidt, Harald: Oberflächenwerkstoffe. Softskin und Keramik. In: Der neue BMW 7-er. Entwicklung und Technik. Hrsg. v. BMW Group. Wiesbaden: Vieweg und Teubner 2009. S. 16. 84 Fahrzeuginnenverkleidungsteile mit nachgebender Oberfläche bestehen meist aus einer geschäumten Polyurethan-Haut, die in einem Arbeitsschritt auf den Kunststoffträger im Spritzgussverfahren aufgespritzt wird.

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Im Umkehrschluss bedeutet die Materialintensivierung, dass die hier erzeugte künstliche Lederweichheit Assoziationen provoziert, die an eine straff gespannte, widerstandsfähige und schützende Haut erinnert. Im übertragenen Sinne scheint es so, als gibt nicht das Material nach, sondern das Fahrzeug selbst. Zwischen dem Insassen und der automobilen Maschine befindet sich also eine ledrig weiche Schutzhaut, die Sicherheit vor Unfallverletzungen suggeriert, eine elastisch feste Übergangsphase, die die technische Härte bricht und sich dem menschlichen Körper annähert. Ein Bindemittel zwischen Maschine und Organismus. Die Oberfläche fordert gar die Berührung heraus und dieses spezifische Tasterlebnis kann sich im Gedächtnis einprägen. Abbildung 9: Fahrzeughaut aus Abstandsgewirke und Softskin-Oberfläche

Ein Grund dafür, dass die Berühr- und Druckhaptik85 als Wiedererkennungsmerkmal funktioniert, ist die Materialschichtung, denn zwischen der SoftskinHaut und dem Kunststoffträger befindet sich ein druckelastisches Abstandsgewirke (Abbildung 9).86 Infolgedessen entsteht ein eigenständiges Tasterlebnis, welches zuerst fest ist, um dann beim Erreichen einer bestimmten Druckkraft nachzugeben. Dieser Effekt beruht auf den Eigenschaften einer dreidimensionalen Textilkonstruktion. Über die Definition des Garns87 und die Dichte der Abstandsfäden erhält das spezielle Textil eine dauerhaft nachfedernde Druckfestig-

85 Vgl. ebd. S.16. 86 Vgl. Hausding, Jan und Märtin, Jan: Gewirkte Halbzeuge und Wirktechniken. In: Textile Werkstoffe für den Leichtbau. Technik, Verfahren, Materialien, Eigenschaften. Hrsg. v. Chockri Cherif. Berlin, Heidelberg: Springer 2011. S. 289f. 87 Die Garne bestehen aus Polyester-Monofilamenten.

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keit, die unabhängig von der Fahrzeuginnentemperatur ist. Aus technischer Sicht kann die elastische Textilschicht zwischen den unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten des Oberflächenmaterials und dem Kunststoffträger vermitteln, was zudem die Langlebigkeit des Materialverbunds verbessern soll.88 Über den Versuch, die komplexen Materialeffekte am Beispiel eines Fahrzeuginterieurs zu entschlüsseln, eröffnet sich ein neuer Blick auf das textile Detail. Das Abstandsgewirke ist in diesem Zusammenhang als Träger einer zweiten Materialschicht zu sehen. Die Anpassungsfähigkeit des Abstandsgewirkes verleitet dazu, das besondere Textil als anpassungsfähiges Flächenmaterial mit armierenden Eigenschaften weiterzudenken. 3.4.4 Inszenierung fester Materialeigenschaften Entgegengesetzt zur haptisch weichen Haut des Armaturenbretts werden die funktionalen Bedienelemente89 durch eine technische Keramik inszeniert (Abbildungen 10-12). Was den umhüllenden, aber passiven Flächen an überzeichneter Weichheit innewohnt, ist in den Bedienelementen als diametrales Tasterlebnis von Beständigkeit und Präzision in Gestalt einer technischen Keramik aus Zirkoniumdioxid (ZrO²) und Yttriumoxid (Y²O³) materialisiert. 90 Abbildungen 10 und 11:‚Keramikspangen‘ und Keramische Zierbauteile

88 Die Angabe ist einem Experteninterview mit Uli Hammer von der Firma Müller Textil GmbH entnommen. Der Hersteller für technische Abstandsgewirke hat den Textilkern für das BMW-Armaturenbrett entwickelt und produziert. 89 Vgl.

www.bmw.com/com/de/insights/technology/technology_guide/articles/idrive.

html (Abrufdatum: 25.02. 2013). Klimaanlage, I-Drive, Soundsystem und Gangwahlhebel. 90 Vgl. Stump, K.-H. und Schmidt, H.: Oberflächenwerkstoffe. S. 17.

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Abbildung 12: Gangwahlhebel mit Keramik

Die Hochleistungskeramik funktioniert als materialisiertes Kommunikationsund Ausdrucksmittel, denn es verweist auf das technisch Machbare, genauso wie auf die Materialbeherrschung, die Fähigkeit zum nächsten Innovationsschritt, die Generierung von Wiedererkennungsmerkmalen zur Abgrenzung auf dem Markt und auf das Beschreiten ästhetischen Neulands. Dabei sind Bauteile aus technischer Keramik im Automobil nicht neu, denn im Verborgenen garantieren technische Komponenten als unsichtbare und verschleißarme Helfer einen reibungslosen Funktionsablauf. 91 Denkt man z.B. an den Schweizer Uhrenhersteller Ra91 111 Jahre Zündkerzen von Bosch. Seit 1902 sorgt die Bosch-Erfindung in Verbrennungsmotoren für zuverlässige Zündung. www.bosch-presse.de/presseforum/details. htm?txtID=6131 (Abrufdatum: 02.05.2013). Die früheste Anwendung technischer Keramik im Automobil ist die im Jahr 1902 patentierte und bis heute 11 Milliarden mal produzierte Zündkerze mit einem Isolationskörper aus Aluminiumoxid. / Zum festen Bestandteil automobiler Keramikbauteile gehören auch Katalysator, Rußpartikelfilter, diverse Ventile, Turbolader-Rotoren, Sonden, Sensoren aus Piezokeramik und Bremsscheiben. Einen umfangreichen Einblick über Anwendungsbereiche technischer Keramik im Automobil gibt der Keramikingenieur Peter Stingl (Leiter Entwicklung, CeramTec AG) anlässlich des Kongresses Material Innovativ: Automobil - Maschinenbau - Technische Keramik am 10.04.2008 im Messezentrum Nürnberg. Stingl, Peter: Keramik im Automobil - Von der Zündkerze zur Keramikbremse. Online abrufbar

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do92 oder die keramischen Messer von Kyocera, dann wird deutlich, dass technische Keramiken auch als materialästhetisches Ausdrucksmittel funktionieren, das man auf das Fahrzeuginterieur übertragen hat, indem Bedienelemente aus Kunststoff durch Keramikschalen93 ersetzt werden. Nun ist es aus rein funktionaler Sicht geradezu belanglos, ob diese Bedienelemente aus Keramik sind oder aus Plastik, denn die eigentliche Fahrzeugsteuerung gelingt in beiden Materialausführungen gleich gut oder schlecht. Hinsichtlich der Frage, was das Besondere der Keramikelemente ist und warum es nicht auch eine Kunststoffapplikation sein könnte, folgen zwei Interpretationen: Die erste Antwort gibt die technische Keramik selbst aufgrund ihres Eigenschaftsprofils. Zirkoniumdioxid verfügt über eine außerordentlich hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber mechanischen, chemischen und thermischen Belastungen. Dann verfügt Zirkoniumdioxid über eine Bruchzähigkeit und Biegefestigkeit, die mit keiner Gebrauchskeramik zu vergleichen ist; die Wärmeausdehnung ist der von Stahl sehr ähnlich. Aufgrund der hohen thermischen Isolationswirkung hat die technische Keramik eine niedrige Wärmeleitfähigkeit.94 Beim Berühren wird die Keramik die Körpertemperatur schnell annehmen. Das Material fühlt sich daher immer angenehm an. Die polierte Keramikoberfläche weist nicht nur einen spezifischen Glanz auf, sondern verleiht dem Material ein HighTech-Tastgefühl. Die Berührungserfahrung glatter Oberflächen hat durch Smartphones oder Tablet-PCs an Bedeutung gewonnen, steht sie doch für eine ‚reibungslose‘ Navigation durch das World Wide Web. Aufgrund des speziellen Tasterlebnisses verweisen die keramischen Bedienelemente auf eine zweifache unter https://www.ceramtec.de/files/press_mention_2008-10-13_de.pdf (Abrufdatum: 02.05.2013). 92 Ende der 1980er Jahre entwickelt Rado die erste serienreife Uhr aus technischer Keramik und knüpfte damit an eine Materialtradition an, die vor allem auf der Verwendung und Kommunikation der hochfesten Werkstoffe Hartmetall und Saphirglas beruht. Über die Materialien informiert die Webseite: http://www.rado.com/de /keramikuhren.html (Abrufdatum: 08.05.2013). 93 Zum Entwicklungsprozess der Keramikbauteile wurde ein Expertengespräch mit Matthias Weißkopf, Leiter für keramische Bauteile des Spritzgießherstellers Oechsler AG, durchgeführt. Zuerst plante man nur geringe Stückzahlen, die der 7-er Serie als High-End-Luxusausstattung vorbehalten waren und in weniger als 2000 Fahrzeugen Anwendung finden sollten. Bereits zwei Jahre später sind es über 6000 Teile und momentan werden über 15 Tonnen Keramik umgesetzt und mehr als 30.000 Fahrzeuge mit Keramikbauteilen ausgerüstet. 94 Zirkonoxid (ZrO2) Eigenschaften, http://www.ceramtec.de/werkstoffe/zirkonoxid/ (Abrufdatum: 02.05.2013).

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Bewegung im Raum: auf die physische Fortbewegung (Gangwahlhebel) und zugleich für die virtuelle Navigation im Datenraum (Navigationsknopf). Die zweite Antwort ist weniger offensichtlich und bezieht sich auf die Materialisierung als einen komplexen, unkonventionellen und innovativen Entwicklungsprozess. Bei der Herstellung entsteht ein neues Materialprodukt, das unter laborhaften Bedingungen gewonnen wird, indem Bestandteile mit ‚übernatürlicher‘ Reinheit verwendet werden. Diese Bestandteile wandeln sich unter Einwirkung von Druck, Hitze und viel Zeit aus einer festen Phase in eine poröse, dann flüssige und schließlich in eine kristalline Form. Ein solches Produkt erzeugt auf der Ebene des Materials einen Interpretationsspielraum, der über den Gebrauch hinausreicht. Jene ‚Materialstory‘ wird schließlich zum Bestandteil der Produktkommunikation im Sinne einer materialbasierten Produktsprache. Folgt man etwa der Aussage des Materialwissenschaftlers Michael Stelter95 vom Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS), dann gehört die Keramikspange für den Gangwahlhebel zu den komplexesten Sichtbauteilen aus High-Tech-Keramik, die mittels eines Keramikspritzgussverfahrens (CIM)96 derzeit realisiert werden. So verweist die Keramikschale auf eine Weiterentwicklung des dazugehörigen Herstellungsverfahrens, denn die Bauteilform wird im Vergleich mit einem Rado-Uhrengehäuse nicht nur komplexer, sondern auch deren Größe wird deutlich überschritten. Es handelt sich um ein Vorzeigeobjekt, das die momentane Grenze dieses spezifischen Präzisionsherstellungsprozesses weiter verschiebt und neu setzt. Weitere Faktoren, die die Keramikschalen kommunikativ aufladen, sind die Zeit und die Veredelungsschritte.97 Die Veredelung der hochfesten Keramik übernehmen nach Jürgen 95 Expertengespräch (30.10.2012). 96 Im Ceramic Injection Molding (CIM) wird keramikhaltiges Kunststoffgranulat spritztechnisch verarbeitet. Der sogenannte Grünkörper, bestehend aus Keramikpulver und Kunststoffanteilen ist bis zu 30% größer als das finale Bauteil. Über den Weg der ‚katalytischen Entbinderung‘ trennt man beide Materialien. Weil dieser Zersetzungsprozess von außen nach innen geschieht, kann sich im Grünkörper kein Innendruck aufbauen. Die Bauteilgeometrie bleibt gewahrt. Das entbinderte Zwischenprodukt besteht aus reinem Keramikpulver, das gesintert wird. Beim Sintern verbäckt das Keramik pulver und das Bauteil schwindet gleichmäßig auf das zuvor berechnete Endmaß. 97 Expertengespräch (10.10.2012) mit dem Leiter für keramische Bauteile des Spritzgießherstellers Matthias Weißkopf Oechsler AG zur Entwicklung der Keramik bauteile. Die Aufbereitung eines sinterfähigen Grünkörpers dauert mitunter mehrere Tage und die gesamte Produktionskette kann sich „auf mehrere Wochen, bis zu 6 Wochen, verteilen und umfasst bei einzelnen Bauteilen bis zu 10 Fertigungsstufen.“ Die Aussage des Keramikspezialisten zeigt, dass die Herstellung dieser keramischen Bau-

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Fürst98 Polier-Roboter, denn diese vereinen mittlerweile das Feingefühl einer menschlichen Hand mit der Präzision sowie der Ausdauer einer computergestützten Maschine. Jenes robotergestützte Verfahren, dessen Ursprung in der automatisierten Herstellung von keramischen Endoprothesen99 wie Hüft- oder Kniegelenken liegt, ermöglicht die Reproduktion einer gleichbleibend spiegelglatten Oberfläche bei komplex geformten Freiformflächen aus Keramik. Insgesamt kann man konstatieren, dass die Kommunikation des Materials und der besonderen Keramikherstellung die Bedienelemente semantisiert. So funktionieren die Keramikschalen wegen ihrer besonderen Härte und Präzision im übertragenen Sinne als haptisch erfahrbare Zeichen, die die dahinterliegende Fahrzeugtechnik mit Schlagworten wie Langlebigkeit, Robustheit und Zuverlässigkeit aufwerten. So verweist die Keramikschale des Gangwahlhebels eben auch als haptisches Zeichen auf das dahinterliegende Automatikgetriebe des Fahrzeugs und zeichnet dieses als zuverlässige und präzise Technik aus. Es ist ferner davon auszugehen, dass das Tasterlebnis Erinnerungsspuren im Gedächtnis hinterlässt und zwar unabhängig davon, ob man sich mit der Keramik bewusst auseinandersetzt oder diese im wörtlichen Sinne unbewusst begreift. Auch wenn die hier beschriebenen Tasterlebnisse nur auf weichen und harten Materialeigenschaften zu beruhen scheinen, so sind diese doch untrennbar an die Gesamtwahrnehmung des Produktes gekoppelt. In Bezug auf die Komplexität eines Fahrzeuges oder ein anderes technisches Produkt ist davon auszugehen, dass sich besonders diese Detailwahrnehmungen in das Gedächtnis ‚einbrennen‘ und man darüber einen Moment der Produktidentifikation generieren kann.

teile im industriellen Sinne viel Zeit erfordert, eine Reifezeit, die wiederum zum Mehrwert wird. Denn für einen Automobilhersteller, der Taktzeiten in Sekunden und darunter favorisiert, ist ein Produkt, welches Wochen der Reifung benötigt, wie eine Zeitkapsel, ein Versprechen für etwas, das lange hält. 98 Vgl. Fürst, Jürgen: Robotergestütztes vollautomatisiertes Polierverfahren. Hochglänzende Optik für Keramikoberflächen. In: Journal für Oberflächentechnik 9 (2012). S. 66-77. Zudem erschien der Artikel in abgewandelter Fassung in den Fachzeitschriften automation Nr. 7 (2012), Schleifen + Polieren Nr. 1 (2013), medizin&technik Nr.1 (2013), Maschinenmarkt Nr. 2 (2013). 99 Oppermann, Birgit: Erst eine Wange, dann die andere. In: Medizin und Technik (2007). S. 40-41.

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3.4.5 Zusammenfassung Aus der Interpretation von Materialien bei bestehenden Produkten lässt sich nicht nur ein eigenständiger Zugang zur Bedeutung der verwendeten Werkstoffe herleiten und die Materialisierungskette rekonstruieren, sondern sie bietet auch eine Möglichkeit, dem Untersuchungsgegenstand Gestaltungsinformationen abzugewinnen, die sich auf die Gestaltung von anderen Gegenständen übertragen lassen. Das Analysieren hilft dabei, das Produkt in einem bestimmten materialbasierten Kontext zu hinterfragen. Auch werden verschiedene Wege der Materialisierung nachvollziehbar und regen zur Weitergestaltung sowie ReInterpretation an. Indem der Gegenstand auf der Materialebene und im Zusammenhang mit dem Materialisierungsprozess befragt wird, legt man geradezu ein Netzwerk an gestaltungsrelevanten Informationen frei, die einem Gestaltungsprozess verborgen bleiben, der nur an einem Re-Design orientiert ist. Es konnte gezeigt werden, dass die Methode der Befragung von Material und Produkt zu Experten aus anderen Wissenschaftsdisziplinen führt, beispielsweise aus den Bereichen der Materialentwicklung, -herstellung und -verarbeitung. Dieser Durchleuchtungsvorgang des Materialisierungsprozesses lässt sich auf weitere Gebrauchsgegenstände übertragen. Dem Gestalter bieten sich Verknüpfungsmöglichkeiten für die Produktgestaltung an, indem er beginnt, etablierte oder neue Herstellungsverfahren (Spritzgießverfahren) mit bewährten oder neuartigen Materialien (spritzfähige Keramik) weiterführend zu kombinieren. Die Untersuchung des Fahrzeuginterieurs soll ein Verständnis fördern, wie man als Gestalter Materialien als pointierte Ausdrucksmittel einsetzt, um beispielsweise einen Erlebnisraum zu erzeugen und um Begehrlichkeiten zu erwecken. Aus der Sicht des Entwurfsprozesses hilft das zuvor trainierte Lesen und Interpretieren von Materialisierungsprozessen auch dabei, den Gegenstand mit materialspezifischen Bedeutungen aufzuladen. Des Weiteren hat die Interpretation der Material-Produkt-Zusammenhänge des Fahrzeuginterieurs dazu beigetragen, dass eine weiterführende Beschäftigung sowohl mit textilem Trägermaterial (Abstandsgewirke) als auch mit Keramik angeregt wurde. Beide Themen werden Grundlage für die Gestaltung keramischer Schalenbauteile und für die MaterialRaumstudie Riccio (Kapitel 5).

