Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung: Grundlegende Untersuchung anhand der gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung zum Delisting [1 ed.] 9783428558360, 9783428158362


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Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung: Grundlegende Untersuchung anhand der gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung zum Delisting [1 ed.]
 9783428558360, 9783428158362

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Schriften zur Rechtstheorie Band 293

Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung Grundlegende Untersuchung anhand der gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung zum Delisting

Von

Stefan Feix

Duncker & Humblot · Berlin

STEFAN FEIX

Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung

Schriften zur Rechtstheorie Band 293

Maßstäbe für eine gelungene richterliche Rechtsfortbildung Grundlegende Untersuchung anhand der gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung zum Delisting

Von

Stefan Feix

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 517 Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-15836-2 (Print) ISBN 978-3-428-55836-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Potsdam im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschließlich April 2019 berücksichtigt werden. Das Thema Delisting hat durch die neuen Regelungen des Gesetzgebers scheinbar einen guten Ausgang gefunden. Ich bin aber der Auffassung, dass man aus der „alten“ Rechtsprechung viel über das Thema Rechtsfortbildung lernen kann. Weitergehende Forschungen in diesem Bereich wären aus meiner Sicht wünschenswert. Das gilt insbesondere auch für den schwierigen Bereich Sprache und Recht, da hier wohl der größte fächerübergreifende Forschungsbedarf besteht. Die Strukturierende Rechtslehre hat hierzu bereits einen ersten guten Beitrag geleistet, auch wenn sie nicht einfach zu durchdringen ist. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Tilmann Bezzenberger, der durch seine Betreuung und wertvollen Anregungen enorm zum Gelingen dieser Arbeit beitrug. Herrn Prof. Dr. Andreas Musil danke ich herzlich für die vielschichtige, langjährige Förderung an seinem Lehrstuhl und natürlich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Prof. Dr. Lammers danke ich für seine zahlreichen Ratschläge bei meinem Forschungsvorhaben. Meinen Eltern Bärbel und Rainer Paul danke ich neben der finanziellen Förderung auch für die umfangreiche moralische Unterstützung. Letzteres gilt auch für meine Familie, Kollegen und Freunde. Namentlich hervorgehoben werden sollen neben Florian Hischer, Manuel ­Kuegel, Jakobus Fabini, Lisa Wulbusch, Enzo Biagi, Dr. Jan Schulz, Nadine Steglich, Dr. Lucas Cornelius und Annika Schöner insbesondere auch Lars Fähling, Olga Prokopyeva, Philipp und George Tanski, Christin Nordwig sowie Ursula Paul. Potsdam, 26.12.2019

Stefan Feix

Inhaltsübersicht § 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Erster Teil



Das Richterrecht

25

1. Kapitel

Die hohe Bedeutung des Richterrechts und seine Funktionen in der Rechtsordnung

25

§ 2 Begriff des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 § 3 Die Frage nach der Bedeutung und Funktion des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2. Kapitel

Die rechtsfortbildende Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie

56

§ 4 Der Begriffe der Rechtsfortbildung und seine Abgrenzbarkeit zur Auslegung . . . . 56

3. Kapitel

Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

110

§ 5 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 § 6 Möglichkeiten zur Auslegung einer Entscheidung und Konkretisierung einer Regel 115

Zweiter Teil



Die Bewertung von Richterrecht

124

4. Kapitel

Die gelungene Rechtsfortbildung

124

§ 7 Erwartungen unseres Rechtskreises als theoretisches Fundament . . . . . . . . . . . . . . 125 § 8 Die Erweiterung der Arbeitsdefinition durch Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

8

Inhaltsübersicht 5. Kapitel



Konsequenzen aus der Bewertung von Richterrecht für den Gesetzgeber und die Gerichte

197

§ 9 Das gelungene Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 § 10 Das misslungene Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Dritter Teil



Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting

205

6. Kapitel

Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“

205

§ 11 Überblick über das Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 § 12 Sachverhalt, Prozessgeschichte und Entscheidungen im Fall Macrotron . . . . . . . . . 211 § 13 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 § 14 Folgen der Macrotron-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

7. Kapitel

Die Derogation der Macrotron-Entscheidung durch die Frosta-Entscheidung des BGH

273

§ 15 Sachverhalt und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 § 16 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

8. Kapitel Zusammenfassung

285

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Inhaltsverzeichnis § 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 C. Einordnung der Delisting-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Erster Teil



Das Richterrecht

25

1. Kapitel

Die hohe Bedeutung des Richterrechts und seine Funktionen in der Rechtsordnung

25

§ 2 Begriff des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 § 3 Die Frage nach der Bedeutung und Funktion des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 28 A. Zumindest faktische Bindungswirkung als formaler Grund der hohen Bedeutung 29 I. Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Die herrschende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Mindermeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Unstrittige hohe faktisch-präjudizielle Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Verhältnis zum Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 B. Die richterliche Gestaltungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Rechtsanpassung und -ergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Die Lückenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Lösung durch richterliche Kompetenzerweiterung auf Fortbildungsfragen 43 II. Umsetzung des Gesetzgeberwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 III. Gerechtigkeitschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 C. Entlastungs- und Stabilisierungsfunktion in der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . 47 I. Doppelte Entlastungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Stabilisierung der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. (Selbst-)Stabilisierungsfunktion gegenüber (Instanz-)Gerichten . . . . . . . . . 48 IV. Vorbereitung einer Kodifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 V. Verkürzungs- und Vereinfachungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

10

Inhaltsverzeichnis D. Die Bedeutung des Richterrechts im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Kapitel



Die rechtsfortbildende Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie

56

§ 4 Der Begriffe der Rechtsfortbildung und seine Abgrenzbarkeit zur Auslegung . . . . 56 A. Trennbarkeits- und Untrennbarkeitsthese und die Konsequenzen . . . . . . . . . . . . 56 I. Hintergrundproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Die Trennbarkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Überlieferte Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Klassische Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Grundproblematik der überlieferten klassischen Lehre und Verzicht auf die Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Verzicht auf die Wortlautgrenze als Alternativmodell . . . . . . . . . . . 64 2. Analytische Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Koch und Rüßmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Kritik am bisherigen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 d) Klatts Theorie der Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Untrennbarkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Grundgedanke: Normprogrammgrenze statt Wortlautgrenze . . . . . . . . . 79 2. Analogien in der Strukturierenden Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 IV. Neue Tendenzen der Rechtsprechung innerhalb der Trennbarkeitstheorie?

84

1. Bisherige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Der Wille des (historischen) Gesetzgebers als begrenzender Faktor . . . . 86 3. Die subjektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4. Entscheidung zur Rügeverkümmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5. Entscheidung zur Dreiteilungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 6. Bewertungen der Entscheidungen und Bedeutung für auf die Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Obsiegen der subjektiven Auslegungstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Abgrenzung von Auslegung und Fortbildung durch Doppelgrenze? 101 c) Folgen für das Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 B. Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Kritik an Klatts Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Wortlautgrenze ist hoher Begründungslast ausgesetzt . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsverzeichnis

11

2. Regelregressargument und Interpretation von Brandom . . . . . . . . . . . . . 103 3. Ermittlungstechnische Schwierigkeiten einer Wortlautgrenze . . . . . . . . 107 II. Kritik an der Strukturierenden Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Problemverlagerung durch Normprogrammgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Indizfunktion des Wortlauts und Wert des historischen Arguments wird missachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Ergebnis und Folgerung für die weitere Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

3. Kapitel

Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

110

§ 5 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 A. Notwendigkeit einer Auslegung von Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 B. Die ratio decidendi als grundsätzlich isoliertes Objekt der Auslegung . . . . . . . . 112 I. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 C. Grundprobleme der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Entwicklung einer fallübergeordneten Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 § 6 Möglichkeiten zur Auslegung einer Entscheidung und Konkretisierung einer Regel 115 A. Entscheidungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Ermittlung des Sachverhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Rekonstruktion des Gedankengangs des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Formulierungen (Wortlautauslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Entscheidungsketten (Systematische Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Wertungen (teleologische Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4. Weitere Referenztexte als Konkretisierungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 B. Einordnung der Einzelentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 C. Unsicherheiten bei der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zweiter Teil



Die Bewertung von Richterrecht

124

4. Kapitel

Die gelungene Rechtsfortbildung

124

§ 7 Erwartungen unseres Rechtskreises als theoretisches Fundament . . . . . . . . . . . . . . 125 A. Funktionserfüllung unter Berücksichtigung der herrschenden Meinung . . . . . . 125 I. Lösung einer offenen Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

12

Inhaltsverzeichnis II. Äußerliche und Innerliche Beachtung der überlieferten Fortbildungstheorie 126 III. Weiterdenken des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IV. Eintritt eines Entlastungs- und Stabilisierungseffekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V. Gerechtigkeitsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 B. Ausbleiben der Nachteile einer Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Schwächen im Normierungsstadium (Entwicklung des Richterrechts) . . . . 130 1. Verfassungsrechtliche Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Fortbildung . . . . . . . . 130 b) Missachtung von Verfassungsprinzipien in Verbund mit geringen Kontrollmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Allgemeine Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (1) Beschränkter Prüfungsumfang auf Verletzung spezifischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Vertretbarkeits- und Willkürprüfung statt vollumfänglicher Richtigkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (3) Ablehnungen des Vorbehalts des Gesetzes als Grenze der Rechtsfortbildung im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (4) Die Gesetzesbindung als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . 138 (5) Kompetenzabgrenzung zu den Fachgerichten . . . . . . . . . 139 bb) Verfassungsrechtliche Grenzziehung durch das Bundes­ verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (1) Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung . . . . . 140 (2) Lückenfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (3) Lückenschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 (a) Die Rechtsfortbildung als Einfallstor für Kompetenzeingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (b) Die Verletzung von Gewaltenteilungsgrundsatz und Gesetzesbindung nach dem BVerfG . . . . . . . . . . . . . 145 (4) Überprüfung der angewendeten Methoden . . . . . . . . . . . . 147 (5) Sonstige Grenzmodifikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (a) Belastungsgrad im grundrechtsrelevanten Bereich . . 149 (b) Anpassungsbedürftigkeit der gesetzlichen Lage . . . . 151 (c) Sperrwirkungen von nicht erlassenen oder in der Gesetzgebung befindenden Normen für eine Fortbildung 151 (6) Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 cc) Achillesverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 dd) Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Manipulationpotential durch (verdeckte) Gestaltungsspielräume . . 155 d) Legitimationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhaltsverzeichnis

13

e) Verlust der Streitentscheidungsfunktion und schleichende Kompetenzverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Sachverhaltsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Sonstige Normierungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Anlassbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Geringerer Gestaltungs- und Argumentationsrahmen . . . . . . . . . . . . 159 c) Spannungsfeld Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungswirkung auf die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Genereller Ressourcenunterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Schwächen im Wirkungsstadium (Nachteilige Wirkungen auf die Rechts­ordnung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Vielzahl von komplexen Regelungen außerhalb der Kodifikation . . . . . 164 2. Prognostizierungsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Auslegungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4. Vertrauensschutzaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 III. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 IV. Erweiterte Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 § 8 Die Erweiterung der Arbeitsdefinition durch Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 A. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 I. Karl Larenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Klar formulierte und bestimmte Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Ableitbarkeit aus dem Gesetz bzw. einem materiellen Rechtsprinzip . . . 174 3. Fallnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5. Überprüfung der Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6. Konkretisierende Gedanken zu Larenz’ Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Klar formulierte und bestimmte Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Ableitbarkeit aus der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Regelkonkretisierung am Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 d) Das bruchlose Einfügen einer Regel in das Rechtsystem . . . . . . . . . 179 aa) Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 bb) Bruchloses Einfügen als System- und Folgerichtigkeit . . . . . . 182 cc) Gleichgestimmtheit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Katja Langenbucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Erfassung der regelungsbedürftigen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Begründung der richterlichen Regel aus der Rechtsordnung . . . . . . . . . 185 a) Strukturierung von Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Wertungsmäßige Begründung von Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 187

14

Inhaltsverzeichnis 3. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 III. Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 B. Abschließender Bewertungsakt einer richterlichen Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Überwiegen der materiellen Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Zeitpunkt für den Erlass richtig gewählt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 C. Zwischenergebnis und Systematisierungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 D. Gedanken zur Abwägung der Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

5. Kapitel Konsequenzen aus der Bewertung von Richterrecht für den Gesetzgeber und die Gerichte



197

§ 9 Das gelungene Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 A. Deklaratorische Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 B. Abändernde Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 C. Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 § 10 Das misslungene Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 A. Derogation durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 B. Derogation durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Dritter Teil



Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting

205

6. Kapitel

Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“

205

§ 11 Überblick über das Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 A. Begriff und Arten des Delistings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Freiwilliges (echtes) vollständiges Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 II. Freiwilliges (unechtes) vollständiges Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Unfreiwilliges vollständiges Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 B. Folgen des Delistings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 C. Rechtsentwicklung bis Macrotron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 §12 Sachverhalt, Prozessgeschichte und Entscheidungen im Fall Macrotron . . . . . . . . . 211  

A. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. LG I München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 I. Kein Gesetzesverstoß wegen Unbestimmtheit der Ermächtigung . . . . . . . . 213

Inhaltsverzeichnis

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II. Kein Gesetzesverstoß gegen §§ 186 Abs. 4 S. 2 AktG, 8 UmwG analog . . . 213 1. Anerkennung der Holzmüller-Grundsätze im Fall des Delistings . . . . . . 213 2. Rechtssicherheit vor richterlicher Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Kein Struktureingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Nur Außenbeziehung tangiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III. Kein Inhaltlicher Mangel des Delistingsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Eingeschränkter Prüfungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Treuepflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Keine Berührung der mitgliedschaftlichen Stellung und ausreichende Wahrung der Vermögensinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Vergleich mit Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Keine Ungleichbehandlung mangels Gewährung von Sondervorteilen 216 3. Verfassungswidriger Eingriff in Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Ausreichender Schutz durch Gesetzeslage und Börsenordnung . . . . 217 b) Kein Eigentumseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 IV. Keine Kontrolle der Angemessenheit des Kaufangebots durch aktien­ rechtliches Spruchverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 C. OLG München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 I. Holzmüller-Grundsätze gelten für das Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Keine materielle Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Kein schwerer Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. § 43 BörsG i. V. m. den BörsO als umfassende spezialgesetzliche Regelung 220 III. Keine rechtsmissbräuchlichen Stimmausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Im Ergebnis keine wirtschaftlichen Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Kein Ausnutzen der Minderheitsaktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 IV. Kein Sondervorteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 V. Kein verfassungswidriger Eingriff in Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VI. Keine Überprüfung in einem Spruchverfahren analog § 306 AktG. . . . . . . . 222 D. Änderung der Börsenordnung und Verschärfung der Schutzsituation . . . . . . . . . 223 E. BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 I. Holzmüller-Grundsätze gelten nicht für das Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 II. Überprüfbares Pflichtangebot über Kauf der Aktien durch die Gesellschaft oder Großaktionär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Börsengesetze gewährleisten keinen wirksamen Minderheitenschutz . . 225 2. Pflichtangebot notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3. Gerichtliche Kontrolle durch Spruchverfahren statt Anfechtungsklage . 226 4. Verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit und Analogiefähigkeit . . . . . . 227 III. Keine sachliche Rechtfertigung des Hauptversammlungsbeschlusses und kein Vorstandsbericht analog § 186 Abs. 4 S. 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

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Inhaltsverzeichnis IV. Kein missbräuchliches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 F. Zwischenübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

§ 13 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 A. Bewertung durch die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Regelbildung (Auslegung der Entscheidung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 C. Auslegung oder Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 D. Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 E. Klar formulierte und bestimmte Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 F. Ableitbarkeit der Regel aus dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Hauptversammlungsbeschluss und Pflichtangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Die Aktie als verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum . . . . . . . . . . . 235 2. Art. 14 GG als tragfähige Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Moto-Meter-Entscheidung als tragfähige Grundlage . . . . . . . . . . . . 237 b) DAT / Altana-Entscheidung als tragfähige Grundlage . . . . . . . . . . . . 238 3. Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Gesamtanalogie beim Spruchverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 G. Fallnähe der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 I. Folgefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 II. Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 H. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I. § 43 Abs. 4 BörsG a. F. als abschließende Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Hauptversammlungsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Abfindungsanspruch und Pflichtangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 III. Bestlösungsforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Herleitung der Hauptversammlungszuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Holzmüller-Grundsätze aufgrund einer Strukturänderung im rechtlichen und faktischen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) § 180 Abs. 2 AktG analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 c) Gesamtanalogie §§ 240 Abs. 1 S. 1. 65 Abs. 1 S. 1 UmwG . . . . . . . . 257 d) Art. 14 Abs.1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Herleitung für das Pflichtangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Verfassungskonforme Auslegung der einzelnen Börsenordnungen . 259 b) Analogien zum UmwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 c) § 243 Abs. 2 S. 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Inhaltsverzeichnis

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d) Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und Änderungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 J. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 § 14 Folgen der Macrotron-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 A. Die Delisting-Entscheidung des BVerfGE als Basis zur richterlichen Derogation 263 I. Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Art. 14 GG als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Grundsätze zu Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Vergleich mit der DAT / Altana-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Börsenzulassung zum regulierten Markt als Eigentumsbestandteil aufgrund von Sondervorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4. Kursverfall durch Delisting kein Argument für Beeinträchtigung wirtschaftlicher Substanz des Aktieneigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 5. Keine Überschreitung der Grenzen richterlicher Fortbildung . . . . . . . . . 268 6. (Nachträgliche) Akzeptanz des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7. Analoge Anwendung des Spruchverfahrens nicht zu beanstanden . . . . . 270 III. Folgen für die Verfassungsbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 IV. Wegfall der Begründung unerheblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 B. Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

7. Kapitel

Die Derogation der Macrotron-Entscheidung durch die Frosta-Entscheidung des BGH

273

§ 15 Sachverhalt und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 A. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 B. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 I. Kein Hauptversammlungsbeschluss notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 II. Kein Barabfindungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. § 207 UmwG analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 2. § 243 Abs. 2 S. 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4. Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschafts­ rechtlicher Strukturmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Widerruf der Börsenzulassung keine Strukturmaßnahme . . . . . . . . . 277 b) Auswirkungen des Rückzugs rechtfertigten keine analoge Anwendung 277 c) § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG ausreichend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

18

Inhaltsverzeichnis

§ 16 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 A. Sonderfall Rechtsrückbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 B. Keine gelungene (ursprüngliche)Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 C. Abänderung nicht möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 D. Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

8. Kapitel Zusammenfassung

285

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

§ 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung A. Ziele Die folgende Arbeit verfolgt vor allem ein praktisches Ziel:1 Es soll ein Vorschlag unterbreitet werden, wie gerichtliche Leitentscheidungen analysiert und bewertet werden können. Im Mittelpunkt der Arbeit steht dabei die von Karl Larenz bereits Mitte des letzten Jahrhunderts aufgeworfene Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen eine richterliche Rechtsfortbildung als gelungen bezeichnet werden kann.2 Die Rechtsfortbildung ist im Vergleich zur Gesetzesauslegung besonders interessant für eine solche Bewertung. Der Grund dafür liegt in der Beziehung zum Normtext: Bei der Auslegung beschäftigt sich der Richter nach herkömmlicher Sichtweise mit einer bestehenden Regelung und wendet diese auf einen bestimmten Lebenssachverhalt an.3 Bei einer Rechtsfortbildung mangelt es hingegen an einer Regelung.4 Trotzdem wird vom Richter verlangt, dass er eine Entscheidung herbeiführt, die nicht nur dem Einzelfall gerecht wird, sondern auch eine darüberhinausgehende weitblickende Regelung für andere Fälle enthält. In dieses Spannungsfeld tritt ein weiterer verschärfender Umstand hinzu: Die Rechtsordnung erwartet, dass der Richter seine Bindung an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG) auch bei der Fortbildung einhält. Es ist ihm untersagt, eine 1

Zur Notwendigkeit der Entwicklung von praxistauglichen methodologischen Konzepten s. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004 S. 10, der darauf hinweist, dass trotz aller theoretischen Überlegungen zur Methodenlehre, im Vordergrund stehen muss, der Praxis die Möglichkeit zu geben, auch von der geleisteten Arbeit zu profitieren. 2 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965; das Wort „geglückt“, wurde hier bewusst nicht gewählt, suggeriert es doch, dass es vom Zufall abhängt, ob eine Rechtsfortbildung erfolgreich ist. Vielmehr wird hier die Bezeichnung „gelungen“ verwendet. Zudem soll es in dieser Arbeit nicht nur um eine von Larenz hauptsächlich anvisierte ex-post Betrachtung und Bewertung einer Fortbildung gehen (s. dort S. 4 f.), sondern es soll untersucht werden, ob es Kriterien gibt, mit deren Hilfe Fehlentwicklungen in der rechtsfortbildenden Rechtsprechung von vornherein, d. h. bereits im Entwicklungsstadium vermieden werden können. S. dazu auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 1 ff. 3 Zur Gegenansicht s. unten bei der Strukturierenden Rechtslehre. 4 Muthorst, Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2011 § 8 Rn. 5; sie verlangt vielmehr nach Ansicht des BVerfG, 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287 nach einer besonderen „schöpferischen Rechtsfindung“. Insofern kann man hier von einer „freien Rechtsfortbildung“ sprechen, vgl. etwa Hanau, in: Bettermann, Festschrift für Albrecht Zeuner, 1994, 55 oder Wiegand, Die „Sachwalterhaftung“ als richterliche Rechtsfortbildung, 1991, 166; Hergen­ röder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, 334 spricht auch von „freier Rechtsschöpfung“.

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§ 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung

Regelung nach Belieben aufzustellen. Die Gemengelage und die Bindung des Richters führen dazu, dass Rechtsprobleme entweder mit Blick auf den Einzelfall oder aus Perspektive der gesamten Rechtsordnung nicht bestmöglich gelöst werden. Dass der Prozess der Entscheidungsfindung für den Richter aus diesem Grund besonders schwierig ist und mitunter zu verfassungsrechtlichen oder sonstigen rechtlichen und praktischen Problemen führen kann, liegt auf der Hand. Die Eingriffsmöglichkeit des Gesetzgebers als primären Normsetzer wird bei Fehlentwicklungen der Rechtsprechung überwiegend als Korrektiv genannt, durch das Fehlentwicklungen verhindert werden sollen. Tatsächlich ist der Gesetzgeber oftmals jedoch nicht regelungswillig oder -fähig.5 Dagegen lässt sich einwenden, dass dann die Rechtsprechung eine einmal fehlgegangene Rechtsprechung selbst korrigieren oder zumindest präzisieren kann. Eine solche Argumentation würde übersehen, dass der Richter nicht entscheiden kann, wann ihm ein Einschreiten in zeitlicher Hinsicht wieder möglich wird.6 Es würde vom bloßen Zufall abhängen, zu welchem Zeitpunkt sich entsprechendes Fallmaterial bietet.7 So gesehen entstehen dann unbefriedigende Schwebezustände, bei denen eine Rechtslage gilt, die sowohl für den Betroffenen (Bürger, Unternehmer usw.) als auch für andere Rechtsunterworfene (Gerichte, Anwälte, sonstige Berater) zu Schwierigkeiten führt.8 Soweit man diesen Umstand anerkennt, ist der Wunsch nach Vermeidung von solchen Fehlentwicklungen beim richterlichen Entwurf einer neuen Regel verständlich. Statt Kriterien herauszuarbeiten und auszuformen, die es ermöglichen eine Fortbildung zu bewerten und so erkannte Fehler für die Zukunft zu vermeiden, begnügt man sich zugespitzt mit dem Grundsatz Trial and Error. Ein langsames oft über Jahre gehendes „Vorrantasten“9 oder wie Larenz meint, „experimentie 5 S. zur Aktienrechtsnovelle 2016 zuletzt Götze, NZG 2016, 48: „Es ist vollbracht. Nachdem der Bundesrat in seiner Sitzung am 18.12.2015 beschlossen hat, den Vermittlungsausschuss nicht anzurufen, ist die Aktienrechtsnovelle im Wesentlichen am 31.12.2015 in Kraft getreten (BGBl. I, 2565). Dass dies mit dem Attribut „2016“ geschehen ist, nachdem das Vorhaben zunächst als „Aktienrechtsnovelle 2011“ gestartet war, verdeutlicht die Zähigkeit des legislatorischen Prozesses, auch wenn es ‚nur‘ um eine punktuelle Reform des AktG ging.“; auch Mayer-Maly, JZ 1986, 557, 558 ordnet den Gesetzgeber (hier in Bezug auf das Arbeitsrecht) als „konflikt und kodifikationsscheu“ ein. 6 Auch steht er dann vor einer ähnlichen Situation wie bei der erstmaligen Entwicklung der Norm. 7 Das hat die Holzmüller-Entscheidung aus dem Jahre 1982 eindrucksvoll gezeigt. Dort hatte es seinerzeit zumindest an einer Präzisierung der darin aufgestellten Grundsätze gemangelt. Zur Entwicklung und den vielen damals unklaren Fragen im genannten Zeitraum Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015 § 119 Rn. 22 ff. 8 Neben dieser eher richterlichen Sicht, kann am Ende selbstverständlich neben dem Bürger auch die (außergerichtliche) Praxis von einer Qualitätssteigerung bei der (gesellschaftsrechtlichen) Rechtsfortbildung profitieren. 9 Schönberg, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 314 spricht von einem „tastenden Klärungsprozess“; Schöpflin, GmbHR 2003, 57; Fleischer / We­ demann, AcP 209 (2009), 597, 625 „Politik der kleinen Schritte“; Raiser, ZRP 1985, 111, 115 sieht darin sogar einen Vorteil gegenüber dem Gesetz, da es oft zu starr und endgültig und schwer änderbar sei. Bei der Rechtsprechung handele es sich dagegen um ein flexibles und leicht korrigierbares Instrument.

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rendes“ Vorgehen,10 mag am Ende der Entwicklung oftmals zu gut handhabbaren Regelungen für die Praxis führen. Es gibt auch Sachverhalte, in denen eine nicht gelungene Rechtsfortbildung lange Zeit Geltung beansprucht. Die Entwicklung der Fortbildung des Rechts läuft nach dieser Sichtweise daher zumeist wellenförmig ab.11 Sie ist durch ein Auf und Ab der Entwicklung gekennzeichnet.12 Eine solche Sichtweise sollte bemüht darum bleiben, das Ideal einer gelungenen Fortbildung anzustreben. Neben der Qualitätssteigerung hätten Kriterien einer idealen Rechtsfortbildung den Vorteil, dass sie auch als Begründung für die richterliche Derogation von Richterrecht herangezogen werden könnten.

B. Gang der Untersuchung Der Gang der Untersuchung richtet sich im Wesentlichen nach der zu Beginn aufgeworfenen Fragestellung von Larenz. Geht man in diesem Zusammenhang von der grundsätzlichen Annahme aus, dass sich die Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung trennen lassen (§ 4), werden bei der Fragestellung für diese Arbeit im wesentlichen drei Dinge relevant13: Zum einen stellt sich die Frage, wie Richterrecht auszulegen ist, da nur bei Klärung des konkreten Inhalts ein qualitatives Urteil ermöglicht wird (§§ 5 f.). Zum anderen stellt sich die Frage, wie die Kriterien zu entwickeln sind. Dabei schlägt diese Arbeit unterschiedliche Wege vor, bestehende Kriterien zu untermauern und zu präzisieren und neue Maßstäbe selbst zu entwickeln (§§ 6 ff.). Es wird dabei sichtbar werden, dass das gefundene Ergebnis zu einem nicht unerheblichen Teil von den (rechtlichen und methodischen) Einstellungen des Bewertenden abhängt. Eine praktische Anwendung der entwickelten Kriterien soll zum Abschluss anhand der sog. Delisting-Rechtsprechung des BGH erfolgen und dabei zugleich einen Beitrag in diesem Themenbereich leisten (§ 11 ff.).

C. Einordnung der Delisting-Entscheidungen Das Delisting betrifft die Beendigung der Börsenzulassung einer Aktiengesellschaft. Ein solcher Börsenrückzug hat in den letzten Jahren vermehrt die Gerichte beschäftigt. Der Börsenrückzug war vergleichsweise einfach und ohne durchweg 10

S. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 431. Zum Einfluss der Senatszusammensetzung des II. Zivilsenats für Gesellschaftsrecht und Vereinsrecht bei solchen Entwicklungen s. Weiß, Der Richter hinter dem Recht, 2014. 12 Selbst innerhalb eines (zulässigen) Spielraums bei der Entwicklung einer richterrechtlichen Regel gilt es das Optimum herauszuholen, auch wenn es innerhalb dieser „safe harbour“ keine Überprüfung durch andere Gerichte (z. B. BVerfG) gibt. Eine vertretbare Entscheidung ist eben noch keine Gute, schadet mitunter vielleicht sogar mehr, als sie am Ende nutzt. 13 Außen vor soll die Frage bleiben, ob man ökonomische Analysemethoden zur Bewertung heranziehen kann (s. grundlegend etwa Cooter / Ulen, Law and economics, 6. Aufl. 2014) oder wie inwieweit Folgeanalysen in der richterlichen „Gesetzgebung“ eine Rolle spielen (müssen). 11

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wirksame gesellschafts- oder börsenrechtliche Schutzmechanismen (wie z. B. ­einem Beschluss der Hauptversammlung) möglich. Dieser Zustand kam den Unternehmen entgegen und freute manche Mehrheitsaktionäre aufgrund der gewonnen Freiheit, vom regulierten Markt Abstand zu nehmen. Manche (Minderheits-) Aktionäre sahen hierin aber einen erheblichen Nachteil für sich. Grund war der praktische Verlust der Verkehrsfähigkeit der Aktie. Ein Aktionär vertraut auf den Bestand der Handelbarkeit, wenn er eine Aktie am regulierten Börsenmarkt erwirbt. Verlässt eine börsennotierte Gesellschaft diesen Markt wird sein Vertrauen enttäuscht. Der BGH versuchte, hiergegen Schutz- und Ausgleichsmechanismen zu entwickeln. Folgende Kernfragen wurden relevant: – Bedarf es eines Hauptversammlungsbeschlusses über den Börsenrückzug? – Bedarf es eines Pflichtangebots gegenüber den Aktionären? – Lässt sich ein solches Angebot rechtlich überprüfen? Diese Fragen beantwortete der BGH im Jahr 2002 in seiner sog. Macrotron-Entscheidung. Die darin getroffenen Regelungen und die weitere Rechtsentwicklung zum Delisting können aber nur im Zusammenhang mit der Holzmüller 14- bzw. (nach der Macrotron-Entscheidung ergangenen) Gelantine-Entscheidung15 verstanden werden. In diesen beiden Entscheidungen kommt der Wille des BGH nach einem Schutz der Aktionäre vor Geschäftsführungsmaßnahmen zum Ausdruck. So hat der BGH in der Holzmüller-Entscheidung die Gelegenheit genutzt, Stellung zu ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen zu beziehen. In dem zu entscheidenden Fall sollte ohne Zustimmung der Hauptversammlung die Ausgliederung des wertvollsten Betriebsteils auf eine zu diesem Zweck gegründete 100 %ige Tochtergesellschaft erfolgen. Bei solchen schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte und Interessen der Aktionäre, wie z. B. der Ausgliederung eines Betriebs, der den wertvollsten Teil des Gesellschaftsvermögens bildet, auf eine dazu gegründete Tochtergesellschaft, ist der Vorstand ausnahmsweise nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, gem. § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeizuführen. Es gibt eine Zuständigkeit der Hauptversammlung zum Schutz der Aktionäre über die im Gesetz ausdrücklich bestimmten Fälle hinaus. Die Holzmüller-Entscheidung wurde von der Praxis kritisch bewertet, weil im konkreten Einzelfall Unklarheit darüber herrscht, wann eine Geschäftsleitungsmaßnahme konkret der Hauptversammlung zur Zustimmung vorgelegt werden muss.16 Im Jahr 2004 (nach der Macrotron-Entscheidung!) konkretisierte der BGH in der Gelatine-Entscheidung seine Holzmüller-Grundsätze. So stützte er ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten allerdings nicht mehr auf eine analoge Anwendung von § 119 Abs. 2 AktG, sondern sieht sie als Ergebnis einer „offenen Rechtsfortbildung“ an. Ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptver 14

BGH, Urteil v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122. BGH, Urteil v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30. 16 Drinhausen, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 19. 15

§ 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung

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sammlung bei Maßnahmen, die das Gesetz dem Vorstand als Leitungsaufgabe zuweist, sind demnach nur ausnahmsweise und in engen Grenzen anzuerkennen. Sie kommen allein dann in Betracht, wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der Gesellschaft an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.17 Folglich ist nicht jede die Rechtsstellung des Aktionärs beeinträchtigende Veränderung der Hauptversammlung zur Entscheidung vorzulegen. Ist die Hauptversammlung danach ausnahmsweise zur Mitwirkung berufen, bedarf ihre Zustimmung wegen der Bedeutung für die Aktionäre einer Dreiviertel-Mehrheit. Der durch die beiden Entscheidungen geschaffene Schutzmechanismus (unge­ schriebene Hauptversammlungszuständigkeit), wurde durch den BGH in seinem Kern viele Jahre auch auf das Delisting übertragen. So bestand vor dem Jahr 2002 nach Ansicht der Rechtsprechung des BGH (Macrotron-Entscheidung) kein ef­ fektiver Schutz für den Aktionär vor dem Verlust der Handelbarkeit an einem Börsenplatz bei einem Delisting. Hiergegen wendete sich die Rechtsprechung. Die so entstandene Rechtsprechungslinie eignet sich nicht nur deswegen für die vorliegende Arbeit, weil sich zwischenzeitlich auch das BVerfG mit dem Delisting beschäftigen musste, sondern auch weil sich nach mehr als einem Jahrzehnt und einem Hin und Her der Rechtslage der Gesetzgeber genötigt gefühlte hat, in die durch den BGH zuletzt geschaffene Situation einzugreifen.18 Denn der BGH gab seine Macrotron-Entscheidung im Jahr 2013 auf (sog. Frosta-Entscheidung), wodurch die Aktionäre wieder auf das Schutzniveau vor 2002 zurückgeworfen wurden. Der Gesetzgeber ging letztendlich im Jahre 2015 mit einer Reform hiergegen vor. Kerngedanke war dabei die Schließung der durch die richterliche Derogation der Macrotronregelungen entstandene Lücke im Anlegerschutz,19 die viele Unternehmen als ein window of opportunity ansahen und die aus ihrer Sicht günstige Möglichkeit ausnutzten, dem regulierten Markt den Rücken zuzukehren. Vielleicht

17

BGH, Urteil v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (1. Leitsatz). S. dazu Drin­hausen, in: Hölters, Aktiengesetz, 2. Aufl. 2014, § 119 Rn. 20. 18 Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Anderungsrichtlinie vom 20. November 2015, BGBl I S. 2029 ff.; s. (kritisch) Bayer, NZG 2015, 1169, 1178: „Der Gesetzgeber hat mit Stichtag 7.9.2015 das Ruder herumgeworfen und den Aktionärsschutz im Falle eines Delistings / ​Downlistings wieder aktiviert. Zwar wurde der breitflächige Schutz der Macrotron-Zeit nicht wiederhergestellt und er lässt sich auch nicht durch eine Satzungsregelung rekonstruieren. Doch ist die nahezu zweijährige Phase eines abfindungsfreien Delistings nunmehr vorbei. Der zwischenzeitliche Schaden für institutionelle Anleger und Privataktionäre bleibt allerdings. Er ist auf einen hohen, möglicherweise dreistelligen Millionenbetrag zu schätzen. Frustriert zurück bleiben auch alle Aktionäre, die im Vertrauen auf den Fortbestand der Macrotron-Rechtsprechung frühere Abfindungsangebote nicht angenommen, sondern eine Überprüfung im Spruchverfahren beantragt hatten. Sie alle gehen für die Vergangenheit leer aus. Der II. Zivilsenat hätte in Frosta gut daran getan, wenigstens insoweit einen Vertrauensschutz anzuerkennen.“ 19 BT-Drs. 18/6220 S. 78 ff.

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§ 1 Ziele dieser Arbeit und Gang der Untersuchung

hätte sich – so der Leitgedanke in dieser Arbeit – ein solch häufiger Wechsel der Rechtslage, verursacht durch die Rechtsprechung, von vornherein vermeiden lassen. Im letzten Abschnitt wird es dabei, neben dem eigentlichen Bewertungsakt der Entscheidungen „Macrotron“ und „Frosta“, auch um allgemeine methodologische Rückschlüsse aus der Entscheidungsreihe gehen (§ 15 ff.).

> 2002

2002

2012

2013

2013–2015

2015

Kein effektiver Anlegerschutz

Macrotron­ recht­ sprechung

BVerfGEntscheidung

Aufgabe der Macrotron-­ Grundsätze (Frosta)

Nur BörsR Kein Anlegerschutz

Neuregelung durch den Gesetzgeber (Anlegerschutz)

Erster Teil

Das Richterrecht 1. Kapitel

Die hohe Bedeutung des Richterrechts und seine Funktionen in der Rechtsordnung In der deutschen Rechtsordnung scheint die Bedeutung von Richterrecht eigentlich als gering eingestuft werden zu müssen, da das deutsche Recht ein kodifiziertes Rechtssystem darstellt und nicht das Fallrecht als Rechtsquelle in den Mittelpunkt stellt. Die Bedeutung von Richterrecht müsste dementsprechend weit hinter dem Gesetzesrecht liegen. Diese Argumentation wird der heutigen Bedeutung des Richterrechts und seinen Eigenschaften nach überwiegend vertretener Auffassung nicht mehr gerecht,1 da sie aus einer Zeit stammt, in der man allzu große Erwartungen an die Leistungsfähigkeit einer kodifizierten Rechtsordnung stellte.2 Rüthers schreibt hierzu: „Die Bundesrepublik hat sich vom demokratischen Rechtsstaat zum „Richterstaat“ gewandelt. Große Bereiche aller Teilrechtsgebiete sind nicht mehr überwiegend durch Gesetze, sondern durch „Richterrecht“ ge­regelt. In diesen Bereichen gilt die weithin unbestrittene Tatsache: Recht ist das, was die zuständigen obersten Gerichtsinstanzen rechtskräftig für geltendes Recht erklären, – bis zur nächsten Änderung dieser Rechtsprechung“.3 Weiter wird durch F. Bydlinski 1 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 697: „Der Anteil des „Richterrechts“ an der Gesamtrechtsordnung nimmt ständig zu“; treffend Säcker, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 Einl. zum BGB Rn. 77: „Zur Erörterung steht immer nur das Maß, nicht das Ob eines Richterrechts“; s. auch Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 55 f.; Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012 S. 315 f.; Grundmann, RabelZ 1997, 423, 424. 2 So hat Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 4. Aufl. 1991 S. 461 in seiner Dissertationsschrift aus dem Jahre 1968 über das Richterrecht festgestellt, dass man sich über „den Umfang und die Tragweite richterlicher Normbildung in unserem Rechtssystem […] lange Zeit kaum bewußt [war]. Das Rechtsbewußtsein war ganz von der Kodifikationsidee bestimmt“; vgl. auch Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976 S. 7, der auch in der deutschen Rechtsordnung von einer nicht zu überschätzenden Bedeutung des Richterrechts ausgeht; Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 115 ff. 3 Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014 S. V (Vorwort), wobei fortgefahren wird: „Das gilt auch für das Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht ist zur obersten nationalen Rechtsquelle geworden. In gängigen Lehrbüchern liest man: ‚Es [lies: das BVerfG] bestimmt letztlich, was das Grundgesetz sagt‘ […]. Der Satz beschreibt die Regelungsmacht der letzten Instanzen, besonders im Verfassungsrecht. Er gilt nicht nur für das nationale Recht. Die Judikate des EuGH und des EMRG prägen in

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Teil 1: Das Richterrecht

formuliert: „Die Arbeit eines jeden Praktikers, mag er in der Justiz, in den rechtsberatenden Berufen oder etwa in der Wirtschaft tätig sein, besteht zu einem ganz erheblichen Teil darin, Präjudizien zu sichten, die auf den ihm gerade vorliegenden Fall ‚passen‘, und sie dann im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ‚anzuwenden‘.“ 4 Sind die Auswirkungen eines solchen „Richterrechts“ über die Einzelfallentscheidung hinaus wirklich so bedeutsam für den Rechtskreis wie soeben behauptet, müssen Fehler bei der Entwicklung einer richterlichen Regelung möglichst vermieden werden. Nach der grobmaschigen Klärung des Begriffs „Richterrecht“5 wird ein Überblick darüber gegeben werden, warum die Fehlervermeidung bei der Rechtsfortbildung von großer Bedeutung für unsere Rechtsordnung ist.

§ 2 Begriff des Richterrechts Die Erläuterung des Begriffs des Richterrechts ist wichtig, um verstehen zu können, warum dem Richterrecht so eine große Bedeutung zugesprochen wird. Hierbei ist auffällig, dass der Begriff z. T. als Synonym für rechtsfortbildende Entscheidungen verwendet wird.6 Die Konturen des Begriffs der Rechtsfortbildung wären dann mit denen des Begriffs Richterrecht identisch.

ähnlicher Weise die Rechtsbereiche, für welche diese Gerichte Zuständigkeit beanspruchen.“ Neben dem angeführten Zitat von Rüthers sei auch auf Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, 453 verwiesen, der feststellt, „daß die moderne Gerichtsbarkeit in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht eine maßgebliche Funktion als Gesetzgeber eingenommen hat, die sie, anders als nach liberalistischen Ideal, der Gesetzgebung näher stehen läßt als dem klassischen Gesetzesvollzug“; zur Entwicklung von „Bindungsbewusstsein und Freiheitsanspruch“ siehe auch die Darstellung bei Mayer-Maly, JZ 1986, 557 ff., der schon damals auf eine bedenkliche Entwicklungen hinweist; Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15 präzisiert dagegen, dass es sich bei Rechtsfortbildung nur um eine „funktionale Rechtssetzung“ handelt. Sie versteht darunter, die Bestimmung des abstrakten Maßstabes, unter den der konkrete Sachverhalt subsumiert wird. 4 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 502. 5 S. bereits Coing, JUS 1975, 277; dazu Gusy, DÖV 45 (1992), 461; Badura, in: Rechtsfortbildung durch die Sozialgerichtliche Rechtsprechung, 1973, 40 ff.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 S. 3; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976 S. 701; Zu den Besonderheiten bei der Strukturierenden Rechtslehre s. Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 105 ff. Dort wird ein besonderer Begriff des Richterrechts vorgeschlagen, wobei nur solche Fälle erfasst sein sollen, in denen sich der Richter über das Gesetz hinwegsetzt, ganz gleich, ob es sich um eine Fortbildung aufgrund einer fehlenden Regelung handelt oder gar eine solche gänzlich fehlt; s. auch Christensen, NJW 1989, 3194, 3197 („gesetzesfreies richterliches Handeln“). 6 Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 109; ­Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 Band V, § 100 Rn. 51; so scheinbar auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 3 Fn. 1; unklar Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 S. 616 (Stichwortverzeichnis) unter dem Begriff „Rechtsfortbildung“.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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Indes wird dieser Begriff von manchen Autoren auch nicht mit dem der Rechtsfortbildung gleichgesetzt. Zum einen nähert sich der Begriff des Richterrechts aus einer anderen Perspektive: Er setzt nicht bei dem Vorgang der Fortbildung selbst an, sondern kommt – um es mit Fikentscher zu sagen – aus einem Blickwinkel, der den Gegensatz zur rechtssetzenden Tätigkeit des Parlaments betont.7 Richterrecht ist Recht, das durch den Richter hervorgehoben oder sogar geschaffen wird.8 Vereinzelt wird Richterrecht als die Gesamtheit aller Entscheidungsnormen (Wertmaßstäbe)  umschrieben, die ohne wertenden, gebotsbildenden Akt des Richters dem Gesetz nicht entnommen werden können.9 Wesensimmanent ist dem Richterrecht also nach dieser Meinung der kreative (schöpferische) Charakter.10 Dieser tritt bei höchstrichterlichen Entscheidungen im Lückenbereich sowie bei richterlichen Abweichungen vom Gesetz auf.11 Zum Lückenbereich zählen dabei auch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe.12 Auch die Auslegung von gesetzlichen Begriffen und Vorschriften unter Heranziehung von Zwecken, welche die Gerichte selbst bestimmt haben, soll nach Ansicht einiger Stimmen noch unter den Begriff des Richterrechts fallen.13 Folgt man dieser Meinung, muss es einen,

7 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976 S. 701; s. auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 92; ähnlich auch BVerfG v. 25.01.1984 – 1 BvR 272/81, BVerfGE 66, 116, 138, wenn es formuliert: „Das, was das Gesetz offenlässt, ist durch Richterrecht auszufüllen.“ 8 Zum anderen hat das Richterrecht auch nach einigen Äußerungen in der Literatur einen weiteren Umfang als die Fortbildung. Dort finden sich im Detail aber nur wenige Beschreibungen. Einen guten Überblick gibt Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 90 ff.; als einer der ersten hat wohl Coing, JUS 1975, 277 das Richterrecht definiert als die von Gerichten in Fortbildung des geltenden Gesetzesrechts entwickelten und Entscheidungsgrundlage verwendeten Rechtssätze, wobei diese Definition aber das Problem letztlich nur auf den unklaren Begriff der „Fortbildung“ verschiebt. 9 So Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 235; ähnlich Lerche, NJW 1987, 2465, 2466: Richterrecht ist demnach das „Ergebnis methodischer richterlicher Anstrengung, die sich von sonstigen Formen methodengebundener richterlicher Aufweisung von Recht nur, aber immerhin durch einen besonders hohen Anteil an produktivem Gehalt auszeichnet“; Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. Rn. 201 spricht dagegen von einer Präzisierung, Ergänzung oder schlicht Veränderung des Gesetzesrechts. Dieser Ansatz ist daher umfassend. Wesentlich enger dagegen Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 S. 3: „Richterrecht wird hier weit verstanden und umfaßt sowohl die Analogie und die teleologische Reduktion einer Norm, als auch die Rechtsfindung praeter legem.“ 10 Ebenfalls eine Grundannahme der Strukturierenden Rechtslehre vgl. Sendler, NJW 1987, 3240; allerdings würde nach Christensen, NJW 1989, 3194, 3197 eine solche Definition fehlerhaft implizieren, dass es einen wertungsfreien Raum gebe. 11 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 235. 12 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 235. 13 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 235 und dort den Verweis auf Rn. 796 ff., wobei damit wohl deutlich gemacht werden soll, dass die Aussage sich auf die objektive Auslegungstheorie bezieht.

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Teil 1: Das Richterrecht

wenn auch kleinen Bereich der richterlichen Tätigkeit geben, in dem es einen wertungs- und gebotsbildungsfreien Raum gibt.14 Dagegen wendet sich eine andere Ansicht. Diese sieht jede richterliche Entscheidung als Richterrecht an und begründet ihr Ergebnis vor allem damit, dass auch die (gesamte) Auslegung wesentlich von richterlichen Wertungen getragen sei.15 Im Anschluss an Bydlinski und Honsell könnte daher formuliert werden: Richterrecht umfasst alle in gerichtlichen Entscheidungen ausdrücklich oder konkludent gefasste Regeln bzw. Regelsätze, die nicht bloß in der Wiederholung von generell abstrakten Vorschriften bestehen.16 Unabhängig von den unterschiedlichen Nuancen liegt in jedem Fall bei einer rechtsfortbildenden Entscheidung  – die Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sein wird – als Ergebnis des rechtsfortbildenden Vorgangs Richterrecht vor.17

§ 3 Die Frage nach der Bedeutung und Funktion des Richterrechts Für die Frage nach der Bedeutung von Richterrecht ist entscheidend, ob ihm eine rechtliche Wirkung zukommt oder ob sich seine Wirkung in einer bloßen Unverbindlichkeit erschöpft. Angesprochen ist damit der seit langem heftig geführte 14

Wenn man aber diese Ansicht konsequent fortdenkt, dann wird man zu dem Schluss gelangen, dass eigentlich auch das bloße Subsumieren einen wertenden Akt enthält (s. bereits dazu im ersten Kapitel sowie Wank, ZGR 1988, 314, 318; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 164 ff.; insb. zu Kontextabhängigkeit und Vagheit von Begriffen Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 32 ff.), da es einen eindeutigen Wortlaut nicht gibt und daher der Richter niemals ohne eigene Wertung unter eine Norm subsumieren kann. Auch wenn man die Existenz eines eindeutigen Wortlauts annimmt, wäre eine Subsumtion darunter selbst ein kreativer Akt, denn das Ergebnis wäre, dass der Wortlaut nur diese Bedeutung hat und keine andere. 15 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012 S. 300 ff.; kritisch zu einer solchen Sicht bereits Christensen, NJW 1989, 3194, 3196 f.; vgl. auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 90 f.; nach den Anhängern der Strukturierenden Rechtslehre dagegen ist Richterrecht – unter Beachtung der dortigen besonderen Terminologie innerhalb der Lehre – eine gebildete Rechtsnorm, die nicht mehr dem Normtext zugerechnet werden kann (Christensen (Fn. 33), 3197.). Es geht also um (unzulässiges) gesetzesüberschreitendes richterliches Handeln (Christensen (Fn. 33), 3197). 16 Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 218 ff.; Bydlinski / Byd­ linski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005 S. 95; Bydlinski, in: Canaris, 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000 S. 7; ähnlich auch Gretscher, Die „allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts“ und die deutsche Rechtsquellenlehre, 36.; hiergegen könnte man einwenden, dass auch die Wiederholung ein besonderer Akt des Richters ist, denn er würde dann wertend feststellen, dass das Gesetz eben nur diese eine Bedeutung hat (sofern man so etwas anerkennt möchte) und keine andere. 17 Wer dagegen wie die Strukturierende Rechtslehre die Unabgrenzbarkeit von Auslegung und Fortbildung annimmt, wird dieser Einteilung freilich nicht folgen.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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Streit um die Rechtsquelleneigenschaft von Richterrecht,18 wobei festzuhalten ist, dass mit der Bezeichnung „Richterrecht“ noch keine Einordnung getroffen ist, ob es sich wirklich um einen rechtlich verbinden Akt handelt.19

A. Zumindest faktische Bindungswirkung als formaler Grund der hohen Bedeutung I. Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts Um die Frage der Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts zu verstehen, muss man zunächst klären, was der Begriff der Rechtsquelle genau bezeichnet.20 Dabei stößt man auf das Problem, dass sich ein einheitlicher Begriff der Rechtsquelle bis heute nicht herausgebildet hat. Vielmehr wurde er in mehrere Untergruppen aufgespalten. So unterscheidet man üblicherweise Rechtserzeugungs,- Rechtswertungs- und Rechtserkenntnisquellen.21 Für die vorliegende Frage ist allein der letzte Begriff von Bedeutung.22 Er bezeichnet die Quellen, aus denen man eine Rechts­ erkenntnis ziehen kann. Dieses „Recht“ – hier verstanden als diejenigen Regeln, nach denen staatliche Gerichte ihr Entscheidungsverhalten ausrichten23 – stammt vom Verfassungs- und Gesetzgeber als primären Normsetzer.24 Dementsprechend sind die Verfassung sowie formelle und materielle Gesetze als althergebrachte

18 Dazu schon Bydlinski, JZ 1985, 149 ff., der die Frage, welche Bedeutung dem Richterrecht zukommt als die wichtigste Frage der modernen Methodenlehre bezeichnet. Daran hat sich auch nach über 30 Jahren wenig geändert haben, vgl. auch Bydlinski, Juristische Metho­ denlehre und Rechtsbegriff, 1982, 501 ff.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 236; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 571; zur allgemeinen Diskussion in der Methodenlehre auch im Hinblick auf das Richterrecht s. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 13 ff. m. w. N. 19 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15. 20 S. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 432; ausführlich Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013, Band V § 100 Rn. 1 ff.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 217; Merten, JURA 1981, 169 bzw. 237 ff.; zum Begriff der Rechtsquelle ausführlich Martens, Methodenlehre des Unionsrechts S. 127; hier muss angemerkt werden, dass die Literatur keine einheitliche Linie verfolgt. Es werden innerhalb der Rechtsquellenlehre unterschiedliche Begriffe verwendet. Zum Teil wird auch unter gleichlautenden Bezeichnungen unterschiedliches Verstanden. S. zum Thema jüngst auch Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017 S. 35 ff. 21 Ossenbühl, in: Isensee  /  K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013, Band V § 100 Rn. 1 ff. 22 Die Rechtserkenntnisquellen werden auch als Rechtsquelle i. e. S. bezeichnet. S. dazu Ehlers, in: Ehlers / Erichsen / Burgi, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 2 Rn. 6 f. 23 Diese Definition verwendet etwa Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 519; ähnlich Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 53. 24 Ossenbühl, in: Isensee  /  K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013, Band V § 100 Rn. 4.

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Teil 1: Das Richterrecht

Rechtserkenntnisquellen in geschriebener Form zu nennen. Aber auch nichtpositivierte Quellen wie das Gewohnheitsrecht werden hier gewöhnlich eingeordnet. Die Rechtsquellenlehre beantwortet nicht nur die Frage, welche Rechtserkenntnisquellen es gibt, sondern auch, welche Regeln der Richter bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat.25 Ausgangspunkt sind dabei Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG.26 Diese Normen binden die Rechtsprechung bzw. den Richter27 an „Gesetz und Recht“ bzw. nur an das „Gesetz“28. Sie bilden das „Verbindungsstück“ zwischen den (abstrakten) Rechts(erkenntnis-)quellen und dem Richter. Würde man diese Begriffe („Gesetz und Recht“) derart verstehen, dass auch das Richterrecht darunterfallen soll, so würde es sich im Ergebnis um eine juristische Rechtserkenntnisquelle handeln,29 die nach allgemeiner Meinung alle Regeln umfasst, aus denen der Rechtsstab (sprich: Richter) seine Entscheidungen ableiten muss.30 Die Betonung liegt dabei auf dem Begriff „muss“. Dieser Begriff drückt die verbindliche Wirkung als entscheidendes Merkmal aus,31 womit die Relevanz einer Fehlervermeidung bei Rechtsfortbildungen freilich noch ansteigen würde. Denn Kraft einer solchen Pflicht müsste der Adressat – insb. der Richter – sein Entscheidungsverhalten auch nach den vorangegangen fortbildenden Entscheidungen (sprich: Präjudizien) ausrichten. Aufgrund der Bedeutung dieser Frage ist ein langer Streit darum entstanden.

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Dazu Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 217; vgl. zu weiteren Funktionen Köndgen, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2014 § 6 Rn. 2 ff. 26 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 218 sprechen von der „Grundnorm der Rechtsquellenlehre“; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 520 f.; vgl. auch Detterbeck, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 § 97 Rn. 11. 27 Zum (möglichen) Grund für diese Unterscheidung s. Hilbert, JZ 2013, 130, 135. 28 A. A. Hilbert, JZ 2013, 130, 135, der in Art. 97 Abs. 1 GG nicht die bloße „Wiederholung des Bindungspostulats“ sieht. 29 Unter dem sehr weiten Begriff der soziologischen Rechtsquellen werden dagegen nach Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 519 alle Umstände verstanden, die auf das Verhalten der Rechtsgenossen, vor allem aber auf die Entscheidungen der zuständigen Stellen, des Parlaments oder der Gerichte, einwirken; ähnlich auch Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 217. Er nennt beispielhaft die rechtswissenschaftliche Literatur oder die Volksanschauung und verwendet dort auch neben dem Begriff der soziologischen Rechtsquellen, die Bezeichnung als Rechtserkenntnishilfen. 30 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 519; der Begriff der Rechtsquelle wird hier also im Sinne einer sog. Rechtserkenntnisquelle verstanden, d. h. einer autorisierten Fundstelle für geltendes Recht. Umfasst sind dabei vor allem die geltenden (geschriebenen und ungeschriebenen) Rechtssätze wie Parlamentsgesetze, aber auch das Gewohnheitsrecht. S. zum ganzen Merten, JURA 1981, 169, 169 f.; s. zu den Begrifflichkeiten auch Ehlers, in: Ehlers / Erichsen / Burgi, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010 § 2 Rn. 6. 31 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 217.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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1. Die herrschende Auffassung Überwiegend wird die Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts verneint,32 obwohl auch anerkannt wird, dass eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung eines sachlichen Grundes bedarf (Abwägung von Änderungs- und Kontinuitätsinteresse).33 Die Begründungen für diese im Grundsatz bestehende ablehnende Haltung sind verschieden:34 Zum einen soll verhindert werden, dass sich der Richter – der Konzeption des Grundgesetzes fremd – als normsetzende Instanz aufschwingt. Es ist daher notwendig, das Richterrecht nicht als Rechtsquelle zu behandeln.35 Der Gesetzgeber ist zum Erlass allgemeingültiger bindender 32 Grundlegend BVerfG v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 227: „Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Von ihnen abzuweichen, verstößt grundsätzlich nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann“, wobei aktuell auch diese Fundstelle durch das BVerfG verwendet wird (s. etwa z. B. BVerfG, 25.04.2015 – 1 BvR 2314/12, NJW 2015, 1867, 1868); aus dem öffentlichen Recht: Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014 Art. 20 Rn. 53; Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 100 Rn. 50; Rob­ bers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2018. Aufl. Art. 20 Abs. 3 Rn. 3331; Badura, in: Deutscher Sozialgerichtsverband, Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, 1973, S. 53; Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996 Kap. D Rn. 60; missverständlich Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 Art. 70 Rn. 28, der die Rechtsquelleneigenschaft bejaht, dafür aber auf das BVerfG verweist (Fn. 115), das diese Auffassung gerade nicht teilt. Sodann wird dem Richterrecht aber nur gesetzesgleiche Wirkung zugesprochene. Aus dem Zivilrecht: Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 224 ff.; Preis, in: Müller-Glöge / Preis / Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 18. Aufl. 2018 Rn. 234; Ricken, in: Richardi / W lotzke / Wißmann / Hellmut / Oetker, Münchener Anwalts-Handbuch Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2009 Band 2 § 198 Rn. 26; Altenburg, in: Altenburg / Bengelsdorf / Betz / Boewer / Burg / Christ, Münchener Anwalts-Handbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017 § 1 Rn. 26; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 429 ff.; Köhler / L ange, BGB, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2018 § 1 Rn. 11; Westermann / Bydlinski /  Weber, BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2013 Rn. 4/33; für das österreichische Recht s. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 502. 33 S. etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 65 f.; allerdings muss man sich eingestehen, dass diese „sachlichen Gründe“ z. T. sehr weit verstanden werden (s. z. B. eben bei Zippelius a. a. O.) und sie eine wirksame Begrenzung kaum bieten können wird. Nur in offensichtlichen Fällen wird man daher wohl in der Praxis der Rechtssicherheit den Vorzug geben. 34 Neben den sogleich dargelegten Aspekten werden auch die grundgesetzlich verbürgte richterliche Unabhängigkeit und die Gesetzesbindung gegen eine Bindungswirkung ins Feld geführt; s. dazu etwa Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 112 ff. 35 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014 Art. 20 Rn. 42; Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grund-

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Teil 1: Das Richterrecht

Normen durch das Grundgesetz bestimmt. Nur ihm komme die dafür notwendige demokratische Legitimation zu:36 „Die demokratische Legitimation des Richters rechtfertigt die normative Wirkung seiner Judikate nicht, auch nicht in Gestalt von Normkonkretisierungen.“37 Ein anderer Grund für diese verfassungsrechtlich ablehnende Haltung ist, dass der Richter seine Gesetzbindung selbst in der Hand hat.38 Denn er würde selbst seine eigene Bindung aufgrund des von ihm gesprochenen Richterrechts mitbestimmen. Auch wird von manchen daran gezweifelt, dass Richterrecht die einst aufgestellten Voraussetzungen einer Rechtsquelle erfüllt.39 Es fehlt dem Richterrecht die Rechtsquelleneigenschaft, weil sie nicht als Erkenntnisgrund für etwas das Recht ist fungiert.40 Weder die Einzelfallentscheidung noch die daraus generalisierten Rechtsregeln erfüllen diese Voraussetzung, denn sie stellen lediglich dar, was nach der Entscheidung als Recht gilt, ohne darüber hinaus einen Grund für ihre Geltung in sich zu tragen.41 Außerdem wird vor den Konsequenzen einer solchen Einordnung gewarnt: Richter dürfen vorrangegangene Entscheidungen nicht blind übernehmen, sondern die Korrektur- und Weiterentwicklungs­fähigkeit des Rechts muss aufrechterhalten werden, ohne dass es frühzeitig zu einem Abbruch dieses Vorgangs durch eine Bindungswirkung kommt.42 Wank bezeichnet diese Notwendigkeit als „Erstarrungsargument“. Er sieht es als essentiell an, dass die (richterliche) Flexibilität nicht zugunsten einer übertriebenen Rechtssicherheit durch eben eine solche starre Bindungswirkung aufgegeben wird.43 Neben dieser überwiegenden Meinung in der Literatur spricht sich auch das BVerfG dafür aus, dass höchstrichterliche Entscheidungen keine Rechtsquelleneigenschaft entfaltet.44 Als Begründung gibt es – auf der Linie mit gesetz, 2018. Aufl. Art. 20 Abs. 1 Rn. 2117; vgl. auch Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 236. 36 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15. 37 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15. 38 Zu diesem sich bereits aus der herrschenden Methodenlehre sowie der Strukturierenden Rechtslehre ergebenen „Paradoxon“ s. S. 52. 39 Westermann / Bydlinski / Weber, BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2013, 4/33, verweisen hier auf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 291 f.; s. dazu auch Vogel, Juristische Methodik, 1998 S. 38 ff. insb. Fn. 1, wobei dort kurz auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte bei der Definition einer Rechtsquelle eingegangen wird. 40 Westermann / Bydlinski / Weber, BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2013, 4/33. 41 Westermann / Bydlinski / Weber, BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2013, 4/33. 42 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 430 f.; dabei wird freilich übersehen, dass oftmals Präjudizien auch ohne Anerkennung der Rechtsquelleneigenschaft „blind“ übernommen werden, wie Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 504 zu Recht feststellt; Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 289: „[…] eine solche striktere Bindung an eine vorangegangene Entscheidung würde auch eine zusätzliche Pfadabhängigkeit schaffen, die nicht in das neue Bild der Rechtsprechung im Rechtssprechungsverbund passt.“ 43 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 37; s. auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 112. 44 BVerfG v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 227.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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dem Rechtsquellenargument der Literatur – an, dass höchstrichterliche Entscheidungen die Rechtslage nicht ändern, sondern lediglich aufgrund eines Erkenntnisprozesses feststellen, was für den konkreten Fall gelten soll.45 Das gilt freilich nur dort, wo eine Bindungswirkung nicht durch den Gesetzgeber angeordnet ist, wie etwa bei § 31 BVerfGG.46 2. Mindermeinung Gegen diese starke Strömung in Rechtsprechung und Literatur formiert sich in jüngerer Zeit eine stärker werdende Mindermeinung, die Richterrecht als Rechtsquelle einordnen möchte.47 Allerdings findet zum Teil eine ausdrückliche Begrenzung auf höchstrichterliche Grundsatzentscheidungen statt. Gemeint sind Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe (vgl. Art. 95 Abs. 1 GG), die offene Rechtsfragen erstmals entscheiden oder eine bisher anders entschiedene Materie neu ordnen.48 Getragen wird diese Meinung von der Einsicht, dass diese Gerichte und diese Form der Entscheidungen mehr an die Rolle des Gesetzgebers als an die Einzelfallentscheidung anknüpfen. Es lassen sich mehrere Begründungsansätze unterscheiden, wobei zwei von ihnen kurz dargelegt werden sollen:49 Zum einen lässt sich als Argument für eine Bindungswirkung Art. 3 Abs. 1 GG anführen.50 Diese Norm gebietet es nach einigen Stimmen gleiche Fälle gleich zu 45

BVerfG v. 28.09.1992 – 1 BvR 496/87, NZA 1993, 213, 214. Zu den unterschiedlichen Adressaten dieser Bindungswirkung s. Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015 Rn. 482 ff.; als weitere Normen sind z. B. zu nennen: §§ 559 Abs. 2, 563 Abs. 2 ZPO, § 358 Abs. 1 StPO, §§ 137 Abs. 2, 144 Abs. 6 VwGO, §§ 118 Abs. 2 FGO, §§ 163 SGG. 47 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 236 ff.; Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 126 ff.; so scheinbar auch Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III, 1976, 221 ff. (zu seinem Rechtsquellenbegriff s. dort auch S. 323 ff.); aus dem älteren Schrifttum Coing, JUS 1975, 277, 277 m. w. N. in Fn. 5; vgl. zu weiteren Vertretern auch Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 255 Fn. 167; differenzierend letztlich Gusy, DÖV 1992, 461, 466 ff., der aber im Grundsatz eine Bindungswirkung aufgrund von Art 3 I GG annimmt. 48 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 239; auch Raiser, ZRP 1985, 111, 115 betont die besondere Bedeutung solcher Entscheidungen und ist der Auffassung, dass sie letztlich eine gesetzesgleiche Stellung haben. Von diesem Standpunkt ist der Weg zu einer Präjudizienbindung dieser Entscheidungen nicht weit. Im Ergebnis erkennt Raiser aber die fehlende Präjudizienbindung im deutschen Recht an. 49 Überblick bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 93 f.; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 66 f., ausführlich Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, 450 ff. 50 S. dazu ausführlich mit Kritik Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 106 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 65 spricht dagegen nur von einer „gewissen Verbindlichkeit“, die der Gleichbehandlungsgrundsatz und der Grundsatz der Rechtssicherheit einfordern. Eine Bindungswirkung wird abgelehnt, wenn besondere Gründe dafür sprechen. 46

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Teil 1: Das Richterrecht

behandeln und ungleiche Fälle ungleich,51 sodass durch eine so bestehende Auslegungs- und Anwendungsgleichheit eine Bindungswirkung an vorangegangen Entscheidungen eintreten kann.52 Nach den Kritikern dieser Auffassung hat Art. 3 Abs. 1 GG indes keine derart weitgehende Bindungswirkung, weil ihm nur ein formaler, kein inhaltlicher Maßstab entnommen werden kann. Zwei vergleichbare Fälle müssten zwar nach einem gleichen Maßstab behandelt werden, jedoch muss die Judikative als ihr Kerngeschäft erst festlegen, wie dieser nach dem Gesetz auszusehen hat.53 Hierzu enthält Art. 3 Abs. 1 GG keine Vorgaben.54 Kommt das Gericht demnach zu einem anderen Ergebnis – etwa weil es ein Tatbestandsmerkmal anders auslegt – hat es eben nicht im Widerspruch zu Art. 3 Abs. 1 GG gehandelt und eine Gleichbehandlung ist nicht notwendig.55 Eine Bindung kann dementsprechend nur bestehen, wenn ein Gericht sowohl den Sachverhalt als auch den rechtlich gewählten Maßstab der vorangegangenen Entscheidung als zutreffend beurteilt. Letztlich bietet also Art. 3 Abs. 1 GG nur eine schwache Bindungswirkung.56 Auch würde eine Präjudizienbindung voraussetzen, dass einer fehlerhaft hergeleiteten Fortbildung gefolgt werden muss. Dies schreibt Art. 3 Abs. 1 GG nicht vor. Dementsprechend wird festgestellt, dass eine solche „Gleichbehandlung entlang unrichtiger Regeln“ nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG gefordert ist.57 Dagegen versucht man heute teilweise, aus den besonderen Eigenschaften des Richterrechts und einer damit einhergehenden (indirekten) Ableitung der Rechtsquelleneigenschaft eine Bindungswirkung über Art. 20 Abs. 3 GG zu erreichen.58 Zur Begründung wird einerseits auf die besondere Wirkung von Richterrecht auf die Praxis59 und anderseits auf die schon gegebene rechtliche Beurteilung durch die Gerichte und den Gesetzgeber verwiesen. So wird angeführt, dass höchstrichter 51

Gusy, DÖV 1992, 461, 467 ff., spricht insofern analog zur „Selbstbindung der Verwaltung“ von einer „Selbstbindung der Rechtsprechung“, erkennt aber Abweichungsmöglichkeiten an (S. 468). 52 Gusy, DÖV 1992, 461, 468; vgl. auch Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, 451; sowie Heun, in: Dreier, Grundgesetz Band 1, 3. Aufl. 2013 Art. 3 Rn. 42. 53 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 108. 54 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 108. 55 Auch könne nach Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 36 f. aus Art. 3 Abs. 1 GG gerade nicht geschlossen werden, dass ein Abweichen von früheren Fällen unzulässig sei. Dieser Artikel schütze „in seinem üblichen Verständnis“ nicht in zeitlicher Hinsicht vor Rechtsprechungsänderungen, eine Gleichheit in zeitlicher Hinsicht sei mithin nicht umfasst. 56 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 108. 57 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 109; so auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 65 f.: „Eine einmal gewählte Interpretation oder Lückenausfüllung, die im Spielraum des hermeneutisch Vertretbaren liegt, darf nicht ohne triftigen Grund aufgegeben werden.“ So wird etwa angenommen, dass bei Änderungen der Gerechtigkeitsauffassung und einer sich dadurch einstellenden Unbilligkeit der Entscheidung, die Anpassung der Fortbildung notwendig ist. 58 S. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 243. 59 S. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 128, der anerkennt, dass eine höchstrichterliche Entscheidung bereits quasi normativ, ganz ähnlich wie ein Gesetz wirke.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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liche Entscheidungen nachhaltig auf die nachgeordneten Gerichte und die sonstige Rechtspraxis einwirken.60 Der Gesetzgeber selbst versucht zudem durch das Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht, die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsanwendung möglichst zu gewährleisten.61 So wurde ausdrücklich geregelt, dass höchstrichterlichen Entscheidungen eine Leitbildfunktion zukomme: Im Zivilrecht kann ein Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn die Vorlage nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 132 Abs. 4 GVG).62 Damit wird – in Verbindungen mit weiteren Verfahrensregeln63  – auf rechtlichem Wege dafür gesorgt, dass Instanzgerichte möglichst wenig von einer ergangenen Rechtsprechung abweichen und die Rechtsanwendung gleichförmig verläuft.64 Im Ergebnis lässt sich so nach einer Auffassung in der Literatur feststellen, dass die Bindung an die höchstrichterliche Rechtsprechung stärker ausgeprägt ist als die Bindung an das Gesetz.65 Auch werden in bestimmten Umfang der Grundsatz des Vertrauensschutzes und die Wesentlichkeitstheorie bereits auf Richterrecht angewandt.66 Aufgrund dieser bereits gegeben Umstände im Umgang mit Richterrecht ist es nach dieser Meinung daher nicht sinnvoll, auf eine Einordnung als Rechtsquelle zu verzichten. Die Eingrenzung der herrschenden Ansicht beruht nach der Gegenansicht auf einer historisch-konventionellen Verengung auf die „herkömmlichen“ Rechtsquellen.67 Konsequenz dieser Auffassung ist, dass bestimmte Anforderungen, die an Gesetze gestellt werden, nun auch für das Richterrecht Geltung beanspruchen müssen.68 60

Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 239. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 248. 62 S. auch § 45 Abs. 4 ArbGG, § 11 Abs. 4 FGO, § 11 Abs. 4 VwGO, § 41 Abs. 4 SGG mit gleichlautenden Formulierungen. 63 Zu weiteren Verfahrensregeln s. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 246 ff. 64 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 245. 65 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 248: „Das Abweichen eines Instanzgerichts vom Gesetz ist ein Revisionsgrund, das Abweichen von der Rechtsprechung der Bundesgerichte verpflichtet das lnstanzgericht zur Vorlage oder zur Zulassung eines Rechtsmittels (Revision). Ob aber eine Abweichung vom Gesetz vorliegt oder nicht, das entscheiden verbindlich wiederum allein die Bundesgerichte. Sie können dabei irren, aber sie irren dann rechtskräftig.“ 66 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 249 ff. 67 S. ausführlich Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 Band V § 100 Rn. 1 ff. 68 S. dazu im Einzelnen Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 240 ff. Zu denken ist nach Rüthers insb. an die folgenden Grundsätze: Grundsatz der Allgemeinheit der Norm in Hinblick auf Leitsätze bzw. Tenor (s. dort auch Rn. 219), Vertrauensschutz, Rechtsicherheit (insb. auch das Bestimmtheitsgebot) und die Wesentlichkeitstheorie; zum Vertrauensschutz im Hinblick auf gerichtliche Entscheidungen trotz der nach h. M. nur faktisch-präjudiziellen Wirkung 61

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Teil 1: Das Richterrecht

3. Unstrittige hohe faktisch-präjudizielle Wirkung Unabhängig von den Differenzen zwischen beiden Meinungen wird dem Richterrecht zumindest als kleinster gemeinsamer Nenner eine sehr hohe faktischpräjudizielle Wirkung für die Praxis zuerkannt.69 Dass es solche Wirkungen geben muss, wird bereits daran deutlich, dass man dazu übergegangen ist, Gerichte als „Rechtssprechungsverbund“ zu begreifen, in dem sich die Gerichte gegenseitig auf vielfältige Weise und nicht nur durch die Vorgaben der obersten Gerichtshöfe beeinflussen.70 Die Entscheidungen sind nach neueren Untersuchungen ein eigenes Text- und Kommunikationsformat71 der Gerichte, dass vor allem auch untereinander Wirkung entfaltet. So sind etwa (höchstrichterliche) Entscheidungen Gegenstand der Interpretationen und Anschlusskommunikation anderer Gerichte.72 Diese Kommunikationsstrukturen werden zumindest die faktische Präjudizienbindung befördern. Neben diesen Gesichtspunkt muss auch das Überzeugungsmoment von höchstrichterlichen Entscheidungen beachtet werden. Ihnen wird vor allem deswegen gefolgt, weil die in ihnen geäußerten Argumente überzeugen.73 „Verbindlichkeit“ entfalten also genau genommen die Argumente für eine bestimmte Entscheidung (argumentative Verbindlichkeit von Präjudizien).74 Auch andere Gründe, die ökonomischer, psychologischer und organisatorischer Natur sind, spielen eine Rolle:75 Der Zeitmangel der Instanzrichter und einer mit Präjudizien verbundenen Arbeitserleichterung durch eine Arbeitsteilung im Instanzenzug spielen eine Rolle. Auch die Angst vor einer Aufhebung in der höheren Instanz sowie anderen Ursachen, die ihren Ursprung innerhalb der hierarchisch

s. aber Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommen­ tar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII. Rn. 101 ff.; zum Bestimmheitsgebot und gerichtlichen Entscheidungen s. Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 Art. 20 Rn. 130 sowie Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII. Rn. 68. 69 Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 Art. 70 Rn. 28 („gesetzesgleiche Wirkung“); Westermann / Bydlinski / Weber, BGB-Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2013, 4/32 („erhebliche praktische Bindungswirkung des Präjudizienrechts“); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 429 ff. („kaum zu überschätzende Rolle“); vgl. auch Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 244 und Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 92 f. 70 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 287 ff. 71 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 259 ff., 266 ff. 72 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 286 f. 73 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 503; Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 319. 74 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 93 spricht dementsprechend von einer argumentativen Verbindlichkeit von Präjudizien. 75 Im Einzelnen Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 319.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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organisierten Gerichtsbarkeiten haben sind relevant. Dementsprechend weichen die Gerichte nur in ganz seltenen Fällen von Präjudizien ab.76 4. Bewertung In der Gesamtschau kann man festhalten, dass der Umgang mit dem Richterrecht im deutschen Rechtssystem eine besondere Form angenommen hat.77 Einerseits will man dem Richterrecht die Einordnung als Rechtsquelle versagen, anderseits behandelt man das Richterrecht – wie Rüthers zu Recht einwendet – in der Konsequenz in weiten Teilen bereits wie eine (praktische) Rechtsquelle. In Wahrheit wird dem Richterrecht damit überwiegend eine „Zwitterstellung“ zwischen den klassischen Rechtserkenntnisquellen und den sonstigen Erkenntnismöglichkeiten ohne Rechtsquelleneigenschaft eingeräumt. Will man dem Richterrecht freilich – wie die Mindermeinung – eine Rechtsquelleneigenschaft einräumen, sollte man eine Eingrenzung auf höchstrichterliche Entscheidungen von besonderer Tragweite vornehmen. Ansonsten müsste unter Zugrundelegung des oben dargestellten Streits um den Umfang des Richterrechts schon aufgrund der unklaren Konturen und einer damit einhergehenden Rechtsunsicherheit eine Rechtsquelleneigenschaft verneint werden.78 Der Streit kann an dieser Stelle unentschieden bleiben, denn es dürfte deutlich geworden sein, dass zumindest die rechtstatsächliche Bedeutung von Richterrecht enorm ist. Dementsprechend ist es unabhängig von der Meinung, der man folgen möchte, wichtig, bei Fortbildungen Fehler zu vermeiden. II. Verhältnis zum Gewohnheitsrecht Dahinstehen kann der Streit über die Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts auch, soweit sich dieses als sog. Gewohnheitsrecht manifestiert hat. Das Gewohnheitsrecht umfasst die im Rechtsleben tatsächlich wirksamen Rechtssätze, deren Geltung nicht durch einen Akt der in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Gesetzgebungsinstanz, sondern durch das gleichmäßige Verhalten der Menschen im Rechtsverkehr und unter der dabei mitwirkenden Überzeugung zustande gekommen ist, dass die zugrunde gelegte Maxime rechtlich bindend sei.79 Oftmals 76

S. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 429; Rüthers / Fi­ scher / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 244; s. auch Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004 S. 92 m. w. N. 77 S. dazu Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 316 ff. 78 S. dazu ausführlich Bydlinski, in: Canaris, 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000 S. 3 ff. 79 Bydlinski / Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005 S. 101; mit etwas abw. Formulierung Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 176 f.; BVerfG, Beschluss v. 28.6.1967 – 2 BvR 143/61, BVerfGE 22, 114, 121, NJW 1967, 2051. Für die Abgrenzung zum bloßen „Sittengesetz“ s. Hübner, Allgemeiner Teil des Bürger-

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Teil 1: Das Richterrecht

wird die Voraussetzung nicht deutlich hervorgehoben, dass die „rechtlich bindende Maxime“ auch in einem hinreichend bestimmten Rechtssatz formulierbar sein muss („Subsumtionstauglichkeit“).80 Anderenfalls wäre eine Bindungswirkung nicht möglich. Folge von entstandenen Gewohnheitsrecht ist, dass es sich dann um eine eigenständige Rechtsquelle handelt.81 Gewohnheitsrecht und Richterrecht sind dementsprechend nach überwiegender Meinung schon deshalb nicht gleichzu­ setzen.82 Dennoch haben sie eine Verknüpfung: Oftmals entsteht Gewohnheitsrecht nur, wenn sich über einen längeren Gerichtsgebrauch („Richterrecht“) eine all­ gemeine Rechtsüberzeugung erst herausgebildet hat.83 Das Gewohnheitsrecht spielt im Gesellschaftsrecht eine weitaus geringere Rolle als beispielsweise im Handelsrecht84, trotz alledem zeigt sich bei genauerem Hinsehen eine nicht zu missachtende Zahl an bedeutenden Ausprägungen. Unstrittig fällt unter das Gewohn­heitsrecht die analoge Anwendbarkeit von § 31 BGB bei den Personenhandelsgesellschaften.85 Im GmbH-Recht wäre der Abfindungsanspruch nach § 738 Abs.1 S. 2 BGB analog zu nennen, der etwa bei der Einziehung von Geschäftsanteilen entsteht. Hier ist nach einigen Stimmen die Rechtsfortbildung zum Gewohnheitsrecht erstarkt.86 Umstritten ist, ob ein Institut, das zumindest in seinem „Kernbestand“87 gesichert ist, gewohnheitsrechtlich anerkannt werden sollte oder ob aufgrund der

lichen Gesetzbuches, 2. Aufl. 1995 Rn. 37; zur Abgrenzung zum sog. „Richtergewohnheitsrecht“ s. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 128. 80 Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 100 Rn. 57 m.w.N; nicht hervorgehoben z. B. bei Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 554 oder Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 232. 81 S. nur Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 232; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 554. 82 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 238. 83 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 233. 84 K.  Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002 S. 32; s. aber auch BGH, Beschluss v. 19.9.2005 – II ZB 11/04, NZG 2006, 15, bei dem die Richter ausdrücklich das gewohnheitsrechtliche Institut der Abfindungsversicherung bei der Sonderrechtsnachfolge in einen Kommanditanteil bestätigen; kritisch Grunewald, in: K. Schmidt, Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 4. Aufl. 2016 § 162 Rn. 16. 85 Reuter, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 § 31 Rn. 15; s. dort auch zur Lage bei anderen Gesellschaftsformen; Neu­ bauer / Herchen, in: Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1, 4. Aufl. 2014 § 67 Rn. 20. 86 Strohn, in: Fleischer / Goette, Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung-GmbHG, 3. Aufl. 2018 § 34 Rn. 205, dort auch zu weiteren Fällen der Entstehung eines Abfindungsanspruchs. Zweifelnd aber Sosnitza, in: Michalski, Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 3. Aufl. 2017 § 34 Rn. 46. 87 So ausdrücklich Ulmer / Schäfer, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 6, 6. Aufl. 2017 § 705 Rn. 323 m. w. N., der aber trotzdem darauf hinweist, dass Einzelheiten weiter strittig sind.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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strittigen Dogmatik88 eine Anerkennung dem Grunde nach ausscheidet89 und eine bloße „Geltung“ kraft höchstrichterlicher Rechtsfortbildung90 gegeben ist. Das betrifft z. B. die Fälle wie die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft oder die actio pro socio. Letztere wird vereinzelt als gewohnheitsrechtliches Institut anerkannt.91 Andere verneinen die Geltung aufgrund der umstrittenen Details.92 Ulmer / Schäfer93 meinen, dass der Streit um Details einer Anerkennung als Gewohnheitsrecht nicht entgegensteht, denn die Gegenmeinung übersehe, dass „die grds. Anerkennung der actio pro socio allgemeiner Rechtsüberzeugung und tatsächlicher Übung entspricht“. Dem halten etwa Bork / Oepen entgegen, dass es nicht auf den dogmatischen Streit, sondern auf die strittigen Details ankomme.94 Gewohnheitsrecht kann folglich nicht entstehen. Als Begründung wird angeführt, dass die Formulierung des vorhandenen Konsenses keinen Rechtssatz von ausreichender Bestimmtheit ergeben würde: „Solange zwischen Rechtsprechung und Literatur nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob es sich überhaupt um einen Fall der Prozeßstandschaft handelt, wird man daher kaum von einer gewohnheitsrechtlich legitimierten und damit gesetzlichen Prozeßstandschaft ausgehen können.“95 Ähnlich dürfte der Streit auch bei der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht aussehen.96 Dort wird zumindest von einem Autor ausdrücklich eingeräumt, dass nur der Kernbestand anerkannt ist.97 Ohne auf die Probleme näher einzugehen, kann man daraus ableiten, dass das Gewohnheitsrechts jedenfalls dann Rechtsunsicherheit mit sich bringt, wenn man die Anforderung an die Entstehung in der Form absenkt, dass ein gewisser Grundkonsens ausreichend ist. Die Geltung als Gewohnheits 88

Dazu Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002 S. 137 ff. Gegen eine gewohnheitsrechtliche Einordnung etwa Harbarth, in: Habersack / Schäfer, Handelsgesetzbuch, 5. Aufl. 2015 § 230 Rn. 177, mit dem (gleichen, s. Fn. 19) Hinweis auf die seit Jahren kontroverse Diskussion; und BGH v. 18.06.1990 – II ZR 132/89, BB 1990, 1997, 1998, s. dort aber auch die zumindest die Rechtsprechung relativierende Fn. 418. 90 So schon Ulmer, in: Canaris / Staub, Handelsgesetzbuch, 4. Aufl. 1988 (Stand: 01.07.1988) § 105 Rn. 329 und insb. Fn. 666, bei der die Geltung kraft höchstrichterlicher Rechtsprechung vertreten wird. Unklar ist, ob damit der Rechtsfortbildung Rechtsquelleneigenschaft zugesprochen wird. 91 Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1, 4. Aufl. 2014 § 1 Rn. 52; Ulmer / Schäfer, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 6, 6. Aufl. 2017 § 705 Rn. 209. 92 Ausdrücklich Bork / Oepen ZGR 2001, 515, 526; s. auch Altmeppen, in: Heinrich, Festschrift für Hans-Joachim Musielak zum 70. Geburtstag, 2004, S. 10 f., 14 f. 93 Ulmer / Schäfer, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 6, 6. Aufl. 2017 § 705 Rn. 209 und dort Fn. 583. 94 Bork / Oepen, ZGR 2001, 515, 526. 95 Bork / Oepen, ZGR 2001, 515, 526. 96 Für eine Anerkennung Weipert, in: Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1, 4. Aufl. 2014 § 6 Rn. 33; Michalski, NZG 1998, 460; Lutter, ZHR 162 (1998), 164, 166; s. bereits Stimpel, in: Krüger-Nieland, 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975 S. 19. 97 Nach Schäfer, in: Habersack / Schäfer, Handelsgesetzbuch, 5. Aufl. 2015 § 105 Rn. 228, handelt es sich um: „eine auf Richterrecht beruhenden Generalklausel, die hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Geltung, wenn auch nicht hinsichtlich ihrer Einzelausprägungen, den Rang von Gewohnheitsrecht erlangt haben dürfte.“ 89

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Teil 1: Das Richterrecht

recht lässt sich dann nicht mit Bestimmtheit überprüfen, da es keine verbindliche Anordnung gibt, inwieweit das Gewohnheitsrecht in seiner Ausformung gefestigt sein muss. Obwohl die richterliche Anerkennung keine Entstehungsvoraussetzung für das Gewohnheitsrecht ist, dürfte es in der Praxis nur vorkommen, wenn eine Anerkennung durch die Rechtsprechung erfolgt ist.98 Diese Fragen sind nicht nur theoretischer Natur. Die Rechtsquelleneigenschaft in Form des Gewohnheitsrechts hat – wie oben bereits dargelegt – für den Richter eine strikte Bindung99 aufgrund der Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG100 zur Folge. Diese Bindung zieht ein Anwendungsgebot und Abweichungsverbot101 nach sich, das bei Missachtung zu einem Rechtsbruch und zu einer Rechtsfortbildung contra legem führen würde.102 Eine richterliche Derogation von Gewohnheitsrecht ist daher nicht möglich.103 Damit sich die Gerichte ihre Flexibilität bewahren104, sollte man daher ein Erstarken von Entscheidungen zum Gewohnheitsrecht als Ausnahme ansehen und hohe Maßstäbe an die Entstehung anlegen. Für die hier anvisierte Vermeidung von Fehlentwicklung bei der Schaffung und Konkretisierung von Richterrecht bleibt aus praktischer Sicht festzuhalten, dass trotz seiner Rechtsquelleneigenschaft, das zu Gewohnheitsrecht erstarkte Richterrecht regelmäßig nicht auf Fehler zu untersuchen sein wird. Durch die lange Übung als Voraussetzung für die Erstarkung zu Gewohnheitsrechts hat sich die Norm in der Regel in der Praxis bewährt. Fehler wurden korrigiert. Anderes kann gelten, wenn das Gewohnheitsrecht nur in seinen „Kernbestand“ wie bei der actio pro socio gesichert ist. Sind Randbereiche strittig, kann noch die Stufe des Richterrechts vorliegen. Dann bietet sich eine Untersuchung an. 98

Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 557; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 235. 99 Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 25; Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010 S. 75 spricht von einer „absoluten Bindung“. 100 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 Art. 20 Rn. 106 ordnet das Gewohnheitsrecht beim „Recht“ und nicht beim „Gesetz“ ein; zum Streit ausführlich Herzog, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) § 20 VI. Rn. 65. 101 Schulze-Fielitz, in: Dreier / Wittreck, Grundgesetz, 9. Aufl. 2014 Art. 20 Rn. 83; s. auch Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 Art. 20 Rn. 119; sowie Medicus, NJW 1995, 2577, 2582: „Doch kann sich diese wohl allgemein geübte Zurückhaltung gegenüber der Annahme von Gewohnheitsrecht auf gute Gründe stützen. Der wichtigste ist: Hat man einmal Gewohnheitsrecht bejaht, so bedeutet jede Abweichung davon einen Rechtsbruch. Diese Bejahung perpetuiert also die alte Rechtslage, statt nur rückwirkende Abweichungen zu verhindern. Damit wird einer (wirklich oder vermeintlich) besseren Rechtserkenntnis auf Dauer die Durchsetzung verwehrt. Daß sich Gerichte dazu nicht leicht bereitfinden, ist verständlich und verdient Billigung.“ 102 So auch Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, 2001 S. 337. 103 A. A. aber Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 37, der ein Abweichen vom Gewohnheitsrecht unter gewichtigen Gründen bejaht. 104 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 S. 115 f.; vgl. auch Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, 2001 S. 337 m. w. N.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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B. Die richterliche Gestaltungsaufgabe Vermittelt die faktische Bindungswirkung des Richterrechts auch den wesentlichen formalen Grund für die hohe Bedeutung des Richterrechts, so erschöpft sich die Beschreibung darin nicht. Denn das Richterrecht erfüllt auch wesentliche materielle und funktionelle Aufgaben in unserer Rechtsordnung. Der Gesetzgeber sieht es als notwendig an, dem Richter in einem begrenzten Maße richterliche Gestaltungsmacht105 zu übertragen. So haben oberste Gerichtshöfe neben der Einzelfallentscheidung und der Aufgabe zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung (Rechtseinheit)106 auch den ausdrücklichen Auftrag, das Rechts fortzubilden (s. etwa §§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO [Revisionszulassungsgrund], § 132 Abs. 4 GVG),107 wobei beides regelmäßig ein fallübergreifendes Tätigwerden bedingt.108 In diesen Normen kommt der Auftrag zur Rechtsfortbildung und damit der Gestaltungsauftrag des Richters unter dem Grundgesetz109 besonders zum Ausdruck. Was Rechtsfortbildung meint und welchem Ziel sie dienen soll, lassen diese Normen offen. In der Literatur wird es als Hauptfunktion der Rechtfortbildung angesehen, das Recht dem Wandel und dem Fortschritt der Verhältnisse anzupassen.110 Die „Rechtsanpassungsfunktion“ meint dabei vorwiegend die Lückenschließung. Wie sogleich sichtbar wird, umschreibt diese Funktion das Ziel der Rechtsfortbildung nicht abschließend.

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Zimmermann, in: Krüger / Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2017 Band 3, § 132 Rn. 21; Haberland, in: Prütting / Gehrlein / Prütting-Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015 Rn. 10; Krüger, in: Krüger / Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2016a, Band 2, § 543 Rn. 11. 106 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 17 ff. 107 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 13 ff.; weiter zu nennen sind §§ 45 Abs. 4 ArbGG, 11 Abs. 4 VwGO, 11 Abs. 4 FGO, 41 Abs. 4 SGG; zur bisher nicht vorgenommen klaren Trennung zwischen diesen beiden Aufträgen und dem Problem der Auslegung des Merkmals „Fortbildung des Rechts“ s. Prütting, in: Schütze / Wieczorek, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, 4. Aufl. 2014 (Band 7) Rn. 21 ff. 108 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 269. 109 Zum früheren (nationalsozialistischen) Normzweck etwa von § 132 Abs. 4 GVG s. Zim­ mermann, in: Krüger / Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2017 Band 3 § 132 Rn. 21. 110 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999 Rn. 454a; ähnlich Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 67; a. A. Muthorst, Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2011 § 8 Rn. 3, der meint, Ziel der Rechtsfortbildung sei es, Lücken zu schließen und Gesetze zu korrigieren. Letztlich sind das aber nur die Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen.

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Teil 1: Das Richterrecht

I. Rechtsanpassung und -ergänzung 1. Die Lückenproblematik Die bereits beschriebene „Kodifikationsidee“111 hat in den letzten Jahrzehnten zwar nicht an Bedeutung verloren, man ist sich aber innerhalb der klassischen Auffassungen ihrer Grenzen besonders bewusst geworden:112 Unstrittig kann das Gesetz lückenhaft sein.113 Gesetze sind für die Zukunft gemacht und diese ist bekanntlich offen und kann nicht vorhergesagt werden.114 Aber auch bei der Entstehung eines Gesetzes können bereits aktuell gewordene regelungsbedürftige Fälle übersehen worden sein, ohne dass sich die Sachlage nachträglich geändert hat. Wie weit diese Lückenhaftigkeit insgesamt reicht, ist selbstverständlich nicht feststellbar. Sie hängt vor allem von den auftretenden ungewissen Fallgestaltungen ab. Dennoch wird mittlerweile angenommen, dass sie den Regelfall und nicht die Ausnahme bildet.115 Mag dieser Befund auch dadurch mit beeinflusst sein, dass der Jurist eben besonders oft mit den nicht geregelten atypischen Fällen zu tun hat und die Lückenhaftigkeit daher besonders sichtbar wird („berufseigentümliche Wirklichkeitsverzerrung“116), so lässt sich kaum bestreiten, dass wesentliche Teile aller Rechtsgebiete von Rechtsfortbildungen durchzogen sind. Diese belegen dann zumindest, dass unsere Rechtsordnung in nicht unwesentlichen Teilen lückenhaft ist. Dieser Befund steht von sich aus in einem besonderen Spannungsverhältnis zur Kodifikationsidee. Der Konflikt wird noch verschärft, wenn man anerkennt, dass der Gesetzgeber in einer modernen und schnell wandelbaren Gesellschaft einer zunehmenden Überforderung ausgesetzt ist.117 Der Gesetzgeber kann oder 111 S. dazu K. Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985; zur illusorischen Vorstellung einer umfassenden Kodifikation s. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 163 bzw. 822. 112 S. dazu Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 259 f.; Wahl, in: Schoch / Schneider / Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, 2015 Aufl. 2015: „Auch in einer Rechtsordnung, die sich nach ihrem Selbstverständnis so sehr auf den Kodifikations­ gedanken stützt, gibt es daher einen bedeutsamen Anwendungsbereich des Richterrechts“; zu den Einzelnen Schwächen ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 119 ff.; s. auch Raiser, ZRP 1985, 111, 114. 113 Zutreffend verweist Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996 Kap. D Rn. 60 darauf, dass eine lückenlose Rechtsordnung durch das Gesetz gar nicht vorstellbar ist. 114 Zur mangelnden Vorhersehbarkeit des Gesetzgeber s. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 119 ff. 115 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 822; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 109 („sehr häufig“); a. A. scheinbar Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011 Rn. 453. 116 So Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 121. 117 Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997 S. 87: „Hinzu kommt, daß die immer komplexer werdenden Lebenssachverhalte im modernen Sozial- und Industriestaat einen […] neuartigen Regelungsbedarf nach sich ziehen, der mit dem herkömmlichen Apparat des Gesetzesrechtes allein kaum mehr annähernd befriedigt werden kann.“ S. dort auch die weiteren Nachweise in Fn. 507.

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will118 oft nicht so zügig auf geänderte Sachlagen reagieren, wie man es aus Sicht eines Rechtsanwenders erhoffen würde.119 So wird angenommen, dass das enorme Normierungsbedürfnis nur mit einer Arbeitsteilung zu bewältigen ist.120 Die dauernde Anpassung und Änderung von Gesetzen wäre zudem der Rechtssicherheit abträglich, denn solche Normen sind eben auf Dauer angelegt und zeichnen sich durch eine besondere Beständigkeit aus.121 Die Ursachen dieser Schwäche des Rechtssystems liegen – neben diesem Aspekt der Rechtssicherheit – nicht nur in der beschränkten Leistungsfähigkeit des Gesetzgebers begründet,122 sondern auch in den Grenzen der Leistungsfähigkeit der Sprache.123 2. Lösung durch richterliche Kompetenzerweiterung auf Fortbildungsfragen Das Richterrecht (i. e. S.) hat sich in den Jahrzehnten in weiten Teilen als Mittel zum Ausgleich der beschriebenen Schwächen eines kodifizierten Rechtsystems bewährt124 und seine Zulässigkeit wird heute kaum mehr bestritten.125 In vielen dieser soeben beispielhaft erwähnten Fälle einer Lücke im Gesetz – gleich ob es sich um eine anfängliche oder nachträgliche Lücke handelt126 – werden regelmäßig wenige Richter gemeinsam tätig, um aus ihrer Sicht erkannte Missstände127 zu beseitigen. Letztlich wird so (zumindest in der modellhaften Vorstellung) ein flexibles Normierungssystem128 geschaffen, dass sich zwischen grundsätzlich zuständigen Gesetzgeber und der ausnahmsweise zuständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung aufteilt.129 Sofern sich entsprechendes Fallmaterial bietet, kann der 118

Rüthers, JZ 2002, 365, nennt als regelungsunwilligen Bereich exemplarisch das Arbeitsrecht. 119 S. zum Problem der Anpassungsfähigkeit von Gesetzen Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 122 ff. 120 Ossenbühl, in: Isensee  /  K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 100 Rn. 47. 121 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 122. Letztlich muss der Gesetzgeber (ähnlich wie die Obergerichte bei der Änderung ihrer Rechtsprechung) in eine Abwägung zwischen Kontinuitäts- und Rechtssicherheitsinteresse eintreten. 122 S. zu den Schwächen ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 119 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 366; Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 119 ff., dort auch zur Notwendigkeit der Rechtsfortbildung. 123 S. dazu unten im sprachphilosophischen Teil; sowie in Bezug auf die Abstraktheit von Gesetzen Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 119 f. bzw. 128 ff. 124 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 122. 125 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 370. S. aber auch die sehr wohl noch existierenden kritischen Stimmen, wie etwa: Hillgruber, JZ 1996, 118 ff. 126 Zum Begriff s. S. 101 ff. 127 Dabei kommt dem Lückenbegriff freilich eine überragende (legitimatorische) Rolle zu. 128 I.d.S. auch Raiser, ZRP 1985, 111, 115. 129 Gegen die Ansicht, dass Gerichte und Gesetzgeber gleichrangig Normen erlassen sollten Mayer-Maly, JZ 1986, 557, 560 f. (dort auch zur Gegenansicht).

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Teil 1: Das Richterrecht

Richter dann die auftretenden einzelnen Sachprobleme dort lösen, wo sie auftauchen. Letztendlich dient solches „lückenschließendes Richterrecht (i. e. S.)“ damit der Verwirklichung des Individualrechtschutzes130 sowie – wie für die Fortbildung charakteristisch – auch den Allgemeininteressen,131 etwa wenn bestimmte als Missstände erkannte Zustände beseitigt werden. Letztlich steigt dadurch die Bedeutung des Richterrechts (i. e. S.) automatisch an. Denn richterliche Entscheidungen beantworten hier vorrangig die Frage des Rechtssuchenden und nicht das Gesetz, mag es auch der Ursprung der Antwort sein.132 So wird man etwa im Aktienrecht den unverschuldeten Rechtsirrtum der Geschäftsleitung nicht normiert finden, sondern auf die Entscheidungen des BGH abstellen müssen.133 Dieser hat entschieden, dass sich ein Geschäftsleiter bei mangelnder eigener Sachkunde beraten lassen muss und dabei bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Verschuldensentlastung eintreten kann.134 Hintergrund war, dass im modernen Wirtschaftsleben eine notwendige Arbeitsteilung mit einer Haftungsentlastung einhergehen muss. Insbesondere weil sich die Geschäftsleitung oft schwierigen Fragestellungen ausgesetzt sieht. Niemand wird in diesem Zusammenhang bestreiten wollen, dass dieser vom BGH vorgenommenen Entscheidung keine über den Einzelfall 130

Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 12. 131 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 15. 132 Zu dieser Ausgleichsfunktion des Richterrechts s. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 122 bzw. 126 ff.. 133 BGH, Urteil v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, NJW 2007, 2118; BGH, Beschluss v. 16.7.2007 – II ZR 226/06, DStR 2007, 1641; BGH, Urteil v. 27. 3. 2012 – II ZR 171/10, NZG 2012, 672; ausführlich dazu Fleischer, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015 § 91 Rn. 209 bzw. ders., in: Fleischer / Goette, Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung-GmbHG, 3. Aufl. 2018 § 43 Rn. 259 jeweils mit m. w. N.; zusammenfassend auch Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018 § 93 Rn. 43 ff.; Gegenkonzepte bzgl. der Verortung auf der Verschuldensebene s. Wackerbarth, EWiR 2012, 457 (Rechtsirrtum der Geschäftsleitung verursacht durch Berater grds. unbeachtlich); Sander / Schneider, ZGR 2013, 725 ff. (Pflichtverletzung entfällt); Merkt / Mylich, NZG 2012, 525, 525, 529 (bei gebundenen Entscheidungen kann es am Verschulden, bei unternehmerischen Entscheidungen [vgl. § 93 Abs. 1 S. 2] an der Pflichtverletzung fehlen); Binder, ZGR 2012, 757, 767 (Anwendbarkeit § 278 BGB); s. zum ganzen auch EuGH, Urteil v. 18.6.2013 – C-681/11, EuZW 2013, 624. 134 BGH, Urteil v. 14.5.2007  – II ZR 48/06, NJW 2007, 2118, 2120. Dass es sich hier in Wahrheit um eine zumindest starke Anlehnung – wenn nicht sogar Übertragung – der Grundgedanken der Lehre vom unverschuldeten Rechtsirrtum aus dem allgemeinen Zivilrecht geht, legt der BGH jedoch nicht offen. Dort nimmt die Rechtsprechung mittlerweile seit Langem an, dass ein unverschuldeter Rechtsirrtum das Verschulden entfallen lassen kann, s. Ernst, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 2, 7. Aufl. 2016 § 286 Rn. 111 auch m. w. N. aus der Rechtsprechung seit den 50er Jahren. S. zum unverschuldeten Rechtsirrtum im allgemeinen Zivilrecht auch Unberath, in: Bamberger / Roth, Beck’scher Online-Kommentar BGB, 43. Aufl. Stand: 01.08.2018, § 276 Rn. 30 bzw. § 286 56 ff.; ­Stadler, in: Stürner, Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2015 § 276 Rn. 30; Grundmann, in: ­Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 2, 7. Aufl. 2016 § 276 Rn. 73 ff.

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hinausgehende Bedeutung zukommt. Nicht nur der hierarchisch nachgeordnete Richter wird sich bei seiner Entscheidung – auch ohne geltende Präjudizienbindung – an solchen aufgestellten Regeln orientieren.135 Auch Anwälte und sonstige Berater sind betroffen.136 Dafür sorgen schon allein mögliche Haftungsgefahren bei Nichtbeachtung.137 Die Berufung auf höchstrichterliche Entscheidungen ist eben neben dem Gesetzesrecht bei der Fortbildung die wichtigste Richtschnur in der Praxis.138 Rechtsanpassung und -ergänzung ist als Fazit eine wichtige Funktion von Richterrecht (i. e. S.). II. Umsetzung des Gesetzgeberwillens Die Rechtsanpassung und -ergänzung in Form der Rechtsfortbildung dient regelmäßig auch der Verwirklichung des (ggf. mutmaßlichen) Gesetzgeberwillens. Das betrifft regelmäßig Fälle, bei denen der Wille des Gesetzgebers in einer Regelung gar nicht oder nur unvollständig zum Ausdruck kommt und zur Geltung gebracht werden muss.139 Hilft hier der Wortlaut bei der Auslegung nicht weiter und wird die sog. Wortlautgrenze zugunsten des dahinterstehenden gesetzgeberischen Normzwecks überschritten, so müsste man auf der Grundlage der herrschenden Meinung zur Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung konsequenterweise eine Fortbildung annehmen. Umfasst wären von der Fortbildung daher auch bloße Formulierungs- und Redaktionsversehen, denn sie überschreiten diese Grenze.140 Sieht man dagegen den Willen des Gesetzgebers als maßgebliche Grenze zwischen Auslegung und Fortbildung an, wären in diesen Fällen – sofern sich mittels historischer Auslegung ein Wille ermitteln lässt – ein Fall der Auslegung gegeben. Der Wortlaut tritt dahinter zurück.

135 Zur möglichen Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts und der Präjudizienbindung s. unten. 136 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 502. 137 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 316 auch m. w. N. 138 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 315 f. 139 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 867 bzw. 886 mit Hinweis auf Philipp Heck’s Aussage zum „denkenden Gehorsam“ des Richters; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 58 (Fortbildung praeter legem); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 370 ff., insb. 372 f. (gesesetzesimmanente Fortbildung) geht entsprechend seiner eher objektiven Auslegungstheorie davon aus, dass das Gesetz hier zumindest auch im Sinne der durch die Regelung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Intention (historische Auslegung), aber auch der Telelologie des Gesetzes (teleologische Auslegung) fortgebildet werden muss; s. zum Ganzen auch die unten (S. 56 ff.) zu besprechenden neueren Entscheidung des BVerfG, in denen deutlich wird, dass bei der Rechtsfortbildung dem Willen des Gesetzgebers eine entscheidende Funktion zukommt. 140 A. A. auf Grundlage der subjektiven Auslegungstheorie Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 950.

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Teil 1: Das Richterrecht

III. Gerechtigkeitschaffung Eine andere wesentliche Funktion von Richterrecht (i. e. S.) wird insb. von der Rechtsprechung141 darin gesehen, dass eine Fortbildung zur Verwirklichung von Gerechtigkeit und Billigkeit dient.142 Diese Auffassung ist indes problematisch: denn Gerechtigkeit und Billigkeit bilden keinen feststehenden und damit entscheidungstauglichen Maßstab, sondern das Ziel des Rechts.143 Sie eröffnen im Gegenteil die Möglichkeit zu richterlicher Beliebigkeit. Es kann also – von seltenen Ausnahmen abgesehen144 – nie um ein persönliches oder gesellschaftliches Gerechtigkeitsempfinden gehen.145 Sofern damit allerdings vom Gesetz- oder Verfassungsgeber geschaffene Normen und dort zum Ausdruck kommende Gerechtigkeitsaspekte (z. B. Art. 3 GG) gemeint sind, wird man dieser Ansicht zustimmen. Eine andere Sicht würde sich auch nicht mit der Gesetzesbindung des Richters in Einklang bringen lassen (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG). Allerdings wird das Auffinden solcher positivierter Gerechtigkeitsgebote146 wiederum in manchen Fällen aufgrund einer unsichereren Interpretation angreifbar bleiben. Zudem legt erst die Rechtsprechung (namentlich das BVerfG) die Details dieser kodifizierten Ausprägungen eines Gerechtigkeitsgedankens fest. Diese Ansichten sind daher auch wandelbar. Die Begründung und Schließung einer Gesetzeslücke mittels Gerechtigkeitserwägung wird nur eine geringe Überzeugungskraft besitzen, denn aus solchen Prinzi-

141

Maßgeblich BVerfG, 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286 ff.; s. dazu ausführlich Meys, Rechtsfortbildung extra legem im Arbeitsrecht, 2009 S. 57 ff. m. w. N. 142 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 172; Meys, Rechtsfortbildung extra legem im Arbeitsrecht, 2009 S. 56 ff., der dort auch zu Recht auf die wesentliche Entscheidung des BVerfG zur Rechtsfortbildung hinweist (BVerfG, 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269), wobei die Richter ausdrücklich (und letztlich zu weitgehend) auf die Gerechtigkeit zur Begründung einer Lücke abstellen: „Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ‚fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‘.“; auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 349 erkennt diese Funktion ausdrücklich an. In diesem Zusammenhang stellt Larenz auch fest, dass es zumindest im Zivilrecht die Aufgabe der Richter sei, Gerechtigkeit zu schaffen, wobei die Richter diese Aufgabe auch als ihnen obliegend identifiziert haben sollen (S. 348 bzw. dort Fn. 71); Zippe­ lius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 67: „Wo das Gesetz seine Funktion nicht erfüllt, ein Rechtsproblem – nach den in dieser Gemeinschaft geltenden Maßstäben – gerecht zu lösen, hat der Richter eine, freilich begrenzte, Möglichkeit, ‚produktive Kritik‘ am Gesetz zu üben, indem er eine ‚Lücke‘ feststellt und ausfüllt.“ 143 Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2011, S. 59. 144 Etwa wenn die Voraussetzungen der sog. Radbruchschen Formel vorliegen. 145 Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, Rn. 452. 146 S. dazu etwa Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, 454 ff.

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pien subsumtionsfähige Einzelnormen (etwa mittels einer Analogie) zu erzeugen, birgt ein hohes Manipulationspotential in sich.147

C. Entlastungs- und Stabilisierungsfunktion in der Rechtsordnung Neben diesen vier klassisch-rechtlichen Funktionen, erfüllt das Richterrecht auch andere rechtstatsächliche Funktionen, die ebenfalls ihrer Bedeutung nach nicht zu unterschätzen sind.148 I. Doppelte Entlastungsfunktion Einhergehend mit der Möglichkeit zur Rechtsfortbildung wird der Gesetzgeber durch die zumindest faktische Kompetenzverschiebung bei der Lückenschließung entlastet, wobei letztlich die Normierungshoheit dennoch beim Gesetzgeber verbleibt. Er kann grundsätzlich jederzeit in das Richterrecht (i. e. S.) eingreifen, wenn er auch eher selten einen solchen Schritt gehen dürfte. Auch in zeitlicher Hinsicht kann ein solches System Vorteile mit sich bringen. Eine ungenügende richterliche Rechtsfortbildung oder Normierung des Gesetzgebers kann durch die Gerichte korrigiert werden. Gleichzeitig bietet sich dem Gesetzgeber manchmal die Möglichkeit, auf existierendes Richterrecht bei einer anstehenden Normierung zurückzugreifen. Die Rechtsfortbildung bringt also einen weiteren Entlastungseffekt mit sich, wenn sich eine Regel in der Praxis bewährt hat.149 Durch die Möglichkeit der Instanzgerichte auf Rechtsfortbildungen der Obergerichte abzustellen, tritt ebenso ein Entlastungseffekt ein.150 II. Stabilisierung der Rechtsordnung Eine Rechtsfortbildung wird – trotzdem sie selbst Gefahr laufen kann, das rechts­ staatliche Prinzip der Rechtssicherheit zu verletzen151 – regelmäßig vorgenommen, 147 Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011 Rn. 455 weist zudem auch auf die Möglichkeit von Fehlentwicklungen der Verfassungsrechtsprechung hin, die maßgeblich prägt, was die einzelnen Ausprägungen der Gerechtigkeitsgrundsätze (Artikel) nun eigentlich sagen. 148 S. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 511. 149 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 312. 150 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 319. 151 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 67: „Ein […] Abweichen vom Gesetzeswortlaut ist aber aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung erschwert: Es muss durch überwiegende Gründe der Gerechtigkeit legitimiert werden und ist in manchen Fällen durch ein Analogieverbot sogar schlechthin untersagt.“

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Teil 1: Das Richterrecht

um die Rechtsordnung zu stabilisieren. So können allein aufgrund des Gesetzestextes oder seiner Abwesenheit Spannungslagen entstehen, die durch eine Fortbildung aufgelöst werden können. In der Literatur wird sogar angenommen, dass eine langfristig geltende Fortbildung mitunter eine so hohe Verlässlichkeit erreichen kann wie ein gesetzgeberischer Akt.152 III. (Selbst-)Stabilisierungsfunktion gegenüber (Instanz-)Gerichten Dem Richterrecht kommt auch eine Stabilisierungsfunktion innerhalb der Rechtsprechung zu. Die Rechtsprechung entnimmt vorrangegangen Entscheidungen Leitsätze oder leitsatzmäßig formulierte Aussagen.153 Soweit es sich anbietet, werden diese rechtssatzartigen Formulierungen in einer nachfolgenden Entscheidung unverändert wiederholt.154 Dementsprechend verstand Coing Richterrecht auch nicht nur als die von Gerichten in Fortbildung des geltenden Gesetzesrechts entwickelten Rechtsätze, sondern betonte auch, dass diese als zukünftige Entscheidungsgrundlage verwendet werden sollen.155 Zudem würde das Richterrecht gesetzesgleich in Entscheidungen verwendet, nur dass statt einer geschriebenen Norm der Entscheidungsband und -seite zitiert werde.156 Schönberger stellt zu diesem Vorgehen fest: „Solche selbstreferentiellen Kettenverweise dienen der Selbststabilisierung der Gerichte und ihrer Vergewisserung über Kohärenz und Kontinuität der eigenen Rechtsprechung.“157 Gleichzeitig fördern sie die Präzision einer ständigen Rechtsprechung, vermeiden unnötige Wiederholungen und haben insofern eine besondere Bedeutung für den Gerichtsapparat.158 Gleichzeitig bergen sie auch die Gefahr einer Vernachlässigung der Sachverhaltsgebundenheit einer Fortbildung.159 Auch besteht die Gefahr, dass sich eingeschlichene Fehler im Gerichtsapperat fortsetzen. 152

Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 65 mit Hinweis auf den Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung. 153 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 321. 154 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 321. 155 Coing, JUS 1975, 277, 277. 156 Coing, JUS 1975, 277, 277 ff. sieht die Behandlung von Richterrecht wie Gesetzesnormen kritisch; Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 321; vgl. auch Jestaedt, in: Detterbeck, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, 513, 530 f. in Bezug auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung; bzw. Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, Fn. 92 mit einem diesbezüglichen Pauschalitätsvorwurf. 157 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 321. 158 So Jachmann, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, Fn. 343 (Diskussion zur Staatsrechtslehrertagung). 159 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 321.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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IV. Vorbereitung einer Kodifizierung Richterrechtliche Verstöße dienen letztlich oftmals als Grundlage für eine Kodifizierung. Der Gesetzgeber kann dann auf bereits praxiserprobte Richtersätze zurückgreifen, mit denen sich auch die Wissenschaft in der Regel ausführlich auseinandergesetzt hat und deren Kernbereich regelmäßig gut erforscht ist. Im Gesellschaftsrecht sei nur auf die Entwicklung der Business Judgement Rule im Unternehmensrecht (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG) verwiesen, die den Geschäftsleitern einen haftungsfreien Kernbereich unternehmerischen Ermessens sichern. Jüngst Auflösung von gesetzlichen Spannungs­lagen und Interessenkonflikten durch Rechts­anpassung und -ergänzung

Umsetzung des Gesetzgeberwillens

Bedeutung von Richterrecht

Gerechtigkeitsschaffung

Entlastungsfunktion ggü. Gesetzgeber

Stabilisierungsfunktion gegenüber Gerichten

Vorbereitung einer Kodifizierung

Verkürzungs- und Vereinfachungsfunktion bei richterlichen Entscheidungen

Faktische Bindungswirkung

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Teil 1: Das Richterrecht

wurde zudem die Frage gestellt, ob es nicht mittels der durch die Rechtsprechung vorbereiteten Erkenntnisse an der Zeit wäre, die sog. Publikums-Personengesellschaften gesetzlich zu regeln.160 V. Verkürzungs- und Vereinfachungsfunktion Oftmals wird in der Rechtsprechung – insb. bei entwickelten Rechtsinstituten – auch nur noch auf die Entscheidung verwiesen, in der erstmals eine bestimmte Regel aufgestellt worden ist, ohne diese selbst noch einmal zu begründen. Es hat damit eine Verkürzungs- und Vereinfachungsfunktion.161

D. Die Bedeutung des Richterrechts im Gesellschaftsrecht Im Besonderen interessant sind die Rechtsgebiete, denen eine starke Prägung durch das Richterrecht (i. e. S.) zuteil wird.162 Hier sticht nicht nur das Arbeitsrecht besonders hervor,163 bei dem den Richtern sogar eine größere Entscheidungsfreude als dem Gesetzgeber nachgesagt wird.164 Auch das Gesellschaftsrecht war 165 und ist in vielen bedeutenden Punkten von rechtsfortbildenden Entscheidungen geprägt166 160

So Wiedemann, NZG 2016, 1. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 504 (auch mit kritischem Ton, wenn die Zitierung von Entscheidungen überhand nimmt). 162 Mayer-Maly, JZ 1986, 557, 560, sieht vor allem die Nebengebieten des Privatrechts als Einfallstor für das Richterrecht (i. e. S.). Dieser Befund lasse sich auf die relative Unvollständigkeit der Regelung in diesen Gebieten, einer starken Dynamik und größeren Anfälligkeit für Gesellschaftsgestaltung zurückführen. 163 Ausführlich Wank, Auslegung und Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2013; Überblick bei Müller-Glöge, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 4, 7. Aufl. 2016 § 611 Rn. 388 ff. sowie bei Raiser, ZRP 1985, 111, 113. 164 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 258. 165 Raiser, ZRP 1985, 111, 112: „Das Gesellschaftsrecht, namentlich der Personengesellschaft und der GmbH, in das der Gesetzgeber bis heute nur punktuell eingriff, lebt seit dem Ende des Krieges praktisch von richterlicher Rechtsfortbildung.“ 166 Umfassende Nachweise etwa zum GmbH und Aktienrecht bei Henze / Born, GmbHRecht – Höchstrichterliche Rechtsprechung, 2013 bzw. Henze / Born / Drescher, Aktienrecht – Höchstrichterliche Rechtsprechung, 6. Aufl. 2015; Mülbert, AcP 214, 188, 210 bescheinigt der Rechtsfortbildung im Gesellschaftsrecht sogar eine „überragende Bedeutung“; so auch Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 56; ausführlich Ulmer, in: Reinhart, Richterliche Rechtsfortbildung, 1986 S. 389 ff., 415 für den Untersuchungszeitraum 1971–1985: „Sieht man vom Sonderfall des Rechts der GbR ab, so kann kein Zweifel an der Richtigkeit der verbreiteten Ansicht bestehen, daß die höchstrichterliche Rechtsfortbildung durch den BGH in den letzten Jahren einen deutlichen Schwerpunkt im Gesellschaftsrecht gehabt hat. Auch wenn die einzelnen Schritte dieser Entwicklung allgemein bekannt sein dürften, verdeutlicht doch erst die auf die verschiedenen Gebiete des Gesellschaftsrechts erstreckte Bestandsaufnahme, welche Dimensionen die Rechtsfortbildung hier im Untersuchungszeitraum erreicht und wie nachhaltig sie das seiner Natur nach eher zur Beständigkeit tendierende Organisationsrecht verän 161

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und hat insofern eine „besondere Schlagkraft“ erlangt.167 Es wird sogar von einer Arbeitsteilung zwischen dem Gesetzgeber und dem 2. Zivilsenat des BGH gesprochen, wobei dem Gericht ein oftmals „glücklicheres Händchen“ bescheinigt wird.168 Der Umfang dieser Prägung drückt sich auch im Schrifttum in Form von Monographien aus, wobei dort unterschiedliche Gesellschaftsformen anhand der BGH Rechtsprechung dargestellt werden.169 Die Ursache für diese starke Prägung des Gesellschaftsrechts durch rechtsfortbildende Entscheidungen wird unterschiedlich beurteilt. Einige sehen die Alterung der Gesetze und den Verzicht des Gesetzgebers auf durchgreifende Reformen, seine mangelnde Erfahrung, die sich in Nichtberücksichtigung der praktischen Gegebenheiten ausdrückt und das „[…] Hervortreten materieller Wertmaßstäbe im Gegensatz zur herkömmlichen rein instrumentellen Handhabung des Gesetzes, die sich hier in der stärkeren Betonung des ordre puplic und des Schutzes der Minderheitsgesellschafter manifestieren“, als wesentlichen Grund an.170 Andere sind der Auffassung, dass die Ursache etwa weniger in einer Überalterung der Gesetze gesehen werden kann, sondern darin, dass „[…] die institutionellen Grundlagen des Gesellschaftsrechts nicht in langer Tradition gewachsen sind und oft nur in scheinbaren Spezialregeln zum Ausdruck gelangen. Es gibt keine allgemeine Kodifikation des Gesellschaftsrechts.“171 Aufgabe der Rechtswissenschaft und insb. des 2. Zivilsenats des BGH sei es daher, dass Gesellschaftsrecht in der Art fortzubilden, dass es „zu sich selbst finden“ könne.172 Diese von K. Schmidt zugeschriebene Funktion hat der Senat in der Tat vielfach wahrgenommen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Entscheidung zur Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts,173 zum nichtrechtsfähigen Verein (§ 54 S. 1

dert hat. Der Befund führt zu der Frage nach den besonderen Gründen und Tendenzen dieser Rechtsentwicklung, aber auch nach der Legitimation derart grundlegender höchstrichterlicher Einwirkungen auf eine gesetzlich geordnete Materie, wie sie das Organisationsrecht der Kapital- und Personengesellschaften entsprechend dem numerus clausus der Gesellschaftsformen seit langen Jahrzehnten darstellt.“; Fleischer, in: Fleischer / Goette, Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung-GmbHG, 3. Aufl. 2018 Einl. Rn. 125 spricht im Zusammenhang mit dem GmbH-Recht von einer „Geschichte der Rechtsfortbildung“; Claussen / Korth, in: Festschrift für Karl Beusch zum 68. Geburtstag am 31. Oktober 1993, S. 111 sprechen von einer Periode fortschreitenden Richterrechts im Gesellschaftsrecht; auch Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 56 stellt eine ganz maßgebliche Prägung durch die Rechtsprechung des 2. Zivilsenats beim BGH im Gesellschaftsrecht fest; s. auch Schnorbus, DB 2001, 1654. 167 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002 S. 31. 168 K. Schmidt, NJW 2000, 2927. 169 Goette, Die GmbH, 2. Aufl. 2002; Henze / Born / Drescher, Aktienrecht – Höchstrichterliche Rechtsprechung, 6. Aufl. 2015; Timm, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Handelsund Gesellschaftsrecht, 1995. 170 Raiser, ZRP 1985, 111, 114. 171 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, 32. 172 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, 32 f. 173 BGH, Urteil v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341; s. dazu auch den Beitrag von K. Schmidt, NJW 2001, 993, 1003: „Dass dieses Ergebnis [Rechts- und Parteifähigkeit der BGB-Außengesellschaft] ein gutes Jahrhundert auf sich warten lassen musste und dass ihm

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Teil 1: Das Richterrecht

BGB),174 zur fehlerhaften Gesellschaft175, zu den ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten,176 zu der Durchgriffshaftung bei materieller Unterkapitalisierung (jetzt: Existenzvernichtungshaftung als Innenhaftung177),178 zum früheren Eigenkapitalersatzrechts (Heute: „Recht der Gesellschafterdarlehen“179),180 zum GmbH-Konzernrecht,181 zum unverschuldeten Rechtsirrtum der Geschäftsleitung,182 lange Grundsatzdebatten vorausgegangen sind, lässt seine Prophetie, was das Ziel anlangt, als verblüffend treffsicher, was dagegen den mühsamen Weg der Rechtsfortbildung anlangt, als fehlsam erscheinen.“; s. dazu auch Armbrüster, ZGR 2013, 366 ff. 174 S. dazu BGH, Urteil v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, BGHZ 50, 325. 175 Bereits vom RG, Urteil v. 13.11.1940 II 44/40, RGZ 165, 193 durch höchstrichterlicher Rechtsfortbildung entwickelt. 176 S. etwa BGH, Urteil v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 –, BGHZ 83, 122 (Holzmüller); BGH, Urteil v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (Gelatine). 177 BGH, Urteil v. 16.07.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 (Trihotel). 178 BGH, Urteil v. 17.09.2001 – II ZR 178/99, BGHZ 149, 10 (Bremer Vulkan); BGH, Urteil v. 25.02.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61; BGH, Urteil v. 24.06.2002 – II ZR 300/00, BGHZ 151, 181 (KBV); BGH, Urteil v. 16.07.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 (Trihotel); BGH, Urteil v. 28.04.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (Gamma). 179 Altmeppen / Roth, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 8. Aufl. 2015, § 30 Anh. Rn. 12; T. Fleischer, in: Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 39 InsO Rn. 2. 180 BGH, Urteil v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258; BGH, Urteil v. 26.03.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370; s. zur Entwicklungsgeschichte Altmeppen, in: Altmeppen / Roth, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 8. Aufl. 2015 § 30 Anh. Rn. 2 ff. auch mit Nachweisen bereits aus der Reichsgerichtsrechtsprechung sowie Fastrich, in: Baumbach / Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017 § 30 Rn. 7 ff. bzw. Fleischer, in: Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 39 InsO Rn. 1 ff.; K. Schmidt, NJW 2000, 2927 stellte hierzu im Jahr 2000 fest: „Die Arbeitsteilung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung beweist überwiegend die glückliche Hand des 2. Zivilsenats. Ganze Normenpakete beruhen auf seiner Vorarbeit, so das gesetzliche Sonderrecht der GmbH & Co. KG […] und das Gesetzesrecht des Eigenkapitalersatzes […]. Gerade der letztgenannte Bereich stellt dem II. Zivilsenat ein besseres Zeugnis aus als dem Gesetzgeber. Dieser hat im Jahr 1980 durch die Einführung der neuen Bestimmungen keinen signifikanten Fortschritt bewirkt, hat sogar den vom II. Zivil­ senat längst erreichten Gläubigerschutz gegen den Abzug der Darlehen in der Krise seinerseits in Gefahr gebracht […]. Der BGH griff in dieser Situation zu einer unkonventionellen, aber im Ergebnis zielführenden Methode, die die klassischen Regeln von der ‚lex specialis‘ und der ‚lex posterior‘ ebenso Lügen strafte wie v. Kirchmanns vielzitierten Satz, wonach drei berichtigende Worte des Gesetzgebers ganze Bibliotheken Makulatur werden lassen: Er entschied […]: ‚Die Rechtsprechungsgrundsätze über kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen sind neben den Vorschriften der GmbH-Novelle von 1980 weiterhin auch auf solche Darlehen anzuwenden, die nach dem 1.1.1981 gewährt worden sind.‘ Das ist bis heute geübtes und damit „geltendes“ Recht.“; aus methodischer Sicht s. dazu Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003 S. 84 ff. 181 Liebscher, in: Fleischer / Goette, Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung-GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 Rn. 48 f., wobei darauf hingewiesen wird, dass sich die Rechtsprechung bei der „Rechtsfortbildung im Zusammenhang mit Haftungsfragen in jüngster Zeit stärker an allgemeine Rechtsgrundsätze sowohl des Zivilrechts als auch des Kapitalgesellschaftsrechts anlehnt, als dies in der Vergangenheit der Fall war“. 182 S. dazu bereits oben.

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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zum Recht der GmbH & Co KG,183 zur mittlerweile kodifizierten „Business Judge­ ment Rule“,184 zum Bezugsrechtsausschluss185 und eben auch zum Delisting.186 Diese Entscheidungen stellen nicht alle, aber wohl die wichtigsten Fortbildungen dar.187 Angesichts dieser Fülle und deren Bedeutung für das Gesellschaftsrecht ist es nicht verwunderlich, dass gefordert wird, dass Rechtswissenschaft und Rechtspraxis das Gesellschaftsrecht zu einer kodifikationsfähigen Geschlossenheit formen müssten.188 Auf den Gesetzgeber kann man sich hier – sowohl der versteckte Vorwurf – nicht (allein) verlassen. Manche sehen sogar zugespitzt den Gesetzestext vielfach nicht mehr als Informationsquelle, sondern Irreführung über des Recht an.189 Gerade wegen dieser geforderten Arbeitsteilung bei der Entwicklung neuer Regelung ist es verwunderlich, dass das Thema Richterrecht und Gesellschaftsrecht im Schrifttum nahezu ein Schattendasein fristet.190 In der Literatur wird dieser Umstand damit begründet, dass man als „Gesellschaftsrechtler“ letztlich praxisund damit ergebnisorientiert denkt, mit der Folge, dass es zu einem eher „lockeren Umgang“ mit der Methodik kommt.191 Schwingt hier auch der Vorwurf eines 183

S. zur Entwicklungsgeschichte und Anerkennung durch die (zunächst reichsgerichtliche) Rechtsprechung Gummert, in: Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 2: Kommanditgesellschaft, GmbH & Co. KG, Publikums-KG, Stille Gesellschaft, 4. Aufl. 2014 § 49 Rn. 1 ff. (dort auch zur mittlerweile in mehreren Vorschriften zum Ausdruck kommenden Anerkennung durch den Gesetzgeber). 184 Grundlegend BGH Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, mittlerweile aber in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG normiert; s. dazu auch Spindler, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl. 2014 Band § 93 Rn. 36 ff.; zu dieser Kodifizierung von Richterrecht s. auch Fleischer, ZIP 2004, 685. 185 BGH v. 13.03.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40 (Rechtsfortbildung); BGH, 19.04.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319 (Rechtsfortbildung), BGH v. 23.06.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (Rechtsrückbildung); s. dazu unter dem Aspekt der Rechtsfortbildung die umfassende Analyse der ersten beiden Entscheidungen von Wank, ZGR 1988, 314, 358 ff.; ausführlich dagegen zu den beiden letzten Entscheidungen Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003 S. 67 ff.; s. auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 183. 186 BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 (Macrotron); BVerfG v. 11.07.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99; BGH v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146 (Frosta). 187 S. zu weiteren Beispielen Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 183 f. und dort auch Fn. 366 sowie Raiser, ZRP 1985, 111, 112. 188 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, 32 f. 189 Formulierung bei Kübler / Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006 S. 265 in Bezug auf das GmbH-Recht im Jahr 2005. 190 Vgl. nur Wank, ZGR 1988, 314; Mülbert, AcP, 188 und Ulmer, Richterrechtliche Entwicklungen im Gesellschaftsrecht 1971–1985, 1986. 191 Mülbert, AcP, 188, 299: „Ist man sich über die sachlichen Beurteilungsgrundlagen der Rechtsprobleme – insbesondere die rechtstatsächlichen und ökonomischen Grundlagen – weithin einig, wird die Methodik nachrangig. Der Hinweis auf methodische Aspekte kann die Kraft eines Sacharguments sogar eher schwächen. Zugleich lassen diese Gegebenheiten aber auch erahnen, dass die Gründe für die gewissermaßen ‚laxere‘ Methodenmoral in Spezifika des Gesellschaftsrechts begründet sind, die sich in anderen Rechtsgebieten nur eingeschränkt oder gar nicht finden.“

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Teil 1: Das Richterrecht

methodisch nicht sauber gewonnenen Richterrechts zugunsten einer praxisgerechten Regelung mit, so besteht wohl auch an Stellen, an denen ein Grundkonsens herrscht mit dem alle Beteiligten gut leben können, weniger Anlass „genauer“ hinzuschauen.192 Ob es auch daran liegt, dass das Gesellschaftsrecht abseits von der Öffentlichkeit seinen Platz hat, weil es nur einen „engen Raum des Wirtschafts­ lebens“ betrifft und „politisch weniger Spannungsgeladen“ ist, sowie nur von spezialisierten Juristen tiefer Beachtung findet, mag dabei dahinstehen.193 Entscheidend ist, dass trotz einer möglichen praxistauglichen Regelung nicht nur Methodenfehler 194 zur Verfassungswidrigkeit führen,195 sondern zusätzlich die besagten Funktionen der Fortbildung derart beeinträchtigt werden, dass eine Fortbildung mitunter mehr Schaden als Nutzen bringt.

E. Fazit Diese Darstellung belegt, dass das Richterrecht wichtige Funktionen in unserer Rechtsordnung wahrnimmt. Wie häufig darunter Rechtsfortbildungen zu finden sind, ist eine andere Frage. Ein Blick in die Rechtsprechung und in die Analysen der Literatur vermittelt das Bild, dass Rechtsfortbildungen nicht nur vereinzelt auftreten, sondern dass sie zu einer jahrzehntelangen Übung geworden seien.196 192

Ausführlich zu diesem Phänomen Mülbert, AcP, 188, 291. Raiser, ZRP 1985, 111. 194 Rennert, NJW 1991, 12, 16, stellt aber auch fest, dass es heute für die allermeisten Judikate eine Selbstverständlichkeit ist, dass sie auf einem akzeptablen methodischen Weg, das heißt rational und überprüfbar gewonnen und begründet sind. 195 Ausführlich dazu unten; s. aber hier bereits schon BVerfG, Beschluss v. 09.02.1982 – 1 BvR 799/78, BVerfGE 59, 330, 334: „Im Wege der Auslegung darf [aber] einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen werden; bei mehreren möglichen Auslegungen ist im Zweifel die zu wählen, die der Grundrechtsnorm die stärkste Wirkung verleiht. Bei besonders intensiven Eingriffen in ein von der Verfassung geschütztes Recht können schon einzelne Auslegungsfehler sich verfassungsrechtlich als relevant erweisen oder ein methodisch falscher Weg zu beanstanden sein, auch wenn das Ergebnis selbst mit der Verfassung in Einklang steht.“; so auch bereits BVerfG, Beschluss v. 14.2.1973  – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 280: „Er [der Richter] würde die Verfassung auch verletzen, wenn er zu einem Ergebnis, das den Wertvorstellungen der Verfassung entspräche, auf einem methodischen Wege gelangte, der die dem Richter bei der Rechtsfindung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen mißachtete. Auch eine so getroffene Entscheidung müßte vom BVerfG beanstandet werden.“ 196 Raiser, ZRP 1985, 111, 112: „Die beiden Beispiele (Anm.: gemeint sind der Herrenreiter-­ Fall und die Sozialplan-Entscheidung) zeigen, welche Dramatik im deutschen Zivilrecht beim Stichwort richterliche Rechtsfindung herrscht. Sie wird noch gesteigert dadurch, daß wir es keineswegs mit singulären Erscheinungen zu tun haben, sondern lediglich mit Grenzfällen eines verbreiteten, im Grunde gewöhnlichen Vorgangs. Die Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte nimmt die Befugnis zur Rechtsschöpfung im Privatrecht heute wie selbstverständlich für sich in Anspruch und praktiziert sie ohne Scheu und in seit dem Inkrafttreten der großen Kodifikationen noch nie dagewesenem Ausmaß.“ S. im Übrigen auch seine Zusammenfassung auf S. 113 f. 193

Kap. 1: Bedeutung des Richterrechts in der Rechtsordnung

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Das belegen eine Vielzahl an (bedeutenden) Fortbildungen.197 Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Das kontinentaleuropäische Rechtssystem wandelt sich vom beschriebenen eher kodifizierten Recht hin zum sog. „Case law“ und wird wohl erst bei einem Ausgleich beider Systeme haltmachen.198 Die Überlegung zur Bewertung von Richterrecht ist daher schon unter Zugrundelegung dieser allgemeinen Betrachtung von Bedeutung. Hauptursache für die hohe Bedeutung ist neben der bestehenden vorteilbehafteten, faktischen Bindungs­ wirkung die Lückenhaftigkeit der Gesetze als Achillesverse eines kodifizierten Rechtssystems, dass sich vorwiegend auf in Gesetzesform normierte Regeln verlässt. Dem Richterrecht i. e. S. kommt insoweit die Funktion zu, diese Lücke anstelle des Gesetzgebers doch nach seinem Willen fall- und praxisgerecht zu schließen, dabei eine gerechte Entscheidung herbeizuführen und für die Untergerichte eine klare Linie vorzugeben. Diese Gerichte, aber auch der sonstige Rechtsverkehr, richten sich in der Folge zum wesentlichen Teil nach richterlichen Entscheidungen.199 Die Vermeidung von Fehlern in einer Rechtsprechungsentwicklung ist daher von einem nicht zu unterschätzen Wert für unsere Rechtsordnung. Denn treten Fehler auf, können wesentliche Funktionen des Richterrechts nicht mehr eintreten. Zum Beispiel kann sich die Lückenschließung als rechtlich zweifelhaft und darum kritikwürdig oder sogar (in selten Fällen) verfassungswidrig erweisen. Unter Umständen kann es sodann an einem Entlastungseffekt fehlen, weil eine nicht gelungene Fortbildung eher neue Fragen schafft, als alte zu beseitigen. Auch kann dadurch möglicherweise die Funktion der Schaffung von Gerechtigkeit im obigen Sinne fehlgehen. Zumeist wird dann auch die Rechtsicherheit leiden, wenn sich etwa zügig herausstellt, dass die neue Regelung misslungen ist und man nun nicht weiß, wie lange sie noch fortbesteht. Dass am Ende der Gesetzgeber bei einer Kodifizierung nicht auf eine praxisgetestete und erfolgreiche richterliche Regelung zurückgreifen kann, ist hierbei noch das kleinste Problem. 197 Raiser, ZRP 1985, 111, 112 nennt (nach damaligem Stand) aus dem allgemeinen Zivilrecht, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, den enteignungsgleichen Eingriff, die Produkthaftung, die Vertrauenshaftung, den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, das AGBRecht, die Vertrauenshaftung und die Konkretisierung ärztlicher Pflichten. Heute sind einige davon von bereits kodifiziert (etwa das AGB-Recht im BGB), andere sind immer noch als richterliche Fortbildung im Raum (so etwa der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter [str. in Bezug auf den Fortbildungscharakter, s. Gottwald, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 2, 7. Aufl. 2016 § 328 Rn. 168 ff. bzw. Janoschek in Bamberger / Roth, Beck’scher Online-Kommentar BGB, 43. Aufl. Stand: 01.08.2018, § 328 Rn. 46]. Im weiteren Verlauf seines Aufsatzes nennt Raiser darüber hinaus noch weitere Fortbildungen aus dem Privatrecht. Zu weiteren Rechtsfortbildungen als Beleg für die hohe Bedeutung s. auch sogleich beim Gesellschaftsrecht und im weiteren Verlauf der Arbeit. 198 Maultzsch, in: Rückert / Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017 Rn. 1314 f., der schon jetzt nur noch von graduellen Unterschieden im Hinblick auf die maßgeblichen Rechtsquellen in England und Deutschland spricht; Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 55 f. 199 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 502.

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Teil 1: Das Richterrecht

2. Kapitel

Die rechtsfortbildende Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie § 4 Der Begriffe der Rechtsfortbildung und seine Abgrenzbarkeit zur Auslegung Die von Karl Larenz aufgeworfene Fragestellung über das Gelingen oder Misslingen einer Rechtsfortbildung ist nur sinnvoll, wenn sich Rechtsfortbildung und Auslegung trennen lassen. Gleichzeitig dient die Klärung der Frage nach der Abgrenzbarkeit auch dazu, dem Thema „Rechtsfortbildung“ klarere Konturen zu gegeben, weil die Begriffe genauer zu bestimmen sind.

A. Trennbarkeits- und Untrennbarkeitsthese und die Konsequenzen In der Literatur und Rechtsprechung stehen sich eine Trennbarkeits- und eine Untrennbarkeitstheorie im Hinblick auf Auslegung und Rechtsfortbildung gegenüber.200 Zwei verwandte, aber doch in ihrer Ausarbeitung unterschiedliche Auffassungen in der Literatur gehen dabei ebenso wie die älteren Methodenlehren von der Trennbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung mittels der sog. Wortlautgrenze aus (I.). Andere dagegen sehen den „Willen des Gesetzgebers“ als Grenze an, kommen mithin auch zu einer Trennbarkeit. Gewichtige Gegenstimmen einer sog. „nachpositivistischen Auffassung“ sind dagegen der Meinung, dass sich Auslegung und Rechtsfortbildung nicht mit den vorgeschlagenen Wegen der Trennbarkeitstheorie unterscheiden lassen (II.). Dabei gerät die Wortlautgrenze nach dieser Meinung aufgrund linguistischer bzw. sprachphilosophischer Argumente unter Druck: Denn wie in einem „Brennglas“ bündeln sich bei der Wortlautgrenze strittige Fragen des überkommenen Rechtsanwendungssystems,201 deren Beantwortung weitreichende Folgen hat. I. Hintergrundproblematik Lassen sich (1) Auslegung und Rechtsfortbildung – die nach der herrschenden Meinung bei der Anwendung an unterschiedliche Voraussetzungen und Folgen geknüpft sind  – nicht mittels der Wortlautgrenze trennen, dann muss entweder 200

Auf die vereinzelte Strömungen, die von einer generellen Untrennbarkeitsthese aufgrund der Analogizität der Sprache ausgehen, soll hier verzichtet werden; vgl. dazu aber die Ausarbeitung von Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 59 f. m. w. N. 201 So zu Recht Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 343.

Kap. 2: Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie 

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auf andere Abgrenzungskritierien abgestellt werden oder das gängige Konzept der Trennbarkeit vollständig aufgegeben werden. Was an die Stelle der Wortlautgrenze tritt, bleibt offen. Gleichzeitig stellt man (2) freilich auch die Gesetzesbindung in Frage. Denn lässt sich die Wortbedeutung nicht nur unzureichend oder nur unter großen (ggf. nicht überprüfbaren) Eigenwertungen ermitteln, stellt sich die Frage, woran der Richter nun eigentlich gebunden sein soll. Es geht also um nicht weniger als die Abgrenzungs- und Bindungsfunktion des Wortlauts.202 Kommt man zurück auf die Eingangs aufgeworfene Frage nach der Trennbarkeit, lässt sich zu den beiden großen Ansichten folgendes feststellen: Die beiden konträren Auffassungen unterscheiden sich, weil sie von verschiedenen Sprachtheorien ausgehen.203 Im Kern geht es in der jüngsten Auseinandersetzung um den Streit, ob Sprache normativ ist, d. h., ob der Sprachgebrauch die Grenzen des Korrekten vorzeichnen kann.204 Die entscheidenden Fragen im Hinblick auf die Wortlautgrenze lauten dann, ob es möglich und auch praktisch umsetzbar ist, die Bedeutung eines Wortes rechtssicher zu erkennen (oder erst herzustellen), sodass hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals unpassende Bedeutungen herausgefiltert werden können.205 Bei der Auswertung der unterschiedlichen Strömungen wird sichtbar werden, dass nur eine Ansicht die Feststellung des sog. Sprachgebrauchs für möglich erachtet. Eine andere Meinung favorisiert dagegen ein argumentatives Verfahren, in dem die Bedeutung durch den Rechtsanwender (hier also den Richter) selbst festgelegt wird. Sprachphilosophische Streitfragen und die praktischen Konsequenzen werden im Folgenden weitgehend getrennt behandelt.206 Das Ergebnis wird zeigen, dass es bisher keine völlig von begründeter Kritik freie Theorie der Wortlautgrenze oder ein entsprechendes Alternativmodell gibt. Das liegt nicht daran, dass man im Grundsatz keine Einigung erzielen könnte. Problematisch ist, dass zur Lösung dieses Problems zunächst sprachphilosophische Vorfragen geklärt werden müssten. Weil auf keine 202 Zutreffend Winkler, JZ 2005, 940, 940. Die Antwort auf diese Vorfrage wirkt sich auch an anderer Stelle aus: Angenommen es würde von einer Rechtsfortbildung – sofern sie von der Auslegung unterscheidbar wäre – verlangt werden, dass sie sich aus dem Gesetz ableiten lassen muss, der Inhalt des Gesetzes, aus der diese Ableitung erfolgen soll, aber paradoxerweise erst durch den Richter selbst hergestellt werden muss. Damit wird der Wunsch nach einer dem Richter vorgeschalteten, machtbegrenzenden Instanz in Form der Gesetzgebung zum Teil ad absurdum geführt. Auch eine weitergehende Überlegung wirft Probleme auf: Verlangt man von einer Rechtsfortbildung ein „bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung“, so wäre eine Analyse über die Widerspruchsfreiheit der neuen Regel in der Rechtsordnung erschwert, sofern man wie die Vertretern der Untrennbarkeitsthese nur von einer Indizwirkung des Wortlauts ausgeht. Vereinfacht ausgedrückt: Ist der Wortlaut von Natur aus unscharf, kann er überspitzt gesprochen „alles oder nichts“ bedeuten. 203 Das gilt vorwiegend für die älteren Methodenlehren. 204 So Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415d. 205 Vgl. auch Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, nach denen nicht nur über die Existenz, sondern auch darüber diskutiert wird, wie man die Grenze praktisch ermitteln kann. 206 So auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 120 f., der auch zwischen der eher sprachphilophischen Frage nach der Existenz einer Wortlautgrenze und der praktischen Umsetzung trennt.

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Teil 1: Das Richterrecht

einheitliche Bedeutungstheorie der Sprachphilosophie zurückgegriffen werden kann, sich also trotz umfangreicher Forschung kein Konsens und nicht einmal eine „herrschende Meinung“ herausgebildet haben,207 bleibt die Situation angespannt. So gibt es zwar umfangreiche Abhandlungen – angefangen von John Locke, über Gottlob Frege, Ludwig Wittgenstein bis zu Willard Van Orman Quine und Robert Brandom.208 Letztlich entscheidet im Wesentlichen die eigene Präferenz für oder gegen eine Bedeutungstheorie darüber, zu welcher Auffassung man über die Wortlautgrenze gelangt. Die von persönlichen Prägungen geleitete Erkenntnis über das Wesen der Sprache und der Bedeutung entscheidet letztendlich über die Wortlautgrenze und über die juristische Methodik.209 Die Rechtsprechung steht dem nahezu unbeeindruckt gegenüber und wendet sich möglicherweise aus anderen Gründen einer dritten Auffassung zu. Welcher sprach­ philosophischen Theorie wird gefolgt?

Wie soll die Ermittlung/Festlegung des Wortsinns vorgenommen werden?

Gibt es eine (nachprüfbar) zu ermittelnde Wort­ lautgrenze

II. Die Trennbarkeitstheorie 1. Überlieferte Auffassung a) Klassische Grundgedanken Versucht man eine Definition der Rechtsfortbildung – wie es für die Themenstellung naheliegt – dem gesellschaftsrechtlichen210 oder methodologischen211 Schrift 207

Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, 45 f.; kritisch Möllers, JZ 2009, 668: „Ohnehin fügen sich philosophische Diskussionen nicht dem Schema von herrschender Meinung und Gegenansicht.“ 208 S. dazu einführend etwa Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014 oder Newen / Schrenk, Einführung in die Sprachphilosophie, 2014. 209 Dabei spricht Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 94 von „z. T. tiefgreifender Mißverständnisse und Fehlinterpretationen sprachwissenschaftlicher Theorien.“ 210 Verwiesen sei aber auf Wiedemann, NJW 2014, 2407, der unter dem Begriff Rechtsfortbildung „eigenständige richterliche Entscheidungen“ versteht, wohingegen die Auslegung den „einfachen Rechtsvollzug“ darstellt. Wiedemann hebt damit den wertenden Charakter einer Rechtsfortbildung hervor. Wirklich hilfreich ist diese Feststellung freilich nicht. Auch Mülbert, AcP, 188 ff. gibt keine Antwort auf die Frage, obwohl er auch ausführlich die Rechtsfortbildung im Gesellschaftsrecht betrachtet. 211 So enthalten weder die (Standard-)Werke von Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012b; Bydlinski / Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010 eine ausdrückliche Definition; so im Übrigen

Kap. 2: Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie 

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tum zu entnehmen, so ist auffällig, dass eine ausdrückliche Begriffsbestimmung, trotz umfangreicher allgemeiner Äußerungen zum Thema Rechtsfortbildung, nur sehr begrenzt vorgenommen wird.212 Man könnte nun aufgrund dieses Befunds annehmen, dass es vielleicht gar keine Probleme mit dem Begriff der Rechtsfortbildung gibt und zwischen allen Beteiligten ein unausgesprochener Konsens herrscht, was damit gemeint ist. An dieser These kommen schnell Zweifel auf, wenn man die Ergebnisse jüngeren Untersuchungen zum Thema Rechtsfortbildung hinzuzieht. Ch. Fischer hat nachgewiesen, dass es an einer einheitlich verwendeten und präzisen Definition der Rechtsfortbildung fehlt. Daher muss der Begriff zunächst definiert werden. Dabei kann auf die klassische Definitionslehre213 zurückgegriffen werden, die sich speziell durch ihre Griffigkeit auszeichnet: Diese verlangt für eine Definition neben dem zu definierenden Begriff (Definiendum) das sog. Definiens, bestehend zum einen aus der Nennung des nächst höheren Gattungsbegriffs (genus proximum) und zum anderen aus den artbildenden Unterschieden (differentia specifica), also die spezifischen Besonderheiten, wodurch sich der zu definierende Gegenstand von anderen abhebt.214 Zu definieren heißt also im besten Sinne des Wortes abzugrenzen.215 Als Abgrenzungsziel wird in der Literatur216 und Rechtsprechung217 üblicherweise die Auslegung ausgemacht, wobei darunter – trotz unterschiedlichster Formulierungen – im Kern die (bloße) „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“ verstanden wird218 oder einfacher formuliert: die Ermittlung

auch Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003 S. 24. 212 Siehe ausführlich die Darstellung bei Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 34 ff. 213 Diese Möglichkeit wird hier trotz moderner Ansätze gewählt, weil sie im Grundsatz eine griffige Beschreibung ermöglicht und immer noch verwendet wird (s. Fn. 9). 214 Dazu Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 S. 37; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 197; Schmidt, JUS 2003, 551, 552 f. 215 Das Wort Definition kommt vom lateinischen Wort „finire“ („umgrenzen“ oder „begrenzen“). 216 So etwa Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 796 ff.; Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 106; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 38 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 467 ff.; vgl. auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011 S. 41 ff. 217 S. von den unzähligen höchstrichterlichen Entscheidung etwa BVerfG, Beschluss v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, NJW 2011, 3020, 3021; BVerfG, Beschluss v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 209 ff.; BGH, Beschluss v. 2. 10. 2012 – XI ZB 12/12, NJW-RR 2013, 235, 236; BGH, Urteil v. 12.3.2013 – XI ZR 227/12, BGHZ 197, 21. 218 Diese Formulierung geht auf Savigny zurück, vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 35; ähnlich Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 786; zum weiten Auslegungsbegriff s. Busche, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 § 133 Rn. 1.

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des Gesetzessinns.219 Dementsprechend wird der Auslegung im klassischen Sinne ein eher eigenwertungsfreier Charakter zugesprochen, da sich der Normsinn nach diesen Vertretern aus dem Gesetz ableiten lässt.220 Das stimmt auch mit der allgemeinen Vorstellung überein, dass der Richter zuvorderst Gesetze anwenden und erst in bestimmten „Sonderfällen“ darüber hinausgehen soll und möglicherweise eigene Regelungen entwickelt. Der Gegenbegriff der Rechtsfortbildung zeigt dagegen, dass etwas so noch nicht im Gesetz angelegt war, also über das bereits Vorentschiedene im Gesetz hinausgeht.221 Schlagwortartig könnte man auch vom bisher „unausgesprochenen“ sprechen. Canaris sieht dementsprechend den Rechtsanwender bei der Fortbildung im Begründungszwang, bei der Auslegung dagegen kann er sich auf die Autorität des Gesetzgebers stützen.222 Das ist aus dieser Sicht logisch nachvollziehbar: Denn im Falle der Rechtsfortbildung greift ein gegebener Tatbestand für den Fall nicht ein, soll aber in seiner Rechtsfolge letztendlich dennoch Geltung erlangen (Analogie) oder ein Tatbestand ist gegeben, die Rechtsfolge soll aber in diesem Fall ausnahmsweise nicht greifen (Teleologische Reduktion). Nur durch die (gute) Begründung wird Legitimität geschaffen.223 219

Brox / Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 42. Aufl. 2018 Rn. 59; Köhler / L ange, BGB, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2018 Rn. 12; Ob dabei auf den Sinn abzustellen ist, den der Gesetzgeber dem Gesetz geben wollte (subjektive Theorie) oder aber (nur) auf das im Gesetz selbst zum Ausdruck kommende (objektive Theorie), wird freilich kontrovers diskutiert (s. u.). 220 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 313: „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als ‚Träger‘ des in ihm niedergelegten Sinnes, um dessen Verständnis es in der Auslegung geht. ‚Auslegung‘ ist, wenn wir an die Wortbedeutung anknüpfen, ‚Auseinanderlegung‘, Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes. Durch die Auslegung wird dieser Sinn ‚zur Sprache gebracht‘, d. h. er wird mit anderen Worten deutlicher und genauer ausgesagt und mitteilbar gemacht. Dabei ist für den Vorgang der Auslegung kennzeichnend, daß der Ausleger nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Wir wissen freilich, daß sich der Ausleger dabei niemals nur rein passiv verhält. Der Text sagt dem nichts, der nicht schon etwas von der Sache, von der er handelt, versteht.“ Larenz spielt hier auf das Vorverständnis an. Dazu ausführlich auf S. 206 ff. und bei Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997 S. 86 f. spricht davon, dass jede richterliche Entscheidung zugleich auch ein „Stück punktuelle Rechtsneubildung“ enthält. 221 So etwa Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991 S. 48; vgl. auch Gusy, DÖV 1992, 461, 462 bzw. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 47 f. 222 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 20; kritisch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 469 f. für Fälle die nicht mehr im Begriffskern, sondern Begriffshof liegen, da eine Berufung auf die Autorität des Gesetzgebers nur möglich erscheint, wenn es eine einzige Auslegungsmöglichkeit gibt. Das dürfte bei den wenigstens Merkmalen der Fall sein; s. zu solchen Autoritätsargumenten auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 543 f.; s. dazu auch Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989 S. 95 f. 223 S. zur „guten“ Begründung Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, 25 ff.

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Folgt man dieser Auffassung ist wesentliches Unterscheidungskriterium – abstrakt gesprochen – der „Abstand zum Gesetz“. Dieser wird mittels der sog. Wortlaut- oder auch Wortsinngrenze bestimmt.224 Wird der „noch mögliche Wortsinn“ einer Norm überschritten, liegt nach der noch überwiegenden Auffassung keine Auslegung vor, sondern eine Rechtsfortbildung.225 Larenz versteht unter dem noch möglichen Wortsinn, den allgemeinen oder den jeweils als maßgeblich zu er­achtenden Sprachgebrauch des (historischen) Gesetzgebers, der noch als mit dem Ausdruck zu vereinbaren ist.226 Das stimmt mit der herrschenden Auffassung überein, dass jedenfalls im Grundsatz die Bedeutung des Wortes in der Umgangssprache maßgeblich sein soll.227 Hierbei wird auf das Verständnis aus der Zeit des historischen Gesetzgebers abgestellt.228 Bei der Ermittlung des Wortsinns wird in der Literatur auch teilweise auf ein terminologisches und letztlich auch prüfungsbezogenes Missverständnis229 hingewiesen. Bei der Wortlautgrenze kann es nie um die Ermittlung der Wortbedeutung anhand eines einzelnen Wortes gehen. Ein

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Gleichbedeutende Verwendung etwa bei Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV S. 289; zur terminologischen Kritik s. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 36 f. und unten. 225 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 467 ff.; Honsell, Rechtswissenschaft, 2015 S. 106; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 322; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 19 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 38 f.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008 Rn. S. 614 f.; Kramer, Juristische Methodenlehre (Altauflage), 3. Aufl. 2010 S. 54 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV S. 288, 294 ff.; Looschelders / Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996 S. 66 ff.; kritisch, aber mangels Alternative zustimmend Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 297, 310 f.; s. auch ausführlich dazu Wank, ZGR 1988, 314, 316 ff. bzw. Wank, RdA 1987, 129, 131, der im Ergebnis freilich eine andere Auffassung (Gesetzessinntheorie) vertritt (dagegen wiederum Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 307 f.); kritisch auch Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979 S. 36 ff. und scheinbar Rüthers  / ​ Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 737. 226 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 322. 227 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 164; so auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 39; dagegen Wank, ZGR 1988, 314, 316 ff. (teleologisch-juristische Wortbedeutung): „Einerseits wird betont, der Wortsinn der Umgangssprache sei als außerjuristisches Kriterium für einen festen Maßstab besonders gut geeignet. Auf der anderen Seite soll dem Wortlaut in der Umgangssprache aber der fachsprachliche juristische Wortlaut vorgehen. Der kann dann wiederum teleologisch ermittelt worden sein, so daß der Gewinn an Verläßlichkeit durch Bezug auf einen außerjuristischen Maßstab sofort wieder aufgehoben wird.“; zu den Besonderheiten im Strafrecht s. Schmitz, in: Joecks / Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2017 § 1 Rn. 73. Zu der Frage, ob der historische oder gegenwartsbezogene Sprachgebrauch maßgeblich ist s. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 323 f. 228 S. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 323 f.; Larenz  / ​ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 144 f. 229 Ausführlich und mit weiterer Kritik Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 36 f. bzw. 144 f. sowie Klatt in Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005 S. 344 f.; s. auch Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 194.

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einzelnes Tatbestandsmerkmal wird immer kontextgebunden verwendet. Erst im Zusammenhang mit anderen Begriffen kann sich die Wortbedeutung offenbaren.230 Fikentscher führt zur Erläuterung der Wortlautgrenze das Beispiel § 823 Abs. 1 BGB und das „Eigentum“ ins Feld. So lasse sich zwar noch von einer „Anwartschaft auf das Eigentum“, aber nicht mehr vom „Eigentum an einer Forderung“ sprechen.231 Die noch mögliche Verständnismöglichkeit des Begriffs „Eigentum“ im Zusammenhang mit § 823 Abs. 1 BGB wird hier überschritten.232 Will man das Gesagte zusammenfassen und wendet nun die obige klassische Definitionslehre auf den Begriff der richterrechtlichen Rechtsfortbildung an, so könnte man der Auffassung sein, dass es bei der Rechtsfortbildung (Definiendum) um eine Form der richterlichen Rechtsgewinnung233 geht (genus proximum), bei der bereits vorhandenes Recht durch den Richter234 nicht nur durch Sinnermittlung gefunden, sondern über den noch möglichen Wortsinn einer Norm hinaus weiterentwickelt wird (differentia specifica). Man könnte insofern von „Sinnsetzung“ sprechen. Will man einen sprachtheoretischen Rückschluss aus dieser „klassischen Ansicht“ ziehen, so wird man sagen können, dass Sprache eine begrenzende Wirkung besitzt, die vom erkennenden Subjekt zwar nicht unabhängig ist,235 jedoch eine (objektive)  Bedeutung beigemessen werden kann, die der Rechtsanwender erkennt. Eine falsche Bedeutungszuordnung lässt sich nach diesem Ansatz von einer richtigen trennen. Dabei wird von den modernen Hermeneutikern wie ­Larenz, Bydlinski oder Zippelius auch angemerkt, dass in der Regel zahlreiche Bedeutungsvarianten bleiben.236 Dieser Umstand wird etwa von Bydlinski und Larenz ausdrücklich hingenommen, da die Wortlautgrenze notwendig ist und es an tragfähigen Gegenkonzepten fehlt.237 Nach Larenz wird – letztlich in gewissem

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So Wank, ZGR 1988, 314, 318; s. auch Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005 S. 344: „Die Bedeutung einzelner Wörter leitet sich von der ganzer Sätze ab, nicht umgekehrt“; dieses „Kontextprinzip“ geht auf Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, 1884 S. X zurück: „[…] nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden […].“ 231 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV S. 293. 232 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 293. 233 Kritsch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007; man könnte auch das Wort „Rechtsanwendung“ verwenden, vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 697. 234 Zum hier unproblematischen und daher entbehrlichen Richterbegriff s. Detterbeck, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017 GG § 97 Rn. 8. 235 Zum Vorverständnis s. Schroth, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011 S. 270 ff. 236 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 164; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 470; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 38. 237 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 470; auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 322 f.; vgl. auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989 S. 68 f.

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Wider­spruch zu dieser vorherigen Aussage – in den allermeisten Fällen deutlich, ob der Wortlaut überschritten ist.238 Von diesem Ausgangspunkt stellt sich nun die Frage, wie die Feststellung des noch möglichen Wortlauts im Detail und vor allem in der Praxis ablaufen soll. Diese Frage bleibt weitgehend offen:239 Zur Beantwortung kommen neben empirischen Erhebungen über den Gebrauch eines Wortes auch das Abstellen auf die Bedeutungserklärung aus Wörterbüchern oder die eigene Sprachkompetenz infrage.240 Nähere Äußerungen dazu finden sich kaum. Letztlich scheint es zulässig zu sein, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Wortbedeutung festzustellen. Eine Hierarchie ist nicht auszumachen. Gelegentlich wird auf einen vernünftigen Sprachkundigen abgestellt, für den einsichtig sein soll, ob eine Bedeutung mit einem bestimmten Wort verbunden werden kann oder nicht.241 Ob die Wortlautgrenze überschritten wird, hängt nach Bydlinski auch von einem „Überraschungseffekt“ ab, den der Leser empfindet. Der zwar nicht mit der juristischen Materie vertraute, wohl sprachkundige Leser des Gesetzes wird diesem Effekt unterliegen, wenn er unter einer Norm subsumiert, die den Wortlaut überdehnt („Strom als Sache“ i. s. d. § 242 Abs. 1 StGB).242 Insgesamt schwankt die ältere Literatur graduell zwischen der These, dass der Gesetzestext bzw. die Sprache bestimmt bzw. unbestimmt seien. Letztlich bleibt das dieser Meinung zugrundeliegende Sprachverständnis weitgehend unklar.243 238

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 322 f. Zumindest die letzte Aussage dürfte den von Christensen beschriebenen Regel-Ausnahme-Mechanismus widerspiegeln, wonach ein Teil der Rechtswissenschaft (zumindest früher) von überwiegend klaren und eindeutigen Begriffen ausging und die anderen, sog. „unbestimmten Rechtsbegriffe“ (s. Chris­ tensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 70 f.), als Ausnahmen deklarierte. Nur so kann man überhaupt die von Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 262 (kritisch) beschriebene Vorstellung verstehen, die Rechtsanwendung als das Auspacken eines Containers zu deuten. Denn wo weit überwiegend ein „klarer Wortlaut“ besteht, kann der Gesetzesinhalt einfach umgesetzt werden. 239 S. dazu ausführlich Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989 S. 77 ff.; kritisch zur unklaren Ermittlungskonzeption auch Wank, ZGR 1988, 314, 338 f. 240 S. dazu ausführlicher unten. 241 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 143 Fn. 20. Larenz und Canaris merken in dieser aufschlussreichen Fußnote zu von Christensen vorgetragen Kritik an der Wörterbuchmethode zum Auffinden der Bedeutung an, dass es für einen vernünftigen Sprachkundigen letztendlich einsichtig ist, ob eine Bedeutung mit einem bestimmten Wort verbunden werden kann oder nicht. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 78 f. hatte angemerkt, dass sich die Feststellbarkeit des allgemeinen Sprachgebrauchs für die Wortlautgrenze per Wörterbuch letztendlich nicht in einer Definition sondern in einer Exemplifikation erschöpft. Sie eröffnet damit nur neue „Fragerichtungen“. Der Lexikoneintrag darf nicht als Grenze zulässiger Verwendung begriffen werden. 242 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 471. 243 Einzig Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 39 äußert sich etwas klarer, indem er angibt, dass der „Sprachgebrauch“ die (regelmäßig stillschweigende) Konvention über den Horizont jener Vorstellungen ist, die ein bestimmtes Wort „bedeuten“ soll. Konsequenzen für die Ermittlung sucht man allerdings auch hier vergebens.

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b) Grundproblematik der überlieferten klassischen Lehre und Verzicht auf die Wortlautgrenze Auch aufgrund des unklaren Ermittlungskonzepts kann man bereits erahnen, dass die soeben dargestellte Wortlautgrenze auf Kritik gestoßen ist, wenn man anerkennt, dass die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung insbesondere mit diesem Konzept und auch generell anerkannter Maßen (stark) wertungsabhängig ist.244 Gesteht man dem Verstehen sprachlicher Äußerungen nämlich auch einen „interpretativen Charakter“ zu, mithin eine „aktive, sinnkonstituierende Komponente“,245 so verschwimmt die Wortlautgrenze und lässt sich in einem gewissen Rahmen willkürlich vom Richter in die Richtung Auslegung oder Rechtsfortbildung verschieben.246 Wird die Grenze in Richtung Auslegung verschoben, befreit sich der Rechtsanwender von seiner Verantwortung deutlich zu machen, dass er in Wirklichkeit die Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung umgeht.247 Gleichzeitig vermindert er den erhöhten Begründungsauwand, den eine Fortbildung mit sich bringt, da er eben nur ausspricht, was – so die Vorstellung – im Gesetz steht.248 c) Verzicht auf die Wortlautgrenze als Alternativmodell Es muss deshalb die Frage erlaubt sein, ob nicht vielleicht vollkommen auf die Wortlautgrenze verzichtet werden sollte.249 Hiergegen kann ein gesetzliches Verbot stehen. Aus zivilrechtlicher Sicht existiert ein allgemeines Analogieverbot wie im Strafrecht aber nicht.250 Zwar gibt es einige besondere Analogieverbote, die 244

vgl. auch Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 258, 260 m. w. N. in Fn. 24. 245 Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 95. 246 Lesenswert dazu Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 95 ff.; Klatt, in: Montiel / Schuhr / Kudlich, Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012 S. 360 ff.; BVerfG Urteil v. 30.03.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, BVerfGE 110, 226 (Geldwäscheurteil); Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 38 ff.; auch in der allgemeinen methodologischen Literatur wird – wie bereits dargelegt – die Schwäche der fließende Grenze zum Teil erkannt, die Wortlautgrenze aber beibehalten: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 470 und Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 366 f. 247 Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989 S. 127. 248 Vgl. Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989 S. 127; Klatt, in: Montiel / Schuhr / Kudlich, Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012 S. 346. 249 Zur Alternative s. ausführlich Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989. Die beschriebene Grenzziehung anhand des Wortlauts ist im Strafrecht wegen des in Art. 103 Abs. 2 GG verbrieften Bestimmtheitsgrundsatzes und des daraus hergeleiteten Analogieverbots aber notwendig. Dazu Schmitz, in: Joecks / Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2017 § 1 Rn. 60 ff.; zur Bedeutung der Wortlautgrenze in allen Rechtsgebieten s. ausführlich Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 19 ff. 250 Ausdrücklich etwa Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004 S. 86.