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3.5 FALLBEISPIEL: MATERIALINTERPRETATION ALS INITIATOR EINES GESTALTUNGSPROZESSES Der vorherige Abschnitt zeigt eine materialmotivierte und designstrategische Produktkommunikation am Beispiel eines Automobilinterieurs. Hier wurde der Untersuchungsgegenstand aus der Sicht der Materialeigenschaftspaarung weich und fest in eine ‚decodierende‘ Beobachtung vom Gebrauchsgenstand zu den Werkstoffen rückwirkend untersucht. Der folgende Abschnitt untersucht ebenfalls auf der Grundlage der Materialeigenschaftspaarung weich und fest nunmehr einen codierenden Gestaltungsakt, der ausgehend von den benannten Materialeigenschaften zu materialintensivierten Gebrauchsgenständen führen soll. Die Materialinterpretation setzt daher bei einer Materialkombination aus natürlich gewachsenen Ausgangsstoffen (Weidenholz) und künstlich hergestellten Halbzeugen (Metallgewebe) an und soll Wege zur Erschließung materialbedingter Gestaltungsinformationen darlegen, die, so die Annahme, bereits in den Untersuchungsgegenständen vorhanden sind. Damit wird der Gestaltungsprozess von den Eigenschaften der Ausgangsmaterialien und durch Materialprototypen angeregt, um diese in diversen Szenarien zu diskutieren. Über die Interpretation der verwendeten Materialien werden nicht nur konstruktive Entscheidungen herausgefordert, sondern auch Bedeutungen generiert, die sich in das fertige Objekt einschreiben. Es folgen zwei Interpretationsansätze mit Weidenhölzern zu Werner Aisslingers Materialstudie ‚Chair Farm‘100 und zu der Leichtbaukonstruktion ‚En-

100 Aisslinger reagiert mit der ganzheitlichen Designstudie und der bewussten Darstellung des Materialisierungsprozesses auf Veränderungen in der Konsumgesellschaft, in der die Konsumenten weniger passiv agieren und sich stärker als aktive sowie informierte Verbraucher äußern, die sich mit Themen wie ‚local production, local food, car sharing, sofa surfing‚ urban gardening etc.‘ identifizieren: “The chair farm concept is as simple as it is radical. A ‘plantation chair’ produced in an agricultural Lab is an production utopia of the future [...]”. Online abrufbar unter: http://www. aisslinger.de/index.php?option=com_project&view=detail&pid=149&Itemid=1 (Abrufdatum: 18.12.2015). Die Idee, einen Gebrauchsgegenstand auf natürliche Weise wachsen zu lassen, wurde bereits durch John Krubsack um 1908 umgesetzt. Der Banker und Farmer pflanzte hierzu eine Gruppe aus Box Elder (Esche-Ahorn). Die jungen, besonders biegefreudigen Hölzer wurden so miteinander verflochten, dass sich die Gewächse in den folgenden Jahren zu einer stuhlhaften Form vereinten. Online abrufbar unter: http://treeshapers.net/john-krubsack (Abrufdatum: 18.12. 2015).

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gelstrompete‘101, einer begehbaren Rauminstallation, die als Materialexperiment am Institut für Materialdesign (IMD) an der HfG Offenbach entwickelt wurde. Im produktgestalterischen und baulichen Kontext betrachtet bewegen sich beide Entwurfsvorhaben einerseits an der Gestaltung sogenannter Weidenhäuser, also lebendigen Gewölbe- oder Kuppelbauten, die aus Weidengrünhölzern gepflanzt werden, andererseits berührt man durch die Materialbefragung ein Gestaltungsthema, das unter dem Begriff Baubotanik untersucht wird, indem man den nachwachsenden Rohstoff als natürliches Konstruktionsmittel erforscht. 3.5.1 Wachsendes Weidenholz im produktgestalterischen Kontext Abbildungen 13 und 14: Designstudie ,Chair Farm‘

Der für seine experimentellen Designstudien bekannte Produktdesigner Aisslinger greift bewusst in seinen Entwürfen immer wieder Materialthemen auf, so auch für die Designstudie ‚Chair Farm‘ (Abbildungen 13 und. 14), ein seriell gedachtes, aber natürlich gewachsenes Sitzmöbel aus lebendigen Weidenhölzern. Die Material-Produkt-Vision wurde erstmals auf der Mailänder Möbelmesse im Jahr 2012 präsentiert. Doch es ist weniger das finale Sitz-Objekt als mehr das Gesamtkonzept, das den aktiven Gestaltungspart des Materials verdeutlicht,

101 Vgl. Holzbach, M.: Material Grove. S. 30f. / Holzbach, M.: Material Denken. S. 78f.

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denn das Ausgangsmaterial wächst selbstständig in die Form eines Stuhls. Der Stuhl, als Typus der industriellen Massenproduktion, erfährt in der MaterialFormwerdungsstudie eine andere Bedeutung. Hier wird der zeitliche Aspekt für die Produktion nicht durch eine Maschinerie zu optimieren versucht, sondern bewusst ausgedehnt. Die Stuhlform muss erst wachsen und zwar nicht beliebig, wie es unter natürlichen Bedingungen geschehen würde, sondern geordnet aufgrund gestalteter Formvorgaben. Aisslingers Entwurf zeigt, dass es dafür lediglich einer gestaltgebenden Rahmenkonstruktion aus perforiertem Blech bedarf. Diese Konstruktion wirkt gleichzeitig zerbrechlich und distanziert sich stark von Produktionswerkzeugen, wie sie für die Herstellung von Sitzmöbeln typisch sind. Die Weidenhölzer wachsen dagegen von selbst in die Hohlform, verzweigen sich dabei zu einem tragfähigen Geflecht, um nach ausreichender Wuchszeit als Sitzmöbel ‚geerntet‘ werden zu können. Zwar definiert der Rahmen die grobe Wuchsrichtung und definiert die seriell gleichbleibende Grundform, doch die herangewachsenen Objekte werden immer eine natürliche Varianz vorweisen, je nach Wachstum und Entwicklungsstand der einzelnen Weidenhölzer. Das Projekt verdeutlicht auch, dass die Gestaltung mit Materialien eine ganzheitliche Produktbetrachtung mit sich führt und die Materialisierung zu einem wesentlichen Bestandteil des Gebrauchsgengenstandes wird. Der Gestaltungsprozess des Material-Raumstudie ‚Engelstrompete‘, der hier in seiner Gesamtheit begleitet werden konnte, folgt einer vergleichbaren Herangehensweise der Materialeigenschaftenberücksichtigung. Doch im Unterschied zum Einbeziehen von formverändernden Wuchseigenschaften lebendiger Grünhölzer werden im Gestaltungsprozess der Engelstrompete die Biegeeigenschaften ‚geernteter‘ Weidenhölzer gestalterisch interpretiert. Die Gestaltungserfahrungen aus der hölzernen Leichtbaukonstruktion Engelstrompete werden in der eigens durchgeführten Material-Form-Studie wieder aufgegriffen, auch deshalb, weil die Rauminstallation einem multisensorischen Erlebnisraum entspricht, der dem Ansatz des Schichtens folgt und dabei eine andere materialbasierte Produktsprache entfaltet (Abbildung 15). Zudem gibt es Überschneidungen zwischen den beiden materialintensivierten Räumen bezüglich der Materialeigenschaften weich und fest. Es wird ersichtlich, dass die Materialien (Holzbiegestäbe und Metalltextil), welche dem Entwurf der Engelstrompete vorausgesetzt sind, über ihre Materialeigenschaften auf den Gestaltungsvorgang einwirken. Ferner wird davon ausgegangen, dass die gestalterisch experimentelle Materialuntersuchung

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nicht nur zu einer Produktlösung führt, wie es das Beispiel ‚Chair Farm‘ verdeutlicht, sondern verschiedene Produkt- wie Materialanwendungen ermöglicht.102 Abbildung 15: Pavillon Engelstrompete

3.5.2 Weidenholz als biegefähige Stabkonstruktion im architektonischen Kontext Die experimentelle Erschließung der Materialeigenschaften weich und fest bildet die Gestaltungsgrundlage der leichten Hüll-Tragstruktur des Pavillons Engelstrompete. Da sind beispielsweise die natürlichen Weidenhölzer als biegefreudige Stützelemente zu nennen und das Metallgewebe für die Umhüllung. Beide Materialkomponenten ergänzen sich durch die Materialeigenschaften des jeweilig anderen Werkstoffes zu einem Verbundmaterial mit funktionaler wie ästhetischer Eigenständigkeit. Es handelt sich um eine Schichtung aus Stabelementen, textilen Flächen, Licht, Klang und Bewegung. Der Begriff Schichtung bedeutet hierbei zweierlei: die Überlagerung der Materialeigenschaften als konstruktives Moment und die Erzeugung von materialbedingten Informationsschichten, die das Objekt mit Bedeutung aufladen, also codieren, um diese wiederum vom Betrachter oder Akteur entschlüsseln zu lassen und somit einen Interpretationsprozess herauszufordern. In Bezug auf die temporäre Hüllkonstruktion der Engelstrompete kann von einer Schichtung gesprochen werden, die vor allem Leichtigkeit und Bewegung materialisiert. Da dieser Schichtungs-Ansatz als ein abstrak102 Siehe Kapitel 2.4 an den Beispielen von Michael Thonet und Charles und Ray Eames sowie Kapitel 5.1 zu Oskar Zieta.

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ter Weg der Materialbefragung angesehen wird, sollen hier vier Schichten des Pavillons einzeln beleuchtet werden: Material, Bewegung, Licht und Klang. Nach den Aussagen von Holzbach hat die reversible Materialkombination aus hölzernen Biegestäben und textilem Metallgewebe die Pavillongestaltung grundlegend beeinflusst, denn hiervon leitet sich das übergeordnete Gestaltungskonzept ab, einen „nachwachsenden regionalen Rohstoff auf innovative Art und Weise zu verarbeiten und in Verbindung mit einem modernen Material einen vollkommen neuen Raumcharakter entstehen zu lassen“.103 Die natürlich gewachsenen Weiden-Grünhölzer verweisen auf einen Gebrauch als bewegliche und zugleich stützende Elemente. Die Auseinandersetzung mit dem Metallgewebe regt dazu an, dass man dieses spezielle Flächenmaterial als ‚knitterfähige‘ Fläche anwendet. Eine Möglichkeit, die Materialstudien beginnen zu lassen, besteht darin, die Biegefähigkeit von Weidenruten in Bezug auf deren Anzahl und Größe zu intensivieren. Eine einzelne Weidenrute ist trotz ihrer Flexibilität leicht zu zerbrechen. Umgekehrt ist ein homogener Stab, der aus gebündelten Weidenruten besteht, zu starr und schwer. Erst die Kombination beider Gegensätze, also die Materialkonzentration auf der einen Stabseite und die Ausdünnung auf der entgegengesetzten Stabseite, führt zu einem anpassungsfähigen Biegestab mit einer Art Biegegradienten (Abbildungen 16 und 17). Abbildung 16: Sich verjüngende Kragarme aus gebündelten Weidenruten

103 Holzbach, M.: Material Gestaltet. S. 30.

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Abbildung 17: Prototyp eines Pavillonmoduls mit beweglichen Kragarmen und Aluminiumgewebehaut

Durch die Addition der schwächeren Einzelelemente zu einem Verbund wird das natürliche Biegeverhalten simuliert und für großformatige biegefähige Stützkonstruktionen als sogenannte Kragarme104 nutzbar gemacht. Je nach Beanspruchung bestehen die Kragarme aus mehr oder eben weniger Weidenruten. Darüber hinaus konnte bei der Gestaltung beobachtet werden, dass das Bearbeiten der biegefähigen Kragarme Assoziationen zur ‚Beweglichkeit‘ sowie ‚Lebendigkeit‘ freisetzte, woraufhin man den Entwurfsprozess verstärkt ausrichtete. In diesem Zusammenhang zeigen besonders Metallgewebe im Vergleich zu Textilien aus natürlichen oder synthetischen Fasern interessante Eigenschaften. Gewebe aus Metallfäden verfügen über eine materialspezifische Federkraft, Eigensteifigkeit und sie sind nicht entflammbar. Einwirkende Verformungskräfte, wie die bei Windeinwirkungen, federt das flächige Material ab, indem es reversible Falten und Verwerfungen bildet. Es verhält sich dann ähnlich wie ein dünnes Blech und ist trotzdem nahezu durchsichtig. Die Gesamtkonstruktion erscheint daher besonders leicht. Deswegen besteht das Grundmodul des Pavillons auch aus einem großflächigen Aluminiumtextil und einem parallel angeordneten Rapport aus Kragarmen. Das Metallgewebe hält die Kragarme auf Abstand. Bei der Engelstrompete sind die textilbespannten Biegestäbe zentrisch um eine ballas-

104 Ebd.

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tierte Gründung105 fixiert, sodass sich die Grundmodule parabelförmig nach außen biegen können und einen gewölbten Raum aufspannen (Abbildung 18). Abbildung 18: Computerdarstellung der sich überlagernden Pavillonmodule

Für den Betrachter bietet der Schichtaufbau vielfältige Seheindrücke. Je nach Blickrichtung werden Assoziationen geweckt, die entweder an eine Baumrinde erinnern, weil das Textil vollkommen opak erscheint, oder an eine Schuppenhaut, die sich im seidenen Glanz zeigt. Je dichter die Faltenbildung ist, desto stärker erscheint das Material als Metall und weniger als gewebter Stoff. Auch konstruktiv verhält sich das Faltenwerk eher wie ein Aluminiumblech. In der Tat sorgt die Faltenbildung dafür, dass die Biegestreben sich gegenseitig auf Abstand halten und sich selbst ausrichten. Entgegengesetzt zur Massivität der Gründung löst sich das Aluminiumtextil zum Rand in eine offene, transparente, luftdurchlässige und bewegliche Fläche auf (Abbildungen 19 und 20). Was das Metallgewebe für die Tragstruktur ist, ist das Licht für das Metallgewebe, nämlich eine weitere Haut. In der Dunkelheit erstrahlt die Pavillonhülle als farbig pulsierende Lichtfläche. Mit Hilfe von Lichtprojektionen lässt sich die Membran zum Leuchten bringen. Anstelle der ebenen Projektionsfläche verfügt die Engelstrompete über ein mehrdimensionales Projektionsgewebe, das vom Licht umspielt und durchdrungen wird. Ein Großteil der Lichtprojektion diffundiert durch die Gitterstruktur hindurch und beleuchtet tieferliegende Gewebeschichten. Das Licht bildet selbst Schichtungen. Dort, wo die Falten des Metallgewebes dicht genug sind, wie im Bereich der Gründung, ist die Leuchtkraft wegen der höheren Reflexion am intensivsten. Die Belegung der Oberfläche mit Lichtinformationen ist eine der beiden digital erzeugten Schichten der Raumin105 Als Gründung dient ein Betonrohrsegment, das einerseits die radiale Anordnung der Hüllkonstruktion vorgibt und andererseits genügend Eigengewicht besitzt, damit sich die biegefreudigen Kragarme bewegen können.

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stallation, die andere ist der Klang106. Licht und Klang sind synchronisiert und verstärken die Beweglichkeit der Leichtbaukonstruktion. Abbildung 19: Verdichtung durch Faltenbildung

Abbildung 20: Metallgewebe opak bis transparent

106 Anlässlich der Präsentation des Pavillons komponierte der Elektro-Musiker Dominik Eulberg eine eigene Klangwelt aus natürlichen Geräuschen der lokalen Flora und Fauna gemischt mit urbanen Klängen.

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3.5.3 Zusammenfassung Mit der Inszenierung von Beweglichkeit, die durch die bewusste Materialgestaltung herausgearbeitet werden konnte, gelingt es, die künstliche Umbauung und das lebendige Umfeld miteinander zu verbinden. Es ist die bewusst gestaltete Labilität der Leichtbaukonstruktion, die das Objekt mit der Umgebung synchronisiert. Im Fall der Engelstrompete handelt es sich um eine temporäre Bühne, die durch ihre Materialeigenschaftsintensivierung gleichermaßen zum Verweilen und zur Bewegung auffordert. Anhand der Materialprototypen lassen sich funktionale Gestaltungsentscheidungen überprüfen, wie auch Fragen nach Sinn, Zweck und Gebrauch klären. Die Materialisierung produziert ganzheitliche und mit allen Sinnen wahrnehmbare Gestaltungserfahrungen. Änderungen im Umgang mit den Materialien, den Bearbeitungsmöglichkeiten oder die Verfolgung anderer Materialverhalten führen zu anderen Wahrnehmungserscheinungen und regen zu weiteren Produktvarianten und -entwürfen an. So hat die Auseinandersetzung mit dem hier dargestellten materialorientierten Gestaltungsprozess dazu angeregt, mit einer eigenen Studie über die Gestaltbarkeit der Materialeigenschaften weich und fest fortzufahren. Das entgegengesetzte Materialeigenschaftspaar wird im vierten und fünften Kapitel als Untersuchungsgrundlage beibehalten, aber die Metallgewebe und Holzbiegestäbe werden durch elastische Textilien und selbsthärtende Flüssigkeiten ersetzt. Zudem geht es im Folgenden darum, den weichen Materialzustand für die Gestaltung materialmotivierter Verformungen107 zu nutzen. Die eigene Studie zur Materialbefragung durchläuft zwei Untersuchungszyklen: Der erste ist abstrakt und beschäftigt sich mit einer möglichen Materialdecodierung typischer Formen, die in elastischen Textilflächen aufgrund der herstellungsbedingten Materialeigenschaften enthalten sind. Der zweite Gestaltungszyklus greift die textilspezifische Verformbarkeit auf, befragt diese vor dem Hintergrund einer leichten Hüll- und Schalenkonstruktion und übersetzt dies in keramische Schalenbauteile.

107 In Anlehnung an die IL Material-Form-Versuche (Kapitel 2.6.1).

4

Interpretation der Materialeigenschaften weich und fest an Textilien und Schalenbauteilen

Das folgende Kapitel zeigt eine eigens durchgeführte interpretatorische Materialuntersuchung anhand der Eigenschaftspaarung weich und fest. Die Untersuchung beginnt mit der Deutung der weichen Eigenschaften am Beispiel elastischer Textilien hinsichtlich einer materialbedingten Anpassungsfähigkeit und dem daraus resultierenden typischen Verformungsverhalten. Anschließend wird eine Gestaltungsstrategie aufgezeigt, in der die Variabilität solcher textilen Flächengebilde in die Generierung von textilarmierten Schalenbauteilen einfließt. Den textilen Gebilden werden dazu feste Eigenschaften hinzugefügt. Das geschieht mithilfe einer flüssigen und selbsthärtenden Materialkomponente, die den weichen Textilzustand in eine tragfähig feste Schale überführt (Abbildung 21). Abbildung 21: Individualisiertes Schalenbauteil aus Textilschlauch

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Die Materialstudien dienen als Grundlage für die Entwicklung und Materialisierung einer Serie von klein- und großformatigen Schalenbauteilen. Ein Ergebnis ist die begehbare Raumstudie Riccio, deren gestalterische Herleitung und Gebrauchsdeutung im fünften Kapitel exemplarisch ausgeführt wird (Abbildung 22). Abbildung 22: Keramische Schale der Material-Raumstudie Riccio

Den Kontext für die Materialuntersuchung bildet hierbei nicht das MaterialLabor, in dem man etwa eine Optimierung von textilen Werkstoffen vornimmt, sondern die Versuche entstehen vor dem Hintergrund eines gebrauchsorientierten Anwendungsszenarios. Daher wird die gestalterisch geprägte Materialuntersuchung von Demonstrationsobjekten begleitet, die man mit allen Sinnen erleben kann. Für die erste Stufe der Materialinterpretation ist das Szenario eher abstrakt. Hier wird das Material-Form-Verhalten von elastischen Textilien beleuchtet und die Anwendbarkeit für individualisierte Schalenbauteile herausgearbeitet. Ferner sollen die physischen Skizzen die Auslegung von Anwendungsszenarien unterstützen, ob nun als Materialprodukt oder als Gebrauchsgegenstand. Des Weiteren folgt die Untersuchung nach dem zuvor beschriebenen Ansatz der Schichtung (s. Kapitel 3.2.3). Auch werden digitale Gestaltungsmittel für die Studien genutzt. Die Interpretationsmethode dient als Grundlage, um die besonderen Eigenschaften elastischer Textilien zu verdeutlichen und um die daraus abgeleite-

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ten Materialprototypen, die als Kommunikationsmittel 1 funktionieren, zu beschreiben. Da die Studie auf textilen Maschenwaren beruht, ist es naheliegend, sich zuerst über die charakteristischen Eigenschaften anzunähern, um so etwas wie einen erweiterten ‚materialorientierten Gestaltungsblick‘ für das textile Halbzeug zu trainieren.

4.1 EINSTIEG IN DIE MATERIALINTERPRETATION Die für die Untersuchung benötigten Materialien, elastisches Textil und selbsthärtende Matrix, verfügen bereits über Informationen, die einen Einstieg in die Materialinterpretation eröffnen. Beide Ausgangsstoffe sind Produkte eines Entwicklungs- und Herstellungsprozesses, daher führen sie auch herstellungsbedingte Informationen mit sich. Des Weiteren sind die Untersuchungsgegenstände bereits als sogenannte ‚Endprodukte‘ in produktspezifische Kontexte eingebettet, die als anwendungsbezogene Informationsquellen dienen. Zu den Materialinformationen zählen beispielsweise: Materialeigenschaften (mechanisch, physikalisch und chemisch) Herstellung (Gewinnung, Aufbereitung) Bearbeitung (Zerlegen, Verbinden, Verformen) Ökonomie (Verfügbarkeit, Kosten, Wertschöpfungskette) Ökologie (Gewinnung, Entsorgung, Umweltbelastung, Recycling, Gefahrenpotential) • Bedeutung (Materialsprache, -gedächtnis, Assoziation) • Anwendung (Kleidung, Verbundwerkstoffe) • • • • •

Eine Materialuntersuchung im Produktdesign interpretiert die gegebenen Eigenschaften als gestaltbare Zustände und überprüft das Vorgehen anhand von Materialprototypen, die beispielsweise auf Material-Form-Versuchen basieren. Eine gestaltungsrelevante Informationsdichte erschließt sich nicht aus den vorhandenen Datenblättern per se, sondern aus einer Fülle von materialbasierenden Versuchsreihen, die sich unter anderem aufgrund einer zweckentfremdeten Handhabe der Materialproben durch den Gestalter ergeben.

1

Die Beobachtung der Gestalter beim Entwerfen des Pavillons Engelstrompete ergab, dass immer ein Zwischenmodell, auch wenn es nur eine einfache Materialstudie war, als Diskussionsgrundlage herangezogen wurde. Im Laufe des Gestaltungsprozesses entstand eine umfangreiche Material-Form-Prozess-Sammlung.

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Für Holzbach ist die Materialinterpretation durch gestalterische Aktivität ein Weg, der „[…] über analoge und digitale, über zwei- und dreidimensionale Visualisierung und Materialisierung [führt]. [Wobei auch] die Zeit als vierte Dimension […] als Parameter in den häufig chemisch, biologisch oder physikalisch motivierten Szenarien und Abläufen eine zentrale Rolle [spielt].“2

Die Ergebnisse oder Zwischenprodukte der Materialuntersuchung können Materialcollagen sein, die eine bestimmte Materialeigenschaft (Leichtigkeit, Verformbarkeit, Elastizität u. a.) hervorheben und zwar als physisches Objekt. Die Einbettung der materialbasierenden Informationen in rechnergestützte Simulationsprogramme, Konstruktionssoftware und rechnergestützte Maschinen sind als begleitende Maßnahme des materialorientierten Gestaltungsprozesses zu sehen, um beispielsweise die analogen und digitalen Modelle zu überlagern, um die Präzision sowie Variabilität bei der Ausführung mittels maschineller Werkzeuge zu steigern. Durch die Realisierung von möglichst vielen Materialprototypen offenbart sich ein Spektrum an gestaltbaren Möglichkeiten, wie sich das ausgewählte Material, in einem weiteren Kontext, noch verwenden lässt. Mit der Vorlage eines physischen Materialprototyps als Funktionsmodell, Konstruktion oder als formalästhetische Materialstudie wird das menschliche Sinnessystem3 besser angesprochen. Die Objekte fungieren als ‚Kommunikator-Dinge‘, als Gegenstände, die als Brücke dienen, um in die konstruktive, vor allem in eine disziplinübergreifende Expertendiskussion einzusteigen. Anhand der Exponate gelingt es auch, über abstrakte Material-Form-Konstruktionsstudien zu diskutieren, jenseits von einer konkreten Anwendung oder eines Gebrauchs. Denn ein wesentlicher Teil des materialorientierten Gestaltungsprozesses bestimmt das Herauslesen der sich situativ einstellenden Materialreaktionen4 und deren Interpretation sowie Einbindung in andere Gebrauchsszenarien. Die Materialprototypen verfügen im besten Fall über einen höheren Interpretationsspielraum und Informationsgehalt, als es ein zweidimensionales Modell, also eine gezeichnete Skizze, leisten kann,

2

Holzbach, M.: Material Denken. S. 78.

3

Gemeint sind die Erkenntnisse aus der Haptikforschung, wie am Beispiel des Auto-

4

Materialreaktionen können sein: Strukturänderungen durch Faltenbildung, Änderun-

mobilinterieurs in Kapitel 3.4.1 beschrieben. gen der Transparenz, Temperatur, Gewicht, Festigkeit, Akustik oder Oberflächenbeschaffenheit etc.

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auch wenn diese mit computerbasierenden Simulations- und Darstellungsprogrammen erzeugt wird. Diese Erkenntnis hat sich durch die mehrjährige Beobachtung und Reflexion des materialorientierten Gestaltungsprozesses erhärtet. Die Verwendung von Materialprototypen als Kommunikationsmedium führt zu einer Verbesserung im interdisziplinären Austausch von Idee und Realisierung zwischen den Protagonisten, die in einen Produktentwicklungsprozess involviert sind. Das zeigen die mannigfaltigen Materialstudien, die Studierende am IMD entwickeln und in Projektbesprechungen als ‚Kommunikationsbrücken‘ einsetzen, wie bei studentischen Entwurfsarbeiten zu Fahrzeuginterieuren. Den Projektpartnern aus der Automobilindustrie und der Materialentwicklung war es wichtig, dass die Studierenden experimentelle Materialstudien erarbeiten und keine fahrzeugspezifischen Interieurentwürfe, um einen ungetrübteren Blick für die Materialwahrnehmung zuzulassen. Diskutiert wurde an und mit den abstrakten Materialprototypen, die freiere Assoziationen bei den Beteiligten anregen. Hinsichtlich des materialorientierten Gestaltens äußert sich Tayo Osobu, Design Managerin für Color & Trim Design bei Hyundai Motor Europe, folgendermaßen: „Das Interessante an der studentischen Arbeit ist […], dass nicht ergebnisorientiert […], sondern problemorientiert und eher spielerisch gearbeitet wird. Das heißt, dass der Ausgang des Projektes häufig ungewiss ist – so werden oft unerwartete und überraschende Ergebnisse präsentiert, auf die wir selbst mit unserem Ballast an Hintergrundwissen gar nicht kommen würden.“ 5

Die Designtheoretikerin Melanie Kurz6 argumentiert darüber hinaus, dass physische Modelle (analog und digital) nützliche Kommunikationswerkzeuge für den Designprozess sind, um „andere oder erweiterte Dimensionen im Entwurf [zu erschließen]. Denn die Darstellung (das Modell) ist das Medium des Entwurfs, die Beschäftigung damit, das Herz der Designwissenschaft“, und wenn der Vergleich mit dem ‚Herz‘ zu hoch erscheint, so eröffnet die Auseinandersetzung mit

5

Holzbach, Markus: Fragen an Tayo Osobu, Hyundai. In: Material Grove. Von traditionellen Materialien zu zukunftsorientierten Materialentwicklungen. Hrsg. v. Präsident der Hochschule für Gestaltung. Offenbach am Main: 2014. S. 18.

6

Kurz, Melanie: Die Modellmethodik im Formfindungsprozess am Beispiel des Automobildesigns. Eine Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Entwurfs- und Darstellungsmethoden im Hinblick auf die systematische Entwicklung und die Bewertbarkeit der dreidimensionalen Form artefaktischer Gegenstände im Entwurfsprozess. Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag 2008. S. 80f.

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Materialprototypen dennoch eine vielversprechende Nische für eine materialorientierte Designforschung. Der Anspruch, den die Beschreibung des materialorientierten Gestaltungsprozesses am Beispiel der folgenden Textiluntersuchungen erhebt, besteht zuerst darin, möglichst viele Gestaltungsinformationen, die mit der Verformung des Flächenmaterials in Zusammenhang stehen, aus dem Ausgangsmaterial zu lesen, auszuwerten und gestaltungsrelevant anzuwenden. Deswegen sind alle materialbedingten Phänomene, die sich während der Materialuntersuchung zeigen, erst einmal von Bedeutung. Für die Auswertung der Informationen als gestaltungsrelevante Parameter werden alle Zwischenschritte auf verschiedenen Ebenen sowohl in Wort und Bild dokumentiert als auch mit Materialprototypen materialisiert und letztlich so dem menschlichen Sinnessystem zugänglich gemacht.

4.2 ELASTISCHE TEXTILFLÄCHEN Elastische Textilien verfügen über ein Selbstformungsverhalten, weshalb man sie aufspannen kann. Das unterscheidet diese Textilgruppe von anderen faserbasierenden Flächengebilden. Dazu sei angemerkt, dass es zwei unterschiedliche Arten der Dehnbarkeit bei Textilien gibt: eine materialinhärente und eine konstruierte. Erstere Textilvarianten besitzen beispielsweise einen Faseranteil aus dauerelastischen Chemiefasern, wie Elasthan7.

7

Elasthan (engl. Spandex), ein Multfilamentgarn aus Polyurethan und Polyethylenglykol, wurde Ende der 1950er Jahre vom US-Chemiekonzern DuPont entwickelt und wird hauptsächlich zur Herstellung elastischer Kleidungsstücke verwendet, hier insbesondere für Sportbekleidung, Unterwäsche, Strumpfhosen, Badebekleidung, aber auch für medizinische Zwecke. Auf dem Markt wird die Faser unter anderem mit dem Namen LYCRA von INVISTA produziert und vermarktet. Kurzzusammenfassung bei: http://www.stoff4you.de/stoff-lexikon/elasthan/ (Abrufdatum: 01.08.2014) / weitere Informationen unter: http://www.chemie.de/lexikon/DuPont.html (Abrufdatum: 01.08.2014). Textilien mit Elasthan haben eine 500-700%-ige materialimmanente Dehnfähigkeit. Weitverbreitete Anwendungen sogenannter LYCRA®-Stoffe, die besonders anpassungsfähig sind, finden sich demzufolge in der Bekleidungsindustrie, wie bei Bademoden und Sportbekleidung. Aber auch im architektonischen Entwurfsprozess, dann eher als zweckentfremdete Anwendung anzusehen, sind elastische Textilien gern eingesetzte Hilfsmittel. Im Modellmaßstab verwendet, werden elastische Textilien für die Gestaltung textiler Architektur genutzt, um vorgespannte Zeltflächen oder Minimalflächen zu simulieren.

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Die zweite textilbasierte Dehnbarkeitsvariante beruht auf der Konstruktionsweise des Textilgebildes. Strickwaren sind Textilien, die eine konstruierte Elastizität aufweisen. Hier ist es das spezifische Maschengebilde, bestehend aus Fadenschlaufen mit beweglichen Bindungsstellen, die die Textilfläche elastisch werden lassen. (Abbildung 23).8 Abbildung 23: Maschendarstellung als Fadenschleife, Fläche und typische Verformung bei Krafteinwirkungen in x- und y-Richtung. Das Flächengebilde besteht aus geschlungenen und in Schlaufen gelegten Fäden. Eine dieser Schlaufen besteht wiederum aus drei Konstruktionsabschnitten, dem sog. Maschenfuß (links / rechts), dem Maschenschenkel (links / rechts) und dem Maschenkopf.

Das heißt, dass sich die minimale Beweglichkeit der einzelnen Schlaufen, wenn diese durch Ziehen gestreckt werden, addiert und dem Flächengebilde ein reversibles Verformungspotential verleiht. Das Garn selbst ist unelastisch und kann daher auch aus typischen Armierungsfasern bestehen, wie Glas-, Kohlstoff- oder Kunststofffasern. Wie gewebte Textilkonstruktionen (linear kreuzende Fadenscharen) offeriert auch die Schlaufenkonstruktion eine elastische Anpassungsfähigkeit, die für die Materialversuche relevant sein soll. Zusätzlich verfügen Maschenwaren über das Potential einer textilen Armierung in einem Faserverbundwerkstoff. Aus Sicht der Herstellung unterscheidet man bei den gestrickten Halbzeugen zwischen Flach- und Rundstrickwaren, auch Schlauchwaren genannt. Es handelt sich um textile Hohlprofile, deren Mantelfläche keine Nahtstelle aufweist, sondern aus einer kontinuierlichen Maschenkonstruktion aufgebaut ist. In Bezug auf 8

Alle folgenden Informationen zur Herstellung von Maschenwaren und Abstandsgewirken sind folgendem Leitfaden entnommen: Grundlagen der Kettenwirkerei. Ein Leitfaden für die Praxis. Hrsg. v. Fabia Denninger und der Karl Mayer Academy. Obertshausen: Karl Mayer Textilmaschinenfabrik GmbH 2008. S. 12ff.

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die Untersuchung eines materialbedingten Verformungsverhaltens von Textilien haben sich die Rundstrickwaren als Ausgangsmaterial mit einer interessanten Grundgeometrie, einem Zylinder, erwiesen. Die gestrickte Zylinderfläche besitzt an jedem Punkt dasselbe elastische Verformungspotential, weshalb sich dieses Halbzeug besonders gut an Formen, die es zu umkleiden gilt, anpasst. Zu den typischen Anwendungen rundgestrickter Maschenstoffe gehören daher Produkte der Bekleidungsindustrie, wie Strumpfwaren, Pullover und Funktionskleidung. Wie das besonders ‚anschmiegsame‘ Materialverhalten noch genutzt werden kann, zeigt sich bei medizinischen Verbandsmaterialien, dem sog. Trikotschlauch9, oder bei Textilschläuchen10 für technische Anwendungen von faserverstärkten Leichtbaukonstruktionen, die aus nahtfreien Textil-Profilen bestehen. Die weitgefassten Anwendungsbeispiele lassen vermuten, dass sich elastische Zylinderflächen gut für eine weiterführende Material-Form-Untersuchung eignen.

4.3 SPEZIFISCHES FORMVERHALTEN VON MASCHENWAREN Mit textilen Maschenwaren lassen sich relativ einfach zwei- und dreidimensionale Freiformstudien durchführen. Gründe hierfür sind deren einfache Drapierbarkeit, das leicht zu handhabende Segmentieren, die verschiedenen Fügetechniken, wie Nähen, Kleben und Schweißen, das geringe Gewicht und die enorme Variantenvielfalt durch die unterschiedlichsten organischen und anorganischen Ausgangsmaterialien. Bereits durch einfache Manipulationen einer Textilfläche, wie Aufspannen, Raffen, Falten oder Knittern, entstehen räumliche Flächengebilde. An den textilen Formstudien kann man Ursache und Wirkung in Echtzeit ablesen und phänomenologisch interpretieren. Besonders attraktiv ist das Reaktionsvermögen von Textilien. Aufgrund der Elastizität ist der Formungsprozess reversibel und anpassungsfähig, je nachdem,

9

Ein Schlauchverband ist ein medizinisches Verbandmaterial mit flexiblen Eigenschaften, das zur Fixierung von Wundauflagen verwendet wird und das die Haut bei Gipsund Kompressionsverbänden schützt. Für den Versuch diente ein zylindrisches Schlauchverbandsegment mit einem Durchmesser von 10cm. Siehe dazu: http://www. lohmann-rauscher.de/de/produkte/gipsraum/hautschutz/trikotschlauch-binde.html (Abrufdatum: 03.11.2012).