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sich aus den entsprechenden zivilrechtlichen Normen ableiten lassen.251 Aus dem Gesellschaftsrecht können hier der §§ 1 Abs. 2 UmwG252 oder die Aufzählung der Nichtigkeitsgründe in § 241 AktG253 genannt werden.254 Im Grundsatz sind Normen des Zivilrechts einer Analogie gegenüber offen, sofern die Voraussetzungen einer solchen vorliegen. Diese Offenheit gebietet schon Art. 3 Abs. 1 GG, denn eine Gleichbehandlung von gleichgelagerten zivilrechtlichen Fällen wird durch eine Rechtsfortbildung erreicht.255 Will der Richter hiervon abweichen, bedarf es einer besonderen Rechtfertigung. Oftmals wird hier ein starkes Bedürfnis nach Rechtssicherheit der Vorrang eingeräumt werden.256 Im besonderen Maße stehen dem Gedanken, sich von der Wortlautgrenze im Zivilrecht zu verabschieden, das Demokratie- und Rechtstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG) entgegen. Als Staatsstrukturprinzipien haben diese auch für das Gesellschaftsrecht Bedeutung.257 Gefahren bestehen dabei insb. hinsichtlich des Gewaltenteilungsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips.258 Denn die Gerichte dürfen auch im Zivilrecht nicht als „zweiter Gesetzgeber“ im Staat fungieren und eine Rechtsfortbildung nach Belieben vornehmen.259 Das gilt insb. für die Fälle, in denen der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen hat.260 Der Wortlaut wird von einigen dafür als Grenze 251 S. dazu Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 180 ff. und Schnorbus, DB 2001, 1654, 1655. 252 Decker, in: Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 1 UmwG Rn. 21 ff. 253 Schnorbus, DB 2001, 1654, 1655 mit Verweis auf Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 184, der dort aber fälscherweise von § 195 AktG spricht. 254 So Schnorbus, DB 2001, 1654, 1655. 255 Lücke, Vorläufige Staatsakte, 1991 S.  102 f.; Dürig / Scholz, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 401; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 58 ff.; vgl. auch Schnorbus, DB 2001, 1654, 1655. 256 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 184; s. auch Schnorbus, DB 2001, 1654, 1655 mit Verweis auf die Rechtsprechung BVerfG, Beschluss v. 12.06.1986 – 2 BvL 5/80, BVerfGE 72, 302, 329 und BVerfG, Beschluss v. 08.11.1967 – 1 BvR 60/66, BVerfGE 22, 322, 329. 257 Ausführlich zur Notwendigkeit Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 467 ff.; s. auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 307 f., der von einer notwendigen wissenschaftlichen Fiktion ausgeht. 258 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 V Rn. 14 ff.; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 § 8 Rn. 12 ff. 259 Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2018. Aufl. 142. Aufl. (2009) Art. 20 Rn. 2117; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014 Art. 20 Rn. 42. 260 BVerfG Beschluss v. 15. Januar 2009 – 2 BvR, BVerfGE 122, 248, 282 (Sondervotum): „Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an ‚Gesetz und Recht‘ gebunden. Die durch Art. 97 Abs. 1 GG gewährleistete Unabhängigkeit der Richter dient der unparteiischen Gewährleistung der Gesetzesbindung in Streitfällen, gebunden an das Gesetz ist aber auch der Richter selbst. Beide Regelungen konkretisieren zum einen den Gewaltenteilungsgrundsatz und zum anderen das Demokratieprinzip. Mit diesen Vorgaben wäre es unvereinbar, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Gesetz und Recht entziehen würden. Im Zusam-

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ausgemacht und hat indizielle Wirkung.261 Auch die Bindung des Richters an „Recht und Gesetz“262 (Art. 20 Abs. 3 GG) als tragende Säule des deutschen Rechtssys­ tems würde ohne Grenzziehung zwischen Auslegung und Fortbildung ins Wanken geraten. Es ließe sich nicht überprüfen, ob der Richter noch nach dem Gesetz handelt oder zur Eigenwertung übergegangen ist.263 Aber auch die Legitimität der richterlichen Entscheidung ist eine andere. Eine Entscheidung, die sich innerhalb der Auslegung bewegt, kann sich grundsätzlich auf den Gesetzgeber und damit auf ein demokratisch legitimiertes Organ berufen.264 Eine Rechtsfortbildung dagegen bedarf besonderer Voraussetzungen, mithin einer gesonderten rechtsstaatlichen Erlaubnis.265 Auch der Grundsatz der Rechtssicherheit266 als eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und verfassungsrechtlicher Gebote müssen bei Überlegungen zur Wortlautgrenze Beachtung finden.267 Gleiches gilt für den Vertrauensschutzgrundsatz.268 Aus diesen Gründen wird in der Literatur der Schluss gezogen, dass letztlich keine Zweifel bestehen, „daß das Postulat der Wortlautgrenze normativ geboten ist“. Es wird jedoch auch angemerkt, dass diese Grenze „sprachphilosophisch haltbar und empirisch durchsetzbar sein muss“.269 menwirken zwischen Legislative und Judikative gebührt dem demokratischen, unmittelbar legitimierten Gesetzgeber vielmehr der Vorrang.“ 261 Wird also gegen den Wortlaut gehandelt, so muss zwingend eine Rechtsfortbildung angenommen werden, auch wenn man sich noch innerhalb der ratio legis der Norm bewegt. 262 Dazu kritisch Hassemer, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011 S. 258 ff.; s. auch Busse, in: „So klar diese Bestimmungen [Anm.: Art. 1 Abs. 3 und Art. 20. Abs. 3 GG] zu sein scheinen, so wenig klar ist es, wie sie in der juristischen Praxis befolgt werden können. Gesetzliche Normen treten in der Form schriftlicher Texte auf, sind also sprachliche Äußerungen, die Bedeutungen haben, welche von den Rezipienten (hier den Richtern) interpretiert werden müssen. Geht man von einem Konzept sprachlicher Kommunikation aus, das dem Verstehen sprachlicher Äußerungen interpretativen Charakter zuschreibt so unterstellt man damit (zumindest im Sinne neuerer linguistischer Verstehenstheorien) eine aktive, sinnkonstituierende Komponente seitens des verstehenden Subjektes. Diese sprachtheoretisch einleuchtende Feststellung ist allerdings rechtstheoretisch äußerst problematisch; für den Juristen reißt sie den Gegensatz zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung auf.“ 263 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 23 spricht von der Wortlautgrenze als notwendige Institution um die Interpretationsmacht des Rechtsanwenders zu begrenzen. 264 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 304: „Nur dem Text des Gesetzes kommt die Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten zu“; s. auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 20. 265 Damit verbunden ist auch eine praktische Folge: Der Begründungszwang des Richters steigt bei einer Rechtsfortbildung automatisch an (darauf weist auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 24 hin). Zum damit einhergehenden Problem der absichtlichen Grenzverschiebung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung s. u. 266 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50 ff.; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 § 8 Rn. 46 ff.; s. dazu ausführlich unten. 267 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a S. 59. 268 Zu beiden Prinzipien s. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 23 m. w. N. 269 So Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 S. 110; vgl. auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 310 f.; auch die Strukturierende Rechtslehre erkennt

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2. Analytische Rechtstheorie Im Vergleich zur herrschenden Meinung, die kaum sprachphilosophische Einsichten berücksichtigt und kein umfassendes und präzises Konzept für die Ermittlung des „noch möglichen Wortsinns“ besitzt,270 verfügen Alternativkonzepte über Lösungen. Hier sticht ein moderner Ansatz heraus, der solche Probleme tiefer ergründen möchte: die analytische Rechtstheorie271, wie sie in unterschiedlichen Spielarten ausgeformt von Koch, Rüßmann, Alexy und Klatt vertreten wird. Die Stärke dieser Ansicht besteht darin, dass sie sich vor allem durch Berücksichtigung moderner Ansätze der Logik, Linguistik und Sprachphilosophie auszeichnet272, wodurch Probleme besser sichtbar, darstellbar und lösbar werden. Diese Ansicht profitiert dabei insb. vom sog. linguistic turn, der das Interesse der Philosophie im 20. Jahrhundert stark auf die Sprache richtete.273 Klatt hat dabei einen bedeutenden und sprachphilosophisch fundierten Beitrag zur Wortlautgrenze geleistet, auf den sogleich eingegangen werden soll. Da er auf Grundlage von Koch, Rüßmann und Alexy seine Theorie entwickelt, soll zunächst auf deren Auffassung eingegangen werden. Für die Wortlautgrenze stellt sich auch hier die Frage, welches grundlegende Konzept von Sprache vorherrscht und sodann, welche Folgerungen daraus gezogen werden. In Erinnerung sei zudem gerufen, dass die hier dargestellte Frage für die Bewertung einer Rechtsfortbildung grundlegend ist.274 a) Koch und Rüßmann Koch und Rüßmann sind im Grundsatz Anhänger einer konventionalistischen Sprachphilosophie. Diese wurde im Kern von Wittgenstein entwickelt. Kerngedanke ist: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. diese Notwendigkeit an, zieht die Grenze nur grundsätzlich anders zwischen legitimen und illegitimen Entscheidungen, s. u. 270 Vgl. Schroth, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, 288. 271 Gegen eine Trennung von analytischer Rechtstheorie und der herrschenden Meinung aber Rüßmann, in: Behrends / Dießelhorst / Dreier, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, 35, 36: „Der analytische Rahmen dient einzig und allein dazu, in Teilbereichen Probleme schärfer zu fassen und Einsichten zu erschließen, die im klassischen Rahmen unterzugehen drohen“; allen Ansichten ist gemeinsam, ein Rechtsanwendungsvorgang (bzw. Konkretiserungsvorgang) zu schaffen, der den Ansprüchen des Grundgesetzes gerecht wird und modernere Erkenntnissen der Forschungen einschließt. Insofern stimmt auch Rüßmanns weitere Aussage: „Das gemeinsame Ziel bleibt unverändert: eine Methoden- und Begründungslehre, die den praktischen Aufgaben der Feststellung, Festsetzung und Begründung dessen, was hic et nunc rechtens ist, genügt“; s. auch Rüßmann, in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1. Aufl. 2003 S. 135 f. 272 Sie einführend Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 4 ff. 273 Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014; Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014 S. 12. 274 S. dazu bereits die Einleitung in diesem Kapitel.

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Die Wörter erhalten ihre Bedeutung dadurch, dass sie innerhalb einer Sprachgemeinschaft gebraucht werden:275 „Die Bedeutung eines Zeichens ist sein von der Sprachgemeinschaft als richtig akzeptiertes Verständnis.“276 Nach Koch und Rüßmann gibt es folglich keine „[…] konventionsunabhängige wahre, eigentliche oder natürliche Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks“.277 Eine naturgegebene Bedeutung eines Zeichens wird abgelehnt. Eine Konvention gilt regelmäßig nicht ausdrücklich, sondern nur implizit und deren Anforderungen sind erfüllt, wenn (1) die Mitglieder der Gruppe in bestimmten Situationen selten offen von ihrem Verhalten abweichen, (2) wenn sie davon abweichen und dann Sanktionen der anderen Mitglieder ausgesetzt sind und (3) diese Sanktionen im allgemeinen auch akzeptiert werden.278 Koch / Rüßmann sind daher Vertreter einer sog. konventionalistischen Sprachtheorie.279 Weil es solche Konventionen gibt, erkennen sie bei der semantischen Interpretation die Möglichkeit der empirischen Feststellung des Sprachgebrauchs (eben dieser „Konventionen“) an.280 Die Alternative dazu ist die Festsetzung einer Bedeutung.281 Mangels Möglichkeit, ständig auf die empirische Forschung bei der Feststellung einer Bedeutung zurückzugreifen,282 schlägt diese Meinung zur Vereinfachung des Verfahrens vor, zum Auffinden von Sprachkonventionen283 zunächst auf die der 275

Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 155d. Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 161; wann ein Verhalten in dieser Gemeinschaft nach v. Savigny als richtig akzeptiert wird, rezipieren Koch / Rüßmann sodann ausführlich. 277 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 7; s. zusammenfassend auch S. 163; Koch, Seminar „Die juristische Methode im Staatsrecht“, 1. Aufl. 1977, 29 f.; vgl. auch ausführlich zum Standpunkt der beiden Autoren Jeand’Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, 33 ff. sowie Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 63 ff. und (kritisch) Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, 43; zur früher unter Juristen vorherrschenden „natürlichen Wortbedeutung“ Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 129 m. w. N. Zum heutigen Stand sind keine Studien ersichtlich. 278 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 161. 279 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 158 ff.; vgl. aber auch kritisch Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 97 ff.; Bach, Das Analogieverbot im Verwaltungsrecht, 2011, 78 f.; im Übrigen lässt sich auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991 S. 70 ff. dieser Gruppe zuordnen, vgl. auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 69. 280 Im juristischen Kontext stellen die Autoren grundsätzlich auf den Sprachgebrauch des (historischen) Gesetzgebers ab, Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 163 bzw. 189; vgl. auch Schroth, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, 288. 281 S. ausführlich zur Feststellung und Festsetzung Koch / Rüßmann, Juristische Begründungs­ lehre, 1982, 163 ff. 282 Grundsätzliche Bedenken bei Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 83 ff. 283 Rüßmann, in: Behrends / Dießelhorst / Dreier, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990 S. 49: spricht auch von sog. Wortgebrauchsregeln (s. dazu unten bei Alexy): „Das sind zum Teil explizit festgelegte, meist aber in einer bestimmten Sprechergruppe implizit geltende Regeln.“ 276

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juristischen Literatur entnommen Fachsprache zurückzugreifen. Lässt sich hier keine Bedeutung entnehmen, so wird nach dieser Meinung ein Wörterbuch befragt und nur hilfsweise auf die eigene Sprachkompetenz („Lehnstuhlmethode“)284 abgestellt.285 Letzteres erscheint zumindest aus Gründen der Anwendungsgleichheit bedenklich. Dieses Vorgehen ist nach einer Äußerung innerhalb der analytischen Rechtstheorie daher nur als erster Schritt, trotz zugegebener linguistischer Bedenken, gerechtfertigt, weil für den Juristen das Ergebnis der Bedeutungsermittlung unabhängig von der eingesetzten Methode regelmäßig gleichbleibt und es daher wenig praktikabel ist, „[…] den Juristen um einer Sprachwahrheit willen auf einen dornigen Weg zu schicken, der ihn der Lösung seines Entscheidungsproblems nicht näher bringt. […] Entscheidungsmöglichkeiten auf der Stufe der Sprachanalyse beschränken sich deshalb zunächst auf das Ausscheiden absolut sprachwidriger Auslegungshypothesen sowie auf die Anerkennung der Auslegungshypothesen, deren Verwerfung absolut sprachwidrig wäre.“286 Gleichzeitig wird freilich eingeräumt, dass diese Methode Willkür in unbekannten Umfang enthält, die hinzunehmen sei, da Korrekturmöglichkeiten im juristischen Meinungsaustausch bestünden bzw. der Gesetzgeber jederzeit einschreiten könnte.287 Für die Suche nach der Bedeutung eines Ausdrucks weisen die Autoren auch auf ein in dieser Form auf Carnap zurückgehenden Sprachmodell hin.288 Sie unterscheiden zwischen der (1) Intension und (2) Extension eines (3) sprachlichen Zeichens (sog. semiotisches Dreieck).289 Intension (Ein von Menschen errichtetes Bauwerk)

Zeichen (Gebäude)

Extension (Reichstag, Bundeskanzleramt)

Das Zeichen „Gebäude“ meint „ein von Menschen errichtetes Bauwerk…“ und bezieht sich in der Außenwelt z. B. auf den Reichstag. 284

Rüßmann, in: Behrends / Dießelhorst / Dreier, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990 S. 50; s. dazu auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 79 ff. 285 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 190 f.; im Detail offengelassen noch von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, allerdings mit Hinweis auf „[…] unterschiedliche Wege wie die Berufung des Sprechers auf seine Sprachkompetenz, empirische Erhebungen und die Bezugnahme auf die Autorität von Wörterbüchern […]“; s. auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 229 Fn. 1259. 286 Rüßmann, in: Behrends / Dießelhorst / Dreier, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990 50. 287 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 191. 288 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 128 ff. 289 S. dazu und zu den verwendeten Beispielen Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 155b; vgl. auch Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 98.

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Teil 1: Das Richterrecht

Die Intension bezeichnet die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks (Zeichens), wobei darunter bestimmte physikalische Eigenschaften von Individuen (Objekten)290 verstanden werden. Dabei stiftet „[…] der jeweils geltende Sprachgebrauch den Zusammenhang zwischen den sprachlichen Zeichen und den Eigen­ schaften, die die Zeichen ausdrücken“.291 Gemeint ist, dass das Zeichen und sein Inhalt letztlich konventionell festgelegt sind und üblicherweise nicht einfach spontan durch die Sprachgemeinschaft geändert werden können. Um die Intension eines sprachlichen Zeichens zu erfahren (und damit seine Bedeutung), muss – wie oben aufgeführt – sein Gebrauch ergründet werden. Mit der aufgefundenen Sprachkonvention (z. B. durch ein Wörterbuch) kann man eine Verwendungsregel formulieren, die die Bedeutung eines Wortes beschreibt.292 Im Gegensatz zur Intension beschreibt die Extension Gegenstände der außersprachlichen Wirklichkeit, auf die die Zeichen aufgrund ihrer Bedeutung (Intension) anzuwenden sind.293 Ein Kernpunkt dieser Auffassung ist nun, dass die Intention eines Ausdrucks seine Extension festlegt:294 Auf „welche Gegenstände ein Prädikat anzuwenden ist [Anm.: Extension], hängt davon ab, welche Eigenschaften seine Bedeutung Anm.: Intension] bilden“.295 Die Intention legt also fest, auf welche Sachverhalte die gesetzliche Norm anzuwenden ist. Weil die Ermittlung der Intention für sich schwierig ist, kann grundsätzlich nur über den Umweg einer (empirischen) Extensionsermittlung auf die Intension geschlossen werden.296 Durch das Wissen, auf welche Gegenstände ein sprachlicher Ausdruck anzuwenden ist, lassen sich Rückschlüsse zur Intention des sprachlichen Zeichens ziehen.297 Kurz: Von der Extension ausgehend wird auf die Intension geschlossen.298 Das geschieht durch Beobachtung möglichst vieler Anwendungsfälle,299 wobei am Ende des Verfahrens zumindest mittels Ausschlussfahren alle Gegenstände herausgefiltert werden können, die nicht zur Intention des Zeichens gehören.300 Die Ermittlung der Bedeutung eines Ausdrucks erfolgt damit letztlich durch Prüfung seiner Anwendbarkeit auf einen gegebenen Fall.301 Das sprachliche Zeichen „Gebäude“ aus dem obigen Beispiel 290 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 133 f.: „Mit Eigenschaften als der Bedeutung sprachlicher Zeichen ist […] nichts Geistiges, im menschlichen Bewußtsein Befindliches gemeint, sondern etwas Physikalisches, das die Dinge in der Welt haben, eine Seite oder ein Aspekt oder eine Komponente oder ein Charakterzug der Dinge.“ 291 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 7. 292 Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, 6. 293 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 7 bzw. 128 ff. 294 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 145 ff.: „extensionsfestlegende Funktion der Intension“ (s. dort auch zur Auseinandersetzung mit Kritik an diesem Ansatz). 295 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 145 ff. 296 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 189. 297 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 129. 298 Becker, Welten in Sprache, 2014, 138. 299 Vgl. Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 189 f. 300 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 189 f. und 129: „Sofern man sicher ist, auf welche Gegenstände ein sprachlicher Ausdruck anzuwenden ist, lassen sich daraus Schlüsse auf die Bedeutung dieses Ausdrucks ziehen.“ 301 Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 100.

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wird auf die dort in der Extension genannten Fälle (Museum usw.) angewendet und so sollen nun durch die Beobachtung des Gegenstandes Rückschlüsse auf die Intension möglich werden.302 Allerdings ist dieser Weg – was auch Koch / Rüßmann einräumen – mit Unsicherheiten belastet, weil man oftmals durch eine solche Feststellung nur sagen kann, welcher Gegenstand (z. B. Pferd) nicht in den Bedeutungsbereich des Wortes (Gebäude) fällt. Definiert man beispielsweise ein Gebäude als ein menschliches Bauwerk mit Wänden, Fenstern und Dächern, so wird man sich bei einem Rohbau ohne die letzten beiden Eigenschaften fragen lassen müssen, ob unter oder den Begriff Gebäude passt. Koch und Rüßmann setzen sich in diesem Zusammenhang dann auch mit weiteren Problem der Bedeutungsermittlung auseinander. So ist etwa eine Intention nur „genau“, wenn man in allen Fällen der Anwendung eines Begriffs über das Zutreffen oder das Nichtzutreffen dieses Begriffes auf bestimmte Sachverhaltsmengen eine Entscheidung treffen kann.303 Dabei können die eben beschriebenen Unsicherheiten auftreten, die als sog. „sematische Spielräume“ bezeichnet werden können. Darunter verstehen Koch und Rüßmann die Mehrdeutigkeit, Inkonsistenz und Vagheit der Sprache, die trotz Feststellung einer Wortbedeutung als großes Problem bestehen bleibt. Es handelt sich dann um unklare Fälle. Sie kommen zum Schluss, dass die These der Wortlautgrenze dennoch haltbar ist. Um die Wortlautgrenze, insbesondere im Fall der Vagheit, handhabbarer zu machen, in der sich zwar eine Bedeutung feststellen lässt, aber nicht gesagt werden kann, ob der fragliche Sachverhalt unter das Gesetz fallen soll, kann auf das 3-Kandidaten-Modell zurückgegriffen werden,304 das auf Jellinek zurückgeht305 (ein anderes ist von Philipp Heck und kann als Zwei-Bereiche-Modell306 verstanden werden307). 302

Als Beispiel wird in der analytischen Rechtstheorie auf das sog. Fensterurteil des BGH verwiesen, BGH Urteil v. 13.07.1960 – V ZR 90/59, JZ 61, 494 bzw. Koch, Seminar „Die juristische Methode im Staatsrecht“, 1. Aufl. 1977, 34 f. und Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 128 ff. 303 Schroth, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, 288. 304 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 194 ff.; auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 299 f.; aus dem Strafrecht s. Hassemer / Kargl, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017 § 1 Rn. 82. 305 Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1913 S. 37 f. zum Thema der unbestimmten Rechtsbegriffe: „Aber noch bevor er [Anm.: der Jurist] die Quelle der genaueren Begriffsbestimmung kennt, weiß er, daß es Erscheinungen gibt, die ganz sicher unter den Begriff fallen, und solche, die ganz sicher nicht darunter fallen. Dadurch entstehen die Sphären der positiven und der negativen Gewißheit und diejenigen des möglichen Zweifels.“, vgl. auch Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 195. 306 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 199 f. sehen Unterschiede zwischen ihrem Drei-Kandidaten-System und dem Zwei-Bereiche-Modell von Philipp Heck. Dabei wird übersehen, dass auch das System von Heck in Wahrheit ein Drei-Bereiche System ist (s. sogleich). 307 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung / Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (Vorstellungskern / Vorstellungshof), 107, 156.

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Teil 1: Das Richterrecht

Außen-

Begriffs-

Bedeutungskern

hof

bereich

Dabei geht es bei beiden Systemen darum, dass ein Wort einen unzweifelhaften Bedeutungskern (positive Kandidaten / Begriffskern) und einen – wie oben ausgeführt – unscharfen Randbereich hat, von dem nicht klar gesagt werden kann, ob das Wort diese Bedeutung noch einschließt (neutrale Kandidaten / Begriffshof). Weiter gibt es eine Vielzahl von Bedeutungen, die mit dem Begriff eindeutig nicht in Verbindung gebracht werden können (negative Kandidaten/ „Außenbereich“). Hier sollen die weiteren abgestuften Auslegungsmethoden entscheiden, ob der Kandidat zu den positiven oder negativen Bereich gehört.308 Es geht dann nicht mehr um die Feststellung, sondern um die Festsetzung der Bedeutung und zwar zunächst mittels subjektiver und hilfsweise objektiver Auslegung.309 Trotz der Vagheit der Umgangssprache sollen sich so „gerechte Entscheidungen“ erzielen lassen.310 Ein ähnliches Vorgehen besteht auch bei der Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz. Für die Wortlautgrenze ergibt sich folglich folgendes Konzept: Die Bedeutung eines Wortes ist im Grundsatz ermittelbar, aber es besteht selbst dann noch die Möglichkeit semantischer Spielräume, die mittels des dargelegten Konzepts überwiegend beherrschbar sein sollen. So darf etwa im Falle der Vagheit bei neutralen Kandidaten mittels anderer Auslegungsarten eine Zuordnung zu den positiven oder negativen Kandidaten erfolgen.311 Die Wortlautgrenze kann damit durch drei Anwendungsregeln erläutert werden: (1) Positive Kandidaten dürfen nicht aus dem Anwendungsbereich einer Norm herausfallen, (2) negative dürfen nicht einbezogen werden und (3) bei neutralen Kandidaten bedarf es einer Auslegung mittels der 308

Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 200: „Nach der Feststellung des Wortsinns darf bei vagen Begriffen die Auslegung mit Hilfe der anderen juristischen Auslegungsregeln nur mehr die neutralen Kandidaten betreffen; diese dürfen den positiven oder negativen zugeordnet werden.“; zu Details s. sodann S. 210; vgl. auch Hassemer / Kargl, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017 § 1 Rn. 88. 309 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 163 ff. 310 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 202, dort aber auch mit Hinweis auf die Wertungsabhängigkeit. 311 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 200.

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anerkannten Methoden, um sie so der positiven oder negativen Kategorie zuschlagen zu können.312 Im Punkt (3) handelt es sich nicht mehr um eine Feststellung, sondern Festsetzung der Bedeutung, aber immer noch innerhalb der Wortlautgrenze,313 denn der mögliche Wortsinn kann etwa im Fall der Vagheit nach der obigen Definition nicht überschritten sein. Allgemein kann man dann von einer extensiven Auslegung sprechen.314 Diese Ansicht stellt bereits einen bedeutenden Fortschritt gegenüber der herkömmlichen herrschenden Meinung dar, weil sie aufgrund einer bewusst wahrgenommenen, sprachphilosophischen Grundlage argumentiert und dass Problem analytisch aufarbeitet. b) Alexy Ein ähnliches Konzept vertritt auch Alexy in seiner Theorie der juristischen Argumentation.315 Alexy beruft sich in sprachphilosophischer Sicht u. a. auf Wittgensteins Sprachspiel316 und geht entsprechend seines diskursiven Ansatzes317 davon aus, dass ein semantisches Argument318 verwendet werden kann, um „eine Interpretation zu rechtfertigen, zu kritisieren oder als semantisch zumindest zulässig auszuweisen“.319 Dafür bedarf es einer sog. Wortgebrauchsregel.320 Darunter können zum Teil explizit festgelegte, meist in einer bestimmten Sprechergruppe implizit geltende Regeln verstanden werden.321 Sie legt also fest, wie ein Ausdruck korrekt verwendet werden kann. Die Bezeichnung ist letztlich identisch mit derjenigen der Sprachkonventionen von Koch und Rüßmann, auch wenn sie selbigen Begriff in der Begründungslehre nicht verwenden. Eine solche Wortgebrauchsregel ist nach Alexy als Feststellung des natürlichen (allgemeinen) oder eines besonderen juristischen Sprachgebrauchs aufzufassen.322 Ein semantisches Argument kann

312

Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 67. Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 97, der aus dem Konzept von Koch, Rüßmann und Alexy schließt, eine Wortlautgrenze im Fall der neutralen Kandidaten gebe es nicht. 314 Hassemer / Kargl, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017 § 1 Rn. 88. 315 Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004. 316 Zum Begriff im Detail s. Busse, Historische Semantik, 1987, 205 ff.; einführend Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 99 ff. 317 Einführend dazu Alexy, in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1. Aufl. 2003, 113 ff. 318 Alexy, in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1. Aufl. 2003, 120 spricht auch von linguistischen Argumenten. 319 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 289. 320 Letztlich ist die Wortgebrauchsregel nichts anderes als eine Sprachkonvention wie bei Koch und Rüßmann, vgl. Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 362. 321 Vgl. Rüßmann, in: Behrends / Dießelhorst / Dreier, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990 S. 49. 322 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 289. 313

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Teil 1: Das Richterrecht

seinerseits allein mit einer Wortgebrauchsregel begründet werden (Feststellung) oder es müssen bei unklaren oder sonstigen unbestimmten Fällen323 (s. o.) weitere Auslegungsmethoden hinzutreten (Festsetzung).324 Unklare Fälle liegen vor, wenn es möglich ist, die semantische Interpretation zu akzeptieren oder sie eben nicht anzuerkennen:325 „Es kann nur festgestellt werden, daß T [Anm.: ein Tatbestand] vage ist und a [Anm.: der Sachverhalt] im Vagheitsbereich von T liegt. Die Frage, ob a unter T fällt, ist nicht durch eine Feststellung über die Sprache, sondern durch eine Festsetzung zu beantworten.“326 Alexy geht also wie auch Koch und Rüßmann allgemein davon aus, dass sich klare und unklare Fälle trennen lassen und klare Fälle einer Feststellung zugänglich sind, so dass sie als Argumente verwendet werden können. Eine Entscheidung stehe dann fest. Man kann nur über den Wortlaut im Weg der Rechtsfortbildung hinausgehen.327 Bei unklaren Fällen muss letztlich eine Festsetzung der Bedeutung erfolgen. Wie eine Wortgebrauchsregel begründet werden kann, lässt Alexy weitestgehend offen. Er verweist lediglich auf die eigene Sprachkompetenz, empirische Erhebung und Wörterbücher.328 c) Kritik am bisherigen Ansatz Einige Stimmen in der Literatur wenden sich ausdrücklich gegen die analytische Rechtstheorie. So wird vertreten, dass es (1) nicht einleuchtet, dass man etwa eine Wortgebrauchsregel mittels Wörterbuch ermitteln will. Dort gibt es nur Gebrauchsbeispiele und keinesfalls abschließende Festlegungen einer Bedeutung.329 Solche Werke sind stark vom Ersteller beeinflusst (Vorauswahl der Begriffe).330 Eine empirische Ermittlung ist nach diesen Vertretern nicht möglich. Auf sprachphilosophischer Ebene wird (2) entgegengehalten, dass Sprache mit Wittgenstein offen und einer ständigen Veränderung unterliegt.331 „Konventionen eignen sich daher nicht als Instrument zur Disziplinierung.“332 Die Vorstellung der analytischen 323

Alexy, in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1. Aufl. 2003, 120; vgl. auch Bermejo / Wirtz, ZJS 2007, 398. 324 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 289, sowie ders., in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1.  Aufl. 2003 120 f. 325 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 289. 326 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 290. 327 Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 1. Aufl. 2003, 120. 328 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 290. 329 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 140; so auch Busse, Der Deutschunterricht 43 (1991), 42, 44 f. 330 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 140; so auch Busse, Der Deutschunterricht 1991, 42, 44 f. 331 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 167 bzw. 351e; s. dazu auch Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 99 ff. 332 So die Folgerung von Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 100 aus der Gegenansicht.

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Rechtstheorie vom Verständnis der Sprache ist falsch: „Die Sprache ist (…) keine der Kommunikation vorgeordnete Regelmaschine, sondern sie entsteht aus der Verknüpfung gelungener Kommunikationserfahrungen und einer mitlaufenden normativen Bewertung.333 Es kann daher niemals um eine Bedeutungsfeststellung gehen, sondern immer nur um eine Bedeutungsfestsetzung.334 Daraus wird folgende Konsequenz gezogen: „Von der sprachlichen Bedeutung als normativer Legitimationsinstanz für die Rechtsarbeit bleibt nichts übrig. Nur in den Arbeitsvorgängen demokratisch und rechtsstaatlich vertretbarer Entscheidung und ihrer argumentativen juristischen Begründung kann Normativität hergestellt werden“. d) Klatts Theorie der Wortlautgrenze Aufbauend auf den gewonnenen Erkenntnissen von Alexy, Koch und Rüßmann und für die Trennbarkeitstheorie streitet eine jüngere Meinung.335 Klatt als Vertreter einer modernisierten analytischen Rechtstheorie entwirft ein eigenes umfassendes Konzept zur Theorie der Wortlautgrenze. Auf Grundlage der Sprachphilosophie Robert Brandoms weist er dabei vor allem Kritik an der Wortlautgrenze zurück, nach der die Wortlautgrenze sprachphilosophisch nicht haltbar ist.336 Im Kern geht es bei der Auseinandersetzung um die in der Sprachphilosophie kontrovers diskutierte Frage der Normativität von Sprache, die bereits in Ansätzen angeklungen ist. Diesen selbst umstrittenen Terminus337 beschreibt Klatt in seiner allgemeinen Normativitätsthese wie folgt: „Es kann in einer intersubjektiven Weise zwischen einem korrekten und einem inkorrekten Gebrauch von Begriffen und Propositionen unterschieden werden.“338 Dahinter steckte die Überlegung, „dass es unmöglich ist, überhaupt etwas Bedeutungsvolles zu sagen, solange es nicht möglich ist, Worte falsch zu verwenden“. Diese Auffassung bildet das Fundament von Klatts Theorie. Für unterschiedliche Betrachter müsste folglich nachvollziehbar sein, ob ein Begriff auf einen bestimmten Gegenstand angewendet werden kann. Dafür müsste es in der Theorie eine „Richtschnur“ geben. Schlagwortartig könnte man festhalten: Bedeutung ist normativ.339 Diese Normativitätsthese von Klatt muss 333

Christensen / Kübbeler, ZERL 2011 abrufbar unter: http://zerl.uni-koeln.de/christensenkuebbeler-2011-wortlautgrenze-woerterbuch.html 334 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 351e: „Bedeutung gewinnen Äußerungen ganz ohne Regeln allein durch Interpretation.“ 335 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004. 336 S. dazu ausführlich unten und Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 84 ff. 337 S. dazu Kraft, Die Normativität sprachlicher Bedeutung, 2013. 338 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 123; Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013 S. 341, beschreiben Normativität als ein „von der Absicht auf Verständigung ausgehenden Druck wechselseitiger Konformität.“ Daraus wird geschlossen: „Wer verstanden werden will, muss sich an die (Gebrauchs-) Regeln in einer Sprachgemeinschaft halten; wer das nicht tut, wird miss- oder gar nicht verstanden“. 339 Vgl. dazu auch Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 341; Glüer, DZPhil 48 (2000), 449, 454.

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freilich in ihrer Existenz und Ausformung begründet werden, da die Normativität von Sprache stark umstritten ist.340 Dabei stützt sich Klatt im Detail auf Brandoms Werk „Making it Explizit“. Brandoms begründet darin, dass sprachliche Aussagen dadurch Bedeutung erlangen, dass sie als Konklusion und Prämissen in Bezug auf andere Aussagen auftreten (semantischer Inferentialismus).341 Es geht also um die Beziehung von Wörtern zu Wörtern und nicht mehr um die von Wörtern zu außersprachlichen Gegenständen.342 So entsteht ein Netz aus Aussagen, denn jede Aussage steht in einer Folgerungsbeziehung zu einer anderen (sog. semantischer Aussagen-Holismus).343 Diese Folgerungsbeziehungen sind die fundamentalen bedeutungskonstituierenden Einheiten.344 Die inferentiellen Beziehungen zwischen den einzelnen Aussagen werden dabei in einem intersubjektiven Spiel des Gebens und Forderns von Gründen etabliert, in dem einzelne Sprecherinnen und Sprecher unterschiedliche normative Status erwerben:345 „Die Grundidee dieses Modells lautet, dass die Teilnehmer eines Sprachspiels über die Einstellungen, Festlegungen und Berechtigungen einzelner Sprecher wechselseitig quasi Buch führen. Auf diese Weise entsteht ein Bild davon, was in der Gemeinschaft als richtiger und was als falscher Sprechakt gilt.“346 Sprachliche Bedeutung wird damit auf der Basis von Interaktionen erklärt, die zwischen Individuen stattfinden. Klatt verwendet die von Brandom entwickelte Theorie damit zur Verteidigung der Normativitätsthese.347 Sodann wendet sich Klatt der zweiten (umstrittenen) Frage, nach der Objektivität sprachlicher Bedeutung zu.348 Wiederum unter Berufung auf Brandom kommt er zum Schluss, dass „sprachliche Bedeutung […] sowohl in referentieller als auch in intersubjektiver Hinsicht objektiv [ist]. […] Die richtige Anwendung von Begriffen ist dadurch bestimmt, wie die Dinge sind, auf die sie sich beziehen. Sowohl einzelne Sprecher als auch eine ganze Gemeinschaft können darüber irren, welcher Begriff in einer bestimmten Situation richtig ist.“349 Klatt kommt daher zu dem Ergebnis, dass sich die sprachliche Bedeutung aus Normativität, Objektbezogenheit und Referenz zusammensetzt.350

340

Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 160 ff. m.w.N; s. dazu auch etwa Glüer, DZPhil 2000, 449, 449 ff. und die Ausführungen bei Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129 ff. 341 Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 172: „So hat zum Beispiel die Aussage ‚Dies ist blau‘ unter anderem dadurch Bedeutung, dass sie als Prämisse in dem Schluss ‚Also ist dies farbig‘ fungiert.“ 342 Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 172. 343 Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 172. 344 Newen / Schrenk, Einführung in die Sprachphilosophie, 2014. 345 Bertram, Sprachphilosophie zur Einführung, 2. Aufl. 2014, 174. 346 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 354. 347 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 160 ff. 348 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 195 ff. 349 Kritisch Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 134 ff. 350 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 217.

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Im weiteren Teil seiner Arbeit entwickelt Klatt auf der zuvor gewonnenen Basis sodann eine Theorie der Wortlautgrenze. Allerdings wird sie dafür – wie dargelegt – nicht nur von Grund auf sprachphilosophisch neu begründet, sondern in modifizierter Form neu errichtet. Klatt entwirft dabei ein sehr ausdifferenziertes System aus acht allgemeinen und fünf besonderen semantischen Grenzen.351 Diese machen die denkbaren semantischen Fehler und damit eine Überschreitung der Wortlautgrenze im Detail deutlich. Kerngedanke seiner Theorie ist dabei die Verbindung von Alexys Wortgebrauchsregeln mit Brandoms Gedanken der impliziten Normen:352 „Die Geltung dieser Regeln kann durch die normative Pragmatik Brandoms erklärt werden. Wortgebrauchsregeln sind in der alltäglichen Sprachpraxis implizit vorhanden. Sie werden durch die Einstellungen und Bewertungshandlungen der Teilnehmer eines Sprachspiels hervorgebracht, also sozioempraktisch instituiert.353 Diese Wortgebrauchsregeln (sprich: impliziten Normen) werden im sprachanalytischen Diskurs, wie ihn Alexy vorgeschlagen hat, offengelegt (sprich: explizit gemacht).“354 Bei diesem von Alexys vorgeschlagenen Diskurs handelt es sich um einen Diskurs „eigener Art“, in dem es um die Aufdeckung sprachlicher Schwierigkeiten geht.355 Er dient damit der „Sicherung klaren und sinnvollen Sprechens.“356 Durch den Diskurs wird eine Wortgebrauchsregel festgestellt, die die Bedeutung eines Wortes konkretisiert. Nach Klatt ist die Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks in allgemeiner Form folglich fehlerhaft, „[…], wenn die ihr zugrunde liegende Wortgebrauchsregel nicht mit der in der Sprachgemeinschaft tatsächlich geltenden, d. h. normativ als richtig ausgezeichneten Wortgebrauchsregel übereinstimmt.357 Eine semantische Grenze – wie die Wortlautgrenze – wird folglich durch fehlerhafte Verwendung sprachlicher Ausdrücke überschritten.358 Wird im Rahmen der festgestellten Wortgebrauchsregel entschieden, liegt Interpretation vor, anderenfalls eine Rechtsfortbildung. So kommt Klatt zu dem Ergebnis, dass im viel diskutierten Geldwäsche-Urteil des Bundesverfassungsgerichts359 die Wortlautgrenze überschritten war. Dort wurde der Vorsatzbegriff bei § 261 Abs. 2 Nr. 1 StGB nach Ansicht Klatts in un-

351

Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 235 ff. insb. 263; s. auch Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005 S. 358. 352 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 359: „Es ist eine Leitidee der hier vorgestellten Theorie, dass diese Wortgebrauchsregeln eine Art der impliziten Normen sind, welche nach Brandom sprachliche Bedeutung konstituieren“; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 237; vgl. auch Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129. 353 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 359; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 237. 354 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 229; s. dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 185 f. 355 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 185. 356 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, 185. 357 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 359. 358 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 359. 359 BVerfG v. 30.03.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, BVerfGE 110, 226.

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zulässiger Weise verengt und damit ein Gesetzesbegriff (weiter Vorsatzbegriff zuungunsten des Strafverteidigers) durch einen anderen (enger Vorsatzbegriff zugunsten des Strafverteidigers) ersetzt. Dadurch wurde im Ergebnis eine Rechtsfortbildung mittels teleologischer Reduktion vorgenommen.360 Das BVerfG übersehe in seiner, die Verfassungsgemäßheit bejahenden Entscheidung, dass es eine feste fachsprachliche (juristische)  Konvention in Rechtsprechung und Literatur über den Begriff des Vorsatzes gebe (Wortgebrauchsregel).361 Wie die vorrangegangen Autoren kann Klatt im Ergebnis die Möglichkeit einer wie oben erläuterten semantischen Grenze (Wortlautgrenze) nicht nur bejahen, sondern auch die Unterscheidung von schwierigen und leichten Fällen sowie von der Feststellung und Festsetzung von Bedeutung erhalten.362 So geht Klatt etwa innerhalb der Gruppe der schwierigen Fälle davon aus, die Wortlautgrenze versage im Moment, wo sie wirksam werden solle363, nicht bestätigt. Auch in diesem Fällen kann nach dieser Ansicht noch semantisch argumentiert werden.364 Gerade schwierige Begriffe sollen eine Fülle inferentieller Relationen aufweisen, die so viele unbekannte und neue Sachverhalte abdecken sollen und dadurch letztendlich zahlreiche Anhaltspunkte für den Umgang mit unklaren Fällen bieten. Zudem kann in diesen Fällen das Drei-Kandidaten-Modell fruchtbar gemacht werden.365 Die Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung wird nach dieser Auffassung somit durch die semantische Grenzziehung möglich.366 e) Zusammenfassung Zusammenfassend kann aus dem Dargestellten geschlossen werden, dass die analytische Rechtstheorie davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Wortes erkenntnismäßig zugänglich ist und mithin grds. festgestellt werden kann367 und eine Wortlautgrenze – wenn auch mit graduellen Unterschieden im Detail – möglich ist. Diese kann in klaren Fällen festgestellt werden. In den eindeutigen Fällen bestehen

360

Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 360 ff. Klatt, in: Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 362. 362 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 367; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 219 ff. 363 Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1. Aufl. 1995, 239 f., der davon ausgeht, dass die Sprachverwendung nicht durch feste Grenzen gekennzeichnet ist, aber anerkennt, dass eine falsche Wortverwendung im Normalfall eindeutig ausgeschlossen werden kann („Man kann einen „Hasen“ nicht einen „Igel“ nennen). Allerdings versage die Wortlautgrenze in den Fällen, wo ein solch einfacher Ausschluss eben nicht mehr möglich ist. 364 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 225: „Daher kann keine Rede davon sein, in unklaren Fällen müsse die Semantik notwendig versagen. Sprachliche Unklarheit ist mit semantischer Gehaltlosigkeit nicht gleichzusetzen.“, s. auch S. 235 ff. 365 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 264 ff. 366 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 226. 367 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 234. 361

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keine Zweifel über die Frage der Anwendbarkeit einer Norm auf einen bestehenden Sachverhalt. In unklaren Fällen muss dagegen die Bedeutung festgesetzt werden.368 Schwierige Fälle sind bei Vagheit und Mehrdeutigkeit gegeben.369 Nach Klatt kann auch noch in diesen Fällen semantisch argumentiert werden. Die Wortlautgrenze bildet nach der analytischen Rechtstheorie somit auf die eine oder andere Weise ein tragfähiges Konzept. Die angeschlagene Wortlautgrenze wird rehabilitiert.370 III. Untrennbarkeitstheorie 1. Grundgedanke: Normprogrammgrenze statt Wortlautgrenze An der Trennbarkeitstheorie der herrschenden Meinung und der analytischen Rechtstheorie übt die sog. „Strukturierende Rechtslehre“371 scharfe Kritik.372 Diese Meinung geht mit sprachwissenschaftlicher Unterstützung373 und unter Berufung auf Wittgenstein374, Quine, Davidson, Derrida, Foucault375 und Brandom376 davon aus, dass es eine starke Unbestimmtheit im Hinblick auf die Bedeutung gebe.377 368

Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004. Zum Streit um die Gruppe der Inkonsistenz bzw. evaluativen Offenheit s. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 270 bzw. 271. 370 Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005 S. 367; vgl. Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129. 371 Zur Gegenkritik u. a. Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 172 ff. und Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004 82 ff. 372 S. dazu unten ausführlich. 373 Busse, Juristische Semantik, 1993 S. 40 f.: „Der Terminus ‚Wortlautgrenze‘ ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen würde das Feststellen einer ‚Grenze des möglichen Wortsinns‘, die ja als ‚Grenze der Auslegung‘, die nicht überschritten werden darf, fungieren soll, selbst bereits die Kenntnis des festgestellten Wortsinns voraussetzen; was erst herausgefunden werden soll, die Bedeutung in ihren ‚Grenzen‘, würde also implizit bereits vorausgesetzt, was eine logische Unmöglichkeit darstellt. Hier wird selbst schon im Grundbegriff der Position, welche die Einwirkungen der Interpretation auf das zu Interpretierende gerade negieren will, deutlich, daß Vor-Urteile, Vor-Meinen stets schon in die „Feststellung des Wortsinns“ eingehen. Zum anderen fehlt es aus linguistischer Sicht an eindeutigen Kriterien, nach denen beurteilt werden könnte, wo eine ‚Grenze des Wortsinns‘ gezogen werden müßte; d. h. die eindeutige Feststellbarkeit des Wortsinns, wenigstens aber die Möglichkeit einer starren Grenzziehung, steht in Zweifel. Es verwundert deshalb nicht, daß Rechtstheoretiker, die an die Feststellbarkeit des Wortsinns glauben, weniger auf linguistische als vielmehr auf logisch orientierte Sprachtheorien zurückgreifen, welche den Anschein vermitteln, bessere Abgrenzungskriterien bereitstellen zu können.“ Das sogleich dargelegte Gesamtkonzept von Müller (was die Aussagen über die Wortlautgrenze einschließt) wird dagegen als „vielversprechender Ansatz“ bezeichnet, S. 252. 374 S. z. B. Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 209 ff. 375 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 166 ff., 507 ff., 517. 376 Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415d; s. auch den bereits oben erwähnten Aufsatz von Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128. 377 S. exemplarisch Müller, Recht – Sprache – Gewalt, 2. Aufl. 2008 S. 54 ff. zum Gewaltbegriff in der Rechtsprechung. 369

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Sprache kann nur funktionieren, weil sie unbestimmt ist. Erst dadurch wird sie in ihrer Bedeutung gegenüber der Vielfalt der Zwecke für ihren Einsatz autonom.378 Sprache ist eine Verkettung von gelungen Kommunikationserfahrungen unter mitlaufenden normativen Wertungen.379 Bedeutung gewinnen Äußerungen allein durch Interpretation.380 Letztlich determiniert damit nicht der Normtext (also der Gesetzeswortlaut) die Bedeutung, sondern der Rechtsanwender muss die Bedeutung erst schaffen. Erst durch diesen Konkretisierungsakt entsteht die Norm mit ihrer Bedeutung.381 Bedeutung ist nicht Gegenstand von Erkenntnis, sondern Thema einer reflektierenden Praxis.382 Eine Grenze wird nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache gegeben.383 Das geschieht durch Menschen, die eine Sprachgemeinschaft bilden oder in einem Sprachspiel zusammenwirken.384 Dementsprechend bestehen nach dieser Meinung erhebliche Zweifel an der Begrenzungsfähigkeit des Wortlauts.385 Die Wortlautgrenze kann die Trennbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht leisten.386 Daher gehen die Vertreter nicht vom Bestehen einer sprachlichen Wortlautgrenze aus, wie es die Trennbarkeitstheorie postuliert, sondern von einer normativen Grenze (Normprogrammgrenze).387 Es lassen sich dabei nur legitime und illegitime Entscheidungen388 trennen.389 Die Grenze lässt sich

378

Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 167. Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944. 380 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 343. 381 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 350 f. 382 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 139. 383 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 533; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 283 ff. 384 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 285. 385 S. dazu Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 554 ff.; Vgl. Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 343. 386 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 132; Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 128. 387 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 286. 388 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 128. 389 Dazu ausführlich Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 526 ff. und http://www.recht-und-sprache.de/glossar_jm/index.htm?jmg_wortlgr.htm: „Eine richterliche Entscheidung verstößt gegen die Grenzfunktion des Wortlauts, wenn die formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen nicht bestimmten Normtexten aus der Normtextmenge des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden können. In dieser Aussage verknüpfen sich methodologische mit verfassungsrechtlichen Faktoren, sind mit anderen Worten methodenrelevante Normen, vor allem aus den Bereichen von Rechtsstaat und Demokratie, mit im Spiel. Das liegt an der Eigenart der sogenannten Wortlautgrenze einer demokratisch gebundenen, rechtsstaatlich geformten Arbeitsmethodik der Juristen. Der Wortlaut einer Vorschrift hat, wie ausgeführt wurde, nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung. Der Wortlaut bildet aus verfassungsrechtlichen Gründen die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Die Entscheidung muss sich nicht ‚aus dem Wortlaut ergeben‘, was eben nur in raren Grenzfällen feststellbar ist. Sie muss aber mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein. Das ist keine methodologische, sondern eine normative Aussage. Die Wortlautgrenze bildet die rechtsstaatlich-demokratisch angeordnete Linie nicht einer methodologisch 379

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erst mittels methodenbezogener Verfassungsnormen, des Normtextes und methodischer Standards konstruieren.390 Bereits auf der Ebene der sprachlichen Betrachtung wird gefordert, dass über das eigene Sprachverständnis und das Wörterbuch hinaus weitere Hilfsmittel benutzt werden. Helfen sollen der Abgleich mit weiteren Gebrauchsbeispielen aus Zusammenhang, Entstehungsgeschichte, Vorläufernormen oder Sinn und Zweck.391 Dabei kann der Richter auf Präjudizien, Kommentare und wissenschaftliche Literatur zurückgreifen. Im Ergebnis  – so die strukturierende Rechtslehre weiter  – können dann die konkurrierenden Gebrauchsbeispiele in einem argumentativen Verfahren aller Verfahrensbeteiligten gegeneinander antreten und letztendlich bewertet werden. Dabei helfen wiederum die unterschiedlichen Auslegungsmethoden.392 Wörterbuch oder die eigene Sprachkompetenz sind also nur ein Argument unter vielen bei der (semantischen) Interpretation:393 „Die Grenze ist nicht durch sprachliche Argumente, sondern sprachlich durch Argumente fixiert.“394 Als Konkretisierungs­ mittel dienen dabei die anerkannten Auslegungsregeln, methodenrelevante Normen der Verfassung (z. B. Art. 103 Abs. 2 GG) und vor allem die Argumentation der

möglichen, sondern einer positivrechtlichen zulässigen Konkretisierung. Die Grenzfunktion des Wortlauts ist also nicht identisch mit der Konkretisierungsfunktion (Indizwirkung) des grammatischen Auslegungselements. Denn die Entscheidung klebt nicht am unvermittelten Wortlaut, beschränkt sich nicht auf Textinterpretation. Die im Fall formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen müssen jedoch mit dem im vorherigen Entscheidungsvorgang voll konkretisierten Normtext noch vereinbar sein; dieses Urteil verlangt im Fall der Verneinung – ‚jedenfalls nicht mehr vereinbar‘ – Eindeutigkeit. Bleibt die Frage mindestens zweideutig, so kann eben nicht gesagt werden, der Spielraum jedenfalls noch möglicher Verständnisvarianten der interpretierten Sprachdaten sei verlassen. Wenn dabei im Einzelfall mehrere Konkretisierungselemente primärsprachlicher Art (Sprachdaten) zu demselben Ergebnis führen, so stellt sich die Wortlautgrenze als Normprogrammgrenze dar. Gibt es dagegen bei methodologischen Konflikten unter den einzelnen Konkretisierungsfaktoren den Grenzfall, dass sich allein das grammatische Argument durchsetzt, so trägt für diese Fälle die grammatische Auslegung auch die Grenzfunktion. Es ist nicht der in herkömmlicher Methodenlehre unklar so genannte ‚mögliche Wortsinn‘, sondern das auf das grammatische Element geschrumpfte Normprogramm, welches die normativ begründete letzte Auffanglinie für die rechtsstaatliche Forderung nach Verfassungs- und Gesetzesbindung, einschließlich der sich daran knüpfenden weiteren rechtsstaatlichen Normen (wie Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs- und Kontrollnormen), realisieren hilft.“ 390 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 288. 391 Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944. Letztlich könnte man der Ansicht sein, dass diese Auffassung oftmals mit der von Wank vorgeschlagenen Gesetzessinntheorie übereinstimmt (s. auch aus gesellschaftsrechtlicher Sicht lesenswert Wank, ZGR 1988, 314, 318). Das wäre ein Fehlschluss. Denn die „Strukturierende Rechtslehre“ will nicht zwingend dem Telos einer Norm den Vorrang geben, sondern bietet die Konstruktion ihrer „Wortlautgrenze“ im argumentativen Verfahren an, sodass selbst der Telos einer Norm zurücktreten kann. Vgl. Kudlich / Christensen, JA 2004, 74, 81 ff. 392 Überblick dazu bei Kudlich / Christensen, JA 2004, 74 ff. 393 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 350. 394 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 128.

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Teil 1: Das Richterrecht

Beteiligten im Verfahren.395 Die Argumente müssten abstrakt-normstruktuell sowie konkret nach ihrer Intensität gewertet werden.396 Die entscheidende Frage zur Grenzfindung zwischen legitimer und illegitimer Entscheidung lautet dann: „Ist bei vollständiger Heranziehung aller Konkretisierungselemente (Sprachdaten397 und Realdaten398) dieses Falles das vorgeschlagene Ergebnis dem einschlägigen Normtext noch methodisch plausibel zurechenbar oder nicht?“ Ein Verstoß gegen diese Normprogrammgrenze liege folglich vor, wenn die formulierten Entscheidungs- und Rechtsnorm nicht bestimmten Normtexten methodisch zugerechnet werden können.399 Diese Grenze muss für jeden Fall gesondert gezogen werden.400 2. Analogien in der Strukturierenden Rechtslehre Unterscheidet sich der Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre doch radikal von der Ansicht der Trennungstheorie, so gibt es doch im Hinblick auf die Fragstellung der Unterscheidbarkeit von Fortbildung und Auslegung eine Gemeinsamkeit: Auch die Strukturierende Rechtslehre kennt den Begriff der Analogie401 und der Lücke. Hierin liegt ein Anknüpfungspunkt, denn unter bestimmten, deutlich enger gefassten Voraussetzung als nach der h. M. ist eine Analogie möglich: „Einmal die Ableitung der Lücke aus der Entstehungsgeschichte. Dabei wird über genetisches und evtl. historisches Element ein bestimmter Plan des Gesetzgebers nachgewiesen, welcher im Text nur unvollständig realisiert ist. Dann liegt eine sogenannte planwidrige Lücke vor. Daneben gibt es noch die sogenannte Wertungslücke. Dabei wird eine höherrangige Norm oder ein höherrangiger Normenkomplex zur Begründung der Lücke herangezogen.“ 402 Damit lassen sich zwar Auslegung und Rechtsfortbildung nicht mehr unterscheiden, denn diese Kategorien gibt es nicht mehr in der Strukturierenden Rechtslehre. Wohl aber Normkonkretisierung mithilfe einer

395

Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 150. S. im Einzelnen Kudlich / Christensen, JA 2004, 74, 82. 397 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 13, wobei darunter die „Interpretationsgesichtspunkte“ verstanden werden (z. B. die grammatischen, systematischen, genetischen). 398 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 13 verstehen hierunter die „empirischen Elemente, die als natürliche oder soziale Fakten primär nicht-sprachlich konstituiert sind, die aber gleichwohl, damit juristische Praxis und Wissenschaft mit ihnen arbeiten können, sekundär sprachlich vermittelt sein müssen“. Zu Beispielen s. dort Rn. 42 ff. 399 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 561: „Ist […] das vorgeschlagene Ergebnis dem einschlägigen Normtext (den Normtexten) noch methodisch plausibel zurechenbar oder nicht?“ 400 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 561. 401 Im Gegensatz zur Analogie können nach Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 359 durch eine teleologische Reduktion des Wortlauts mögliche Lesarten eingeschränkt werden, wenn ein bestimmter Schutzzweck es rechtfertigt. Auf diese wird an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen. 402 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 371. 396

Kap. 2: Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie 

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Analogie und sonstigen Elementen der Normkonkretisierungen.403 Die Analogie wird dabei als Unterfall der systematischen Auslegung behandelt.404 Andere Formen, die man in der alten Ansicht als Rechtsfortbildung preater legem405 oder contra legem bezeichnet, werden von der Strukturierenden Rechtslehre abgelehnt.406 3. Zusammenfassung Eine Wortlautgrenze – wie sie die Anhänger der Trennbarkeitstheorie vertreten – ist nach dieser Meinung nicht möglich. Damit ist das Auseinanderhalten von Auslegung und Rechtsfortbildung obsolet. Der Wortlaut ist hier zwar nicht etwa wertlos, denn er habe in positiver Richtung (immerhin) eine Indizwirkung (sprich: wahrscheinliche „Wirkung der Vorschrift“)407 und in negativer Richtung die beschriebene Grenzwirkung.408 Der Text des Gesetzes habe nur eine „vorläufige Semantik“ und erst der Rechtsanwender lege durch seine Argumentation die eine Bedeutung fest.409 Die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens ergibt sich nach dieser Auffassung daraus, dass der Jurist durch diesen Akt der Grenzziehung dazu aufgefordert wird, (argumentativ) unter Beweis zu stellen, dass er nichts anderes tut, als mit dem Text des Gesetzes zu arbeiten.410 Müller und Christensen erkennen die Grenzfunktion des Wortlauts also unter Zugrundelegung ihrer Strukturierenden Rechtslehre an.411 Die merkwürdige Konsequenz dieser Meinung, dass eine richterliche Selbstbeschränkung durch eine von dieser erst selbst geschaffenen Grenze zustande kommt, wird von dieser Ansicht hingenommen, solange sie im Streit des Verfahrens erfolgt.412

403

Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 371. Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 366 ff. und 370, wobei sich dabei grammatische, historische, genetische und systematischen Interpretationsweisen ergänzen sollen. 405 Hier aber von Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 107 verstanden als Hinwegsetzen über das Gesetz mangels Vorhandensein einer Vorschrift (wohl i. S. einer freien Rechtssetzung). 406 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 107, vgl. auch 143; vgl. auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 91 f. 407 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 308 u. 312, wohingegen nur selten bereits eine Bestimmungswirkung (bereits subsumtionsgeeigneter Normtext) gegeben ist. 408 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 312. 409 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 531. 410 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 531. 411 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 302 ff. 412 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 559 f.; Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 151. 404

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Teil 1: Das Richterrecht

IV. Neue Tendenzen der Rechtsprechung innerhalb der Trennbarkeitstheorie? In der Rechtsprechung des BVerfG gibt es seit geraumer Zeit Tendenzen, die (1) für die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung von Bedeutung sind. Die daraus resultierenden Änderungen (2) sind auch für die Rechtsanwendung im Gesellschaftsrecht wichtig. Letztere Frage soll hier noch außen vor bleiben. Hier wird nur die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung behandelt. 1. Bisherige Rechtsprechung Die Rechtsprechung favorisiert in der Sache den klassischen Ansatz der hermeneutischen Lehre,413 wenn sie formuliert: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, ist dabei in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgebend: Der mögliche Wortsinn markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.“ 414 Nach der Rechtsprechung erschöpft sich die Ermittlung der Wortlautgrenze im konkreten Fall und im Gegensatz zur Strukturierenden Rechtslehre also in der grammatikalischen Auslegung (wörtlichen Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals).415 Die Gerichte fragen dann, ob der mögliche Wortsinn überschritten wurde, wenn sie dem Gesetzestext jene Bedeutung beimessen, die sie mittels Bedeutungsermittlung für richtig erkannt haben. Un­abhängig davon, in welchem Rechtsgebiet man sich bewegt, wird zur Bestimmung der Wortbedeutung auf empirische Daten, ein Wörterbuch oder (vielfach sicher unausgesprochen) die eigene Sprachkompetenz zurückgegriffen.416 In der Gesamtschau hat die Wortlautgrenze im Zivilrecht kaum eine Bedeutung für die Rechtsprechung gewonnen.417 Das ist angesichts des Analogieverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG, das 413

Vgl. Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 591b; Pötters / Christensen, JZ 2011, 387, 389 ff.; vgl. auch Rüthers, JZ 2002, 365, 368, der auf den besonderen Einfluss von Larenz methodischen Werken auf die Rechtsprechung hinweist. 414 BVerfG, Beschluss v. 08.09.2004 – 2 BvR 86/03, BeckRS 2012, 56284; BVerfG, Beschluss v. 23.10.1993 – 1 BvR 850/88, BVerfGE 85, 69, 73; BVerfG, Beschluss v. 17.11.1992 – 1 BvR 168, 1509/89 u. 638, 639/90, BVerfGE 87, 363, 391; BVerfG, Beschluss v. 23.10.1985 – 1 BvR 1053/82, BVerfGE 71, 108, 115. 415 Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 591b; Pötters / Christensen, JZ 2011, 387, 388. 416 S. dazu Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 147 m. w. N. 417 Zum Arbeitsrecht s. Wank, RdA 1987, 129, 129 ff.; zur geringen Wirkung der Wortlautgrenze aber auch in der Strafrechtspraxis kritisch Hassemer / Kargl, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017 § 1 Rn. 90 ff.; sowie Schmitz, in: Joecks / Miebach, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2017 § 1 Rn. 69: „Dennoch ist insgesamt festzustellen, dass die grundsätzlich unstreitige Geltung des Analogieverbots keine wirksame Grenze für eine den Wortlaut des Tatbestands überschreitende Rechtsprechung darstellt, wenn das Ergebnis bei wortlautgetreuer Normauslegung im Einzelfall ‚nicht passen‘ sollte.“

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nur für Strafen gilt,418 auch nicht verwunderlich. Im Zivilrecht ist die Fortbildung zwar nicht ausdrücklich verfassungsrechtlich als zulässig normiert. Ihre Zulässigkeit wird etwa aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 92 Halbs. 1 GG hergeleitet419 oder aufgrund einer historischen Kontinuität anerkannt.420 Auch die Notwendigkeit der Fortbildung aufgrund der Lückenhaftigkeit der Gesetze421 (kraft Natur der Sache) oder des Rechtsverweigerungsverbots werden als Begründung verwendet.422 Zutreffend wird darauf verwiesen, dass keine dieser Gründe vollständig überzeugen kann. Die Rechtsprechung geht auf die Kritik nicht weiter ein, sondern bedient sich vorwiegend des zweiten Arguments.423 Aufgrund der grundsätzlichen Anerkennung gibt es auch eine Vielzahl an rechtsfortbildenden Entscheidungen im Zivilrecht424 und im Gesellschaftsrecht.425 Im Gesellschaftsrecht war trotz der hohen Anzahl 418 Dazu Schmidt-Aßmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-​ Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 103 Abs. 2 Rn. 195 f. 419 Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 Rn. 13; wohingegen Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 64 f.; s. auch Wiede­ mann, NJW 2014, 2407, 2408. 420 Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 171 („traditionellen Aufgaben der Rechtsprechung“); grundlegend BVerfG Urteil v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (Soraya); ebenfalls kritisch zu dieser Begründung Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 65 ff.; s. auch Hillgruber, JZ 1996, 118 f. 421 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 366; Säcker, in: Säcker /  Rixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 Einl. zum BGB Rn. 136 ff.; kritisch wiederum Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 69. 422 Zutreffend zur Fehlerhaftigkeit dieser Argumentationen Hillgruber, in: Herzog / ​Scholz /​  Klein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 70; so auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011 S. 81. Beide verweisen zutreffend darauf, dass sich jeder Fall aufgrund der Gesetze „lösen“ lässt. 423 So BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287 f. oder BVerfG, Beschluss v. 14.05.1985 – 1 BvR 233/81; 1 BvR 341/81, BVerfGE 69, 315, 371 („Das BVerfG hat die Aufgabe und Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung stets anerkannt“) oder BVerfG, Beschluss v. 22.8.2006 – 1 BvR 1168/04, NJW 2006, 3409 („Die Rechtsfortbildung gehört grundsätzlich zu den anerkannten Aufgaben und Befugnissen der Fachgerichte“); s. aber auch BVerfG Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287 (Soraya): „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. […] Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ‚fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‘. […] Diese Aufgabe und Befugnis zu ‚schöpferischer Rechtsfindung‘ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden […]. Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen […]. Das Bundesverfassungsgericht hat sie stets anerkannt […].“ 424 S. ausführlich Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 149 ff. und bereits oben bei der Bedeutung des Richterrechts. 425 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002 S. 32 f.; vgl. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 179 m. w. N.

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an fortbildenden Entscheidungen – soweit ersichtlich – nicht ein einziges Mal die Wortlautgrenze Gegenstand einer (verfassungsrechtlichen) Entscheidung. In vielen Fällen wurde dort direkt eine Auslegung bzw. in „offensichtlichen Fällen“ eine Rechtsfortbildung angenommen.426 Es bleibt festzuhalten, dass die Wortlautgrenze in der klassischen Form von der Rechtsprechung angewendet wird. Im Zivil- bzw. Gesellschaftsrecht entfaltet sie aufgrund der grds. bestehenden Legitimationsbewilligung zur Rechtsfortbildung kaum Wirkung. Wichtiger ist hier die Frage, ob die Voraussetzungen für eine zulässige Rechtsfortbildung gegeben sind. 2. Der Wille des (historischen) Gesetzgebers als begrenzender Faktor Von besonderem Interesse für die (gesellschaftsrechtliche) Praxis sind Fälle, in denen zwar keine Überschreitung der Wortlautgrenze des gesetzgeberischen Willens angenommen werden kann, sich also noch im Bereich der Auslegung bewegt, oder in denen eine Rechtsfortbildung zwar anerkannt wurde, eben dort aber der gesetzgeberische Wille unzureichend berücksichtig worden ist. Setzt dieser Wille eine Grenze neben dem Wortlaut, so bestehen in Wahrheit zwei Grenzen für die Auslegung: die Wortlautgrenze und die Gesetzessinngrenze in der Form, wie der (historische) Gesetzgeber sie gesetzt hat.427 Der historische Gesetzessinn begrenzt bei diesem Modell beide Arten der Rechtsgewinnung (Auslegung und Rechtsfortbildung): Es handelt sich also um eine allgemeine Grenze der Rechtsgewinnung und in erster Linie nicht um eine spezielle wie etwa die Wortlautgrenze für die Auslegung. Erst in einer zweiten Line entfaltet sie ihre Grenze zwischen Auslegung und Fortbildung. Denn bei Überschreitung der Gesetzessinngrenze muss reflexartig eine (zulässige oder sicher zumeist unzulässige) Rechtsfortbildung gegeben sein. Es kann dann keine Auslegung vorliegen. Eine solche richterliche Gesetzabweichung in Form der Rechtsfortbildung dürfte nur unter bestimmten strengen Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Es besteht auch eine andere Möglichkeit: Die Wortlautgrenze ist generell unzureichend und nur der Wille der Gesetzgebung trennt Auslegung und Rechtsfortbildung zuverlässig. Diese letzte Ansicht erfreut sich in der Literatur zunehmender Beliebtheit.428 426 Das drückt sich dann oft in der Bezeichnung „analoge Anwendung“ etc. aus, vgl. BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47; BGH, Urteil v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146. In BGH, Urteil v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 wurde die (auch von der Literatur angenommene) Fortbildung nur umschrieben (vgl. dazu nur K.  Schmidt, NJW 2001, 993). BGH, Urteil v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 spricht von einer „offenen Rechtsfortbildung“ (kritisch Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapi­talgesellschaften, 2013 Rn. 712 und dort Fn. 22). 427 So bereits Wank, ZGR 1988, 314, 318. Dieser vertritt allerdings, dass es nur auf die Gesetzessinntheorie ankommt, wobei er auf die heutige anerkannte teleologisch-juristische Wortbedeutung abstellt. 428 So etwa Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, 58 ff.; Höpfner, EuZW 2009, 155, 159; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796 ff.; Höpfner / Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4 f.; Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 558.

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3. Die subjektive Auslegungstheorie Die Betonung des historischen Willens des Gesetzgebers, an den der Rechtsanwender gebunden ist, wird in der Literatur als subjektive Auslegungstheorie bezeichnet.429 Diese Theorie wurde maßgeblich durch Philipp Heck geprägt.430 Hintergrund war der Wunsch nach einer modernen und umfassenden Theorie der Rechtsanwendung und -fortbildung.431 Dabei half das (wohl nur selbstgeschaffene) „Feindbild der Begriffsjurisprudenz“. Die von ihm entwickelte sog. Interessenjurisprudenz sieht  – und das ist der entscheidende Grundstein für diese Auffassung432 – Rechtsnormen als Entscheidungen von Interessenkonflikten, die in einer Gesellschaft auftreten können.433 Sie sind damit das Ergebnis von um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Art.434 Der Zweck von Normen und damit Aufgabe des Gesetzgebers ist es nun, diese Interessenkonflikte zu lösen, indem ein Interessenausgleich vorgenommen wird.435 Interessen werden dabei definiert als Begierden, die in der Gesellschaft

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Ausführlich dazu Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796 ff. (s. dort auch zur unglücklichen Bezeichnung); vgl. auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 59 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 27 ff., 30; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 17 ff.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 627 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 316 ff.; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 74 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, 23 ff. 430 Zum Folgenden Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, 160 ff. 431 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 1 ff. spricht in jedem seiner wichtigen Aufsätze die aus seiner Sicht bestehenden Missstände bei der Begriffsjurisprudenz an. 432 Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 81 ff. 433 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 15 und etwa auch S. 167 ff.; s. auch Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 163a und (z. T. kritisch) Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 50 ff.. 434 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 32. 435 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 155; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 83 und 88 mit der Feststellung, dass der Gesetzgeber bei der Beurteilung der Interessen frei ist. Kompetenzschranken für den Gesetzgeber gab es nicht. S. zu denkbaren Maßstäben des Gesetzgebers für die Bewertung der Interessen ebenda S. 83 und insb. S. 94 ff. wo Schoppmeyer darlegt, dass der Maßstab, mit dem der Gesetzgeber eine Abwägung zwischen den Interessen trifft, das „Gesamtinteresse der Gemeinschaft“ ist, also genauer gesagt der Wertideen, die den Gesetzgeber leiten; vgl. zum Ganzen auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 115; Honsell, in: Haber­ mann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Ver-

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vorkommen.436 Dabei kann es sich sowohl um materielle, wie auch ideelle Verlangen handeln.437 Welches Interesse sich letztlich durchsetzen soll, wird durch den Gesetzgeber durch eine Abwägung bestimmt,438 wobei der Entscheidungsmaßstab die Gesamtinteressen der Gemeinschaft sind.439 Diese Gesamtinteressen basieren letztlich auf einer erstrebten Ordnung, also einem bestimmten sozialen Ideal.440 Die Befriedigung der Interessen („Lebensbedürfnisse“) und die Interessenbewertung durch den Gesetzeber stehen damit im Mittelpunkt der richterlichen Fallentscheidung und sind gewissermaßen das „Endziel“.441 Folglich muss sich auch die Methodenlehre danach richten.442 Der Richter muss bei einer Fallentscheidung letztlich herausfinden, welche Interessen sich im konkret zu entscheidenden Fall gegenüberstehen443. Er muss eine Norm ermitteln, die diesen Interessenkonflikt betrifft und sodann die Interessenbewertung des historischen Gesetzgebers im Einzelnen nachvollziehen.444 Neben der historischen Interessenbewertung des Gesetzgebers sind auch die der Norm zugrundeliegenden kausalen Interessen zu ermitteln und die Ursachen für die Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers

schollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 163a. 436 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49 und 155; vgl. auch Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179. 437 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49 bzw. 153. 438 Dazu ausführlich Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S: 86 ff. 439 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 133 Fn. 37. 440 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 154; s. auch Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 95. 441 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 92. 442 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49. 443 Entscheidend ist, dass nicht der erste Schritt bereits zum Erfolg führen kann. Denn welche Interessen sich widerstreitend gegenüberstehen sagt nichts darüber aus, wie ein Fall zu entscheiden ist, Pawlowski, AcP 175 (1975), 189 S. 210 f. 444 Ausführlich zur richterlichen Fallentscheidung Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49 ff. und 172 ff.; s. auch Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 107 ff. bzw. zu Einzelheiten der Auslegung bei Heck S. 102 ff.; zur Vorgehensweise des Richters unter Zugrundelegung der Interessenjurisprudenz s. weiter Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 181 und Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 164 ff. sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 119 f.

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zu bestimmen, um den Ablauf der Gesetzesentstehung vollständig zu verstehen.445 Heck erkannte an, dass es sich dabei letztlich um einen wertenden Akt handelt,446 sein Ziel war es, stets die gesetzgeberische Entscheidung vor Eigenwertungen des Richters abzusichern.447 Dieses Ziel verfolgen die Anhänger der subjektiven Theorie auch heute noch ausdrücklich.448 Insgesamt war Heck folglich Anhänger einer „historisch-teleologischen“ Auslegungslehre, die auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstellt449 und sich dazu insb. ein umfassendes Bild der Gesetzesentstehung machen will.450 Ausnahmen von der Bindung an den Gesetzgeberwillen sind erforderlich. Andernfalls würde es zu einem Erstarren der Rechtsordnung kommen, weil gesellschaftliche Veränderungen etwa in älteren Gesetzen noch nicht berücksichtig werden. Unter bestimmten Voraussetzungen muss der Richter nach den Vertretern dieser Meinung das Recht und die Pflicht haben, Normen anzupassen.451 Heute wird eine solche subjektive Theorie in der Literatur in unterschiedlichen Ausprägungen452 445

Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 72 ff. insb. 75 f. und 85 f. („Die Deutung des Richters soll aber noch weiter gehen, über die Deutung des subjektiven Sinns zurück auf die Ursachen der legislativen Vorstellungen“); vgl. auch Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 103. 446 Vgl. Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 109 ff. 447 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49. 448 S. etwa Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 810 ff. 449 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 127; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 102 ff. und auch 111 ff. bzw. 289 f., wobei auf den letzten Seiten zudem Kritik an der Rechtsprechung geübt wird, die sich im Moment weitestgehend an der objektiv-teleologischen Auslegung orientiert. Im Übrigen ordnet ­Hüpers, Karl Larenz – Methodenlehre und Philosophie des Rechts in Geschichte und Gegenwart, 2010 S. 336 ff. Heck im Gegensatz zu den vorher genannten Autoren als Vorreiter einer Vereinigungstheorie ein. Lesenswert ist dazu Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 78, wo Heck selbst kurz von einer „objektiv-historischen Theorie“ spricht. Dadurch will er m. E. betonen, dass es als Endziel der Auslegung nicht auf die „Vorstellungsforschung“ ankommt (etwa Einzelvorstellung eines am Gesetzgebungsprozess Beteiligten), sondern auf die „Interessenforschung“. Im Zeitpunkt der Gesetzesanwendung kann sich die Sachlage zudem verändert haben, sodass der Gesetzgeber keinen „blinden Kadavergehorsam“ i. S. seines ursprünglichen Willens mehr fordern würde. Insofern handelt es sich bei Heck um keine „absolut“ subjektive Theorie. Denn im Bereich der Fortbildung wird sie durch objektive Elemente angereichert, s.  auch Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 174, der sagt, dass die (rein) historische Auslegung eben nicht für die Fortbildung gilt. 450 Ausführlich dazu Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 102 ff. 451 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 628; s. auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 30. 452 Säcker, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 Einl. zum BGB Rn. 78 ff., 124 ff.; Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 558; Höpfner / Rüthers, AcP 2009, 1, 4 f.; Schoppmeyer, Juris-

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vor allem von Bernd Rüthers vertreten.453 Das im Schrifttum vorgetragene Argument gegen diese Meinung, dass es einen einheitlichen Willen der am Gesetzgebungsprozess beteiligten Person nicht geben kann und die subjektive Theorie damit letztlich mit einer Fiktionen arbeite und leerlaufe,454 kann in der Sache nicht überzeugen, denn es kommt nicht auf einen solchen Willen an. Vielmehr geht es darum, den „aus dem Kontext der Entstehungsgeschichte erkennbaren historischen Regelungszweck“ zu ermitteln.455 Durch die Hinzuziehung weiterer Materialen wird der Auslegungsprozess also stabilisiert. Sprachliche Kommunikation wird bei Rüthers als Vorgang eingeordnet, der von der Bedeutung der Wörter, der Sprechsituation und dem Erlebnishintergrund der Beteiligten abhängig ist.456 Im Kern wird auch hier wieder dem semiotischen Dreieck als Sprachmodell gefolgt.457 Die Bedeutung eines Zeichens ist nach dieser Meinung dadurch bestimmt, wie es in der Sprachgemeinschaft verstanden wird.458 Dabei wird, wie bereits bei der analytischen Rechtstheorie angesprochen, zwischen der Feststellung und Festsetzung des Sprachgebrauchs unterschieden459 und anerkannt: „Wenn die […] Gesetzesbindung überhaupt einen Sinn haben soll, dann besteht die vorrangige Aufgabe des Richters bei der Wortlautauslegung in der Feststellung des Sprachgebrauchs.“ Bei der Feststellung geht es zunächst wieder um die empirische Ermittlung, die praktisch schwierig umsetzbar ist, wodurch das Wörterbuch wieder in den Mittelpunkt tritt. Als letztes Hilfsmittel wird der (ausdrücklich offenzulegen) eigene Sprachgebrauch gesehen. Sprache ist nach Rüthers aber auch mehrdeutig, ungenau und wandelbar, im Grundsatz schwierig zu greifen. Deswegen ist es wichtig, dass bei der Auslegung keine Autonomie des Rechtsanwenders herrscht, sondern die Bindung an den mit der Norm verfolgten Zweck. Diese Meinung scheint davon auszugehen, dass es einen großen semantischen Spielraum gibt.460 Es besteht daher hinsichtlich der Bedeutung der Sprache eine Überschneidung mit der analytischen Rechtstheorie. Die tragenden Gedanken von Heck gelten damit fort: Das Auslegungsziel ist auch nach der modernen subjektiven Theorie nach dem (historischen) Gesetzgeberwillen (Sinn und Zweck der Regelung) zu ermitteln und zur Geltung zu bringen.461 Rüthers sieht jedoch den Norminhalt als durch den historischen Gesetzgeber vorgegeben an: Eine Norm kann keine andere Botschaft beinhalten als die vom tische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001, 289 f.; letztlich auch Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 631; s. auch Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017 S. 208 ff. 453 Ausführlich Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796 ff. 454 Zur Kritik etwa bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 316 ff. 455 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 790. 456 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 150 ff. bzw. 216. 457 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 738 (s. auch 155b). 458 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 155d. 459 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 738. 460 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 164, wobei Rüthers von der „Ungenauigkeit der Sprache“ spricht. 461 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 725 ff., 789.

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Normsetzer gewollte.462 Dabei geht es nicht um den tatsächlichen Willen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen, sondern um den aus dem Kontext der Entstehungsgeschichte erkennbaren historischen Regelungszweck.463 Dazu steht als Auslegungsmittel die grammatikalische, systematische und historische Auslegung zu Verfügung.464 Der „Wille des Gesetzgebers“ wird nach dieser Meinung anhand der Umstände und Überlegung, die ihn zu seiner Entscheidung veranlasst haben, rekonstruiert.465 Weil es „den Willen“ des Gesetzgebers aber nicht gibt,466 muss dabei freilich auf Hilfsmittel etwa in Form von Gesetzesmaterialen, eingebettet in den gesellschaftlich-politischen Kontext, zurückgegriffen werden.467 Vorstellungen einzelner Personen am Gesetzgebungsvorgang sind unerheblich, da sie unsicher und nicht ermittelbar seien.468 Nach Auffinden des gesetzgeberischen Willens muss gefragt werden, ob der verfolgte Normzweck noch gültig ist oder ob Änderungen in Form einer Rechtsfortbildung erforderlich sind.469 Ist kein klarer Wille erkennbar – was nicht selten der Fall sein soll470 – komme dem mutmaßlichen Willen zumindest eine Indizfunktion zu.471 Ansonsten wird dann auf objektiv-teleologische Auslegung zurückgegriffen.472 Die Rechtsprechung und insbesondere das BVerfG war nach manchen Beobachtern im Gegensatz zu diesem Ansatz in früherer Zeit Anhänger einer eher objektiven Auslegungstheorie.473 Auch heute noch soll in Rechtsprechung und Literatur diese Methode vorherrschend sein.474 462

Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 786. Das ist m. E. nicht richtig. Denn man kann einen Wortlaut auch schlicht anders interpretieren oder sich schlicht irren. So wohl auch die Anhänger der Strukturierenden Rechtslehre. 463 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 790. 464 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 727. 465 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 788. 466 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 628; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 790; Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 32 m. w. N. 467 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 788 ff., wobei dort als Materialien Regierungsentwürfe, Kommissionsberatungen, Gegenentwürfe, BT- und BR-Protokolle und amtliche Begründungen genannt werden; kritisch etwa Burgard, in: Häuser, Festschrift für Walther Hadding zum 70. Geburtstag am 8. Mai 2004, 2004, 337 ff. 468 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 790. 469 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 788, wobei freilich deren Voraussetzung vorliegen muss. 470 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 788; gleichzeitig wird aber auch auf den Umstand verwiesen, dass der moderne (nationale und europäische) Gesetzgeber seine Motive offenlegt, dem Normtext voranstellt und der Einwand daher an Gewicht einbüßt. 471 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 791. 472 Vgl. Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, 28 f. 473 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 799 m. w. N.; aus dem Strafrecht etwa Kühl, in: Kühl / Heger, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2014; Eser / Hecker, in: Schönke / Schröder / Eser, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, § 1 Rn. 43 m. w. N.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 800 bezweifelt dieses Bekenntnis der Rechtsprechung zur objektiven Theorie (Anerkennung der objektiven Theorie sei bloßes „Lippenbekenntnis“). Das BVerfG habe immer wieder umfassend die historische Auslegung bemüht. Allerdings wird dabei auch gesehen, dass man sich dennoch die Möglichkeit offen hält, weiterhin eine nur scheinbare Auslegung, in Wahrheit aber eine Fortbildung, vorzunehmen; s. auch Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 628. 474 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 30.

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Dieser Befund kann im Grundsatz bestätigt werden: „Die gebotene Auslegung des Gesetzes hat in Anwendung von Art. 103 GG Abs. 2 GG, § 1 StGB den in der Gesetzesbestimmung zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt worden ist. Die Materialien zur Entstehungsgeschichte dürfen nicht mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichgesetzt werden, sondern sind nur unterstützend heranzuziehen, soweit sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen. Der mögliche Wortsinn in der Bedeutung des für den Adressaten erkennbaren und verstehbaren Wortlauts markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Er ist grundsätzlich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Gegenwart zu bestimmen. Eine Korrektur des eindeutigen Wortlauts ist dem Richter nicht gestattet. Indes ist der Wortsinn stets kontextabhängig und somit unter Berücksichtigung des objektivierten Willens des Gesetzgebers und des Sinnzusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu ermitteln.“ 475 Hiernach ist also vorwiegend die „heute vernünftige Bedeutung und Funktion einer Norm“ entscheidend.476 Ziel ist es nach dieser Ansicht nicht den historischen Gesetzgeberwillen, sondern eine heutige Gesetzesbedeutung zu ermitteln, die dem historischen Willen nicht entsprechen muss, aber zu berücksichtigen ist.477 Entscheidend ist der „Wille des Gesetzes“ und nicht des Gesetzgebers.478 Entsprechend kann das historische Argument hinter der grammatischen bzw. systematischen Auslegung zurücktreten.479 Das führt zu einer Überbelastung des Wortlauts. Dieser allein kann die Begründungslast kaum tragen. Demensprechend kritisiert Rüthers vom Standpunkt einer subjektiven Auslegungstheorie, dass keine klare Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung vorgenommen werden kann, weil für die Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung dann allein der mögliche Wortsinn entscheidend sein soll.480 Die objektive Theorie – die in ihrer Reinform nicht von Larenz vertreten wurde, wie Rüthers meint481 – führt also zu Problemen, wenn man die Steuerungsund Kontrollfähigkeit des Wortlauts für die Entscheidung auch aus sprachlicher Sicht gering einschätzt. Damit weist die subjektive Theorie in diesem Punkt eine Verwandtschaft zur Strukturierenden Rechtslehre auf, die auch die Leistungsfähigkeit des Wortlauts anzweifelt und dadurch eine Überlastung des Wortlautelements 475 Dieses Zitat ist aus der Entscheidung des OLG Hamburg, Urteil v. 15.2.2010 – 2–27/09, NJW 2010, 1893, 1895 und belegt, dass auch heute diese Ansicht noch präsent ist. 476 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 628. 477 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 318; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 30. 478 Kritisch zu diesem Ausdruck Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 318 f. 479 Kudlich / Christensen, JA 2004, 74, 81; Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat, 2014, 37. 480 Höpfner / Rüthers, AcP 2009, 1, 4. 481 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 318 f. vertritt dort wohl eher eine Vereinigungstheorie.