10 Textilschläuche lassen sind auch mittels Flechttechnik erzeugen, um beispielweise Kabel zu verstärken.

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welche Verformungsinformationen die Maschenware durch den Gestalter erhält. So reagiert eine Maschenware mit einem typischen antiklastischen, also gegensinnig gekrümmten Verformungsbild auf einwirkende Zugkräfte. Maschenstoffe sind in der Lage, unter geringem Formungsaufwand Flächen zweiter Ordnung, sog. hyperbolische Paraboloide, wie Sattelflächen, zu erzeugen. Diese typischen Flächen, zumal sie aus hartem Material bestehen, werden auch als Schalen bezeichnet und gehören zu den Flächentragwerken.11 Schalenformen wie diese verfügen über ein dreidimensionales Tragverhalten bei möglichst geringer Wandstärke und damit geringem Materialaufwand. Es erfolgt also eine Modifikation der textilen Materialeigenschaften von weich-elastisch zu hart-tragfähig. Hierzu bedarf es einer zweiten Materialkomponente, die als Flüssigkomponente vorliegt und die sich durch additives Benetzen mit der verformten Textilfläche verbindet, diese erstarren lässt und somit ein nicht tragfähiges Textilgebilde in eine feste und belastbare Schale transformiert. Für die Versuche wurde ein schnell härtender und niedrig viskoser Zweikomponenten-Kunstharz verwendet, um eine hauchdünne Textilschale herzustellen. Demnach ist in einem flächigen wie zylindrischen Maschenstoff, welcher über elastische Materialeigenschaften verfügt, bereits die Gestaltungsinformation zur Generierung einer gegensinnig gekrümmten Schale angelegt. Unter Einbeziehung der Anpassungsfähigkeit und der Bearbeitungsmöglichkeiten textiler Maschenwaren ist es naheliegend, sich nicht nur auf die Generierung einer einzigen Schalenform zu beschränken. Vielmehr verleitet die Anpassungsfähigkeit elastischer Textilien zum Nachdenken über eine Materialisierungsstrategie, die es bei gleichbleibenden Produktionsschritten ermöglicht, eine Vielzahl von individualisierten, dünnwandigen und leichten Bauteilen entweder als Vielzahl kleinteiliger Schalenelemente für eine Hüllstruktur oder als großformatige Einzelschalen zu realisieren.

4.4 VERBUNDWERKSTOFF UND VERFORMUNG Im 21. Jh. kreist die Materialbetrachtung weiter um das Thema der Kombinierbarkeit von Materialeigenschaften, also um den Einsatz von Multilayer-Materi-

11 Glaeser, Georg: Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik. München: Elsevier 2005. S. 170. Sattelflächen: Wenn man ein elastisches Flächenmaterial zwischen mindestens vier Punkten aufspannt, die Spannpunkte unterschiedlich voneinander im Raum organisieren, dann wird die Fläche zwangsläufig eine antiklastisch gekrümmte Form annehmen.

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alien oder Kompositmaterialien anstelle von Mono-Material.12 So hat die Werkstoffgruppe der Verbundwerkstoffe, die meist gegenläufige Eigenschaften, wie z. B. weich und fest, durch Faser und Matrix miteinander kombinieren, ihren Teil zu der Weiterentwicklung der Dinge des Produktdesigns (faserverstärkter Kunststoff) und in der Architektur (faserverstärkter Beton) beigetragen. Die hier durchgeführte Textiluntersuchung greift das Thema Verbundwerkstoffe auf und verbindet die gegensätzliche Materialeigenschaftspaarung weich (Maschenwaren) und fest (Keramik) neu. Erst interessiert der weiche und damit gestaltbare Materialzustand, um doppeltgekrümmte Flächen herzuleiten, die dann in einem zweiten Schritt erhärten. Für das Textil sind demnach zwei Funktionen relevant: erstens fungiert die Maschenware als Informationsträger für eine potentielle Schalenform und zweitens als Armierung im Schalenbauteil. Durch letzteres soll die Bauteilperformance verbessert werden – dünner, leichter, widerstandsfähiger, großformatiger etc. Zusätzlich zur Auslegung der gestaltbaren Materialzustände und der Ausgangsmaterialien für den Faserverbundwerkstoff berücksichtigt die Materialuntersuchung auch die Werkzeuge und Verformungsstrategien, mit denen sich das Textil verformen lässt. Betrachtet man die potentiellen Verarbeitungsmöglichkeiten textiler Flächen bereits vor dem Gestaltungsakt, dann führt das zu der Frage: Wie viel Formvorgabe muss der Gestalter und daraus folgend das Werkzeug einer Textilkonstruktion vorgeben, um der elastischen Fläche die gewünschte Gestalt einzuprägen? Die leichte Drapierbarkeit textiler Flächen sollte eine Reduzierung des Werkzeugaufwands ermöglichen. Denn betrachtet man hierzu Verformungstechniken von Metall-, Kunststoff- oder Holzflächen, so sind die Werkzeugformen erstens immer voll definiert und basieren zweitens auf dem Press- oder Tiefziehverfahren (beides mit einer Negativ- oder Positivform). Dagegen sind Textilien wesentlich einfacher zu formen, so zeigt das Beispiel der Engelstrompete, dass eine komplexe Textilfaltung auch aufgrund der Ausnutzung der materialinhärenten Steifigkeit und Elastizität des dort verwendeten Metallgewebes entstehen kann.13 Darüber hinaus könnten die Faltungen gar nicht durch eine volldefinierte Formvorgabe entstehen, zumal es ein solches Werkzeug nicht gibt, vielmehr entstehen die Verwerfungen durch das Zulassen von Freiheitsgraden, auf die das Material selbstformend reagiert. Außerdem haben die Bauteilgröße und die Varianz der Einzelteile eine Auswirkung auf die Wahl der Produktionsmittel. Die Erzeugung von großformatigen und individualisierten 12 Vgl. Kraft, S.: Werkstoffe. S. 27. 13 Kapitel 3.5.2 beschreibt die Selbstformung bei einem Metallgewebe. Das ist aufgrund der metalleigenen Biegefähigkeit in der Lage, Falten mit federnder Wirkung auszubilden.

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Objekten, so die Annahme, gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn der Formenbau sich einfach, kostengünstig, flexibel und reproduzierbar gestaltet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das zu formende Flächenmaterial als integraler Bestandteil des Formwerkzeuges gedacht wird. Das bedeutet, dass man die materialbedingte Anpassungsfähigkeit elastischer Maschenwaren aktiv in den Formungsprozess einbindet. Denn hier reicht es aus, wenn die elastische Fläche einen punktuell oder durch Leitlinien vorgegebenen Formimpuls erhält. Die Flächendeformation vollzieht das Material von selbst, indem es zwischen den punktuellen Vorgaben vermittelt. Mit dieser Methode lassen sich freigeformte und räumliche Gebilde erzeugen, die sich durch Ziehen und Drücken einzelner Flächenbereiche definieren. Dazu bedarf es lediglich minimaler Formvorgaben, die wiederum eine vereinfachende Auswirkung auf das Formwerkzeug haben, das als Gestell vollkommen ausreichend ist, um die Textilfläche anzuregen, eine bestimmte antiklastische Form anzunehmen. Dieses Gestell muss den geformten Flächenzustand des Textilschlauchs nur so lange erhalten, bis deren Aushärtung erfolgt ist. Bei dieser Art und Weise, ein Textil zu betrachten, kann festgehalten werden, dass bereits ein Teil des Werkzeuges, nämlich die Formdefinition, in der Maschenware eingebettet ist und gestalterisch genutzt werden kann.

4.5 FORMSTUDIEN MIT ELASTISCHEM TEXTILSCHLAUCH Nach den vorangegangenen Überlegungen zu elastischen Textileigenschaften, möglichen Strategien für die Verformung und die Erzeugung bestimmter Flächenartikulationen schließt hier eine praktische Materialbefragung textiler Rundstrickwaren an. Dazu wird der Untersuchungsgegenstand in seinem Gebrauchskontext als medizinisches Verbandsmaterial betrachtet und danach als ‚variables Schalenbauteil‘ uminterpretiert. Für die Untersuchung wird der bereits erwähnte Trikotschlauch14 verwendet. Die herstellungsbedingte Maschenkonstruktion verleiht dem Halbzeug zugfähige Eigenschaften, sodass man dadurch beispielsweise einen Wundverband klebefrei am Körper fixieren kann. Der Textilschlauch ist insofern besonders, weil er sich automatisch an die zu schützenden Körperbereiche, wie Arm, Bein, Rumpf und

14 Typische Anwendungen für einen Trikotschlauch ist der Einsatz als hautfreundliche Schutzunterlage unter Gips sowie als Kompressionsverband und als Fixierung für Wundauflagen und Polstermaterial.

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Kopf anpasst. Die feinmaschige Textilfläche umschließt dabei immer formschlüssig und mit gleichem Anpressdruck die jeweiligen Körperpartien, auch wenn diese uneben sind oder sich wie an einem Gelenk bewegen müssen. Wenn ein Halbzeug, wie der Trikotschlauch, über eine derartige Anpassungsfähigkeit verfügt, nämlich vorgegebene Formen zu umschließen, dann sind damit beste Voraussetzungen für eine abstrahierte Interpretation des Material-FormVerhältnisses gegeben. Das bedeutet, dass sich das textile Halbzeug auch für die Erzeugung antiklastisch deformierter Zylinder eignet und zwar dahingehend, dass der formgenerierende Stimulus lediglich über die Definition der Außenkanten eines beliebig großen Textilschlauchsegments erfolgt. Anstelle einer volldefinierten Ausgangsform werden dem Textil Freiheitsgrade für die Eigenverformung gegeben, indem man als Gestalter bestimmte Teilbereiche definiert und die Form sich selbst finden lässt. Hier verdeutlicht ein einfacher Selbstversuch, wie eine schlauchförmige Maschenware selbstständig antiklastische Formen annimmt, sobald minimale Formungsbedingungen durch definierte Fixpunkte oder Kanten vorliegen. Dazu streift man einen Schlauchverband über beide Hände. Danach spreizt man die Finger auf, sodass sich die Handflächen einander zuwenden und spannt den Stoff zwischen den Fingerkuppen auf. Da der Handflächenumriss nun größer ist als der produktionsbedingte Textilschlauchumriss, wird der Maschenstoff lokal gedehnt. Jede Masche erfährt eine Deformationskraft und die gesamte Textilkonstruktion reagiert auf die Streckungen mit entgegengesetzten Zugkräften. Infolgedessen stellt sich die Textilfläche selbstständig auf die lokale Umrissvergrößerung ein, auch dann, wenn sich der Umriss erneut verändert. Die so vorgespannte Textilfläche vermittelt also zwischen den Deformationspunkten mit einem antiklastischen Flächenverlauf, der einem deformierten einschaligen Hyperboloiden ähnelt, nur mit der Ausnahme, dass die Randkurven nicht kreisrund sind, sondern der Fingeranzahl entsprechend durch zehn Punkte definiert werden (Abbildung 24). Die so erzeugte Textilverformung ist als Materialstudie deswegen interessant, da Hyperboloide wie die sogenannte Sattelfläche zu den Schalen zählen und damit zu den Flächentragwerken (Abbildungen 25 und 26). Diese geometrische Figur hat sich besonders für die Realisierung großformatiger Leichtbaukonstruktionen (Schalentragwerke) als geeignet erwiesen, denn die Schalenform erlaubt, Baumaterialien einzusparen. Wohl am bekanntesten sind Kühltürme von Kraftwerken in Form eines überdimensionierten Hyperboloids aus Stahlbeton. Sattelflächen werden im Bauingenieurwesen und in der Architektur als HP-Schalen bezeichnet und finden seit ihrer baulichen Umsetzbarkeit mannigfaltige Anwendungen als weitgespante und stützenfreie Dachkon-

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struktionen. Im Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit einer Rundstrickware und auf die Möglichkeit der Textilaushärtung erscheint es sinnvoll, den Maßstab zu verkleinern und einen Hyperboloiden als variablen ‚Schalenbaustein‘ zu formulieren, um darüber hinaus die Grundlage für eine komplexere Schalenkonstruktion zu generieren. Abbildung 24: Antiklastische Verformung bei einem frei aufgespannten Textilschlauch

Abbildung 25 (links): Hyperboloid aus zwei Kreisen und einer Geraden Abbildung 26 (rechts): Hyperbolisches Paraboloid (HP-Schale)

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Es sei angemerkt, dass die Umformung des Textils in eine konstruktive Schalenform weder einer Prägeform bedarf, die von außen durch ein Formwerkzeug auf den Werkstoff einwirkt, noch einer Form, in welche ein Füllstoff „gestopft“ wird.15 In dieser Material-Form-Betrachtung wird das Entwurfsvorhaben weniger durch eine ‚Gestaltgebung‘ mit Absolutheitsanspruch auf Seiten des Gestalters geprägt. Vielmehr organisiert der Gestalter strategische Rahmenbedingungen, in welchen sich beispielsweise die hier aufgeführte Textilkonstruktion selbst organisiert. Aus der Sicht des materialorientierten Gestaltungsansatzes heißt das, dem textilen Material einen Freiraum zur Selbstverformung zuzugestehen, aber dennoch kontrollierend einzugreifen. Deswegen eignen sich die Hände, wie im Vorversuch gezeigt, nicht als exakte Stützkonstruktion für die Textilverspannung, zumal die Maschenware im zweiten Schritt als Schale ausgehärtet werden soll. Dafür ist eine abstraktere Lösung in Form einer einfachen Rahmenkonstruktion mit definierbaren Randbedingungen wesentlich geeigneter (Abbildung 27). Abbildung 27: Darstellung einer Rahmenkonstruktion aus Plattenmaterial mit Abstandshalter für Textilschlauchbespannung und Schale

Die Randbedingungen bestehen aus zwei Platten und einem Distanzstück. Als Rahmenkonstruktion zusammengesetzt werden lediglich die Kanten des leicht aufzuspannenden Textilschlauchs definiert, weshalb ein Aufbau aus leichtem Plattenmaterial ausreichend erscheint. Des Weiteren sind die zwei gegenüberliegenden Platten dazu bestimmt, die Dimensionen und die Position der Schnittkonturen des vorgespannten Textilschlauchsegments vorzugeben (Abbildung 28). Das ist wichtig, wenn man schließlich mehrere textilarmierte Schalen aneinanderfügen will. Über das Distanzstück können der Plattenabstand und -winkel de15 Flusser, Vilém: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design. Göttingen: Steidl 1993. S. 190. Dazu äußert sich Flusser wie folgt: „Die materielle Welt ist das, was in Form gestopft wird, sie ist das Füllsel für Formen.“

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finiert werden sowie die gewünschte Höhe für das Textilelement (Abbildung 29). Alles in allem basiert die Rahmenkonstruktion auf einem einfachen Stecksystem, dessen Einzelteile selbst mit einem Cutter und Lineal aus formstabilen Schaumstoffplatten herausgeschnitten werden können. Abbildung 28: Variablen der Deckplatten

Abbildung 29: Variablen für die Textilschlauchhalterung

Die Versuche haben gezeigt, dass sich ein Textilschlauch auch über eine Rahmenkonstruktion mit polygonal zugeschnittenen Platten spannen lässt (Abbildung 30). Beim Überspannen der polygonalen Rahmenkonstruktion entsteht eine geometrische Figur, die immer eine harmonische Freiformfläche von eckig zu rund und zurück zu eckig annimmt. Hier handelt es sich bei dieser geometrischen Figur um ein Flächengebilde, das teilweise einem Hyperboloiden gleicht und gleichzeitig polygonale Ränder aufweist (Abbildung 31). Bestehen die beiden Ausgangsflächen der Rahmenkonstruktion aus vier und mehr Kanten, dann müssen die Polygone konvex sein, andernfalls würde sich das Textil nicht konturfolgend an die Flächenkanten anschmiegen. Wenn man das spezifische Flächengebilde nun als Grundlage für die Generierung einer ‚Schalenfamilie‘ betrachtet, dann lässt sich auch eine Vielzahl der unterschiedlich ausgeformten Flächengebilde über die polygonalen Ränder exakt organisieren und miteinander zusammenfügen. Die Fügelogik, von Materialprototypen abgeleitet, ist eine direkte Konsequenz aus dem verwendeten Plattenmaterial für die Textilhalterung, die über Deckplatten mit einer definierten Materialstärke

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verfügt und die von dem vorgespannten Textilschlauch exakt abgeformt wird. Damit prägt sich automatisch in alle Schalenbauteile ein passgenauer Rand ein, der ein Zusammenfügen wie bei einer Backsteinmauer ermöglicht, nur dass diese jetzt aus dünnwandigen deformierten Röhrensegmenten besteht (Abbildung 32). Abbildung 30 (links): Halterung aus Plattenmaterial mit polygonalen Deckplatten Abbildung 31(rechts): Textilbespannung mit antiklastisch gekrümmtem Flächenverlauf als Grundlage eines Schalenelements

Unter diesen Umständen verändert sich das Ur-Bild von einer massiven Wand, die man jetzt mit einer kontrollierbaren Porosität versehen kann. Das Motiv der individualisierten Backsteinmauer lässt sich weiter entfalten. Im Gegensatz zu einer Wandfläche aus genormten Massivbausteinen ermöglicht eine Vielzahl individualisierter Bauteile eine alternative Ausdrucksform von einer planen Fläche hin zu einer mehrfach gekrümmten. Genauso verhält es sich mit der Bauteilgröße, die von handlich kompakt bis ‚fassadengroß‘ ausfallen kann (Abbildung 33). Es ist ersichtlich, dass durch die einzelne Schale, im Kontext ihrer materialbedingten Herleitung, Interpretationen freigesetzt werden, die konkrete Gestaltungshandlungen anregen. Besonders die Faktoren, wie die Vielzahl individualisierter Bauteile, anpassungsfähige Formen und Stützkonstruktionen aus leichtem Plattenmaterial, leiten dazu über, den Gestaltungsprozess mit den Möglichkeiten digitaler Werkzeuge zu flankieren.

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Abbildung 32: Textilbespannung für einen zellular aufgebauten Verband aus individualisierten Schalenbauteilen

Abbildung 33: Zellular aufgebaute Wand aus individualisierten Schalenbauteilen

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4.6 DIGITALISIERUNG UND SIMULATION ELASTISCHER TEXTILEIGENSCHAFTEN In Anbetracht der Möglichkeiten von computerbasierten Entwurfswerkzeugen und Fertigungsmaschinen, wie Laserschneider oder Fräser, werden die textilen Materialstudien auch dahingehend hinterfragt, weil CNC-gesteuerte Produktionstechniken gegenwärtig zu den industriellen Fertigungsverfahren hinzugezählt werden können, die es ermöglichen, auch individualisierte Komponenten statt serieller Gleichteile herzustellen. Die kommunikative Verbindung zwischen der Produktionsmaschine und dem zu formenden Material bilden Konstruktionsprogramme. Mit deren Hilfe erhalten die materialbasierten Formstudien ein besonderes Maß an Präzision, die sich auf die Herstellung einer einfachen, aber variablen Stützkonstruktion für die Textilbespannung auswirkt. Dazu werden die manuell ermittelten abstrakten Material- und Formparameter mit der dazugehörigen Verformungsstrategie in den digitalen Gestaltungsprozess eingebettet. Zudem erlaubt das digitale Modell die Simulation von Varianten als Ergänzung zum physischen Modellbau. Die digitale Konstruktion und Simulation der Textilstruktur erfolgt mit der Software für Freiformmodellierung Rhinoceros® (Rhino). Das rechnergestützte Entwurfswerkzeug verfügt über ausreichend exakte Konstruktionsbedingungen, diverse Anbindungen an CNC-gesteuerte Fertigungsverfahren und über eine offene Entwickleroberfläche, wodurch eine Vielzahl an Plug-ins für spezielle Anwendungen existieren. Eines der Plug-ins ist T-Splines®16, mit dem das elastische Textilverhalten simuliert werden kann, wenn man die Flächenoptimierungssoftware entsprechend uminterpretiert und die speziellen Kontrollmöglichkeiten beim digitalen Aufbau komplex gekrümmter Flächen nutzt. Im Allgemeinen werden digital konstruierte Freiformflächen, sogenannte Non-Uniform Rational B-Spline (NURBS-Flächen),17 durch ein Raster von

16 Über die Anwendung von T-Splines® zur Modellierung von Freiformflächen informieren die beiden Softwareentwickler Matthew T. Sederberg und Thomas W. Sederberg in dem Artikel “T-Splines: A Technology for Marine Design with Minimal Control Points”. (Online abrufbar unter http://www.tsplines.com/m/T-Splines Chesapeakepaper.pdf, Abrufdatum: 03.04.2014). 17 NURBS-Geometrien, also Nicht-uniforme rationale B-Splines werden für der Darstellung von 3D-Geometrie verwendet. (Online abrufbar unter http://docs.mcneel. com/rhino/5/help/de-de/information/nurbs_about.htm, Abrufdatum: 05.03.2014). / Weitere Kurzinformationen über NURBS bei Rinoceros® findet man online unter http://www.rhino3d.com/nurbs (Abrufdatum: 05.03.2014).

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Kontrollpunkten definiert. Um komplexe Geometrie darzustellen, sind entsprechend viele Kontrollpunkte nötig, was das Modellieren, also das Verformen und Verbinden von Flächengebilden, erschwert. An diesem Punkt setzt die Optimierungssoftware T-Splines® an. Nach Thomas W. Sederberg reduziert die Software die Kontrollpunkte für die Flächendarstellung mit der Folge, dass komplexe Flächen schlussendlich auf einem reduzierteren Punkteraster basieren und sich besser kontrollieren lassen.18 Im Gegensatz zu NURBS-Flächen generiert das Plug-in mehrfach gekrümmte Flächen oder Flächenverbände, bei denen alle Krümmungsänderungen immer eine ‚geometrische Stetigkeit‘19 aufweisen. Das heißt, in den zusammengesetzten Freiformflächen bilden sich keine Kanten aus. Die virtuellen Flächengebilde ähneln einem aufgespannten elastischen Textil. An diesem Punkt scheint sich die materialgebundene Verformungseigenschaft textiler Strickwaren mit der computergegebenen Verformungsmöglichkeit zu überschneiden. Für die Modellierung der virtuellen Textilflächen bietet die Kombination aus der Konstruktionssoftware und dem Plug-in einerseits die Erzeugung krümmungsstetiger Freiformen und andererseits die Integrierung der Parameter für die Stützkonstruktion, die für die Textilaufspannung benötigt wird und die im Falle der Materialprototypen aus zwei polygonalen Deckplatten und einem Abstandshalter besteht. T-Spline-Flächen werden optimaler Weise auch auf der Grundlage von Polygonen erstellt. Für die Praxis heißt das, man konstruiert in Rhino beispielsweise einen Würfel aus Linien und überträgt die Ausgangsinformation in T-Splines® (Abbildung 34). Bei der anschließenden Umrechnung des polygonalen Körpers in eine freigeformte T-Spline-Fläche entsteht aus dem Würfel eine Kugel. Werden die sechs einzelnen Würfelflächen jeweils in vier Flächen unterteilt, sodass sich am Ende 24 Einzelflächen ergeben, dann generiert das Plug-in einen Körper, der sich an die ursprüngliche Würfelform annähert. Je feiner die Polygone ausgelegt sind, desto kubischer wird das Ergebnis (Abbildung 35).

18 Sederberg, Thomas W.: Computer Aided Geometric Design. Brigham Young University 2014. S. 164-166. (online abrufbar unter http://tom.cs.byu.edu/~557/text/cagd.pdf, Abrufdatum: 31.03.2015). 19 Die Stetigkeit besagt, wie zwei Kurven oder Flächen aufeinandertreffen. In der Modellierungssoftware Rhinoceros werden 5 Stetigkeiten unterschieden: Position (GO), Tangentialität (G1), Krümmungsstetigkeiten (G2), (G3) und (G4). Je höher die Stetigkeit, desto homogener gehen zwei Linien oder Flächen ineinander über. http://docs. mcneel.com/rhino/5/help/de-de/commands/gcon.htm (Abrufdatum: 03.04.2014).

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Abbildung 34: T-Spline-Fläche basierend auf einem Würfel

Abbildung 35: Modifizierte T-Spline-Fläche

Es zeigt sich nunmehr, dass die Konstruktion von Hyperboloiden mit TSplines® über eine Annäherung erfolgt, die auf dem Aufbau des Liniennetzes basiert. Die Herangehensweise entspricht einem visuellen Annäherungsprozess. Um also das Verformungsverhalten eines elastischen Textilschlauchs mit TSplines® nachzubilden, wird das Polygonnetz angepasst, bis das digitale Flächenmodell mit dem analogen Textilmodell übereinstimmt (Abbildungen 36 und 37). Abbildung 36: Hyperboloid in T-Splines aus angepasstem Polygonnetz

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Abbildung 37: Generierung und Steuerung verschiedener Hyperboloide

Die Intention des Digitalisierungsprozesses liegt nunmehr in der Variabilität des Einzelelements durch die Veränderung der Parameter, die den Hyperboloiden erzeugen (Abbildungen 38 und 39). Die Modellierungssoftware ermöglicht es, die Material-Form-Parameter in Beziehung zueinander zu setzen. Nach der Abstimmung und Festlegung der digitalen Konstruktionsstrategie ist es möglich, Varianten eines komplexeren Verbunds aus Hyperboloiden in Echtzeit durchzuspielen, mit dem Wissen, dass die Einzelteile in textile Formen übertragbar sind. Abbildung 38: Homogenes Polygonnetz zur Generierung einer zusammengefügten Schalenkonstruktion

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Abbildung 39: Parametrisierte Polygonnetzvarianten zur Generierung einer Schalenkonstruktion aus individualisierten Schalen

Für Rhino bietet sich das ebenfalls frei zugängliche Software-Plug-in Grasshopper an. Das parametrische Modellierungsprogramm erlaubt unter anderem die Generierung regelbasierter Polygonnetze, die über diverse Manipulationsebenen verfügen und in Echtzeit über virtuelle Schieberegler verändert werden können. Ein solches Polygonnetz besteht aus Einzelkomponenten, die miteinander verknüpft sind. Auf die Gestaltung einer Schalenkonstruktion aus Hyperboloiden übertragen könnte eine Manipulationsregel, wie folgt, lauten: Ändert sich die Höhe einer Komponente, führt das automatisch zu einer Größenveränderung derselben. Wiederum hieße das für die Porosität der Gesamtstruktur, dass die niedrigeren Komponenten auch kleinere Öffnungen generieren als hohe Komponenten. Allgemein bedeutet dies: Ändert sich eine Schalenkomponente, dann manipuliert diese die angrenzenden Einzelschalen und damit die Gesamtstruktur in Bezug auf deren Dicke, Krümmung, Porosität und deren Bauteilanzahl. Am Ende jeder Formgenerierung, die nach der zuvor beschriebenen Angabe durchgeführt wird, entsteht nicht nur eine virtuelle Schalenkonstruktion aus individualisierten Hyperboloiden, sondern auch die Produktionsdaten für die Einzelteile der Stützkonstruktionen, die man zur Herstellung der textilarmierten Schalenbauteile benötigt. Die Produktionsdaten beruhen dabei lediglich auf den Polygonnetzen für die virtuelle Textilverformung und damit auf Vektordaten zur Ansteuerung von CNC-Fräsen oder Lasern. Mit den benannten Fertigungsmaschinen und dem entsprechenden Plattenmaterial werden aus den Computerdaten individualisierte Stützkonstruktionen, die alle unterschiedlich sind, aber auf derselben zusammensteckbaren Bauteillogik basieren.

Interpretation der Materialeigenschaften weich und fest | 123

4.7

ÜBERPRÜFUNG DER INTERPRETATORISCHEN GESTALTUNGSINFORMATIONEN ANHAND EINES MODELLS AUS INDIVIDUALISIERTEN TEXTILEN SCHALENBAUTEILEN

Das Wissen über die Kombinationsfähigkeit einer Vielzahl von individualisierten Schalenbauteilen aus textilarmierten Verbundwerkstoffen eröffnet ein Nachdenken über eine adaptive, heterogene und reaktive Leichtbaustruktur. Diese fußt auf der Grundlage der zylindrischen Grundform des verwendeten Textilschlauchs und erhält durch deren uminterpretierte Verwendung ein neuartiges Erscheinungsbild mit einem zellartigen Aussehen. Es ist naheliegend, einen Vergleich zu einer Konstruktion aus Gleichteilen durchzuführen, denn im Unterschied zu einem Baukörper aus monotonen Bauteilen bietet eine polymorphe Leichtbaustruktur vielfältige Kombinationsmöglichkeiten und anderweitige Ausprägungsformen. Ein komplexerer Materialprototyp aus individualisierten Schalenelementen soll diesen Zusammenhang klären.20 Das Demonstrationsobjekt ist als Ausschnitt einer leichten Hüllstruktur zu verstehen und soll zu Interpretationen einer räumlichen Umbauung anregen. Es ist das Ziel, die dargestellte Variabilität und Anpassungsfähigkeit der textilinspirierten Gestaltung mit der Variabilität computergestützter Maschinen zu überprüfen. Das Objekt dokumentiert den Gestaltungsprozess als dreidimensionale Material-Form-Skizze. Komplexer wird es dann, und dafür sind die Schalenelemente prädestiniert, die ebene Fläche zu überwinden. Unter diesem Gesichtspunkt bietet es sich an, nicht jede Einzelschale zu konstruieren, sondern diese mit Hilfe digitaler Konstruktionsprogramme in Bezug zu einer Globalform als Ausgangsfläche zu setzen. Für die Versuchsdurchführung sieht es so aus, dass man eine gewünschte Ausgangsfläche gestaltet und diese über den Weg der polygonalen Zerlegung, z. B. nach dem Prinzip eines Voronoi-Diagrammes, aufteilt. Mit dieser Methode lässt sich auch eine Freiformfläche in individualisierte Stützkonstruktionen aus Plattenmaterial übersetzen. Für die Realisierung einer prototypischen Leichtbaukonstruktion aus individualisierten Schalenelementen stellt sich das Zusammenspiel zwischen Konstruktionssoftware und den textilen Materialparametern wie folgt dar: Als Globalform, die als Grundlage zur Generierung der Stützkonstruktionen benötigt wird, dient ein c-förmig gekrümmtes Flächenpaar. Da die Stütz-

20 Der Materialprototyp besteht aus 76 individualisierten Schalenelementen, die wiederum auf unterschiedlichen rautenförmigen Textilhalterungen aus Plattenmaterial basieren.

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konstruktion, so wie sie beschrieben wurde, aus zwei Deckplatten und einem Distanzstück besteht, muss auch die digitale Globalform aus einer gedoppelten Ausgangsfläche bestehen. Aus Demonstrationsgründen vereinen die Ausgangsflächen ebene Flächenabschnitte mit konkaven und konvexen Krümmungen. Gleichzeitig ist die cförmige Globalform ein vertikaler Ausschnitt aus einem Raum mit Boden-, Wand- und Deckenanteilen. Doch im Gegensatz zur orthogonalen Raumeinteilung zeichnet sich die hier ausgewählte Fläche durch einen fließenden Übergang vom Boden über die Wand zur Decke aus. Das Flächenpaar ist so angelegt, dass sich die Abstände beider Flächen zueinander vergrößern bzw. verkleinern. Dementsprechend werden auch die einzelnen Stützkonstruktionen und die davon abhängigen Schalenelemente unterschiedliche Höhen aufweisen. Die spezielle Ausgangsfläche setzt also eine Vielzahl individueller, aber ähnlicher Schalenbausteine voraus, denn Gleichteile würden eine Umsetzung nicht erlauben. Die Zerlegung der c-förmigen Ausgangsfläche in polygonale Segmente erfolgt anhand eines rautenförmigen Grundrasters, dieses besteht auf Dreiecken und lässt sich immer aus Plattenmaterial herstellen. Des Weiteren gilt, je kleiner die Polygone, desto mehr entspricht die Triangulierung der Originalfläche. Bei zunehmend grober Auflösung verschwinden die Krümmungsdetails der Ausgangsfläche. Daraus ergibt sich eine mögliche Bedingung für die Parzellierung der beiden Ausgangsflächen: Wo die Grundform stark gekrümmt ist, sind die Rauten kleiner. Bei langen Flächenflanken sind die Rauten entsprechend langgezogen und größer. Das Einstellen der Parzellierung ist aber kein beliebiges Unterfangen, sondern berücksichtigt die produktionsbedingten Begrenzungen der Maschenware, indem das Halbzeug die maximale und minimale Größendefinition der Rauten vorwegnimmt. Gleichzeitig bestimmt die Triangulierung die Positionen der Distanzhalter, die sich an den Rautenmittelpunkten ausrichten und jeweils gegenüberliegende Flächenpaare verbinden. Die Software generiert aus den Daten nicht nur eine virtuelle Wabenstruktur, sondern auch nummerierte Schnittzeichnungen sowohl für die Deckplatten als auch für die Distanzhalter (Abbildung 40). Über den hier dargestellten computerbasierten Entwurfsprozess kann man schlussfolgernd sagen, sind die Rahmenbedingungen, wie die Bauteilgröße, die Teileanzahl oder die Triangulierungsstrategie der beiden Ausgangsflächen, erst einmal parametrisch digitalisiert, dann lässt sich das Konstrukt als ‚weiches‘ Gestaltungswerkzeug interpretieren. Denn ändert man beispielsweise das Grundraster für die polygonale Zerlegung der Globalform und verwendet anstelle des hier ausgeführten Rautenrasters eine Voronoi-Zerlegung, dann passen sich alle weiteren Gestaltungsschritte automatisch an. Gleiches gilt für die Änderung der Geo-

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metrie der beiden Ausgangsflächen, an die sich die Rasterung automatisch neu anpasst. Erzeugt man Öffnungen in der Globalform, dann organisieren sich die virtuellen Schalenbauteile entsprechend herum, um nur einige Gestaltungintentionen zu nennen. Der digitale Entwurfsprozess berücksichtigt das einfache Produktionsprinzip der zuvor beschriebenen Textilhalterungen, sodass die mannigfaltigen Varianten sich jederzeit mittels eines Lasers aus leichtem, aber formstabilem Plattenmaterial ausschneiden lassen (Abbildung 41). Mit den zusammengesetzten Textilhalterungen aus den jeweiligen Einzelteilen lässt sich vorab die Passgenauigkeit des Gesamtgebildes überprüfen (Abbildung 42). Schließlich bedarf es für die Realisierung des Demonstrationsobjekts nur noch der Aushärtung aller Textilverspannungen (Abbildung 43). Dazu wird das fragile Textilgebilde mit einer flüssigen, selbsthärtenden Matrix benetzt. Abbildung 40 (links): Parametrisches Modell einer c-förmigen Ausgangsfläche zur Erzeugung individualisierter Textilhalterungen Abbildung 41 (rechts): Lasergeschnittene Einzelteile der Textilhalterungen aus leichtem Plattenmaterial

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Abbildung 42 (links): Vormontage und Überprüfung der Passgenauigkeit von einzelnen Textilhalterungen Abbildung 43 (rechts): Textilbespannte Halterungen vor der Infiltrierung mit selbsthärtender Matrix

Im Versuch hat sich gezeigt, dass die Benetzung des Textils am besten mit einem dünnflüssigen, niedrigviskosen und zugleich schnellhärtenden Zweikomponenten-Epoxidharz funktioniert.21 Der hier verwendete Kunstharz hat eine wässrige Konsistenz und lässt sich sowohl mit einem Pinsel auftragen als auch maschinell aufsprühen. Beim Sprühen ist der Schichtauftrag so dünn, dass das Eigengewicht keine formverändernde Deformation auf das fragile Textilgebilde ausübt, ganz im Gegenteil, das Textil gibt dem Sprühdruck lokal nach und spannt sich anschließend wieder auf. Die Flüssigkeit wird durch die Maschenzwischenräume absorbiert. Nach dem Aushärten ist jede Faser und jede Masche an Ort und Stelle fixiert. Es entsteht ein starres Netz aus Faser-Matrix-Brücken. Wiederholt man den Vorgang beliebig oft, dann schließt sich die offene Textil-

21 Weitere Kunstharze sind Polyesterharze oder Harzsysteme auf Polyurethanbasis, wie das hochreaktive Polyurea, das in wenigen Sekunden aushärtet und sich dadurch für die Textilfixierung eignet.