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und deren „Manipulierungsfähigkeit“ kritisch sieht. Die Frage ist nun, ob und wie die Rechtsprechung den Willen des Gesetzgebers berücksichtigt. 4. Entscheidung zur Rügeverkümmerung482 In der ersten Entscheidung ging es um die sog. Rügeverkümmerung.483 Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, welche revisionsrechtlichen Konsequenzen sich ergeben, wenn dem Sitzungsprotokoll nach ein Verfahrensfehler vom Tatgericht begangen wurde, der eigentlich aufgrund der Beweiskraft des Protokolls zu einem (absoluten oder relativen) Revisionsgrund führen müsste, dieser Fehler jedoch nachträglich (sprich: nach Eingang der Revisionsbegründung) in der Niederschrift berichtigt wird.484 Ist die Beweiskraft des (nun) berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch in diesem Fall beachtlich? 485 Problematischer Ausgangspunkt ist, dass es im Hinblick auf die Zulässigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen und deren Beachtlichkeit für das Revisionsgericht an einer ausdrücklichen Normierung des Gesetzgebers fehlt.486 Nur § 274 StPO gibt in allgemeiner Form an, dass zum einen die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann und zum anderen gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ausschließlich der Nachweis der Fälschung zulässig ist. Früher verneinte die Rechtsprechung, dass eine nachträgliche Protokollberichtigung zu einer „Verkümmerung“ der Verfahrensrüge führe (Verbot der Rügeverkümmerung).487 Der Große Senat für Strafsachen gab diese Rechtsprechung auf 488 und lässt seit einigen Jahren die Rügeverkümmerung unter bestimmten Voraussetzungen zu.489 Diese Auffassung wurde zwar umfassend begründet,490 allerdings wurde nach Ansicht des späteren Beschwerdeführers u. a. die gesetzgeberische Entscheidung in § 274 StPO nicht 482

BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248. S. dazu Roxin / Schünemann / Kern, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017 § 51 Rn. 10 f. 484 Jahn, JUS 2009, 564, 565; Bertheau, NJW 2010, 973. 485 So die hier verkürzt wiedergegebene Vorlagefrage, vgl. BGH, Beschluss v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, NStZ 2007, 661. 486 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07, NJW 2009, 1469. 487 Grundlegend BGH, Urteil v. 19.12.1951 – 3 StR 575/51, NJW 1952, 432, 433, wobei die Widersetzungsmöglichkeit des Angeklagten gegen nachträgliche Verbesserungen angeführt wurde, sowie die Beweiskraft des Protokolls, dessen Berichtigung eine Ausnahme bleiben müsse; s. auch Jahn, JUS 2009, 564, 565 m. w. N.; Roxin / Schünemann / Kern, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017 § 51 Rn. 10. 488 Ausdrückliche Rechtsrückbildung durch BGH, Beschluss v. 23.4.2007  – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, NStZ 2007, 661.: „Der Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Tatsachengrundlage zum Nachteil des Bf. entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden; eines Gesetzes bedarf es nicht“; zur Rechtsrückbildung s. noch unten. 489 Vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248. 490 Die grundsätzlich umfassende Berücksichtigung der nachträglichen Protokollberichtigung widerspricht dem Gesetz nämlich (trotz § 274 S. 2 StPO) nicht. 483

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ausreichend gewürdigt und so die verfassungsrechtlichen Grenzen der richter­ lichen Rechtsfindung aus Art. 2 GG Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Art. 20 Abs. 3 GG überschritten. Die neue Rechtsprechung setzt sich nach der kritischen Auffassung über die in § 274 StPO niedergelegten Entscheidungen des Gesetzgebers hinweg, da sie annimmt, die ausschließliche Beweiskraft nach § 274 StPO gehe im Falle einer nachträglichen Protokollberichtigung grundsätzlich auf die berichtigte Fassung des Protokolls über.491 Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung hatte jedoch kein Erfolg. Das BVerfG stellte zunächst im Hinblick auf den Prüfungsmaßstab fest, dass es seine Kontrolle auf die Prüfung beschränkt, ob das Fachgericht bei der Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert und von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht hat.492 Das Gericht bemüht sich daher in diesem Zusammenhang zunächst, eine planwidrige Gesetzeslücke zu belegen.493 Das Gesetz selbst enthalte zur nachträglichen Protokollberichtigung keine ausdrückliche Regelung und auch den Motiven zur StPO lassen sich insoweit keine eindeutigen Hinweise entnehmen. Die Planwidrigkeit der Regelungslücke sei auch nicht durch eine gegenteilige Entscheidung des Gesetzgebers hinfällig geworden. So seien zwar in anderen Prozessordnungen ausdrückliche Regelungen über nachträgliche Protokollberichtigungen getroffen worden.494 Jedoch müsse darin keine Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine nachträgliche Protokollberichtigung im Strafverfahren gesehen werden. Ein sog. „beredtes Schweigen“ des Gesetzgebers wird also abgelehnt.495 Mit der Annahme einer planwidrigen Regelungslücke wird das Tor zur zweiten Frage aufgestoßen, ob sich die durch die neue Rechtsprechung geschaffene Rechtslage in unzulässiger Weise über den Willen des Gesetzgebers hinweggesetzt hat. Das BVerfG stellt hierzu fest, dass der grundsätzliche Übergang der Beweiskraft auf die berichtigte Protokollfassung nicht im Widerspruch zum Wortlaut und Sinn und Zweck der Vorschrift des § 274 StPO steht. So lasse der Wortlaut offen, welcher Protokollfassung im Falle einer nachträglichen Protokollberichtigung die ausschließliche Beweiskraft zukommen soll.496 Auch der Wille des historischen Gesetzgebers stehe dem Übergang der Beweiskraft auf das Protokoll in seiner berichtigten Fassung nicht entgegen. Die Gesetzgebungsmaterialien zur StPO geben keinen eindeutigen Aufschluss darüber, welcher Protokollfassung im Falle einer nachträglichen Protokollberichtigung die ausschließliche Beweiskraft nach § 274 Der Revisionsführer hat keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten. Es muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein. Es werden bewusst unwahren Verfahrensrügen Grenzen gesetzt. 491 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 254 ff. 492 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 258. 493 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 258 ff. 494 Gesetz zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls v. 20.12.1974, BGBl I, 3651. 495 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 838. 496 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 260.

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StPO zukommen soll. Sie sollen dem Gericht nach auch nicht zwingend zu der Annahme führen, dass es dem Gesetzgeber mit der Regelung des § 274 StPO darum ging, jenseits des in § 274 S. 2 StPO der Vorschrift angesprochenen Fälschungsfalls jegliche Auseinandersetzung über die Richtigkeit des in der Hauptverhandlung gefertigten Protokolls – und damit auch jegliche Protokollberichtigung, die Anlass zu Streitigkeiten darüber geben könnte, ob die in § 274 StPO vorgesehene Beweiskraft des Protokolls der ursprünglichen oder der berichtigten Fassung zukommt – für das Revisionsverfahren auszuschließen.497 Gegen diese Argumentation des Senats wendeten sich in einem Sondervotum die Richter Voßkuhle und Di Fabio sowie die Richterin Osterloh.498 Der Senat verkennt nach dieser Mindermeinung die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung. Der Große Senat für Strafsachen des BGH hat mit seiner Rechtsfortbildung in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers übergegriffen.499 Die Gerichte dürften sich nicht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, weil sie sich der Bindung an Gesetz und Recht entziehen würden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG). Soweit der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen hat, darf der Richter diese nicht auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre. Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, muss nach dem Sondervotum durch Auslegung nach den anerkannten Methoden ermittelt werden.500 Aufgrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen Judikative und Legislative schlägt das Sondervotum nicht nur vor, im Falle einer Rechtsfortbildung den Prüfungsmaßstab des BVerfG zu erweitern,501 sondern argumentiert auch entgegengesetzt zur Mehrheit. Die Argumentation der Mehrheitsmeinung sei in Punkten der Gesetzes 497

BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 261. BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 282 ff. 499 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 282. 500 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 283. 501 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 284 f.: „Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich nicht auf jeden Fehler bei der Anwendung des Rechts. Insofern bestehen jedoch Unterschiede in der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte im Hinblick auf bloße Rechtsanwendungsfehler einerseits und die bewusste und explizite Fortbildung des Rechts durch Bildung neuer Obersätze mit tatbestandlicher Fassung andererseits: Obwohl jeder Fehler der Fachgerichte in der Rechtsanwendung zumindest einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, beschränkt sich das BVerfG aus funktionell-rechtlichen Erwägungen auf die Überprüfung der Frage, ob die Fachgerichte bei Auslegung und Anwendung des Rechts Grundrechte des Betroffenen in ihrer Bedeutung und Tragweite grundsätzlich verkannt haben oder sich die Entscheidung der Fachgerichte als objektiv willkürlich erweist Bei der Überprüfung der richterlichen Fortentwicklung des Obersatzes geht es hingegen um die kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin um eine originär verfassungsrechtliche Frage. Hier muss das BVerfG entscheiden, ob das Fachgericht einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzt hat und sich dadurch in verfassungswidriger Weise von seiner Gesetzesbindung löst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Judikative Modell zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint. 498

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materialien „nicht nachvollziehbar“. Der Gesetzgeber hat sich nach Ansicht der Richter bewusst für die Wahl des ursprünglichen Modells entschieden, wobei die Entlastung des Revisionsverfahrens und grundsätzliche Bedenken gegen die Erinnerungsfähigkeit der Verfahrensbeteiligten im Mittelpunkt standen: „Es sollte verhindert werden, dass eine nicht zur Tatsachenermittlung eingerichtete Instanz über Prozesshandlungen Beweis zu erheben und die Erinnerung der Beteiligten im Einzelfall zu überprüfen hat. Insofern hat sich der Gesetzgeber in § 274 StPO zum Nachweis von Verfahrensfehlern in der Hauptverhandlung für eine besondere Formenstrenge entschieden und dieser explizit den Vorzug vor der vom Senat einseitig betonten materiellen Richtigkeit gegeben.“ Der Große Senat ersetzt durch seine Fortbildung die gesetzgeberische Grundentscheidung durch eine eigene als vorzugswürdig empfundene Konzeption.502 Er führt dadurch eine neue Form von Hauptverhandlungsprotokoll ohne absolute Beweiskraft ein. Ein solches Protokoll ist nach Voßkuhle, Di Fabio und Osterloh der StPO fremd und verstoße gegen die klare Regelungskonzeption des § 274 StPO. Das Sondervotum kommt daher zu dem Ergebnis, dass schon wegen der Überschreitung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung die Entscheidung aufzuheben gewesen wäre. Auch in der Literatur finden sich einige ähnliche kritische Stimmen zur Entscheidung des BVerfG.503 Das verkennt der Senat, wenn er die Praktikabilität und Ausgewogenheit des Lösungsansatzes des Großen Senats für Strafsachen des BGH hervorhebt.“ 502 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; BVerfGE 122, 248, 294 (Sondervortum); a. A. dagegen im Sondervotum zur Entscheidung Richter Gerhardt S. 303 a. a. O.: „Der BGH entfaltet seine Erwägungen ausdrücklich vor dem Hintergrund des Vorrangs des Gesetzes und von einem Ausgangspunkt, der nicht offensichtlich verfehlt ist, nämlich vom Bestehen einer Regelungslücke in der Strafprozessordnung aus. Anhaltspunkte dafür, dass der BGH das Strafverfahren unter Umgehung des Gesetzgebers nach eigenen Vorstellungen gestaltet haben könnte, sind nicht ersichtlich.“ 503 Roxin / Schünemann / Kern, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017 § 51 Rn. 11: „Die gleichwohl einen Verfassungsverstoß mit 5:3 Stimmen verneinende Senatsentscheidung BVerfGE 122, 248 hat verkannt, dass die RStPO eine klare Regelung getroffen hatte und eine durch Richterrecht ausfüllbare Lücke also überhaupt nicht vorliegt, so dass der BGH abermals eine die richterliche Gesetzesbindung missachtende Rechtsfortbildung contra legem betrieben hat.“; Jahn JUS 2009, 564: „Als kleiner Schönheitsfehler bleibt zurück, dass das Sondervotum der unterlegenen Senatsminderheit den Umgang des Großen Senats für Strafsachen mit § 274 StPO überzeugend als unzulässige richterliche Rechtsfortbildung stigmatisiert. Und das ist auch gut so“, 566; Bertheau, NJW 2010, 973 ff., 974: „Für die Annahme einer planwidrigen Lücke besteht kein Raum“; mahnend Lampe, jurisPR-StrafR 13/2009 Anm. 1: „Die kontroversen Positionen der Verfassungsrichter belegen, dass eine Linie oder auch nur Tendenz, die die verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte bei Auslegung des einfachen Rechts vorhersehbar begrenzt, nicht zu sehen ist. Der Rechtsanwender findet in der Entscheidung für jede denkbare Sicht Argumente und Belegstellen. Von der Vorhersehbarkeit einer Entscheidung, auf die das BVerfG bei der Fortentwicklung der Rechtsprechung der Fachgerichte als mitentscheidend abstellt, kann bei der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in diesen Zusammenhängen kaum die Rede sein.“; kritisch zur Entscheidung auch Dehne-Niemann, ZStW 2009, 321 sowie Rüthers, NJW 2009, 1461 f.

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5. Entscheidung zur Dreiteilungsmethode504 Auf dieser im Sondervotum eher zur richterlichen Zurückhaltung und zur Beachtung des Gesetzgeberwillens mahnenden Linie bewegt sich auch eine spätere Entscheidung des BVerfG. Bei diesem „Beschluss wie ein Paukenschlag“505 ging es um die vom BGH zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB entwickelte neue Rechtsprechung zu den „wandelbaren Lebensverhältnissen“ unter Anwendung der Berechnungsmethode der sog. Dreiteilung zur Feststellung des nachehelichen Unterhaltsbedarfs.506 Streitpunkt war das Tatbestandsmerkmal der ehelichen Verhältnisse in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB und die Frage, ob das Merkmal so auszulegen sei, dass es primär auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung ankommt oder ob auch spätere Veränderungen, die nicht auf die Ehe zurückzuführen sind, zu berücksichtigen sind.507 In concreto ging es um die Unterhaltspflichten gegenüber einem alten und einem neuen Ehegatten. Der BGH favorisierte in diesem Fall die zweite Lesart und entwickelte eine Dreiteilungsmethode zwischen (geschiedenen) Alt- und (neuverheirateten) Neuehegatten sowie dem Unterhaltspflichtigem, wobei der BGH eine Deckelung zum Schutz des Unterhaltspflichtigen einzog.508 Grund war, dass die Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes als unangemessen angesehen wurde.509 Das OLG Saarbrücken folgte dieser neuen Entwicklung und senkte unter Anwendung der neuen Grundsätze den Unterhalt der ehemaligen Ehegattin ab. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde hatte allerdings Erfolg und das BVerfG hob das Urteil des OLG wegen Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG auf.510 Das neue Konzept lässt sich mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden rechtfertigen. Es widerspricht dem Wortlaut des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB und seiner systematischen Einbindung in den Normenkontext sowie seiner Zwecksetzung und der mit ihr verbundenen gesetzgeberischen Intention.511 Insbesondere auf den letzten Punkt legt die Begründung viel Wert. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung neu geschaffene Konzept zur Bedarfsermittlung 504

BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193. Rieble, NJW 2011, 819. 506 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, NJW 2011, 836. 507 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 199; s. auch Wellen­ hofer, JUS 2011, 648, 650. 508 BGH, Urteil v. 30.7.2008 – XII ZR 177/06, BGHZ 177, 356, NJW 2008, 3213; zusammenfassend BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, NJW 2011, 836: „Der Unterhaltsbedarf des geschiedenen Ehegatten sei zu ermitteln, indem seine bereinigten Einkünfte ebenso wie diejenigen des Unterhaltspflichtigen und dessen neuen Ehepartners zusammengefasst und durch drei geteilt würden (sog. Dreiteilungsmethode). Mittels einer Kontrollrechnung sei sodann sicherzustellen, dass der geschiedene Ehegatte maximal in der Höhe Unterhalt erhalte, die sich ergäbe, wenn der Unterhaltspflichtige nicht erneut geheiratet hätte.“ 509 Wellenhofer, JUS 2011, 648, 649. 510 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206. 511 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 218 505

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ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt hat.512 Es muss sogar das Gegenteil angenommen werden: Die Dreiteilungsmethode setzt sich über den Willen des Gesetzgebers hinweg, weil sie sich vom Konzept zur Berechnung nachehelichen Unterhalts löst und durch ein eigenes Modell ersetzt.513 Eine richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt.514 Damit wird in unzulässiger Weise in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingegriffen. 6. Bewertungen der Entscheidungen und Bedeutung für auf die Wortlautgrenze a) Obsiegen der subjektiven Auslegungstheorie? Die dargestellten Entscheidungen sowie das Sondervotum haben neben ihren materiellrechtlichen Neuerungen auch viel Beachtung in methodischer Hinsicht bekommen. Rüthers wertet diese als „Trendwende“515 des BVerfG hin zu mehr richterlicher Zurückhaltung und Gesetzesbindung sowie einer damit verbundenen Entwicklung zu einer subjektiven Auslegungstheorie.516 Im Fall der Rüge­ verkümmerung hätten „namhafte Professoren des öffentlichen Rechts“ dem erklärten Willen der Gesetzgebung eine zwingende Vorrangstellung vor Eigenwertungen der Gerichte eingeräumt.517 Im Fall der Dreiteilungsmethode habe diese Linie obsiegt.518 Das BVerfG sei von der willkürlichen Auswahl der Auslegungsmethoden abgewichen.519 In der Literatur wird diese Feststellung für möglich gehalten, aber auch angemerkt, das BVerfG könnte in der letzten Entscheidung die Gesetzbindung auch nur als Argument für eine „politische Intervention“ verwendet haben.520 Die Bindung des Richters ist nach diesen Stimmen nur eine beliebige Begründung, um ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen.521 Fraglich ist also, ob die Richter  – 512

BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 222. BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 211. 514 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210. 515 Vgl. Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857; so bereits der damals noch mit Fragezeichen versehene Titel bei Rüthers, NJW 2009, 1461. 516 S. die Überschrift bei Rüthers, NJW 2011, 1856 „Keine Freiheit der Auslegungsmethoden“; so auch eine Lesart des Urteils von Rieble, NJW 2011, 819, 820: „Später Triumph für Bernd Rüthers, der seit geraumer Zeit und immer wieder vor den Richteroligarchen warnt, die kreationistisch nach eigenem ‚Gutdünken‘ Recht setzen und ändern? So scheint es auf den ersten Blick.“ 517 Rüthers, NJW 2009, 1461, 1461. 518 So Rieble, NJW 2011, 819, 820 ff. 519 Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857: „Lange hatte das Gericht die Auffassung vertreten, die Gerichte seien in der Wahl der von ihnen verwendeten Auslegungsmethode frei. Davon ist es jetzt abgewichen.“ 520 Zweifelnd Rieble, NJW 2011, 819, 820, 822. 521 Rieble, NJW 2011, 819, 820. 513

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wie Rüthers meint – eine feste Reihenfolge der Auslegungsgrundsätze statuieren wollten. Ausdrücklich hat das BVerfG eine solche Aussage nicht getroffen. Das BVerfG formuliert zunächst, dass die Wahl der Methoden der Fachgerichte im Grundsatz nicht auf ihre Richtigkeit zu untersuchen ist, ihnen also folglich selbst überlassen bleibt. Diese Aussage lässt den Schluss zu, dass auch eine eher objektive Auslegungstheorie durch die Fachgerichte vertreten werden kann. Das BVerfG fügt hinzu, dass es Ausnahmen von der Überprüfungsfreiheit gibt, wenn durch die Fachgerichte Verfassungsrecht verletzt wird. Das ist der Fall, wenn die Auslegung im krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen erfolgt. Werden dabei ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, so beanspruchen die Gerichte in unzulässiger Weise die Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind. Die Kontrolle des BVerfG richtet sich nach Ansicht der Richter darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert. Damit legt das BVerfG letztlich fest, dass Ziel der Auslegung und Rechtsfortbildung die Umsetzung des Gesetzgeberwillens ist. Auch eine dritte Entscheidung, in der es um Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im nationalen Recht ging, passt in dieses Bild.522 Das BVerfG formulierte hier wiederum auf gleicher Linie: „[…]  Dabei umreißt die Auffassung, ein Richter verletze seine Gesetzesbindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG durch jede Auslegung, die nicht im Wort­laut des Gesetzes vorgegeben ist, die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, „nach Gesetz und Recht“ zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor. Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion. Dabei prüft das BVerfG, ob sich diese auf den Willen des Gesetzgebers stützt […].“523 Höpfner524 sieht darin eine ausdrückliche Bekräftigung, dass der Wille des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung gebracht werden muss. Nichts anderes bezweckt die subjektive Auslegungstheorie. Es lässt sich daher durchaus ein Trend in der Argumentation der beteiligten Richter erkennen. Entkräftend wirkt allerdings, dass die Betonung des Gesetzgeberwillens, über den sich die Gerichte nicht hinwegsetzen dürfen, keineswegs neu ist.525 Das BVerfG 522

BVerfG, Beschluss v. 26.09.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 2012, 669. BVerfG, Beschluss v. 26.09.2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07, NJW 2012, 669, 672. Im Übrigen stellt das BVerfG fest, dass diese Feststellung ihrer Grenzen im speziellen Vertrauensschutz des Art. 103 Abs. 2 GG findet, wo gerade das Vertrauen auf den Wortlaut einer Norm geschützt wird (S. 672). 524 Höpfner, NJW Editorial 2012 zu Heft 15 mit der Überschrift: „Der Wortlaut ist tot, es lebe die Gesetzesbindung!“ 525 Ähnlich bereits BVerfG, Beschluss v. 14.6.2007 – 2 BvR 1447/05, 2 BvR 136/05, BVerfGE 118, 212, 234: „Den Gerichten ist es verwehrt, im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn zu geben oder den normativen 523

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hat immer wieder bei der Bildung des Prüfungsmaßstabs den Willen des Gesetzgebers in den Vordergrund gestellt. Insofern besteht der Unterschied zu vorangegangen Urteilen des BVerfG darin, dass sie den Vorrang des Gesetzgeberwillens noch einmal ausdrücklich bekräftigen. Dass spricht durchaus für einen gewissen Sinneswandel in der Richterschaft des BVerfG.526 Interessanter Weise zieht das Gericht die Grenze hier selbst wohl für die gerichtliche Praxis zu eng, wenn es formuliert: „Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.“527 Denn die Gerichte selbst haben sich schon mehrmals über den Willen des historischen Gesetzgebers ohne das Vorliegen einer planwidrigen Lücke hinweggesetzt. Das soll selbst nach den strengen Stimmen innerhalb der subjektiven Auslegungstheorie in gewissen Situation notwendig sein.528 Als Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht sei an die Entscheidungen zum nichtrechtsfähigen Verein (§ 54 S. 1 BGB) erinnert.529 Mit § 54 S. 1 BGB war ursprünglich eine vom historischen Gesetzgeber abschreckende Wirkung auf politische Parteien und Gewerkschaften mit den Verweis auf die §§ 705 ff. bezweckt. Der historische Gesetzgeber hatte hier also bereits nach dem Wortlaut eine andere Vorstellung als die Richter in ihrer späteren Entscheidung. Der Normzweck war anzupassen, weil das gesetzgeberische Regelungsziel durch den hinzugetretenen Art. 9 GG gescheitert war.530 Es lag keine planwidrige Lücke vor. Auch an die Entscheidung zur Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen. Eine solche Korrektur des Gesetzes würde nicht zuletzt Art. 100 Abs. 1 GG zuwiderlaufen, der die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung wahren soll“; BVerfG, Urteil v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, BVerfGE 113, 88; s. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 304. 526 So bereits Rüthers, NJW 2011, 1856, 1858, der die Meinung Riebles aufgrund der „Klarheit der verkündeten Grundsatzposition“ nicht teilt. Ob man auch den „Berufsethos“ der Richter als Argument gelten lassen kann, ist allerdings fraglich. 527 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210; beispielhaft sei auch auf BVerfG, Urteil v. 11.07.2012 – 1 BvR 3142/07, BVerfGE 132, 99, 108 verwiesen. Dieses Urteil wird später im Rahmen der Delistingdiskussion relevant: „In der Sache folge aus dem Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG), dass für Rechtsfortbildung durch die Gerichte nur dort Raum sei, wo bei einer methodisch nachvollziehbaren Betrachtung des einfachen Gesetzesrechts eine planwidrige Gesetzeslücke festgestellt werde. Habe der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfe der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine ‚judikative Lösung‘ ersetzen.“ 528 So ausdrücklich Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 529 S. dazu BGH, Urteil v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, BGHZ 50, 325. 530 S. dazu BGH, Urteil v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, 50, BGHZ 50, 325; Rüthers / Fischer / ​ Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 955; Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 1, 8. Aufl. 2018 § 54 Rn. 1 ff.; Dörner, in: Schulze / Dörner / u. a., Bürgerliches Gesetzbuch, 9. Aufl. 2017 § 54 Rn. 3; Schücking, in: Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1, 4. Aufl. 2014 § 2 Rn. 12; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 weißt in den Rn. 171, 182 und 201 ausführlich

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Rechts531 kann gedacht werden. Es mag also Gründe geben, die eine Rechtsfortbildung gegen den Willen des historischen Gesetzgebers ausnahmsweise als zulässig erscheinen lassen.532 Der Richter wird in solchen Fällen an den mutmaßlichen Willen des heutigen Gesetzgebers gebunden.533 Dass die Gerichte von solchen Ausnahmeentscheidungen unter engen Voraussetzungen auch angesichts der stärkeren Betonung des Willens des Gesetzgebers durch das BVerfG in Zukunft Abstand nehmen werden, ist eher unwahrscheinlich und bleibt abzuwarten. b) Abgrenzung von Auslegung und Fortbildung durch Doppelgrenze? Die Rechtsprechung zieht die Grenze damit in zweierlei Richtungen: Zum einen sieht sie den noch möglichen Wortsinn als Grenze an. Gleichzeitig betont sie auch, dass es eine Grenze dort gebe, wo der Wille des Gesetzgebers überschritten wird.534 Der Richter hätte im letzteren Fall weiter zu prüfen, ob sich eine Rechtsfortbildung, die den historischen Gesetzessinn hintanstellt, durch eine besondere Ausnahmesituation rechtfertigen lässt. Ist das nicht der Fall, muss die Fortbildung unterbleiben. Eine Entscheidung, die sich nicht im Rahmen des Gesetzessinns hält, kann nicht mehr Auslegung und nur unter engen Voraussetzungen eine (zulässige) Rechtsfortbildung sein. Es ist also auch der Fall denkbar, dass eine Auslegung nach der Wortlautgrenze gegeben ist, aber der Wille des Gesetzgebers überschritten wird und damit das Vorliegen einer Rechtsfortbildung im Raum steht. Ob das BVerfG die eigenen Maßstäbe umsetzt, bleibt abzuwarten.535 Nicht bestätigt werden kann damit die obige These, dass die Rechtsprechung nur noch auf den Willen des Gesetzgebers abstellt, um eine Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu ziehen. Dass sich die Rechtsprechung von der Wortlautgrenze durch die Betonung des Gesetzgeberwillens verabschieden wollte, erscheint angesichts der Tragweite einer solchen Entscheidung und den wenigen Indizien nicht einsichtig.

auf diese Veränderung hin; s. auch Schroeder / Greef, Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, 2. Aufl. 2014 S. 269 f. 531 BGH, Urteil v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341; s. dazu auch den Beitrag von K. Schmidt in der NJW 2001, 993, 1003: „Dass dieses Ergebnis [rechts- und parteifähig der BGB-Außengesellschaft] ein gutes Jahrhundert auf sich warten lassen musste und dass ihm lange Grundsatzdebatten vorausgegangen sind, lässt seine Prophetie, was das Ziel anlangt, als verblüffend treffsicher, was dagegen den mühsamen Weg der Rechtsfortbildung anlangt, als fehlsam erscheinen.“ 532 S. dazu Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 936 ff. 533 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 952 ff. zur Wandlung des Normzwecks zwischen Erlass- und Entscheidungszeitpunkt. 534 BVerfG, Beschluss v. 28.07.2015  – 2 BvR 2558/14, 2 BvR 2571/14, 2 BvR 2573/14, BeckRS 2015, 51329: „Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde.“ 535 Für das Gesellschaftsrecht ergeben sich daraus in jedem Fall Konsequenzen, s. S. 79.

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c) Folgen für das Gesellschaftsrecht Für den im Gesellschaftsrecht tätigen 2. Zivilsenat sowie die Instanzgerichte bedeuten diese BVerfG-Entscheidungen, dass sie vermehrt den Willen der Gesetzgebung im Auge behalten müssen. Bisher waren zwar die Gesetzgebungsmaterialien bei der Auslegung durchaus berücksichtig worden, jedoch wurde die Historie oftmals aufgrund anderer Gründe im Ergebnis vernachlässigt.536 Durch die neue Tendenz wird der Spielraum des 2. Zivilsenats für eine Rechtsfortbildung eingeschränkt, dafür gleichzeitig der Gesetzesbindung und letztlich dem Rechtsstaatsprinzip mehr Raum gegeben.

B. Zusammenfassende Betrachtung Die Untersuchung hat bisher Folgendes ergeben: Die weit überwiegende Meinung in der Literatur geht von der Trennbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung mittels der Wortlautgrenze aus. Eine andere Ansicht innerhalb der Trennbarkeitstheorie sieht den historischen Sinn des Gesetzes als Grenze der Auslegung. Die Rechtsprechung scheint sich nach neueren Tendenzen zwischen diesen beiden Gruppen zu bewegen, beachtet in jedem Fall die Wortlautgrenze. Die Strukturierende Rechtslehre vertritt dagegen die Untrennbarkeitstheorie. Es ließen sich nur legitime und illegitime Entscheidungen trennen. Auslegung und Rechtsfortbildung sind nicht trennbar. Allerdings verwendet diese Meinung auch die Analogie zur Normkonkretisierung, die unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Das besondere Werturteil, das in der Analogie zum Tragen kommt, wird auch durch die Strukturierende Rechtslehre ausdrücklich anerkannt.537 Ein solches „besonderes Werturteil“ des Richters bildet auch den in dieser Arbeit anvisierten (allgemeiner als Rechtsfortbildung formulierten) Untersuchungsgegenstand.538 Nach allen Ansichten kann man daher zumindest die Abgrenzung von Auslegung bzw. „schlichter“ Normkonkretisierung und der Analogie bzw. teleologischen Reduktion vornehmen. Freilich kann dieses Ergebnis nicht befriedigen: Die Abgrenzung nach dem „noch möglichen Wortsinn“ (h. M.) bzw. den semantischen Grenzen (Klatt), dem historischen Zweck (insb. Rüthers) oder einem engen Lückenbegriff (Müller / Christensen) können völlig unterschiedlich verlaufen. Einmal kann es primär auf die grammatikalische, ein anders Mal auf die historische Auslegung ankommen. Bei der Strukturierenden Rechtslehre sind es bei der Lückenfeststellung im Rahmen der Analogie vorwiegend die Lücke aus der Entstehungsgeschichte und die Wertungslücke. Im ersten Fall geht es dann vorwiegend um das genetische bzw. 536 So im Ergebnis die Analyse von Fleischer, in: Habersack / Hommelhoff, Festschrift für Wulf Goette zum 65. Geburtstag, 2011, 76 ff., 95. 537 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 371: „Denn die Annahme einer Lücke ist „keine Aussage über einen Gegenstand und seine Defektheit, sondern ein Werturteil über die Regelungsbedürftigkeit und -möglichkeit (…)“ mit Verweis auf Esser und Coing. 538 S. dazu oben in der Einleitung.

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historische Element,539 im zweiten Fall scheinbar um alle zur Verfügung stehenden Konkretisierungsmittel.540 Im unmittelbaren Zusammenhang steht die Auffassung mit dem Streit um die Möglichkeit einer Feststellbarkeit des Sprachgebrauchs. Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, nach einer Lösung des sprachphilosophischen Streits zu suchen,541 der nicht aufzulösen sein wird. Es sollen zumindest einige kritische Gedanken vorgebracht werden, die gegen die herrschende Ansicht und die Strukturierende Rechtslehre sprechen. I. Kritik an Klatts Ansatz Trotz des sehr innovativen Ansatzes von Klatt gibt es Grund zur Kritik. Diese wird maßgeblich von der Strukturierenden Rechtslehre vorgetragen. Sie lässt sich auch aus Sicht einer subjektiven Theorie geltend machen. 1. Wortlautgrenze ist hoher Begründungslast ausgesetzt Für die praktische Umsetzung der Wortlautgrenze sollte sich durch die vorstehenden Ausführungen abgezeichnet haben, dass sowohl die klassische Wortlautgrenze als auch Klatts Ansatz vor allem deswegen angreifbar ist, weil allein die Bedeutung die ganze Begründungslast für die Abgrenzung mittels Wortlautgrenze tragen soll.542 Letztlich geht es dann nur um einen reinen Bedeutungskampf anhand von semantischen Argumenten. Auch wenn Klatt zu Recht vertreten sollte, dass sich leichte und schwierige Fälle unterscheiden lassen und man auch noch bei Letzteren semantisch argumentieren kann, so löst man damit nicht das Pro­ blem: Ob das semantische Argument die Wortlautgrenze soweit stabilisieren kann, dass sie nicht der Willkür des Richters anheimfällt, erscheint nicht einleuchtend. 2. Regelregressargument und Interpretation von Brandom Zwar ist auch nach der Strukturierenden Rechtslehre zuzugeben, dass es allgemein zunächst einsichtig erscheine, sich bei der Erschließung der Bedeutung auf den Sprachgebrauch zu berufen.543 Es bleibe die Frage, woher man ein „Korrektheitsurteil“ über die Verwendung nehmen kann.544 Es wird in diesem Zusammen 539

Wobei hier darauf hingewiesen wird, dass beim Nachweis eines Fehlers des Gesetzgebers letztendlich alle Konkretisierungselemente notwendig werden sollen. 540 Nicht ganz eindeutig Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 371. 541 Eine solche Lösung kann (wenn überhaupt) nur durch interdisziplinäre Forschung „im großen Stil“ erfolgen. 542 Vgl. Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 128. 543 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 339. 544 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 340.

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hang bezweifelt, dass Sprache in der Form regelgeleitet sei, wie es sich Alexy, Koch und Rüßmann vorstellen.545 Das Abstellen auf Sprachregeln (Wortgebrauchsregeln) ist nach dieser Meinung darum wenig erfolgsversprechend.546 Die Strukturierende Rechtslehre nimmt damit eine ausdrückliche antiregularistische Position ein.547 Der Kernvorwurf 548 gegen das Sprachverständnis der analytischen Rechtstheorie lautet, dass sie in einem Regulismus verfalle, der mit der Wirklichkeit von Sprache nicht in Einklang zu bringen ist.549 Denn ein Urteil über die Entscheidung, ob ein Wort entsprechend der Regel verwendet wird, kann nicht durch die Sprache vorgegeben sein.550 Die Regel ist für die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken nicht konstitutiv. Dafür spricht (1), dass sie dann versagt, wenn ein Begriff fehlerhaft verwendet wird. Es käme nämlich dadurch zu einem Bedeutungswandel oder -verlust und die Regel könnte dann, wenn sie greifen solle, nicht mehr wirksam werden, weil sie bei den Alternativen „korrekt und bedeutungslos“ versagt.551 Der Regulismus führt (2) laut Christensen und Kudlich im Anschluss an Wittgenstein552 in einen Regelregress.553 Es besteht immer die Frage nach einer hinter der Regel stehenden weiteren Regel, die sagt, wie die zuvor erkannte korrekt zu deu-

545

Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013 S. 339 ff.; Müller / Chris­ tensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415d ff. 546 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 341. 547 Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415d ff. und dort Fn. 385. 548 Zu den anderen Vorwürfen, wie etwa dem von Wittgensteins Überlegungen abgeleiteten Spezialargument (wonach eine feste Grenze von Bedeutungen nicht auszumachen sei) oder dem Argument, es fehle an der Möglichkeit zur empirischen Bedeutungsermittlung, s. Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 348 f. 549 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129 ff.; Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944; gegen Koch und Rüßmann wird u. a. auch argumentiert, dass die These der extensionsfestlegenden Intension fehlerhaft sei, weil sie auf einem Zirkelschluss beruhe. Die Intension lege die Extension fest, die ihrerseits nur durch die Extension ermittelt werden kann., s. Busse, Juristische Semantik, 1993, 117; vgl. auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 86.; auch wird geltend gemacht, dass sie letztlich bei der praktischen Umsetzung der Feststellung von Bedeutung im vagen bleiben. Hierin bestehe aber das Hauptproblem der Bedeutungsfeststellung, Busse, Juristische Semantik, 1993, 186 f.; vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 90 f.; zu weiterer umfassender Kritik am Konzept von Koch und Rüßmann s. Busse, in: Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 97 ff. und die Verteidigung von Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 230 f. 550 Dementsprechend lautet das Urteil von Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 560 zur Wortlautgrenze auch: „Die ‚Wortlautgrenze‘ ist keine, die durch die Sprache selbst vorgegeben wäre. In der Sprache tragen Wörter und Sätze keine Grenzen mit sich herum. Daher kann […] das Konzept der Wortlautgrenze keine Lösung des Problems einer Begrenzung juristischer Semantisierung von Texten bieten. Eine solche Grenze ist in der Sprache zu errichten.“ 551 Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 342. 552 Vgl. in Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ den § 200, wo die Problematik anhand eines Schachspiels verdeutlicht wird. 553 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129; Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415e; s. dazu auch Brandom, Expressive Vernunft, 1. Aufl. 2000 S. 59 ff.

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ten ist.554 Für eine Regel – dieses Wort ist in dieser Weise zu verstehen – bedarf es also einer anderen „Anwendungsregel“, die auch wiederum für diese benötigt wird usw. Dieser Nachweis ist – da unendlich – nicht möglich. So kann man sich etwa vorstellen, dass man einen Gegenstand mit dem Satz benennt: „Das ist ein Auto.“555 Man folgt dabei intuitiv einer Wortgebrauchsregel, die den korrekten oder inkorrekten Gebrauch vorschreiben soll. Das Problem liegt in der Funktion der Regel.556 Denn man braucht für diese Regel eine weitere Regel, die besagt, dass dieser Gegenstand nur als Auto bezeichnet werden darf, wenn er Räder und ein Lenkrad besitzt. Nun bräuchte man für diese beiden Ausdrücke wiederum eine Regel. Am Ende befindet man sich im beschrieben Regelregress.557 Das angesprochene Problem des Regulismus mit dem Regelregress wird von Klatt zwar gesehen. Er hat ausdrücklich versucht, dieses mit der Theorie von Brandom zu umgehen und sich dem Regresseinwand zu entziehen.558 Klatts Versuch mit Brandoms impliziten Normen das Problem aufzulösen, misslingt aber nach den Vertretern der Strukturierenden Rechtslehre, weil Klatt letztendlich mit der Behauptung der Feststellbarkeit von Wortgebrauchsregeln in einen Regulismus zurückfällt, den Brandom ausdrücklich überwinden will.559 Normativität ist bei Brandom nicht „als verfügbarer Inhalt einer Sprachregel gefasst“,560 sondern „eine wechselseitige Unterstellung“.561 Sprache habe keine normative Substanz, sondern ein normatives Potenzial, das erst in einer sozialen Praxis verwirklicht wird.562 Christensen und Kudlich werfen Klatts Auffassung daher im Wesentlichen eine Missinterpretation von Brandom vor, wodurch sein wesentliches Anliegen verfehlt

554

Vgl. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 140 (Anm: Klatt verwendet die Bezeichnung Regularismus und Regulismus im umgekehrten Sinne als Christensen und K ­ udlich). 555 Angelehnt an Schubert, Die Praxis des Wissens, 2012, 76 f. 556 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129. 557 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 129. 558 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 141 ff. 559 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 142: „Genau wie bei Objektivität ist Normativität kein dem Handeln vorgegebener Maßstab, sondern eine perspektivische Form, welche die Kommunikationsteilnehmer sich gegenseitig unterstellen. Klatt dagegen will den Inhalt fixieren und der Praxis vorordnen. Damit fällt er in den Regulismus zurück, den Brandom gerade überwinden will.“ 560 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 132: „Der pragmatische Normativismus gerät damit lediglich zur opportunistischen Einkleidung einer spekulativ objektiven Semantik mit der Klatt die Wortlautgrenze wieder als eine dem Juristen vorgegebene Größe einsetzen will. Normativität ist aber bei Brandom nicht als verfügbarer Inhalt einer Sprachregel gefasst.“ 561 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 130. Zum gleichen Ergebnis und letztlich wiederum anders als Klatt (s. o.) kommen diese auch bei der Interpretation von Brandom im Hinblick auf die Objektivität (S. 137): „Objektivität wird nicht durch sprachliche Bedeutung vorgegeben aufgrund ihres Bezugs zur Welt und einer den Sprechern gemeinsamen Sprache. Objektivität wird vielmehr von den Teilnehmern einer Praxis als Fundament ihrer Begründungen wechselseitig unterstellt und für diese veranschlagt.“ 562 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 133 f.; zur Kritik an der Objektivitätsthese von Klatt s. dort S. 134.

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wird.563 Brandom wird letztlich zur Begründung von Klatts Theorie „vereinnahmt“.564 Festzuhalten bleibt, dass Christensen und Kudlich davon ausgehen, dass Sprache nicht als „Regelmaschine“ funktioniere,565 „sie wird […] im sprachlichen Handeln […] nicht einfach vorgegebene oder explizite ausgehandelten Regelschemata folgen.“566 Sie ist nach diesen Vertretern nicht Gegenstand von Erkenntnis, sondern Thema einer reflektierenden Praxis.567 Dadurch verkennt Klatt im Übrigen auch das schöpferische Element bei der Arbeit des Juristen, dessen Vorgang er auf ein bloßes Erkennen einer Wortgebrauchsregel reduziert.568 Anzumerken ist hier, dass Brandom sich in der Tat mit seiner Arbeit ausdrücklich sowohl gegen den Regulismus569 (übergeordnete Regeln) als auch den Regularismus570 (bloße Regelmäßigkeiten) wendet.571 Weil Klatt sich zu diesem Vorwurf nicht geäußert hat, wiegt der Einwand einer letztlich „weitgehend beliebig und fiktiven Wortlautgrenze“ schwer.572 Es muss daher davon ausgegangen werden, dass eine plausible Begründung für die sich zufällig und mit dem jeweiligen Sprachgebrauch wandelnde „Grenze“ bislang nicht geliefert worden ist.573

563

Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 132 ff.; dieser Vorwurf wiegt schwer: Der Streit verlagert sich mithin auf die Frage, ob Klatt ein Konzept entworfen hat, das diesem Anliegen von Brandom und seiner ausgearbeiteten Theorie der Sprache widerspricht. 564 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 137 f., wobei Kudlich und Christensen bezweifeln, dass man die Theorie von Brandom dazu verwenden kann, eine feste Grenze der Auslegung zu ziehen (141 f.). 565 Vgl. Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944. 566 Müller / Christensen, Europarecht, 3. Aufl. 2012, 415e und dort Fn. 385 mit Verweis auf Stekeler-Weithofer, in: Krämer / König, Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, 1. Aufl. 2002, 190 ff., 201 f.; s. auch Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944. 567 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 139. 568 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 138. 569 Vgl. dazu Brandom, Expressive Vernunft, 1. Aufl. 2000 S. 56 ff.; s. auch Schneider, ZGL 2005, 1, 22: „Diese Unhintergehbarkeit [Anm.: der Sprache] ist m. E. auch das stärkste Argument gegen den ‚Regulismus‘, denn es gibt keinen außersprachlichen, neutralen Meta­ standpunkt, von dem aus wir die Sprachregeln ‚überschauen‘ könnten. Wir können uns immer nur im Medium der Sprache bewegen.“; vgl. auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 141. 570 S. dazu (ablehnend)  Brandom, Expressive Vernunft, 1. Aufl. 2000, 66 ff.; zusammenfassend Schneider, ZGL 2005, 1, 17: „Praktiken weisen immer viele verschiedene Regel­ mäßigkeiten auf. Um auf neue Fälle reagieren zu können, muss man aber ‚wissen‘, welche der Regelmäßigkeiten für die jeweilige Praxis relevant sind. Das heißt, man muss über ein implizi­ tes Regelwissen verfügen, um vergangene Ereignisse auf zukünftige ‚hochrechnen‘ zu können.“ 571 Brandom, Expressive Vernunft, 1. Aufl. 2000, 56 ff. bzw. 66 ff.; s. dazu auch Kudlich /  Christensen, ARSP 2007, 128, 129. 572 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 558. 573 So auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 558.

Kap. 2: Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie 

107

3. Ermittlungstechnische Schwierigkeiten einer Wortlautgrenze Eine Feststellung von Bedeutung wie sie Alexy, Klatt und letztlich auch Koch und Rüßmann vertreten, ist nach der Strukturierenden Rechtslehre nicht möglich, weil es mittels des eigenen Sprachverständnises ausgeschlossen ist, eine abschließende Beschreibung der Sprache zu geben.574 Die eigene Sprachkompetenz bringt enorme Unsicherheiten mit sich.575 Hier wird wiederum von der analytischen Rechtstheorie entgegnet, dass das Außerachtlassen des oftmals „in gewissen Grenzen unzweifelhaften, klaren sprachlichen Gehalts, doch im Grunde abwegig ist“.576 Zudem ist sprachliche Unbestimmtheit nicht mit einer generellen Gehaltlosigkeit gleichzusetzen.577 Empirische Erhebungen über den Gebrauch eines Wortes sind in der Regel unpraktikabel.578 Aber auch die Wörterbuchmethode wird von der Strukturierenden Rechtslehre zum Erkennen der Wortgebrauchsregel angegriffen. Es wird vorgebracht, dass Wörterbücher nur Gebrauchsbeispiele angeben, niemals eine abschließende Bedeutung angeben können.579 Im Gegenteil: Die Vielfalt von Bedeutungen wird durch einen Blick ins Wörterbuch belegt.580 Die Wörterbuchmethode ist zudem durch Vorentscheidungen und Unsicherheiten des Lexikologen geprägt.581 Ähnliches gilt auch für Kommentare und gerichtliche Präjudizien, da auch diese nur Beispiele geben können.582 Insgesamt wird festgestellt: „Die Verwendung von Wörterbüchern und Kommentaren ist insoweit Einstieg in die Debatte und nicht deren Grenze.“583 Diesem Befund ist zwar beizupflichten, man wird auch zugeben müssen, dass sich viele Fälle durch die Wörterbuchmethode insofern entschärfen lassen werden, dass man den fraglichen Anwendungsfall in allen

574

Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 140. Vgl. Kudlich / Christensen, JZ 2009, 943, 944, die von einer Überschätzung der eigenen Sprachkompetenz sprechen. 576 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 191. 577 Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982 S. 191; Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 1. Aufl. 2004, 225.; dies sieht aber auch die Strukturierende Rechtslehre, wenn sie von einer Indizwirkung des Wortlauts spricht (s. u.). 578 Vgl. Klatt, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 348. 579 Vgl. auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, 78 f.; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989 S. 68 und Christensen / Kudlich, ARSP 2002, 230: „Die Hoffnung der Juristen darauf, dass ihnen das Wörterbuch mit seinen Bedeutungsbeschreibungen die Arbeit abnehmen könnten, trügt zwangsläufig. Eine durch die Sprache in Gestalt der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke vorgegebene Grenze finden sie nicht. Sie finden allenfalls Hinweise auf immer weitere Varianten des Sprachgebrauchs und Belege für dessen Vielfalt und Reichtum“; s. auch Christensen in Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 13 ff.; kritisch aber Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 308, der von der Existenz einer semantischen Grundbedeutung ausgeht; ähnlich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 322 Fn. 19a. 580 Christensen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts, 2005, 13. 581 Kudlich / Christensen, ARSP 2007, 128, 140; Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 148 f. 582 Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 150. 583 Kudlich / Christensen, JR 2011, 146, 150. 575

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Teil 1: Das Richterrecht

befragten Wörterbüchern auffinden kann. Das eigene Sprachverständnis sollte in jeden Fall nur der letzte Ratgeber sein. II. Kritik an der Strukturierenden Rechtslehre An der Strukturierenden Rechtslehre ist ebenfalls Kritik zu üben.584 1. Problemverlagerung durch Normprogrammgrenze Die Normprogrammgrenze dient nach dieser Auffassung dazu, legitime und illegitime Entscheidungen zu trennen. Die entscheidende Frage lautet, ob bei vollständiger Heranziehung aller Konkretisierungselemente des konkreten Falles das vorgeschlagene Ergebnis dem einschlägigen Normtext noch methodisch plausibel zurechenbar ist.585 Bei einem solchen Vorgehen bleibt im Unklaren, nach welchen Kriterien eine plausible Zurechnung erfolgen soll und was „plausibel“ in diesem Zusammenhang meint. Eine Zurechnung kann nur erfolgen, wenn man im Zusammenhang mit dem Normtext eine Indizfunktion vorhersagt. Diese Aussage tritt in Widerspruch zur Betonung der Unbestimmtheit der Sprache, die für jeden Zweck offen ist. Letztlich stellen sich damit ähnliche Unsicherheiten wie bei der Wortlautgrenze der herrschenden Meinung. Außerdem kommt sie auch zu einem anderen Problem: Fehlende klare Kriterien für die Bewertung der Argumente, ob ein Begriff unter einen Tatbestand fallen soll, machen die Theorie ebenso unsicher. Immerhin hat die Strukturierende Rechtslehre hierfür einen Vorschlag unterbreitet.586 2. Indizfunktion des Wortlauts und Wert des historischen Arguments wird missachtet Aus der bloßen Indizfunktion des Wortlauts folgen nicht zwingend das Normkonkretisierungsmodell der Strukturierenden Rechtslehre und die Ununterscheidbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung. Stellt man auf den historischen Gesetzgeberzweck ab, eröffnen sich viele zusätzliche Materialien für die Konkretisierung einer Grenze. Dadurch wird die hohe Begründungslast des Wortlautarguments ebenso gemindert. In der Strukturierenden Rechtslehre bildet das historische Argument nur eines unter vielen und kann durch andere Argumente übertrumpft werden. Dabei wird übersehen, dass es aus rechtsstaatlicher und demokratischer Sicht besser wäre, in erster Linie den Willen des Gesetzgebers zur Geltung zu bringen. 584

Zu weiterer Kritik s. etwa Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 173 f. S. dazu oben 56 ff. 586 Kudlich / Christensen, JA 2004, 74, 82. 585

Kap. 2: Entscheidung im Spiegel der Sprachphilosophie 

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C. Ergebnis und Folgerung für die weitere Arbeit Aus dem Gesagten hat sich bereits ergeben, dass im Folgenden im Wesentlichen587 der subjektiven Auslegungstheorie i. S. v. Rüthers gefolgt wird. Auslegung und Rechtsfortbildung sind nach dieser Ansicht abgrenzbar und zwar über die historische Normzweckerforschung,588 der eine Stabilisierungsfunktion bei der Grenzziehung zukommt.589 Freilich ist auch diese Ansicht nicht frei von Kritik.590 Sie stellt aufgrund des zusätzlichen zur Verfügung stehenden Materials bei der Grenzziehung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung und der Verabschiedung des Gedankens einer „klaren Sprache“ ein Mehr an Sicherheit und Gesetzesbindung dar, als es bei der klassischen Meinung der Fall ist. Dabei spielt sicherlich auch der Wunsch nach einer gewissen Kontinuität der Lehre mit, der bei der Strukturierenden Rechtslehre nicht gegeben wäre. Grenztechnisch lässt sich präzisieren: Wird der Normzweck zum Anwendungszeitpunkt als nicht mehr verbindlich angesehen, muss dieser Umstand durch den Rechtsanwender offengelegt und begründet werden. Dann befindet sich der Rechtsanwender nicht mehr im Rahmen der Auslegung, sondern der Rechtsfortbildung. Lässt sich der Sinn nicht ermitteln oder bleibt er zweifelhaft,591 sollte ebenso von einer Rechtsfortbildung ausgegangen werden. Will man den Argumenten nicht folgen und sich für die herrschende Ansicht oder die Strukturierende Rechtslehre entscheiden, so wird sich die hier entwickelte Theorie der Vermeidbarkeit von Fehlentwicklung in der Rechtsprechung auch in gewissen Rahmen auch auf die anderen Modelle übertragen lassen.592 Bestätigt werden kann im Übrigen Mülberts Befund, dass von einer Einheit der Methodenlehre jenseits des verfassungsrechtlichen Mindeststandards keine Rede sein kann.593 Folgende Eckpunkte sind festzuhalten: 1. Sprache ist unbestimmt und die Bedeutung eines Wortes / Satzes wird erst durch den Anwender geschaffen („ausgelegt“).594 2. Der Normtext bietet (nur) eine erste Orientierung für die Bedeutung.

587

Im Gegensatz zu Rüthers wird davon ausgegangen, dass sprachliche Bedeutung erst durch den Rechtsanwender („Rechtsarbeiter“) geschaffen wird. 588 S. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 788. 589 Auch im Strafrecht wäre ein solcher Weg übrigens gangbar: Rüthers / Höpfner, JZ 2005, 21. 590 S. dazu ausführlich mit einer Auseinandersetzung Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 790. 591 Gemeint ist hier, ob es begründeten Zweifel im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers gibt, also mehrere nachvollziehbare Möglichkeiten existieren, wie der Gesetzgeber den Fall entscheiden wollte. 592 Darauf wird an den problematischen Stellen zurückzukommen sein. 593 Mülbert, AcP, 188, 196. 594 Kudlich / Christensen, JA 2004, 74: „Nach traditionellem Verständnis besteht die Auslegung von Gesetzen darin, dass der Normtext so weit ‚ent-faltet‘ (bzw ‚aus-gelegt‘) wird, bis die in ihm gleichsam versteckte Lösung des Auslegungsproblems deutlich wird. Realistischer ist demgegenüber wohl die Annahme, dass die Lösung des Problems noch nicht wirklich in

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Teil 1: Das Richterrecht

3. Der Normbefehl einer Norm entsteht erst durch den Kampf um die Bedeutung. 4. Wortlaut, Systematik und historische Auslegung sind die Primärmittel, der Wille des Gesetzgebers ist aber das Ziel der Auslegung 5. Auch weitere Hilfsmittel und Meinungen (Rechtsprechung, Kommentare, Aufsätze, Wörterbücher) können zum Unterstützen einer Auslegung herangezogen werden. 6. Auslegung und Rechtsfortbildung lassen sich durch den ermittelten Gesetzgebersinn trennen. Lässt sich dieser nicht ermitteln, handelt es sich um eine Rechtsfortbildung. Unabhängig davon stellt sich die Frage der Zulässigkeit. 3. Kapitel

Grundzüge der Auslegung von Richterrecht § 5 Vorüberlegungen Im Folgenden sollen die wesentlichen Grundzüge der Auslegung von Entscheidungen dargestellt werden. Zunächst sind hierfür einige Vorüberlegungen notwendig. Sodann wird es um die einzelnen Konkretisierungsmethoden und um Interpretationsunsicherheiten und den Umgang hiermit gehen.

A. Notwendigkeit einer Auslegung von Entscheidungen Die Auslegung von Richterrecht wird in der älteren Literatur nur selten behandelt595 und auch das neuere Schrifttum greift das Thema nur gelegentlich auf.596 Obwohl ständiger Streit um den Inhalt von Entscheidungen besteht, findet die Technik der Analyse von Entscheidungen kaum Interesse. Dieser Befund verwun­ der Norm ‚steckt‘ (und daher dort auch nicht einfach „gefunden“ werden kann). Vielmehr hat der Rechtsanwender den Konflikt über die Bedeutung des Normtextes tatsächlich selbst zu entscheiden. Er hat das Gesetz, an das er nach Art 20 III, 97 GG gebunden ist, als zentralen Orientierungspunkt.“ 595 Ausführlich nur Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 63 ff.; Grundzüge bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 356 ff.; Überblick bei Coing, JUS 1975, 277, 281 ff. und Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 512 ff. 596 Sie bereits die oben erwähnten Referate von Albers bzw. Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 258 ff. bzw. 298 ff. auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer unter dem Stichwort: „Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen“, wobei dort bzgl. der Methoden der Auslegung einer Entscheidung wenig Informationen vorhanden sind; Überblick bei Loyal, JURA 2016, 1181.

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

111

dert,597 weil – wie oben aufgezeigt – die Relevanz von gerichtlichen Entscheidungen für die Rechtsanwender groß ist,598 und es sich letztlich um ein eigenes Rechtsund Kommunikationsformat handelt,599 dessen Besonderheiten bei der Analyse Berücksichtigung finden müssen. Selbst wenn man mit der herrschenden Auffassung nur eine faktische Bindungswirkung von Richterrecht annimmt, erlangt die Ermittlung des Entscheidungsinhalts und der dort entwickelten Rechtsregel eine besondere Bedeutung, denn neben dem Adressaten werden sich auch die übrigen Rechtsanwender nach dem Inhalt höchstrichterlicher Entscheidungen richten wollen. Für den Kreis der Rechtsanwender wird bei näherer Betrachtung nun das Problem offensichtlich, dass der Richter immer nur im Zusammenhang mit einem konkreten Einzelfall tätig wird.600 Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, eine Regel aus der Entscheidung zu extrahieren, die losgelöst vom Sachverhalt des ursprünglichen Falls Geltung erlangen kann.601 Der Anwender muss die Möglichkeit erhalten, bestehendes faktisch bindendes Richterrecht auf neue, gleichgelagerte oder zumindest ähnliche Fälle anzuwenden602 oder – jedenfalls als Richter – ggf. sogar fortzuentwickeln oder zu verwerfen.603 Rechtsanwälte und sonstige Berater werden durch ein „korrektes“ Verständnis einer Entscheidung erst in die Lage versetzt, ihre Tätigkeit entsprechend anzupassen. Für diese Arbeit ist noch ein anderer Beweggrund entscheidend, sich mit der Auslegung von Richterrecht zu befassen: Will man ein Urteil fällen, ob eine Fortbildung gelungen ist oder nicht, so ist entscheidend, dass man sich über den konkreten Inhalt einer Entscheidung bewusst wird. Nur so kann ein entwickelter Maßstab auf die Entscheidung angewendet werden.

597

So bereits die Feststellung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 357; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 502: „Die Technik der Präjudizienverwertung ist bei uns freilich recht unterentwickelt, wohl weil die Präjudizienanwendung nach der überkommenen Methodenlehre in einem sozusagen halblegitimen und daher halbdunklen Bereich gehalten wurde, so daß eine offizielle Beschäftigung damit eher ausschied.“ 598 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 179 m. w. N.; Claussen / Korth, in: Festschrift für Karl Beusch S. 111; s. allgemein auch Arenhövel, ZRP 2005, 69, der darauf hinweist, dass Grundsatzurteile wie eine „stille Gesetzgebung“ wirken können. 599 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 266 ff. 600 Coing, JUS 1975, 277, 278, wobei festgestellt wird, dass auch der allgemein formulierte Rechtssatz aus dem Einzelfall hervorgeht. 601 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 S. 1. 602 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 512 spricht in diesem Zusammenhang treffend von „Fallvergleichung“ und „analoger“ Anwendung. 603 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 63.

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Teil 1: Das Richterrecht

B. Die ratio decidendi als grundsätzlich isoliertes Objekt der Auslegung I. Grundsatz Das Gericht entwirft in seiner Entscheidung eine fallgebundene abstrakt-generelle Rechtsregel in Form von Obersätzen bzw. Zwischensätzen, indem es diese (jedenfalls nach h. M.) aus dem Gesetz ableitet bzw. selbst herstellt 604 oder nach anderer Ansicht immer selbst konkretisiert. Die Legitimation der Entscheidung wird dabei im Wesentlichen durch die Gründe für oder gegen eine Auslegung bzw. Normkonkretisierung getragen.605 Wichtig ist hierbei die Abgrenzung von verschiedenen Arten von Entscheidungsgründen: So wird allgemein zwischen den die Entscheidung tragenden und nicht tragenden Gründen unterschieden (ratio decidendi bzw. orbiter dictum).606 Diese aus England stammende Einteilung wird in Deutschland teilweise zwar als bedeutsam (insb. bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) angesehen, ihr jedoch nicht die gleiche Bedeutung beigemessen.607 Die tragende Rechtsansicht des Gerichts für eine Entscheidung darf dabei nicht mit den Leitsätzen gleichgesetzt werden, bei denen z. B. nur einige tragende Rechtsgrundsätze ausformuliert sind oder Entscheidungsergebnisse nur der Übersicht halber zusammengefasst werden.608 Denn diese enthalten nicht die Legitimation bzw. Begründung für die Entscheidung und können daher nur hilfsweise zur Auslegung des Richterrechts herangezogen werden. Und auch nur, soweit sie von den Gerichten selbst formuliert sind.609 Larenz spricht in diesem Zusammenhang von bloßen „Destillata aus Entscheidungsbegründungen“.610 Letztlich konkretisiert sich die Frage nach der Auslegung von Richterrecht damit scheinbar auf die Frage nach der Auslegung der ratio decidendi.611Die Bestimmung der ratio decidendi und damit Abgrenzung zum orbiter dictum ist im Einzelfall schwierig612 und umstritten.613 604

Vogel, Juristische Methodik, 1998, 91; jedenfalls bei der Rechtsfortbildung. Natürlich spielt es auch eine Rolle, welches Gericht eine Entscheidung trifft (z. B. LG oder BGH). 606 Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, 78 ff.; Vogel, Juristische Methodik, 1998, 91; Coing, JUS 1975, 277, 280 f. 607 Coing, JUS 1975, 277, 281. 608 Vogel, Juristische Methodik, 1998, 92; s. auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 63 Fn. 1. 609 Vogel, Juristische Methodik, 1998, 92; anderenfalls handelt es sich um einen bloßen redaktionellen Orientierungssatz. 610 Ohnehin äußerst kritisch zur Praxis der Leitsätze Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 359. 611 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 63. 612 Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, 79; s. auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, 243 für das englische Recht. 613 Eingehend Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 68 ff.; s. auch Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 198 ff. sowie Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, 78 ff. 605

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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In Anlehnung an englische Methoden zur Ermittlung der ratio decidendi614 (wobei diesen dort aufgrund der Präjudizienbindung ein höherer Stellenwert zukommt615) wird im deutschen Schrifttum z. T. die Abgrenzungsmethode per conditio sine qua non Formel rezipiert:616 So seien solche Entscheidungsgründe der ratio decidendi zuzuordnen, deren Entfernen die Entscheidung in sich zusammenfallen lassen würden. „Tragend sind diejenigen Rechtssätze, die für einen logischen und wertungsmäßig schlüssigen Ableitungszusammenhang zwischen abstrakter Norm und konkreter Entscheidung erforderlich sind, also nicht hinweggedacht werden können, ohne daß er [Anm.: dieser Ableitungszusammenhang] entfiele […]“.617 Dieser Weg kann sich auf den in England anerkannten „Cross-Test“ stützen.618 Einer solchen und auch anderen ähnlich formalen Methoden wird allerdings in der Literatur ein zu mechanisches Vorgehen vorgeworfen und dieses letztlich als zu unscharf kritisiert.619 Vielmehr taugt dieser Schritt lediglich als Faustformel.620 Er legt grundsätzlich nur fest, was grob betrachteter Gegenstand der Interpretation sein soll. Die Bestimmung der ratio decidendi ist hier klassische hermeneutische Interpretationsarbeit.621 Dementsprechend bietet es sich an, die auch für Gesetze einschlägigen Methoden auf die Auslegung einer Entscheidung zu übertragen. Als Argument für dieses analoge Vorgehen wird vorgebracht, dass es sich bei Entscheidungen letztlich ebenso um sprachliche Gebilde handelt wie bei Gesetzen.622 614

Zu nennen sind etwa der Wambaugh’s Test, Goodhart’s Test oder der Lord Halsbury’s Test. 615 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 67. 616 Vogel, Juristische Methodik, 1998, 91. 617 Vogel, Juristische Methodik, 1998, 91; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 513; letztlich so auch Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, 79: „Die rationes decidendi einer konkreten Entscheidung sind die tragenden Ausführungen, mit denen das Gericht den Richterspruch erkennbar stützen wollte. Hierzu zählen auch alternative oder vor- bzw. nachrangige Begründungen. Selbst solche, die die Existenz weiterer Argumentationsmöglichkeiten erkennen lassen, werden vom Begriff der tragenden Gründe erfasst. Obiter dicta sind dann die Ausführungen in den Entscheidungsgründen, von denen sich das Gericht bei der Entscheidung nicht leiten ließ. Darunter fallen insbesondere offen gelassene Fragen oder die Lösung von Problemen, auf die es konkret nicht ankommt, sowie die Ankündigung von Rechtsprechungänderungen.“ 618 S. dazu Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, 243: „Allgemein akzeptiert ist die Definition von Cross, nach der jede Regel, die notwendiger Schritt für den richterlichen Entscheidungsprozess war, Gegenstand der ratio decidendi ist“; so bereits Coing, JUS 1975, 277, 280 f. 619 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 68 ff. 620 Keil, Die Systematik privatrechtlicher Rechtsprechungsänderungen, 2007, 78 sowie ­Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 198 und Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 69. 621 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 75 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 357; so auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 512 ff. 622 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 76; die Strukturierende Rechtslehre wird stattdessen analog zur Normkonkretisierung des Gesetzes davon ausgehen, dass es wiederum um die Konkretisierung des Entscheidungstextes geht.

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Teil 1: Das Richterrecht

II. Ausnahme Entgegen dem obigen Grundsatz sollte das orbiter dictum in die Bewertung einbezogen werden, sofern das Gericht damit allgemeine Aussagen bezweckt, die absehbar über den konkreten Fall hinaus gelten sollen. Denn oftmals will das Gericht ein neues Rechtsinstitut möglichst umfassend regeln und sogar Nebenfragen mitklären, die als notwendiger Annex dazugehören. Es ist dann nicht sinnvoll, auf die ratio decidendi abzustellen und die einheitliche Regel künstlich aufzuspalten. Eine solche umfassende Betrachtung wird z. B. bei (rechtsfortbildenden) Grundsatzentscheidungen vorkommen, bei denen die Richter die Notwendigkeit sehen, nicht nur den konkreten Sachverhalt zu entscheiden, sondern gleichzeitig auch weitere Vorgaben für die Instanzgerichte vorzugeben, um eine einheitliche Rechtsprechung zu garantieren.

C. Grundprobleme der Interpretation Bei der Interpretation von Entscheidungen lassen sich zwei Grundprobleme unterscheiden. I. Entwicklung einer fallübergeordneten Regel Ziel der Auslegung ist es, eine klare und möglichst konturenscharfe Rechtsregel aus der Entscheidung formulieren zu können und ihre Entwicklung (Begründung) zu verstehen.623 Dafür muss nach allgemeiner Meinung der Gedankengang der Entscheidung (Rechtsauffassung der Richter) nachvollzogen werden und in seine Tragweite eingeordnet werden.624 Das wesentliche strukturelle Problem der Auslegung von Richterrecht wird dabei in der Extraktion einer vom Einzelfall losgelösten Regel gesehen, deren Anwendung auf weitere Fälle Schwierigkeiten bereitet: „Denn wegen ihrer Bezogenheit auf den jeweils entschiedenen Fall ist die Tragweite und damit die Anwendbarkeit der darin ausgesprochenen Maximen auf andere Fälle oft sehr zweifelhaft.“ 625

623 Coing, JUS 1975, 277, 281: „Ziel der Analyse eines Urteils ist, sich klarzumachen, welche Rechtssätze das entscheidende Gericht seinem Spruch zugrunde gelegt hat und wie diese Rechtssätze im Zusammenhang mit der Entscheidung des konkreten Falles entwickelt worden sind.“ 624 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 358; Coing, JUS 1975, 277, 282. 625 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 357 f.; s. auch Langen­ bucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 84 f.

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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II. Auslegungsgrundsätze Versucht man das Richterrecht mit Hilfe der klassischen Methode auszulegen, so gerät man schnell an Grenzen, weil diese auf Gesetze zugeschnitten sind und entsprechend abgewandelt und ergänzt werden müssen. So wird man etwa in systematischer Hinsicht nicht auf andere Gesetze, sondern vergleichbare vorausgegangene Entscheidungen, auf die sich die Gerichte oftmals ausdrücklich berufen, abzustellen haben. Oder es kann auf den Wortlaut einer Entscheidung nicht in der Form vertraut werden, wie bei einem Gesetz, da dem Richter keine speziellen Kontrollinstanzen zur Seite stehen. Im Folgenden sollen die denkbaren Kernpunkte für die ratio decidendi dargestellt werden.626

§ 6 Möglichkeiten zur Auslegung einer Entscheidung und Konkretisierung einer Regel Die Möglichkeit zur Auslegung einer gerichtlichen Entscheidung und zur Konkretisierung der ratio decidendi besteht in der Analyse von Sachverhaltsdaten, Formulierungen, Entscheidungsketten, Wertungen und ggf. in der Verwendung von weiteren Referenztexten.627 Letztlich geht es um die Analyse der Einzelentscheidung mittels der verschiedenen Methoden und Einordnung in die (falls vorhandene)  Entscheidungsreihe. Letztere muss dabei notwendigerweise ebenfalls ausgelegt werden.628 Erst aus der Gesamtschau wird sich regelmäßig eine konkrete Regel formulieren lassen. Beachtet werden sollte außerdem, dass eine Regel nicht zwingend ausdrücklich in einer Entscheidung aufgenommen werden muss, sondern sich mitunter konkludent aus dem Inhalt der Entscheidung ergibt.629 Für das konkrete Vorgehen kann m. E. im Wesentlichen auf einen Vorschlag von Coing zurückgegriffen werden.630 Er unterscheidet verschiedene Stufen der Interpretation, die hier aufgegriffen und weiterentwickelt werden.

626

Für eine ausführliche Darstellung sei auf die weitergehende Literatur insb. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 63 ff. verwiesen. 627 Zu den Grenzen der Auslegung von Entscheidungen s. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 89. 628 Coing, JUS 1975, 277, 281. 629 Bsp. bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 512: „Eine bestimmte Vertragsklausel ist nach Meinung einer Vorentscheidung mit einem bestimmten Paragraphen eines Gesetzes unvereinbar und daher nichtig. Die entscheidende Aussage, daß der betreffende Paragraph zwingendes Recht darstellt, ist gar nicht ausdrücklich gemacht.“ 630 Coing, JUS 1975, 277, 281 ff.

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Teil 1: Das Richterrecht

A. Entscheidungsanalyse I. Ermittlung des Sachverhalts Am Beginn des Analyseprozesses stehen nicht  – wie man zunächst meinen könnte – die konkreten rechtlichen Formulierungen, sondern die vom Gericht ausgewählten Fakten, die als entscheidungserheblich angesehen wurden.631 Denn nur im Lichte dieser Daten wird eine Regel, die das Gericht für seine Entscheidung entwickelt hat und auch die von Larenz angesprochene Tragweite der Entscheidung, verständlich.632 Daher ist es von Bedeutung, dass die Gerichte eine möglichst genaue und umfassende Sachverhaltsangabe erarbeiten.633 Auch hier bietet es sich wieder an, zwischen entscheidungsrelevanten und nichtentscheidungsrelevanten Daten zu trennen. Die Frage lautet, welche Fakten das Gericht als notwendig für den Entwurf einer Regel angesehen hat.634 Denn eine Regel muss eben immer den Umständen des Falles angepasst werden, sprich auf sie hin konkretisiert werden. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass es wichtig sei, den Interessenkonflikt des Falles herauszuarbeiten, den der Richter mithilfe des Gesetzes – das nach herrschender Ansicht eine gesetzgeberische Lösung des Interessenkonflikts enthält – zu lösen hat.635 Daher ist es auch wichtig, auf die Elemente, die die Parteien betonen, zu achten.636 Diese Sichtweise von Interessenkonflikten und Interessenentscheidungen durch den Gesetzgeber geht zurück auf die bereits oben angesprochene Interessenjurisprudenz, die in ihren Grundzügen noch heute Geltung beanspruchen kann. Sie beinhaltet eigentlich eine Theorie dazu, wie Gesetze auszulegen und fortzubilden sind, und nicht über die Sachverhaltsermittlung. Jedoch kann man bei genaueren Hinsehen ein Schlüsselelement zum Verständnis einer Entscheidung erhalten: Die Interessenjurisprudenz sieht – und das ist der entscheidende Grundstein für diese Auffassung637 – Rechtsnormen als Entscheidungen von Interessenkonflikten, die in einer Gesellschaft auftreten können.638 Sie sind damit das Ergebnis 631

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 358 spricht hier von Bedeutungszusammenhang; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 512. 632 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 78; Coing, JUS 1975, 277, 281. 633 Vgl. Coing, JUS 1975, 277, 281 f. 634 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 69 ff., 78 f. beruft sich hier maßgeblich auf den im angloamerikanischen Rechtskreis verwendeten Goodhart Test: „(1) zunächst sind alle diejenigen Fakten zusammenzustellen, die der Entscheidung zugrunde lagen. (2) Sodann ist zu untersuchen, welche dieser Fakten der Richter für relevant hielt. (3) In einem letzten Schritt läßt sich dann die ratio ableiten: sie besteht aus der Entscheidung des Richters auf der Basis der relevanten Fakten, unter Ausschluß der irrelevanten Fakten.“ 635 Coing, JUS 1975, 277, 281. 636 Coing, JUS 1975, 277, 281. 637 Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 81 ff. 638 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 15 und etwa auch S. 167 ff.; s. auch

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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von um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Art.639 Die Befriedigung der Interessen („Lebensbedürfnisse“) und die Interessenbewertung durch den Gesetzeber stehen damit im Mittelpunkt der richterlichen Fallentscheidung. Sie bildet damit gewissermaßen das „Endziel“.640 Der Richter muss bei einer Fallentscheidung letztlich herausfinden, welche Interessen sich im konkret zu entscheidenden Fall gegenüberstehen641, eine Norm finden, die diesen Interessenkonflikt betrifft, und sodann die Interessenbewertung des historischen Gesetzgebers im Einzelnen nachvollziehen.642 Noch heute kann auf diese Gedanken zurückgegriffen werden. Analysiert man also die Sachverhaltslage, kommt es neben sonstigen Rahmenbedingungen darauf an, eine möglichst genaue Vorstellung davon zu gewinnen, welcher Interessenkonflikt hier eigentlich durch die Richter entschieden werden soll. Anschließend kann der rechtliche Gedankengang der Entscheidung besser nachvollzogen werden, weil deutlich ist, worin das tatsächliche und rechtliche Problem lag. Nachteilig wirkt sich dabei aus, dass der Sachverhalt in einer Entscheidung nur ein „Destillat“ der eigentlich ausgetauschten Informationen zwischen den Parteien in Form der Akten ist. II. Rekonstruktion des Gedankengangs des Gerichts 1. Formulierungen (Wortlautauslegung) Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut, wobei diesem nach einer Ansicht in der Literatur eine erheblichere Bedeutung zukommt als bei der Auslegung von Gesetzen, da man auf keinen anderen Text (außer das für die Entscheidung ange­Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 179; Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 163a und (z. T. kritisch) Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 50 ff. 639 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 32. 640 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 S. 49; Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 92. 641 Entscheidend ist, dass nicht der erste Schritt bereits zum Erfolg führen kann. Denn welche Interessen sich widerstreitend gegenüberstehen, sagt nichts darüber aus, wie ein Fall zu entscheiden ist, Pawlowski, AcP 1975, 189 S. 210 f. 642 Ausführlich zur richterlichen Fallentscheidung Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1968 49 ff. und 172 ff.; s. auch Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 1. Aufl. 2001 S. 107 ff. bzw. zu Einzelheiten der Auslegung bei Heck S. 102 ff.; zur Vorgehensweise des Richters unter Zugrundelegung der Interessenjurisprudenz s. weiter Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 181 und Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 164 ff. sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 119 f.

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Teil 1: Das Richterrecht

wendete Gesetz) zugreifen kann. Man hat zunächst nur die Entscheidung selbst.643 Eine andere Richtung vertritt konträr dazu, dass der Wortlaut einer Entscheidung nicht überschätzt werden darf und nur den Ausgangspunkt der Auslegung bildet.644 Die Wortlautauslegung stößt nach dieser Meinung noch schneller an ihre Grenzen als es bei Gesetzen der Fall ist, weil der Richter nicht über die Ressourcen einer Verwaltung zur exakten Formulierung wie bei Gesetzen verfügt. Die Fallbezogenheit der Regel bringt es mit sich, dass dort Formulierungen geschaffen werden, deren spätere Tragweite von den Richtern beim Ausarbeiten einer Regel noch gar nicht überblickt werden können.645 Eine Formulierung kann sich dann als zu weit oder zu eng herausstellen, weil die Worte „nicht mit so viel Bedacht gewählt werden, daß ihm besonderes Gewicht im Rahmen der Interpretation zukommen sollte.“646 Ob diese Sicht auch bei höchstrichterlichen Entscheidungen zutrifft, ist fraglich, kann aber offen bleiben, weil eine so exakte Formulierung einer Regel auf nur einen konkreten Fall aufgrund der Offenheit der Sprache schwierig ist. Langenbucher bringt als empirisches Argument gegen eine zu hohe Bedeutung des Wortlauts ins Spiel, dass der Rechtsverkehr eher auf Gesetzesformulierung als auf Richterformulierung vertraut, was wohl Ausdruck einer gewissen Skepsis gegenüber Entscheidungsformulierung widerspiegelt.647 In jedem Fall muss darauf geachtet werden, dass der juristische Sprachgebrauch bei der Auslegung im Vordergrund steht.648 Anhand der Formulierungen und der Fakten des Falles werden sich oftmals bereits erste Auslegungshypothesen einer Entscheidung formulieren lassen. In der Literatur wird Vorgeschlagen, bei Unsicherheiten darüber, welche Hypothese gewählt werden soll, neben der Möglichkeit, weitere Auslegungsmethoden heranzuziehen,649 diejenige zu suchen, die am nachvollziehbarsten und sinnvollsten ist.650 Es wird die Auslegung gewählt, die sich also am besten in das geltende Recht einfügt. Keinesfalls darf bei der Wortlautauslegung stehengeblieben werden, weil man zu leicht dazu bewegt wird, aufgrund eines bestimmten Vorverständnisses, eine Auslegung im Sinne seiner vorgebildeten Meinung als richtig anzuerkennen.651 2. Entscheidungsketten (Systematische Auslegung) Liegen bereits weitere Entscheidungen vor, ist also die auszulegende Entscheidung nur ein Glied in einer Entscheidungskette, so sollten auch die vorrangegan 643

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 358. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 77. 645 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 78; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 359 insb. dort auch Fn. 98. 646 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 78. 647 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 78. 648 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 358. 649 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 80. 650 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 358. 651 S. dazu beispielhaft Loyal, JURA 2016, 1181, 1184 ff. 644

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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gen Entscheidungen (Vorentscheidung) und deren Formulierungen und Fakten sowie das daraus entwickelte Recht mit in die Auslegung einbezogen werden.652 So ergibt sich ein vollständigeres Bild über die aktuell aufgestellte Regel und ihre möglichen Ausformungen in der konkreten Entscheidung. Nicht selten wird dabei der Wortlaut einer vorrangegangenen Entscheidung übernommen, manchmal wird er auch sprachlich abgewandelt. Ob damit dann eine inhaltliche Änderung der Regel einhergeht, muss durch die Untersuchung der Formulierungen, der Fakten und weiterer Methoden herausgearbeitet werden. Nach Langenbucher verengt sich die Auslegungshypothese durch die Zuhilfenahme weiterer Entscheidungen, sodass sich eine richterrechtliche Regel und ihre möglichen Deutung immer weiter konkretisieren.653 Die Zuhilfenahme von weiteren Referenztexten hat damit eine Stabilisierungsfunktion bei der Auslegung einer Entscheidung. Diese Stabilisierungsfunktion kann freilich in ihrer Intensität sehr unterschiedlich ausfallen. Coing hat zu Recht auf unterschiedliche Geltungsgrade hingewiesen:654 So gebe es gefestigte und ungefestigte Rechtsprechung, vereinzelte Entscheidungen, Einzelentscheidungen655 und gelegentlich geäußerte Rechtsansichten. Eine ungefestigte Rechtsprechung liegt nach Coing vor, wenn die Rechtsprechung zwar ein bestimmtes Problem erkannt hat, noch keine befriedigende Lösung zuführen konnte oder sie die gefundenen Rechtssätze noch verfeinert oder ausbaut.656 Der Geltungsgrad einer solchen Entscheidung ist nach dieser Ansicht daher geringer, als bei einer gefestigten Rechtsprechung.657 Ob vereinzelt gebliebene Entscheidungen und eine Vorentscheidung658 sowie gelegentlich geäußerte Rechtsansichten (orbi­ ter dicta) zur Erhellung einer Entscheidung beitragen können, hängt stark vom Einzelfall ab. Bydlinski schlägt bei Widersprüchen zwischen Vorentscheidungen eine Beschränkung auf die jeweils tatsächlich entschiedenen Sachverhalte vor.659 Solche Widersprüche sind nicht selten. Im Gesellschaftsrecht gab es in der Vergangenheit etwa bei der Behandlung von Mantelgesellschaften entgegengesetzte Entscheidungen der Instanzgerichte, bis sich dem BGH die Möglichkeit bot, Ordnung in die Rechtsprechungslinie zu bringen.660 652 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 81; Coing, JUS 1975, 277, 279. 653 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 81. 654 Coing, JUS 1975, 277, 279 f. 655 Diese wurden von Coing nicht explizit genannt. 656 Coing, JUS 1975, 277, 280. 657 Coing, JUS 1975, 277, 280. 658 S. die Unterscheidung bei Coing, JUS 1975, 277, 280. 659 Bydlinski, Methodenlehre, 512 f.; Coing, JUS 1975, 277, 278 beobachtet bereits ein solches Bemühen der Gerichte, in bestimmten Fällen die aufgestellte Regel auf den Einzelfall zu begrenzen. 660 Von einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Jena, Beschluss v. 27.09.2006 – 6 W 287/06, BeckRS 2006, 13966) wurde die Ansicht vertreten, dass die Gesellschafter ebenso wie in der Situation der unterbliebenen Ersteintragung der GmbH bei unterbliebener Offen­ legung der wirtschaftlichen Neugründung einer zeitlich unbegrenzten Verlustdeckungshaftung unterliegen. Hiergegen wendete sich etwa KG, Urteil v. 7.12.2009 – 23 U 24/09, NZG 2010, 387; hierzu ausführlich dann BGH, Urteil v. 6. 3. 2012 – II ZR 56/10, BGHZ 192, 341;

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Teil 1: Das Richterrecht

3. Wertungen (teleologische Auslegung) Bei der teleologischen Auslegung von Richterrecht geht es um die Frage, welchen Sinn und Zweck die Richter mit der von ihnen vertretenen Rechtsauffassung verfolgen. Letztlich geht es dabei um die hinter der Regel stehenden und diese stützenden argumentativen Wertungen unserer Rechtsordnung.661 Der Richter darf diese Wertungen nicht selbst durch Eigenwertung setzen, sondern muss sie nach herkömmlicher Vorstellung in unserer Rechtsordnung ausfindig machen (sog. Wertungsjurisprudenz)662 Langenbucher ordnet dieser Methode zwei wesentliche Funktionen zu: Zum einen dient sie der Bestimmung des Anwendungsbereichs richterrechtlicher Regeln, d. h. also, auf welche Fälle die Regelung Anwendung findet, und zum anderen der dogmatische Strukturierung von Rechtsprechungslinien.663 Ersteres stellt – wie bereits oben erwähnt – eines der wesentlichen Probleme dar: Aufgrund der Fallgebundenheit einer ratio decidendi kann sich die Anwendbarkeit auf nur ähnliche Falle als schwierig darstellen. Es muss daher danach gefragt werden, was mit der ursprünglichen Regel des Gerichts bezweckt wurde, und welche Wertungen aus dem geltenden Recht abgeleitet wurden, um daraus Rückschlüsse für den neuen (ggf. erst zukünftigen) Fall zu ziehen. Denkbar ist auch hier die Hinzuziehung eines orbiter dictum, falls die Rechtsprechung schon einmal zu erkennen gegeben hat, in welche Richtung sich das Recht nach deren Auffassung weiterentwickeln soll. Die eigene getroffene Feststellung bzgl. der Anwendbarkeit wird oftmals mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sein, denn letztlich muss man sich verdeutlichen, dass man nicht mit Bestimmtheit sagen können wird, ob die Richter den aktuell zur Frage stehenden Sachverhalt mit einer vorher bestehenden ratio decidendi bedacht hatten oder sie zumindest nach dem Sinn und Zweck eine wertungsmäßige Gleichstellung beider Fälle gegenwärtig befürworten. Mit dieser Unsicherheit müssen die Rechtsanwender und insbesondere die beratende Praxis leben. Erst anhand mehrerer Entscheidungen wird man wohl oft erst eine bessere Beurteilungslage haben, aus der sich gewisse denkbare, zukünftige Entscheidungen ableiten lassen.

s. zum Ganzen Wicke, in: Fleischer / Goette, Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 3 Rn. 24 bzw. 29 ff. 661 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 83. 662 Grüneberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. 2018 Einl. Rn. 34 ff.; ­L arenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991 S. 119 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982 S. 123; Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 1. Aufl. 2001 S. 8.; vgl. auch Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000 Rn. 171 ff. und Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 112 f. 663 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 83 ff.

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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4. Weitere Referenztexte als Konkretisierungsmittel Zur Konkretisierung einer gerichtlichen Entscheidung wird man oftmals auf weitergehende Texte abstellen können (Monographien, Kommentierungen und Aufsätze): So greifen die Gerichte bei der Rechtsfortbildung auf schon bestehende Meinungen in der Literatur zurück. Schließt sich die Rechtsprechung bei einer Fortbildung einer solchen Meinung an, so wird man zumeist darauf vertrauen können, dass dieser Ansicht auch in Folgeentscheidungen mit allen ihren anderen Konsequenzen gefolgt wird. Denn bei der Abwägung für eine Meinung ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Gerichte keine (zumindest verdeckte) Folgenbetrachtung anstellen. So kann man bei der Auslegung der ratio decidendi die Rechtsansicht des Gerichts mithilfe von weiteren Referenztexten näher bestimmen und zusätzlich naheliegende Folgefälle besser beurteilen.

B. Einordnung der Einzelentscheidung Hat man den Inhalt einer Entscheidung analysiert, sollte noch einmal ein Abgleich mit den Vorentscheidungen stattfinden. Dieser hat den Zweck, mögliche Fehlinterpretationen aufzudecken. Der Abgleich mit anderen Entscheidungen spielt also sowohl bei der Rekonstruktion des Gedankengangs des Gerichts eine Rolle, wie auch bei der Einordnung der Entscheidung in einen generellen Zusammenhang zur abschließenden Überprüfung.

C. Unsicherheiten bei der Interpretation Wie schwierig die Auslegung von Entscheidungen mitunter sein kann, zeigt das ARAG / Garmenbeck Urteil,664 das bis heute noch Diskussionen nach sich zieht.665 Der BGH urteilte, dass der Aufsichtsrat aufgrund seiner Aufgabe, die Tätigkeit des Vorstands zu überwachen und zu kontrollieren, die Pflicht hat, das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der AG gegenüber Vorstandsmitgliedern eigenverantwortlich zu prüfen.666 Falls er zu dem Ergebnis gelangt, dass sich der Vorstand schadensersatzpflichtig gemacht hat, muss er aufgrund einer Risikoanalyse abschätzen, ob und in welchem Umfang die gerichtliche Geltendmachung zu einem Ausgleich des entstandenen Schadens führt.667 Stehen der AG nach dieser Prüfung durchsetzbare Schadensersatzansprüche zu, so hat der Aufsichtsrat diese

664

BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, NJW 1997, 1926. Beispielhaft sei auf Koch, NZG 2014, 934 sowie Faßbender, NZG 2015, 501 und Haber­ sack, NZG 2016, 321 verwiesen. 666 BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, NJW 1997, 1926 (Leitsatz 2). 667 BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, NJW 1997, 1926 (Leitsatz 3). 665

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Teil 1: Das Richterrecht

An­sprüche grundsätzlich zu verfolgen, sofern nicht gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegen sprechen.668 Im Kern geht es bei der heutigen Auseinandersetzung darum, ob die nach dem BGH grundsätzlich gebotene Schadensersatzverfolgung durch den Aufsichtsrat Gegenstand einer unternehmerischen Entscheidung ist und damit der gerichtlichen Kontrolle weitestgehend entzogen ist.669 Während man früher von keinem oder nur einem eingeschränkten Beurteilungs- oder Ermessensspielraum ausgegangen war,670 interpretierte ein damaliger, am ARAG / Garmenbeck Urteil beteiligter Richter die Entscheidung in die entgegengesetzte Richtung. Er meinte, dass das Urteil in der Vergangenheit zu restriktiv ausgelegt wurde.671 Vielmehr sei von einem Ermessensspielraum auszugehen. Dem schließt sich die wohl heute herrschende Meinung an, allerdings ohne das Urteil selbst in diese Richtung zu interpretieren. In der Literatur wurde die neue Darstellung des Urteils durch den Richter eher kritisch aufgenommen.672 Es wird deutlich, wie schwierig die Beurteilung einer einzigen Entscheidung insbesondere mittels des Wortlautes ist. Die Frage, die sich letztlich stellt, ist, wie mit Interpretationsunsicherheiten hinsichtlich einer gerichtlichen Entscheidung umgegangen werden sollte. Die Antwort gibt m. E. die Auseinandersetzung über die Lesart der Entscheidung selbst: Weil es kein richtig oder falsch gibt, sich in der Literatur Interpretationstendenzen aufzeigen lassen, wie die, dass das Urteil ein unternehmerisches Ermessen zugunsten des Aufsichtsrates nicht hergibt, sollte es bei der Festsetzung dieser Bedeutung bleiben. Es gibt insofern eine herrschende Interpretationsmeinung. Das hat den Vorteil, dass nachfolgende Gerichte dazu bewegt werden, ausdrücklich die Problematik klarzustellen, weil sie – jedenfalls in der äußeren Ansicht – von einer bisherigen Rechtsprechung abweichen. Sollte das nicht der Fall sein, so kann von der bisherigen Interpretation ausgegangen werden. Ob die Gerichte allerdings diese „stillschweigende Abmachung“ einhalten, ist eine andere Frage. Gut wäre etwa eine Formulierung i. S. v.: „In der Literatur ist die Entscheidung dahingehend interpretiert worden, dass (…). Stattdessen wird hier davon ausgegangen (…)“. Im Gesellschaftsrecht kann ein solches Vorgehen vereinzelt beobachtet werden. Bei bereits erwähnten Thema der Mantelgesellschaft stellte etwa das Kammergericht fest: „Mehrere Gerichte und weite Teile des Schrifttums wollen aus den Entscheidungen des BGH673 (…) herauslesen, dass die Gesellschafter nach Maßgabe der für die Vor-GmbH entwickelten Vorbelastungshaftung auch dann haften, wenn bei der wirtschaftlichen Neugründung das 668

BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, NJW 1997, 1926 (Leitsatz 4). Ausführlich Koch, NZG 2014, 934 ff. 670 Vgl. ausführlich Koch, NZG 2014, 9345. 671 Goette, in: Hoffmann-Becking, Liber amicorum für Martin Winter, 2011, 153 ff. 672 Koch, NZG 2014, 934: „Das Gesamtfazit der sprachlichen Analyse lautet daher, dass sie die von Goette angenommene Lesart als unternehmerische Entscheidung nicht trägt, sondern es bei der Grundaussage bleibt, dass dem Aufsichtsrat ein unternehmerisches Ermessen nicht zusteht.“ Dort auch Fn. 42 m. w. N. 673 Gemeint waren BGH, Beschluss v. 09.12.2002 – II ZB 12/02, BGHZ 153, 158 bzw. BGH, Urteil v. 07.07.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318. 669

Kap. 3: Grundzüge der Auslegung von Richterrecht

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satzungsmäßige Stammkapital uneingeschränkt vorhanden war, jedoch eine Offenbarung unterblieben ist (…). Der Senat kann dem nicht beitreten. (…).674 In jedem Fall bleibt dem Rechtsanwender die Möglichkeit, auf eine Entscheidung einer höheren Instanz oder Klarstellung eines gleichgeordneten Gerichts zu warten.675 Im schlechtesten Fall ist die Regel sogar aufgrund der Unklarheit unanwendbar,676 was selten vorkommen wird.677

674

KG, Urteil v. 7.12.2009 – 23 U 24/09, NZG 2010, 387, 388. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 513; im obigen Fall wäre das BGH, Urteil v. 6. 3. 2012 – II ZR 56/10, BGHZ 192, 341. 676 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 513. 677 Einen Sonderfall stellen sog. Billigkeits- und Bemessungsentscheidungen dar. Eine ratio decidendi wird sich zwar auch bei sog. Billigkeits- und Bemessungsentscheidungen formulieren lassen, jedoch sind diese regelmäßig so eng mit dem Ausgangsfall verknüpft, dass dieser lediglich eine Richtlinienfunktion für andere Fälle zukommen wird (Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 513). Vor einer Verallgemeinerung und Übertragung auf andere Fälle muss daher besonders genau geprüft werden, ob die Fälle vergleichbar sind. 675

Zweiter Teil

Die Bewertung von Richterrecht 4. Kapitel

Die gelungene Rechtsfortbildung Hat man geklärt, ob es sich bei der in Rede stehenden Entscheidung um eine Rechtsfortbildung handelt und ist man sich über den Inhalt der Entscheidung im Klaren, so stellt sich die Frage, ob die Rechtsfortbildung gelungen ist. Die Beurteilung erfordert einen Maßstab, der wie folgt entwickelt werden soll: Zunächst geht es um die positive Formulierung genereller Erwartungen, die unsere Rechtsordnung an eine gelungene Rechtsfortbildung stellt. Dabei spielt die Erfüllung der bereits oben genannten Funktionen der Fortbildung eine zentrale Bedeutung, denn wir würden erwarten, dass diese eintreten und nicht ausbleiben sollen (Erfüllung der Funktionen). Sodann sollen die rechtlichen und rechtstatsächlichen Kernschwächen einer richterlichen Regelung in Grundzügen herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran sollen die Kriterien ausgewählt werden, die eine Fortbildung als nicht gelungen erscheinen lassen und im direkten Einflussbereich des Richters liegen. Daraus sollen Rückschlüsse gezogen werden, was der Richter tun kann, um die Schwächen des Richterrechts zu kompensieren, damit am Ende eine erfolgreiche Fortbildung steht (Ausbleiben der Nachteile einer Fortbildung). Diese beiden Elemente bilden quasi das theoretische Fundament, aus denen man die weiteren Kriterien ableiten kann. Als nächstes sollen sodann die in der Literatur bereits entwickelten Prüfungspunkte dargestellt werden. Hier geht es vorwiegend um die von Larenz entwickelten Bewertungskriterien, die er aus der Analyse von mehreren Entscheidungen hergeleitet hat,1 aber auch um andere Äußerungen in der Literatur zum Thema (Erfüllung der Erwartungen in der Literatur). Diese können dann anhand der theoretischen Darstellung auf ihre Plausibilität überprüft werden. Schließlich kann der Versuch unternommen werden, die in der Literatur nur unvollständigen Gesichtspunkte eines Bewertungsmaßstabs für Rechtsfortbildungen mithilfe des theoretischen Fundaments zu erweitern. Bevor auf dieses Feld näher eingegangen werden soll, muss man einmal eine Präzisierung des Begriffs „gelun­gen“ vornehmen.

1 Auf eine weitergehende Beobachtung und Diskussion von anderen Entscheidungen soll daher verzichtet werden.

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung

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§ 7 Erwartungen unseres Rechtskreises als theoretisches Fundament Larenz’ Aufsatz „Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildung“ weist bereits im Titel auf den Umstand hin, dass es bei der Bewertung einer Fortbildung keine „one right answer“ gibt. Die von ihm herausgearbeiteten Kriterien sind nur „Kennzeichen“ einer gelungenen Fortbildung. Diese Erkenntnis besagt gleichzeitig, dass ein kumulatives Vorliegen aller Kriterien nicht in jedem Fall für ein gelungenes Richterrecht sprechen, es sich andererseits auch nicht um eine misslungene Fortbildung handeln muss, wenn ein Kriterium fehlt. Vielmehr sind die Kriterien nur dazu da, Argumente für die Bewertung bereitzustellen. In welchem Verhältnis diese Argumente wiederum zueinanderstehen, ist letztlich deren Wertigkeit und Überzeugungskraft geschuldet. Es geht darum, dass der Einzelne sich von den vorgetragenen Argumenten zur Gelungenheit oder zum Fehlgehen der Fortbildung überzeugen lässt. Sicher sind dabei viele Graduierungen möglich. Das Gelingen einer Fortbildung ist damit wertungsabhängig, aber bis zu einem gewissen Grad rational begründbar. Ausgeklammert werden soll hier des Weiteren der wirtschaftliche, soziale oder sonstige Erfolg einer Fortbildung (Folgenbetrachtung). Im Mittelpunkt der Arbeit steht also ein rechtliches Gelingen. Es ist sicher vorstellbar, dass einer Fortbildung – vielleicht sogar „contra legem“ – ein besonderer wirtschaftlicher Erfolg zuteil wird und man sie daher in der Folgenbetrachtung in diesem Punkt als gelungen bezeichnet. Eine solche umfassende Bewertung würde den Rahmen der Arbeit sprengen.

A. Funktionserfüllung unter Berücksichtigung der herrschenden Meinung I. Lösung einer offenen Rechtsfrage Wir hatten gesehen, dass es bei der Funktionserfüllung einer Fortbildung zunächst einmal um die Lösung einer offenen Rechtsfrage geht. Ziel der Fortbildung ist es, in erster Linie durch eine Rechtsanpassung und -ergänzung einen erkannten Missstand zu beheben. Damit man eine Fortbildung als gelungen bezeichnen kann, muss diese aufgehoben werden, sei es, dass mit der herkömmlichen Auffassung eine Gesetzeslücke geschlossen oder ein sonst fehlerhaftes Gesetz korrigiert wird. Die Erfüllung der richterlichen Gestaltungsaufgabe ist der zentrale Punkt einer Fortbildung.

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

II. Äußerliche und innerliche Beachtung der überlieferten Fortbildungstheorie Dabei müssen – sofern man sich auf dem Boden der herrschenden Meinung befindet – deren allgemein geteilte Grundsätze erfüllt werden. Die Kernpunkte dieser herrschenden Auffassung stellen sich grob wie folgt dar: Die Rechtsfortbildung ist eine Tätigkeit im Rahmen der Rechtsgewinnung, die über die klassische Auslegung hinausgeht,2 wobei die entscheidende Grenze beim noch möglichen Wortsinn gezogen wird (Wortsinntheorie).3 Positiv beschrieben werden kann sie nach ihrer Entfernung vom Gesetz, wobei sich nach Larenz und Canaris vier Gruppen unterscheiden lassen.4 Es wird in unscharfen Abstufungen zwischen der Rechtsfortbildung (1) secundum5 oder intra legem6 („Auslegung“), (2) praeter legem („gesetzesimmanente“ Rechtsfortbildung), (3) extra legem – intra ius („gesetzesübersteigender“ Rechtsfortbildung, aber innerhalb des Rahmens der Gesamtrechtsordnung) sowie (4) contra legem („gegen das Gesetz“ verstoßend) unterschieden.7 Voraussetzung für die Fortbildungsform praeter legem ist das Vorliegen einer Gesetzeslücke.8 Eine solche ist gegeben, wenn es um die Ausfüllung von planwidrigen Unvollständigkeiten im Gesetz (Gesetzeslücken) geht,9 wobei das Gesetz über die beschriebene Wortlautgrenze hinaus, aber noch im Rahmen der Teleologie des Gesetzes, fortgebildet wird. Es lässt sich also sagen, dass das Gesetz eine Regel nicht 2 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 187; s. auch Bydlinski  / ​ Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005 S. 55. 3 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 187; so etwa auch Honsell, in: Habermann / Honsell / Kannowski, Staudinger, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1–14 Verschollenheitsgesetz, 2013 Einl. zum BGB Rn. 127; Bydlinski / Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005 S. 55; zu Recht kritisch zur Grenze etwa Baldus, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2014 § 3 Rn. 6; gänzlich a. A. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011 S. 63 ff., 114 und Wank, ZGR 1988, 314, 316 ff. 4 Vgl. zu dieser Einteilung auch Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007 S. 58. 5 „Secundum legem“ meint die Rechtsfindung „nach“ bzw. „infolge“ des Gesetzes, vgl. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 87, der aber an dieser Stelle versehentlich von „praeter legem“ spricht. 6 Der Begriff „intra legem“ meint nach Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 87 das Ausfüllen sog. Delegationslücken, d. h. von Generalklauseln und besonders unbestimmten Rechtsbegriffen, vgl. dazu und Gusy, DÖV 1992, 461, 463; ob man die Rechtsfindung bei Delegationslücken noch als Auslegung sehen kann, ist umstritten (s. z. B. Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 633). 7 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 187 ff., zusammenfassend S. 252; Andere unterscheiden dagegen nur zwischen der Rechtsfortbildung praeter legem und contra legem: Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 58 f.; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 361. 8 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 187 und 191 ff.; zur Fortbildung außerhalb des Lückenbereichs mit Beispielen Grüneberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. 2018 Einl. Rn. 57. 9 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 191 ff., 194; s. auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983, 39.

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enthält, die nach der Teleologie zu erwarten gewesen wäre.10 Bei der Rechtfortbildung extra legem (3) wird das lückenhafte Gesetz außerhalb der gesetzlichen Regelung fortgebildet, aber noch „intra ius“, also innerhalb der Gesamtrechtsordnung und der sie tragenden Rechtsprinzipien.11 Die Gründe, die für eine solche Form der Fortbildung sprechen und sie auch legitimieren, sind nach sehr umstrittener Ansicht von Larenz die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, die Rücksicht auf die „Natur der Sache“ bzw. rechtsethische Prinzipien.12 Sie können heute nicht mehr als herrschend bezeichnet werden.13 Diese Kriterien führen zu einer unzulässigen rechtspolitischen Öffnung der Rechtsfortbildung.14 Eine gegen das Gesetz stehende Rechtsfortbildung wird nur im Ausnahmefall eines Rechtsnotstands durch Versagen des Gesetzgebers für denkbar erachtet.15 Auch Rüthers unterscheidet – wie bereits dargestellt -zwischen der Auslegung und der Rechtsfortbildung (als Synonym für Richterrecht16) und vertritt zusammenfassend ein Drei-Bereiche-Modell, dessen Binnengrenzen freilich als fließend bezeichnet werden.17 Auf der ersten Ebene hat der Richter i. S. v. Heck bestehende Gesetze im „denkenden Gehorsam“ auszulegen und auf die konkreten Fälle anzuwenden. Auf der zweiten Ebene steht die Lückenfeststellung (mit Begründung) und Lücke ausfüllung derselben mittels rationalen, nachprüfbaren Argumenten. Werden vom Richter für die Lückenausfüllung Anhaltspunkte im positiven Recht gefunden, geht es um Rechtsfortbildung, anderenfalls handelt es sich um eine Rechtsneubildung, die Rüthers mit den Worten Rechtsfortbildung „praeter legem“ kennzeichnet.18 Diese entspricht der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung bei Larenz und Canaris.19 Auf der 10

Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965 S. 2. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 187 und 232 ff., wobei das dort u. a. angeführte Beispiel der Sicherungsübereignung nach den Autoren eigentlich einen Fall der Rechtsfortbildung contra legem darstellt. Dagegen aber Oechsler, in: Säcker / R ix­ ecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 7, 7. Aufl. 2017 Anhang zu §§ 929–936 Rn. 3 („Sicherungseigentum entspricht vielmehr von vornherein dem System des BGB“) sowie insb. Fn. 15 und 16 m. w. N.; vgl. auch Ganter, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2011, § 95 Rn. 13. 12 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 413 ff. 13 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 83 f. 14 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 83; ausführlich Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 913 ff. 15 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 251 f.; s. auch Köh­ ler / L ange, BGB, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2018, § 4 Rn. 25. 16 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796, 828, wo der Begriff der Rechtsfortbildung anstelle dem des Richterrechts verwendet wird. Für eine synonyme Verwendung spricht (1), dass im selben Abschnitt (Rn. 828) von „Rechtsfortbildung praeter legem“ und „Richterrecht contra legem“ die Rede ist, obwohl ein sachlicher Grund für den Begriffswechsel nicht ersichtlich ist und (2) der Verweis im Stichwortverzeichnis unter dem Punkt „Rechtsfortbildung“ (S. 594) auf den Punkt des „Richterrechts“; so auch Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 44. 17 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 829. 18 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 828, so auch Wienbracke, Juristische Methodenlehre, 1. Aufl. 2013 S. 98 Fn. 58. 19 so auch Wienbracke, Juristische Methodenlehre, 1. Aufl. 2013, 98 Fn. 58. 11

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dritten Ebene steht das (unzulässige) Richterrecht contra legem. Heute dürfte damit in der Gesamtbetrachtung nur eine Rechtsfortbildung als allgemein akzeptiert bezeichnet werden, die sich innerhalb des geschriebenen Rechts hält (intra legem bzw. „intra ius“). Desweitern setzt eine Rechtsfortbildung immer eine Lücke im Gesetz voraus (Lückenfeststellung).20 Diese liegt vor, wenn eine planwidrige Unvollständigkeit der Gesetzesordnung, gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung, vorliegt.21 Diese ist sodann – je nach Fallkonstellation – mittels eines Analogie- 22 oder Umkehrschlusses (argumentum e contrario)23 bzw. einer teleologische Reduktion oder Extension24 aufzulösen (Lückenschließung).25 Bei der Analyse einer Entscheidung kommt es also darauf an, dass sich die Richter in diesem Feld – vor allem schon der Sprache nach – bewegt haben (äußere Beachtung der herrschenden Fortbildungstheorie). Eine Entscheidung in der auf übergeordnete Rechtsprinzipien abgestellt wird, aus denen dann eine konkrete richterliche Fortbildung abgeleitet wird, ist mit Skepsis zu betrachten. Ähnliches gilt für Entscheidungen, die sich einer anderen Terminologie bedienen, etwa eine Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnen. Des Weiteren müssen Argumente für eine Rechtsfortbildung gegeben werden, wobei noch nicht relevant ist, ob diese auch die Entscheidungen tragen können (innere Beachtung der Fortbildungstheorie [s. u.]). Positiv zu bewerten ist, wenn ein Gericht mit den Begrifflichkeiten (Lückenfeststellung, Lückenschließung, Analogie etc.) ausdrücklich arbeitet. Das dient nicht zuletzt der Rechtssicherheit.

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Ausführlich Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983 S. 1 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 82 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 52 ff.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 633 ff.; kritisch Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 253 f. 21 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 832. Der Lückenbegriff ist nach teilweise vertretener Meinung aber insofern zu eng, weil das Gesetz auch geplante Lücken kennt, von denen die Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, sowie das „beredte Schweigen“ zu nennen sind (s. dort Rn. 935; a. A.: Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 633); s. auch Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995 S. 191 ff., 194. 22 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018 Rn. 889 ff., s. bei Rn. 897 auch zum Spezialfall der Analogie, dem „Erst-recht“-Schluss (a maiore ad minus / a minore ad maius). Außerdem trennt man üblicherweise noch die Gesetzes- oder Einzelanalogie bzw. Rechtsoder Gesamtanalogie, vgl. Köhler / L ange, BGB, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2018, § 4 Rn. 23. S. auch Bydlinski / Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005, 63 ff. 23 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 836. 24 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 836; zur Reduktion Bydlinski / Byd­ linski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1. Aufl. 2005, 69 f. 25 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 85 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, 55 ff.; Köhler / L ange, BGB, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2018 § 4 Rn. 22 ff.; Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 634.

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III. Weiterdenken des gesetzgeberischen Willens Ein wichtiger Punkt ist, dass mit der wohl mittlerweile herrschenden Meinung der Gesetzgeberwillen zur Geltung gebracht werden muss, denn wie oben beschrieben, ist auch diese Anforderung eine wichtige Funktion einer Rechtsfortbildung. Letztlich kann so im Idealfall die Rechtsicherheit gestärkt werden, weil es sich nicht um einen völlig autonomen Akt der Rechtskreation handelt. Gleichzeitig ist damit auch eine wesentliche verfassungsrechtliche Grenze angesprochen. Diese wird im nächsten Abschnitt mit weiteren Anforderungen dargestellt. IV. Eintritt eines Entlastungs- und Stabilisierungseffekts Für den Gesetzgeber und die Gerichte sowie juristischen Berater soll sich im Anschluss ein Entlastungs- und Stabilisierungseffekt einstellen, weil eine strittige Frage (jedenfalls zunächst) beantwortet wurde. Diese hat freilich einige Voraussetzungen, die im Folgenden noch besprochen werden. Allgemein setzt eine Fortbildung voraus, dass sie so klar und deutlich formuliert ist, dass über ihre Auslegung möglichst kein Zweifel bestehen kann. V. Gerechtigkeitsgedanke Wir erwarten weiter, dass einer Fortbildung ein Gerechtigkeitsgedanke innewohnt. Dieses Wort wird wiederum so verstanden werden, dass die Rechtsfortbildung  – von krassen Fällen abgesehen  – eine gesetzgeberische Entscheidung folgerichtig in Bezug auf den zu behebenden Missstand weiterentwickelt. Denn bei einer solchen Rechtsfortbildung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr ein Gerechtigkeitsgedanke innewohnt.

B. Ausbleiben der Nachteile einer Fortbildung Die Anerkennung des Richterrechts und seine zu erfüllenden Funktionen sind nicht nur von Vorteil. Der Nutzen einer Rechtsordnung, die sowohl das Gesetzesrecht als auch ein nicht bindendes, aber faktisch wirkendes Richterrecht akzeptiert, stehen gewichtige Nachteile gegenüber.26 Es lassen sich bei der Schaffung von richterlichen Regelungen neben verfassungsrechtlichen Bedenken, Normierungsund Rechtssicherheitsdefizite unterscheiden. Bei der Auswertung dieser Probleme wird deutlich werden, dass der Richter die Aufgabe als Rechtsfortbildungsinstanz 26

Ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 154 ff., der diese Schwäche in seiner Dissertationsschrift maßgeblich herausgearbeitet hat. Sie wird im Folgenden zusammengefasst und ergänzt.

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zwar grundsätzlich erfüllen kann, insbesondere bei Einhaltung der vorhandenen Maßstäbe, jedoch den Gerichten in komplizierteren oder umfassenderen („quasilegislatorischen“) Bereichen das notwendige Rüstzeug bereits im Grundsatz fehlt (strukturelle Unterlegenheit gegenüber dem Gesetzgeber).27 Zudem besteht eine gewisse Manipulationsanfälligkeit des Richterrechts, die verfassungsrechtlich bedenklich ist. Aus diesen Aspekten ergibt sich ein erweitertes Bild darüber, warum eine Rechtsfortbildung in bestimmten Bereichen Schwächen aufweist, die es für eine gelungene Fortbildung möglichst zu kompensieren gilt. I. Schwächen im Normierungsstadium (Entwicklung des Richterrechts) Zunächst wird es um die Schwächen beim Entwurf einer richterlichen Regelung gehen. 1. Verfassungsrechtliche Bedenken a) Die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Fortbildung Das BVerfG erkennt seit langem die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung an.28 Der Richter ist der ständigen Rechtsprechung nach nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden, weil es eine lückenlos positiv normierte Rechtsordnung nicht geben kann. Die Arbeit des Richters besteht daher nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Sie erfordert mitunter auch, dass Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent sind, aber in den Texten des geschriebenen Gesetzes nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck kommen, in einem Akt des bewertenden Erkennens ans Licht gebracht und in den Entscheidungen realisiert werden.29 Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Fortbildung des Rechts nennt das BVerfG indes nicht. Es stellt jedoch fest, dass es quasi rechtshistorisch zu den anerkannten Aufgaben der dritten Gewalt gehört,30 und dass diese auch unter der Geltung des Grundgesetzes nie bestritten worden ist.31 Als denkbarer dogmatischer Anknüpfungspunkt dieser 27

Ebenso Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012 S. 311. 28 S. ausführlich BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286 ff. Kritisch Hillgruber, JZ 1996, 118, 121 f. 29 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286 ff. 30 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210. 31 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287; BVerfG, Beschluss v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 520: „Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts

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Argumentation wird in der Literatur Art. 92 GG gesehen: Durch die Übertragung der rechtsprechenden Gewalt durch den Verfassungsgeber auf die dort genannten Gerichte wurde diese in der Geschichte begründete Macht mit übertragen.32 Neben dieser historischen Begründung findet sich in der Literatur auch eine andere Interpretation. So habe das BVerfG in der Soraya-Entscheidung33 als Ermächtigung aus der in Art. 20 Abs. 3 GG verwendeten Formel „Gesetz und Recht“ eine solche Befugnis der Fachgerichte abgeleitet, denn damit sei „die traditionelle Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt gelockert worden. Aufgabe der Rechtsprechung unter dem Grundgesetz sei danach nicht mehr nur Gesetzesanwendung, sondern Rechtsfindung“.34 Andere sehen in Entscheidungen des BVerfG den Versuch, die Legitimität von Rechtsfortbildungen auf die Grundrechte selbst zu stützen.35 Wiederum andere meinen ohne nähere Begründung, dass die Zulässigkeit allgemein aus Art. 20 Abs. 3 GG herrührt.36 Unabhängig von diesem Herleitungsproblem bleibt zu konstatieren, dass das BVerfG jedenfalls bei der Suche nach einem rechtlichen Anknüpfungspunkt vage bleibt,37 jenseits dogmatischer Feinheiten letztlich die Zulässigkeit ausdrücklich anerkennt. Mitunter erkennt das BVerfG sogar eine Pflicht zur Fortbildung an.38 In der Literatur werden eigene Versuche unternommen, die Fortbildung am Verfassungsrecht festzumachen. So wird etwa vertreten, dass Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG eine Ermächtigung darstellen, weil in einem

des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Das gilt insbesondere bei zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung. Das hat das BVerfG gerade mit Blick auf das BGB ausgesprochen“; s. dazu auch Hillgruber, JZ 1996, 118, 118. 32 Hillgruber, JZ 1996, 118, 118 f. mit Kritik. 33 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286 ff.: „Die traditionelle Bindung des Richters an das Ges., ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im GG jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtspr. an ‚Ges. und Recht‘ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Ges. und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Ges. identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Ges. gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es finden und in Entscheidungen zu verwirklichen ist Aufgabe der Rechtspr. Der Richter ist nach dem GG nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden.“ 34 Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 65 mit anschließender Kritik; Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 35 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 366. 36 Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2408. 37 Dennoch interessant sind insb. die historischen Überlegungen, weil man überlegen könnte, die Erlaubnis zur Rechtsfortbildung auf Verfassungsgewohnheitsrecht zu stützen. 38 BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723, 1724.

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gewaltenteiligen Staat Gesetzgeber und Gerichte gemeinsam zur Verwirklichung einer gerechten Rechtsordnung zusammenwirken müssen.39 b) Missachtung von Verfassungsprinzipien in Verbund mit geringen Kontrollmöglichkeiten Richterrecht birgt zunächst in verfassungsrechtlicher Hinsicht einige Gefahren: Primär sticht die Gefahr der Missachtung von Verfassungsprinzipien wie dem Gewaltenteilungsgrundsatz und dem Demokratie- bzw. Rechtstaatsprinzips40 und dem Grundsatz der Gesetzbindung hervor.41 Im Gegensatz zu einer früheren Auffassung, die die Legitimität einer Rechtsfortbildung nur danach beurteilte, ob die entworfene richterrechtliche Regelung vom Regelungsplan des Gesetzes42 geboten war, ist man sich heute einig, dass die genannten Prinzipien durchaus bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Fortbildung berücksichtigt werden müssen.43 Denn wo der Richter eigene Regelungen entwickelt und sie nur an das Gesetz anlehnt, kann es zu einer Missachtung dieser Prinzipien kommen. Unabhängig von dieser Frage sollte man ebenso beim Thema der verfassungsrechtlichen Problematik im Blick haben, dass nach einigen Stimmen die Gefahr der Missachtung dieser Prinzipien durch die geringe Kontrolle der Gesetzestreue des Richters verschärft wird.44 Der Richter kann effektiv nur über die – wenn noch im Verfahrensgang vorhanden – Obergerichte bzw. obersten Bundesgerichten sowie über das BVerfG überwacht 39

Wank, ZGR 1988, 314, 331; ähnlich E. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013, § 100 Rn. 55; Jachmann, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 95 GG Rn. 13 leitet die Verfassungsmäßigkeit unmittelbar aus der Ermächtigung des Richters ab, Recht zu sprechen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 92 Halbs. 1 GG), nennt aber dann als Befugnisnorm Art. 20 Abs. 3 GG; Altmeppen, NJW 2004, 1563e. 40 Hillgruber, JZ 1996, 118, 122; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 207 ff.; Wank, ZGR 1988, 314; grundlegend BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304, 318; treffend verweist Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 92 Rn. 9 in diesem Zusammenhang auf Montesquieu, nach dem es „keine Freiheit [gibt], wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben. Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft … diese drei Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder Streitsachen der einzelnen zu richten.“ 41 S. sogleich. 42 Ob es sich dabei um den „Plan des Gesetzes“ oder den des (historischen) Gesetzgebers handelt, sei hier dahingestellt. 43 Ausführlich dazu Wank, ZGR 1988, 314, 319 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 84 sowie Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 82 ff. 44 Im Einzelnen Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grund­ gesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 51 ff.

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werden, wobei sich hier nachteilig auswirkt, dass eine Einleitung des Verfahrens nur über die Beteiligten möglich ist.45 Zwar ist auch ein Eingreifen des Gesetzgebers durch eine Derogation möglich. Aber einem rückwirkenden Eingriff sind die Grenzen des aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Vertrauensschutzes gezogen und in anhängige oder abgeschlossene gerichtliche Verfahren kann nicht mehr eingegriffen werden.46 Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung dieser möglichen verfassungsrechtlichen Schwäche ausschließlich auf das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zur Fortbildung.47 Bei der Auswertung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung wird sichtbar werden, dass (1) das BVerfG den Fachgerichten eine relativ große Freiheit bei der Rechtsfortbildung einräumt, deswegen aber auch bestrebt ist, (2) eine (Rest-) Bindung an Gesetz und Recht zu bewahren. Es will daher erreichen, dass (3) der Wille des Gesetzgebers konsequenter als früher beachtet wird. Weiter verlangt das Gericht dafür (4) eine ausreichende, tragfähige und letztlich nachvollziehbare Begründung für die Fortbildung in der fachgerichtlichen Entscheidung. Gleichzeitig ist es durch eine eingeschränkte Überprüfung bestrebt, sich (5) selbst vor Überlastungssituationen zu schützen, sodass nicht gegen jede fehlerhafte Fortbildung erfolgreich vorgegangen werden kann. Der so entworfene Schutz wird z. T. in der Literatur als zu schwach angesehen, andere sehen ihn dagegen als gelungen an.48 Wiederum andere bemängeln, dass es an einer einheitlichen Linie fehlt.49 Nicht vergessen werden sollte bei aller denkbaren Kritik an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, dass gemäß seiner Funktion und mit der ganz herrschenden Meinung50 keine vollumfängliche Richtigkeitskontrolle

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Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 53. 46 Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 52. 47 Die Bedeutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für das Thema der Rechtsfortbildung ist hoch und das Gericht hat in der jüngeren Vergangenheit Entscheidungen zu dem Thema getroffen, die einer näheren Betrachtung bedürfen. Auch muss man bedenken, dass sich die Fachgerichte bei der Entwicklung weniger nach den im Schrifttum vertretenen verfassungsrechtlichen Ansichten richten, sondern sich auf das BVerfG konzentrieren. 48 Zustimmend Rüthers, NJW 2011, 1856, 1856 ff. und Ulber, EuGRZ 2012, 365 (dort auch in Fn. 5 ff. mit ablehnenden Stimme); kritischer Rieble, NJW 2011, 819 ff.; Durner, JA 2008, 7 ff. sowie Hillgruber, JZ 1996, 118, 118 ff. Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.); Seidl, ZGR 1988, 296, 311 sieht den verfassungsrechtlichen Schutz als niedrig an. 49 So Sachs, JUS 2015, 859 in seiner Entscheidungsanmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377. 50 Stellvertretend sei nur auf folgende Beiträge verwiesen: Bethge, in: Maunz / SchmidtBleibtreu / K lein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018 (Stand:  54. Erg.-Lf.) § 90 Rn. 293; Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, 283; Di Fabio, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 2 Rn. 67; Lang, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 2 Rn. 14.

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einer Fortbildung stattfinden soll.51 Zudem steht auch das BVerfG (wie die Fachgerichte) im Spannungsfeld zwischen Einzelfallentscheidung und einer faktischen und z. T. rechtlichen Leitwirkung für die Rechtsordnung. aa) Allgemeine Gesichtspunkte (1) Beschränkter Prüfungsumfang auf Verletzung spezifischen Verfassungsrechts Dem BVerfG steht nach der Konzeption des Grundgesetzes gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, § 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG auf Antrag des Bürgers die Kompetenz zu, Akte der öffentlichen Gewalt zu kontrollieren. Dazu gehören auch die Entscheidungen der Gerichte (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde).52 Der Überprüfungsumfang ist dabei aufgrund der grundgesetzlich vorgesehenen Aufgabenteilung zwischen den Gerichten53 und aus Praktikabilitätsgründen zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor Überlastung beschränkt. Er umfasst dabei nach langer Tradition nur die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte, wobei eine Verletzung nicht schon dann vorliegt, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist, sondern der Fehler muss in der Nichtbeachtung von Verfassungsrecht liegen.54 Das BVerfG hat diesen noch sehr abstrakten Maßstab mit der Zeit konkretisiert.55 Es überprüft nur, ob das Gericht die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten hat, ob es bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts einen Fehler begangen hat, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte beruht oder es schlicht willkürlich gehandelt hat.56 Für den Teilaspekt der richterlichen Rechtsfortbildung kam es zu der Einsicht, dass ein Beschwerdeführer in seinen jeweiligen Grundrechten verletzt ist, wenn der Grundsatz der Bindung an Recht und Gesetz bzw. der Gewaltenteilungsgrundsatz durch die fachgerichtliche Entscheidung missachtet wurde. Denn die im Prozess unterlegene Partei, die einer sie belastenden Rechtsfortbildung zum Opfer fällt, ist in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt, soweit es bei der Rechtsfortbildung zu einer

51 BVerfG, Beschluss v. 28.7.2010 – 1 BvR 2133/08, NVwZ 2011, 159, 160; BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723; ausführlich dazu Ulber, EuGRZ 2012, 365, 375 ff. Diese Frage soll hier aufgrund des Umfangs ausgespart werden. 52 Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, 4; Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 93 Rn. 59. 53 Löwer, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 70 Rn. 204. 54 BVerfG, Beschluss v. 10.6.1964 – 1 BvR 37/63, NJW 1964, 1715, 1716. 55 S. dazu ausführlich Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, 292 ff. 56 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 505; s. auch Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungs­ gericht, 10. Aufl. 2015, 288 ff.

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Verletzung von rechtstaatlichen Prinzipien gekommen ist.57 Eine Verletzung stützt es damit zumindest in neueren Entscheidungen auf Art. 20 Abs. 2 u. 3 GG58 i. V. m. dem einschlägigen Grundrecht, jedenfalls aber Art. 2 Abs. 1 GG.59 Manchmal wird statt Art. 20 Abs. 2 u. 3 GG auch nur auf Art. 20 Abs. 3 GG („Rechtsstaatsprinzip“)60 oder konkreter auf Art. 20 Abs. 2 S. 2 u. Abs. 3 GG61 abgestellt. Dass damit in der Sache eine Differenzierung einhergeht, ist nicht ersichtlich. Die allgemeine Handlungsfreiheit bietet dabei nur den rechtlichen Ausgangspunkt, um bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde auf Art. 20 Abs. 2 u. 3 GG eingehen zu können, denn bei diesen handelt es sich eben nicht um Grundrechte, sondern um objektives Verfassungsrecht.62 (2) Vertretbarkeits- und Willkürprüfung statt vollumfänglicher Richtigkeitskontrolle Generell lässt sich für die Kontrolle einer richterlichen Rechtsfortbildung an mehrere Prüfungsmaßstäbe denken: Zum einen könnte man erwägen, dass das BVerfG eine richterlichen Rechtsfortbildung einer vollumfänglichen Kontrolle unterziehen muss. Eine solche Überprüfung der Richtigkeit wäre mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsfortbildung in der Gestalt verbunden, dass die Argumente, die für oder gegen eine Fortbildung durch das Fachgericht 57

Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 504 ff. Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 505; s. etwa BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009  – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 257. 59 Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018 (Stand: 54. Erg.-Lf.), Vor. 199a; s. zuletzt etwa BVerfG, Beschluss v. 25.1.2011  – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206 u. 223 bzw. BVerfG, Beschluss v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377, 386.; letztlich ein konsequentes Weiterdenken des Elfes-Urteils: BVerfG, Urteil v. 16.1.1957 – 1 BvR 253 56, BVerfGE 6, 32, 41: „Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.“ Noch genauer BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206 f.: „Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet jedem allgemeine Handlungsfreiheit, soweit er nicht Rechte anderer verletzt und nicht gegen das Sittengesetz oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt; zu dieser gehört jede Rechtsnorm, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht. Stützt sich ein die Handlungsfreiheit berührender Akt der öffentlichen Gewalt auf eine Rechtsnorm, so kann mit der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG zur Nachprüfung gestellt werden, ob diese Norm zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört. Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG wird damit zum Maßstab für die Bestimmungen des Unterhaltsrechts, da die Gewährung von Unterhalt dem Unterhaltsberechtigten wirtschaftliche Handlungsfreiheit eröffnet und umgekehrt die Auferlegung einer Unterhaltspflicht in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte, wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Unterhaltspflichtigen eingreift.“ 60 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206. 61 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 257. 62 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 505. 58

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angeführt wurden, selbständig überprüft und bewertet werden. Hierin würde ein Verstoß gegen den Grundsatz liegen, dass das BVerfG kein oberstes Fachgericht ist, das als Superrevisionsinstanz die Rechtsfrage letztverbindlich entscheidet.63 Das BVerfG hat daher einen anderen Weg beschritten: Es kontrolliert, ob sich die rechtsfortbildende Entscheidung anhand der vorgetragenen Argumente als gerechtfertigt darstellt, sich mithin also in einem verfassungsrechtlich noch vertretbaren Rahmen bewegt.64 Dementsprechend kontrolliert es nicht, ob und in welchem Umfang Regelungslücken bestehen oder gewandelte Verhältnisse weiterführende rechtliche Antworten erfordern.65 Auch nicht geprüft wird, ob es eine bessere Möglichkeit zur Lückenschließung gegeben hätte.66 Diese Frage obliegt den Fachgerichten. Das BVerfG darf deren Würdigung grundsätzlich nicht durch seine eigene ersetzen, wohl aber auf ihre Vertretbarkeit überprüfen. Diese Einschränkung ist von erheblicher Bedeutung, denn sie bewirkt, dass die Fachgerichte eine erhöhte Freiheit bei der Rechtsfortbildung genießen. Neben dieser Vertretbarkeitskontrolle unternimmt das BVerfG in früheren Entscheidungen auch gelegentlich eine sog. Willkür­kontrolle anhand von Art. 3 Abs. 1 GG.67 Willkürlich sei ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich durch Betrachtung objektiver Kriterien der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht.68 Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein mache eine Gerichtsentscheidung noch nicht willkürlich. Willkür liege erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wurde. Von willkürlicher Missdeutung kann nach dem BVerfG jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Fachgericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehre.69 Bei der Willkürprüfung geht es also anders als bei Art. 20 Abs. 2 u. 3 i. V. m. den Grundrechten (z. B. Art. 2 Abs. 1 GG) des Betroffenen um eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Beide Wege werden vom BVerfG anerkannt und gelegentlich auch von den Betroffenen gerügt.70 In der Literatur wurden sie schon früher vorgeschlagen.71 Zuletzt hat nur die Kontrolle 63

Ulber, EuGRZ 2012, 365, 336. Vgl. zur Kontrolldichte Ulber, EuGRZ 2012, 365, 338; s. auch Wank, ZGR 1988, 314 S. 336 m. w. N.; s. auch Lerche, NJW 1987, 2465, 2469. 65 Ausdrücklich BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 128. 66 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 375. 67 So BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287; s. dazu auch Hesselberger, in: Goerdeler / Hommelhoff / Lutter / Odersky / Wiedemann, Festschrift für Alfred Kellermann zum 70. Geburtstag am 29. November 1990, 2015. Aufl. 1991, 158. 68 BVerfG, Beschluss v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, NZG 2014, 39, 40. 69 BVerfG, Beschluss v. 03.11.1992 – 1 BvR 1243/88, BVerfGE 87, 273. 70 BVerfG, Beschluss v. 17.9.2013  – 1 BvR 1928/12: „Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. […]. Der Beschwerdeführer rügt auch eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt eines Willkürverstoßes.“ 71 Seidl, ZGR 1988, 296, 308: „Gerichtliche Entscheidungen, die das Recht gesetzesüberschreitend fortbilden, können – abgesehen von den allgemeinen Prüfungsmaßstäben, insbe 64

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anhand der Freiheitsrechte des Betroffenen i. V. m. Art. 20 Abs. 2 u. 3 GG eine große Rolle gespielt. (3) Ablehnungen des Vorbehalts des Gesetzes als Grenze der Rechtsfortbildung im Zivilrecht Für die Grenzziehung einer zulässigen Rechtsfortbildung sind verschiedene Wege denkbar. Einer von ihnen besteht in der besonderen Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes.72 Dieser wird aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet und besagt, dass die Gerichte grundsätzlich nur auf Grund einer gesetzgeberischen Grundlage handeln dürfen.73 Eine solche fehlt bei einer richterlichen Rechtsfortbildung in einem Lückenbereich. Die gegnerische Partei, die dadurch im Zivilrecht einen Nachteil erleidet, müsste zumindest einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dulden.74 Die Wesentlichkeitstheorie geht noch weiter und besagt, dass anhand der Wesentlichkeit beurteilt werden muss, ob ein parlamentarisches Gesetz erforderlich ist und wie die Regelungsdichte des Gesetzes ausgestaltet sein soll.75 Für die Wesentlichkeit einer Angelegenheit spricht vor allem der Grundrechtsbezug.76 Da es sich bei der Rechtsprechung um eine der Staatsgewalten handelt, erscheint es auf den ersten Blick klar, dass auch sie – wie etwa die Verwaltung – an diesen Grundsatz gebunden ist.77 Das BVerfG folgt diesem Weg im Zivilrecht nicht, weil es berücksichtigen möchte, dass sich bei der zu treffenden Entscheidung des Gerichts Bürger gegenüberstehen.78 In einer Arbeitskampfentscheidung stellte es hierzu fest: „Die vom BVerfG entwickelte Lehre, daß der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß, gilt für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Bei Eingriffen in die grundrechtliche Freiheitssphäre unterliegt der Staat dem Vorbehalt des Gesetzes. Er darf in weiten Bereichen nur tätig werden, wenn er durch ein vom Parlament erlassenes Gesetz dazu ermächtigt ist. Die Tragweite dieses Grundsatzes wird durch die Rechtsprechung zur Wesentlichkeitstheorie näher bestimmt. Im vorliegenden Fall geht es jedoch um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger. Zwar hat das BVerfG mehrfach geäußert, es sei „Sache des Gesetzgebers“, die sondere demjenigen des Willkürverbots – auch daraufhin nachgeprüft werden, ob das Gericht die Bedeutung und die Tragweite des Grundsatzes der Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG verkannt hat.“ 72 Überblick bei Bumke, BDVR Rundschreiben 2004, 76, 80 f. 73 Vgl. Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 IV Rn. 75. 74 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 367. 75 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 IV Rn. 106. 76 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 IV Rn. 107. 77 Bumke, BDVR Rundschreiben 2004, 76, 80. 78 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 367 m. w. N.

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Koalitionsfreiheit näher auszugestalten. Folgerungen für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Koalitionen ergeben sich daraus aber nicht.“ 79 Man ist sich in letzter Konsequenz nicht einig, ob die Entscheidung den kodifikationstechnischen Besonderheiten des Arbeitsrechts geschuldet ist und der Vorbehalt des Gesetzes auch in seiner üblichen Form für den Zivilrichter gelten soll.80 In jeden Fall hat der Weg des BVerfG einige Kritik erfahren.81 Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass über den Umfang der Geltung des Vorbehalts des Gesetzes im Zivilrecht in der Literatur keine Einigkeit besteht. (4) Die Gesetzesbindung als Prüfungsmaßstab Die innere Rechtfertigung für die Legitimität einer Rechtsfortbildung liegt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts darin, dass im Grunde die Gesetzesbindung eingehalten wird, obwohl sich bei der Analogie der Anwendungsbereich einer Norm auf einen Fall erstreckt, der von ihrem Wortlaut nicht erfasst wird. Sie stellt nach Ansicht der Richter keine unzulässige richterliche Eigenmacht dar, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseitegeschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt wird.82 Sie wird aus den Wertungen des Gesetzes entnommen. Insofern kann die Gesetzesbindung auch als Wertebindung verstanden werden. So lässt sich nach dem BVerfG eine Entscheidung treffen, ob eine Lücke besteht und in welcher Weise sie geschlossen werden soll. Aus diesem Grund ist die Entscheidung legitim.83 Verlässt eine richterliche Entscheidung im Umkehrschluss die Gesetzesbindung und bewegt sie sich im Rahmen richterlicher Eigenmacht, liegt ein Verfassungsverstoß vor. Entscheidend ist dabei, dass diese Faktoren als Grenze der Rechtsfortbildung zunächst einmal ermittelt werden müssen. Der Stellenwert einer methodenehrlichen und vor allem umfassenden Auslegung für die Rechtsfortbildung wird dabei besonders deutlich. Einen im Ergebnis vergleichbaren Maßstab mittels anderer Herleitung kons­ truiert das Bundesverfassungsgericht, wenn es als Grenze der Rechtsfortbildung auch den Vertrauensschutz anerkennt. Es stellt fest, dass als verfassungsrechtliche Schranke gegen richterliche Eigenmacht der aus dem Gesetzesvorrang aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitete Vertrauensschutz fungiere. Er gewährleiste als Element des Rechtsstaatsprinzips zugleich das Maß an Rechtssicherheit, das im Interesse der Freiheitsrechte unerlässlich sei. Der Bürger muss sein Verhalten auf den Inhalt der Rechtsordnung einstellen und dementsprechend disponieren können. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht 79

BVerfG, Beschluss v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 226. Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 509. 81 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 509; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123; kritisch Ulber, EuGRZ 2012, 365, 367; a. A. Bumke, BDVR Rundschreiben 2004, 76, 80 f. 82 BVerfG, Urteil v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, 12 f. 83 BVerfG, Urteil v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, 13. 80

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aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar wäre.84 Auch hier geht es letztlich um die Beachtung des gesetzgeberischen Willens. (5) Kompetenzabgrenzung zu den Fachgerichten Das BVerfG betont, dass sich bei der Rechtsfortbildung in verstärktem Maße das Problem des Umfangs richterlicher Gesetzesbindung stelle, wenn die verfassungsgerichtliche Kontrolle analoger Rechtsanwendung beschränkt ist.85 Die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode ist nach einer oftmals verwendeten Formulierung des Bundesverfassungsgerichts Sache der Fachgerichte und daher nicht umfassend auf ihre Richtigkeit zu untersuchen.86 Das BVerfG will daher seine Kontrolle auf die Prüfung beschränken, ob das Fachgericht bei der Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiere und von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht habe.87 Hierin erblickt das Gericht letztlich den Ausgangspunkt seiner Kontrolle. bb) Verfassungsrechtliche Grenzziehung durch das Bundesverfassungsgericht Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung spielen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts eine wichtige Rolle.88 In der Literatur wird z. T. festgestellt, dass dabei das BVerfG bisher eine genaue Positionierung über die Grenzen der Fortbildung durch die Gerichte vermeidet,89 weil aufgrund der vielen denkbaren Fallgestaltungen eine abstrakte Formulierung schwierig ist,90 und man

84

BVerfG, Urteil v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6. BVerfG, Urteil v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, 13. 86 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 257 f. 87 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 258; s. zuletzt auch BVerfG, Beschluss v. 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, BeckRS 2016, 48580 Rn. 35. 88 BVerfG, Urteil v. 18.12.1953  – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225; BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269; BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304; BVerfG, Beschluss v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182; BVerfG, Beschluss v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519; BVerfG, Beschluss v. 22.8.2006 – 1 BvR 1168/04, NJW 2006, 3409; BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248; BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193; BVerfG v. 11.07.2012 – 1 BvR 3142/07, 1 BvR 1569/08, BVerfGE 132, 99; BVerfG, Beschluss v. 17.9.2013 – 1 BvR 1928/12, NZG 2014, 39; BVerfG, Beschluss v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377; BVerfG, Beschluss v. 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, BeckRS 2016, 48580. 89 Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 187; Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 506. 90 Korioth / Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, 302: „Die jeweiligen verfassungsrechtlichen Grenzen des Richterrechts sind allerdings kaum exakt zu bestimmen.“ 85

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sich in letzter Konsequenz einen gewissen Spielraum bewahren will.91 Zumindest früher kam man in der Literatur daher zu der Einsicht, dass eine genauere Grenzziehung anhand der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist.92 Dieser Befund ist zumindest aktuell nicht mehr korrekt. Zwar hat das BVerfG ausdrücklich festgestellt, dass sich die Grenzen nicht in einer Formel erfassen lassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihr geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen Geltung beanspruchen könnte.93 Zumindest zuletzt gab es Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die Anlass zur Diskussion gegeben und zumindest einiges an Präzisierung gebracht haben.94 Es genügt daher – auch im Hinblick auf die bereits erfolgten ausführlichen Erläuterungen zur Rügeverkümmerung und der Dreiteilungsmethode95 – sich auf die wesentlichen Kernpunkte und aktuellen Themen zu konzentrieren. (1) Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung Will das BVerfG eine Rechtsfortbildung kontrollieren, müsste es in der Theorie zunächst klären, ob vom Gericht eine Fortbildung oder Auslegung angenommen wurde.96 Auf die Frage, wie Auslegung und Fortbildung abzugrenzen sind, ist das BVerfG in zivilrechtlichen Fragestellungen jedenfalls ausdrücklich noch nicht eingegangen, wird aber wohl die Wortlautgrenze wie aus dem Strafrecht bemühen.97 Man kann die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts auch in der Hinsicht 91

Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 506. Seidl, ZGR 1988, 296, 305; so auch Wank, ZGR 1988, 314, 330, der feststellt, dass ein durchgehendes System der Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht erkennbar ist; E. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 26 Rn. 66. 93 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 288. 94 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248; BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193; s. dazu bereits oben 56 ff.; Ulber, EuGRZ 2012, 365 ff. konstatiert, dass die Diskussion an Intensität zunimmt und letztlich das BVerfG eine „ausgewogene Lösung“ präsentiert. Gleichzeitig wird aber anerkannt, dass diese nicht neu sei, sondern lediglich „deutlicher akzentuiert“ (S. 377). 95 S. dazu oben 56 ff. 96 Man kann die Äußerungen des BVerfG aber auch in der Hinsicht deuten, dass es zumindest für eine an der Gesetzesbindung orientierten Kontrolle der Fortbildung keinen Unterschied macht, ob es sich bei der fraglichen Entscheidung um eine rechtsfortbildende Entscheidung handelt oder sie sich noch im Bereich der Auslegung bewegt. Denn die Gesetzesbindung ist zu kontrollieren. Die Wortlautgrenze würde damit im Zivilrecht an Bedeutung verlieren. 97 Jedenfalls spricht es BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 219 von einer Überschreitung der „Grenzen des Wortlauts“. S. auch BVerfG, Beschluss v. 05.11.1985 – 2 BvR 1434/83, BVerfGE 71, 122. Recht deutlich BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304: „Die auf diese Weise begründete Einschränkung der Sachverständigenhaftung geht über das übliche Maß einer bloßen Gesetzesauslegung hinaus; denn der eindeutige Wortlaut des § 823 I BGB (‚wer‘) ist als solcher nicht auslegungsfähig.“ Hier fragt sich allerdings, wie ein Wortlaut nicht auslegungsfähig sein kann, wenn er doch als „eindeutig“ identifiziert wurde. 92

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deuten, dass es zumindest aus Sicht einer an der Gesetzesbindung orientierten Kontrolle der Fortbildung keinen Unterschied macht, ob es sich bei der fraglichen Entscheidung um eine rechtsfortbildende handelt oder sie sich noch im Bereich der Auslegung bewegt. Denn die Gesetzesbindung ist zu kontrollieren.98 Die Wortlautgrenze würde damit an Bedeutung im Zivilrecht verlieren. Diese Ansicht ist jedoch zu kritisieren, denn sie lässt die steigende Begründungslast bei einer Fortbildung außer Acht. Es bedeutet daher sehr wohl einen Unterschied, ob das Fachgericht eine Fortbildung oder Auslegung angenommen hat, weil der Prüfungsmaßstab (leicht) modifiziert wird. Was die Frage nach der Konkretisierung der Wortlautgrenze angeht, so wurde in früheren und aktuellen zivilrechtlichen Entscheidungen die Ansicht vertreten, dass es einen klaren Wortlaut bei der Auslegung geben kann.99 Das BVerfG wird daher wohl auch im Zivilrecht die obigen Maßstäbe der herrschenden Meinung zur Abgrenzung (stillschweigend) heranziehen und die fachgerichtliche Entscheidung einer Vertretbarkeitsprüfung unterziehen. Der Schwerpunkt der Überprüfung liegt beim BVerfG und einem zivilrechtlichen Verfahren daher nicht auf der Frage, ob eine Fortbildung vorliegt, sondern ob die getroffene Entscheidung im konkreten Fall zulässig war.100 (2) Lückenfeststellung Wenn das BVerfG kontrollieren möchte, ob sich die Fachgerichte bei der Fortbildung innerhalb der gesetzgeberischen Wertungen bewegen und diese mittels der anerkannten Methoden ermittelt wurden, so muss es – sofern man diese beiden Aspekte trennen möchte101 – sowohl die Lückenfeststellung als auch die Lückenschließung auf die Vertretbarkeit hin untersuchen.102 Die Lückenfeststellung erfordert 98

So Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 506. BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210; kritisch Wank, ZGR 1988, 314, 327 m. w. N. aus der Vergangenheit. 100 Vereinzelt wurde in diesem Zusammenhang vertreten, dass für die Überprüfung der Auslegung ein anderer, weniger strenger Maßstab gilt als für die Rechtsfortbildung (s. dazu Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 505 mit Verweis in Fn. 15 auf Düwel, Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen, 1. Aufl. 2000). Die Abgrenzung würde dann eine andere Relevanz erlangen. Jedoch konnte sich diese Ansicht zu Recht nicht durchsetzen. Anderenfalls könnten die Fachgerichte bzw. das BVerfG den strengeren Maßstab in Grenzbereichen umgehen, indem sie das Vorliegen einer Auslegung annehmen (So zu Recht Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 505 f.), sodass die Abgrenzung eine andere Relevanz erlangen würde. 101 So etwa Wank, ZGR 1988, 314, 321 ff. und insgesamt die herrschende Meinung; z. T. a. A. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 401 f. u. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1. Aufl. 1983, 144 ff. 102 BVerfG, Beschluss v. 28.7.2010 – 1 BvR 2133/08, NVwZ 2011, 159, 160; BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723: „Auch wenn sich bei der Rechtsfortbildung in verstärktem Maße das Problem des Umfangs richterlicher Gesetzesbindung stellt, ist 99

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

dabei zunächst, dass überprüft wird, dass keine eigentlich einschlägige Norm, die den fraglichen Sachverhalt zum Regelungsgegenstand hat, übersehen wurde.103 Es muss eine planwidrigen Gesetzeslücke vorliegen.104 Die Beantwortung der Frage, ob eine Gesetzeslücke oder eine abschließende Regelung vorliegt, erfordert nach Ansicht des BVerfG eine rechtliche Wertung und setze eine Betrachtung des einfachen Gesetzesrechts voraus, zu dessen Erforschung das BVerfG nicht berufen ist.105 Es darf daher die fachgerichtliche Wertung grundsätzlich nicht durch eine eigene ersetzen. Die Kontrolle ist an dieser Stelle darauf beschränkt, ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen hat.106 Im Wesentlichen gilt, dass die Fachgerichte einsichtig machen müssen, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt.107 Es gehe dabei um Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten des geschriebenen Gesetzes nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt seien.108 Als Anlass erkennt das BVerfG insbesondere solche Fälle an, in denen Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen oder Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen werden muss.109 Das kann etwa bei gewandelten Verhältnissen der Fall sein110 oder wenn die Gesetzgebung generell hinter dem „Fluß der sozialen Entwicklung“111 zurückbleibt. In der Literatur wird die Soroya-Entdie verfassungsgerichtliche Kontrolle analoger Rechtsanwendung darauf beschränkt, ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen und geschlossen hat und ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten, widerspricht.“ 103 BVerfG, Beschluss v. 20.4.2010  – 1 BvR 1670/09, NZS 2011, 18, 19: „Die Annahme, das Sozialgerichtsgesetz weise mit Blick auf den Gerichtskostenansatz für sozialgerichtliche Vergabeverfahren eine Regelungslücke auf, beruht indes nicht auf einer vertretbaren Anwendung anerkannter Methoden der Gesetzesauslegung. Das Landessozialgericht bezieht sich bei seinen Erwägungen zwar auf verschiedene gesetzliche Bestimmungen, um die maßgebliche Frage zu beantworten, nach welchem Gebührentatbestand für sozialgerichtliche Vergabeverfahren Gerichtskosten erhoben werden können. Es übersieht dabei jedoch grundlegend, dass das Sozialgerichtsgesetz für sozialgerichtliche Verfahren, bei denen – wie in den Verfahren nach § SGG § 142a SGG § 142A Absatz I SGG – weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § SGG § 183 SGG genannten Personen gehören, für die Erhebung von Gerichtskosten eine einschlägige Regelung enthält; denn § SGG § 197a SGG § 197A Absatz I 1 SGG verweist für die betreffenden Verfahren hinsichtlich der Erhebung von Gerichtskosten auf die Vorschriften des Gerichtskostengesetzes.“; Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370. 104 BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723. 105 BVerfG, Urteil v. 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6; BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723. 106 BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723. 107 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287. 108 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287. 109 BVerfG, Beschluss v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06; BVerfGE 126, 286, 306; BVerfG, Beschluss v. 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, BeckRS 2016, 48580. 110 BVerfG, Beschluss v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519, 520. 111 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 288; weitere Beispiele bei Pieroth / Aubel (Fn. 816), 508.

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scheidung an einer Stelle auch dahingehend interpretiert, dass bei Zustimmung der überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung zu einer Fortbildung die vertretbare Annahme einer Regelungslücke indiziert ist.112 Für den umgekehrten Fall bedeute das freilich, dass die fehlende Zustimmung für eine unvertretbare Entscheidung spricht.113 Die Bestrebungen des Bundesverfassungsgerichts laufen letztlich darauf hinaus, tragfähige Begründungen von den Fachgerichten einzufordern.114 Das BVerfG will vermeiden, dass die Richter Lücken erfinden, um ein von ihnen gewünschtes Ergebnis zu erzielen. In der Literatur wird dieser Kontrollmaßstab bei der Lückenfeststellung als scharfes Kontrollinstrument bezeichnet.115 Problematisch ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht selbst einen unklaren Lückenbegriff vertritt.116 Wenn es in einer früheren Entscheidung davon spricht, dass das Fachgericht einsichtig machen muss, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt,117 so versteht es den Lückenbegriff sehr weit. Das entspricht jedenfalls nicht der herrschenden Ansicht in der Literatur.118 Entsprechend der „bloßen“ Vertretbarkeitskontrolle, lässt das BVerfG den Fachgerichten hier relativ freien Umgang.119 Die Funktion eines klaren Lückenbegriffs, Kompetenzeingriffe zu vermeiden, wird allerdings auf der nächsten Prüfungsebene anders Rechnung getragen. (3) Lückenschließung Bei der Lückenschließung stellt sich vorwiegend die Notwendigkeit einer Abgrenzung zur gesetzgebenden Gewalt.120 Hier erlangt also die Kompetenzfrage ihr besonderes Gewicht. Das BVerfG sieht hierin praktisch die Hauptaufgabe seiner Überprüfung von Rechtsfortbildungen,121 denn es möchte vermeiden, dass der Richter wie ein Gesetzgeber agiert. Dem BVerfG geht es augenscheinlich darum, dass sich die Gerichte auch bei der Rechtsfortbildung nicht gänzlich von Gesetz

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Pieroth / Aubel (Fn.  816), 508. Bedenklich jedenfalls für die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft, die zwar weit überwiegend begrüßt würde, aber letztlich „contra legem“ war, s. Canaris, ZGR 2004, 69 69 ff.; im Ergebnis ebenso kritisch und als „nicht geglückt“ sieht die Entscheidung zur Rechtsfähigkeit auch Tolani, „Teilrechtsfähigkeit“ von Personenvereinigungen, 2009, 271. 114 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370. 115 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370. 116 So muss dann auch Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370 in der Fn. 78 beim Lückenbegriff auf die Literatur verweisen. 117 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287. 118 S. dazu stellvertretend Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 822 ff. 119 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 508. 120 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 209 ff. 121 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370 ff. 113

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und Recht entkoppeln.122 Es geht damit um die Notwendigkeit der Rückführbarkeit auf einen gesetzgeberischen Willen und seinen Wertungen. (a) Die Rechtsfortbildung als Einfallstor für Kompetenzeingriffe Angesprochen ist damit das Problem, dass ein Richter der das Recht fortbildet, sich nach herkömmlicher Vorstellung nicht direkt auf eine vorhandene gesetzgeberische Rechtsnorm stützt. Dabei handelt es sich um eine richterliche Gehorsamsverweigerung gegenüber bestehenden Gesetzesvorschriften. Unabhängig davon, welcher Stufeneinteilung man bei der Rechtsfortbildung folgt,123 scheint es in diesen Bereichen der Rechtsfortbildung auf den ersten Blick, als würde der Richter je nach Stufe immer mehr Gefahr laufen, wie ein Gesetzgeber tätig zu werden, denn er entfernt sich immer mehr vom eigentlichen Regelungsort mit seinen ursprünglichen in sich abgeschlossen Regelungssystem. Wird also etwa eine Regel im Gesellschaftsrecht vermisst und wird diese mithilfe eines Prinzips aus dem allgemeinen Zivilrecht oder gar dem Grundgesetz geschlossen, so ist in dem Entwurf eine neue und eigenständige Regel zu sehen, die sich vom ursprünglichen Konzept des Gesetzgebers entfernt hat. Es steigt daher die Gefahr, dass der Richter eine starke Eigenwertung an die Stelle von gesetzgeberischen oder verfassungsrechtlichen Wertungen stellt, bis er sich auf der letzten Stufe sogar unzulässiger Weise „contra legem“ verhält,124 er mithin in Bereiche eingreift, die nach der Verfassung nur dem Gesetzgeber zustehen. Zwar gibt es nach einigen Stimmen bei der Rechtsfortbildung keine Lockerung der Gesetzesbindung, faktisch eröffnen sich dem Fachgericht aber neue Spielräume bei der Ausgestaltung der Regel. Ein weiter Gestaltungsspielraum kommt indes grundsätzlich nur dem Gesetzgeber zu, da dieser nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist.125 So verwundert es, dass der Spielraum der Rechtsprechung in der Soroya-Entscheidung von den Richtern sehr weitgehend formuliert wurde: „Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig 122

Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370. Das BVerfG verweigert sich aber bisher einer solch genauen Einteilung der Rechtsfortbildung. So bereits auch die Feststellung bei Wank, ZGR 1988, 314, 325. Darüber hinaus wird festgestellt, dass es an einer einheitlichen Terminologie für den Bereich der Rechtsfortbildung fehlt (a. a. O. S. 326). Allerdings verwendet das BVerfG die Bezeichnung Rechtsfortbildung „contra legem“ ausdrücklich, BVerfG, Beschluss v. 14.05.1985 – 1 BvR 233, 341/81, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschluss v. 22.8.2006 – 1 BvR 1168/04, NJW 2006, 3409. 124 Voßkuhle / Kaufhold, JUS 2012, 315. 125 Art. 1 Abs. 3 GG, 20 Abs. 3 GG. 123

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gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“126 Insbesondere der letzte Satz lässt erkennen, dass sich dem Richter ungeahnte Freiräume bieten, die sich bei wortgetreuer Anwendung einer rationalen Überprüfung nahezu entziehen. Indes hat das BVerfG die Gefahr für den Gewaltenteilungsgrundsatz mittlerweile erkannt. Das ist insbesondere deswegen wichtig, weil es durchaus Überschneidungen der Funktionen der beiden Staatsgewalten anerkennt,127 es mithin zu Eingriffen in den gesetzgeberischen Bereich kommen kann. (b) Die Verletzung von Gewaltenteilungsgrundsatz und Gesetzesbindung nach dem BVerfG Der Richter ist nach Art. 20 Abs. 3 GG dem Gesetz und Recht unterworfen. Diese Regelung konkretisiert nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts neben dem Demokratieprinzip den Gewaltenteilungsgrundsatz.128 Das leuchtet unmittelbar ein, denn die Gerichte sollen nach herkömmlicher Auffassung zuvorderst die Befehle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers umsetzen. Aufgrund dieser Bindung dürfen sich die Gerichte nicht zum Gesetzgeber aufschwingen.129 Denn anderenfalls würden sie sich dieser vom Grundgesetz geforderten Bindung unzulässig entziehen und letztlich beim Aufstellen einer neuen richterlichen Regel den Gewaltenteilungsgrundsatz verletzen.130 Im Ergebnis liegen sodann zwei Verletzungen vor: der Gesetzesbindung und des Gewaltenteilungsprinzips.131 Im Zusammenwirken zwischen Legislative und Judikative gebührt daher nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dem demokratischen, unmittelbar legitimierten 126

BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287. BVerfG, Beschluss v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519 f.: „Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinn strikter Trennung der Funktionen und Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist so schließt es doch jedenfalls aus, daß die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen worden sind.“; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 160 stellen auch fest, dass eine strikte Gewaltenteilung in der deutschen Verfassungsgeschichte niemals Programm war; ebenso Voß­ kuhle / Kaufhold, JUS 2012, 314; im Ergebnis enger Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 63. 128 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 282 (Sondervotum). 129 BVerfG, Beschluss v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519 f. 130 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 V Rn. 102. 131 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64, 84; Grzes­ zick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 V Rn. 102; Di Fabio in Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-​Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 2 Rn. 68. 127

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Gesetzgeber der Vorrang.132 Das Gericht erkennt zugleich an, dass eine strikte Gewaltentrennung nicht im Grundgesetz verwirklicht ist.133 Dementsprechend kann es die Fortbildung zwar grundsätzlich anerkennen, denn eine ausschließlich wortlautgetreue Anwendung der jeweiligen Vorschrift oder das Abweisen eines Anspruchs bei fehlender Existenz einer konkreten Norm ist damit z. T. obsolet. Die Rechtsfortbildung überschreitet den Gewaltenteilungsgrundsatz dann, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Das ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vor allem dort unzulässig, wo die Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung bewirkt.134 Setze sich eine Auslegung in Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt habe, so beanspruche der Richter Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen seien.135 Scheinbar gleichgültig ist es, ob das Fachgericht eine Rückbindung an gesetzliche Grundlagen oder Wertentscheidungen vornimmt.136 Das erscheint in der Sache bedenklich, weil zuvorderst das einfache Gesetz für eine Fortbildung herangezogen werden sollte, bevor auf höherrangiges Recht zurückgegriffen wird. Konkrete Normen etwa aus den Grundrechten abzuleiten, erscheint im Grundsatz wenig überzeugend. In der Literatur wird das Konzept des Bundesverfassungsgerichts dahingehend gedeutet, dass es dem Gericht vorwiegend darauf ankommt, dass sich das Fachgericht selbst mit dem Normenkomplex und den betroffenen Werten auseinandersetzt, die Grundlage der Rechtsfortbildung sind.137 Es geht also nach 132

BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 282. BVerfG, Beschluss v. 23.05.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, BeckRS 2016, 48580. 134 BVerfG, Beschluss v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06; BVerfGE 126, 286, 306. Damit dürfte auch dem Anliegen von Rennert, NJW 1991, 12 S. 18 genüge getan sein: „Das BVerfG aber muß schärfer als bislang die Gesetzestreue der fachgerichtlichen Rechtsprechung überwachen. Es darf nicht vorschnell – oder vermeintlich großzügig – richterliche Gesetzeskorrekturen billigen; gegenüber solcher Richtermacht ist der Gesetzgeber dann zumeist ohnmächtig, weil sie ‚in favorem‘ der vermeintlich schwächeren Partei geht.Vollends ist kein Raum für eine irgend geartete verfassungsrichterliche Zurückhaltung; die Frage, ob der Richter seine Entscheidung in methodischer Orientierung am Gesetz gewonnen hat, ist vielmehr als Frage aus Art. 20 Abs. 3 GG voll und abschließend zu prüfen. Das berührt auch nicht die Funktionenteilung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, solange deutlich ist und bleibt, daß das BVerfG nicht die ‚falsche‘, sondern die ‚ungehorsame‘ Gesetzeshandhabung zu beanstanden hat: Nicht das Ergebnis der Gesetzesauslegung steht insoweit zur Prüfung, sondern ihre erkennbare Intention.“ 135 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 209. 136 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370. 137 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 370 f. 133

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dem BVerfG an dieser Stelle um (1) eine Ermittlung des gesetzgeberischen Willens und verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen, (2) einen Abgleich mit der ins Auge gefassten neuen Regelung, um (3) sagen zu können, ob die Grenze der Fortbildung überschritten ist. Die Ermittlung hat  – wie oben bereits angesprochen – mittels der „anerkannten Auslegungsmethoden138 zu erfolgen, wobei deren Anwendung nur dahingehend kontrolliert wird, ob die fachgerichtliche Auffassung vertretbar ist. Eine umfassende eigene historische Auslegungsforschung wird das BVerfG also etwa nicht betreiben, sondern es wird überprüfen, ob die fachgerichtliche Annahme, dass die historischen Auslegungsmaterialen ein bestimmtes Ergebnis zulassen, zumindest vertretbar ist. Gemäß dieser Grundsätze stelle eine Rechtsfortbildung keine unzulässige richterliche Eigenmacht dar, sofern durch sie der erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht beiseitegeschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt werde.139 Zweckmäßigkeitserwägungen sind damit letztlich unzulässig, soweit der Wille des Gesetzgebers hintenangestellt wird.140 Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich also darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen.141 Letztlich will man so vermeiden, dass der Richter zum Ersatzgesetzgeber wird.142 Dementsprechend stellte das BVerfG in der Entscheidung zur Dreiteilungsmethode auch fest, dass sich der BGH von dem Konzept des Gesetzgebers zur Berechnung nachehelichen Unterhalts entfernt und dieses letztlich durch ein eigenes Modell ersetzt hat.143 (4) Überprüfung der angewendeten Methoden Soll das Gericht den Willen des Gesetzgebers oder Grundrechte durch Rechtsfortbildung zur Geltung bringen, muss es sich nach dem BVerfG bestimmter Me 138

Zu den einzelnen Auslegungsgrundsätzen s. ausführlich Ulber, EuGRZ 2012, 365 371 ff. BVerfG, Urteil v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 127; BVerfGE 82; BVerfG, Urteil vom 03.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, 11 ff. 140 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 372. 141 BVerfG, Urteil v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 128. 142 BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 283 (Sondervotum): „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht auf Grund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.“ 143 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 286 (Sondervotum). Die vom Verfassungsrecht gezogene Grenze verlaufe nach dem BVerfG in der Gesamtschau und im Allgemeinen dort, wo die Gerichte ohne das Vorhandensein einer sich aus Systematik und Sinn des Gesetzes ergebenden Lücke allein unter Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien, die konkrete rechtliche Ableitung nicht zulassen, oder aus rechtspolitischen Erwägungen Neuregelungen oder Rechtsinstitute schaffen, s. BVerfG, Beschluss v. 07.06.1993 –2 BvR 335/93, BeckRS 1993, 08476. 139

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thoden bedienen, um den Willen des Gesetzgebers erst einmal zu ermitteln: „Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, kann nur durch Auslegung nach den anerkannten Methoden ermittelt werden.“144 In der Literatur wird dementsprechend darauf hingewiesen, dass die notwendige Beachtung einer gesetzgeberischen Entscheidung mit der methodischen Anforderung verknüpft wird, dass die Ermittlung anhand der anerkannten Auslegungsmethoden stattzufinden habe.145 Das BVerfG möchte nach seinen eigenen Bekundungen die Fachgerichte bei ihrer Entscheidung dahingehend überprüfen, ob „von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht“ wurde. Damit kann es sich letztlich bereits auf die Soroya-Entscheidung stützen: „Ein Ergebnis aber, das auf einem zivilrechtl. zumindest diskutablen, jedenfalls den Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik nicht offensichtlich widersprechendem Wege gewonnen wurde, kann von der Verfassung her nicht beanstandet werden, wenn es gerade der Durchsetzung und dem wirksamen Schutz eines Rechtsgutes dient, das diese Verfassung selbst als Mittelpunkt ihres Wertsystems ansieht.“146 Es drängt sich die Frage auf, welches diese „Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik“ bzw. „anerkannten Methoden“ sind.147 Eine genauere Erklärung ist in der Judikatur jedenfalls nicht zu finden, woraus man folgern kann, dass das Gericht damit den klassischen Kanon der Gesetzesauslegung meint.148 Dafür spricht, dass die Überprüfung einer Entscheidung durch das BVerfG zuletzt klar nach dem Muster Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck stattgefunden hat.149 Scheinbar sieht es also diese Auslegungsmethoden als Kernelemente der Methodenüberprüfung an. Man könnte hier zur Untermauerung dieser These auch auf die Idee kommen, Rückschlüsse aus der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts selbst zu ziehen, denn das BVerfG muss sich auch einer bestimmten Methodik bedienen, um die Verfassung zu interpretieren. Daraus könnte man ableiten, welche Anforderungen es auch von den Fachgerichten einfordert. Allerdings wird in diesem Zusammenhang festgestellt, dass das BVerfG sich selbst keines eindeutigen Methodenkanons bei der Verfassungsinterpretation bedient150 bzw. die Verfassung selbst keinen einfordert.151 Eine etwaige Herleitung würde auch dadurch 144

BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 283 (Sondervotum). Ulber, EuGRZ 2012, 365, 369. 146 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269., 291; Seidl, ZGR 1988, 296, 304. 147 Ähnliche Formulierung auch bei BVerfG, Urteil v. 04.04.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, 11: „Bedient sich das Fachgericht dabei herkömmlicher Auslegungsmethoden, bestehen dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.“ 148 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 508; s. auch Wank, ZGR 1988, 314, 326 ff., 329. 149 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 206 ff. 150 Jestaedt, in: Jestaedt / Lepsius, Das entgrenzte Gericht, 1. Aufl. 2011, 141 ff. 151 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 369; a. A. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796 ff., 821: „Die Gerichte sind in der Methodenwahl nicht frei. Sie haben diejenige Methode der Rechtsanwendung zu wählen, die ihrer verfassungsgesetzlichen Rolle am besten entspricht.“ 145

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an Wert verlieren, wenn die Verfassungsinterpretation nach herrschender Ansicht etwas anders als Gesetzesinterpretation ist.152 So wird man letztlich auch aufgrund des Umstandes, dass es nicht andauernd zu Aufhebungen von fachgerichtlichen Entscheidungen kommt, schließen dürfen, dass die Fachgerichte jedenfalls die klassischen Kanons der Gesetzesinterpretation derart anwenden, dass ihre Argumentation nachvollziehbar und in sich schlüssig ist. Eine solche Entscheidung erscheint dann noch als jedenfalls methodisch „vertretbar“. Die Rangfolgenfrage der Auslegungsmethoden bleibt dabei allerdings unberücksichtigt,153 denn hier hat sich das BVerfG bisher noch nicht ausdrücklich festgelegt. Allerdings wird der historischen Auslegung – wie bereits oben aufgezeigt – nun ein höherer Stellenwert beigemessen. Letztlich beschreibt das BVerfG also eher negativ die anerkannten Methoden: Es kann nur solche ausschließen, die nicht dazu gehören und setzt damit nur „Außenschranken“.154 Diese müssen die Fachgerichte in Zukunft noch gründlicher beachten. Anderenfalls droht bei der jetzigen Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts eine Aufhebung.155 Insofern lässt es den Fachgerichten im abgesteckten Rahmen die Wahlfreiheit. Ein Verstoß bei Überprüfung der angewendeten Methoden ist bisher nur selten angenommen worden,156 weil eben eine Entscheidung erst dann die Grenze zur Verfassungswidrigkeit überschreitet, wenn sie unter keinen Aspekt mehr methodisch vertretbar erscheint.157 (5) Sonstige Grenzmodifikatoren Die gezogene Grenzlinie für die Rechtsfortbildung kann in bestimmten Fallkonstellationen durch andere Grenzen ergänzt werden. (a) Belastungsgrad im grundrechtsrelevanten Bereich So hängt eine weitere Grenze etwa davon ab, ob die fachgerichtliche Entscheidung für den Betroffenen günstig und belastend ist.158 Das BVerfG führt dazu aus: „Soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu dient, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, 152

Jestaedt, in: Jestaedt / Lepsius, Das entgrenzte Gericht, 1. Aufl. 2011, 141 ff. So bereits Wank, ZGR 1988, 314, 329. 154 So zu Recht bereits Ulber, EuGRZ 2012, 365, 369. 155 Hier sieht man auch, dass die Methodik und die Kompetenzfragen nicht zwingend zu­ einander gehören. Denn man kann sich mit der herrschenden Lehre durchaus vorstellen, dass in seltenen Fällen methodisch korrekt der ursprüngliche gesetzgeberische Zweck hintenanstehen muss, aber dennoch in die Kompetenz der Legislative eingegriffen wird. 156 S. BVerfG, Beschluss v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64, wo es um eine verfassungskonforme Auslegung ging. 157 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 369. 158 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 368 f. 153

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zum Durchbruch zu verhelfen, sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird.159 Insbesondere in einer Entscheidung, die eine zivilrechtliche Frage zum Gegenstand hatte, räumte das BVerfG aber in diesem Zusammenhang ein: „Bei der gerichtlichen Entscheidung zivilrechtlicher Streitigkeiten, in denen überwiegend Interessenkonflikte zwischen Privaten zu lösen sind, trifft regelmäßig die Beeinträchtigung einer Rechtsposition auf der einen Seite mit der Förderung einer Rechtsposition auf der anderen Seite zusammen. Belastet ein Zivilgericht eine Person etwa mit einer im Wege der Rechtsfortbildung begründeten Pflicht, so erfolgt dies zumeist, um die Rechtsposition einer anderen Person zu stärken. Je schwerer der verfassungsrechtliche Gehalt der gestärkten Position wiegt, umso klarer ist eine entsprechende Lösung dem Gericht wie dem Gesetzgeber durch die Verfassung vorgezeichnet und umso weiter kann die Befugnis der Gerichte reichen, diese Position im Wege der Rechtsfortbildung – auch unter Belastung einer gegenläufigen, aber schwächeren Rechtsposition – durchzusetzen.160 Gleichzeitig wird betont, dass keine Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt werden dürfen, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, weil anderenfalls die Gerichte Befugnisse beanspruchen würden, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind.161 Auch hier befindet man sich daher wieder im obigen Bereich des Gesetzesvorbehalts.