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oberfläche zu einer opaken Haut und wird zur Schale. Nach der Aushärtung entfällt die Stützkonstruktion und die Einzelteile werden über ihre exakten Kanten miteinander zusammengefügt und verklebt oder anderweitig verfestigt. Darüber hinaus sind es die Fügekanten, die der finalen Hüllkonstruktion eine innere und äußere Oberflächenrippung verleihen. Im Verbund bilden die Einzelteile auf der inneren und äußeren Oberfläche der c-förmigen Ausgangsflächen eine starre Wabenstruktur, die durch die antiklastisch geformten Textilflächen auf dem definierten Abstand gehalten werden.

4.8 INTERPRETATION EINES MATERIALPROTOTYPS Ohne die Interpretation des Materialprototyps bleibt die Textiluntersuchung eine abstrakte Formspielerei. Deswegen ist es wichtig, das Demonstratorobjekt in verschiedenen Szenarien zu diskutieren (Abbildungen 44-46). Abbildung 44: Leichtbaukonstruktion auf Basis einer c-förmigen Ausgangsfläche und individualisierten Schalen

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Abbildung 45 (links): Heterogene Porosität aufgrund der unterschiedlich geformten Schalen Abbildung 46 (rechts): Schalen bilden im Verbund ein geschlossenes Kammersystem

Das Gegenprüfen erfolgt nicht am Ende des Gestaltungsaktes, sondern durchzieht die gesamte Gestaltungsphase. Weiterführende Ideen und Anwendungsszenarien, die sich während der Textiluntersuchung ergeben haben, entstanden bei der Betrachtung der Einzelschale (Betrachtung Innen- und Außenseite), wie auch bei der Auseinandersetzung mit einem individualisierten Schalenbaukastenprinzip (Gitterschale und Gebäudehülle) oder bei der Erarbeitung des Herstellungsprinzips (robotergestützte Fertigung). Betrachtet man die Einzelschale im Schalenverbund, so zeigt sich ein interessanter Zusammenhang zwischen den Außen- und Innenflächen der Schalenbauteile (Abbildung 47). Bei einer Einzelschale ist diejenige Seite als Außenseite zu verstehen, die im textilen Zustand mit der selbsthärtenden Flüssigkeit besprüht wird. Auf dieser Bauteilseite zeichnen sich durchs Besprühen immer Produktionsspuren ab. Dagegen ist die Innenseite durch die Deckplatten der Abstandhalterung geschützt. Konsequenter Weise bewahrt die Innenseite die glatte textile Oberflächenstruktur. Auf der Schaleninnenseite lässt sich eine perfekte Oberflächenqualität, ohne ein Werkzeug einsetzen zu müssen, durch das Textil vorab definieren. Das ist dann interessant, wenn man viele Einzelschalen zu einem Schalenverbund kombiniert. In einem Schalenverbund ändert sich nämlich das Verhältnis von Innen- zur Außenseite. Die Außenflächen von mehreren zusammenhängenden Schalenbauteilen werden so zur Innenfläche der Gesamtkonstruktion, die durch das Zusammenfügen ein räumliches Gebilde mit einem verzweigten Hohlraum generiert. Das heißt, bei drei Schalenbauteilen entsteht ein y-förmig verzweigter Hohlraum, bei vier Schalenbauteilen ein x-förmiger und so weiter, bis man ein zusammenhängendes Kammersystem erhält (Abbildung 48).

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Abbildung 47 (links): Kammersystem für weiterführende Bauteilaktivierung (z.B. Dämmstoffe) Abbildung 48 (rechts): Detail eines x-förmigen Kammersystems aus vier individualisierten Schalenbauteilen

Auf ein entsprechendes Anwendungsszenario im architektonischen Maßstab übertragen erinnert die Wabenkonstruktion an eine Gitterschale mit hohlem Zwischenraum. Nun kann man das zusammenhängende Kammersystem auf verschiedene Weise nutzen, indem man die vorhandene Luft durch ein anderes Medium ersetzt. Bei entsprechenden Dimensionen ist es strukturell betrachtet naheliegend, den Hohlraum mit einem fließfähigen Werkstoff zu befüllen, wie z. B. mit faserverstärktem Beton. Damit wird eine Anschlussfähigkeit zwischen der hier beschriebenen textilbasierten Schalenkonstruktion und Gregor Zimmermanns22 Studien zu Membran-Beton-Gitterschalen-Tragwerken (MBGT) initiiert. Zimmermann untersucht unter anderem ein weiches Schalungssystem, das auf zusammengeschweißten Doppelmembranen beruht und das ein definiertes Kammersystem für die Injektion mit faserverstärktem Beton darstellt. Doch im Unterschied zum Doppelmembran-Ansatz, so scheint es, wären die individualisierten Schalenbauteile aus den Textilschlauchsegmenten variabler bei der Gestaltung einer Globalform, denn die MBGTs sind im Wesentlichen auf den Bau von Kuppeln ausgelegt. Des Weiteren ist das Baukastensystem aus vorgehärteten individualisierten Textilschalen im Vergleich mit einer MBGT bereits selbsttragend und final ausgeformt, bedarf also keiner zusätzlichen Unterstützung durch ein Formwerkzeug. Durch das vorherige Aushärten der Textilschlauchsegmente bietet es sich an, eine entsprechend modifizierte Flüssigkeit zu verwenden, die beispielweise Fasereinlagerungen aufweist, um sich mit dem infiltrierten Beton

22 Zimmermann, Gregor: Membran-Beton-Gitterschalen-Tragwerke. Entwicklung und Vorbemessung. Norderstedt: Books on demand 2006.

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besser zu verbinden. Gleiches gilt für den Textilschlauch, dessen Oberflächen entsprechend rau ausgelegt werden können. Zudem ließe sich eine textilbasierte Hüllkonstruktion tragfähig genug aushärten, um aus eigener Festigkeit einem weiteren Schichtauftrag standzuhalten, ohne dass die Konstruktion unter dem Gewicht kollabiert. In dem Szenario wäre eine äußere Nachbehandlung mit Spritzbeton oder mit einer alternativen anorganischen Matrix denkbar, um die Hüllkonstruktion so zu verstärken, dass man von einem Befüllen des Kammersystems mit Beton absehen kann. Dafür wäre der Hohlraum frei für ein isolierendes Füllmaterial, wie lose Leichtfüllstoffe oder selbstschäumende Flüssigkeiten. Abbildung 49: Schalenvariante mit Einlegern aus Glasfläche anstelle der Textilhalterung

Bedenkt man die Herstellung der Einzelschalen, die auf einer Halterung aus Plattenmaterial beruht, dann lässt sich das Szenario einer architektonischen Fassade weiterspielen. In jeder Einzelschale befindet sich ein Abdruck der beiden herstellungsbedingten planen Deckplatten und diese lassen sich beispielsweise in Form von Glasplatten oder eines anderen Fassadenmaterials in das fertige Schalenbauteil erneut integrieren (Abbildung 49). Auf die Wabenstruktur übertragen bedeutet das, dass man die offenporige Wand je nach Funktionsbedarf mit unterschiedlichen Deckflächen partiell verschließen kann, um entweder eine blickdichte oder eine durchsichtige Wandsituation zu erzeugen. Hinzu kommt die Tatsache, dass zwei Glasscheiben, die auf Abstand gehalten werden und dabei ein ausreichend großes Luftvolumen einschließen, immer isolierende Eigenschaften aufweisen. Geht man noch einen Schritt weiter, dann können die Schalenbauteile als raumumschließende Hülle mit individuellen Aufgaben fungieren. Dazu werden die Schalenbauteile nur teilweise ausgehärtet. Im Bereich der Schalenränder wird die Textilfläche als weiche Bauteilverlängerung beibehalten. Diese Flächenbereiche bilden eine eigene Ebene der Bauteilperformance, indem sie sich

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beispielsweise zu einer elastischen Haut zusammenschließen und auf Umwelteinflüsse reagieren können.

4.9 MATERIALPROTOTYP ALS WEITERFÜHRENDE DISKUSSIONSGRUNDLAGE Anhand des Materialprototyps wird deutlich, wie man abstrakte Materialeigenschaften, wie weich und fest, gestalterisch interpretieren kann, um davon ausgehend eine Serie an individualisierten ausgeformten Schalenbauteilen zu erzeugen. Was hier im kleinen Maßstab funktioniert, soll auch auf großformatigere Bauteile übertragbar sein. Interessant sind Schalenbauteile mit mehreren Quadratmeter großem Flächeninhalt bei vergleichsmäßig geringem Gewicht. Der Auslöser für die weiterführende Untersuchung der individualisierten Schalenbauteile im großen Maßstab ist zum einen ein bestimmter Materialprototyp aus den zuvor dargestellten Materialversuchen und zum anderen eine vergleichende Interpretation des Materialprototyps mit textilarmierten Verbundwerkstoffschalen aus einem Entwurfsprojekt an der HfG Offenbach aus dem Jahr 2007. Zum ersten Beweggrund sei gesagt, dass es sich hierbei um einen Versuchsaufbau handelt, der aus einer Textilhalterung mit zwei Rahmen als Grundplatten besteht (Abbildung 50). Damit ist ein Aufspannen von zwei Textilschlauchsegmenten möglich, wodurch eine doppellagige und röhrenförmige Textilfläche entsteht. Mit der Rahmenbreite und -form definieren sich der Abstand zwischen den beiden aufgespannten Textilflächen, deren Ausgangskonturen sowie deren Ausrichtung. Wenn man die doppellagige Textilfläche punktuell verspannt, indem man Berührungspunkte und Abstandsstäbe in die Konstruktion integriert und so beide Textilflächen miteinander verbindet, dann bildet sich eine antiklastische Mikrostruktur aus. Das heißt, in Flächenbereichen, in denen die beiden Textilschlauchsegmente punktuell zusammengefügt werden, bilden sich nach innen zeigende konvexe Trichter. An den Stellen, an denen die beiden Textilschlauchsegmente beispielsweise durch einen innenliegenden Stab aufgespannt werden, entstehen ähnliche, nach außen gerichtete Ausstülpungen. Auch hier bilden sich die typischen Sattelflächen, die bei dem aufgespannten Textilschlauchsegment beobachtet werden können, nur dass diese sich im Falle der doppellagigen Textilkonstruktion faltenfrei aneinanderreihen und die gesamte Textilfläche überziehen. Nach mehrfacher Wiederholung erhalten die beiden Textilflächen eine antiklastische Oberflächenprägung mit homogen verlaufenden Flächenkrümmungsänderungen. Im ausgehärteten Zustand verfügt die doppelwandige Schale über eine verhältnismäßig hohe Torsionssteifigkeit, auch dann, wenn die Stäbe wieder

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herausgelöst wurden. Diese Art der Oberflächenprägung, die das Textil selbst bildet, indem es lediglich durch eine strategische Verteilung von Hoch- und Tiefpunkten dazu angeregt wird, bietet genügend Potential, um den Versuch in einen größeren Maßstab zu übertragen. Abbildung 50: Textilarmierte Doppelschale mit Hoch- und Tiefpunkten

Die zweite Verknüpfung beruht auf einer Materialstudie über leichte Schalenbauteile, bestehend aus einem Abstandsgewirke 23 und glasfaserverstärktem Kunststoff, die in der ‚Lounge Landscape‘24 (Abbildung 51) und der ‚Deich-

23 Auf die materialbedingten Eigenschaften des technische Textils Abstandsgewirke wird in Kapitel 5.1 explizit eingegangen. 24 Die ‚Lounge Landscape‘ ist eine Sitz- und Liegelandschaft aus mehrfach gekrümmten Glasfaserverbundwerkstoffschalen mit einem Abstandsgewirkekern. Auch wenn die Formensprache der ‚Lounge Landscape‘ an Möbelentwürfe der 1950er und 1960er Jahre erinnert, wie beispielsweise an die Liege ‚La Chaise‘ (1948) von Charles und Ray Eames, so steht die Nutzbarmachung der Materialmöglichkeiten und das Aufzeigen der Grenzen mehr im gestalterischen Fokus als die Erreichung einer ‚optimierten‘ Ergonomie oder eines perfekten Sitz-Liege-Komforts.

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manske Library Media Station‘25 (Abbildung 52) entwickelt und angewendet worden sind. Abbildung 51: Lounge Landscape (Fläche 1 von 5)

Abbildung 52: Deichmanske Library Media Station

Auffällig ist, dass beide Entwürfe eine sehr organisch-fluide Formensprache aufweisen, die wiederum an das ‚organische‘ Design der 1960er Jahre erinnert. Ein wichtiger Gestalter, der sein gesamtes Werk jener organoiden Ausdrucks-

25 Die ‚Deichmanske Library Media Station‘ ist eine Mikroarchitektur für die Osloer Bibliothek. Zur detaillierten Projektausführung siehe: Menges, Achim: Systemisches Denken und integrales Design. System Thinking and Integral Design. Case Study Deichmanske Library Media Stations. Offenbach am Main: 2008.

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weise untergeordnet hat, ist Luigi Colani. Nach Peter Dunas26 interpretiert der Designer besonders die ‚kurvolinearen‘ Gestaltungselemente, wie sie bereits im Jugendstil favorisiert wurden, indem Colani die geschwungene Formensprache noch integrativer, aus einem Stück bestehend, weiterinterpretiert und auf ergonomische, aerodynamische und konstruktive Anwendbarkeit in technischen Produkten überprüft.27 Inspiriert durch Beobachtungen der natürlich gegebenen Formenwelt richtet Colani sein gestalterisches Interesse „auf die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen, zunächst von Fahrzeugen [und den] Anwendungsmöglichkeiten der Aerodynamik […].“28 Zudem sind die Arbeiten von einer körpernahen und anschmiegsamen Formensprache geprägt, die wiederum der Idee einer konsequenten Verbesserung der Handhabbarkeit in den unterschiedlichsten Gebrauchsgegenständen folgt – sei es eine Wasserflasche oder eine Computermaus. Dunas hebt hervor, dass die speziellen ‚handschmeichelnden‘ Formen besonders auf die modellierende Arbeitsweise mit weichen Materialien zurückzuführen seien, denn Colanis „Formgebung geht vom plastischen Entwurf [und am 1:1 Modell] aus, nicht von Zeichnungen des Konstrukteurs […].“29 Im Gegensatz zum ‚Colani-Design‘ folgt die Material-Formstudie ‚Lounge Landscape‘ nicht einem ergonomischen oder aerodynamischen Optimierungsprinzip, sondern orientiert sich an gestalterischen Grenzen, die sich durch eine bestimmte Verformbarkeit textiler Verbundwerkstoffe ergeben und die wesentlich in die Gestaltung textilarmierter Schalenbauteile einfließen. Die Freiformfläche bietet sich hierbei an, um eben jene bestimmte Material-Form-Grenzen der neuartigen Materialkombination darzustellen. Hier zeigt sich auch, dass die besonders organisch-wirkende Gestalt der textilarmierten Schalen durch ein dreidimensionales Abstandsgewirke vorgegeben wird, das als großflächiger und zusammenhängender Abstandshalter fungiert und einen konstanten Hohlraum im Verbundwerkstoff bildet, wodurch die Schalen an Festigkeit und Leichtigkeit gewinnen. Interessant sind die anpassungsfähigen Eigenschaften des dreidimensionalen Textils, denn es kann sich einer mehrfachgekrümmten Ausgangsfläche anpassen 26 Dunas, Peter: Luigi Colani und die organisch-dynamische Form seit dem Jugendstil. München: Prestel 1993. Zu Colanis Gestaltungselemente schreibt Dunas: „Bei der Betrachtung der Formensprache Colanis fallen als markantestes Gestaltungsprinzip zunächst die weich geschwungenen, gerundet organoiden, plastisch dynamischen Linien und Konturen seiner künstlerischen ‚Handschrift‘ auf.“ S. 28. 27 Vgl. ebd. S. 34. 28 Ebd. S. 59. 29 Ebd. S. 179.

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(Abbildung 53). Das ist nur möglich, da die spezielle Textilkonstruktion auf einer offenen Wabenstruktur beruht. Man kann es mit einer überdimensionierten Maschenware vergleichen, die sich ähnlich verhält wie die elastischen Textilproben in den vorangegangen Textilschlauchversuchen. Die Anpassungsfähigkeit bedeutet in diesem Fall, dass sich das Abstandsgewirke als großformatige Fläche selbstständig an eine mehrfach gekrümmte Ausgangsgeometrie anpasst, ohne dass es dabei knittert oder Falten wirft. Deswegen kann bei einer Verformung des Textils nahezu darauf verzichtet werden, thermische Energie oder starken Anpressdruck anzuwenden. Auf ein Werkzeug übertragen bedeutet dies für die Herstellung von Freiformflächen aus Abstandsgewirke, dass keine Gegenform notwendig ist. Es bedarf lediglich eines leichten Anpressdrucks und das dreidimensionale Textil legt sich in die vorgegebenen Formen. Solange das Textil im weichen Zustand verbleibt, wird es versuchen, den herstellungsbedingten Normalzustand als plane Fläche wieder einzunehmen. Erst durch einen zweiten Verarbeitungsschritt, das beidseitige Laminieren30 des Textilkerns, lässt sich die gewünschte Form als leichte und tragfähige Doppelschale konservieren (Abbildung 54). Man erhält eine hohle Sandwichkonstruktion, die aus zwei unterschiedlich großen Glasfaserschalen besteht. Wegen der Abstandsfäden des Textilkerns werden beide Schalen auf einem konstanten Abstand gehalten. Weil diese Abstandsfäden die beiden Glasfaserschalen orthogonal miteinander verbinden, ist es nicht mehr möglich, die Deckschichten zusammenzudrücken oder gegeneinander zu verschieben. Die Faserkonstruktion ist vollständig ausgesteift und das Ergebnis ist ein starres, leichtes, aber stark beanspruchbares Schalenbauteil.