159 BVerfG, Beschluss v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377, 392, wobei es weiter heißt: „Umgekehrt sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt; die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt.“ 160 BVerfG, Beschluss v. 24.2.2015 – 1 BvR 472/14, BVerfGE 138, 377, wobei es weiter ausführt: „Umgekehrt gilt jedoch genauso: Je schwerer die Belastung verfassungsrechtlich wiegt und je schwächer der verfassungsrechtliche Gehalt der damit durchzusetzenden Gegenposition ist, umso enger sind die Grenzen für die Rechtsfortbildung gesteckt, umso strikter muss sich also die zivilgerichtliche Rechtsfindung innerhalb der Grenzen des gesetzten Rechts halten. Die Grenzen richterlicher Rechtsfindung verlangen gerade dort besondere Beachtung, wo sich die rechtliche Situation des Bürgers verschlechtert, ohne dass verfassungsrechtliche Gründe dafür ins Feld geführt werden können. Auf eine privatrechtliche Generalklausel lässt sich eine verfassungsrechtlich schwerwiegende Belastung eines Beteiligten dann umso weniger stützen, je weniger sich im einfachgesetzlichen Umfeld Anknüpfungspunkte dafür finden lassen.“ S. bereits schon BVerfG, Beschluss v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 282 ff. (Sondervotum). 161 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 127 f.

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(b) Anpassungsbedürftigkeit der gesetzlichen Lage Neben diesem Aspekt gibt es Aussagen des Bundesverfassungsgericht, die darauf schließen lassen, dass es die Legitimität einer Fortbildung auch davon abhängig machen will, ob es sich bei dem betroffenen Gebiet um einen anpassungsbedürftigen Teilbereich des Rechts handelt, bei dem möglicherweise der Wille des Gesetzgebers „verblasst“.162 Geht es also um einen in der Entwicklung befind­lichen, dynamischen Teil des Rechts, so ist eine Fortbildung eher zulässig, als bei einem statischen, bei dem die Außenwelt keinen Anpassungsbedarf hervorruft.163 Das belegen die zahlreichen Anmerkungen des Bundesverfassungsgerichts. Oftmals ist davon die Rede, dass die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt gehört.164 Dementsprechend darf man behaupten, dass das BVerfG eine Fortbildung in diesem Bereich eher als legitim betrachten würde als in einem statischen.165 Der ursprüngliche Wille des Gesetzgebers kann dann an Geltungskraft einbüßen. In der Literatur wird daher von einer abnehmenden Bindungswirkung bei zeitlichen Abstand zwischen Normerlass und Zeitpunkt der Entscheidung gesprochen,166 sofern als weiteres Element auch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist.167 Hierin sei kein Freifahrtsschein zu sehen, sondern die Rechtsprechung soll den Willen des Gesetzgebers dennoch im „denkenden Gehorsam“ weiterbilden.168 Hier deutet sich somit eine gewisse Aufweichung der obigen Gesetzesbindungsdoktrin an. (c) Sperrwirkungen von nicht erlassenen oder in der Gesetzgebung befindenden Normen für eine Fortbildung Eine in der Literatur seit neuerem diskutierte Frage ist, ob ein Fachgericht ein laufendes Gesetzgebungsverfahren bei der Rechtsfortbildung berücksichtigen muss und dieses vielleicht sogar eine Fortbildung sperrt.169 Damit verwandt ist die Frage, ob nicht zivilrechtliche Normen, die der Gesetzgeber nicht erlassen, aber im Ge-

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Ulber, EuGRZ 2012, 365, 372. So zu Recht die Interpretation von Ulber, EuGRZ 2012, 365, 369. 164 So ausdrücklich BVerfG, Beschluss v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 210 m. w. N. 165 BVerfG, Beschluss v. 4.4.2011 – 1 BvR 1803/08, NJW 2011, 1723, 1724. Insbesondere im Mietrecht habe das BVerfG die analoge Anwendung mietrechtlicher Vorschriften gebilligt, wenn dadurch gesetzliche Schutzlücken geschlossen wurden. Für die Fachgerichte könne daraus sogar die Pflicht erwachsen, Lücken mit den herkömmlichen Methoden der Auslegung und Lückenfüllung zu schließen. 166 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 372 ff. 167 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 373. 168 Ulber, EuGRZ 2012, 365, 374. 169 Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 622 ff. 163

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setzgebungsverfahren angedacht hatte, eine Sperrwirkung entfalten.170 Hinsichtlich der ersten Frage ist das BVerfG in einer älteren Entscheidung davon ausgegangen, dass zumindest bei ungewissen Erlasslagen, in denen ein Gesetz noch keine konkrete Form angenommen hat, eine Sperrwirkung nicht gegeben ist.171 Jedenfalls dann, wenn ein Gesetz kurz vor dem Erlass steht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass das BVerfG richterliche Zurückhaltung verlangen wird. Denn auch hier besteht die Gefahr einer Kollision von richterlicher und gesetzgeberischer Fortbildung. Bei der zweiten Frage kommt es darauf an, ob der Gesetzgeber wirklich eine abschließende Negativentscheidung getroffen hat oder nicht.172 (6) Rechtsfortbildung contra legem Bisher ausgespart wurde das Problem der Rechtsfortbildung contra legem.173 Diese liegt vor, wenn die oben beschriebene Grenze der Rechtsfortbildung, d. h. der Wille des Gesetzgebers durch das Fachgericht bei der Lückenschließung missachtet wurde, der Richter sich also als Quasigesetzgeber verhält. Das BVerfG sieht eine Fortbildung contra legem dementsprechend als gegeben, wenn ein Fachgericht Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat.174 In der Rechtsfolge ist eine solche Fortbildung als unzulässig und damit letztlich als verfassungswidrig anzusehen.175 Dieser Grundsatz wird dort aufgeweicht, wo es grundrechtlich schützenswerte Positionen erforderlich machen.176 cc) Achillesverse Das Rechtsfortbildungskontrollsystem des BVerfG stellt sich auch aufgrund der Modifikationen als flexibles Instrument zur Einschränkung von richterlichen Übergriffen in das Gewaltenteilungssystem dar und hängt letztlich stark vom Willen der beteiligten Verfassungsrichter ab, ihren fachgerichtlichen Kollegen die Grenzen aufzuzeigen. Das wurde an der Entscheidung zur Rügeverkümmerung und dem dortigen Sondervotum deutlich. Die Achillesverse ist die Ermittlung des 170

Ulber, EuGRZ 2012, 365, 374. BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 291 f.; s. auch Flei­ scher / Wedemann, AcP 2009, 597, 622. 172 Ausführlich Ulber, EuGRZ 2012, 365, 374 f. 173 S. dazu Seidl, ZGR 1988, 296, 305 bzw. ausführlich Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005. 174 BVerfG, Beschluss v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, BVerfGE 69, 315, 372. 175 BVerfG, Beschluss v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, BVerfGE 69, 315, 372; BVerfG, Beschluss v. 14.1.1986 – 1 BvR 209/79, 1 BvR 221/79, BVerfGE 71, 354, 362 ff.; näher dazu Seidl, ZGR 1988, 296, 305 f. 176 Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 508 mit Verweis auf das BVerfG in Fn. 54. 171

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gesetz­geberischen Willens. Dieser Wille wird, von bestimmten offensichtlichen Verstößen abgesehen, bei der Interpretation Argumente bieten, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzwingen und dem Gesetzgeber notfalls verdeckt einen Willen „unterzuschieben“. Denn die Ermittlung des Willens ist ein Interpretationsproblem. Eine unzulässige Rechtsfortbildung kann im schlechtesten Fall zu einer vertretbaren werden, weil man den Willen des Gesetzgebers „kaschiert“. Ob die von BVerfG verstärkt geforderte Auswertung der Gesetzesmaterialien177 diese Gefahr eindämmen kann, bleibt abzuwarten und dürfte im Einzelfall unterschiedlich sein. Ein Fachgericht kann den Willen des Gesetzgebers mit der jetzigen Spruchpraxis jedenfalls bis an die Grenze des noch Vertretbaren dehnen. Es bleibt damit letztlich nur die Möglichkeit, auf die Richter beim BVerfG zu vertrauen.178 In der Literatur wird daher im Grundsatz zu Recht festgestellt: „Die verfassungsrechtlich geschuldete Gesetzestreue des Richters bleibt damit als rechtlich nur schwach gesicherte Erwartung weitgehend dem richterlichen Ethos als unsicherem Garanten anheimgestellt. Das Selbstverständnis der Richter, insbesondere an den obersten Bundesgerichten, lässt mitunter Zweifel an deren unbedingter Gesetzestreue aufkommen, wird doch nicht ganz selten unter Hinweis auf wirkliches oder auch nur vermeintliches gesetzgeberisches Versagen die Befugnis zu mehr oder weniger freihändiger richterlicher Rechtsfortbildung reklamiert.179 Unabhängig davon ist jedenfalls bei einer Fortbildung, eine hohe Begründungspflicht der Gerichte zu fordern,180 da anderenfalls das Verfassungsgericht allein deswegen die Verfassungswidrigkeit feststellen müsste, weil eine Überprüfung nicht möglich ist.181 Eine saubere, ausführliche Begründung einer Entscheidung, die sich insbesondere mit dem Willen des Gesetzgebers auseinandersetzt, ist der Schlüssel zu mehr Sicherheit bei Rechtsfortbildungen. Nun wird die Relevanz der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung im herrschenden System deutlich. Bedenklich ist im Zusammenhang mit der hohen Begründungspflicht, wenn das BVerfG eine unzureichende Begründung eines Fachgerichts toleriert und letztlich sogar selbst in den Argumentationsprozess ein-

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Mülbert, AcP, 188, 194 m. w. N. Sinngemäß auch Löwer, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 70 Rn. 209. 179 Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 97 Rn. 54; letztlich ähnliche Bedenken mit umfangreicher Auswertung von verschiedenen Studien Foerste, JZ 2007, 122 ff. Dieses Faktum würde auch bei anderen Konzepten vorliegen, jedoch gebe es dort auch andere wertende Kriterien, mit denen das BVerfG arbeiten könnte, um eine Fortbildung sinnvoll zu begrenzen und darzulegen, dass sie legitim ist. S. Wank, ZGR 1988, 314, 321 ff. Dazu müsste es sich durch die Verstärkung seiner Kriterien erst selbst binden. 180 Geserich, DStR-Beih 2011, 59, 60: „In der Begründung spiegeln sich Gewissenhaftigkeit, Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters wieder. Sie wirkt richterlicher Beliebigkeit entgegen, bewirkt Transparenz und schafft damit Vertrauen in die dritte Gewalt.“ 181 BVerfG, Beschluss v. 05.11.1985 – 2 BvR 1434/83, BVerfGE 71, 122. 178

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steigt, um eine Entscheidung zu halten.182 In einem solchen Fall rückt es gefährlich nahe an die Aufgabe des Fachgerichtes selbst und verfehlt letztlich seine eigene Aufgabe. Das BVerfG ist ausdrücklich bestrebt, dem Richterrecht dort Grenzen zu setzen, wo es sich entweder gegen den Gesetzgeber auflehnt oder es eigene rechtspolitische Vorstellungen in einem Lückenbereich durchzusetzen versucht. Mehr ist nicht vom BVerfG zu erwarten. dd) Abschließende Bewertung Prüfungsumfang –– Vertretbarkeitskontrolle –– Kontrolle erstreckt sich auf Auslegung und Rechtsfortbildung (Abgrenzung mittels Wortlautgrenze [str.]) Grenzen –– Gewaltenteilungsgrundsatz Kurz: Hinwegsetzen über Gesetzgeber –– Gesetzesbindung –– Überprüfung der angewendeten Methoden Unter besonderer Berücksichtigung von: –– Belastungsgrad im grundrechtsrelevanten Bereich –– Anpassungsbedürftigkeit der gesetzlichen Lage –– Sperrwirkungen von nicht erlassenen oder in der Gesetzgebung befindenden Normen für eine Fortbildung (Einzelheiten str.)

Es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Systematik, die jedenfalls die klassischen Fälle umfasst: Möglichkeit (1): Es gibt einen eindeutigen Willen des Gesetzgebers, der Rechtsanwender ermittelt diesen zutreffend und bewegt sich bei der Regelbildung innerhalb dieses Willens, jedoch über den Wortlaut der Norm hinaus. Die Folge ist eine – jedenfalls in diesem Punkt – verfassungskonforme Rechtsfortbildung. Ob zudem etwa ein Grundrechtsverstoß gegeben ist, muss gesondert geprüft werden. Möglichkeit (2): Es gibt einen eindeutigen Willen des Gesetzgebers, der Rechtsanwender ermittelt diesen zutreffend, setzt sich dann aus anderen Erwägungen über ihn hinweg. Die Folge einer solchen Auflehnung ist im Grundsatz die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung.

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So jedenfalls die Interpretation von Möllers, JZ 2009, 668, 670 f. für die Entscheidung zur Rügeverkümmerung.

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Möglichkeit (3): Es gibt einen (ursprünglich) eindeutigen Willen des Gesetzgebers, dieser lässt sich aber nicht rekonstruieren, sodass der Rechtsanwender letztlich nicht weiß, ob eine Fortbildung zulässig ist. In diesem Fall kann der Rechtsanwender nach der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts im Grundsatz fortbilden.183 Da die Wesentlichkeitstheorie und der Vorbehalt des Gesetzes im Zivilrecht keine Anwendung finden soll,184 sind die Grenzen hier allerdings fraglich. Jedenfalls dürften die obigen Grundsätze (z. B. keine Verkürzung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen185) als Schranke dienen. Hier liegt eines der wesentlichen Probleme des Konzeptes einer Kontrolle anhand der Gesetzesbindung.186 c) Manipulationpotential durch (verdeckte) Gestaltungsspielräume Angesprochen sind mit diesen verfassungsrechtlichen Problemen auch Gestaltungsspielräume des Richters bei Rechtsfortbildungen, bei deren Ausnutzung Eigenwertungen des Richters an die Stelle von gesetzgeberischen Entscheidungen treten. Unter Zugrundelegung einer objektiven Auslegungstheorie – die den Willen des Gesetzgebers überspielen darf und stattdessen nach dem „Willen des Gesetzes“ im Zeitpunkt der Rechtsfortbildung fragt – werden solche Spielräume sogar noch verstärkt.187 Ähnliche Wirkung hat ein weiter Lückenbegriff, der die Möglichkeit bietet, die Bindung an das Gesetz auszuhebeln. Dabei kommt es eher selten zu klaren Fortbildungen contra legem, sondern zu Fällen der verdeckten Fortbildung des Rechts. Darunter sind Fälle zu verstehen, die entweder die Grenze der Rechtsfortbildung überschritten haben und noch als Auslegung „getarnt“ werden, um etwa einer höheren Argumentationslast zu entgehen.188 Oder es wird ein gewünschtes Ergebnis per Auslegung herbeigeführt, dass aufgrund einer in Wirklichkeit nicht gegebenen Lücke und einer damit unzulässigen Rechtsfortbildung eigentlich ver-

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So scheinbar auch Ulber, EuGRZ 2012, 365, 371; Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 507 weisen darauf hin, dass sogar bei Untätigkeit des Gesetzgebers im Arbeitsrecht das BVerfG (BVerfG Beschluss v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 226 f.) eine Kompetenz zur Lückenfüllung angenommen hat. Hier war gerade kein klarer Wille des Gesetzgebers zu erkennen. 184 Vgl. dazu Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504, 509 m. w. N. 185 S. dazu Ulber, EuGRZ 2012, 365, 375 ff. 186 Die Betonung des Willens des Gesetzgebers ist bei unterstellter konsequenter Beachtung auch für das Gesellschaftsrecht von erheblicher Bedeutung: (1) Betrifft die Frage nach der subjektiven Auslegungstheorie die Wortlautgrenze, so ist diese wichtig. (2) Profitierte die Rechtsprechung im Gesellschaftsrecht bisher von einer recht freien Handhabung des juristischen Auslegungskanons, so wurde der Wille des Gesetzgebers indes – entsprechend der obigen Grundsätze – nicht immer beachtet. Exemplarisch sei auf die Entscheidung zur Rechtsfähigkeit der GbR verwiesen (BGH, Urteil v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341). Aus eine eigentlichen Fortbildung contra legem, wurde in unzulässiger Weise eine nur scheinbar legitime Rechtsfortbildung ausgearbeitet. S. dazu Canaris, ZGR 2004, 69, 69 ff. 187 Eingehend dazu Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 796 ff. 188 Ursächlich wird dabei oftmals auch sein, in bestimmten Fällen: „rational überprüfbare und vermittelbare Entscheidungskritierien zu finden […]“, vgl. Foerste, JZ 2007, 122, 130.

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sagt werden müsste.189 Auch können darunter Fälle verstanden werden, in denen zwar offengelegt wird, dass man sich im Bereich der Rechtsfortbildung befindet, aber das Vorliegen einer Lücke im Gesetz unzulässiger Weise konstruiert wird.190 Solche getarnten und damit versteckten richterlichen Eigenwertungen führen letztlich zu Scheinbegründungen und sind neben der Gesetzesbindung auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlich abgesicherte richterliche Begründungspflicht (s. etwa § 313 Abs.1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO)191 Bedenken ausgesetzt.192 Besonders sog. Gesamtanalogien  – die im Gesellschaftsrecht nicht selten sind193  – weisen eine gewisse Anfälligkeit für eine Überschreitung des Gesetzgeberwillens auf. Darunter wird eine Analogie verstanden, bei der aus unterschiedlichen Normen ein allgemeiner Gedanke extrahiert wird, um diesen auf einen ungeregelten Fall anzuwenden. Hier besteht neben den Unsicherheiten, die bei einer solchen mitunter umfassenden und vielschichtigen Interpretation bestehen,194 die Gefahr, dass dieser mit dem wirklichen Willen des Gesetzgebers nicht übereinstimmt, der Richter sich eine Regelung zurechtlegt, die der Gesetzgeber so gar nicht zum Ausdruck bringen wollte. Im Übrigen können (ggf. nur implizite) Übergriffe bei einer Rechtsfortbildung – etwa in einem obiter dictum195 – in andere Regelungsbereiche außerhalb der Zuständigkeit nicht nur des Gesetzgebers als auch zur Rechtsunsicherheit anderer Gerichte beitragen196 und sich als verfassungsrechtlich bedenklich zeigen (Gewaltenteilungsgrundsatz).

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Vgl. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, 3 bzw. 120 f.; Foerste, JZ 2007, 122, 122 ff.; 130 ff.; s. zu diesem Thema auch zusammenfassend Blaufuss, Rechtsfähige Wohnungseigentümergemeinschaft und nichtrechtsfähige Gemeinschaft der Wohnungseigentümer, 2010, 136 ff. 190 S. dazu unten den stritten Fall der sog. Rügeverkümmerung. 191 Krüger / Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2016b, Band 1, § 313 Rn. 14 m. w. N.; sowie Saenger, Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2015, § 313 Rn. 26; Musielak, in: Musielak / Voit, Zivilprozessordnung, 15. Aufl. 2018, § 313 Rn. 10. Im Detail ist damit rechtliche Gehörsanspruchs bzw. der Justizgewährungsanspruchs gemeint, Thole, in: Prütting / Gehrlein / Prütting-Gehrlein, ZPO, 7. Aufl. 2015 Rn. 16. 192 Foerste, JZ 2007, 122, 130. Zur Begründungspflicht und dem bestehenden Anspruch ­Musielak, in: Krüger / Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 2016b, § 313 Rn. 14 sowie Sänger, in: Saenger, Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2015 § 313 Rn. 26 ff. 193 S. sodann beim Delisting. 194 S. dazu auch Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 394: „Ein Zuviel an Begründung liegt demgegenüber vor, wenn das Fehlen einer Regelung im Wege einer Gesamtanalogie begründet wird unter Bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes, die Rechtsidee oder die Gerechtigkeit. Die Rechtsordnung als Ganzes oder die Gerechtigkeit sind als holistische Größen gerade nicht handhabbar“; s. auch dort Rn. 396. 195 Dörner, NZA 2007, 57, 58 „Obiter dicta haben die Schwäche, zur konkreten Rechtsfindung des Einzelfalls nichts beizutragen, die Leser regelmäßig zu verwirren und häufig späteren Erkenntnissen im Wege zu stehen.“; umfassende Untersuchung bei Schlüter, Das Orbiter dictum, 1973, 39 ff. 196 S.  Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 195 mit einem Beispiel zur GmbH und Co. KG.

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d) Legitimationsdefizit Mit der bereits erwähnten möglichen Verletzung des Demokratieprinzips geht das generelle Problem einer Fortbildung einher, dass es richterlichen Regelungen im Vergleich zum Parlament an einem besonderen demokratischen Legitimationsniveau fehlt,197 denn es kann beim Richterrecht immer nur um eine mittelbare demokratische Legitimation gehen.198 So werden etwa die Mitglieder des Bundesgerichtshofes – die wesentlich die zivilgerichtliche Rechtsfortbildung im Deutschland beeinflussen – durch den Bundesminister der Justiz gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss gemäß dem Richterwahlgesetz berufen (§ 10 RiWG, § 125 Abs.1 GVG, Art. 95 Abs. 2 GG).199 Der Richterwahlausschuss besteht aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die vom Bundestag gewählt werden. Es geht also in der Gesamtschau um ein Zusammenwirken der Exekutive und Legislative200 Man kann zumindest aufgrund des Wahlausschusses von einer stärkeren demokratischen Legitimation201 sprechen, als es etwa bei der Ernennung von Richtern ohne einen solchen Ausschuss üblich ist.202 Dennoch bleibt ein Legitimationsdefizit im Vergleich zu dem Gesetzgeber bestehen. Damit geht das Fehlen einer (öffentlichen) parlamentarischen Diskussion im Vorfeld der Entstehung von Richterrecht einher. e) Verlust der Streitentscheidungsfunktion und schleichende Kompetenzverschiebung Eng mit dem Gewaltteilungsgrundsatz verbunden, ist die Frage, ob die Hinnahme einer verstärkten richterlichen Normierungstätigkeit nicht Schritt für Schritt zu einer eigenen richterlichen Rechtsetzungsinstanz führt203 und dabei gleichzeitig eine Zersplitterung der Normgebung.204 Im Schrifttum sind dahingehende Sorgen 197 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 311; Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 121. 198 S. zur mittelbaren demokratischen Legitimation etwa Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 92 ff. 199 Das Wort „Berufung“ bezeichnet die Entscheidung, wer zum Bundesrichter ernannt werden soll, Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 95 Rn. 5. 200 Morgenthaler, in: Epping  /  H illgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 95 Rn. 6. 201 Ziel der Einführung war eine Stärkung der demokratischen Legitimation, Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 98 Rn. 51. 202 Überblick über die (sich noch nicht im ganzen Bundesgebiet durchgesetzten) landesrechtlichen Regeln zum Richterwahlausschuss bei Hillgruber, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 98 Rn. 49. 203 S. dazu Rüthers, JZ 2002, 365, 365 ff.; Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014, 1 ff., 79 ff. 204 So ausdrücklich Sodan, JZ 1999, 864.

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zu finden, die einen bereits erfolgten Anstieg des Richterrechts205 und eine damit verbundenen Kompetenzverschiebung anprangern. Gleichzeitig würden die Obergerichte langsamen von ihrer individuellen Streitentscheidungsfunktion206 abgelöst.207 Erste Schritte in diese Richtung sind nach einigen Stimmen bereits erkennbar: So enthielt das alte zweispurige Revisionssystem neben der Zulassungsrevision noch die Streitwertrevision (Wertrevision, s. § 546 Abs. 1 S. 1 ZPO a. F.), die mittlerweile aber zur Entlastung einem reinen Zulassungssystems208 der Zivilsenate beim BGH gewichen (s. § 543 Abs. 2 ZPO) ist.209 Bereits dieses Revisionssystem suche „nach einer unmittelbaren Schnittmenge aus Individual- und Allgemeininteressen“,210 wenn der Gesetzgeber formuliert, dass die Revision zuzulassen ist, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Letztlich geht es dabei auch um eine Abwälzung der Gesetzgebungslast auf die Gerichte. 2. Sachverhaltsermittlung Entscheidend für die Entwicklung einer gelungen richterrechtlichen Regel ist die korrekte Sachverhaltsermittlung.211 Wird der Sachverhalt fehlerhaft ermittelt, geht die Regel womöglich ins Leere oder richtet gar Schaden an. Letztlich kommt es hier auf das konkrete Rechtsgebiet an, da sich die jeweilige Sachverhaltsermittlung z. T. erheblich von der anderen unterscheidet. So gilt in der ZPO etwa mit Ausnahmen nicht der Amtsermittlungs- sondern Beibringungsgrundsatz, d. h., nur was die Parteien vortragen, kann die tatsächliche Basis des Urteils bilden.212 Weil der Richter aus diesem Grund den Sachverhalt nicht umfassend ermittelt, können dem Richter wichtige Informationen – z. T. auch rechtstatsächlicher Natur – nicht zur Verfügung stehen.213 Die Parteien gestalten insofern – neben ihren rechtlichen Argumenten – die Rechtsfortbildung mittels ihrer Sachverhaltsdarstellungen erheblich mit. Das bewirkt u. U., dass nur ein sehr begrenzter Ausschnitt der Lebenswirklichkeit Gegenstand der Fortbildung ist. Der Richter kann bei der Sachverhalts 205

Rüthers, JZ 2002, 365, 365 f. Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012. 314 f. 207 Deutlich Raiser, ZRP 1985, 111, 113 f. 208 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses v. 27.07.2001, BGBl I, Nr. 40, S. 1887, 1899. 209 Darauf weißt Schönberger, in: Höfling (Fn. 6). 314 hin; s. dazu ausführlich Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess, 335 ff., der aber auch auf den Umstand verweist, dass 80 % der Richter der Zivilsenate beim BGH durch Streitwertentscheidungen gebunden waren. 210 Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess, 340. 211 Coing, JUS 1975, 277, 282. 212 Musielak, in: Musielak / Voit, Zivilprozessordnung, 15. Aufl. 2018, Einl. Rn. 37; Anders  / ​ Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 13. Aufl. 2017 Rn. 8 ff. 213 In diese Richtung auch Drechsler, ZJS 2015, 344, 354. 206

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ermittlung und Bewertung aber auch auf solche Schwierigkeiten stoßen, die mit sonstigen Verständnisschwierigkeiten zu tun haben (z. B. technischer Fortschritt), mag hier auch der Sachverständigenbeweis für Entlastung sorgen. Auch in einem noch zu analysierenden Fall zum Delisting ging es um eine Studie, die möglicherweise von den Richtern falsch interpretiert wurde, sodass sie in der Konsequenz irrtümlich von einem falschen Sachverhalt ausgingen.214 3. Sonstige Normierungsdefizite a) Anlassbezogenheit Gerichte dürfen sich nur anlassbezogen äußern und unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Rechtsfortbildung übergehen. Sie dürfen also in zeitlicher Hinsicht nicht als „freier“ Normgeber agieren. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat keinen Einfluss darauf, ob sich ihr (frühzeitig) ein Fall bietet, mit dem eine lückenhafte oder fehlgegangene gesetzgeberische Entscheidung oder eine misslungene Rechtsprechung korrigiert werden kann (Rechtsrückbildung215).216 Nachteilig ist dieser Umstand insb. dort, wo eine fortgebildete Regelungsmaterie eine ständige Anpassung erfordert.217 b) Geringerer Gestaltungs- und Argumentationsrahmen Richtern steht beim Aufstellen ihrer Regel  – sofern sie sich nicht gegen die Gesetzesbindung verstoßen wollen – ein viel geringerer Spielraum für eine Fortbildung zur Verfügung.218 Die wohl herrschende Meinung in der Literatur geht in diesem Zusammenhang von der Trennbarkeit von sog. „principles“ und „polices“ aus.219 Unter der ersten Bezeichnung werden aus Rechtsquellen ableitbare Argu 214

S. dazu BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 149: „Dass schon die Ankündigung des Börsenrückzugs regelmäßig zu einem Kursverlust führt, lässt sich nicht feststellen (Heldt / Roye, AG 2012, 660, 667 f.)“; kritisch Habersack, JZ 2014, 147, 148. 215 Eingehend dazu Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003. 216 Im Detail Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 204 ff.; Coing, JUS 1975, 277, 279. 217 Vgl. Wank, ZGR 1988, 314, 322. 218 Ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 190 ff. 219 Wobei aber angemerkt werden muss, dass oft nur ein mittelbarer Schluss auf die Auffassung der Verfasser möglich ist. Eindeutig jedenfalls für eine Trennbarkeit Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 4 ff., 15 f. sowie eindeutig dagegen Rede­ ker, NJW 1972, 409, 413: „[…] „richterliche Rechtsetzung ist inhaltliche legislative Tätigkeit, die Schaffung verbindlicher Rechtsregeln. Rechtsprechung ist damit aber dann, wenn sie zur Rechtssetzung wird oder sich rechtssetzend auswirkt, politische Tätigkeit […].“ Ansonsten s. für die Trennbarkeit Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, 460.

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mente verstanden.220 Sie bilden für den Richter das Argumentationssubstrat für seine Entscheidung. Die Frage, ob er sich noch rechtspolitischer, wirtschaftlicher oder sozialer Argumente bedienen darf, die im Gesetz so keinen Anklang finden, ist umstritten. Sie wird aber überzeugend verneint.221 Einige fordern aber bereits eine Erweiterung der Kompetenzen.222 Gegen eine solche Argumentation spricht ohne Änderung der Gesetzeslage Art. 20 Abs. 3 GG. Die richterliche Gesetzesbindung verlangt eine Entscheidung nach „Gesetz und Recht“,223 und nicht nach beliebigen anderen Kriterien. Positiv formuliert, muss Kernelement einer Entscheidung folglich das rechtliche Argument sein.224 Negativ gesprochen, sind gleichzeitig alle anderen Argumente ausgeschlossen. Die Position des Richters ist strukturell für die Arbeit mit solchen Argumenten nicht geschaffen. Denn die Überprüfung und Untersuchung rechtspolitischer und wirtschaftlicher Argumente in der Form, wie dies in einem Gesetzgebungsverfahren geschieht, ist dem Richter letztlich gar nicht möglich.225 Nicht ganz selten wird man durch den Gesetzgeber rechtspolitisch oder wirtschaftlich „aufgeladene“ Normen finden können.226 Dessen ungeachtet hat der Gesetzgeber aufgrund seiner Bindung allein an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG)227 und in gewissem Maße an seinen Vorentscheidungen einen viel weiteren Spielraum als der Richter. Durch diese Machtverteilung wird bewirkt, dass der Richter ein deutlich „benachteiligter Normgeber“ ist.228 220

Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 4. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 16 ff.; weiter zieht die Grenzen allerdings Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 215, wenn er formuliert: „Gerichte dürfen […] nicht anstelle des Parlaments Rechtsfortbildung betreiben, wenn sie sich dadurch in Gegensatz zur allgemeinen politischen Richtung stellen würden, wie sie aufgrund von Wahlen durch Parlament und Regierung bestimmt wird, oder wenn sie selbst neue politische Ziele setzen würden, die durch den Wählerwillen nicht legitimiert sind.“ Im Umkehrschluss bedeutet diese Aussage, dass in allen anderen Fällen sehr wohl rechtspolitische Argumente zulässig sind. 222 Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, 453 f., sieht aufgrund der Lage, dass die Rechtsprechung maßgebliche Funktionen des Gesetzgebers eingenommen hat, eher die Notwendigkeit einer Erweiterung des richterlichen Gestaltungsspielraums. 223 Zu diesen Begriffen s. Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VI Rn. 59 ff. 224 Gegen ein „policy making“ durch den Richter auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, 460 m. w. N. aus dem Schrifttum. Wer selbstverständlich die Untrennbarkeit von principles und polices annimmt, muss dagegen ein anders Konzept haben. 225 So überzeugend Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 30; s. auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 165 ff., 172 ff. zur fehlenden Möglichkeit einer umfassenden Folgenbetrachtung bei der Regelbildung. 226 S. etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, 459 ff., 486 ff. der im Ergebnis solche rechtspolitisch aufgeladenen Normen akzeptiert, jedoch ansonsten nach dem geltenden Recht und aus der Sicht des Richters eine zurückhaltende Position in Bezug auf ökonomische Argumente einnimmt. 227 S. dazu Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) VI Rn. 24 ff.; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015, 165 ff. 228 Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 57: „Die Gerichte haben aber immer nur den jeweiligen Fall zu entscheiden und können im allgemeinen kein fertiges neues rechtliches Konzept liefern.“ 221

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Die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Prozessordnungen sind zudem auf die Ermittlung des Einzelfalls zugeschnitten, was sich nachteilig bei der Rechtsfortbildung auswirkt.229 Auch die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Rechtsprechung können durch einen Richter nicht in allen Bereichen und Einzelheiten übersehen werden (Folgenabschätzung / Prognostizierungsdefizit).230 Die am Gesetzgebungsprozess Beteiligten sind indes bemüht, solche Folgen abzuschätzen. Sie können dabei wiederum auf viel größere Ressourcen zurückgreifen.231 Trotz einer unbestritten hohen Sachkenntnis haben die Richter dennoch ein Informationsbeschaffungs- und Verarbeitungsdefizit232 gegenüber dem Gesetzgeber.233 In diesem Zusammenhang wirkt sich auch nachteilig aus, dass Drittbetroffene (z. B. Gesellschaften, die am Prozess nicht beteiligt sind)  bei der Regelbildung keine Möglichkeit der Einflussnahme besitzen.234 c) Spannungsfeld Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungswirkung auf die Rechtsordnung Ein wesentliches strukturelles Problem der Rechtsfortbildung ergibt sich aus der Doppelstellung der obersten Gerichte.235 Einerseits sollen sie den ihnen vorgelegten Einzelfall entscheiden. Bei dieser Aufgabe liegt der Schwerpunkt also in der Verwirklichung der Einzelfallgerechtigkeit und damit in der Umsetzung des gesetzgeberischen Willens, wobei sich dementsprechend die richterliche Regelung auch nicht in einen Widerspruch zu Gesetz und Recht setzen darf. Der Gesetzgeber kann und darf Einzelfälle nicht entscheiden (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG), sondern eben nur allgemeine Programmsätze aufstellen.236 Auf der anderen Seite müssen die Richter insbesondere in Fällen der Rechtsfortbildung berücksichtigen, dass Als weitere Begründung für eine Ablehnung wird außerdem in der Literatur darauf verwiesen, dass sich der Richter mangels demokratischer Legitimation bei der Fortbildung des Rechts nicht auf einen außerrechtlichen Maßstab berufen können soll, Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 30. Dieser Begründung ist zuzustimmen, allerdings sollte man erkennen, dass das Argument seit Einführung der Richterwahlausschüsse zumindest nicht mehr mit voller Überzeugungskraft Geltung beanspruchen kann. 229 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 159. 230 S. im Einzelnen Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 165 ff. 231 So sind etwa Gesetzesvorlagen der Bundesregierung auch im Hinblick auf die Gesetzesfolgen zu begründen, s. §§ 42 ff. der Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) v. 01.09.2000 in der Fassung vom 01.09.2011, abrufbar auf der Internetseite des Bundesministerium des Innern. 232 Eingehend Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 159 ff. 233 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 159 ff. 234 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 160. 235 Ausführlich Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 304 ff. sowie Röhricht, ZGR 1999, 445, 453 ff. und Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 175. 236 S. dazu Enders, in: Epping / H illgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 19 Rn. 2 ff.

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ihre Entscheidung starke Auswirkungen auf die übrige Praxis hat.237 Eine Rechtsfortbildung soll also sowohl dem konkreten Fall, als auch potentiellen weiteren Fällen möglichst gerecht werden. Gleichzeitig kommt verschärfend hinzu, dass sich eine Entscheidung aus dem Gesetz ableiten muss, ohne in den Spielraum des Gesetzgebers einzugreifen. Auch andere Entscheidungen – etwa aus anderen Fachrichtungen – können einengend wirken, weil der Richter sie in der Praxis beachten wird. Anders formuliert ist der Richter zwischen Einzelfallentscheidung und allgemeiner Programmsetzung im Korsett des Gesetzes und anderer Entscheidungen gefangen.238 Es verwundert nicht, dass Richter dazu neigen könnten, zugunsten einer „guten und allgemein praxistauglichen Regelung“ den bisherigen Willen des Gesetzgebers eher frei zu interpretieren, hinzubiegen oder ihn gar zu missachten. So kann es etwa dazu kommen, dass man bei genauer Betrachtung keinen korrekten Anhaltspunkt für eine aus Gerechtigkeitserwägungen als notwendig erachtete Rechtsfortbildung findet. Fehlt eine analogiefähige Vorschrift, wird der Richter u. U. dazu geneigt sein, eine Gesamtanalogie zu konstruieren, sich auf vielleicht nur schwache grundrechtliche Argumentationsmuster zu berufen oder gar nur allgemeine Rechtsprinzipien zu bemühen, um eine Rechtsfortbildung zu rechtfertigen.239 Auf der Kehrseite wird der Richter vielleicht sogar zu solchen Konstruktionen gezwungen: „Wegen der Bedeutung des Gesellschaftsrechts für die Volkswirtschaft kommt dem II. Senat des BGH durch sein Recht und seine Pflicht zur Rechtsfortbildung eine erhebliche Machtfülle zu. Diese vorausschauend auszuüben, ist seine vornehmste Pflicht“240 Vielleicht kam es deshalb auch zu einer Auflehnung gegen den Gesetzgeber.241 So hatte der BGH im Jahr 1984 Vorschriften zum Eigenkapitalersatzrecht (§§ 32a / b GmbHG, § 32  a KO, § 3 b AnfG jeweils a. F.) – die der Gesetzgeber erst zur Regelung kurz zuvor erlassen hatte – durch Beibehaltung seiner bisherigen Rechtsprechungslinie konterkariert. Letztendlich wird die Abwägung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Allgemeininteresse bzw. der Rechtssicherheit auf den Richter verlagert, ohne ihm eine rechtspolitische Entscheidung zu gestatten und „auszurüsten“. Führt man sich dieses strukturelle Problem vor Augen, so verblasst die weitere Problematik, dass es bei der Regelbildung zu einem bestimmten Sachverhalt, auch zu einer Verzerrung der Realität durch die Besonderheit des Einzelfalls kommen kann242 und es so womöglich zu falschen Schwerpunkten oder sonstigen misslichen Regelungen kommt. 237

Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 176; vgl. dazu z. B. § 132 Abs. 4 GVG. I.d.S. auch Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 120. Ein Beispiel bietet die Untersuchung von Schöpflin zur verdeckten Sacheinlage vor dem MoMiG, Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 66. 239 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 192. 240 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, Rn. 7. 241 S. zum alten Eigenkapitalersatzrecht BGH v. 26.03.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370; K. Schmidt, JZ 1984, 880, 881. 242 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 311 f.; so auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 161. 238

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In der Literatur wird zudem darauf hingewiesen, dass die Gefahr besteht, dass sich aufgrund der faktischen Bindungswirkung abstrakte Rechtsätze im Gerichtsystem fortsetzen können, obwohl diese ursprünglich und vom Erstgericht beabsichtigt, nur in einem besonderen Fall Geltung beanspruchen sollten.243 d) Genereller Ressourcenunterschied Richter können schon aufgrund des enormen Ressourcenunterschieds kein adäquater „Ersatzgesetzgeber“ sein.244 Mehrere Jahre Beratungen und Gutachten in komplizierten Fragen in einem Gesetzgebungsvorgang können nicht durch Richter in einem Bruchteil der Zeit und mit weitaus geringeren Mitteln umgesetzt werden.245 Zwar vermittelt das Richterrecht eine besondere Praxis- und Sachnähe. Das „lebendige Anschauungsmaterial“246 in Form des vielfältig auftretenden Fallmaterials vermittelt außerdem eine an den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs orientierte Möglichkeit der Normierung, die dem Gesetzgeber fehlen kann. Richter an den obersten Gerichten haben durch ihre langjährige Tätigkeit auch eine besonders erworbene Sachkunde in ihren Spezialbereichen.247 Dieses profunde Wissen kann zum Nutzen einer guten Rechtsfortbildung gebündelt werden.248 Allerdings wurde in der Literatur schon vor einiger Zeit festgestellt, dass das gesamte Gesetzgebungsverfahren von vielfältigen Begründungen, Beratungen und (z. T. öffent­lichen) Diskussionen gekennzeichnet ist249, bei dem eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen einfließen, wohingegen beim Richterrecht die Möglichkeit außerjuristische 243

Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 184 unter der Bemerkung „hard cases make bad law“. 244 Coing, JUS 1975, 277, 278; s. zur fehlenden Tatsachenkenntnis bei der Regelbildung Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 154 ff.; a. A. scheinbar Raiser, ZRP 1985, 111, 115 im Bezug auf das Arbeitsrecht. Dabei wird der Rechtsprechung aufgrund ihres flexibleren Instrumentariums mehr zugetraut als dem relativ anpassungsunfähigen Normen des Gesetzgebers. 245 Zum ganzen Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 154 ff.; da hilft es auch nicht immer weiter, dass man bei schwierigen Fragen auf die Literatur zurückgreifen kann, denn es gibt keinesfalls zu jedem Problem eine fertige herrschende Meinung auf die man sich stützen kann. Im Gegenteil: Oftmals erschafft die Literatur eine (alternative) Lösung für ein Problem erst nach dem Erlass eines Urteils. 246 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012 S. 312 f. 247 Zu diesem Thema und seinen Grenzen ausführlich Strohn, ZHR 178 (2014), 115. Diese Ansicht teilt Raiser, ZRP 1985, 111, 115. 248 Schönberger, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012 S. 313. 249 Man denke nur an die verschiedenen Möglichkeiten zur thematischen Auseinander­ setzung (Ausschüsse, Sachverständige, Experten in den Ministerien für den Gesetzesentwurf, Stellungnahmen von Verbänden, Beratungsgremien der Bundesregierung, parlamentarische Anhörungen, öffentliche Diskussion) im Gegensatz zur geheimen richterlichen Beratungen (§ 193 GVG).

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Tatsachenkenntnis und Sachverstand einzubringen deutlich begrenzt ist.250 Das gilt auch trotz der Möglichkeit Sachverständige einzubeziehen (s. etwa §§ 402 ff. ZPO), denn diese können das Informationsdefizit der Judikative kaum ausgleichen, in jedem Fall die umfassenden Beratungsmöglichkeiten im Gesetzgebungsprozess nicht ersetzen.251 Hinzu tritt die begrenzte Zeit für richterliche Entscheidungen – mag auch beim BGH die Möglichkeit der Investition von Arbeitskraft- und Zeit vorteilhafter sein als bei den Untergerichten. Gleichzeitig sind trotz hochqualifizierter Richter und wissenschaftlichen Personals im Vergleich zum Gesetzgebungsverfahren weniger Personen an der Fortbildung beteiligt, sodass Problemfelder leichter übersehen werden können. Teile der Literatur verneinen die strukturelle Unterlegenheit. So wird es nach einer Ansicht von der Materie abhängen, ob der Richter das bessere oder schlechtere Recht hervorbringt.252 In übersichtlichen und komplexen Bereichen ist man sich einig, dass der Gesetzgeber tauglicher „Ersatzgesetzgeber“ ist. II. Schwächen im Wirkungsstadium (Nachteilige Wirkungen auf die Rechtsordnung) Im Wirkungsstadium kommen solche Schwächen von richterlichen Rechtsfortbildungen zum Tragen, die negative Auswirkung auf die Rechtsicherheit haben.253 1. Vielzahl von komplexen Regelungen außerhalb der Kodifikation So hilfreich richterliche Regelungen mitunter sind und so förderlich sie manchmal für die Rechtsicherheit wirken, so problematisch können sie in Bezug auf diese sein.254 Die Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Erkennbarkeit255 in die Rechtsordnung ist eines der prägenden Prinzipien unserer Rechtsordnung und wird im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) als verankert angesehen.256 Schwerpunkt 250

Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 156 bzw. 158; Raiser, ZRP 1985, 111, 115. 251 Zur eingeschränkten Rolle des Sachverständigen s. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 159 f. 252 Raiser, ZRP 1985, 111, 115. S. dort auch zum Problem der (ggf. nur vermeintlichen) Überlegenheit der Richter gegenüber einem sehr knapp besetzten Ausschuss im Zusammenhang mit dem GmbH-Gesetz von 1980. 253 Auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 204 sieht die Rechtssicherheit insb. bei Rechtsfortbildungen als bedenklich an. 254 Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 120 f. 255 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 104 ff. 256 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2017, 122; E. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 26 Rn. 81.

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mäßig wird beim Richterrecht die sog. Orientierungssicherheit beeinträchtigt. Diese umfasst die Möglichkeit eines normgemäßen Verhaltens, sich also entsprechend den Vorgaben der Rechtsordnung zu verhalten.257 Für die Rechtsunterworfenen muss die Möglichkeit bestehen, die Rechtsinhalte zu erkennen und in gewissen Grenzen zu erwartende Rechtsfolgen vorherzusehen.258 Diese Forderung ist eng mit dem Kodifikationsgedanken der Rechtsordnung verwoben, denn geschriebenes Recht soll die Rechtssicherheit in einer Rechtsordnung stabilisieren, indem sie rechtliche Positionen vor staatlicher Willkür und richterlichen Innovationen absichert.259 Daran fehlt es aber, wenn richterrechtliche Regelungen gelten, die sich außerhalb einer Kodifikation befinden.260 Die Kodifikation wird regelrecht entwertet. Besonders bedenklich ist es daher im Hinblick auf das Erfordernis der Herstellung von Rechtssicherheit, die auch eine Vermeidung von Überforderung und Überraschung des Bürgers anvisiert,261 dass die geltende Rechtslage – analog zu sog. gesetzgeberischen Redaktionsversehen262 – nicht mehr im Gesetz zum Ausdruck kommt. Es bedarf umfassender Studien der Rechtsprechung und Kommentarliteratur, die eine Personen ohne juristische Kenntnis nicht zu leisten vermag.263 Auch im Hinblick auf eine Internationalisierung des Rechts ist eine entsprechende Entwicklung nicht förderlich. Es ist nicht einsichtig, wie sich eine ausländische Person ohne Hilfe von Dritten in bestimmten Bereichen im deutschen Recht orien-

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Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 197. Künzler, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit?, 2008, 221; s. auch Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, 131 ff. bzw. Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, 107. 259 S. dazu Hassemer: in Kaufmann / Hassemer / Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, 254 f. 260 Freilich können wiederum die Entscheidungen auch zur Rechtssicherheit beitragen, Zippe­lius, Das Wesen des Rechts, 5. Aufl. 1997, 108. Allerdings dürften die sogleich genannten Nachteile diesen Vorteil oftmals auch überwiegen. Zudem ist die Herstellung von Rechtssicherheit für eine Rechtsfortbildung nicht zwingend kennzeichnend. 261 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50: „Ohne ein Mindestmaß an solcher Verläßlichkeit bleibt das Handeln des Staates für den Bürger unvorhersehbar und damit sowohl unberechenbar als auch unverständlich; er müßte sich als Objekt einer für ihn willkürlich erscheinenden staatlichen Gewalt empfinden.“ 262 S. dazu Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 938. 263 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 199 ff.; ähnlich auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012a, S. 65: „Nicht selten setzt sich in der Praxis der Rechtsanwendung aber auch […] eine Lückenausfüllung durch, die nicht vom mehrheitlichen Konsens gebilligt ist, weil sie von der Mehrzahl der Rechtsgenossen nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Fortbildung unseres kompliziert und unübersichtlich gewordenen Rechts vollzieht sich weitgehend außerhalb des Blickfeldes und damit auch jenseits der aktuellen Billigung der Rechtsgemeinschaft. So geben für weite Gebiete des Rechts heute nicht mehr die im Volke herrschenden Rechtsauffassungen, sondern nur noch die Rechtsprechungskommentare Auskunft, wohin die Rechtsentwicklung gegangen ist“, wobei dieser Befund im Wirtschaftsrecht noch eher erträglich scheint. 258

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tieren soll. Unabhängig davon kann das Gesetz sogar irreführend wirken.264 Besonders deutlich wird dieser Umstand im Recht der GbR, denn die Gesellschaftsform liegt kodifikationstechnisch brach.265 Überall dort, wo das Gesetz nicht mehr im Stande ist, mit der durch Richterrecht mitunter seit Jahren geschaffenen Rechts­ situation mitzuhalten, steigen nicht nur der Bedarf an Rechtsberatung und dadurch verursachte Kosten an,266 sondern verliert das geschriebene Recht auch an Ausstrahlungskraft auf die Adressaten und Rechtsanwender. In gesellschaftsrechtlicher Hinsicht stellt K. Schmidt fest: „Das Recht der Personengesellschaften ist Resultat einer systematischen (Neu-)Ordnung, die sich in jahrzehntelanger Rechtsfortbildung zunehmend vom positiven Recht emanzipiert hat. Hierdurch hat die Legalordnung an Überzeugungskraft und an Anschlussfähigkeit für die Rechtsfortbildung verloren.“267 Neben dem schleichenden Verlust der Fähigkeit zu überzeugen, wird hier noch auf einen anderen Umstand hingewiesen: Werden Rechtsgebiete durch Richterrecht geprägt, gibt es unter Umständen keinen weiteren kodifizierten Anknüpfungspunkt mehr für notwendig werdende Fortbildungen, sondern es wird eine Rechtsprechungslinie und damit eine Art „Parallelrecht“ abseits der geschrieben Normen geschaffen. Auch hierdurch wird die Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das Argument, dass die rechtliche Stabilisierung durch Kodifikation der ohne Zweifel notwendigen praktischen, rechtlichen Flexibilisierung weichen muss, kann zumindest dort nicht greifen, wo eine Rechtsfortbildung als ständige Rechtsprechung keinen Widerhall im Gesetz findet.268 Weiterhin sei angemerkt, 264

S. bereits oben den Verweis auf Kübler / Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006 S. 265; dieser Befund dürfte auch für das aktuelle Recht der GbR zutreffen, wo die aktuelle Rechtslage sich nicht nur nicht im Gesetz widerspiegelt, sondern ihr sogar widerspricht, s. § 714 BGB: „[…] ist er im Zweifel auch ermächtigt, die anderen Gesellschafter (!) Dritten gegenüber zu vertreten.“ Servatius, in: Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 714 BGB Rn. 1 meint hierzu: „IÜ ist die im Wortlaut angelegte Konstruktion der Vertretungsmacht bei der GbR mittlerweile jedoch teilw. überholt: Bei der Außengesellschaft beansprucht die in § 714 geregelte ‚Vertretung der anderen Gesellschafter‘ keine Geltung mehr.“ 265 Fleischer, ZGR 2014, 107, 108: „Die §§ 705 ff. BGB befinden sich in einem deplorablen Zustand, der nach einer Reform an Haupt und Gliedern ruft“; zurückhaltende Formulierung bei Saenger in Bezug auf die Entscheidung zur Rechtsfähigkeit: Schulze / Dörner / u . a., Bürgerliches Gesetzbuch, 9. Aufl. 2017 § 705 Rn. 4: „Der Wandel in der Rspr verdient Zustimmung, da er den Bedürfnissen der Praxis entspricht und das Gesellschaftsrecht insgesamt harmonisiert. Mit dem Gesetzeswortlaut ist er freilich nicht an allen Stellen in Einklang zu bringen (vgl insb § 714; § 736 ZPO)“; positive Haltung zur generellen Abwesenheit des Gesetzgebers im GbR-Recht scheinbar bei Schücking, in: Gummert / Weipert, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1, 4. Aufl. 2014, § 1 Rn. 43 f.; Zu weiteren Schwierigkeiten s. K. Schmidt, NJW 2008, 1841; zum Reformbedarf auch Ulmer / Schäfer, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 6, 6. Aufl. 2017, Vor § 705 Rn. 26 ff. Ausführlich zu den „Grundlagenungewissheit des deutschen Gesellschaftsrechts“ Beuthien, NJW 2005, 855 ff. wobei die beschriebene Fortbildungsproblematik nicht unschuldig an dieser Lage ist. Im Übrigen wird dort auch ausführlich auf das GbR-Recht eingegangen. 266 Zu Recht darauf hinweisend Kübler / Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, 265. 267 K. Schmidt, ZHR 177 (2013), 712. 268 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2013 § 26 Rn. 81.

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dass die durch die Fülle an (nicht ausschließlich aber auch) rechtsfortbildenden Entscheidungen und darauf aufbauenden Verfeinerungen entstandene Komplexität aufgrund der Unübersichtlichkeit der Rechtsmaterie zu Unsicherheiten führt. Zu beobachten ist dieser Vorgang insbesondere auch im Gesellschaftsrecht.269 Einzelfallentscheidungen sind unübersichtlich und fügen sich nicht immer perfekt in die Gesetzessystematik ein, sondern oftmals nur in eine Entscheidungsreihe. Auch unter einer Vielzahl von Entscheidungen leidet die Übersichtlichkeit.270 2. Prognostizierungsdefizit Eng mit dem Normierungsdefizit verbunden, ist das Prognostizierungsdefizit.271 Entscheidungen sind regelmäßig schlechter prognostizierbar für die unternehme-

269

So ausdrücklich Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013 Rn. 8; Röhricht, ZGR 1999, 445, 476 ff.: „Jedenfalls haben wir alle, Rechtsprechung und Wissenschaft, Anlaß, uns gemeinsam kritisch zu fragen, ob das deutsche Gesellschaftsrecht […] nicht durch eine allzu große Nachgiebigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegenüber einer zu einseitig am Systemdenken orientierten Rechtswissenschaft und ihrem Perfektionierungsdrang inzwischen einen allzu hohen Verfeinerungsgrad erreicht hat, ob es nicht zu einem hochentwickelten – für sich allein genommen bewundernswerten – esoterischen Glasperlenspiel geworden ist, in seiner Komplexität und Schwerdurchschaubarkeit eine Freude der Eingeweihten und ihrer begabten alumni, denen es stets neue überraschende, den wissenschaftlichen Publikationsdruck mildernde Kombinationsmöglichkeiten bietet, ein Schrecknis dagegen für die in der Praxis Verantwortlichen und ihre Berater, für die sich das feingewebte, immer engmaschiger werdende Netz Beachtung heischender rechtlicher Regeln als ein schwer durchschaubares Gewirr von Fäden und Stricken darstellt, die im besten Fall nur mit beträchtlichem Aufwand an Zeit und Kosten zu entwirren sind, im schlimmeren Fall die dringend benötigte Bewegungsfreiheit einengen und Investoren abschrecken, im ärgsten Fall zu Fallstricken werden, die zum Sturz in eine der zahlreichen von Rechtsprechung und Wissenschaft ausgehobenen Fallgruben führen.“ Allgemeine Feststellung bei Schubert, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 2, 7. Aufl. 2016 § 242 Rn. 41: „Zu Zeiten eines ausgeprägteren Rechtspositivismus mag die Notwendigkeit bestanden haben, die Gerichte zur Erfüllung der gesellschaftlichen Regelungsaufgabe im Spannungsverhältnis von Stabilität und Dynamik zu ermutigen. Heute scheint in der Jurisprudenz – in der Rechtswissenschaft ohnehin – kein Mangel an Reformbereitschaft und innovativer Reflexion sowie an Wahrnehmung aktueller Probleme zu herrschen. Es droht eher die Gefahr, über die differenzierte Auseinandersetzung mit Einzelfragen oder das Bemühen um verfeinerte Interessengerechtigkeit den Blick für die Gesamtheit der Rechtsordnung zu verlieren. Das Anliegen der Rechtssicherheit, insbesondere der Einfachheit und Überschaubarkeit von Regelungen, muss inhaltlicher Gesichtspunkt in jeder Rechtsfortbildungsdiskussion sein. Es kommt nicht allein auf die immer bessere Problemlösung an, sondern auch darauf, ob der konkrete Zugewinn an materieller Verbesserung wirklich so groß ist, dass er die zunehmende Verkomplizierung und Verunsicherung aufwiegt.“ 270 So Mayer-Maly, JZ 1986, 557, 561, der in diesem Zusammenhang rechtsvergleichend auf die Arbeit von Watson, Sources of law, legal change, and ambiguity, 1984 hinweist. Dieser versucht die Unübersichtlichkeit des Richterrechts im angloamerikanischen Raum in den Griff zu bekommen. 271 Ausführlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 165 ff.

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rische Praxis, die Berater272 und auch für die am Prozess beteiligen Parteien als Gesetzgebungsverfahren.273 Die durch einen langen Prozess entwickelte Norm des Gesetzgebers ist dagegen mit fortschreitendem Prozess und Veröffentlichungen von z. B. Regierungsentwürfen wesentlich vorhersehbarer. Für die Vertragsgestaltung im Gesellschaftsrecht können besondere Schwierigkeiten aufgrund von Rechtsfortbildungen auftreten:274 Eine Rechtsfortbildung kann einer auf längere Zeit abzielenden Bestimmung in einem Gesellschaftsvertrag – die der Rechtsverkehr zur damaligen Zeit vorausgesetzt hat – den Boden entziehen.275 3. Auslegungsprobleme Auch die Auslegung von gerichtlichen Entscheidungen bereitet Schwierigkeiten. So wird man für eine durch Rechtsfortbildung geschaffene Regel keine ausführlichen Gesetzesmaterialien finden, sondern im schlechtesten Fall nur eine einzelne Entscheidung. Erst durch eine Entscheidungskette kann man mit mehr Bestimmtheit sagen, wohin der Trend geht.276 Oftmals möchte die Rechtsprechung sich auch Freiräume für Folgeentscheidungen bewahren, sodass sie mit generalklauselartigen Formulierungen arbeitet, um möglichen Sonderfällen in der Zukunft Rechnung tragen zu können. Ein solches Offenlassen führt gleichsam zu Auslegungsschwierigkeiten in der Praxis. Ähnliches gilt auch bereits bei „normalen Auslegungsfragen“. Beispielhaft stellt sich das Problem, ob der „Inhousejurist“ die Unabhängigkeitskriterien für den unverschuldeten Rechtsirrtum erfüllt. Unternehmen, die auf der sicheren Seite sein wollen, werden sich im Ernstfall externen Rat holen. Durch diese Umstände entstehen höhere Beratungs- und Transaktionskosten. So bestehen mitunter zu pauschale Regelungen, die sich schwierig konkretisieren lassen, ohne dass weitere Entscheidungen vorliegen. Unsicherheiten über die Auslegung von Richterrecht können zu erheblichen Problemen in der Rechtspraxis führen.277 Wie eine Entscheidung zu verstehen ist, ist nicht immer eindeutig und wird z. T. auch kontrovers diskutiert. Prominentes Beispiel bildet die ARAG / Garmenbeck

272

Claussen / Korth, in: FS Karl Beusch S. 111. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 121 spricht von einem „Hagelschlageffekt“; anderes gilt dagegen nach Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 127 für den Richter: „Da sich das Urteil nur auf den entschiedenen Fall auswirkt, ist der Richter der Prognoseschwierigkeiten enthoben, wie sie sich dem Gesetzgeber im Hinblick auf eine generelle Regelung stellen.“ 274 Rehbinder, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985, S. 47 f. m. w. N. 275 Rehbinder, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985, S. 48; darauf ebenfalls hinweisend Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 178. 276 S. zur Auslegung ausführlich oben 96. 277 Rehbinder, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985 S. 47. 273

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Entscheidung.278 Man kann hiergegen einwenden, dass auch über das Verständnis von Gesetzen gestritten wird, aber hier besteht der Vorteil erweiterter Auslegungsmöglichkeiten (Gesetzessystematik279, Gesetzesmaterialen etc.). 4. Vertrauensschutzaspekte Neben dem Aspekt, dass es bei der Fortbildung an einem förmlichen Gesetz­ gebungsakt fehlt, leidet mitunter auch in materieller Hinsicht die Rechtsicherheit, weil das Vertrauen einer unterlegenen Partei in das geschriebene Gesetz und ggf. auch das Vertrauen weiterer, durch die Entscheidung mittelbar Betroffener, erschüttert wird.280 Hier muss gesehen werden, dass bei Einhaltung der Gesetzesbindung ein solches Problem nur scheinbar besteht, denn die Gerichte entscheiden im Sinne des Gesetzes. Allerdings sind diese Entscheidungen oftmals so abstrakt und in ihrer konkreten Regelausformung nur undeutlich vorhanden, sodass eine unterlegene Partei nicht mit einer solchen Fortbildung rechnen konnte. Das ist insb. dann der Fall, wenn es um schwierige Abwägungsfragen zwischen Grundrechten geht. Es besteht auch regelmäßig keine Garantie, dass das Gericht wieder so entscheidet bzw. dass andere Gerichte diesem Vorschlag folgen. Richter sind aufgrund der oben dargestellten faktischen Bindungswirkung des Richterrechts (i. e. S.) u. U. dazu aufgefordert, zugunsten der Rechtssicherheit eine bestehende, weniger gelungene Fortbildung bestehen zu lassen, um nicht die Rechtssicherheit zu gefährden.281 III. Folgerungen Wie aufgezeigt, besteht eine Vielzahl von Problemen unterschiedlichster Graduierung und Schärfe.282 Es lassen sich Normierungs- und Wirkungsdefizite unterscheiden. Bei der ersten Kategorie wurde aufgezeigt, dass es z. T. verfassungsrechtliche Bedenken gegen Rechtsfortbildungen geben kann. Hier Maßstäbe zu entwickeln, die es einem Fachgericht ermöglichen, eine Fortbildung konform zum Grundgesetz zu betreiben, ist – lässt man den Gesetzgeber außer Betracht – zuvorderst Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Anwendbare und überprüfbare Kri 278 BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244; s. dazu Koch, NZG 2014, 934, 935 ff., wobei ausführlich über die Entwicklung der Auslegungsproblematik der Entscheidung referiert wird. 279 Jedenfalls bei einer oder wenigen Entscheidungen besteht die Möglichkeit einer „quasisystematischen“ Auslegung der Entscheidungskette gar nicht oder nur bedingt, denn oftmals werden bestimmte Formulieren von der Nachfolgeentscheidung bloß übernommen (s. o.). 280 Boemke / Luke / Ulrici, Fallsammlung zum Schwerpunktbereich Arbeitsrecht, 2008 S. 42. 281 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 178. 282 Die korrekte Sachverhaltsermittlung soll hier als Problem dahinstehen, da es sich dabei vorwiegend um prozessrechtliche Frage handelt, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden.

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terien sind ebenso Grundvoraussetzungen für ein (verfassungsrechtliches) Gelingen der Fortbildung wie deren Beachtung durch die fortbildenden Fachgerichte. Dass die Kontrolldichte engmaschiger wird, ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und kann durch den fortbildenden Richter nicht beeinflusst werden. Eng mit der Frage nach diesen Grenzen verbunden, ist die Problematik der verdeckten Rechtsfortbildungen und Gestaltungsspielräume. Methodenoffenheit und -ehrlichkeit, zu der auch eine entsprechende ehrliche und umfassende Begründung283 und ein Bekenntnis zur subjektiven Auslegungstheorie i. S. v. Rüthers zählt, können helfen,284 die Bindung an Gesetz und Recht zu wahren. Sie steigern die Wahrscheinlichkeit, dass eine Rechtsfortbildung gelingt und sich nicht der Kritik aussetzt, verfassungsrechtlich und methodisch bedenklich zu sein, weil sie am gesetzgeberischen Willen vorbeiläuft. Damit in Beziehung steht letztlich der geringe Gestaltungs- und Argumentationsrahmen, der sich wie dargelegt ausschließlich auf rechtliche Argumente stützen darf und daher sonstige Argumente ausklammern muss. Es kommt damit letztlich wieder auf die angesprochene Methodenehrlichkeit an, die auch fordert, dass sich die rechtlichen Argumente aus der Verfassung bzw. dem Gesetz ableiten lassen und nur solche Argumente auch in die richterliche Abwägung mit einbezogen werden. Es fordert weiter, dass diese Kernargumente auch in der Begründung auftauchen. Das Spannungsfeld aus Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungswirkung auf die Rechtsordnung lässt sich nicht auflösen. Hier muss am konkreten Fall eine Abwägung getroffen werden, welches der genannten Kriterien im konkreten Fall überwiegen soll. Im Gegensatz dazu ist das Legitimationsdefizit letztlich der Preis für eine hohe Flexibilität, die ein Rechtsproblem dort lösen kann, wo es auftaucht und dem Streben nach (Einzelfall-) Gerechtigkeit genügt. Zudem besteht für den Richter in der konkreten Situation keine Möglichkeit, dieses Defizit auszugleichen, außer dass er seine Entscheidung aus dem Gesetz ableitet und sich so auf den demokratisch gewählten Gesetzgeber stützen kann („verlängerter Arm“). Ähnlich verhält es sich mit der angeprangerten, schleichenden Kompetenzverschiebung. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, für eine ausreichende und qualitativ hochwertige Regelungsdichte zu sorgen, andererseits sollte der Richter in bestimmten Fällen richterliche Zurückhaltung wahren. Bzgl. der Anlassbezogenheit besteht keine Möglichkeit der Einflussnahme, denn der Richter hat es im Grundsatz nicht in der Hand, gerichtliche Verfahren einzuleiten. Der z. T. enorme Ressourcenunterschied lässt sich zwar nicht beheben, aber verstärkte Weiterbildungen der Richter (auch und im nichtjuristischen Bereich) können helfen, hier zumindest etwas für Linderung zu sorgen. Es zeigt auch, dass Fortbildungen bei unübersichtlichen und komplexen Materien in der Regel zu unterbleiben haben und eine Entwicklung der richterlichen 283

Zur Forderung nach Offenlegung der wahren Entscheidungsgründe: Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 40 m. w. N. in Fn. 68. 284 Kritisch insb. Christensen / Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, 28 ff.

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Regel möglichst nur am Fall stattzufinden hat.285 Das hat auch Vorteile für die Auslegung einer Entscheidung, weil sich die Regel nicht im „luftleeren Raum“ befindet. Kennzeichen einer eher misslungenen Fortbildung ist daher, dass sie in einem komplexen Bereich stattfindet und pauschalisierte, vom Fall losgelöste Aussagen trifft. Bei den Wirkungsdefiziten lässt sich das Manko der Vielzahl von komplexen Regelungen außerhalb der Kodifikation nur mithilfe richterlicher Zurückhaltung und der Normierung von (ggf. richterlichen) Regelungen bekämpfen. Das Defizit der Vorhersehbarkeit ist ebenso wie das Legitimationsdefizit der Preis für Flexibilität. Auslegungsprobleme lassen sich durch unterschiedliche Maßnahmen bekämpfen: Zum einen mithilfe einer genauen Formulierung und Konturierung einer richterlichen Regelung und ihrer Begründung, die auch bei einer erstmaligen Fortbildung die Möglichkeit bietet, die Regelung richtig zu abstrahieren. Zum anderen durch eine gute Methode der Auslegung von Entscheidung,286 die aber – bis auf die obigen Grundzüge – nicht Gegenstand dieser Arbeit sein soll. Hinsichtlich des Vertrauensschutzes bei Folgeentscheidungen bedarf es einer Abwägung. So wird der Richter zu entscheiden haben, ob der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder dem Änderungsinteresse an der Rechtslage der Vorzug gebührt. IV. Erweiterte Arbeitsdefinition Ich habe oben formuliert, dass Kennzeichen einer gelungenen Fortbildung die Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Anwendung der herrschenden Fortbildungstheorie und im Weiterdenken der gesetzgeberischen Grundentscheidungen liegt und an deren Ende sich ein Entlastungs- und Stabilisierungseffekt für Gesetzgeber und Rechtspraxis einstellen soll. Diese Arbeitsdefinition war insofern noch unvollständig, als dass angekündigt wurde, dass sie um weitere methodische Standards ergänzt werden muss. Ich kann diese sonstigen Voraussetzungen nun wie folgt konkretisieren: Bei der Fortbildung müssen die vom BVerfG aufgestellten rechtsstaatlichen Grenzen der Rechtsfortbildung beachtet werden, die Fortbildung sollte sich möglichst nicht in einem komplexen, unübersichtlichen Bereich befinden, den besser der Gesetzgeber geregelt hätte, und eine Entwicklung der richterlichen Regel sollte möglichst nur am Fall stattfinden. Sie muss methodenehrlich sein, d. h., unzulässige Argumente werden nicht hinter zulässigen getarnt (Ehrlichkeitsgebot) und die Entscheidungsbegründung enthält alle auch wirklich bei der richterlichen Entscheidungsfindung berücksichtigten Kernargumente (Vollständigkeitsgebot).287 Dazu zählt auch, dass die Argumente für eine Fortbildung 285

ebenso Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 48. Eine solche müsste dann etwa dem Umstand Rechnung tragen, dass entgegen der herrschenden Meinung auch hier eine Konkretisierung im juristischen Diskurs stattfindet. Auch hier kann man also die Gedanken der Strukturierenden Rechtslehre übertragen. 287 Ähnlich auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 41. 286

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aus dem Gesetz abgeleitet werden. Der Richter wird nur als „verlängerte Arm“ des Gesetzgebers betrachtet, der im „denkenden Gehorsam“ handelt. Genaue Formulierungen und Konturierungen einer richterlichen Regelung und ihrer Begründung, die auch bei einer erstmaligen Fortbildung die Möglichkeit bietet, die Regelung richtig zu verstehen, sind wünschenswert. Ebenso ist ein Kennzeichen für eine gute Fortbildung, dass eine Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Interesse an einer Änderung der Rechtslage stattgefunden hat. Ist der materielle Gewinn so groß, dass eine negative Beeinflussung der Rechtssicherheit hingenommen werden kann oder er gar aufgewogen wird, rechtfertigt die neue Regel eine Verkomplizierung des Rechts und eine Nichtkodifizierung. Die Richter haben somit eine Abwägung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungswirkung auf die Rechtsordnung (Allgemeininteresse) vorzunehmen.

§ 8 Die Erweiterung der Arbeitsdefinition durch Literatur A. Literatur Immer wieder wird in der Literatur ausdrücklich bei verschiedensten Sachthemen die Frage gestellt, wann eine Fortbildung als gelungen bezeichnet werden kann.288 Auch wenn keine ausdrückliche Stellungnahme erfolgt, so geht es bei einer Entscheidungsbesprechung doch im Grundsatz immer um eine dahingehende Bewertung. Im Folgenden wird ein Überblick über die in der Literatur auffindbaren Kriterien gegeben, die Autoren explizit oder implizit für ihre Stellungnahme herangezogen haben. I. Karl Larenz Wir haben gesehen, dass die Bedeutung des Richterrechts enorm ist und daher eine Fehlervermeidung per se wichtig ist. Karl Larenz hat in diesem Zusammenhang – soweit ersichtlich – als Erster die Frage aufgeworfen, welche Anforderungen an das Gelingen einer richterlichen Rechtsfortbildung gestellt werden können. Er hat hierzu in seinem Aufsatz mehrere Kriterien herausgearbeitet, die eine qualitative Aussage ermöglichen sollen, ob eine Rechtsfortbildung als „geglückt“ bezeichnet werden kann. Den Beweggrund für seine Themenwahl sieht Larenz im Folgendem: Immer wieder tauchen Diskussion darüber auf, ob es eine Fortbildung 288

Veil / Werner, GmbHR 2009, 729 ff.; Schöpflin, GmbHR 2003, 57 ff.; Looschelders, VersR 1999, 666 ff.; Fezer, WRP 1993, 565, 572; Flume, DB 1998, 45 ff.; Oetker, in: Hönn / Konzen / K reutz, Festschrift für Alfons Kraft zum 70. Geburtstag, 1998, 429 ff.; Häublein, in: Altmeppen / Fitz / Honsell, Festschrift für Günther H. Roth zum 70. Geburtstag, 2011, 221 ff.; Küper, in: Richterliche Rechtsfortbildung, 1986, 451 ff.; Nirk, in: Hefermehl / Nipperdey, Festschrift für Philipp Möhring zum 65. Geburtstag, 4. September 1965, 1965, 385; Wiegand, in: Crone / Weber / Zäch / Zobl, Neuere Tendenzen im Gesellschaftsrecht, 2003, 33, 36.

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verdient, sie als gelungen zu bezeichnen. So finden sich etwa bei einer höchstrichterlichen Fortbildung bald unzählige Stellungnahmen im Schrifttum darüber, ob man die Entscheidung als richtig erachtet oder ihr in einem bestimmten Umfang Mängel vorwirft. Nun könnte man annehmen, dass man einfach abwarten muss, bis sich zu der Entscheidung eine „herrschende Meinung“ herausgebildet hat. Das einfache Abstellen auf den „consensus omnium“ in einem Rechtskreis wird von Larenz als wenig hilfreich erachtet.289 Diese „Übereinstimmung aller“ von der Richtigkeit einer Fortbildung sieht er als das Ergebnis einer bereits vorgenommenen Bewertung an, die z. T. in Gewohnheitsrecht oder in eine Kodifizierung erwachsen kann. Er erkennt dabei, dass dieser Bewertungsakt seinerseits Kriterien erfordert, mit deren Hilfe man die Qualität überprüfen kann: Solche inhaltlichen Qualitäten muß es aber geben, wenn die Kritik und die Verteidigung einer Neuschöpfung einen Sinn haben sollen. Könnten wir diese Qualitäten angeben, so hätten wir einen Maßstab gefunden, an dem sich nicht nur die Kritik, sondern auch die Überlegungen, die zu einer Rechtsfortbildung führen, ausrichten können“290 Larenz sieht in solchen Überlegungen also einen doppelten Nutzen: (1) Zunächst geht es um die Frage einer Nachbetrachtung, einem ex-post Urteil über die bereits erfolgte Rechtsfortbildung („Bewertung von Richterrecht“). (2) Außerdem deutet er einen zweiten Sinn an: Die Kriterien können genutzt werden, um dem Richter inhaltliche Maßstäbe an die Hand zu geben, mithilfe derer er seine erst in Aussicht genommene Fortbildung auf ihre Qualität messen kann.291 Larenz begeht bei seinen Vorüberlegungen aus heutiger Sicht einen Fehler. Entgegen seiner damaligen Auffassung wird hier angenommen, dass die Frage nach einer gelungenen Fortbildung sehr wohl eine verfassungsrechtliche Frage ist, die sich mit anderen rechtstheoretischen, methodologischen und ggf. auch anderen Überlegungen292 verbindet.293 Dennoch ist seine weitere Feststellung richtig, dass niemand behaupten könne, dass eine richterliche Fortbildung allein deswegen „geglückt“ sei, weil der Richter zur Fortbildung berufen war.294 Die Frage geht also nach hier vertretener Ansicht noch über die verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte hinaus, wenn sich auch m. E. viele Anforderungen als „verfassungsrechtlich aufgeladen“ darstellen werden. Folgende Kriterien sieht Larenz für die Bewertung als maßgeblich an, ohne ihre Herleitung näher zu begründen. Er entwickelt sie aus einer empirischen Betrachtung heraus und erhebt wohl auch deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit.295

289

Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 4. Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 4 f. 291 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40 ff. spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von der „Entwicklung von Richterrecht“. 292 Etwa wirtschaftlichen oder sozialen Kriterien, die hier aber ausgeklammert werden s­ ollen. 293 A. A. Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 4. 294 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 4. 295 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 14. 290

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1. Klar formulierte und bestimmte Regel Es muss eine Regel aufgestellt werden, die auf typische Fälle gleichmäßig angewandt werden kann. Der Falltypus muss daher so gekennzeichnet sein, dass die Entscheidungen nachprüfbar sind. Es genügt nach Larenz nicht, den Tatbestand der Regel  – durch Wendungen wie „schlechthin unerträgliches Ergebnis“ oder „schlechthin unzumutbar“ – dem subjektiven Ermessen des jeweils Urteilenden anheim zu stellen.296 Es geht hier also um eine solch konkrete und ausgeformte Formulierung der Regel, dass möglichst weitestgehend erkennbar wird, welche Fälle darunter fallen sollen und welche Folgen sich daraus ergeben. Vage oder generalklauselartige Formulierungen seien dementsprechend zu vermeiden.297 2. Ableitbarkeit aus dem Gesetz bzw. einem materiellen Rechtsprinzip Die Verbindung dieser Rechtsfolge mit diesem Tatbestand muss aus rechtlichen Erwägungen begründet sein. Die Regel muss ein materiales Rechtsprinzip so verwirklichen, dass sie aus diesem einsichtig gemacht werden kann; sie darf nicht nur den Charakter einer bloßen willkürlichen Festsetzung tragen.298 Zwischen einer genauen Festlegung i. S. e. möglichst genauen Formulierung (Regel 1) und der Ableitbarkeit aus rechtlichen Erwägungen (Regel 2) kann es nach Larenz zu Kollisionen kommen. So kann es zwar sein, dass Regel 1 erfüllt wird, also eine Fortbildung sehr genau formuliert ist, diese aber den Charakter einer willkürlichen Festsetzung trägt. Hier soll der Richter auf einer Rechtsfortbildung besser verzichten.299 3. Fallnähe Die Regel und das dahinterstehende Rechtsprinzip sollen möglichst nur am zugrundeliegenden Fall konkretisiert werden, denn es ist nach Larenz nicht Sache des Richters, für „hypothetische Fälle“ Normen aufzustellen.300 Diese Regel zählt Larenz zwar nicht ausdrücklich in seiner Zusammenfassung auf,301 sie soll hier aber aufgrund ihrer noch darzustellenden hohen Bedeutung bereits erwähnt sein.

296

Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 8 f. (Zusammenfassung auf S. 13). 297 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 9. 298 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 12 (Zusammenfassung auf S. 13); Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40. 299 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 12. 300 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 12. 301 Vgl. Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 13.

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4. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung Die Regel muss sich in das gegebene Ganze der Rechtsordnung bruchlos einfügen lassen; die innere Übereinstimmung der Rechtsordnung muss also gewahrt bleiben. Widersprüchliche Konstruktionen oder der Missbrauch von Rechtsinstituten für deren Sinngehalt widersprechende Zwecke sind folglich einer gelungenen Rechtsfortbildung abträglich.302 5. Überprüfung der Kriterien Diese vier Kriterien bilden für Larenz den Maßstab für die Überprüfung einer gelungenen Fortbildung. Lassen sich nun Larenz’ Kriterien für eine gelungene Fortbildung aus den bereits aufgezählten Schwächen herleiten, und helfen sie vielleicht, die Lösung dieser Probleme zu erleichtern? Bei der ersten Regel ging es Larenz um die Vermeidung von generalklauselartigen Formulierungen, also im Umkehrschluss um eine möglichst konkrete und ausgeformte Regel, sodass weitestgehend erkennbar wird, welche Fälle unter sie fallen sollen und welche Folgen sich daraus ergeben. Diese Regel setzt also bei den Problemen der Entscheidungsauslegung an: Eine nachvollziehbare und konkret formulierte richterliche Regelung ermöglicht eher eine gleichmäßige und gleichförmige Entwicklung der Rechtsprechung. Sie ist letztlich ein Garant für Rechtssicherheit, da der Rechtskreis die Folgen besser vorhersehen kann als bei bloßen „Leerformeln“.303 Die zweite Regel erfordert die Ableitbarkeit der richterrechtlichen Regelung aus rechtlichen Erwägung. Diese Anforderung setzt sogleich an mehreren Stellen an: Zum einen hat sie verfassungsrechtliche Bedeutung, da die Gesetzesbindung mit der herkömmlichen Ansicht und bei Einhaltung dieser Voraussetzung gewahrt bleibt und willkürliches staatliches Handeln vermieden wird. Gleichzeitig bewirkt sie, dass unzulässige Argumente (z. B. politischer Art) ausgeklammert werden. Sie erleichtert die Auslegung der Entscheidung, da man als weiteren Referenztext auf das Gesetz und ggf. dazugehörige Kommentierungen etc. zurückgreifen kann, um die rechtliche Argumentation des Gerichts nachvollziehen zu können. Die dritte Regel verlangt, dass eine richterliche Regel möglichst nur am und in Bezug auf den konkreten Fall entwickelt wird. Damit ist es zum einen möglich, den Ressourcenunterschied ggf. etwas zu relativieren (s. o.), weil sich die Thematik für den Richter aufgrund eines konkreten Sachverhalts in aller Regel weniger komplex darstellt als beim Auf-

302

Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 7 f. (Zusammenfassung auf S. 13); i.d.S. auch Flume, DB 1998, 45, 46, wenn er von einer gelungenen Rechtsfortbildung spricht, indem eine gesetzliche Regelung einer Rechtsfigur fortgedacht wurde; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40; vgl. auch Tolani, „Teilrechtsfähigkeit“ von Personenvereinigungen, 2009, 72. 303 Auch die geforderte Methodenoffenheit und -ehrlichkeit trägt zur Erfüllung dieser Regel bei.

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stellen einer abstrakten Regel.304 Zum anderen besagt Larenz’ vierte Regel, dass sich das Richterrecht in das gegebene Ganze der Rechtsordnung bruchlos einfügen muss. Es darf damit grob gesprochen nicht zu inneren Widersprüchen kommen. Dabei kann man unterscheiden, dass sich einerseits eine richterrecht­liche Regelung nicht in Widerspruch zu höherrangigen Normen setzen darf, womit neben den Gesetzen auch wieder die Verfassung und die Gefahr einer Verletzung von deren Grundsätzen gemeint ist. Andererseits darf sie auch nicht zu einer Erschütterung von Normkomplexen führen, ohne dass höherrangige Normen verletzt werden. Gemeint sind damit Konstruktionen, die einen aufeinander abgestimmten Normkomplex aus dem Gleichgewicht bringt, z. B. indem dortige Normen konterkariert werden. Diese Forderung berücksichtigt damit die Schwäche, dass der Richter aufgrund seiner schlechteren Ressourcen und seines geringeren Spielraums der schlechtere Gesetzgeber ist und daher eine Regel nur dann aufstellen sollte, wenn sie sich in die Rechtsordnung systemgerecht einfügt. Larenz’ Kriterien wirken in der Gesamtbetrachtung daraufhin, einigen Schwächen von Richterrecht entgegenzuwirken und zu einem gelungen Richterrecht beizutragen. 6. Konkretisierende Gedanken zu Larenz’ Kriterien a) Klar formulierte und bestimmte Regel Bei dieser Regel geht es um eine möglichst genaue Umschreibung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Der Rechtskreis muss in die Lage versetzt werden, aufgrund der Interpretation des Urteils zu einer weitgehend einheitlichen Beurteilung der Rechtslage zu kommen. Diese Notwendigkeit ist für eine gleichmäßige Rechtsprechung und für die Rechtssicherheit im Allgemeinen evident. Wie konkret eine Regelung sein muss, hängt davon ab, ob die Richter sich aufgrund der Unvorhersehbarkeit weiterer auftretender Fälle einen Spielraum belassen wollen, um die Entwicklung einer Fortbildung nicht vorzeitig abbrechen zu müssen und sich letztlich der Gefahr auszusetzen, später gar eine Rechtsprechungskorrektur vorzunehmen. Die Richter haben dabei also letztlich eine Abwägung von Konturschärfe (Entwicklungsgeschlossenheit) und Konturlosigkeit (Entwicklungsoffenheit) der Regelung zu treffen, wobei eine gewisse Offenheit für Billigkeitsrechtsprechung begründbar sein muss. Offene, unbestimmte Regelungen können daher nur als gelungen bezeichnet werden, wenn die Richter keine anderen Möglichkeiten hatten, eine konkretere Regelung zu formulieren, sei es, dass die in Zukunft auftretenden Fälle gar nicht vorhersehbar sind oder aber man vorhersehen kann, dass Flexibilität aufgrund der Natur der besonderen Fallkonstellationen unumgänglich ist. Generalklauselartige Formulierungen sind damit nur in Ausnahmefällen zulässig.

304

Freilich läuft man damit aber wiederum Gefahr, das Sichtfeld zu verengen.

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b) Ableitbarkeit aus der Rechtsordnung Bei diesem Punkt geht es darum, dass die richterliche Regelung aus der vorhandenen Rechtsordnung begründbar sein muss. Es muss also einsichtig gemacht werden können, dass es sich bei der Ableitung nicht um die willkürliche Setzung eigener Vorstellungen handelt. Die Schaffung einer Regel oder gar neuer Rechtsinstitute ohne „gesetzliche Regelungsmuster“305 ist abseits von verfassungsrechtlichen Bedenken nicht wünschenswert für eine gelungene Fortbildung. Letztlich geht es damit um die Einhaltung der Gesetzesbindung306 und wiederum um die Frage, auf welchen Weg man zu einer Regelung gelangt (Auslegungstheorie). Geht es also etwa um die historische Normzweckforschung oder aber um eine Rechtskonkretisierung i. S. der Strukturierenden Rechtslehre mit dem grds. vorrangigen normtextnäheren Argument oder um eine andere Theorie. Weil diese Frage bereits an anderer Stelle erläutert wurde, reicht der Hinweis, dass es für die Ableitbarkeit mit der wohl herrschenden subjektiven Theorie i. S. v. Rüthers auf den vom Gesetzgeber niedergelegten Sinn und Zweck ankommt. Es muss daher richtig formuliert und einsichtig gemacht werden können, dass der Gesetzgeber eine fehlende Regel in der anvisierten Form möglicherweise erlassen hätte, weil andere Normen in diese Richtung weisen. Für den Analogieschluss dient als Nachweis dafür eine Norm, die einen ähnlichen Fall regelt und dass beide Fälle eine vergleichbare Interessenlage aufweisen, sodass die Annahme gerechtfertigt ist, der Gesetzgeber hätte entsprechend der anvisierten richterlichen Regelung entschieden.307 Als besonders problematisch stellen sich für diesen Punkt die bereits angesprochenen Gesamtanalogien dar, die auch später beim Delisting eine besondere Rolle spielen.308 Darunter wurde eine Analogie verstanden, bei der aus unterschiedlichen Normen ein allgemeiner Gedanke extrahiert wird (Induktionsschluss), um dieses entwickelte Prinzip auf einen ungeregelten, aber vergleichbaren Fall anzuwenden (Deduktionsschluss).309

305

Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 192. Sicherlich lässt sich auch vertreten, dass es Aufgabe der Lückenfeststellung und -schließung ist (s. o.), diese Voraussetzung einzuhalten, sodass man sie nicht noch einmal extra erwähnen müsste. Allerdings auch nur dann, wenn man eine gesetzesimmantene Rechtsfortbildungstheorie vertritt und nicht, wie etwa Larenz und Canaris, Rechtsfortbildungen aufgrund „der Natur der Sache“ oder eines „Rechtsprinzpis“ anerkennt. 307 In diese Richtung auch Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 889. 308 Im Gesellschaftsrecht erfreut sich die Gesamtanalogie einiger Beliebtheit, s. Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409 (auch zum Delisting). Zum Thema Gesmtanalogien s. auch Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017 S. 228 ff. 309 Vgl. auch Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409: „Es wird ein vom Wortlaut des Gesetzes gedeckter Grundgedanke herausgestellt, der dann auf einen vom Gesetz nicht erfassten Sachverhalt bei Wertungsgleichheit erstreckt wird.“ 306

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

Einzelnormen Induktionsschluss

Allgemeiner Rechtsgedanke

Deduktionsschluss

Einzelnorm für konkreten Sachverhalt

Zu Recht wird in der Literatur festgestellt, dass unter Bezug auf die Rechtsordnung als Ganzes, die Rechtsidee oder die Gerechtigkeit einer solchen Analogie unzulässig ist.310 Solche Größen werden dort zu Recht als nicht handhabbar bezeichnet. Auf der anderen Seite sind auch solche Gesamtanalogien bedenklich, die die Kerngedanken verschiedener Einzelnormen zur Begründung heranziehen.311 Denn hier besteht die nicht unwahrscheinliche Gefahr, dass es bei der Konstruktion nicht mehr um das Weiterdenken von gesetzlichen Regelungen geht, sondern um die Verwirklichung eigener Ordnungsvorstellungen.312 Das hat folgenden Hintergrund: Leitet man im ersten Schritt mittels Induktion aus verschiedenen Einzelnormen einen allgemeinen Rechtsgedanken her, so besteht wie bei jeder Analogie die Gefahr einer (absichtlichen oder ungewollten) Missinterpretation. Normen werden nach Belieben herangezogen („Puzzle“) und es wird vom Ergebnis her gedacht. Der Unterschied zur einfachen Analogie ist, dass sich der Interpretationsspielraum mit der Heranziehung von vielen verschiedenen Normen erweitern kann. Man entfernt sich beträchtlich von den einzelnen Normtexten. Anderseits gestaltet sich als zweiter Schritt die Ableitung konkreter Normen aus einem allgemeinen Rechtsgedanken als schwierig. Der Richter wird ersichtlich leichter zum Ersatzgesetzgeber als bei der „einfachen“ Analogie. Im Zweifel kann so eine Konstruktion insgesamt gar willkürlich erscheinen. Eine solche Feststellung steht der Einordnung der Fortbildung als gelungenen entgegen. Ähnlich verhält es sich mit der Ableitbarkeit von konkreten Rechtsregeln aus abstrakten, materiellen Rechtsprinzipien.313 Ein solches Vorgehen ist aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklich, denn an Stelle von konkreten Regelungen wird ein allgemeiner Leitgedanke als Basis für dieses Kriterium genommen, dessen Nachprüfbarkeit, insbesondere auf dem Boden einer subjektiven Auslegungs- und Fortbildungstheorie, nicht gegeben ist. Larenz sollte – sofern er in diesem Punkt so zu verstehen ist – nicht gefolgt werden.314 Es kann also bei diesem Grundsatz allenfalls um die Ableitbarkeit einer Regel aus der geschrieben Rechtsordnung unter Berück-

310

Müller / Christensen, Juristische Methodik, 11. Aufl. 2013, 371. Kritisch Wiedemann, NJW 2014, 2407, 2409. 312 So beeinflusst schon die Auswahl der Normen erheblich das Ergebnis. 313 S. dazu näher die Umschreibung von Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 4 Fn. 9. 314 Vgl. auch die Kritik bei Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, 162 f. 311

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sichtigung allgemeiner Rechtsprinzipien gehen. Rechtsprinzipien wie auch Wer­ tungen315 dienen nur der Anpassung einer Regel, nicht ihrer konkreten Ableitung. Reservebegründungen, d. h. Begründungen, die für die Entscheidung denkbar wären, aber nicht verwendet wurden, müssen bei der Bewertung einer Entscheidung an dieser Stelle außer Betracht bleiben („strenge Theorie der Reservebegründungen“). Dafür spricht, dass ein Gericht mit der herkömmlichen Ansicht Recht erkennt und letztlich verbindlich feststellt. Anderweitige Begründungen entfalten dann keine Bindungswirkung. Sie tauchen in gerichtlichen Entscheidungen nicht auf und sind daher außer Betracht zu lassen. c) Regelkonkretisierung am Fall Diese Regel folgt letztlich aus den verschiedenen strukturellen Normierungsdefiziten, denen der Richter unterliegt. Der Richter sollte sich auf den konkreten Fall und seine Besonderheiten konzentrieren und mit pauschalierenden Aussagen zurückhalten sein, weil sonst eine zu schnelle Festlegung stattfindet, die der Richter aufgrund seiner unterlegenen Stellung nicht wie ein Gesetzgeber abschätzen kann. Kritisch zu betrachten ist dieser Punkt allerdings mit Blick auf die Regel, dass eine Fortbildung möglichst nahliegende Folgefragen, zu denen ein enger Sachzusammenhang besteht und die sich quasi aufdrängen, mitbeantworten soll, weil anderenfalls die Rechtssicherheit leiden kann. Der Richter muss für eine gelungene Regel auch berücksichtigen, sich nicht zu schnell festzulegen, weil er sonst die Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit einer Regel zu schnell preisgibt. Hier muss eine Abwägung zwischen der Rechtssicherheit durch Zurückhaltung und Handeln getroffen werden. Als bedeutend wurden hier solche Folgefragen eingeordnet, die die entwickelten Regeln unanwendbar machen, weil ein Teil fehlt oder unklar formuliert ist oder aber – der wohl eher aufzufindende Verstoß – dass auf Tat­ bestands- bzw. Rechtsfolgenebene ein Problem übersehen wurde, dessen Regelung die gleichmäßige und rechtssichere Anwendung der richterlichen Fortbildung bedürft hätte. Für eine gelungene Regel ist daher Voraussetzung, dass der Richter die Regel in einer Form erlassen hat, die die Rechtssicherheit unter den genannten widerstreitenden Interessen zur Geltung bringt. d) Das bruchlose Einfügen einer Regel in das Rechtsystem Es gibt zwei Möglichkeiten, Larenz’ dargelegte Anforderung eines bruchlosen Einfügens näher zu konkretisieren. Zum einen kann man auf die Widerspruchs-

315

So spricht etwa Herresthal, in: Tanja / S. Dörr / Hoffmann-Nowotny / Vasella / Zelge, Einheit des Privatrechts, komplexe Welt: Herausforderungen durch fortschreitende Spezialisierung und Interdisziplinarität, 2009, S. 157 f. auch von der Rückbindung von Normen an Wertungen.

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freiheit der Rechtsordnung als Mindestanforderung abstellen.316 Weiter kann man darunter eine „Systemgerechtigkeit“ verstehen, die eine Fortbildung aufweisen sollte. Diese geht noch über die zuerst genannte Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung hinaus.317 Ferner darf eine Fortbildung selbstverständlich nicht gegen das Gesetz (z. B. Analogieverbot) oder die Verfassung (Verfassungswidrigkeit) verstoßen, da dieser Umstand einer Einordnung als gelungen zwingend entgegensteht. aa) Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung Das BVerfG erkennt das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung an (Einheit der Rechtsordnung) und leitet sie aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ab.318 Es fordert grob umschrieben, dass alle rechtsetzenden Organe die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen haben, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.319 Es ist damit ein rechtsstaatliches Gebot.320 Welche der einen Widerspruch begründenden Regelungen zu weichen hat, bestimmt das BVerfG grundsätzlich nach dem Rang, der Zeitenfolge und der Spezialität der Regelungen.321 Als Argumentationsfigur ist dieser Grundsatz eher für Gesetze geschaffen – als Adressat steht daher der Gesetzgeber im Mittelpunkt.322 Äußerungen in der Literatur in Bezug auf das Richterrecht sind kaum vorhanden, sodass zunächst unklar ist, ob auch das Richterrecht dieser Anforderung genügen muss. Zumindest nach einer Stimme sollen auch Sätze des Richterrechts umfasst sein.323 Die Wahrung dieses Grundsatzes obliege nicht nur dem Gesetzgeber, sondern sei auch Aufgabe des Rechtsanwenders.324 Letztlich wäre in der Anerkennung auch ein konsequenter Schritt zu sehen, denn wenn auf Grundlage der herrschenden Meinung das BVerfG for 316

Ebenso Becker, Absurde Verträge, 2013, 159. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 252. 318 S. z. B. BVerfG, Beschluss v. 03.06.2004 – 2 BvR 1802/02, BeckRS 2004, 22933; BVerfG, Urteil v. 07.05.1998 – 2 BvR 1991/95 und 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106, 118 ff.; Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018 (Stand: 54. Erg.-Lf.), § 91 Rn. 67; Sodan, JZ 1999, 864, 865.; zum Ganzen s. auch Hanebeck Der Staat 2002, 429 ff. Die Herleitung kann auf vielfältige Weise vorgenommen werden. S. Sodan, JZ 1999, 864, 866 ff. 319 BVerfG, Urteil vom 7.5.1998 – 2 BvR 1991–95, 2 BvR 2004–95, BVerfGE 98, 106, 118 f.; Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.), Art. 20 VII Rn. 56; s. auch Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 774; Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Aufl. 2009, 120. 320 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.), Art. 20 VII Rn. 56. 321 So BVerfG, Urteil vom 7.5.1998 – 2 BvR 1991–95, 2 BvR 2004–95, BVerfGE 98, 106, 118 f.; s. auch Sodan, JZ 1999, 864, 865. 322 Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 144 f. 323 Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 144. 324 Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, 143; Becker, Absurde Verträge, 2013, 159. 317

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muliert, dass die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters zu seinen klassischen Aufgaben gehört und der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung fordert, dass „alle rechtsetzenden Organe die Regelungen jeweils so aufeinander abstimmen, dass den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen“,325 dann muss diese Forderung auch für den Richter gelten.326 Auch in der Literatur wird insofern die gesetzgeberische Funktion des Richters betont.327 Das gilt umso mehr, je deutlicher man sich von der Vorstellung distanziert, das Gesetz enthalte eine anwendbare Rechtsnorm, die nicht erst durch den Rechtsarbeiter (Richter) geschaffen werden muss. Für den Rechtskreis wäre es jedenfalls für den Erfolg einer Fortbildung misslich, sofern Gerichte gegenläufige Entscheidungen treffen oder sonstige Widersprüche des Rechts in Einzelentscheidung durch Unklarheiten auftreten, denn die Adressaten und sonstigen Betroffenen sind dann im Unklaren darüber, wie sie sich in Zukunft zu verhalten haben.328 Der Begriff der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist daher stark mit der Forderung nach Rechtssicherheit verbunden.329 Im (hypothetischen) Idealzustand wird die Fortbildung und ihr Gebrauch letztlich die Anwendung der gesamten Rechtsordnung sein.330 Ein rechtsfortbildendes Urteil, das in seiner Rechtsfolgenanordnung widersprüchlich ist, wird als nichtig angesehen.331 Bei einander widersprechenden Urteilen wird – soweit rechtlich möglich – eine Korrekturtätigkeit durch die Revisionsgerichte332 oder dem Großen Senat vorgenommen. Widerspricht eine Fortbildung dem Gesetz, gelten die üblichen Rechtsschutzformen je nach Rechtsgebiet und Stadium.

325

Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 5. Aufl. 2012, § 7 Rn. 42; Sodan, JZ 1999, 864, wobei sich dort (S. 865) auch die folgende Aussage findet, die die Bedeutung dieses Grundsatzes verdeutlicht: „Rechtsstaatlichkeit ist ohne hinreichend bestimmte, widerspruchsfreie gleichheitliche Rechtlichkeit schlechterdings nicht denkbar“; Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018 (Stand: 54. Erg.-Lf.) § 91 Rn. 67; BVerfG v. 07.05.1998 – 2 BvR 1991/95; 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106, 118 ff.: „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.“ 326 M. E. spielt diese Frage aber keine Rolle, denn auch das Richterrecht muss nach hier vertretener Ansicht rückführbar auf einen Rechtssatz sein (z. B. formelles Gesetz). Die gerichtliche Interpretation der Norm und das daraus abgeleitete Richterrecht müssen sich in dieser konkreten Interpretation widerspruchsfrei einordnen. Letztlich ist es dann ein Streit darüber, ob sich die Norm in der Interpretation des Gerichts noch widerspruchsfrei in die Rechtsordnung einfügt. 327 Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 82: „Entscheidend ist zunächst die Feststellung, dass der Richter bei der Rechtsfortbildung etwas vornimmt, was eigentlich Aufgabe des Gesetzegebers ist.“ 328 Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 5. Aufl. 2012, § 7 Rn. 41. 329 Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 5. Aufl. 2012, § 7 Rn. 41; Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 252 ff. 330 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 34; Schwacke, Juristische Methodik, 5. Aufl. 2011. 331 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 255. 332 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 255.

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bb) Bruchloses Einfügen als System- und Folgerichtigkeit Innerhalb der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung im obigen Sinne gibt es mit der herrschenden Meinung einen nicht unerheblichen Spielraum für den Richter in der Ausgestaltung seiner Regel. Ergänzend hinzuziehen kann man die Überlegung, ob es für den Erfolg einer Fortbildung nicht sinnvoll ist, dass diese sich systemgerecht in das Recht einfügt.333 Hiermit ist scheinbar etwas anderes gemeint als mit der Forderung nach Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Denn nach z. T. vertretener Meinung kann dieser keine Forderung im Sinne einer Systemgerechtigkeit entnommen werden.334 Systemgerechtigkeit kann allgemein als „wertungskonsistente Gestaltung eines Regelungskomplexes“ verstanden werden, wohingegen die Widerspruchsfreiheit des Rechts – wie oben beschrieben – als eine Gleichgestimmtheit der Rechtsordnung verstanden wird.335 Es geht hier um die Stimmigkeit des jeweiligen Regelungskomplexes, die sich darin äußert, dass die Elemente durch übergeordnete einheitsstiftende Gedanken in ein System integriert werden.336 Erst so ist eine Wertungseinheit innerhalb des (Privat-)Rechts möglich. Dabei gibt es z. B. im Rahmen der Analogiebildung beim Vorliegen der dafür notwendigen Voraussetzungen eine (widerlegbare) Vermutung, dass „die der Regelung zugrunde liegende Wertung auch in der übrigen Privatrechtsordnung wegen der grundsätzlichen Wertungseinheit berechtigt ist“.337 Die Schaffung eines nachvollziehbaren Zusammenhangs zwischen den Elementen ist der hinter der Forderung stehende Gedanke.338 Es geht um „Verständlichkeit und Einsichtigkeit einer Norm innerhalb der gesetzlichen Systematik“.339 Im Gegenzug zur Systemgerechtigkeit fordert der Folgerichtigkeitsgedanke dagegen „Konsequenz gegenüber einer gesetzlich getroffenen und beibehaltenen Leitentscheidung“.340 Beide Gedanken können auch für die richterliche Fortbildung fruchtbar gemacht werden. Die Folgerichtigkeit ist auf der Ebene der Gerichte bereits durch die Gesetzesbindung verwirklicht. 333 S. generell zu Fragen des Systems im Privatrecht Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1 ff. 334 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.), Art. 20 VII Rn. 56; Peine, Systemgerechtigkeit, 1. Aufl. 1985, 255 ff.; vgl. auch Klöhn, Das System der aktien- und umwandlungsrechtlichen Abfindungsansprüche, 2009, 21. 335 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 252 f. bzw. 259 ff. 336 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 253. 337 Herresthal, in: Tanja / S.  Dörr / Hoffmann-Nowotny / Vasella / Zelge, Einheit des Privatrechts, komplexe Welt: Herausforderungen durch fortschreitende Spezialisierung und Interdisziplinarität, 2009 S. 158. 338 Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 253. 339 P. Kirchhof, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.), Art. 3 Abs. 1 Rn. 405; entscheidend ist dabei, dass diese Freiheit von Widersprüchen im Regelfall und je nach Regelungsdichte des Gesetzgebers erst durch den Rechtsanwender hergestellt werden kann, s. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 145 f. bzw. vgl. auch Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 255. 340 P. Kirchhof, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.), Art. 3 Abs. 1 Rn. 405.

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Die Gerichte müssen bei der Fortbildung die gesetzliche „Leitentscheidung“ beachten. Gleiches gilt auch für die Systemgerechtigkeit: Wenn der Richter an Gesetz und Recht gebunden ist, muss er auch an die darin enthaltenen Wertungen und Systeme in der Weise gebunden sein, sodass er von ihnen im Grundsatz nicht abweichen darf. Dadurch lässt sich die Systemgerechtigkeit als (rechtliche) Kategorie erfassen. Das BVerfG ist bei der Überprüfung einer solchen Systemgerechtigkeit jedenfalls gegenüber dem Gesetzgeber entgegen seinem früheren Verhalten zurückhaltend und prüft einen Verstoß nur unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots.341 Ähnliches gilt für die Literatur, wobei man dort die Systemgerechtigkeit zumindest als Maßstab für eine gelungene Gesetzgebung ansieht.342 Nichts anderes kann dann für den Richter gelten.343 So wäre z. B. eine richterlich Fortbildung, die im Kaufrecht einen Anspruch analog §§ 637 Nr. 2 BGB (Selbstvornahme) gewährt, system- und wertungswidrig,344 da die kaufrechtlichen Ansprüche in § 437 BGB ein in sich abgeschlossenes, gesetzgeberisches (Wertungs-)System darstellen.345 Daraus folgt eine weitere Konsequenz: Widmet sich der Richter also einer Fortbildung in einem überschaubaren Feld, spricht vieles dafür, dass die Fortbildung eher gelingt als in einem komplexen Gebiet. Denn eine system- und wertungsgerechte Fortbildung kann dann ressourcentechnisch als auch aufgrund eines eingeschränkten Gestaltungsrahmens schwierig werden. Daraus folgt, „daß die Gerichte eine Rechtsfortbildung nicht vornehmen dürfen, wenn ihnen die für eine sinnvolle Regelung des Gesamtsystems erforderliche Einwirkung auf das System nicht möglich ist“.346 cc) Gleichgestimmtheit der Rechtsprechung Idealerweise muss ein Richter auch die Rechtsprechung seines und anderer Gerichte berücksichtigen,347 damit eine Fortbildung sich bruchlos in die Rechtsordnung einfügt, sofern man dazu wenigstens faktisch auch gerichtliche Ent 341

S. z. B. BVerfG, Urteil 98, 83, 97; Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 258; zurückhaltend auch Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 183.1 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 342 Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 183.1. 343 Die Fortbildung soll zur Systemgerechtigkeit sogar einen wesentlichen Teil beitragen, Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, 254; aus Sicht des Gesetzgebers Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 188: „Der Inhalt der gesetzgeberischen Gestaltung ist insofern eingeschränkt als sich der Gesetzgeber keine Systembrüche zuschulden kommen darf. Er muß sowohl intersystematische Widersprüche (Widersprüche zwischen mehreren Systemen) als auch intrasystematische Widersprüche (Widersprüche innerhalb desselben Systems) vermeiden.“ 344 A. A. scheinbar Berger, in: Stürner, Bürgerliches Gesetzbuch, 16. Aufl. 2015 Rn. 16. 345 Vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 229; freilich fehlt es dann bereits an der für eine Analogie notwendigen Regelungslücke. 346 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 197. 347 So auch Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003, 62.

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scheidungen zählt. Wenn man vom Richter verlangt, dass bei „Erlass“ einer fortbildenden Entscheidung nicht nur die Verfassung und das Gesetz, sondern auch andere Entscheidungen beachtet werden müssten, so hätte etwa ein Richter im Gesellschaftsrecht die Auswirkung auf das Arbeitsrecht zu berücksichtigen und müsste wiederum die Interpretationen der Normen des BAG kennen, damit sich seine eigene Entscheidung nicht in Widerspruch zur arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung setzt. Jedenfalls bei einer gewissen Offensichtlichkeit der Verbindung von sachnahen, gebietsübergreifenden Themen, wird man eine solche Anforderung noch aufrechterhalten können, anderenfalls wäre eine Nichtbeachtung nicht vorwerfbar, wenn auch dieser Umstand auf die Überprüfung des Gelingens der Fortbildung keinen Einfluss haben darf. Denn ungeachtet dieser hohen Forderung, können widersprüchliche Entscheidungen jedenfalls in diesem Punkt nicht als erfolgreich bezeichnet werden. dd) Zwischenergebnis Das bruchlose Einfügen einer Rechtsfortbildung in das Rechtssystem setzt voraus, dass die innere Übereinstimmung der Rechtsordnung durch die Fortbildung nicht gestört wird. Das erfordert neben Verfassung- und Gesetzeskonformität, dass den Adressaten der Fortbildung keine gegensätzlichen Regelungsanordnungen treffen und dass die richterliche Regel sich insgesamt system- und wertungsgerecht ggü. den gesetzlichen Entscheidungen und, wenn möglich, anderen richterlichen Entscheidungen verhält. Das System wird durch den Rechtsanwender aber erst im Kampf um die Bedeutung geschaffen. II. Katja Langenbucher Langenbucher beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit der Entwicklung und Auslegung von Richterrecht. Ziel ist die Entwicklung einer Methodik richterlicher Entscheidungsfindung für die Rechtsfortbildung im Zivilrecht aufzuzeigen.348 Insbesondere die Ausführungen zur Entwicklung einer richterlichen Regel können auch hier fruchtbar gemacht werden, ist doch eine derartige „Arbeitsanleitung“ auch ein Maßstab dafür, dass eine Fortbildung gelingt. Die Entwicklung von Richterrecht aus der gegebenen Rechtsordnung erfordere die Erarbeitung einer verallgemeinerungsfähigen Regel und ihrer wertungsmäßigen Begründung.349 In der Sache unterscheidet sich Langenbuchers Ansatz nicht erheblich vom Larenzschen. Einige Punkte werden hinzugefügt oder zumindest konkretisiert. Hierzu zählen im 348

Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 1. Es wird also eine andere Perspektive mit anderen Akzenten eingenommen, als in dieser Arbeit. 349 Zusammenfassend Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 62.

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Wesentlichen: Die konkrete Sachverhaltsermittlung und eine Folgenbetrachtung, ein Nähegebot zu vorhandenem Recht bei der Schaffung neuer richterrechtlicher Regeln, eine gesteigerte Begründungspflicht (Transparenzgebot), Rückführbarkeit einer richterlichen Regel auf ein Rechtsprinzip und dass nur rechtliche Argumente zulässig sind. 1. Erfassung der regelungsbedürftigen Situation Nach Langenbucher muss eine angemessene Lösung für diejenige tatsächliche Situation erarbeitet werden, die vom geschriebenen Recht nur unzureichend erfasst wird und im Gleichklang mit Larenz muss die Regel aus der Rechtsordnung begründbar sein und sich möglichst bruchlos in diese einzufügen.350 Für die erste Anforderung ist es notwendig, dass der Richter die tatsächliche Situation oder den Interessenkonflikt herausarbeitet, der nur unzureichend durch die geschriebene Rechtsordnung geregelt ist, wobei Langenbucher dafür auch fordert, dass aufgrund der enormen Auswirkungen von Entscheidungen auf die Wirklichkeit eine Folgenbetrachtung vorgenommen werden muss.351 Er muss sich daher die Frage stellen, wie sich eine hypothetische Regel auf die Außenwelt auswirkt.352 Nur so kann nach Langenbucher garantiert werden, dass am Ende eine angemessene Regel geschaffen wird. Gleichzeitig wird so auch erst möglich, die einschlägigen Regelungsbereiche in ggf. unterschiedlichen Rechtsgebieten zu erkennen, die bei der Entwicklung der Regel mit berührt werden:353 „Je zahlreicher die Gebiete sind, die möglicherweise durch eine Entscheidung berührt werden, desto weiter wird der Bereich gesetzlicher Vorgaben, den es zu berücksichtigen gilt.“354 Auch wird dadurch der Anforderungen nach Methodenehrlichkeit Rechnung getragen, weil alle Argumente offen gelegt werden. 2. Begründung der richterlichen Regel aus der Rechtsordnung Ist man sich über die aktuelle Situation im Klaren, gehe es um die Begründung der richterlichen Regel aus der Rechtsordnung. Langenbucher unterscheidet dabei die Strukturierung und die wertungsmäßige Begründung von Richterrecht.

350

Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40 f. 352 Vgl. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 40 f. 353 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 41. 354 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 41. 351

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

a) Strukturierung von Richterrecht Unter der Strukturierung von Richterrecht wird die Schaffung einer verallgemeinerungsfähigen, richterrechtlichen Regel für einen bestimmten Sachverhalt verstanden, die aus dem existierenden Rechtssystem feststehende Anwendungskriterien und Rechtsfolgen entwickelt.355 Dabei kann es sich beispielweise um eine Analogie oder auch um die Entwicklung eines eigenen Rechtsinstitutes handeln. Es entsteht bei regelgerechter Anwendung eine gesetzliche Rückbindung und damit eine Kontrollfähigkeit. Daher sei von mehreren denkbaren und rechtskonformen Regelungen diejenige auszuwählen, die nur eine geringe Abweichung vom gesetzlichen Leitbild darstellt. Langenbucher ordnet gleichzeitig Rechtsfortbildungen, die sich nicht in das vorhandene Recht einfügen, etwa weil sie nur ein rechtspolitisches Anliegen verfolgen, als unzulässig ein.356 Flankierend muss ein Richter bei der Entwicklung des Richterrechts präzise angeben, auf welche gesetzlichen Vorgaben diese gestützt und inwieweit gegebenenfalls von diesen abgewichen wird.357 Im letzteren Fall trifft den Richter eine besondere Argumentationslast. Im ersten Fall dagegen ist der Rechtssicherheit am besten gedient, weil idealerweise auf ein bestehendes Regelungsmodell zurückgegriffen werden könne.358 Langenbucher fordert in diesem Zusammenhang auch die möglichst genaue Umschreibung von Tatbestand und Rechtsfolge der richterrechtlichen Regelung. Insofern besteht ein Gleichlauf mit Larenz. Langenbucher betont insbesondere, dass die Reichweite des Tatbestands deutlich werden muss.359 Eine präzise Regelung sei notwendig, weil beim Richterrecht die Gefahr besteht, dass ganz auf verallgemeinerungsfähige Regeln verzichtet wird, um einer (übertriebenen) Einzelfallgerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, die sich allein auf der Rechtsordnung zugrundliegenden Werten stützt.360 Dementsprechend sind „schwammige“ Regelungen bei der Entwicklung zu vermeiden, die nach Langenbucher die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen negativ beeinflussen. Eine Regel muss gleichmäßig angewendet werden können.361 Nicht ganz widerspruchsfrei zur Forderung nach der Ableitbarkeit einer Regel aus dem Gesetz betont Langenbucher auch, dass die Herleitung von konkreten Regelungen aus Rechtsprinzipien oder wenigstens ihre Abänderung durchaus möglich ist, solange sie im Ergebnis bestimmt genug und damit rechtssicher anwendbar ist.362 Auch hier besteht ein Gleichlauf zu Larenz. 355

Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 42. Missverständlich dann aber Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 44: „[…]. Solche Kriterien sind besonders wichtig für die Rechtsanwendung, weil Richterrecht neben oder außerhalb der gesetzlichen Regeln [!] entwickelt wird und infolgedessen ohnehin eine gewisse Rechtsunsicherheit in der Anwendung mit sich bringt.“ 357 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 43. 358 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 44. 359 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 44. 360 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 44. 361 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 42. 362 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 44 f. 356

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung

187

b) Wertungsmäßige Begründung von Richterrecht Neben dieser Strukturierung von Richterrecht ist nach dieser Ansicht bei der Entwicklung der Regel deren wertmäßige Fundierung notwendig, wenn vom geschrieben Gesetz „abgewichen“ wird und daher ein erhöhter Argumentationsbedarf besteht. So verlangt die analoge Anwendung einer Norm die Begründung, warum der darin verkörperte Rechtsgedanke363 im einschlägigen Fall Anwendung finden muss.364 Bei der Ausarbeitung ganzer richterlicher Rechtsinstitute dienen Rechtsprinzipien ebenfalls zur Begründung einer Regel. Rechtsprinzipien spielten daher nicht nur eine Rolle bei der Begründung der Abweichung, sondern auch bei der Erarbeitung richterrechtlicher Regeln, insbesondere wenn einzelne Anwendungskriterien (Tatbestand) aufgestellt werden.365 Dementsprechend stellt Langenbucher fest: „Jede richterrechtliche Regel muß also auf ein Prinzip verweisen können, welches ihr zugrundeliegt.“366 Langenbucher entwickelt hierbei ein Stufensystem zur Anpassung der Regel an die Rechtsordnung: Auf der ersten Stufe ist zu fragen, ob Prinzipien des konkret einschlägigen Rechtsgebiets die Regel legitimieren können. Auf der nächsten Stufe gehe es um die Prinzipien des gesamten bürgerlichen Rechts und dann auf der letzten Stufe der Verfassung. Bei kollidierenden Prinzipien ist eine Abwägung zu treffen (Prinzipienkollision), wobei Prinzipien einer höheren Normebene ein höheres Gewicht zukomme.367 Langenbucher ist in diesem Zusammenhang auch der Auffassung, dass Richterrecht, welches sich strukturell nur mangelhaft an bestehende gesetzliche Vorgaben anbinden lässt, wertungsmäßig dringend gefordert ist, ebenfalls legitimieren lässt.368 Es ist sogar möglich, von einer gesetzlichen Norm abzuweichen, wenn einem Rechtswert ein erhebliches Gewicht zukommt.369 3. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung Von Nutzen sind auch die Äußerungen zur Erarbeitung der richterrechtlichen Regel, die zur Schließung einer zunächst festgestellten Lücke dient. Denn es bieten sich zumeist mehrere Möglichkeiten an, dieses Problem zu lösen. Dabei soll der 363

Der Begriff der Rechtsprinzipien bzw. Rechtsgedanken bei Langenbucher umfasst dabei auch die „einfachen Wertungen“ des Gesetzes, also nicht nur die höheren Prinzipien des Rechts oder der Verfassung, vgl. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 56 ff. mit Beispielen aus dem Bereicherungs- und Verfassungsrechts. 364 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 45. 365 Auch um bestehende Konkurrenzen mit dem Gesetz aufzulösen, könne nach Langen­ bucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 45 u. 56 ff. eine wertmäßige Fundierung notwendig sein. 366 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 45. 367 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 45 f. 368 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 56, s. auch das Negativbeispiel auf S. 59 f. 369 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 60.

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

Möglichkeit der Vorzug eingeräumt werden, die sich am wenigsten vom gesetz­ lichen Modell unterscheidet. Es geht dabei wiederum um die Voraussetzung des bruchlosen Einfügens der Regel in das vorhandene Rechtssystem.370 Daher ist es notwendig, eine richterrechtliche Regelung an das konkrete Rechtsgebiet und an die restliche Rechtsordnung anzupassen.371 Im Hinblick auf die Rechtsordnung ist die eigentliche Ausgestaltung einer richterrechtlichen Regel oder eines ganzen Instituts ebenso betroffen, wie die Auflösung von Konkurrenzen mit anderen gesetzlichen und richterrechtlichen Regeln. Dadurch können ggf. Modifikationen an einem richterrechtlichen Institut notwendig werden.372 Es geht jetzt also nicht mehr nur um die Anpassung der Regel an den ursprünglich von der Sache her einschlägigen Regelungskomplex, sondern um die Abstimmung an die restliche Rechtsordnung selbst. Daneben ist bei Konkurrenzfragen abzuklären, inwieweit eine richterliche Regelung und das Gesetz einen Sachverhalt regeln, sodass bei Überschneidungen i. S. der Normenhierarchie dem Gesetzesrecht der Vorrang eingeräumt werden kann, sofern das Gesetz abschließend ist.373 Ähnliche Konkurrenzen können sich auch bei richterlichen Regeln stellen. Hier muss tatbestandlich bestimmt werden, welche Regel der Vorrang einzuräumen sei.374 Im Verhältnis der Strukturierung zur wertungsmäßigen Begründung richterrechtlicher Regeln kommt der Strukturierung der Vorrang zu, da sie den Bereich deutlich macht, für den eine wertungsmäßige Begründung erst erforderlich wird.375 4. Folgerungen Im Schluss für ein gelungenes Richterrecht bedeutet das wiederum, dass die Richter in ihrer Entscheidung eine genau Sachverhalts- und Interessenkonfliktsermittlung vollziehen müssen, um eine typisierte Situation zu definieren, für die eine Regel zu entwickeln ist, wobei bereits an dieser Stelle die denkbaren Auswirkungen auf die Rechtsordnung bei den unterschiedlichen rechtskonformen Regelungsalternativen bedacht werden sollten und im Grundsatz diejenige gewählt werden sollte, die dem gesetzlichen Leitbild am besten entspricht. Kennzeichen einer gelungenen Rechtsfortbildung wäre damit, dass diejenige Variation ausgewählt wird, die sich am besten in das bestehende Rechtssystem einfügt. Insofern lassen sich die Gedanken der System- und Wertungsgerechtigkeit hier noch weiter konkretisieren: Unter denjenigen Varianten, die sich system- und wertungsgerecht einfügen, sollte der Richter diejenige auswählen, die dem gesetzlichen Leitbild am besten entspricht. Diese Forderung geht über Larenz’ Konzeption hinaus. Es geht also um eine möglichst ausgewogene Lösung zwischen „Extremstandpunkten“. Das 370

Vgl. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 51. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 51 ff. 372 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 52. 373 Vgl. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 53 ff. 374 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 55. 375 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 60. 371

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung

189

Richterrecht, welches sich strukturell nur mangelhaft an bestehende gesetzliche Vorgaben anbinden lässt, wertungsmäßig dringend gefordert ist, wird sich nach dieser Ansicht ebenfalls legitimieren lassen. Gleichzeitig verlangt Langenbucher für eine gelungene Rechtsfortbildung auch eine ausreichende Begründung. Es wird die Offenlegung der Argumente für eine Fortbildung gefordert und auch, dass präzise angegeben wird, auf welche gesetzlichen Vorgaben diese gestützt und inwieweit gegebenenfalls von diesen abgewichen werde. Auch hier konkretisiert Langenbucher die Aussagen von Larenz. Im letzteren Fall treffe den Richter eine besondere Argumentationslast. Langenbucher fordert in diesem Zusammenhang analog zu Larenz auch die möglichst genaue Umschreibung von Tatbestand und Rechtsfolge der richterrechtlichen Regelung. Insbesondere müsse die Reichweite des Tatbestands deutlich werden. Letztlich geht es ihr damit auch um eine möglichst gleichförmige Anwendbarkeit des Richterrechts und um den dafür notwendigen Ausschluss von generalklauselartigen Formeln, die einer Billigkeitsrechtsprechung befördern. III. Sonstige Literatur Im Folgenden wurde der Versuch unternommen, die meisten Aufsätze und Festschriftbeiträge auszuwerten, die sich ausdrücklich mit der „geglückten“ bzw. „gelungenen“ Fortbildung befassen. Alle diese Beiträge vereint, dass sie sich immer mit einer speziellen Fortbildung aus einem bestimmten Bereich befassen und dass sie die Kriterien für eine gelungene Fortbildung nur z. T. ausdrücklich nennen. So bezeichnet Flume in einem Aufsatz mit dem Thema der Haftung der Gesellschafter der Vor-GmbH die Aufgabe des Vorbelastungsverbots und die Statuierung der anteiligen Differenzhaftung der Gesellschafter durch den BGH376 als geglückte Fortbildung. Er sieht das „Fortdenken der gesetzlichen Regelung“ des GmbH Rechts als Ursache an.377 Letztlich sind damit wiederum zwei Kriterien von Larenz, nämlich die Ableitbarkeit der richterrechtlichen Regelung sowie deren bruchloses Einfügen, angesprochen. Veil und Werner untersuchen in einem Aufsatz, ob die (damalige) Neuregelung zur verdeckten Sacheinlage des Gesetzgebers durch das MoMiG sich „friktionslos in das GmbH-Recht und das Bürgerliche Recht einfügt“.378 Anders als bisher geht es hier also um eine Rechtsfortbildung durch den Gesetzgeber. In der Sache besteht kein Unterschied zur richterlichen Fortbildung, weil auch eine gesetzgeberische Neuregelung auf dieses Kriterium hin untersucht werden kann und letztendlich wünschenswert für den Rechtskreis ist. Der Regelungsgeber spielt in diesem Fall also keine Rolle, zumal der BGH diese Merkmale vor ihrer Kodifizierung selbst entwickelt hat.379 Veil und Werner sehen die 376

BGH, Urteil v. 09.03.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129. Flume, DB 1998, 45, 46. 378 Veil / Werner, GmbHR 2009, 729, 729. 379 Veil / Werner, GmbHR 2009, 729, 729. 377

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

Neuregelung aufgrund der vielen ungeklärten Folgefragen380 als wenig gelungen an. Weil es sich beim Regelungsgeber um den Gesetzgeber handelt, ist dieser Befund bemerkenswert. Aber auch aus richterlicher Sicht kann man als wesentliche Voraussetzungen für eine gelungene Fortbildung festhalten, dass das Aufwerfen vieler ungeklärter Folgefragen zu Problemen führen kann, sofern die Rechtssicherheit nicht nur unerheblich beeinträchtig ist. Auch Schöpflin beschäftigt sich mit der Frage nach der gelungenen Fortbildung. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen ebenfalls die Regelungen zur verdeckten Sacheinlage, allerdings noch zu einer Zeit vor dem MoMiG. Damals basierte – wie bereits angesprochen – das maßgebliche Regelungsregime noch auf einer richterlichen Fortbildung. Er fordert für eine gelungene Rechtsfortbildung einen klar formulierten Tatbestand, der zu sachgerechten Rechtsfolgen führt.381 Sachgerecht sind solche Rechtsfolgen, die nicht zu unbilligen Härten führen und als „Überreaktion des Rechts“ gewertet werden – so wie etwa die damaligen Rechtsfolgen einer verdeckten Sacheinlage von der überwiegenden Meinung bewertet wurden.382 Letztlich geht es auch Schöpflin bei einer Fortbildung um die Stärkung der Rechtssicherheit durch Schaffung einer angemessenen, systemgerechten Regelung, mag sie auch nicht perfekt sein.383 Außerdem sieht er eine Rechtsfortbildung, die letztlich in ihrer Notwendigkeit Defizite aufweist als problematisch an. Eine Rechtsfortbildung wäre also – selbst wenn eine Lücke besteht – nicht immer zwingend notwendig, wenn andere rechtliche Regelungen die durch eine mangelnde Kodifizierung ausgelösten Probleme auf einer anderen Ebene ausgleichen können.384 Im Prinzip sieht Schöpflins Einwand damit eine Fortbildung erst dann als gelungen an, wenn sie alternativlos ist und sich das Sachproblem nicht mittels der vorhandenen Regeln lösen lässt. Häublein widmet sich der Frage, ob die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Wege der Fortbildung und die Einführung des § 899a BGB eine gelungene Fortbildung darstellen. Letztlich geht es um auftauchende Probleme der GbR im Grundstücksverkehr und um deren Umgang durch den rechtsfortbildenden Gesetzgeber. Er verlangt von einer gesetzgeberischen Fortbildung, dass sie ein Sachproblem möglichst vollständig löst, was für den Richter oftmals nicht möglich sein wird, und dass die Neuregelung nicht mit der Gesetzessystematik bricht.385 Zumindest der letzte Punkt kann vom Richter übernommen werden und spiegelt Larenz vierte Regel wider. Looschelders fordert in einem Aufsatz über ein privatversicherungsrechtliches Thema sinngemäß eine möglichst genaue Umschreibung der tatbestandlichen Voraussetzungen,386 die Vermeidung von überflüssigen bzw. 380

S. die umfassende Aufzählung Veil / Werner, GmbHR 2009, 729, 736 f. Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 61. 382 Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 63 mit Verweis auf K. Schmidt in Fn. 64. 383 Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 66. 384 Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 61; in diesem Sinne auch Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, 49. 385 Häublein, in: Altmeppen / Fitz / Honsell, Festschrift für Günther H. Roth zum 70. Geburtstag, 2011, 224 bzw. 235. 386 Vgl. Looschelders, VersR 1999, 666, 673. 381

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung

191

sachwidrigen Konstruktionen, ohne dass deren Notwendigkeit offengelegt wurde.387 Looschelders sieht trotz einiger Fehler eine dort vorgenommene Fortbildung als gelungen an, weil sie am besten der Funktion eines Versicherungsvertrages entspricht.388 Daraus kann man entnehmen, dass eine Fortbildung der Funktion eines Rechtsinstitutes gerecht werden muss und einen zwischen Extremstandpunkten ausgeglichenen Mittelweg gehen sollte. Keiser betont in einem Aufsatz zur Fortbildung des lebensgemeinschaftliche Kooperationsvertrages, dass eine gewisse Konturlosigkeit bei einer Fortbildung durchaus von Vorteil sein kann, soweit Besonderheit des Rechts etwa eine gewisse Offenheit für Billigkeitsrechtsprechung fordern.389 Gleichzeitig müssten die Gerichte ihre wahren Entscheidungsgründe offenlegen.390

B. Abschließender Bewertungsakt einer richterlichen Regel I. Überwiegen der materiellen Verbesserung Sind sowohl Inhalt als auch Zeitpunkt der Fortbildung erfolgreich gewählt, so sollten die Richter dennoch reflektieren, ob die Fortbildung an sich gerechtfertigt ist. Es geht dabei um die Frage sog. gelungener richterlicher Selbstbeschränkung: „Es kommt nicht allein auf die immer bessere Problemlösung an, sondern auch darauf, ob der konkrete Zugewinn an materieller Verbesserung wirklich so groß ist, dass er die zunehmende Verkomplizierung und Verunsicherung aufwiegt. […] Die richterliche Selbstbeschränkung ist insofern nichts anderes als die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Unbilligkeit der konventionellen Lösung bereits so groß ist, dass der Vorteil ihrer einfacheren Ableitbarkeit und klareren Vorhersehbarkeit aufgegeben werden darf.“391 Erst wenn also in der Gesamtschau das Recht

387

Vgl. Looschelders, VersR 1999, 666, 673. Vgl. Looschelders, VersR 1999, 666, 673. 389 Keiser, RW 2014, 27, 55. 390 Keiser, RW 2014, 27, 56. 391 Allgemeine Feststellung bei Schubert, in: Säcker / R ixecker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 2, 7. Aufl. 2016 § 242 Rn. 41: „Zu Zeiten eines ausgeprägteren Rechtspositivismus mag die Notwendigkeit bestanden haben, die Gerichte zur Erfüllung der gesellschaftlichen Regelungsaufgabe im Spannungsverhältnis von Stabilität und Dynamik zu ermutigen. Heute scheint in der Jurisprudenz – in der Rechtswissenschaft ohnehin – kein Mangel an Reformbereitschaft und innovativer Reflexion sowie an Wahrnehmung aktueller Probleme zu herrschen. Es droht eher die Gefahr, über die differenzierte Auseinandersetzung mit Einzelfragen oder das Bemühen um verfeinerte Interessengerechtigkeit den Blick für die Gesamtheit der Rechtsordnung zu verlieren. Das Anliegen der Rechtssicherheit, insbesondere der Einfachheit und Überschaubarkeit von Regelungen, muss inhaltlicher Gesichtspunkt in jeder Rechtsfortbildungsdiskussion sein. Es kommt nicht allein auf die immer bessere Problemlösung an, sondern auch darauf, ob der konkrete Zugewinn an materieller Verbesserung wirklich so groß ist, dass er die zunehmende Verkomplizierung und Verunsicherung aufwiegt“; so letztlich auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 204. 388

192

Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

die Fortbildung erfordert und die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit zumindest aufwiegt, sollten die Richter zur Fortbildung übergehen. II. Zeitpunkt für den Erlass richtig gewählt Der richtige Zeitpunkt für eine Fortbildung, kann mitunter über ihr Gelingen entscheiden. In Anlehnung an Rehbinder können dabei verschiedene – nicht immer klar voneinander abgrenzbare Zeitpunkte – für einer Fortbildung unterschieden werden:392 Zum einen kann es sich um eine Fortbildung handeln, die für den Rechtskreis zwar unvorhersehbar war („harte Fortbildung), aber in einer rechtspolitischen Ruhelage erfolgt, d. h., über die Lösung des Sachproblems, dass Gegenstand der richterlichen Entscheidung war, besteht kein aktueller Streit bei den politischen Entscheidungsträgern, die Anlass geben könnten, eine Derogation zu befürchten. Wird dagegen eine Fortbildung in einer unklaren, rechtspolitischen Bewegungslage auf den Weg gebracht, bei der nicht klar ist, ob der Gesetzgeber in diesem Bereich tätig wird, so stellt sich die Frage, ob eine Fortbildung nicht aus Gründen der Rechtssicherheit zu unterbleiben hat. Diese Frage ist stark umstritten.393 Dagegen spricht, dass man jedenfalls bei einem noch nicht fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren nicht sicher sein kann, ob das Gesetz in der Form erlassen wird, die einer Fortbildung den Boden entzieht.394 Hier geht es letztlich um den Grad des Fortschritts und die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens des Gesetzes, die einen Richter bei der Abwägung für und gegen eine Fortbildung treffen sollte. Vorgeschlagen werden daher eine flexible, abwägende Lösung und keine absolute Sperrwirkung. Gesetzesentwürfe allein sollten eine Fortbildung nicht beeinflussen, da anderenfalls der Grundsatz der Gewaltenteilung ohne dringenden Grund aufgeweicht wird, denn das Vertrauen der Streitparteien und Dritter auf ungewisse, zukünftige Gesetzeslagen ist nicht besonders schützenswert.395 Eine gelungene Rechtsfortbildung liegt daher nicht vor, wenn der Gesetzgeber in Kürze mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine gegenläufige Regelung erlassen würde und es so zu einem schnellen Wechsel der Rechtslagen zulasten der Rechtssicherheit kommt. Gleiches muss dann auch für „sanfte“ (allmähliche oder doch vorhersehbare) Rechtsfortbildungen in einer rechtspolitischen Bewegungslage gelten, also bei unabgeschlossenen Rechtsfortbildungen, deren Weiterentwicklung ungewiss ist sowie für abgeschlossene Rechtsfortbildungen, die für die Zukunft in ihrer aktuellen Form unverändert bleiben. 392

Rehbinder, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985 S. 48. 393 S. bei Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 623. 394 Vgl. BVerfG, Beschluss 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 291 f. sowie Fleischer /  Wedemann, AcP 2009, 597, 622. S. dort auch zur abweichenden Meinung des BAG in Fn. 143. 395 A. A. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, 229 ff., der argumentiert, auch die Richter müssen den Vorrang des Gesetzgebers bei der Rechtssetzung berücksichtigen (Prinzip des gewaltentreuen Verhaltens).

193

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung

C. Zwischenergebnis und Systematisierungsversuch Will man Larenz’ Einteilung beibehalten, bei den hier herausgearbeiteten vier Hauptkriterien bleiben und die hier entwickelten anderen Kriterien ergänzend hinzuziehen, so ergibt sich folgendes Bild: Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung Nr.

Hauptkriterien

Unterkriterien

Primärziel

1

Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre396

Vorüberlegung: –– Genaue Sachverhalts- und Interessen­ analyse –– Was wurde als rechtlicher Missstand von den Richtern erkannt?

Ausgleich der Schwächen eines kodifizierten Rechts­ systems; Herstellung von Transparenz, Überprüfbarkeit und Legitimation; Schaffung von Rechts­ sicherheit und -staatlichkeit

–– Besteht ein Verbot zur Fortbildung (Analogie­verbot)397 und ist eine Rechtsfortbildung notwendig, d. h. gibt es keinen anderen Regelungskomplex, der den Sachverhalt abschließend erfasst? –– Speerwirkung bei konturhaften und fortgeschrittenen Gesetzvorhaben und in ­politisch umstrittenen Bereichen (str.). –– Lückenfeststellung: Besteht eine planwidrige Regelungslücke? Maßstab zur Feststellung, ob eine Lücke vorliegt, kann im Grundsatz immer nur die Wertung einer anderen Norm („Einzelnorm“) oder Normenkomplexes („Gesetz“) sein.398 –– Lückenschließung (Analogie, Umkehrschluss, teleologische Reduktion / Extension) vorgenommen –– Ist das gewählte Mittel geeignet, diesen Missstand zu beheben? –– Terminologie zumindest sinngemäß eingehalten (Lückenfeststellung / Lückenschlie­ßung, Analogie [Lücke und vergleichbare Interessenlage] etc.) –– Wurde überhaupt eine Begründung bei den einzelnen Punkten der Fortbildung gegeben? (Ob diese trägt, wird erst unten relevant!)

396 Einige der weiteren Punkte lassen sich nicht immer trennscharf von anderen unterscheiden. Der hier gewählte Aufbau ist daher nur als Vorschlag zu verstehen. 397 Kann auch unten bei dem Punkt „Bruchloses Einfügen“ geprüft werden. 398 S. zu Kollisions- und Rechts- bzw. Gebietslücken Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl. 2018, 850 ff.

194

Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung Nr.

Hauptkriterien

Unterkriterien

Primärziel

2

Klar formulierte und bestimmte Regel

–– Abwägung von Konturschärfe und Konturlosigkeit (ggf. gewisse Offenheit für Billigkeitsrechtsprechung), wobei letzteres begründet werden muss –– Möglichst genaue Umschreibung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen, wobei insb. die Reichweite des Tatbestands deutlich werden muss. Auch bei erstmaliger Fortbildung sollte die Regelung möglichst konturscharf sein (geht über das bloße Bestimmtheitsgebot als Mindestanforderung hinaus!) –– Verhältnis zu richterrechtlichen Konkurrenzregelungen sollte falls notwendig ausgeformt sein (Vorrangklausel /  Subsidiaritätsklausel)

Möglichkeitsschaffung einer gleichförmigen und rechtssicheren Anwendbarkeit des Richterrechts

3

Ableitbarkeit der Regel aus dem Gesetz

–– Rechtsfortbildung stellt sich als ein Weiterdenken der gesetzgeberischen Grundentscheidungen dar. –– Unzulässige Argumente werden nicht hinter zulässigen getarnt (Ehrlichkeitsgebot) –– Die Entscheidungsbegründung enthält alle auch wirklich bei der richterlichen Entscheidungsfindung berücksichtigten Kernargumente und setzt sich – jedenfalls bei Grundlagenentscheidungen – mit abweichenden Meinungen auseinander (Vollständigkeitsgebot). –– Präzise Angaben, auf welche gesetzlichen Vorgaben die Fortbildung gestützt wird und inwieweit gegebenenfalls von diesen abgewichen werde –– Reservebegründungen, d. h. Begründungen, die für die Entscheidung denkbar wären, aber nicht verwendet wurden, müssen bei der Bewertung einer Entscheidung an dieser Stelle außer Betracht bleiben.

Förderung der Gesetzesbindung und Gewaltenteilung: Der Richter soll nur der „verlängerte Arm“ des Gesetzgebers sein, der im „denkenden Gehorsam“ handelt; Herstellung von Transparenz, Überprüfbarkeit und Legitimation

195

Kap. 4: Die gelungene Rechtsfortbildung Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung Nr.

Hauptkriterien

Unterkriterien

Primärziel

4

Fallnähe der Regelung

–– Abwägung zwischen fallnaher Regelung und fallübergreifender Aufstellung einer Regel fällt zugunsten der argumentativ überzeugenderen Variante aus. –– Grds.: Eine Entwicklung der richterlichen Regel sollte möglichst nur am Fall stattfinden. –– Ausnahme: Dem entgegengesetzt sollten möglichst kein oder möglichst wenige oder in ihrer Bedeutung zu vernachlässigende ungeklärte Folgefragen bleiben.

Ausgleich der strukturellen Unterlegenheit des Richters

5

Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung

–– Der Begriff der Rechtsordnung meint sowohl das geschriebene Recht (GG, einfaches Gesetzesrecht etc.), als auch andere richterliche Entscheidungen und das Gewohnheitsrecht. –– Das bruchlose Einfügen verlangt vorrangig eine möglichst wertungskonsistente Gestaltung eines Regelungskomplexes, die bei der Rechtsfortbildung zu berücksichtigen ist (Systemgerechtigkeit). Dabei spielt wieder die subjektive Auslegungs- und Fortbildungstheorie zur Wertermittlung eine Rolle. –– Gleichzeitig geht es auch um die Gleichgestimmtheit des Rechts (Widerspruchsfreiheit des Rechts) –– Die Fortbildung sollte sich daher grds. nicht in einem komplexen, unübersichtlichen Bereich befinden, den besser der Gesetzgeber geregelt hätte. –– Eine Fortbildung muss insbesondere auch die vom BVerfG aufgestellten verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung beachten.399 Eine Fortbildung, die diese Grenzen nicht beachtet, fügt sich nicht bruchlos in das Recht. –– In Bezug auf andere richterliche Entscheidungen geht es um eine möglichst anzustrebende Gleichgestimmtheit der Rechtsprechung.

Konsistenz der Rechtsordnung

399 Kann auch bereits schon im Punkt „Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre“ geprüft werden.

196

Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

Kennzeichen gelungener Rechtsfortbildung Nr.

Hauptkriterien

Unterkriterien

Primärziel

6

Bestlösungs­ forderung

–– Eine Fortbildung muss der Funktion eines Rechtsinstitutes gerecht werden und einen zwischen Extremstandpunkten ausgeglichenen Mittelweg gehen, der unnötige Abweichung vom gesetzlichen Leitbild vermeidet. –– Kennzeichen einer gelungenen Rechtsfort­ bildung wäre damit, dass unter denjenigen sich bruchlos einfügenden Variation, diejenige ausgewählt wurde, die sich am besten in das bestehende Rechtssystem einfügt und sich am ehesten aus dem geschriebenen Recht ableiten lässt. Hier sind Reservebegründungen (sprich: alternative richterliche Regelungen) möglich.

Konsistenz der Rechtsordnung

7.

Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse an der Rechtslage

–– Ist der materielle Gewinn so groß, dass eine negative Beeinflussung der Rechtssicherheit hingenommen werden kann oder er gar aufgewogen wird, rechtfertigt die neue Regel eine Verkomplizierung des Rechts und die nicht Kodifiziertheit. Die Richter haben somit eine Abwägung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Ent­ scheidungswirkung auf die Rechtsordnung (Allgemeininteresse) vorzunehmen.400

Rechtssicherheit

D. Gedanken zur Abwägung der Kriterien Will man sich über den Inhalt einer Entscheidung eine Meinung bilden und die Kriterien auf sie anwenden, so stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die einzelnen Kriterien zu einander stehen. Es erscheint dabei nicht nur schwierig, im konkreten Einzelfall zu entscheiden, ob sie erfüllt sind oder nicht, sondern auch diese in eine abstrakte Rangfolge zu bringen. Kann eine Anforderung hinter einer anderen zurücktreten und die Fortbildung dennoch gelungen sein? Es erscheint problematisch hier generelle Vorgaben zu machen, da zu viele Umstände ihre 400

Erinnert sei daran, dass der Verzicht auf eine Rechtsfortbildung – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – nicht gegen das Rechtsverweigerungsverbot verstößt, weil auch die Ablehnung eines Anspruchs „Recht“ sein kann, insb. nach der hier vertretenen Ansicht, wenn das Rechtsfortbildungsinteresse die Rechtssicherheit gefährden würde.

Kap. 5: Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Gerichte

197

konkrete Bedeutung im Einzelfall beeinflussen (Rechtsgebiet, konkrete Fragestellung, Gewichtung der einzelnen dahinterstehenden Prinzipien). Nur die rechtlich zwingend zu erfüllenden Anforderungen (insb. verfassungsrechtlichen Grenzen) sind zwingend. Verstößt eine Fortbildung hiergegen, ist sie per se im Grundsatz nicht gelungen. Ansonsten wird man sich im Einzelfall streiten können. Das ist kein Nachteil: Ähnlich wie im Zivilprozess, in denen die Parteien ihre unterschiedlichen Rechtsansichten in Schriftsätzen formulieren oder mündlich Vortragen, also über „das Recht streiten“, sollte man auch hier in eine Diskussion einsteigen. Bereits die unzähligen Äußerungen in der Literatur zu bedeutenden Fortbildungen stellen einen solchen Streit dar, wenn auch dort immer nur Teilaspekte behandelt werden. Damit aber ein Fortschritt bewirkt wird, ist es wichtig, dass die Äußerungen möglichst im Bezug aufeinander abgegeben werden, also Argumente (z. B. diese Fortbildung fügt sich nicht bruchlos in die Rechtsordnung ein, weil sie gegen das dortige Verschuldensprinzip verstößt etc.) ausgetauscht werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich am Ende eine „herrschende Meinung“ über ein Urteil herausbildet, die sowohl Stärken als auch Schwächen sichtbar macht. Entgegen ­Larenz’ Ansicht geht es dann (jeweils am Ende eines solchen Prozesses) sehr wohl auch darum, was sich als überwiegende Meinung herauskristallisiert, denn eine solche hat den Vorteil, dass sie die besseren Argumente für das eine oder andere Ergebnis für sich beanspruchen kann. 5. Kapitel

Konsequenzen aus der Bewertung von Richterrecht für den Gesetzgeber und die Gerichte Kommt man durch die Kriterien nun zu einem Urteil über den Erfolg oder Misserfolg einer Rechtsfortbildung – wobei es freilich eine Vielzahl von Abstufungen geben kann401 – ist fraglich, welche praktischen Folgen sich aus solch einer Feststellung ergeben können. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die im Folgenden dargestellt werden sollen und die einige Probleme aufwerfen, die in der Literatur bisher nur wenig bis gar nicht diskutiert wurden.402 Insbesondere im Gesellschaftsrecht wurde die Bedeutung des Wechselspiels von Rechtsprechung und Gesetzgeber in jüngster Zeit betont.403

401

Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, 14. Einzig Kähler, in: Knops / Bamberger / Hölzle, Zivilrecht im Wandel, 2015, 247 ff. gibt einen guten Überblick über die Thematik. 403 So etwa Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597; K. Schmidt, JZ 2009, 10 ff. 402

198

Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

§ 9 Das gelungene Richterrecht Noch relativ unproblematisch ist der Fall, bei dem eine Rechtsfortbildung als gelungen angesehen werden kann. Hier bleibt das Richterrecht entweder in seiner ursprünglichen Form bestehen oder aber der Gesetzgeber greift die Entwicklung auf und kodifiziert sie. Im ersten Fall leidet freilich die Rechtssicherheit, da bedeutende Entwicklungen nicht im Gesetz dokumentiert werden404 und weil Richterrecht und Gesetz mitunter sogar im Widerspruch zu einander stehen können.405 Will der Gesetzgeber dagegen tätig werden, kann er auf zwei Weisen agieren.

A. Deklaratorische Gesetzgebung Er kann zum einen Gesetze erlassen, die im vollen Umfang der bisherigen Rechtsprechung entsprechen. Man kann in diesem Fall von einer deklaratorischen oder affirmativen Gesetzgebung sprechen,406 denn es wird nur ein Rechtszustand perpetuiert, der bereits vorher bestand. Allerdings besteht jetzt der Vorteil, dass das Gesetz die neue Rechtslage wiedergibt und so Rechtssicherheit für alle Adressaten geschaffen wird. Rechtssicherheit muss ein entscheidendes Motiv für den Gesetzgeber spielen. Unter diesem abstrakten Begriff wird im Allgemeinen die Verlässlichkeit im Hinblick auf die Rechtsordnung verstanden.407 Staatliche Hoheitsakte müssen für den Bürger demnach nicht nur klar und bestimmt sein, sondern auch ein gewisses Maß an Beständigkeit aufweisen:408 „Ohne ein Mindestmaß an solcher Verläßlichkeit bleibt das Handeln des Staates für den Bürger unvorhersehbar und damit sowohl unberechenbar als auch unverständlich; er müßte sich als Objekt einer für ihn willkürlich erscheinenden staatlichen Gewalt empfinden.“ 409 Insbesondere im Gesellschaftsrecht kann eine solche Rechtsunsicherheit – auch wenn sie nicht das staatsrechtlich geforderte Mindestmaß unterschreitet- auch aus ökonomischer Sicht zu Problemen führen. Das Gesellschaftsrecht hat eine enorme wirtschaft­ liche Bedeutung. Rechtsunsicherheiten können zu höheren Transaktionskosten oder wirtschaftlichen Schäden führen. Rechtssicherheit ist daher im Gesellschaftsrecht 404

Kritisch auch ggü. der Untätigkeit des Gesetzgebers im Zusammenhang mit den (noch ungeschriebenen) Hauptversammlungszuständigkeiten etwa Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 31. 405 S. oben § 54 S.1 BGB als Beispiel; zum Reformbedarf bei den Vorschriften über die BGB-Gesellschaft s. jüngst Schäfer, NJW-Beilage 2016, 45 ff. bzw. bereits K. Schmidt, ZHR 2013, 712 ff. 406 So K. Schmidt, JZ 2009, 10, 19; s. auch Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 611. 407 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand: 01.03.2015 Art. 20 Rn. 181. 408 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50. 409 Grzeszick, in: Herzog / Scholz / K lein / Herdegen, Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar, 2018 (84. Erg.-Lf.) Art. 20 VII Rn. 50.

Kap. 5: Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Gerichte

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ein hohes Gut und der deutsche Gesetzgeber war seit jeher bestrebt, ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das sieht man an den unzähligen Gesetzesänderungen, die oftmals mit dem Antrieb betrieben wurden, Regelungsproblematiken zu lösen. In Zweifelsfällen ist es nun auch möglich, auf Gesetzesmaterialen zurückzugreifen, um den Willen des Gesetzgebers410 optimal umzusetzen. Zudem gewinnt die in Gesetzesform gegossene Fortbildung auch an demokratischer Legitimität und Transparenz.411 Auch ein Zuwachs an „Anschaulichkeit und Bewusstseinsbildung innerhalb der Rechtsgemeinschaft“ 412 wird einer solchen Entwicklung zugesprochen. Nicht nur diese Motive können den Gesetzgeber zu einem solchen Schritt bewegen. Auch wenn bestehendes Richterrecht mit der Zeit unscharf geworden ist, bietet sich eine Kodifizierung an. So kann mit der Zeit eine Vielzahl von Einzelentscheidungen anfallen, die zwar im Grundsatz der ursprünglichen Entwicklung folgen, aber neue Feinheiten für den Einzelfall ausgeprägt haben. Hier kann und sollte der Gesetzgeber sich veranlasst sehen, dem ursprünglichen Richterrecht und insbesondere seinen Randbereichen durch eine Kodifizierung wieder stärkere Konturen zu geben. Eine ähnliche Ursache wäre in diesem Zusammenhang auch, dass durch eine grundsätzlich gelungene Rechtsfortbildung neue Zweifelsfragen aufgetreten sind, die der Gesetzgeber durch einen Gesetzgebungsakt ausräumen kann.413 K.  Schmidt zählt zu diesen (wünschenswerten) deklaratorischen Kodifizierungen die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, deren Normen seit der Fortbildung brach liegen. Freilich kann man schon hier darüber streiten, ob diese Fortbildung als gelungen bezeichnet werden kann,414 wenn ihr doch der Vorwurf einer Rechtsfortbildung contra legem anhaftet.415 In jedem Fall aber, hat sie sich durchgesetzt. Oftmals wird sich eine Kodifikation erst bei einer fallübergreifenden Stabilisierung (mehrere Entscheidungen) anbieten („Kodifizierungsreife“).416 Hat der Gesetzgeber bisher geltendes Richterrecht ohne Veränderungen kodifiziert, so kann auch die alte Rechtsprechung mit Bedacht auf die Auslegung des neuen Gesetzes ergänzend herangezogen werden. Der rechtsstaatlich sinnvollste Weg im Umgang mit einer gefestigten Rechtsprechung ist es daher, diese zu kodifizieren. Das denkbare Argument, man würde die Rechtsfortbildung durch die Kodifikation „einfrieren“ und sie ihrer Flexibilität berauben, 410

Zum Streit über das Ziel der Auslegung s. u. So auch Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 611. 412 Ausdrücklich Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 611 mit Verweis auf die Entwicklungen bei der „Business Judgement Rule“ (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG) und die damit verbundene Signalwirkung, ein Vorstand treffe bei bloßen Fehlschlägen oder Irrtümern keine Haftungsverantwortung. 413 K. Schmidt, JZ 2009, 10 S. 19: „Rein deklaratorische oder affirmative Gesetzgebung ist wohl nur da am Platze, wo ein Bedürfnis für eine systematisierende Erfassung besteht, wo es also gilt, einem durch Rechtsfortbildung unscharf gewordenen Gesamtbild neue Tiefenschärfe zu geben.“ 414 Dazu ausführlich unten. 415 Eingehend dazu Canaris, ZGR 2004, 69 ff.; a. A. dagegen Altmeppen, NJW 2004, 1563. M. E. ist die Gelungenheit zu verneinen. 416 Albers, in: Höfling, Grundsatzfragen der Rechtsetzung und Rechtsfindung, 2012, 272. 411

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

um auf ungewisse Fallgestaltungen zu reagieren, kann in dieser Pauschalität nicht gefolgt werden. Denn auch nach einer Kodifizierung bleibt es möglich, im Rahmen der rechtsstaatlichen Kriterien Rechtsfortbildung zu betreiben.

B. Abändernde Gesetzgebung Als anderweitige Möglichkeit bietet sich dem Gesetzgeber an, das vorhandene Richterrecht nur als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu wählen und modifiziert in Gesetzesform zu bringen. Im Gesetzgebungsprozess kann es sodann weiter verfeinert werden und auf die Bedürfnisse der Praxis angepasst werden. Gesetzeslücken und Widersprüche können dann ausgeräumt werden.417 Auch wird im Schrifttum gefordert, dass der zuständige Fachsenat am Kodifizierungsprozess beteiligt wird, damit bestehende Missverständnisse über die Auslegung des Richterrechts vermieden werden.418 Zur Verdeutlichung, wie notwendig eine solche Beteiligung sein kann, kann neben einigen älteren Beispielen419 das berühmte ARAG / Garmenbeck Urteil angeführt werden.420 Die abändernde Kodifizierung hat in der Gesamtschau einen erheblichen Vorteil: Geht man von der Trennbarkeit von rechtlichen und rechtspolitischen Erwägungen aus und folgt der h. M., dass die Richter bei einer Fortbildung des Rechts ohne rechtspolitische Überlegungen auskommen müssen,421 dem Gesetzgeber dieser Weg nicht verwehrt ist, so ergeben sich ganz andere Spielräume bei der Ausgestaltung des Gesetzes. Ein strahlendes Beispiel für eine abändernde Gesetzgebung ist die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG), die zunächst in der Rechtsprechung entwickelt422 und sodann 417 Gefordert werden sollte, dass der Modifizierungswille des Gesetzgebers auch in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommen muss, damit die Rechtssicherheit gewahrt ist und es nicht so aussieht, als habe der Gesetzgeber nur das bestehende Richterrecht in einer Norm zusammengefasst. Insbesondere wenn man neueren Deutungen der Rechtsprechung des BVerfG hin zu einer eher subjektiven Auslegungstheorie zustimmt, wäre ein solches Vorgehen zu begrüßen. 418 Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597 S. 614. 419 S. ausführlich mit Beispielen Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597 S. 614. 420 Zum Auslegungsstreit s. o. 421 Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996 9 ff. 422 BGH, Urteil v. 21.04.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (ARAG / Garmenbeck); es hätte wirtschaftlich wenig Sinn ergeben, die Geschäftsleitung in einem überzogenen Maße haften zu lassen. Durch die Einführung eines „sicheren Hafens“ (so ausdrücklich der RegE UMAG BT-Drucks. 15/5092 S. 11) bei unternehmerischen Entscheidungen wurde das Haftungsrisiko für die Geschäftsleitung vermindert. Das war insofern notwendig, als durch das UMAG gleichzeitig eine Verschärfung des Verfolgungsrechts der Aktionärsminderheit stattfinden sollte [s. dazu den RegE UMAG BT-Drucks. 15/5092 S. 11: „Mit Blick auf die vorgesehene Verschärfung des Verfolgungsrechts einer Aktionärsminderheit (§ 148 AktG-E) stellt der neue Satz 2 des § 93 Abs. 1 AktG klar, dass eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheidet, dass also für Fehler im Rahmen des unternehmerischen Entscheidungsspielraums nicht gehaftet wird („Business Judgement Rule“). Dies entspricht auch einem Beschluss des 63. Deutschen Juristentages und einem Vorschlag der Regierungskommission

Kap. 5: Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Gerichte

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durch das UMAG423 kodifiziert wurde.424 Die Kriterien der Rechtsprechung wurden hier nur in modifizierter Form umgesetzt.

C. Nachteile Eine Kodifikation von Richterrecht kann auch gewichtige Nachteile mit sich bringen. Der Prozess der Rechtsentwicklung durch die Gerichte wird vielleicht zu früh unterbrochen. Eine Ausdifferenzierung einer richterlichen Regel durch die Gerichte ist nicht weiter möglich. Im Schrifttum spricht man dann von einer fehlenden Kodifikationsreife.425 Den Gerichten wird bei einer Kodifizierung möglicherweise auch die Flexibilität im Rahmen der neu geregelten Rechtsmaterie genommen. Auch ins Feld geführt wird, dass der Gesetzgeber bei der Kodifikation mancher richterlichen Entwicklungen nur mit Generalklauseln arbeiten könnte, die der anvisierten Erhöhung der Rechtsicherheit nicht sonderlich zuträglich sind.426 Eine Kodifizierung kann auch zu neuen Zweifelsfragen führen. Eine angestrebte Stärkung der Rechtssicherheit würde so wieder zunichte gemacht.427 Will der Gesetzgeber eine Kodifizierung vornehmen, ist wichtig, dass er sowohl die Entscheidung in der Gesetzesbegründung angibt, als auch die, wenn gelun­ genen, sprachlichen Vorformulierungen der Rechtsprechung übernimmt, damit keine Verwirrung über sachliche Unterschiede entsteht, wenn der Wortlaut nicht übereinstimmt.428 Die anvisierte Rechtssicherheit würde leiden. Diese angeführten Nachteile sind jedoch im Regelfall nicht gewichtig genug, eine Kodifikation von Richterrecht abzulehnen. Will man an der Kodifikationsidee festhalten und sollen Gesetze damit die tragende Säule des Rechtsstaates sein, so muss man auch zu einer vermehrten Kodifikation von (mitunter seit Jahrzehnten beständigem) Richterrecht übergehen.

Corporate Governance. Die Regelung geht von der Differenzierung zwischen fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidungen einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten andererseits (Treuepflichten; Informationspflichten; sonstige allgemeine Gesetzes- und Satzungsverstöße) aus. Ein Verstoß gegen diese letztere Pflichtengruppe ist von der Bestimmung nicht erfasst“; Schröer, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018 § 148 Rn. 2: „Mit der Regelung soll nicht die Haftung der Organmitglieder verschärft, sondern die Durchsetzung von Ansprüchen gegen sie erleichtert werden.“ 423 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) v. 22.09.2005, BGBl I, Nr. 60, S. 2802. 424 Dazu ausführlich Fleischer, ZIP 2004, 685, 599 ff. 425 Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 611 ff.; Begriff bei K. Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985, 65. 426 Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 612 (insb. Fn. 85) führen als Beispiel die ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeiten an. 427 Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 612. 428 So zu Recht Fleischer / Wedemann, AcP 2009, 597, 613.

202

Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

§ 10 Das misslungene Richterrecht Problematischer ist der entgegengesetzte Fall, in dem eine Rechtsfortbildung nicht erfolgreich ist. Es sind mehrere Stufen zu unterscheiden: Sind die verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten worden, so wird das BVerfG bei Anlass die Fortbildung für verfassungswidrig erklären.429 Ein solcher Fall ist im Gesellschaftsrecht noch nicht vorgekommen. Liegt dagegen ein Verstoß gegen sonstige Grundsätze vor oder hat sich die Fortbildung schlicht als unpassend herausgestellt, so kann entweder der Gesetzgeber eingreifen und eine vorgenommene Rechtsprechung derogieren, worunter man das Ende der Geltung eines Rechtssatzes versteht,430 oder der Richter wird bei Anlass tätig.431

A. Derogation durch den Gesetzgeber So kann der Gesetzgeber die Norm ausdrücklich und vollständig aufheben (formelle Derogation) oder er erlässt eine gegenläufige, dem ursprünglichen Richterrecht widersprechende Norm (materielle Derogation).432 Der Gesetzgeber kann zumindest theoretisch auch eine abändernde teilweise Derogation vornehmen, indem er Teile des Richterrechts bestehen lässt, andere Teile dagegen selbst regelt. Zumindest denkbar ist auch, dass eine Derogation durch Gewohnheitsrecht stattfindet.433 Eine Derogation von Gesetzesrecht durch Richterrecht wird aufgrund der Vorrangstellung des Gesetzgebers, die in Art. 20 Abs. 3 GG deutlich wird, verneint.434

B. Derogation durch das Gericht Oftmals werden die Richter – falls sich ihnen entsprechendes Fallmaterial bietet – eine Korrektur selbst vornehmen. Diese richterliche „Derogation“ wird in der Literatur auch als Rechtsrückbildung bezeichnet.435 Die Rechtsrückbildung wird hier als eine Unterform der Rechtsfortbildung verstanden,436 denn auch ihr wohnt das für die Rechtsfortbildung konstitutive Element der Veränderung einer 429

S. auch Wank. Honsell, Rechtswissenschaft, 2015, 47. 431 Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003, 23. 432 Honsell, Rechtswissenschaft, 2015, 47. 433 Honsell, Rechtswissenschaft, 2015, 47. 434 Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, 232 f. 435 S. Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003; Wenzel, Die Fortgeltung der Rechtsprechungsregeln zu den eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, 2005 S. 148 ff.; sowie Westermann, in: Lieb / Noack / Westermann, Festschrift für Wolfgang Zöllner, 1998 S. 607 ff. 436 So auch Wenzel, Die Fortgeltung der Rechtsprechungsregeln zu den eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, 2005 S. 149. 430

Kap. 5: Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Gerichte

203

Rechtslage inne, welche noch nicht in einem judikativen oder legislativen Akt angelegt war.437 Auch sie spielt im Gesellschaftsrecht eine bedeutende Rolle. Zu denken ist etwa im Bereich des Bezugsrechtsausschlusses beim genehmigten Kapital an das Siemens / Nolde Urteil.438 Sie betraf einen Direktausschluss bei der Schaffung vom genehmigten Kapital zur Sachkapitalerhöhung. In seinem Bericht führte der Vorstand der Siemens AG aus, dass ein Bezugsrechtsausschluss die Möglichkeit einräumen sollte, in „geeigneten Einzelfällen Beteiligungen gegen Überlassung von Stammaktien der Siemens-AG erwerben zu können“. Die Hauptversammlung stimmte diesem Vorhaben zu. Gegen diesen Beschluss wendete sich ein Aktionär der Siemens AG. Wäre der BGH auch in diesem Urteil seinen alten Holzmüller-Grundsätzen gefolgt, hätte er den Bezugsrechtsausschluss für unzulässig erklären müssen. Denn der Erwerb von Beteiligungen gegen Aktien wurde lediglich in Aussicht gestellt und stand nicht konkret fest. Das tat der BGH indes nicht. Das Gericht räumte zunächst in seinem Urteil ein, dass die früheren Anforderungen an den Bezugsrechtsausschluss bei der Ausgabe von Aktien gegen Sacheinlagen in der Praxis und der Rechtsprechung zu streng und nicht praktikabel waren.439 Dem Institut des genehmigten Kapitals wird dadurch die Flexibilität genommen, die der Gesellschaft im Wettbewerb zustehen muss. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung der Hauptversammlung über den Bezugsrechtsausschluss oder der Ermächtigung des Vorstands dazu muss daher noch nicht aufgrund konkreter Angaben beurteilbar sein, geschweige denn feststellbar, dass der Bezugsrechtsausschluss sachlich gerechtfertigt sein wird. Die Maßnahme muss lediglich allgemein umschrieben und in abstrakter Form der Hauptversammlung bekanntgegeben werden und im Interesse der Gesellschaft liegen.440 Die Hauptversammlung muss folglich anhand von abstrakt umschriebenen Voraussetzungen des vom Vorstand dargelegten Vorhabens prüfen, ob ein Ausschluss oder die Verlagerung der Entscheidung auf den Vorstand gerechtfertigt ist. Bei der Ausübung ist dagegen zu unterscheiden: Der Vorstand darf von der Ermächtigung zur Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss nur dann Gebrauch machen, wenn das konkrete Vorhaben später auch noch seiner abstrakten Umschreibung entspreche und im Zeitpunkt seiner Realisierung noch im wohlverstandenen Interesse der Gesellschaft liegt.441 Der Vorstand hat diese Voraussetzungen im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens sorgfältig zu prüfen und nur beim Vorliegen von dem genehmigten Kapital unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre Gebrauch zu machen. Ist der Vorstand dagegen zum Ausschluss des Bezugsrechts ermächtigt worden, so hat er „in eigener Verantwortung zu prüfen, ob aus unternehmerischer Sicht der Ausschluss des Bezugs 437 Der Sache nach gleich Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991 S. 59 „das noch nicht vorentschiedene“; vgl. auch Gusy, DÖV 1992, 461, 462 bzw. Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007 S. 47. 438 Ausführlich dazu Weber, Anlässe und Methoden der Rechtsrückbildung im Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2003 67 ff. 439 BGH, Urteil v. 23.06.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133, 136 f. 440 BGH, Urteil v. 23.06.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 1. Leitsatz. 441 BGH, Urteil v. 23.06.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 2. Leitsatz.

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Teil 2: Die Bewertung von Richterrecht

rechts der Aktionäre im Interesse der Gesellschaft liegt“.442 Ist diese Voraussetzung gegeben, kann der Vorstand von der Ermächtigung Gebrauch machen. Nach diesen neuen Maßstäben konnte der BGH die Klage abweisen. Es ist also der Fall denkbar, dass die Rechtsprechung aufgrund bestehenden Fallmaterials ihre Rechtsprechung selbst korrigiert. Das ist hilfreich, wenn sich bestehendes Richterrecht als unbrauchbar erweist, nicht aber, wenn damit vielleicht ein wiederbelebtes Problem offengelassen wird. Insgesamt wird man der Ansicht folgen, dass ein solches Hin und Her im Allgemeinen nicht förderlich für die Rechtssicherheit ist. Auch wirtschaftlich ist es sinnvoll, solche Korrekturnotwendigkeiten weitestgehend im Vorfeld zu vermeiden, sodass steigende Transaktionskosten (z. B. Beraterkosten etc.) vermieden werden.

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BGH, Urteil v. 23.06.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133, 139 f.

Dritter Teil

Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 6. Kapitel

Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ Nun wird mithilfe der entwickelten Kriterien eine Analyse der Delisting-Rechtsprechung erfolgen. Es geht dabei nicht um eine detaillierte und abschließende Auseinandersetzung, da eine solche den Rahmen sprengen würde. Es geht um die Schaffung eines Beispiels, wie eine Bewertung letztlich ablaufen könnte.