30 Als Vorbild für das Laminieren diente der Bootsbau, da dort einseitige Großformen zum Einsatz kommen.

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Abbildung 53: Anpassungsfähigkeit von offenporigem Abstandsgewirke an mehrfach gekrümmte Form

Abbildung 54: Glasfaserdoppelschale mit Abstandsgewirkekern

Bei der Herstellung der Doppelschalen mit einem Abstandsgewirkekern hat sich gezeigt, dass man auf eine feste Laminierform angewiesen ist, denn die Glasfaserschichten müssen nach dem Auflegen mit einer Laminierrolle per Hand ange-

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presst werden, um die Luftblasen aus dem Harz herauszudrücken und somit die bestmögliche Vernetzung zwischen Harz und Faser zu erzeugen. Alternativ dazu eignet sich das ‚Vakuum-Infusionsverfahren‘31, um die Matrix in die Textilkonstruktion zu infiltrieren. Aber auch hierfür ist eine starre Produktionsform unumgänglich. Es sei denn, man verändert die Rahmenbedingungen dahingehend, dass man die selbstformenden Materialeigenschaften aktiv in den Gestaltungsprozess einbezieht. Das heißt, man kombiniert die Möglichkeiten des Abstandsgewirkes, großformatige Flächen zu erzeugen, mit dem selbstgesteuerten Verformungsverhalten, wie es die Materialstudien beweisen, um den Moment der Variabilität in großflächigere Anwendungen von Schalenbauteilen zu übertragen. Daraus folgt eine Vereinfachung der Produktionsform. Mit den Materialversuchen über elastische Schlauchtextilien stellt sich ferner die Frage, was wäre, wenn man den Hohlraum des Abstandsgewirkes auffüllt und die Luft durch einen festen Stoff ersetzt? Welche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen sich für großflächige Schalenbauteile, wenn man auf die benannten Glasfaserschichten gänzlich verzichten kann, indem man ein Abstandsgewirke auswählt, das, wie bereits beschrieben, über eine offene und eine geschlossene Oberfläche verfügt?

31 Detaillierte Anwendungsbeschreibungen zu diesem industriellen Laminierverfahren finden sich bei Glasfaserverbundwerkstoffdienstleistern und -lieferanten wie altropol Kunststoff GmbH. http://www.altropol.de/fileadmin /PDF/D_Vakuum-Infusionstechnik.pdf (Abrufdatum: 02.03.2013) oder auch bei R&G Faserverbundwerkstoffe GmbH http://www.r-g.de/wiki/Verarbeitungshinweise:Vakuuminfusion (Abrufdatum: 02.03. 2013).

5

Riccio1 – Schalenkonstruktion aus textilverstärkter Keramik

Abbildung 55: Detail einer textilarmierten Keramikschale

Die im vorangegangenen Kapitel aufgeführten Ergebnisse aus der Untersuchung textiler Flächenmaterialien und selbsthärtender Flüssigkeiten werden im letzten Kapitel selbst zur Untersuchungsgrundlage für die weiterführende Entwicklung und Anwendung individualisierter Schalenbauteile. Denn beim Durchlaufen der Versuchsreihen und durch die Herstellung der Materialprototypen hat sich die Frage aufgetan, ob man durch die Veränderung der Ausgangsparameter anstelle der vielen kleinformatigen Schalenbauteile, die zusammengesetzt eine torsionssteife und tragfähige Hüllstruktur bilden, auch direkt ein großformatiges Schalenbauteil ableiten kann. Dabei soll an den Grundmaterialien eines Verbundwerkstoffes, bestehend aus einem faserbasierenden Flächenmaterial und der selbsthärtenden Matrix, genauso festgehalten werden wie an der Definition der Globalform als c-förmige Ausgangsfläche. Nur wird die Ausgangsfläche hier um 1

Die Bezeichnung ‚Riccio‘ bedeutet im Italienischen Igel.

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den Faktor zwei vergrößert, wodurch die Schalenbauteile in ein architektonisches Größenverhältnis rücken. Es wird weiterhin an der Herstellungsstrategie für die Schalenbauteile aus ebenem Plattenmaterial festgehalten, ebenso wie an dem Prinzip der Schichtung, wonach die Materialisierung der Schalenbauteile aus dem weichen Materialzustand hin zu einem festen Flächentragwerk erfolgt. Aus den in Kapitel 4 dargestellten Textil-Form-Versuchen auf der Grundlage einer interpretatorischen Materialbefragung und den in Kapitel 3 aufgeführten Auseinandersetzungen mit einem materialintensivierten ‚Erlebnisraum‘ werden diese Ergebnisse nun transferiert. Im Sinne des materialorientierten Entwerfens erfolgt jetzt zuerst die Uminterpretation der textilen Materialkomponente, die aus einem Abstandsgewirke besteht und die die Textilschlauchstudien ergänzen. Mit der Einführung der anorganischen Matrix in Form einer ‚chemisch gebundenen Phosphatkeramik‘ (CBPC) wird fortgefahren, um aus beiden Materialkomponenten einen neuartigen Verbundwerkstoff abzuleiten. Schließlich werden die materialbedingten Einzelinformationen in einen digitalen Gestaltungsprozess übertragen und für die Umsetzung einer begehbaren Raumstudie mit der Bezeichnung Riccio nutzbar gemacht (Abbildung 55).

5.1 ABSTANDSGEWIRKE ALS FORMTRÄGER UND TEXTILE ARMIERUNG Um die Dimensionen der textilarmierten Schalen vergrößern zu können, wird die elastische Rundstrickware durch ein elastisches Abstandsgewirke ersetzt. Aus Sicht der Material-Form-Versuche verfügen Abstandsgewirke auch über ‚selbstformende‘ Eigenschaften. Das technische Textil gehört ebenfalls zu der Textilgruppe der Maschenstoffe, es kann aber nur als Flächenware produziert werden, doch dafür in großformatigen Dimensionen. Was zeichnet das Abstandsgewirke als alternatives Versuchsmaterial aus? Aufgrund eines offenporigen Textilaufbaus verhält sich das Abstandsgewirke unter Vorspannung ähnlich wie die untersuchten Strickwaren. Der Grund dafür ist eine dreidimensional aufgebaute Fadenkonstruktion, bestehend aus zwei textilen Deckschichten, die von Abstandsfäden auf Distanz gehalten werden. Daraus resultiert ein signifikantes Verformungspotential. Neben der Variante einer beidseitig geschlossenen Textildeckschicht gibt es auch solche, bei denen die Deckschichten durch ein offenporiges Wabenmuster gebildet werden. Bei der dritten Variante ist eine der Seiten geschlossen und die entgegengesetzte offenporig.

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Abbildung 56: Materialverhalten bei Raffung

Abbildung 57: Spezifischer Faltenwurf eines Abstandsgewirkes

Das selbstgesteuerte Verformungsverhalten zeigt sich in einem einfachen Versuch, bei dem das Textil eine lokale Komprimierung erfährt (Abbildungen 56 und 57): Wird ein Abstandsgewirke lokal verdichtet, durch eine Art Raffung, dann reagiert der Stoff mit einem spezifischen Faltenwurf, der sich von den textiltypischen ‚Knitterfalten‘ unterscheidet. Es entstehen vielmehr harmonisch gekrümmte Wölbungen, deren Aussehen an Schalengeometrien erinnern. Bei mehreren Raffungen, die einem Raster folgen, stülpen sich die Falten zudem selbst-

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ständig und wechselweise in beide Richtungen. Die ebene Textilfläche generiert eine mehrfachgekrümmte Oberflächenartikulation. Das Ergebnis sind komplexgekrümmte Wellen- oder Rippenstrukturen. Im Gegensatz zu ‚zweidimensionalen‘ Textilgeweben, deren Faltenwurf mehr oder weniger instabil ist, erzeugt das Abstandsgewirke ein formstabiles Faltengebilde. Betrachtet man die Wölbungen explizit aus statischer Sicht, so bewirken die mannigfaltigen Krümmungsänderungen eine Veränderung der statischen Höhe. Falten dieser Art, zumal sie ausgehärtet sind, haben eine aussteifende Wirkung auf das textile Flächenmaterial, ähnlich wie bei Wellblechen2, aber mit dem Unterschied, dass man die weiche Textilfläche leicht in mehrfachgekrümmte Freiformflächen formen kann. Eine wellenartig gefaltete und mit einer Matrix ausgehärtete Abstandsgewirkebahn eignet sich daher besonders für die Erzeugung eines mehrfachgekrümmten und damit schalenartigen Faserverbundbauteils, das formstabile und torsionssteife mit leichten und porösen Eigenschaften verbindet. Mit einer zusätzlichen Glasfaserbeschichtung kann die Steifigkeit dieses Schalenbauteils weiter verstärkt werden (Abbildung 58). Um ein Abstandsgewirke geometrisch so zu verformen, dass das Textil beim Aushärten eine zusätzliche Aussteifung erfährt, lässt sich das besondere Verformungspotential auch für lokale Vorspannungen nutzen. Beim Aufspannen der Textilfläche durch punktuelle Formvorgaben reagiert die Fläche wie eine elastische Haut. Jede Wabe streckt sich entsprechend der einwirkenden Zugkräfte. In der Summe bewirken die Minimaldeformationen auch hier eine harmonische Formveränderung. Bei geeigneten Vorspannungsimpulsen generiert die Textilfläche selbstständig einen antiklastisch geformten Flächenverlauf. Wird eine beliebig große Abstandsgewirkefläche punktuell vorgespannt, sodass die Verspannungen wechselseitig in die eine und in die entgegengesetzte Richtung zeigen, dann entstehen trichterförmige Ausstülpungen in die jeweilige Zugrichtung (Abbildung 59). 2

Vgl. Hauschild, Moritz und Karzel, Rüdiger: Digitale Prozesse. Planung – Gestaltung – Fertigung. München: Ed. Detail 2010. S.68f. Zuletzt konnte der Architekt Oskar Zieta mit der freien Verformung von Metallblechen auf sich aufmerksam machen. Dazu entwickelte man an der ETH Zürich das sogenannte ,Freie Innendruckverformungsverfahren‘, kurz FIDU-Verfahren, um Bleche aufzublasen und dabei die selbstgesteuerte Faltenbildung zur Versteifung von dünnwandigen Blechkörpern auszunutzen. Die Blechfalten erlauben eine dünnere Wandstärke und garantieren trotzdem mehr Steifigkeit. Allgemeine Informationen zum Forschungsschwerpunkt und ein ausführliches Literaturverzeichnis finden sich auch unter der offiziellen Hochschulseite der ETH Zürich. http://www.blech.arch.ethz.ch/About/About (Abrufdatum: 07.02. 2015).

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Abbildung 58: Glasfaserverstärkte Oberfläche eines gerafften Abstandsgewirkes

Auch diese Art der Textilbehandlung, so konnten die Versuche zeigen, erzeugt eine komplex gekrümmte Flächenartikulation und eine statische Höhe, die bei der Gestaltung einer textilarmierten Schale von Bedeutung ist. Außerdem ermöglicht die punktuelle Textilverspannung eine globale Krümmung der Gesamtfläche, die dann nicht mehr von einer volldefinierten Formvorgabe abhängig ist, sondern allgemein betrachtet nur noch einer im Raum organisierten Punkteverteilung bedarf, um aus der planen Ausgangsfläche eine Freiformfläche zu erzeugen (Abbildung 60). Berücksichtigt man das hier aufgeführte materialeigene Verformungspotential für die Schalengestaltung, dann ist es prinzipiell möglich, die Aufgabe und damit die Beschaffenheit eines Formwerkzeugs zu vereinfachen, indem das Textil selbst eine ‚Werkzeugfunktion‘ übernimmt. Anstelle eine volldefinierte Werkzeugform zu gebrauchen, wie die zuvor aufgeführte Laminierform aus einem Vollmaterial, ist es in diesem Zusammenhang denkbar, eine Stützkonstruktion aus Plattenmaterial im Sinne der Textilhalterung (Kapitel 4.5) zu benutzen. Bei dieser Betrachtung ist die Oberflächenbeschaffenheit des fertigen Produktes auch nicht mehr an die Ausgestaltung einer Werkzeugoberfläche gekoppelt, sondern das Textil generiert aufgrund der besonderen Wabenstruktur eine eigene Oberflächenqualität. Im erhärteten Zustand zeichnen sich die Waben als Mikrostruktur selbstständig als Ornament auf der Bauteilaußenseite ab. Weiterhin offeriert das einseitig geschlossene Abstandsgewirke, dass man den textilbedingten Zwischenraum mit einer auf mineralischen Füllstoffen basierten Matrix auffüllen kann, um aus den beiden weichen Materialkomponenten

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einen neuartigen Verbundwerkstoff für tragfähige und leichte textilarmierte Schalenbauteile zu gestalten und zu materialisieren. Abbildung 59: Spezifisches Selbstformungsverhalten eines Abstandsgewirkes

Abbildung 60: Hoch- und Tiefpunkte zur punktuellen Deformation der Textilfläche

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5.2 CHEMICALLY BONDED PHOSPHATE CERAMIC 3 (CBPC) Mit der Materialfestlegung auf das Abstandsgewirke ist die faserverstärkende Komponente definiert. Es folgt die Festlegung auf die zweite Materialkomponente, die aus dem Textil eine Schale werden lässt. Im Rahmen des materialorientierten Gestaltungsprozesses soll auch hier eine alternative ‚Aushärtungsmöglichkeit‘ in Betracht gezogen werden. Daher werden die Polymerharze aus der ersten Versuchsreihe durch eine keramische Matrix ersetzt. Ein Grund für den Materialwechsel geht auf Versuche mit den elastischen Textilschläuchen zurück, denn einige der Materialprototypen wurden mit Beton oder Acrystal® 4 ausgehärtet. Was ist das Besondere an dieser selbsthärtenden Flüssigkeit? Die spezielle Matrix wird als anorganischer, feuerfester, nicht alkalischer Harz bezeichnet und gehört zu der Werkstoffgruppe der chemisch gebundenen Phosphatkeramiken, kurz CBPC. Eine Ausführung der besonderen Eigenschaften folgt nach einem Blick in die Materialgeschichte und Anwendung. CBPCs, so scheint es, sind noch immer ein recht unbekanntes und daher neuartiges Material, dessen erste Entdeckung zwar ins 19. Jh. zurückreicht und mit der Suche nach einem Zahnzement einhergeht, doch wird dieser Werkstoff erst seit dem Ende des 20. Jhs. verstärkt erforscht und für Großanwendungen weiterentwickelt. 5 Ein wichtiges Forschungsfeld, das die Phosphatkeramik für die weiterführenden Untersuchungen textilarmierter Schalenbauteile interessant erscheinen lässt, ist deren Verwendung als anorganische Matrix für faserbasierende Verbundwerkstoffe. Zudem haben Experteninterviews (durchgeführt in den Jahren 2013-2014) aufzeigen können, dass das Material bevorzugt von Künstlern verwendet wird, um witterungsbeständige Skulpturen zu bauen. Als architektonisches Anwendungsbeispiel sei auf die Neugestaltung der Nachhallgalerie der Berliner Staatsoper Unter den Linden verwiesen. Hier besteht die neugestaltete Deckenstruktur aus CBPC.6

3

Deutsch: chemisch gebundene Phosphatkeramik.

4

Acrystal® ist ein flüssiges 2-Komponenten-Gieß- und Laminiersystem auf Acrylharzbasis. Das mineralische Harzsystem ist insofern besonders, weil man sowohl das Fließverhalten als auch die Reaktionsgeschwindigkeit individuell einstellen kann. Weitere Informationen sind online verfügbar unter http://www.lange-ritter.de /beratung/acrystal/acrystal-produkte/was-ist-acrystal/ (Abrufdatum: 01.05.2012).

5

Vgl.: Wagh, Arun S.: Chemically Bonded Phosphate Ceramics. Twenty-First Century

6

Vgl.: Knippers, Jan und Merz, Hans G.: Drei Jahrhunderte gebaute Operngeschichte.

Materials with Diverse Applications. Amsterdam u. a.: Elsevier 2004. S. 15f. In: Revue Technique Luxembourgeoise 3 (2012). S. 36-39.

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Weitere Anwendungsbereiche des feuerfesten Materials sind Strukturbauteile und Plattenmaterialien, die beispielsweise in sensiblen Bereichen von Schiffen und Flugzeugen verwendet werden, aber auch als isolierende Trennwände zwischen Transformatoren in Umspannwerken.7 Schließlich wird die keramische Masse in der Verarbeitung von Sondermüll eingesetzt, um beispielsweise radioaktive und toxische Feinstoffe einzuschließen. Ein zweiter, nicht unerheblicher Grund für die Materialbetrachtung beruht auf der Tatsache, dass CBPC für die Produktgestaltung ein nahezu unbekanntes Material ist und daher interpretatorische Spielräume bereithält. Für einen materialorientierten Gestalter bietet das Material gute Voraussetzungen, neben den bisher eher technisch orientierten Einsatzmöglichkeiten weitere Anwendungsszenarien für Gebrauchsgegenstände oder architektonische Objekte zu entwickeln. Denkbare Gestaltungsbereiche wären das Interieurdesign, das Möbeldesign im Außen- und Innenbereich, aufgrund der Hitzebeständigkeit und Feuerfestigkeit die Anwendung in Küchenherden und Kaminöfen oder für Gehäuse technischer Geräte. Weiterhin bieten sich als Anwendungsfeld diejenigen Objekte an, in denen bisher Sinterkeramik verwendet wird, wie im Sanitärbereich, um den Einsatz des hier entwickelten Materials zu überprüfen. Für großformatige Anwendungen bietet sich unter anderem das Bootdesign an. Besonders in Yachten, in denen derzeit ‚klassische‘ Faserverbundwerkstoffe eingesetzt werden, ist ein Materialwechsel denkbar. Nach Arun S. Wagh8 sind chemisch gebundene Keramiken ein Bindeglied zwischen den zementbasierten Baustoffen und der Silikatkeramik.9 Die wichtigs-

7

Vgl.: Colorado, Henry A., Hiel, Clem, Hahn, Thomas und Ming Yang, Jenn: Wollastonite-Based Chemically Bonded Phosphate Ceramic Composites. In: Metal, Ceramic and Polymeric Composites for Various Uses. Hrsg. v. John Cuppoletti. Rijeka: InTech 2011. S. 281. (Online abrufbar unter http://cdn.intechopen.com/pdfs-wm/16709.pdf, Abrufdatum: 22.01.2014).

8

Arun S. Wagh ist Keramiker der Energy Technology Division des Argonne National Laboratory, Illinois USA, in seinen Forschungen beschäftigt er sich mit radioaktiven und toxischen Stoffen in der Müllbeseitigung und mit Strukturkeramiken. In seinem Standardwerk über chemisch gebundene Keramiken gibt der Materialwissenschaftler einen umfangreichen Überblick zur Chemie, Mineralogie, zu physikalischen Eigenschaften bis hin zu verschiedensten Anwendungen. / Eine weitere Informationsquelle bieten die Patentschriften über anorganische Harze. (Online abrufbar unter https://patents.justia.com/inventor/arun-s-wagh, Abrufdatum: 26.02.2014). Spezifische Materialanwendungen finden sich online unter http://arunwagh.com/, Abrufdatum: 10.06.2014).

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ten beiden Rohstoffe, die für die Herstellung der hier benutzen CBPC-Variante10 nötig sind, sind das natürlich vorkommende Kalziumsilikat Wollastonite für das Pulver und eine Phosphorsäure-Formulierung als Flüssigkeit.11 Beim Zusammenmischen der Phosphorsäure mit dem Kalziumsilikatpulver kommt es zu einer exothermen Säure-Base-Reaktion, aus der ein chemisch inerter Feststoff hervorgeht.12 Wie zementbasierte Baustoffe erhärten auch CBPCs bei Raumtemperatur, doch nach der Aushärtung sind sie ähnlich einer Keramik gegenüber Säurereaktionen und Hitzeeinwirkungen über 1000° C resistent.13 9

Wagh, A. S.: Chemically Bonded Phosphate Ceramics. S. 4. „Phosphate bonded ceramics […] are formed like cements, but their structure and properties are similar to ceramics. These are also quick-setting and hard materials. They are formed by reaction of metal cations with phosphate anions. The reaction is attained by mixing a cation donor, generally an oxide such as that of magnesium or zinc, with either phosphoric acid or an acid phosphate such as ammonium phosphate solution. Initially, the motivation behind developing these cements was to meet the need of good dental cements, but these products are now finding applications in diverse fields that include structural ceramics, waste management, oil drilling and completions, and bioceramics.“

10 Hierbei handelt es sich um ein gebrauchsfertiges 2-Komponentenmaterial mit dem Namen PT FIRSTONE. Die Materialentwicklung erfolgte an der Vrije Universiteit Brussel (VUB), 1995 erfolgte die Patentierung (Patentnummer: EP 0 861 216 B1) und danach wurde das anorganische Harzsystem unter der Bezeichnung Vubonite® erstmals vermarktet. 11 Colorado, H. A. u. a.: Wollastonite-Based Chemically Bonded Phosphate Ceramic Composites. S. 265. „In particular, for Wo-CBPC, a phosphoric acid formulation and Wollastonite powder are the main raw materials.“ 12 Ebd. S. 268. „The CBPCs form by acid-base reactions between an acid phosphate and Wollastonite. This reaction is exothermic. When the phosphoric acid formulation and the Wollastonite powder mixture are stirred, the sparsely alkaline oxides dissolve and an acid base reaction is initiated. The result is a slurry that hardens in a ceramic product. The setting is the result of gelation by salt formation and the Ca+2 cations are extracted from the calcium silicate.“ 13 Wagh, A. S.: Chemically Bonded Phosphate Ceramics. S. 4. „Phosphate bonded ceramics […] are entirely inorganic and nontoxic. Unlike Portland cement, which is formed entirely in an alkaline solution, these are acid-base cements, and are neutral. They are stable in a wider range of pH, and since they are made from natural minerals, the raw materials needed for their manufacture are readily available.“ / Ebd. S. 9. „These materials are formed at room temperature like cements, or may be synthesized at slightly elevated temperatures, but their structure is highly crystalline or glass-

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Damit entfällt der energieaufwendige Sinterungsprozess, der für die Herstellung von Silikatkeramiken unumgänglich ist, was wiederum den gestalterischen Blick für großformatige Anwendungen öffnet. Die Materialforscher Henry A. Colorado, Clem Hiel, Thomas Hahn und Jenn Ming Yang verweisen des Weiteren darauf, dass CBPCs innerhalb von Minuten aushärten können und dabei eine Druckfestigkeit von 100 MPa erreichen, während portlandzementbasierte Betone nach 28 Tagen eine Druckfestigkeit von etwa 20 Mpa erreichen.14 Das keramische Material kann im Lastfall bevorzugt Druckkräfte aufnehmen. Mit Zugabe von weiteren Füllstoffen, wie Flugasche, Fasern oder anderen Additiven, lässt sich das Materialverhalten wie die Druckfestigkeit, aber auch die Zugfestigkeit beeinflussen. Durch die Kombination der chemisch gebundenen Keramik mit Armierungsfasern oder Textilien, wie Abstandsgewirke, erhöht sich die Fähigkeit, Zugkräfte aufzunehmen, um ein Vielfaches. Ursprünglich wurde das keramische Material am ‚Department Mechanics of Materials and Constructions‘ (MeMC) an der Vrije Universiteit Brussel (VUB)15 crystalline composite. The particles in CBPCs are bonded by a paste formed by chemical reaction, as in cements, but the particles themselves are mostly crystalline. Their strengths are higher than those of cements but fall short of sintered ceramics. Their corrosion resistance is close to ceramics, but at the same time, they may be vulnerable to erosion like cements.“ 14 Vgl. Colorado, H. A. u. a.: Wollastonite-Based Chemically Bonded Phosphate Ceramic Composites. S. 266. 15 Der Materialwissenschaftler Johan Blom gehört zu den Materialientwicklern, die eine handelsübliche Variante einer anorganischen Phosphatkeramik entwickelt haben, und er sagt darüber Folgendes: „IPC [Inorganic phosphate cement] was developed at the Vrije Universiteit Brussel and is commercially available under the name Vubonite®. This material is an inorganic, non-alkaline resin, prepared by mixing a powder and a liquid component. The cementitious material is processed in the same way as a polymer resin. Processing time is adjustable and varies from a few minutes to approximately an hour. Hardening occurs spontaneously at room temperature and results in cement with a neutral pH after hardening. Therefore, the glass fibres are not chemically attacked by the cementitious matrix, making the use of traditional E-glass fibres possible. By using a fibre volume fraction which exceeds the critical fibre volume fraction, the fibres can ensure strength and stiffness at applied loads far exceeding the range at which matrix multiple cracking occurs. Textile reinforced cementitious composites with glass fibres as reinforcement exhibit relatively high strength and ductility and thus provides an interesting new material for thin shells.“ (Online abrufbar unter http://www.vub.ac.be/MEMC/node/90, Abrufdatum: 22.01.2014) / 1995 wurde das Patent „Inorganic resin compositions, their preparation and use thereof“ unter der

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entwickelt. Für die eigens durchgeführten Material-Form-Versuche aus Abstandsgewirke und Phosphatkeramik wird hier eine weiterentwickelte keramische Laminier- und Gießmasse mit der Bezeichnung PT FIRSTONE verwendet.16 Aus der Sicht des materialorientierten Gestaltungsprozesses bieten die Materialeigenschaften einen Einstieg in die Material-Form-Versuche, hierzu zählen Dichte, Druckfestigkeit, Zugfestigkeit, Steifheit, Entflammbarkeit, aber auch der pH-Wert oder die Toxizität. Angaben wie diese sind dem Technischen Datenblatt der hier verwendeten CBPC-Variante mit der Bezeichnung PT FIRSTONE zu entnehmen: Beschreibung spezifische Dichte (feucht) spezifische Dichte (trocken) Laminierungsdicke Druckfestigkeit Zugfestigkeit Steifheit (E-Modul) Thermischer Ausdehnungskoeffizient Wärmeleitungskoeffizient spezifische Energie Entflammbarkeit

Einheit

pur

kg/dm³ kg/dm³ mm/layer MPa MPa GPa 8e – 6/K

1.9 1.6 60 10 18

UD-Gelege 300g/m² 2.0 1.75 0.9 60 100 7-25

Matte 300g/m² 2.0 1.75 0.9 60 30 3-20

+/- 1 W/mK 0,8 J/gK Nicht brennbar A1

Anmelde-nummer EP 0861216 B1 angemeldet. Hier werden die Materialzusammensetzung sowie diverse Anwendungsfelder ersichtlich. (Online abrufbar unter http:// www.google.com/patents/EP0861216B1?cl=en&hl=de,

Abrufdatum:

22.01.2014)/

Weitere Informationen über MEMC und über die anorganische Keramikmatrix Vubonite® sich online aufgeführt unter http://vubtechtransfer.be/medialibrary/Spinoff%20fiche_Vubonite-Symbion_2013. pdf / http://vubtechtransfer.be/medialibrary/ TTI_VUB_MaterialsResearch_2012.pdf, Abrufdatum: 22.01.2014) / Eine Onlinesuche mit dem Suchbegriff ‚chemically bonded phosphate ceramics‘ ergab am 22.01.2014 über 483.000 Ergebnisse. 16 Die Grundmasse für die Versuche bestehen aus PT FIRSTONE, ein 2-Komponentenharz aus Pulver und einer Phosphorsäure basierenden Flüssigkeit. Die Flüssigkeit ist lösungsmittelfrei, geruchlos und wasserlöslich. Durch die Zugabe von Verdickungsmitteln (Thixotropiermittel) lässt sich die Viskosität der Flüssigphase individuell einstellen. Die Aushärtungszeit wird über die Materialtemperatur gesteuert. Eine Temperatur von 0°C verhindert sogar, dass die Harzmischung aushärtet.

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5.3 EVALUIERUNG DER TECHNIK FÜR DIE TEXTILINFILTRIERUNG UND MODIFIKATION DER PHOSPHATKERAMIK Eine unumgängliche Gestaltungsvoraussetzung für die Entwicklung textilarmierter Schalen aus Abstandsgewirke und Phosphatkeramik ist die Verbindung der beiden Materialkomponenten zu einem Verbundwerkstoff. Dazu wird ein Ausschlussverfahren der technischen Möglichkeiten durchgeführt, das ein geeignetes Benetzungsverfahren zeigen soll. Als Referenz dient eine 1m x 1m große vorgespannte Textilfläche. Die Textilbeschichtung orientiert sich an der Durchführung (Besprühen und Handauftrag) aus den Versuchen mit dem elastischen Textilschlauch. Bezogen auf die Generierung von großformatigen Schalenbauteilen ist das Sprühverfahren auch deswegen interessant, weil es sich in der Baupraxis bewährt hat. Das vergleichbare Verfahren für großformatige Anwendungen ist das Betonspritzen.17 Für die Sprühversuche der keramischen Flüssigkeit wird daher eine Referenztechnik aus der Betonspritzverarbeitung uminterpretiert. Eine Trichter-Spritzpistole, die mit Luftdruck anstelle einer mechanischen Fördertechnik funktioniert, erlaubt es, die Methode in einem kleinskalierten Modellmaßstab anzuwenden. Das Sprühmedium entspricht dem originalen Mischverhältnis aus Pulver und Flüssigkeit. Es ist eine leicht viskose, aber fließfreudige Flüssigkeit. Bei der Durchführung zeigt sich, dass sich die Flüssigkomponente nicht wie erwartet im Textil niederschlägt, sondern sich lediglich auf der Textiloberfläche ablagert und die offene Wabenstruktur verschließt (Abbildung 61). Eine flächendeckende Durchdringung der äußeren Textilschicht bleibt aus. Ist die Oberfläche geschlossen, dann verhindert die erste Materialschicht die Einlagerung der Matrix im Textilinneren (Abbildung 62).

17 Es ist eine industrielle Verarbeitungsmethode, mit der sich viskose Stoffgemische schichtweise auf verschiedene Trägerkonstruktionen aufspritzen lassen, um beispielweise eine zusammenhängende Betonschale zu generieren. Typische Anwendungen sind der Tunnelbau oder die Befestigung von abbruchgefährdeten Felswänden. Das Spritzbeton-Verfahren ist für große Fördermengen, einen dickschichtigen Materialaufbau sowie für großflächige Anwendungen ausgelegt und damit eher ungeeignet für kleinere Materialstudien. Je nach Anwendung, ob für Fassadenbeschichtung oder für Baumaßnahmen im Hoch- und Tiefbau, sind Förderdrücke von wenigen Bar im einstelligen Bereich bis über 200 Bar möglich.

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Abbildung 61: Ungleichmäßig gefüllte Textilschicht mit teilweise geschlossener Oberfläche

Abbildung 62: Geschlossene Textiloberfläche verhindert vollständige Infiltrierung (Lufteinschlüsse)

Es kann also nicht sichergestellt werden, ob und wie tief sich die Matrix in der Textilkonstruktion anlagert und wo das Material nur an der Oberfläche verbleibt (Abbildung 63). Die Folge sind Lufteinschlüsse und nicht ausgehärtete Textilbereiche. Eine Erhöhung des Drucks oder eine Verringerung des Sprühabstands

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konnte das Ergebnis nicht verbessern. Stattdessen verschließt sich die Oberfläche, das Sprühmedium verdrängt die angelagerte Materialschicht und fließt aus dem Textil heraus. Damit die Flüssigkeit in das Textilinnere gelangt und eine gleichmäßige Oberfläche entsteht, muss mechanisch nachgeholfen werden18. Das Testobjekt zeigt auch, dass sich mit einer direkteren Infiltrierung verschiedene Oberflächenstrukturen erzeugen lassen. Ist das Textil gesättigt, dann erscheint die Wabenstruktur des Abstandsgewirkes als feine Maserung. Bei einer geringen Schichtstärke wird nur die dreidimensionale Fadenkonstruktion benetzt, sodass Poren entstehen. Abbildung 63: Unvollständig gehärtete Textilrückseite aufgrund fehlender Matrix

Es scheint, als sei eine Kombination aus kontinuierlicher Materialbereitstellung und punktueller Materialplatzierung besser für die weiteren Versuche geeignet. Ein Verfahren, das beide Aspekte vereint, ist die Bepastungstechnik19, die im

18 Als Hilfsmittel hat sich die Farbwalze als ideales Werkzeug erwiesen. Die Keramik wird beim Auftragen ins Textil gedrückt, überschüssiges Material gleichmäßig verteilt und ein Ablaufen verhindert. 19 Bepastung ist ein Extrusionsverfahren, bei dem eine pastöse 2K-Kunstharzmasse auf eine leichte Hartschaumform maschinell aufgetragen wird. Das Resultat ist eine geschlossene Fläche aus hartem Kunststoff. Die mehrere Zentimeter dicke Schicht lässt sich nach der Aushärtung konturgenau überfräsen. Insbesondere großformatige

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Modell- und Formenbau verwendet wird. Im Gegensatz zum Sprühen transportiert eine Fördertechnik das viskose Material in einem Guss und nicht als diffusen Sprühnebel. Die Masse fließt zielgerichtet und mit geringem Druck. Das Bepastungsprinzip wird auf die Infiltrierung der Abstandsgewirkefläche mit der flüssigen Phosphatkeramik übertragen. Hierzu bedarf es einer Anpassung des Fließverhaltens der Flüssigkomponente, damit ausreichend Zähigkeit zum Anhaften in der Fadenkonstruktion vorhanden ist. Ferner wird die Viskosität durch die Zugabe einer hydrophilen pyrogenen Kieselsäure auf den Injektionsprozess, in Anlehnung an die Bepastungstechnik, eingestellt. Die Beigabe des Thixotropiermittels in die Harzmischung verändert deren Eigenschaften dahingehend, dass die flüssige Keramik im Ruhezustand zu einer festen Masse erstarrt, aber durch leichtes Rühren die ursprüngliche Fließfähigkeit zurückgewinnt. 20 Auf der Grundlage einer Materialstudie an der VUB, die das Fließverhalten der keramischen Flüssigkeit unter Zugabe einer Kieselsäure beschreibt, wird eine eigene Materialeinstellung, mit dem Thixotropiermittel AEROSIL® 200, für die Infiltrierbarkeit des Abstandsgewirkes untersucht.21 Die Grundmischung der Laminierformen, die z.B. im Schiffsbau zu Anwendung kommen, beruhen auf bepasteten Oberflächen. Weitere Informationen zum Thema Bepasten finden sich auf: http://issuu.com/maxebalta/docs/auflegepaste_april_ 2014?e=7318986/7180113 (Abrufdatum: 02.01.2015). 20 Vgl.: Schriftenreihe Nummer 11. Fine Particles. Grundlagen und Anwendungen von AEROSIL®. Hrsg. v. Degussa AG Anwendungstechnik. Auflage 7. Hanau-Wolfgang: 2003. S. 55f. 21 Blom, Johan, Van Itterbeeck, Petra, Van Ackeren, J., Wastiels, Jan.: Inorganic Phosphate Textile Reinforced Cement composite moulds. (Conference Paper). Faculty of Engineering. Department of Mechanics of Materials and Constructions. Brussels: 2014. (online abrufbar unter http://www.researchgate.net/publication/257486959_ Inorganic_Phosphate_Textile_Reinforced_Cement_composite_moulds,

Abrufdatum:

12.07.2014). Die Materialingenieure zeigen in diesem Materialversuch die Anpassung einer anorganischen Phosphatzementmatrix für Anwendungen im Formenbau. Des Weiteren zeigt die experimentelle Studie ein Herstellungsverfahren für Produktionsformen aus Kompositmaterial aus der anorganischen Phosphatzement Matrix mit Faserverstärkung. Als Thixotropiermittel verwenden die Materialforscher AEROSIL® 200, das in 2, 6, 8, 10 und 12 % Zugaben, gemessen am Gewicht der flüssigen Komponente, der Originalmatrix hinzugegeben wird. Über die Auswirkung von zu viel Thixotropiermittel ist Folgendes vermerkt: „For the first set of experiments AEROSIL® was added to the standard mixture. By adding 6 % of AEROSIL® filler compared to the weight of liquid component, the primary mixing becomes more difficult […]. The addition of 8 % of filler is considered to give the best balance between

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Phosphatkeramik entspricht hierbei den Herstellerangaben und damit einem Mischungsverhältnis von 100/80 (Flüssigkeit zu Pulver). Es folgt eine Beimischung des Thixotropiermittels in Schritten von 2, 3 und 4 Gewichtsprozent in Bezug zur Gesamtharzmasse aus Flüssigkeit und Pulver.22 Höherprozentige Beimischungen (