§ 11 Überblick über das Delisting A. Begriff und Arten des Delistings I. Freiwilliges (echtes) vollständiges Delisting Delisting bezeichnet im Allgemeinen die Beendigung der Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel1 als actus contrarius zur Börsennotierung (Listing).2 Nur bei einem vollständigen Rückzug des Wertpapierinhabers spricht man von einem (vollständigen) Delisting.3 Geht es nur um eine Beendigung des Handels an einem bestimmten Handelsplatz, werden die Aktien an einem anderen Markt mit niedrigeren Anforderungen gehandelt, so spricht man von Downlisting.4 Beim Delisting lassen sich mehrere Unterarten je nach Grund für den Verlust der Zulassung unterscheiden: Von einem regulären oder echten Delisting spricht man, wenn der 1

Groß, Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2016 § 39 BörsG Rn. 11; Groß, ZHR 2001, 141, 145; Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 119 Rn. 30 („Rückzug der bisher börsennotierten AG vom staatlich überwachten, regulierten Handel“); Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 86 („Rückzug einer börsennotierten Aktiengesellschaft […] vom regulierten Markt […]“). 2 Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, 32. 3 Kommt es dagegen nur zum Rückzug von einem Börsenplatz, handelt es um ein partielles Delisting, vgl. Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, 33. 4 Klöhn, NZG 2012, 1041, 1042; das wäre etwa der Fall, wenn man vom regulierten Markt in den sog. Freiverkehr übergeht.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

Emittent einen Antrag stellt und die Zulassungsstelle daraufhin einen Zulassungswiderruf ausspricht (s. § 39 Abs. 2 S. 1 BörsG).5 Dieser Vorgang geschieht mit dem Willen des Emittenten und wird deswegen auch freiwilliges Delisting genannt.6 Dass eine AG den freiwilligen Rückzug vollzieht, verwundert auf den ersten Blick: Die erleichterte Handelbarkeit der Aktie zur Gewinnung von Eigenkapital,7 begünstigt durch die Förderung von Investorenvertrauen durch Marktransparenz,8 sind gewichtige Gründe, eine AG zum Börsenhandel zuzulassen. Ebenso gibt es verschiedene Gründe, dem Börsenhandel den Rücken zuzukehren.9 Neben der für Unternehmen in bestimmten Fällen bestehenden Bedeutungslosigkeit der Eigenkapitalbeschaffung, ist etwa der Wegfall von kapitalmarktrechtlichen Verhaltensund Publizitätspflichten, der Schutz vor feindlichen Übernahmen oder schlicht die Kostenersparnis zu nennen.10 Die Initiative wird dabei oft beim Vorstand liegen. In der Literatur wird auch der gesellschaftsrechtlich typische Konflikt zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaftern hervorgehoben.11 So scheuen Großaktionäre mitunter die nicht geringen Kosten einer Börsennotierung. Ohne eine solche Notierung, würde die AG einen höheren Gewinn einfahren.12 Für diese würden auch die Publizitätspflichten einen geringeren Rang einnehmen, da sie die wesentlichen Informationen bereits aufgrund ihrer Kontrollstellung innehaben.13 II. Freiwilliges (unechtes) vollständiges Delisting Als andere Form eines freiwilligen Delistings gibt es auch den Weg, durch ein sog. kaltes bzw. unechtes Delisting die Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel zu beenden. Davon sind Fälle der Verschmelzung (§§ 2 ff., 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 UmwG) bzw. Aufspaltung (§§ 123 ff., 131 Abs. 1 Nr. 2 UmwG), Vermögens-

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Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 119 Rn. 30. Klöhn, NZG 2012, 1041, 1042. 7 S. zu den einzelnen Motiven Deutsche Börse AG, Praxishandbuch Börsengang, 1. Aufl. 2006, 23 ff. 8 Wackerbarth / Eisenhardt (Fn.  474), 805 ff. 9 S. im Einzelnen zur Motivlage Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 31 ff. sowie de Vries, Delisting, 2002, 13 ff. 10 Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 31 ff. 11 S. de Vries, Delisting, 2002, 20 ff. 12 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 920; wobei die Kosten des Listings nach Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006 33 f. nie so hoch seien werden, dass sie den Hauptgrund für das Delisting bilden. Allerdings stehen im Zusammenhang mit einer Börsennotierung auch andere Kosten im Raum (z. B. Beratungskosten). Zudem kann die Kostenersparnis sehr wohl den Hauptgrund bilden. So waren die Kosten der Börsennotierung im Macrotron Fall mit 16 % des Bilanzgewinns und 77 % der Dividendenzahlungen zu beziffern, vgl. Mutter, EWiR 2001, 459. 13 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 920. 6

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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übertragung auf nichtbörsennotierte AGs und Formwechsel auf GmbHs (§§ 190 ff., 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG) erfasst („reflexartiges Delisting“).14 III. Unfreiwilliges vollständiges Delisting Unfreiwillig ist das Delisting dagegen, wenn der Emittent nach § 39 Abs. 1 BörsG einen Ausschluss in den dort genannten Weisen provoziert (Zwangsdelisting).15

B. Folgen des Delistings Unabhängig davon, auf welche Art ein vollständiges Delisting passiert, sind die Folgen nicht unerheblich: Zum einen fehlt es an einem staatlich geregelten und transparenten Markplatz an dem die Aktie gehandelt werden kann.16 Dadurch wird die Verkehrsfähigkeit der Aktie (Fungibilität) faktisch eingeschränkt,17 was letztendlich auch zu fallenden Kursen, beginnend mit der Veröffentlichung der Absicht zum Delisting, beiträgt.18 Das liegt vor allem daran, dass für viele Inverstoren die gute Handelbarkeit einer Aktie ein entscheidendes Kriterium beim Kauf sein wird.19 Kleinaktionäre dagegen verfolgen oft längerfristige Interessen an der Börse und für sie ist es erheblich schwerer, einzelne Aktien abseits des regulierten Marktes zu handeln.20 Ein solches Problem werden Großaktionäre mit Aktien­paketen dagegen selten haben.21 Zum anderen fehlt es den Kleinaktionären an preisbildenden Informationen,22 die ihnen über verschiedene Schutzvorschriften des regulierten Markts gewährt wurden.23 Für Kleinaktionäre bringt ein Delisting daher im Regelfall erhebliche Nachteile mit sich.

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Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 119 Rn. 30; Groß, Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2016 § 39 BörsG Rn. 12 ff.; Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, 30, der dort den passenden Begriff des reflexartigen Delistings nennt; Zetzsche, NZG 2000, 1065. 15 Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 119 Rn. 30. 16 de Vries, Delisting, 2002, 20; Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 921. 17 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 921; Kleindiek, in: Westermann / Mock, Festschrift für Gerold Bezzenberger zum 70. Geburtstag am 13. März 2000, 2000, 663. Letztlich entzündete sich hier eine der Kernfragen der Delistingproblematik. 18 de Vries, Delisting, 2002, 20. 19 de Vries, Delisting, 2002, 20. 20 de Vries, Delisting, 2002, 20. 21 de Vries, Delisting, 2002, 20. 22 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 921. 23 de Vries, Delisting, 2002, 20 f.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

C. Rechtsentwicklung bis Macrotron Bevor der BGH durch sein berühmtes Macrotron Urteil im Jahr 2002 entscheidend in die Rechtslage eingriff, sahen die Voraussetzung für ein Delisting wie folgt aus: Statt des heutigen § 39 BörsG galt für das Delisting der § 43 BörsG a. F.24 Das freiwillige vollständige Delisting auf Antrag war in § 43 Abs. 4 BörsG a. F. geregelt. Voraussetzung war demnach ein Antrag des Emittenten, regelmäßig vertreten durch den Vorstand (§ 78 Abs.1 S. 1 AktG), und dass der Widerruf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen darf (§§ 43 Abs. 4 S. 1 u. 2 BörsG a. F.). Insofern stimmt die alte mit der neuen Regelung des § 39 BörsG noch überein. Die letzte Anforderung wurde etwa in der Frankfurter Börsenordnung25 aufgrund von § 43 Abs. 4 S. 5 BörsG a. F. dahingehend konkretisiert, dass der Widerruf nur zulässig ist, wenn entweder auch nach dem Widerruf der Handel des Wertpapiers an einem organisierten Markt gem. § 2 Abs. 5 WpHG gewährleistet erscheint oder den Inhabern der Wertpapiere ein Kaufangebot unterbreitet wird, das in einem angemessenen Verhältnis zu dem Börsenkurs der letzten sechs Monate vor Stellung des Antrags auf Widerruf steht.26 Strittig war, ob es neben diesen Voraussetzungen noch weitergehende Anforderung geben muss, um die Aktionäre ausreichend zu schützen. Der Grund dafür wurde darin gesehen, dass durch den Rückzug in die Interessen der (Minderheits-) 24 § 43 BörsG wurde damals zuletzt durch das Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Drittes Finanzmarktförderungsgesetz) vom 24. März 1998 geändert und Abs. 4 eingefügt. Diese Regelung galt als Kompromiss zwischen der Möglichkeit, sich von der Börse zurückzuziehen und der Angst der Regionalbörsen, wichtige Emittenten zu verlieren (s. Groß, ZHR 2001, 141, 142; zur Bedeutung der Emittenten für die Börse s. de Vries, Delisting, 2002, 22). In der Fassung der Bekanntmachung vom 09.09.1998 (BGBl. I S. 2682) sah § 43 BörsG wie folgt aus: (1) Die Geschäftsführung kann die amtliche Notierung zugelassener Wertpapiere 1. aussetzen, wenn ein ordnungsgemäßer Börsenhandel zeitweilig gefährdet oder wenn dies zum Schutz des Publikums geboten erscheint; 2. einstellen, wenn ein ordnungsgemäßer Börsenhandel für die Wertpapiere nicht mehr gewährleistet erscheint. Die Geschäftsführung unterrichtet das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel unverzüglich über Maßnahmen nach Satz 1. (2) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aussetzung der amtlichen Notierung haben keine aufschiebende Wirkung. (3) Die Zulassungsstelle kann die Zulassung zur amtlichen Notierung außer nach den Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze und nach § 44d Satz 2 widerrufen, wenn ein ordnungsgemäßer Börsenhandel auf Dauer nicht mehr gewährleistet ist und die Geschäftsführung die amtliche Notierung eingestellt hat. (4) Die Zulassungsstelle kann die Zulassung zur amtlichen Notierung auf Antrag des Emittenten widerrufen. Der Widerruf darf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen. Die Zulassungsstelle hat den Widerruf auf Kosten des Emittenten unverzüglich in mindestens einem überregionalen Börsenpflichtblatt zu veröffentlichen. Der Zeitraum zwischen der Veröffentlichung und der Wirksamkeit des Widerrufs darf zwei Jahre nicht überschreiten. Nähere Bestimmungen über den Widerruf sind in der Börsenordnung zu treffen. 25 Der § 54a der Börsenordnung für die Frankfurter Wertpapierbörse (BörsO FWB) vom 16. Dezember 1994 mit Stand vom 3.5.1999 und weitere vergleichbare Regelungen aus anderen Bundesländern sind abgedruckt bei de Vries, Delisting, 2002, S. 149 ff. (Anhang); s. zu den anderen auch Bundesländern Bungert, BB 2000, 53, Fn. 3. 26 Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1065; Wirth / Arnold, ZIP 2000, 111, 112.

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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Aktionäre eingegriffen wird, weil dadurch ein „Verlust der Verkehrsfähigkeit“ eintritt.27 Im Raum standen damit folgende Fragen:28 – Kann der Vorstand einen Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung stellen, ohne dass die Hauptversammlung einen Beschluss hierüber gefasst hat?29 – Welche Mehrheitserfordernisse für den Beschluss gelten? – Gibt es eine Berichtspflicht? – Gibt es eine materielle Inhaltskontrolle? – Wie man sonst einen gerechten Ausgleich für den Verlust der Fungibilität erreichen kann (Barabfindungsangebot an die Aktionäre / Überprüfbarkeit im Spruchverfahren)? Einen solchen Schritt konnte man nur gehen, wenn man § 43 BörsG a. F. nicht als abschließende Regelung des Gesetzgebers über das Delisting – auch für das Gesellschaftsrecht – verstand, wofür es gute Gründe gab.30 Diejenigen, die keine abschließende Normierung annahmen, waren sich ansonsten uneinig: Einige sahen im (vollständigen) Börsenrückzug einen Fall, der unter die auch damals bereits sehr strittige Holzmüller-Rechtsprechung fallen sollte.31 Diese besagte zum damaligen Zeitpunkt, dass bei schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte und Interessen der Aktionäre der Vorstand ausnahmsweise nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, gem. § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeizuführen.32 Zwar steht es nach einigen Stimmen, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, grundsätzlich im Ermessen des Vorstands, ob er nach § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeiführen will, um seine Verantwortlichkeit zu mindern. Es gibt jedoch grundlegende Entscheidungen, die so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörperten Vermögensinteressen eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe sie in ausschließlich eigener Verantwortung treffen, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen.33 27

Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 39. Vgl. Eßers / Weisner / Schlienkamp, DStR 2003, 985 m. w. N. 29 Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 39. 30 Wirth / Arnold, ZIP 2000, 111 113 f.; a. A. Mülbert, ZHR 2001a, 104, 116 f. und Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1166. 31 Hopt / Baumbach, Handelsgesetzbuch, 30. Aufl. 2000 § 43 BörsG Rn. 3 (für das vollständige Delisting); so auch Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 761; im Ergebnis auch Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1166; von einem „fortschreiben der „Holzmüller-Doktrin“ spricht Kleindiek, in: Westermann / Mock, Festschrift für Gerold Bezzenberger zum 70. Geburtstag am 13. März 2000, 2000, 664; eindeutig dagegen Groß, ZHR 2001, 141, 163 ff. 32 S. bereits oben in der Einführung; BGH Urteil v. 25.02.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 ff. 33 BGH Urteil v. 25.02.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 131. 28

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

Obwohl der Holzmüller-Fall eigentlich einen Konzernfall betraf, wurde die richterliche Regelung von einer breiten Meinung in der Literatur in ihrem Anwendungsbereich auch auf wesentliche Strukturänderungen innerhalb einer AG ausgedehnt oder – ebenso unklar im Anwendungsbereich – ein Holzmüllerfall angenommen, wenn die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Aktionäre grundlegend verändert wird.34 Aufgrund des von einem Teil der Literatur angenommen „tiefen Eingriffs“ in die Aktionärsrechte beim vollständigen Börsenrückzug wurde daher in der Konsequenz ein Hauptversammlungsbeschluss über das Delisting gefordert, der nach einer Ansicht von mindestens einer ¾-Mehrheit der Stimmen (satzungsändernde Mehrheit) getragen werden musste. Nach anderer Ansicht genügte dagegen eine einfache Mehrheit.35 Einige gingen sogar davon aus, dass die Anforderungen an eine formwechselnde Umwandlung erfüllt seien müssen. Hierzu gehören neben dem besagten Hauptversammlungsbeschluss mit 75 % Mehrheit der abgegebenen Stimmen (ohne Möglichkeit zur materielle Beschlusskontrolle [Treuepflicht etc.]36), ein entsprechender Delisting-Bericht, ein Barabfindungsangebot und als Rechtsmittel das umwandlungsrechtliche Freigabe- und Spruchstellenverfahren.37 Diese Ansicht orientierte sich z. T. an einer Wertungsgleichsetzung mit dem kalten Delisting. Dort gäbe es die im UmwG befindlichen Schutzinstrumente und es wäre daher geboten gewesen, diese auch auf ein reguläres Delisting zu übertragen,38 denn das Delisting auf Antrag entspreche eigentlich für den anlageorientierten Minderheitsaktionär in seiner wirtschaftlichen Wirkungsweise einem Formwechsel in eine Rechtsform mit verminderter Anteilsfungibilität.39 Diese Ansicht war mit unterschiedlichen Begründungen weit verbreitet. Andere dagegen verzichteten auf solch weitgehende Anforderungen und sahen den kapitalmarktrechtlichen Schutz als ausreichend zum Schutz der Aktionäre an.40 Dieser kurze Abriss der Entwicklung soll aufzeigen, dass das Delisting in der Literatur eine hohe Aufmerksamkeit bekam, weil viele Punkte umstritten waren. Insofern war es erfreulich, dass der Rechtsprechung die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Rechtsauffassung darzulegen.

34 Vgl. Wirth / Arnold, ZIP 2000, 111, 114; für letzteres etwa Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 761; zum Streit s. auch Groß, ZHR 2001, 141, 162 m. w. N. 35 Hopt / Baumbach, Handelsgesetzbuch, 30. Aufl. 2000 § 43 BörsG Rn. 3. 36 Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1167, der meint, Minderheitenschutz müsse anders erreicht werden. 37 Zusammenfassung von Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1170; ähnlich auch Vollmer / Grupp, ZGR 1995, 459, 480; für Barabfindungsangebot auch Hopt / Baumbach, Handelsgesetzbuch, 30. Aufl. 2000 § 43 BörsG Rn. 3; a. A. Mülbert, ZHR 2001a, 104, 139. 38 Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1167 ff. 39 So Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1168; ähnlich bereits Vollmer / Grupp, ZGR 1995, 459, 474 ff. sowie de Vries, Delisting, 2002, 143 ff. 40 Bungert, BB 2000, 53, 58; Wirth / A rnold (Fn. 1305) 116.

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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§ 12 Sachverhalt, Prozessgeschichte und Entscheidungen im Fall Macrotron Für die Analyse wird zunächst der Sachverhalt dargestellt werden. Weil sich das Recht in mehreren Urteilen fortentwickelt hat, soll sodann die Prozess­geschichte (LG / OLG) dargestellt werden, um anschließend auf das Macrotron Urteil des BGH einzugehen.

A. Sachverhalt Die Macrotron-Entscheidung beschäftigte sich mit einer börsennotierten AG (Macrotron Aktiengesellschaft für Datenerfassungssysteme), die über ein Grundkapital von 11 Mio. DM, je zur Hälfte aus Stammaktien und stimmrechtslosen Vorzugsaktien verfügte, die (mittelbar) mehrheitlich von der Ingram Micro Inc., Santa Ana, Kalifornien, gehalten wurden.41 Lediglich 1,07 % der Stammaktien und 8,5 % der Vorzugsaktien befanden sich noch in Streubesitz. Die Kosten der Börsennotierung beliefen sich auf ca. 340.000,– DM p. a. Der Handel mit Stamm- und Vorzugsaktien der AG war nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Die Kläger waren Aktionäre der Macrotron AG und fochten u. a.42 den Beschluss der Hauptversammlung der AG an, der den Vorstand mit 108.954 Ja-Stimmen zu 190 Nein-Stimmen bei einer Präsenz des Grundkapitals von 95,88 % ermächtigte, ein reguläres (vollständiges) Delisting bei den Börsen in Frankfurt und München zu beantragen.43 Die damalige Fassung des § 54a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 der BörsO für die Frankfurter Wertpapierbörse Börsenordnung (FWB) lautete: „Der Schutz der Anleger steht einem Widerruf insbesondere dann nicht entgegen, wenn den Inhabern der Wertpapiere ein Kaufangebot unterbreitet wird. Der Preis für das Kaufangebot muss in einem angemessenen Verhältnis zum höchsten Börsenpreis der letzten sechs Monate vor Stellung des Antrags auf Widerruf der Zulassung stehen (…).“ Zuvor hatte eines der Aufsichtsratsmitglieder das Kaufangebot des Großaktionärs auf 601,00 DM für jede Stammaktie zu 50,00,– DM und auf 555,00 DM für jede Vorzugsaktie zu 50,00,– DM erhöht. Die klagenden Aktionäre monierten, dass die Ermächtigung des Vorstands zum Delisting eine Blankovollmacht darstelle. Sie enthalte keinerlei Festlegung, ob ein solcher Antrag innerhalb welcher Frist

41 Zum Sachverhalt s. LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, BB 1999, 2634 f. 42 In der Sache ging es auch noch um andere Beschlüsse (Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat / Verwendung des Bilanzgewinns). 43 Vgl. LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 274 bzw. K. Schmidt, NZG 2003, 601 f.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

und unter welchen Voraussetzungen gestellt werden müsse.44 Die Ermächtigung wurde mithin als zu unbestimmt angesehen. Da die Gesellschaft erst 1988 zum geregelten Markt an die Börse gebracht worden und im August 1996 die Aktien in den amtlichen Handel eingeführt worden seien, wobei 1988 wie auch 1990 das Grundkapital erheblich erhöht und ein größeres Anlegerpublikum zur Zeichnung animiert worden sei, verstoße es gegen die Treuepflicht des Mehrheitsaktionärs gegenüber den freien Aktionären, die Aktie von der Börse zu nehmen. Diese Entscheidung nehme auf den Anlegerschutz entgegen der Vorschrift des § 43 Abs. 4 BörsG keine Rücksicht. Durch das Delisting werde in die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Aktionäre grundlegend eingegriffen. Das Delisting stelle eine Grundlagenentscheidung für die AG dar, die die Vorlage eines schriftlichen Berichtes im Zeitpunkt der Veröffentlichung der Tagesordnung erforderlich mache. Hiergegen wurde von den Vertretern der Aktiengesellschaft eingewendet, dass den vermögensrechtlichen Interessen der Minderheit durch ein freiwilliges öffentliches Angebot des Kaufs der Aktien zum Höchstkurs der letzten sechs Monate Rechnung getragen werde. Die Aktionäre könnten aufgrund des geringen Handelsvolumens sonst nicht damit rechnen, einen angemessenen Marktpreis für ihre Anteile zu erhalten.

B. LG I München Das Landgericht I München, das die erste (deutsche) Delisting-Entscheidung zu treffen hatte,45 war der Auffassung, dass die beschlossene Ermächtigung des Vorstands, einen Antrag auf ein reguläres Delisting zu stellen, nicht gegen das Gesetz verstoße. 44

Im BAnz. Nr. 64 vom 7.4.1999 wurde vor der Hauptversammlung u. a. der Tagesordnungspunkt (TOP) 9 wie folgt angekündigt: „Beschlussfassung über ein reguläres Delisting / Vorstand und Aufsichtsrat schlagen vor, folgenden Beschluss zu fassen: Der Vorstand wird ermächtigt, einen Antrag auf Widerruf der Zulassung zur amtlichen Notierung der Aktien der MACROTRON AG für Datenerfassungssysteme, Wertpapier-Kenn-Nummern 654910, 654913, bei der Frankfurter Wertpapierbörse / Wertpapierzulassungsstelle und der Bayerischen Börse (München)/Wertpapierzulassungsstelle zu stellen. (Antrag auf reguläres Delisting).“ Wegen eines technischen Versehens des Verlags BAnz. wurde der TOP 9 unvollständig abgedruckt und dieser TOP im BAnz. vom 10.4.1999 erneut veröffentlicht mit dem ursprünglich vorgesehenen Zusatz: „Die Ingram Micro Development GmbH beabsichtigt, jedem Aktionär ein Kaufangebot i.H. von 1057,- DM für jede Stammaktie im Betrag von 50,– DM und von 820,– DM für jede Vorzugsaktie im Betrag von 50,- DM für den Verkauf der Aktien anzubieten.“ In der Veröffentlichung vom 7.4.1999 wurde das alte Logo der Bekl. mit Ortsangabe München abgedruckt; auch dies wurde in der Veröffentlichung vom 10.4.1999 berichtigt, ohne darauf hinzuweisen. Am Ende der Einladung im BAnz. vom 7.4.1998 war jedoch der zutreffende Sitz der Bekl. D. bei München und der vollständige Name der Bekl. angegeben. Schließlich wurde im BAnz. vom 17.4.1999 unter Hinweis auf die technischen Versehen des Verlags die Einladung samt Tagesordnung erneut vollständig abgedruckt. 45 Vgl. Bungert, BB 2000, 53 (Einleitung).

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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I. Kein Gesetzesverstoß wegen Unbestimmtheit der Ermächtigung Es stellte fest, dass das Delisting keine aktienrechtliche Regelung erfahren habe.46 Eine Ermächtigung zum Entzug von Rechten, die den Aktionären aufgrund ihrer mitgliedschaftlichen Stellung zustünden, müsste zwar in ihren Konturen und ihrem Ausmaß besonders scharf umrissen sein (z. B. Bezugsrechtsausschluss), bei sonstigen Ermächtigungen des Vorstands, die kein mitgliedschaftliches Recht betreffen, muss das nicht der Fall sein. Im vorliegenden Fall gibt es keinen mitgliedschaftlichen Anspruch auf eine Börsenzulassung der AG (anders beim Bezugsrecht), an der die Aktionäre beteiligt sind, sodass nur wirtschaftliche Interessen beeinträchtigt werden. Die Ermächtigung war daher nach Ansicht des Gerichts ausreichend bestimmt. Denn anders als bei Bezugsrechten, die nach Anzahl und Preis näher bestimmbar sind, ist die Entscheidung, die Börsenzulassung widerrufen zu lassen, nicht durch Mengenangaben und dergleichen präzisierbar. Es wird mit dem Beschluss schlicht das eindeutige Vorhaben des Vorstands gebilligt. II. Kein Gesetzesverstoß gegen §§ 186 Abs. 4 S. 2 AktG, 8 UmwG analog Das Landgericht stellte weiter fest, dass keine Notwendigkeit eines schriftlichen Berichts des Vorstands über die Gründe des Delistings ab dem Zeitpunkt der Einladung zur Hauptversammlung vorgelegt werden muss. Zur Begründung wurde Folgendes ausgeführt: 1. Anerkennung der Holzmüller-Grundsätze im Fall des Delistings Zunächst stellte das Gericht fest, dass die Frage der Börsenzulassung47 bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung eine Strukturmaßnahme von herausragender Bedeutung sei und damit grundsätzlich der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfe. Es erkennt damit merkwürdigerweise ohne Zitierung der Entscheidung die Holzmüller-Grundsätze der Sache nach auch in diesen Fall an.48 Welche Mehrheitserfordernisse hier gelten sollen, konnte das Gericht aufgrund der hohen prozentualen Zustimmung der Hauptversammlung zum Delisting offen lassen.49

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LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 274. Was hier auch das Delisting mit einschließt, vgl. Bungert, BB 2000, 53. 48 S. sodann aber OLG München Urteil vom 14.2.2001 – 7 U 6019/99, NZG 2001, 519, 520. 49 Martinius / Schiffer, DB 1999, 2458, 2461, die aber im Ergebnis die gegenteilige Meinung vertreten und keinen Fall der Holzmüller-Grundsätze erfüllt sehen. 47

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

2. Rechtssicherheit vor richterlicher Fortbildung Zu bedenken sei jedoch, dass gesetzlich nicht geregelte formelle Voraussetzungen für Hauptversammlungsbeschlüsse – wie die Forderung nach einem Bericht §§ 186 Abs. 4 S. 2 AktG, 8 UmwG analog – auf für die betroffenen Gesellschaften klar voraussehbare Einzelfälle beschränkt werden müssen. Die Geschäftsleitung müsse sich auf den Gesetzestext für die Erfüllung der Einladungsformalitäten verlassen können.50 Vor allem bei dem erst 1998 eingeführten Delisting müssten sich die Marktteilnehmer nicht auf durch Richterrecht zusätzlich geschaffene formelle und materielle Voraussetzungen einstellen. Sie dürfen auf eine abschließende Regelung durch den Gesetzgeber vertrauen. In der Sache argumentiert das Gericht hier also mit der Rechtssicherheit. Durch die Schaffung einer von der Kodifikation abweichenden Regelung würde eine Unsicherheit eintreten: Verlautbart das Gesetz etwas nicht, dann muss sich der Rechtskreis im Grundsatz darauf verlassen können, dass es keine darüberhinausgehenden Hürden gibt. 3. Kein Struktureingriff Weiter handele es sich beim Delisting um keinen Struktureingriff.51 Das Gericht argumentiert hier also mit der fehlenden Vergleichbarkeit der Fälle. So sei der Abschluss von Unternehmensverträgen, der Verkauf wesentlicher Beteiligungen oder der Ausschluss von Bezugsrechten mit dem Verlust der Börsennotierung nicht vergleichbar. Das Delisting stelle rechtlich keinen Struktureingriff oder gar -wechsel dar, weil der gesellschaftsrechtliche Rahmen gleich bleibe und Mitgliedschaftsrechte unverändert fortbestehen sollen. Der aktuelle und zukünftige Wert der Gesellschaft als solcher werde – anders als bei dem Verlust der Eigenständigkeit oder der Veräußerung von Unternehmenswerten – nicht beeinträchtigt. Der Wert des Anteils des einzelnen Aktionärs an der Gesellschaft werde auch nicht geschmälert, anders als bei dem Entzug von Bezugsrechten, die einen Teil des in der Aktie verkörperten Vermögenswertes darstellen. 4. Nur Außenbeziehung tangiert Die Börsennotierung beeinflusse zudem nur die Außenbeziehung des Aktionärs, indem die einfache Disponibilität dieser Vermögenswerte über die Börse beseitigt wird. Sie tangiere das Verhältnis des Aktionärs nach „innen“ zu seiner AG nicht.52 Auch die bekannte Abhängigkeit des Marktwerts der Aktie vor der Börsenzulassung ändere daran nichts, weil sie unabhängig von Gegebenheiten innerhalb der 50

LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273 f. LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275. 52 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275. 51

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AG seien. Schließlich sei das Delisting auch von Amts wegen möglich, § 43 Abs. 3 BörsG. Auch hierauf haben die Aktionäre keinen (un-)mittelbaren Einfluss. Es wird also wieder die mangelnde Vergleichbarkeit der Fälle betont. III. Kein Inhaltlicher Mangel des Delistingsbeschlusses Das Gericht war schließlich auch der Auffassung, dass eine nur begrenzte Inhaltskontrolle des Delistingbeschlusses möglich und insoweit keine Rechtsfehler festzustellen seien. Die rechtlichen Interessen der Aktionäre im Rahmen des börsenrechtlichen Delistingverfahrens seien ausreichend gewährleistet. 1. Eingeschränkter Prüfungsumfang Grundsätzlich trügen Hauptversammlungsbeschlüsse, die mit einer ausreichenden oder sogar satzungsändernden Mehrheit beschlossen sind, ihre Rechtfertigung in sich. Es obliege nicht den Gerichten zu kontrollieren, ob sie wirtschaftlich sinnvoll seien oder nicht. Damit liegt das Gericht auf einer Linie mit der Rechtsprechung des BGH, die eine materielle Beschlusskontrolle nur in solchen Fällen zulässt, in denen in die mitgliedschaftliche und vermögensrechtliche Stellung der Aktionäre hinreichend schwer eingegriffen wird.53 Unklar blieb nach einer Ansicht, ob das LG die Inhaltskontrolle mangels ausreichenden Eingriffs in die Aktionärsrechte ablehnte oder weil die Interessen der Aktionäre im börsenrechtlichen Delistingverfahren ausreichend gewährleistet erschienen.54 Richtigerweise dürfe zumindest letzteres zutreffen, weil das Gericht in seiner Urteilsbegründung – nicht zweifelsfrei, aber doch mit einiger Bestimmtheit – formulierte, dass die Interessen der Aktionäre durch das börsenrechtliche Delistingverfahren ausreichend geschützt werden.55 2. Treuepflichtverletzung Die begrenzte Inhaltskontrolle umfasse nach dem Gericht eine mögliche Treuepflichtverletzung, die im Ergebnis jedoch nicht gegeben sei.56

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Martinius / Schiffer, DB 1999, 2458, 2461 mit Verweis auf die Kontrolle beim Bezugsrechtsausschluss bzw. die ablehnende Haltung des BGH bei der Kontrolle eines Mehrheitsbeschlusses über die Auflösung einer Kapitalgesellschaft. 54 Martinius / Schiffer, DB 1999, 2458, 2461. 55 LG München I, Urteil v. 4.11.1999 – 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275. 56 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275.

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a) Keine Berührung der mitgliedschaftlichen Stellung und ausreichende Wahrung der Vermögensinteressen Das Delisting berühre als solches die mitgliedschaftliche Rechtsstellung der Aktionäre nicht, da den vermögensrechtlichen Interessen der Minderheit durch ein freiwilliges öffentliches Angebot des Kaufs der Aktien zum Höchstkurs der letzten sechs Monate Rechnung getragen werde. b) Vergleich mit Liquidation Abschließend zeige der Vergleich zur Stimmrechtsmacht der Mehrheit im Falle einer Liquidation der Gesellschaft, die der inhaltlichen gerichtlichen Kontrolle nicht unterliege, dass die klagenden Aktionäre den Rückzug der AG von den Börsen aktienrechtlich nicht verhindern könnten. Dieses Erstrechtargument konnten die Aktionäre nicht mit der Einrede der Treuwidrigkeit widerlegen. Ihnen sei zwar zuzugeben, dass die AG den Börsengang zur Kapitalerhöhung und zur Gewinnung eines breiten Aktionärskreises genutzt habe, dies verhindere jedoch nicht, dass sich der Aktienbesitz erneut in einer Hand wiedervereinigt und damit der Börsenhandel faktisch zum Erliegen komme. Bei einer so jungen AG könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie von der Börsenzulassung gleichsam wesensmäßig geprägt sei; dies könne lediglich eine historische Episode in der Unternehmensentwicklung darstellen. c) Keine Ungleichbehandlung mangels Gewährung von Sondervorteilen Der Mehrheitsaktionär sei durch das Delisting in gleicher Weise wie die Minderheit betroffen. Im Zeitalter des Internets könne nicht ernsthaft behauptet werden, dass eine außerbörsliche Veräußerung von Anteilen nur an den Mehrheitsaktionär, der den Preis diktiere, möglich wäre. Es gäbe daher keine Sondervorteile des Mehrheitsaktionärs. 3. Verfassungswidriger Eingriff in Art. 14 GG Vor dem Hintergrund der DAT / Altana-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts57 überprüfte das Gericht weiter, ob die Verweigerung einer eingehenderen richterlichen Überprüfung der aktienrechtlichen Berechtigung des Delisting (Ablehnung einer materiellen Beschlusskontrolle) die Aktionäre in ihrer Eigentumsfreiheit verletzt. Das BVerfG hatte entschieden, dass es mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar sei, bei der Bestimmung der Abfindung oder des Ausgleichs für außen 57

BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931.

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stehende oder ausgeschiedene Aktionäre nach §§ 304, 305, 320b AktG den Börsen­ kurs der Aktien außer Betracht zu lassen. Eine Abfindung dürfe grundsätzlich nicht unter dem Börsenkurs der Aktie liegen.58 Das BVerfG entschied, dass die Verkehrsfähigkeit als Eigenschaft des Aktieneigentums bei der Wertbestimmung des Eigentumsobjekts nicht außer Betracht bleiben dürfe.59 a) Ausreichender Schutz durch Gesetzeslage und Börsenordnung Mit der beschlossenen Ermächtigung des Vorstands, ein sog. Delisting zu beantragen, sei der Ausgang des Antragsverfahrens bei den Börsen noch nicht präjudiziert, d. h., wenn überhaupt kann nach Ansicht des Gerichts ein (verfassungswidriger) Eingriff in Art. 14 GG nur durch das börsenrechtliche Verfahren, nicht aber durch den Beschluss der Hauptversammlung angenommen werden. Wie sich aus dem Wortlaut des § 43 Abs. 4 S. 2 BörsG ergebe, kann die Zulassung zur amtlichen Notierung nur widerrufen werden, wenn sie nicht dem Schutz der Anleger widerspricht. In dem verwaltungsrechtlichen Antragsverfahren hätten die Aktionäre von Gesetzes wegen zwar keine verfahrensrechtliche Sonderstellung, sie können sich jedoch durch Eingaben Gehör verschaffen und gegebenenfalls als Beigeladene gehört werden. Die Börsenorgane müssen nämlich zur Frage des Anlegerschutzes von Amts wegen Feststellungen treffen.60 Nach Meinung der Kammer müsse den Aktionären bei einem eindeutigen Fehlgebrauch des Ermessens der Börsen sogar ein Anfechtungsrecht zustehen, sofern der Widerruf der Börsenzulassung, der nicht sofort wirksam wird (vgl. § 43 Abs. 4 S. 2 BörsG), ihre Eigentumsrechte tatsächlich verletzen würde. Den zur Prüfung eines Widerrufs berufenen Fachgerichten obliege es, festzustellen, ob den Interessen der Aktionäre als Anleger ausreichend Rechnung getragen wurde, insbesondere ob das öffentliche Kaufangebot im Hinblick auf die Fungibilitätseinbußen und wegen der Nachteile auf die Beleihungsfähigkeit der Aktien ausreichend sei.61 Es gehe hier also auch um eine Abgrenzung der Kontrollbereiche i. S. d. Rechtssicherheit. Eine parallele Überprüfung des gleichen Sachverhalts von mehreren Gerichtszweigen sei nicht angezeigt. b) Kein Eigentumseingriff Die klagenden Aktionäre dürften nicht übersehen, dass das Delisting als solches keinen Eigentumseingriff darstelle.62 Wie die im UmwG geregelte Formumwandlung von Aktiengesellschaften zeige, ist nicht die Veräußerungsmöglichkeit von 58

BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932. BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932; Martinius / Schiffer, DB 1999, 2458, 2462. 60 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275. 61 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275. 62 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275 f. 59

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Unternehmensanteilen an der Börse der Kern des Eigentums, sondern der Anteil an Unternehmen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Börsenkurs als Abfindungsmindestwert gehe ebenfalls von dieser Prämisse aus. Der Börsenkurs sei lediglich ein Instrument, den Anteilswert für die Abfindung zu bestimmen. IV. Keine Kontrolle der Angemessenheit des Kaufangebots durch aktienrechtliches Spruchverfahren Die Kontrolle der Angemessenheit des Kaufangebots des Mehrheitsaktionärs könne auch nicht durch ein richterrechtlich geschaffenes, für diesen Fall vom Gesetz nicht vorgesehenes aktienrechtliches Spruchverfahren gewährleistet werden.63 Zum einen sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei der erstmaligen Regelung des Delistings Alternativen zum Anleger- und Aktionärsschutz bedacht und eine vollständige Normierung im BörsG getroffen habe.64 Deshalb liege keine durch analoge Anwendung eines Sonderverfahrens zu schließende Regelungslücke vor. Zum anderen sei darauf hinzuweisen, dass außer bei den gesetzlich vorgesehenen Abfindungen, Garantiedividenden und festen Aktienumtauschverhältnissen eine gerichtliche Kontrolle von freiwilligen Kaufangeboten Dritter nicht in Betracht kommt. Die Erhöhung eines freiwilligen Kaufangebots durch ein Gericht würde die verfassungsrechtlich garantierte Privatautonomie verletzen.

C. OLG München Die Literatur bewertete die Entscheidung des LG als überwiegend gelungen, hatte aber einzelne Punkte zu kritisieren.65 Das OLG München stellte sich in seiner Entscheidung im Ergebnis im vollen Umfang hinter die Vorinstanz.66

63 Gemeint war hier die analoge Anwendung des inzwischen mit Wirkung v. 1.9.2003 durch das Gesetz zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens (Spruchverfahrensneuordnungsgesetz) v. 12.6.2003 (BGBl. I S. 838) aufgehobenen § 306 AktG, vgl. Marti­ nius / Schiffer, DB 1999, 2458, 2462. 64 LG München I, Urteil v. 04.11.1999, 5 HKO 10580/99, NZG 2000, 273, 275 f. 65 Bungert BB 2000, 53, 55 kritisiert die Übertragung der Grundsätze der Holzmüller-Entscheidung; ebenso Martinius / Schiffer DB 1999, 2458, 2461. 66 OLG München, Urteil v. 14.2.2001 – 7 U 6019/99, NZG 2001, 519. Im Folgenden wird nur der Kern der Entscheidung wiedergegeben, soweit er für diese Arbeit interessant ist. Nach Ansicht des OLG lag insofern auch ein ausreichend bestimmt gefasster Ermächtigungsbeschluss vor. Es wurde auch bestätigt, dass kein Vorstandsbericht nach §§ 186 Abs. 4 S. 2 AktG, 8 UmwG ana­log notwendig sei.

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I. Holzmüller-Grundsätze gelten für das Delisting Es entschied, dass die Ermächtigung des Vorstandes einer AG, einen Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung zu stellen, eines Beschlusses der HV bedürfe. Nach den Grundsätzen der Holzmüller-Entscheidung bestehe eine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung für Maßnahmen der Gesellschaft, die in ihrer Tragweite für die Aktionäre denjenigen entsprechen, die das Gesetz der Entscheidungskompetenz der HV unterstellt (§ 119 AktG). Erfasst würden danach solche Entscheidungen, die in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse so stark eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen könne, er dürfe sie ausschließlich in eigener Verantwortung treffen. Die streitgegenständliche Ermächtigung des Vorstands stelle nach diesen Kriterien eine solche Grundlagenentscheidung dar. Die mit dem „going private“ verbundene Einschränkung der Handelbarkeit der Geschäftsanteile würden massiv die wirtschaftlichen Interessen der Aktionäre tangieren, die auch durch den Freiverkehr nicht ausgeglichen werden können. Dabei ginge es um den Wegfall von Publizitäts- und Verhaltenspflichten nach dem Börsen- und Wertpapierhandelsgesetz, namentlich die kapitalmarktrechtlichen Informationspflichten (§§ 44 ff. BörsG67) und die ad-hoc-Publizität (§§ 15 WpHG68), die den amtlichen oder geregelten Markt voraussetzten.69 Vor allem die eingeschränkte Fungibilität der Aktien stände der ursprünglichen Investitionsentscheidung insbesondere der Minderheitsaktionäre relevant entgegen. Die Bedeutung der Handelbarkeit als Eigenschaft des Aktieneigentums läge bei Beteiligungen an börsennotierten AGs nämlich insbesondere darin, dass es den Aktionären – jedenfalls bei einem funktionierenden Kapitalmarkt – praktisch jederzeit möglich sei, die Aktien zu marktgerechten, ordnungsgemäß zu Stande gekommenen und staatlich überwachten Preisen veräußern zu können. Die Aktie sei aus der Sicht des Kleinaktionärs so attraktiv, weil er sein Kapital hiermit nicht auf längere Sicht bindet, sondern die Aktie fast ständig wieder veräußern könne. Obwohl den Minderheitsaktionären bei einem Delisting die vermögensrechtlichen Ansprüche auf den Bilanzgewinn, auf das Bezugsrecht neuer Aktien bei einer Kapitalerhöhung, das Recht auf Teilnahme am Liquidationserlös sowie auch die Verwaltungsrechte erhalten bleiben, rechtfertige dieser mit dem Delisting verbundene Eingriff in die wirtschaftlichen und damit vermögensrechtlichen Interessen der Minderheit, nach den Grundsätzen der Holzmüller-Doktrin von einer Grundlagenentscheidung auszugehen. Gestützt wird dieses Argument mit einem fehlerhaften Verweis.70 67

Z. B. der damalige § 44 Abs. 1 Nr. 3: Der Emittent der zugelassenen Wertpapiere ist verpflichtet, das Publikum und die Zulassungsstelle über den Emittenten und die zugelassenen Wertpapiere angemessen zu unterrichten. 68 § 15 WpHG betraf damals die Veröffentlichung und Mitteilung kursbeeinflussender Tatsachen. 69 OLG München, Urteil v. 14.2.2001 – 7 U 6019/99, NZG 2001, 519, 520. 70 Dieser Verweis auf Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 739 f. geht in der Sache fehl, weil dort keine Äußerungen zu diesem Thema getätigt werden. Im Grundsatz sind die genannten Autoren aber dafür (s. dort S. 761 ff.).

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II. Keine materielle Inhaltskontrolle Der Hauptversammlungsbeschluss unterliege indes keiner materiellen Inhaltskontrolle. Beschlüsse, die mit der nach dem Gesetz erforderlichen Mehrheit und unter Beachtung des vorgeschriebenen Verfahrens zu Stande gekommen seien, trügen ihre Rechtfertigung in sich; sie bedürfen nicht der sachlichen Rechtfertigung. 1. Kein schwerer Eingriff Nur bei schweren Eingriffen in die mitgliedschaftliche und vermögensrechtliche Stellung der Aktionäre hätte der BGH die inhaltliche Kontrolle von Mehrheitsentscheidungen der Hauptversammlung bejaht. Abgelehnt habe der BGH die materielle Inhaltskontrolle bei der Liquidation der Gesellschaft und dem Ausschluss des Rechts der Aktionäre auf den Bezug von Genussrechten. Nach den Kriterien, die sich danach aus der Rechtsprechung des BGH ergeben würden, scheide eine Inhaltskontrolle vorliegend aus. Dass der Ermächtigungsbeschluss in die Verwaltungsrechte der Minderheitsaktionäre nur marginal und in die vermögensrechtliche Stellung nur bedingt eingreife, sei dargelegt worden. Die Schwere des Eingriffs, die der BGH für eine Inhaltskontrolle verlange, sei trotz des Gewichts, den die Entscheidung für die wirtschaftlichen Interessen der Aktionäre habe, damit nicht gegeben. 2. § 43 BörsG i. V. m. den BörsO als umfassende spezialgesetzliche Regelung Eine materielle Inhaltskontrolle des angefochtenen Ermächtigungsbeschlusses scheide auch deswegen aus, weil § 43 BörsG i. V. m. den BörsO eine umfassende spezialgesetzliche Regelung enthalte und ein weitergehender gesellschaftsrecht­ licher Schutz durch die Überprüfung der Entscheidung auf ihrer sachlichen Rechtfertigung nicht erforderlich sei. Nach § 43 Abs. 4 BörsG könne die Zulassungsstelle die Zulassung zur amtlichen Notierung auf Antrag des Emittenten widerrufen, wobei der Widerruf dem Schutz der Anleger nicht widersprechen darf. Im Rahmen der von der Börse zu treffenden Ermessensentscheidung, sei den Interessen der Anleger am Fortbestand der Börsennotierung Rechnung zu tragen und insbesondere auch zu prüfen, ob das öffentliche Kaufangebot im Hinblick auf die Einbußen, die die Aktionäre durch das „going private“ erleiden, ausreichend sei. In dem börsenrechtlichen Verfahren können die Minderheitsaktionäre uneingeschränkt beteiligt sein. Dass die Ermessensentscheidungen der Börse nicht zu sachgerechten, insbesondere dem Anlegerschutz Rechnung tragenden Ergebnissen kommen, sei nicht ersichtlich, und es spreche nichts dafür, dass es einer zusätzlichen gesellschaftsrechtlichen Kontrolle des angefochtenen Beschlusses bedürfe.

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III. Keine rechtsmissbräuchlichen Stimmausübung Auch unter dem Gesichtspunkt einer rechtsmissbräuchlichen Stimmausübung der Mehrheitsgesellschafter sei eine Anfechtbarkeit des HV-Beschlusses nicht gegeben. 1. Im Ergebnis keine wirtschaftlichen Nachteile Der wirtschaftliche Nachteil, der für die Minderheitsaktionäre infolge des „­ going private“ entstünde, nämlich die eingeschränkte Handelbarkeit der Aktien, werde durch das freiwillige Kaufangebot der Mehrheitsaktionäre ausgeglichen. Dieses Angebot unterliege der Kontrolle der Übernahmekommission.71 Im Hinblick darauf, dass – unstreitig – der Handel mit Stamm- und Vorzugsaktien der AG nahezu vollständig zum Erliegen gekommen war, könne die Annahme des Angebots des Mehrheitsaktionärs der Minderheit deswegen durchaus Vorteile bieten, da sie kaum noch damit rechnen könne, einen angemessenen Marktpreis für ihre Anteile zu erhalten. 2. Kein Ausnutzen der Minderheitsaktionäre Die Entscheidung der Hauptversammlung, auf das Recht der Börsenzulassung der Wertpapiere zu verzichten, stehe auch nicht deswegen grundsätzlich unter dem Verdacht eines willkürlichen Vorgehens, weil die Bekl. erst 1988 zum geregelten Markt an die Börse gebracht wurden und im August 1996 die Aktie in den amt­ lichen Handel eingeführt worden war, wobei 1988 sowie auch 1990 das Grund­ kapital erheblich erhöht und ein größeres Anlegerpublikum zur Zeichnung animiert worden ist. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die AG ungerechtfertigt auf Kosten der Minderheit und nicht aus betriebswirtschaftlichen, von dem Streubesitz hinzunehmenden Überlegungen den Beschluss zum Delisting gefasst hat, sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Die von der AG insoweit vorgetragenen Gründe, nämlich das unstreitig sehr niedrige handelbare Volumen und die mit der Börsennotierung anfallenden Kosten i. H. v. ca. 340.000,– DM p. a. lassen jedenfalls die Entscheidung zum Delisting nicht als rechtsmissbräuchlich erscheinen.

71

Zum Verständnis: Die Übernahmekommission basierte auf dem Übernahmekodex (vor dem Inkraftreten des WpÜG im Jahre 2002). Dabei handelt es sich um eine von der Börsensachverständigenkommission (beim Bundesministerium der Finanzen) veröffentlichte Empfehlung (nicht bindend!). S. dazu AG 1998, 133 ff.

222

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IV. Kein Sondervorteil Der Senat folgte auch der Auffassung, die den Beschluss tragende Mehrheit habe keine ungerechtfertigten Sondervorteile für den Großaktionär i. S. v. § 243 Abs. 2 AktG verfolgt. Zutreffend habe das LG ausgeführt, der Mehrheitsaktionär sei durch das Delisting in gleicher Weise wie die Minderheit betroffen. Eine außerbörsliche Veräußerung von Anteilen sei den Minderheitsaktionären jedenfalls weiterhin möglich, wobei diese Veräußerung keineswegs nur an den Mehrheitsaktionär erfolgen müsse. Auch ein Wissensvorsprung des Mehrheitsaktionärs sei entgegen der Auffassung der klagenden Aktionäre durch die Ermächtigung zum Delisting nicht eingetreten. Der Einwand der AG, der Großaktionär habe über seine Beteiligung am Aufsichtsrat vor dem Delisting einen Informationsvorsprung gegenüber den Minderheitsaktionären gehabt, der sich durch das Delisting nicht vergrößert hat, sei plausibel. V. Kein verfassungswidriger Eingriff in Art. 14 GG Das LG habe zu Recht festgestellt, dass die Ablehnung einer materiellen Beschlusskontrolle durch das Gericht auch keinen verfassungswidrigen Eigentums­ eingriff in die Rechte der Aktionäre darstelle. Wie dargelegt, seien die Interessen der Anleger am Fortbestand der Börsennotierung durch die kapitalmarktrechtlichen Kontroll- und Schutzmöglichkeiten hinreichend gewahrt. Der Senat teile auch die Auffassung des LG insoweit, dass es sich beim Delisting um keinen Eigentumseingriff handelt. Gegenteiliges lasse sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG entnehmen. Das BVerfG habe die Verkehrsfähigkeit als eine Eigenschaft des Wertpapiers, die bei der Berechnung der Abfindung zu berücksichtigen sei, dargestellt. Durch die Einschränkung der Verkehrsfähigkeit, die durch das Delisting eintrete, werde der Kern des Eigentums, der im Anteil am Unternehmen selbst besteht, nicht berührt. VI. Keine Überprüfung in einem Spruchverfahren analog § 306 AktG. Die Durchführung eines Spruchverfahrens analog § 306 AktG sei abzulehnen. Die Analogie verbiete sich deswegen, weil eine Regelungslücke nicht bestehe; insbesondere aber auch, weil die Anpassung eines freiwilligen Kaufangebots durch das Gericht insbesondere einen Eingriff in die Privatautonomie darstelle.

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D. Änderung der Börsenordnung und Verschärfung der Schutzsituation Eine Verschärfung der Schutzsituation trat durch eine Änderung der Frankfurter Wertpapierbörse an der Frankfurter Börsenordnung ein. Die größte Deutsche Börse hatte mit Wirkung zum 26.03.2002 eine Erleichterung des Delistings durch Änderung des § 54a BörsO FWB vorgenommen, um in Frankfurt gelisteten Unternehmen ein kostengünstiges Delisting zu ermöglichen.72 Hintergrund war ein Abflauen des „Börsen-Booms“73. Durch die neue Regelung wurde das anlegerschützende Pflichtangebot in der BörsO FWB abgeschafft,74 wodurch der börsenrechtliche Schutz geschwächt wurde. Es mag daher in der Nachschau als Fehler angesehen werden, dass der Gesetzgeber den Schutz der Anleger durch die Ermächtigung des § 43 Abs. 4 S. 5 BörsG zum Erlass der BörsO im weiten Teilen den Börsen anheimgestellt hat. Hierin ist ein wesentlicher Beweggrund des BGH zu sehen, die noch relative Zurückhaltung der Vorinstanzen aufzugeben.

E. BGH Die Literatur bewertete das OLG Urteil im Allgemeinen als gelungen, wenn sie auch z. T. an einzelnen Punkten deutliche Kritik erhob.75 Selten gab es eine umfassende Ablehnung.76 Als problematisch wurde die Entscheidung wegen einiger rechtlicher Gesichtspunkte, z. T. aber auch wegen der Folgen angesehen. So wurde kritisiert, dass der Vorstand in die missliche Lage geführt werde, einerseits pflichtwidrig die Hauptversammlung nicht befragen zu können, sich anderseits bei einer Befragung aber die Möglichkeit einer Anfechtung des Beschlusses eröffne, sodass die Vorteile des Delistings auf längere Zeit nicht eintreten könnten.77 Dennoch blieb der BGH in seiner Folgeentscheidung teilweise auf dem Weg der Vorinstanzen, nahm aber auch einige Korrekturen vor.78 So verwarf er im Ergebnis die 72

Streit, ZIP 2002, 1279. Streit, ZIP 2002, 1279. 74 Die Vorschrift ist in der alten und neuen Fassung abgedruckt bei Streit, ZIP 2002, 1279, 1283. Zur Erinnerung: Die alte Fassung des § 54a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 lautete: Der Schutz der Anleger steht einem Widerruf insbesondere dann nicht entgegen, wenn den Inhabern der Wertpapiere ein Kaufangebot unterbreitet wird. Der Preis für das Kaufangebot muss in einem angemessen Verhältnis zum höchsten Börsenpreis der letzten sechs Monaten vor Stellung des Antrags auf Widerruf der Zulassung stehen (…). 75 Im Grundsatz zustimmend aber mit Kritik an der Entscheidung hinsichtlich der Verweigerung einer Berichtspflicht Pluskat, WuB I G 7 Börsen- und Kapitalmarktrecht 3.02; kritisch auch Martinius / Schiffer, DB 2001, 750; bzw. Schaub, DStR 2001, 950, 951 f. (Übertragung der Holzmüller-Grundsätze bzw. Berichtspflicht / Spruchverfahren). 76 Gegen die Entscheidung in allen Punkten Mutter, EWiR 2001, 459. 77 Mutter, EWiR 2001, 459, 460. 78 BGH, 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47. Im Ergebnis bestätigte der BGH auch die Vorinstanzen darin, dass der Hauptversammlungbeschluss ausreichend konkret gefasst sei. 73

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Revision der klagenden Aktionäre als unbegründet, soweit sich diese gegen den Beschluss der Hauptversammlung und die Ermächtigung des Vorstands wendeten, das reguläre Delisting der Aktien zu beantragen. I. Holzmüller-Grundsätze gelten nicht für das Delisting Der BGH entschied, dass das reguläre Delisting eines Mehrheitsbeschlusses der Hauptversammlung bedürfe. Insofern entspricht die Entscheidung bis auf die Festlegung des Mehrheitserfordernisses noch den vorinstanzlichen Entscheidungen. Änderungen gab es hinsichtlich der Begründung. Die Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Entscheidung über das reguläre Delisting könne nicht daraus hergeleitet werden, dass mit ihr in die Innenstruktur der Aktiengesellschaft oder in die Mitverwaltungsrechte der Aktionäre eingegriffen werde. Denn die innere Struktur der Gesellschaft verändere sich nicht (Argument 1). Ebenso wenig würden der Bestand des Mitgliedschaftsrechts79 oder das Mitgliedschaftsrecht als quotales Beteiligungsrecht (Dividendenrecht, Anspruch auf Liquidationsanteil) berührt, der Vermögenswert der Beteiligung verwässert oder die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs durch Mediatisierung seiner Mitwirkungsrechte geschwächt (Argument 2). Eine Übertragung der Holzmüller-Grundsätze wurde damit eine Absage erteilt. Dennoch gebiete der Umstand, dass dem Aktionär mit dem Rückzug der Gesellschaft aus dem amtlichen Handel oder vom geregelten Markt der Handelsplatz genommen werde, der ihn in die Lage versetzt, den Wert seiner Aktien jederzeit durch Veräußerung zu realisieren (Argument 3). Das sei für den Großaktionär oder für Paketbesitzer, die mit ihrer Beteiligung unternehmerische Interessen und nicht lediglich Anlageinteressen verfolgten, ohne Bedeutung. Für die Minderheitsund Kleinaktionäre, deren Engagement bei einer Aktiengesellschaft allein in der Wahrnehmung von Anlageinteressen besteht, bringe der Wegfall des Markts hingegen wirtschaftlich gravierende Nachteile mit sich, die auch nicht durch die Einbeziehung der Aktien in den Freihandel ausgeglichen werden könnten (Argument 4). Dieser Verkehrsfähigkeit der Aktien einer an der Börse zugelassenen Aktiengesellschaft, sei mit der Rechtsprechung des BVerfG für die Wertbestimmung der Anteile eine besondere Bedeutung beizumessen: Stünde dem Aktionär nach Abschluss eines Unternehmensvertrags i. S. des § 291 AktG oder nach Vornahme einer Eingliederung i. S. der §§ 319 ff. AktG ein Abfindungsanspruch zu, dann müsse der Abfindungsbetrag so bemessen sein, dass die Minderheitsaktionäre nicht weniger erhielten, als sie bei einer freien Deinvestitionsentscheidung in dem maßgebenden Zeitpunkt hätten erzielen können (DAT / Altana bzw. Moto-­MeterEntscheidung). Der Verkehrswert, und die jederzeitige Möglichkeit, ihn zu realisieren, seien Eigenschaften des Aktieneigentums, die wie das Aktieneigentum selbst

79

Wie etwa bei der Regelung des „Squeeze out“ i. S. der §§ 327a ff. AktG.

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verfassungsrechtlichen Schutz genießen (Argument 5). Dies müsse unmittelbare Auswirkungen auf den Umfang des vermögensrechtlichen Schutzes haben, den das Mitgliedschaftsrecht des Aktionärs genieße. Zwar erstrecke sich der mitgliedschaftliche Vermögensschutz nach der gesetzlichen Regelung unmittelbar lediglich auf die Gewährleistung des Gewinnbezugsrechtes, des Liquidationsanteils und des relativen Vermögenswertes der Beteiligung. Habe der Verkehrswert einschließlich der Verkehrsfähigkeit des Aktienanteils Teil an der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, so sei dieser Schutz jedoch auch im Verhältnis der Gesellschaft zu den Aktionären zu beachten (Argument 6). Unter dieser Voraussetzung betreffe er keineswegs nur das außermitgliedschaftliche Rechtsverhältnis des Aktionärs zu Dritten; er sei bei börsennotierten Gesellschaften unerlässlicher Bestandteil des Rechtsverhältnisses zwischen Aktiengesellschaft und Aktionär. Da der Schutz des mitgliedschaftlichen Vermögenswertes nicht in den Händen der Geschäftsleitung, sondern der Hauptversammlung liege, sei für Entscheidungen darüber auch die Hauptversammlung zuständig. Die Hauptversammlung, nicht die Verwaltung, habe darüber zu befinden, ob das Delisting als eine die Verkehrsfähigkeit der Aktie und damit den Verkehrswert des Anteils beeinträchtigende Maßnahme im Hinblick auf den Minderheitenschutz durchgeführt werden dürfe und solle (Argument 7). II. Überprüfbares Pflichtangebot über Kauf der Aktien durch die Gesellschaft oder Großaktionär Der Umstand, dass die Entscheidung über ein Delisting der Hauptversammlung vorbehalten sei, vermöge allein keinen hinreichenden Schutz der Minderheitsaktionäre zu gewährleisten. Ein solcher sei nur dann sichergestellt, wenn den Minderheitsaktionären der Wert ihrer Aktien ersetzt werde und ihnen die Möglichkeit offen stünde, die Richtigkeit der Wertbemessung in einem gerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. 1. Börsengesetze gewährleisten keinen wirksamen Minderheitenschutz Die einschlägige Regelung des Börsengesetzes gewährleistete keinen wirksamen gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz. Allerdings schreibe § 43 Abs. 4 BörsG a. F. vor, dass der Widerruf der Zulassung dem Schutz der Anleger nicht widersprechen dürfe. Die nähere Ausgestaltung dieses Schutzes überlasse das Gesetz den Börsen (§ 43 Abs. 4 S. 5 BörsG a. F.). Die Börsenordnungen sehen zwar Regelungen vor, mit denen ein Anlegerschutz gewährleistet werden solle. Dieser entspreche jedoch nicht den an einen Minderheitenschutz im Aktienrecht zu stellenden Anforderungen. Einmal könnten die entsprechenden Bestimmungen der Börsenordnungen von dem zuständigen Börsengremium jederzeit geändert werden (Argument 8). Das zeige exemplarisch der Fall der Frankfurter

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

Börse.80 Zum anderen würden die Börsenordnungen nicht zwingend die Erstattung des Wertes der Aktien vorschreiben, sondern die Erstattung eines Betrags, der in einem angemessenen Verhältnis zu dem höchsten Börsenpreis der letzten, vor der Veröffentlichung des Widerrufs liegenden sechs Monate stehe. Da dieser Betrag auch niedriger sein könne als der Wert der Aktien, sei eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderliche volle Entschädigung der Minderheitsaktionäre nicht sichergestellt (Argument 9). Das Kapitalmarktrecht schließe demnach nicht aus, dass den Minderheitsaktionären durch das Delisting ein vermögensrechtlicher Nachteil entsteht. Dieser müsse somit durch Gewährung eines gesellschaftlichen Minderheitenschutzes ausgeschlossen werden. 2. Pflichtangebot notwendig Ein adäquater Schutz der Minderheitsaktionäre könne nur dadurch erreicht werden, dass ihnen mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot über den Kauf ihrer Aktien durch die Gesellschaft (in den nach §§ 71 f. AktG bestehenden Grenzen) oder durch den Großaktionär vorgelegt werde. Da den Minderheitsaktionären eine volle Entschädigung zustehe, muss der Kaufpreis dem Anteilswert entsprechen. 3. Gerichtliche Kontrolle durch Spruchverfahren statt Anfechtungsklage Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsse gewährleistet sein, dass der Aktionär in einem gerichtlichen Verfahren überprüfen lassen könne, ob der ihm erstattete Betrag dem Wert des Anteils entspreche. Dabei habe das BVerfG offen gelassen, ob diese Kontrolle mit dem Institut der Anfechtungsklage oder durch analoge Anwendung der Vorschriften über das Spruchverfahren (§ 306 AktG, §§ 305 ff. UmwG) sicherzustellen sei. Es sei nicht zweckmäßig, die Möglichkeit der Überprüfung, ob das Kaufangebot dem Verkehrswert der Aktien entspricht, durch das Institut der Anfechtungsklage sicherzustellen. Es könne den Interessen beider Parteien nicht vollständig gerecht werden. Die Aktionäre könnten lediglich eine Kassation des Beschlusses erreichen und dadurch dessen 80 BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, NZG 2003, 280, 283: „Durfte nach dem bis zum 26.3.2002 geltenden § 54a I 2 Nr. 2 BörsO FWB dem Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung nur stattgegeben werden, wenn ein öffentliches Kaufangebot zu einem Preis unterbreitet wurde, der in einem angemessenen Verhältnis zum höchsten Börsenpreis der letzten sechs Monate vor Antragstellung stand, kann nach der neuen Regelung der Widerruf schon dann ausgesprochen werden, wenn den Anlegern nach Veröffentlichung der Widerrufsentscheidung genügend Zeit (sechs Monate, vgl. § 54a I 1 Nr. 2 BörsO FWB) verbleibt, die vom Widerruf betroffenen Aktien zu veräußern. Diese Regelung gewährt schon deswegen keinen hinreichenden Anlegerschutz, weil unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Delisting erfahrungsgemäß ein Kursverfall der Aktien eintritt, der es dem Anleger unmöglich macht, die von ihm investierten Vermögenswerte zu realisieren.“

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Durchsetzung verhindern. Sie vermögen auf diese Weise nur mittelbar eine Erhöhung des Kaufangebotspreises durch die Gesellschaft oder den Mehrheitsaktionär zu erreichen. Der Gesellschaft entständen durch das Erfordernis der erneuten Einberufung einer Hauptversammlung unverhältnismäßige Kosten. Ferner könnten für sie durch die Verzögerung des Delistings erhebliche Nachteile eintreten. Wie entsprechende Regelungen im Unternehmensvertragsrecht (§ 304 Abs. 3 S. 2, § 305 Abs. 5 S.2 AktG) und im Umwandlungsrecht (§§ 15, 34, 196, 212 UmwG) zeigten, kann den Belangen der Beteiligten eher dadurch entsprochen werden, dass die Höhe des Angebotsbetrages in einem dafür geschaffenen Verfahren (Spruchverfahren) geklärt werde. Diese Überlegungen, die der Einführung des Spruchverfahrens im Unternehmensvertrags- und Umwandlungsrecht zu Grunde liegen, träfen auch auf das Verfahren des Delistings zu (Argument 10). Es sei daher sinnvoll, den zwischen den Parteien aufgetretenen Konflikt ebenso wie beim Squeeze out nicht auf dem Weg des Anfechtungsverfahrens, sondern des Spruchverfahrens zu lösen. 4. Verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit und Analogiefähigkeit Verfassungsrechtlich sollen nach dem BGH einer analogen Anwendung dieser prozessrechtlichen Vorschriften keine Bedenken entgegenstehen. Es wird dabei auf die Moto-Meter-Entscheidung81 verwiesen (Argument 11). Auch unter prozessualen Aspekten sei die Analogiefähigkeit dieser Vorschriften zu bejahen. Zu Recht werde darauf hingewiesen, dass prozessuale Regelungen lediglich Hilfsmittel zur Durchsetzung des materiellen Rechts sind und ihre Analogiefähigkeit aus diesem Grunde ebenso gegeben sei wie diejenige des Rechts, dessen Durchsetzung sie dienten (Argument 12). Durch die Anwendung der Vorschriften über das Spruchverfahren auf den Fall des Delistings werde zugleich gewährleistet, dass durch die gerichtliche Entscheidung der Wert der Aktien für alle Aktionäre verbindlich festgelegt werde (Argument 13). III. Keine sachliche Rechtfertigung des Hauptversammlungsbeschlusses und kein Vorstandsbericht analog § 186 Abs. 4 S. 2 AktG Es bedürfe weiter keiner sachlichen Rechtfertigung des Hauptversammlungs­ beschlusses, wie sie vom Senat für den Ausschluss des Bezugsrechts gefordert worden sei. Die auf Vorschlag des Vorstands über das Delisting zu treffende Entscheidung habe unternehmerischen Charakter. Da sie von der Hauptversammlung zu treffen sei, liege es somit im Ermessen der Mehrheit der Aktionäre, ob die Maßnahme im Interesse der Gesellschaft zweckmäßig sei und geboten erscheine. Der vermögensrechtliche Schutz der Minderheitsaktionäre sei durch das Erfordernis eines Pflichtangebots, die Aktien zum vollen Wert zu übernehmen, sowie die Mög 81

BVerfG, Beschluss v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95 u. 1 BvR 147/97, NJW 2001, 279.

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lichkeit sichergestellt, die Höhe in einem Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Eines Vorstandsberichts entsprechend § 186 Abs. 4 S. 2 AktG zum Delisting bedürfe es nicht. Die AG habe in der Hauptversammlung die Gründe schlüssig dargelegt, aus denen das Delisting betrieben werden solle. Sie habe die Einsparung der Kosten, drohende Kursschwankungen und drohende Nachteile für die Gesellschaft sowie die Gefahr von Kursmanipulationen aufgeführt. Diese Gründe sind aus sich heraus verständlich und trügen die Entscheidung der Hauptversammlung. Dem Informationsbedürfnis der Minderheitsaktionäre sei hinreichend entsprochen worden. Nach dem Rechtsgedanken des § 124 Abs. 2 S. 2 AktG, der hier entsprechend heranzuziehen ist, genüge es, dass ihnen die Einzelheiten des Widerrufsantrags und das Abfindungsangebot des Mehrheitsaktionärs bekannt gegeben worden seien. IV. Kein missbräuchliches Verhalten Im Übrigen bestätigte der BGH mangels plausibler dargelegter Gründe auch, dass von einer missbräuchlichen Handhabung des Delistings im konkreten Fall nicht gesprochen werden könne.

F. Zwischenübersicht Folgende Übersicht verdeutlicht die wesentlichen Punkte der Entscheidungen: LG

OLG

BGH

Holzmüller-Grundsätze

(+)

(+)

(−)

HV-Beschluss notwendig

Entsprechend (+)

Entsprechend (+)

(+)

Mehrheitserfordernisse

Unklar (wohl satzungs­ ändernde Mehrheit wegen HolzmüllerGrundsätzen)

Unklar (wohl satzungs­ ändernde Mehrheit wegen HolzmüllerGrundsätzen)

einfache Mehrheit

Vorstandsberichts (§§ 186 Abs. 4 S. 2 AktG, 8 UmwG analog)

(−)

(−)

(−)

Sachliche Rechtfertigung des Hauptversammlungs­ beschlusses

(−)

(−)

(−)

Pflichtangebot

(−)

(−)

(+)

Spruchverfahren

(−)

(−)

(+)

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§ 13 Bewertung A. Bewertung durch die Literatur Ebenso wie die Entscheidungen der Vorinstanzen wurde auch das BGH-Urteil nicht nur begrüßt. Viele stimmten im Grundsatz zu, sahen aber als misslich an, dass viele Folgefragen ungeklärt blieben.82 Andere sahen die Entscheidung als miss­ lichen richterlichen Übergriff in Angelegenheiten, die besser der Gesetzgeber geregelt hätte,83 gar als ein Aufschwingen zum Ersatzgeber 84 oder als in vielen Punkten angreifbar bzw. als generelle Erschwerung und Verteuerung des Delistings.85 Andere betonten, dass das reguläre Delisting, wie es der Gesetzgeber konzipiert habe, wegen der aktienrechtlichen Vorgaben sowie des Abfindungsangebots mit dem anschließenden zeitaufwendigen Spruchverfahren leerlaufen werde.86 So wurde in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass die Möglichkeit des Zwangsausschlusses der außenstehenden Aktionäre gegen Zahlung einer angemessenen Barabfindung (Squeeze-out) ein möglicherweise einfacherer Weg darstellt, zu einem ähnlichen Ergebnis zu gelangen.87 Das galt freilich nur für solche Konstellationen, in denen ein solches Squeez-out rechtlich möglich war.88 Keiner der untersuchten Beiträge bezeichnet die Entscheidung in allen Punkten als gelungen.

B. Regelbildung (Auslegung der Entscheidung) Die Regeln, die der BGH für den Börsenrückzug aufgestellt hat, lassen sich auch unter Verwendung der Leitsätze wie folgt formulieren: (1) Das reguläre Delisting bedarf eines Beschlusses der Hauptversammlung, der (2) mit einfacher Mehrheit gefasst werden muss sowie (3) eines Pflichtangebotes der Aktiengesellschaft oder des Großaktionärs über den Kauf der Aktien 82 Heidel, DB 2003, 548 bemängelt etwa, dass nun unklar bleibe, wie ein partielles Delisting bzw. ein Downgrading zu behandeln sei; ähnlich auch Eßers / Weisner / Schlienkamp, DStR 2003, 985 ff. u. Adolff / Tieves, BB 2003, 797 ff.; Wilsing / Kruse, WM 2003, 1110 sehen die Entscheidung als gelungen an, bemängeln sie allerdings in dogmatischer Hinsicht. 83 Im Ergebnis Ekkenga, ZGR 2003, 878, 910. 84 K. Schmidt, NZG 2003, 601, 603 f., der aber ansonsten der Entscheidung eher positiv gegenübersteht, aber auch die Folgeproblematik kritisch sieht (s. a. a. O., S. 604 ff.) 85 Bürgers, NJW 2003, 1642, 1644: „Die umfassenden Ausführungen machen deutlich, dass hier die Bemühung um eine detaillierte Rechtsfortbildung im Vordergrund steht, die aus der Sicht der Rechtspraxis auch zu begrüßen ist. Allerdings kann die undifferenzierte Anknüpfung an einen Eingriff in die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und den als verfassungsrechtlich geboten bezeichneten Minderheitenschutz aus dogmatischer Sicht nicht überzeugen.“; ähnlich auch Marsch-Barner, LMK 2003, 108, 108 ff., der wie Pfüller / Anders, NZG, 459, 465 den Kosten- und Zeitaspekt negativ hervorhebt. 86 Holzborn, WM 2003, 1105, 1109. 87 Süßmann, BRK 2003, 253, 257 f. 88 Süßmann, BRK 2003, 253, 257 f.

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der Minderheitsaktionäre. Das Pflichtangebot muss (4) die Erstattung des vollen Wertes des Aktieneigentums vorsehen. Es ist (5) entsprechend den Regeln des Spruchverfahrens im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu überprüfen.89 Für Regel 1 wird angeführt, dass der Verlust der Wertrealisierung der Aktie durch Veräußerung – insb. bei Kleinaktionären – mit wirtschaftlich gravierenden Nachteilen einhergehe. Nach der Rechtsprechung des BVerfG – die den Verkehrswert einschließlich der Verkehrsfähigkeit des Aktienanteils als Teil der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG begreift – rechtfertigt nach Ansicht des BGH, die zum Schutz der mitgliedschaftlichen Vermögenswerte zuständige Hauptversammlung zu befragen (Argumente 3–7). Für Regel 2 argumentiert der BGH, dass kein Holzmüller-Fall gegeben ist (Argumente 1–2). Was nun positiv für eine bloße einfache Mehrheit spricht, bleibt offen. Regel 3 und 4 basieren im Wesentlichen auf dem Gedanken, dass der Schutz der Aktionäre ein Pflichtangebot notwendig macht und quasi in doppelter Stoßrichtung auch die verfassungsrechtliche Rechtsprechung einen solchen Schutz (insb. auch in angemessener Höhe)  einfordert. Es besteht nach Ansicht der Richter eine gesetzliche Schutzlücke, die nicht durch Regelungen der Börsen ausgeglichen wird (Argumente 8–9). Regel 5 ist erforderlich, weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Überprüfbarkeit der Höhe des erstatteten Betrags der Aktie zu prozessualen Flankierung des Pflichtangebots erforderlich macht, die interessengerechterweise nur über die analoge Anwendung der Regeln über das Spruchverfahren sichergestellt werden kann. Dem BGH nach belegen das entsprechende Regeln (§§ 304 Abs. 3 Satz 2, 305 Abs. 5 S. 2 AktG und §§ 15, 34, 196, 212 UmwG) in anderen Bereichen. Gegen eine Analogiefähigkeit der Vorschriften über das Spruchverfahren gibt es nach der Rechtsprechung des BGH auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken (Argument 10–13). Hinzuweisen ist noch auf den Umstand, dass es sich bei Regel 1 u. 2 genaugenommen um ein bloßes orbiter dictum handelt, weil im vorliegenden Fall ein Hauptversammlungsbeschluss vorlag und gleichzeitig eine deutliche Mehrheit für das Delisting gestimmt hat.90 Für die Entscheidung kam es also nicht darauf an, ob ein Hauptversammlungsbeschluss mit einfacher Mehrheit Voraussetzung war. Dennoch wird diese Regel zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, weil sie für alle zukünftigen gleichgelagerten Fälle Geltung beanspruchen sollte.

89

Die Regelungen, dass der Vorstand keinen Bericht zu erstatten hat und der Haupt­ versammlungsbeschluss keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, werden hier ausgeklammert. Es handelt sich offensichtlich nicht um eine Rechtsfortbildung, weil diese Vorschläge gerade nicht umgesetzt wurden. 90 Ebenso Streit, ZIP 2003, 393.

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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C. Auslegung oder Rechtsfortbildung Folgt man der in dieser Arbeit favorisierten Auffassung, dass als Grenze der Auslegung nicht der Wortlaut als Grenze maßgeblich ist, sondern der historische Normzweck, der wiederum durch Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik zu ermitteln ist,91 so ist ersichtlich, dass weder das AktG noch das BörsG zum fraglichen Zeitpunkt für die aufgestellten Regeln 1–5 eine ausdrückliche Normierung für den Fall des Delistings enthielten. Folglich muss man an dieser Stelle eine Rechtsfortbildung annehmen. Zum selben Ergebnis kommen in diesem Fall auch die Vertreter der Wortlautgrenze. Beide Theorien kommen in den Fällen, in denen keine gesetzgeberische Regelung zu einem Sachverhalt besteht, zum gleichen Ergebnis.92

D. Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre Eine gelungene Fortbildung setzt entsprechend den obigen Anforderungen voraus, dass ein rechtlicher Missstand unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre aufgehoben wird. Im vorliegenden Fall wurde von den Gerichten nach Auswertung des Sachverhalts und unter Betrachtung der sich gegenüberstehenden Interessen eine Schutzlücke beim vollständigen Delisting ausgemacht. Insbesondere bei Kleinaktionären besteht nach Ansicht des BGH im Hinblick auf Art. 14 GG ein Schutzdefizit in der Hinsicht, dass sie beim beschriebenen vollständigen Börsenrückzug ein Verlust der jederzeitigen Wertrealisierung der Aktie durch Veräußerung ausgesetzt sind, der mit wirtschaftlich gravierenden Nachteilen einhergeht. Die vom BGH ausgesprochenen Mittel zur Bekämpfung dieses Missstands sind dabei grundsätzlich geeignet, diesem ausgemachten Systemfehler zu begegnen. So wird der Beschluss der Hauptversammlung zwar nur ein geringes Schutzniveau bieten, weil die notwendigen Mehrheiten im Falle eines Delistings kaum ein Problem darstellen werden. Aber das notwendige Pflichtangebot, das die Erstattung des vollen Wertes des Aktieneigentums vorsehen muss und die Überprüfbarkeit der Höhe des Erstattungsbetrags im Spruchverfahren dienen nach dem BGH als ergänzender Ausgleich. Problematischer ist dagegen, ob der BGH sich bei der Behebung des Missstands innerhalb der herrschenden Meinung hält. Zwar gibt der BGH wie oben dargestellt für seine Regeln entsprechende Begründungen, aber die Gerichte bedienen sich ausdrücklich nur im Zusammenhang mit dem Spruchverfahren einer Terminologie, die der üblichen Lehre und Rechtsprechung entspricht. So wird diskutiert, ob die analoge Anwendung der prozessrechtlichen 91

S. zum Ganzen Rüthers / Höpfner, JZ 2005, 21, 21. Nach anderer (zutreffender) Ansicht, wird er selbst konstruiert. 92 Die Strukturierende Rechtslehre kommt hier zu einer Normkonkretisierung durch Analogie, wobei dadurch noch keine Aussage über die Legitimität getroffen ist.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

Vorschriften über das Spruchverfahren keinen Bedenken ausgesetzt ist. Der BGH geht also beim Spruchverfahren scheinbar von einer (ausdrücklich nicht genannten) Gesamtanalogie zu den dortigen Vorschriften (§ 306 AktG a. F., §§ 305 ff. UmwG a. F.93 bzw. später im Urteil genannt §§ 304 Abs. 3 Satz 2, 305 Abs. 5 S. 2 AktG und §§ 15, 34, 196, 212 UmwG94) aus. Für eine Analogie muss aus methodischer Sicht dargelegt werden, dass eine planwidrige Regelungslücke und die Gleichheit der Interessenlagen zwischen geregeltem und ungeregeltem Fall besteht.95 Eine Regelungslücke wurde dem BGH nach bejaht, weil Art. 14 GG in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts96 einen Schutz einfordert, der einfachgesetzlich fehlt.97 Zur Schließung wurde auf das Spruchverfahren zurückgegriffen, wobei zumindest konkludent eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte bejaht wurde, weil Gründe, die für die Einführung des Spruchverfahrens in anderen Bereichen geltend gemacht wurden, auch hier eingreifen würden.98 Schwieriger wird eine Analyse bei den anderen aufgestellten Regelungen. Dort bedient sich das Gericht jedenfalls nicht ausdrücklich der herrschenden Terminologie: So wird für die Notwendigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses neben dem besagten Art. 14 GG angeführt, dass der Schutz des mitgliedschaftlichen Vermögenswertes nicht in die Hände der Geschäftsleitung, sondern der Hauptversammlung gehört (Lückenfeststellung). Eine ausdrückliche Norm, die hier aber in analoge Anwendung im Rahmen der Lückenschließung herangezogen werden soll, fehlt. So kann man nach dem BGH nicht auf § 119 Abs. 2 AktG i. V. m. mit den Holzmüller-Grundsätzen abstellen, weil die Richter eine solche Anwendbarkeit verneint haben. Ob man auf § 119 Abs. 1 oder § 119 Abs. 2 AktG oder sonst einer Norm abstellt, bleibt offen. Gleiches gilt auch für das Pflichtangebot: Gestützt wird dies auf die schon genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, aber wie hier eine Rechtsfortbildung betrieben wird, beantwortet der BGH nicht. Oder genauer formuliert:99

93 Seit der Einführung des Gesetzes über das gesellschaftsrechtliche Spruchverfahren (Spruchverfahrensgesetz) vom 12.06.2003 (BGBl. I S. 838) ist das Spruchverfahren in den dortigen Regelungen niedergelegt. 94 Jeweils in der a. F. 95 S. dazu bereits oben und Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. 2011, 85. 96 A. A. z. B. bei Wilsing / Kruse, WM 2003, 1110, 1112, die das BVerfG anders inter­pretieren. 97 A. A. aber zu Recht Wilsing / Kruse, WM 2003, 1110, 1113 f. 98 BGH, Urteil v. 25.11.2002  – II ZR 133/01, NZG 2003, 280, 283: „Wie entsprechende Regelungen im Unternehmensvertragsrecht (§§ 304 Abs. 3 S.2, 305 Abs. 5 S. 2 AktG) und im Umwandlungsrecht (§§§ 15, 34, 196, 212 UmwG) zeigen, kann den Belangen der Beteiligten eher dadurch entsprochen werden, dass die Höhe des Angebotsbetrags in einem dafür geschaffenen Verfahren (Spruchverfahren) geklärt wird. Diese Überlegungen, die der Einführung des Spruchverfahrens im Unternehmensvertrags- und Umwandlungsrecht zu Grunde liegen, treffen auch auf das Verfahren des Delistings zu. Es ist daher sinnvoll, den zwischen den Parteien aufgetretenen Konflikt ebenso wie beim Squeeze out nicht auf dem Weg des Anfechtungs­ verfahrens, sondern des Spruchverfahrens zu lösen.“ 99 S. auch Klöhn, ZBB 2003, 208, 214, der es auch für wahrscheinlich hält, dass der BGH die Erfordernisse direkt aus Art. 14 GG i. V. m. den zitierten BVerfG-Entscheidungen herleiten will, s. dort auch Fn. 75 m. w. N.

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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Woher die Vorgabe für das Pflichtangebot herrühren soll, bleibt unklar.100 Gleiches gilt auch für die Höhe des zu erstatten Betrags. Für die Überprüfbarkeit einer Fortbildung ist dieser Umstand bedenklich. In der Gesamtschau erscheint die Entscheidung zwar grundsätzlich noch mit der herrschenden Lehre vereinbar, sie lässt aber aufgrund der mangelnden Angaben, wie eine Fortbildung beim Hauptversammlungsbeschluss und beim Pflichtangebot vorzunehmen sei, einen breiten Interpretationsspielraum, der unnötigerweise eine Auslegung und dogmatische Verankerung und deren Überprüfbarkeit sehr erschwert. Man kann in diesem Punkt daher nicht von einer gelungenen Fortbildung sprechen. Daran ändert auch der einfache Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 14 GG nichts, der – was noch zu zeigen sein wird – zudem auch alles andere als eindeutig ist. Vorzuwerfen ist ihm, dass er jedenfalls in der Entscheidung keinen Versuch unternommen hat, eine einfachgesetzliche Lösung anzudenken. Denn bevor man auf die Idee kommen darf, konkrete Rechtssätze für eine Fortbildung aus verfassungsrechtliche Vorgaben abzuleiten, muss der Richter das einfache Gesetzesrecht untersuchen.101 Wird dann im Endeffekt Art. 14 GG als Fortbildungsgrundlage herangezogen, tritt die Frage auf, mithilfe welches methodischen Schlusses man diese konkrete Regel ableitet. Letztlich handelt es sich dann genau genommen um eine „freie richterliche Fortbildung“. Grundrechte sind nach hier vertretener Auffassung dagegen geeignet, einfach-gesetzliche Normen oder Generalklauseln zu lenken und zu korrigieren, nicht aber aus ihnen konkrete Normen abzuleiten. Als zweiter Kritikpunkt muss gesehen werden, dass die Verantwortung für eigenes richterliches Handeln in der Entscheidung letztlich auf eine höhere Instanz geschoben wird, ohne die eigene Interpretation der BVerfG-Entscheidungen in der Entscheidung kritisch zu hinterfragen.102 So wäre genaugenommen eine Auslegung der Entscheidung des BVerfG angebracht gewesen. Ob die vom BGH vorgenommene Argumentation die Sache trägt, wird sogleich untersucht.

100

Zu Recht kritisch: Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 800 f.: „Aus Art. 14 GG ergibt sich jedoch nicht, wie diese Ausstiegsmöglichkeit auf der Ebene des einfachen Rechts auszugestalten ist. Der BGH begnügt sich insofern mit der Feststellung, ein adäquater Schutz der Minderheitsaktionäre könne nur dadurch erreicht werden, dass ihnen mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot über den Kauf ihrer Aktien durch die Gesellschaft (in den nach §§ 71 f. AktG bestehenden Grenzen) oder durch den Großaktionär vorgelegt wird.“ Ob es sich dabei um eine sog. „freie Rechtsfortbildung“ handelt, die letztlich verschleiert, dass man keine gesetzlichen Vorgaben finden kann, die das Handeln legitimieren, ist fraglich. 101 Eine genauere Ableitungsbasis wird der BGH im einfachen Gesetzesrecht schlicht nicht gefunden haben, vgl. Klöhn, ZBB 2003, 208, 214 mit ähnlichen Hinweis. 102 Zuletzt ist die Frage zu stellen, ob eine Rechtsfortbildung notwendig ist, d. h. ob es keinen anderen Regelungskomplex gibt, der den Sachverhalt abschließend erfasst. Diese Frage war im Fall zu verneinen. Eine zu diskutierende Sperrwirkung bei konturhaften und fortgeschrittenen Gesetzvorhaben und in politisch umstrittenen Bereichen war zum Entscheidungszeitpunkt ebenfalls nicht gegeben.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

E. Klar formulierte und bestimmte Regel Eine klar formulierte Regel setzt Unterschiedliches voraus. Zum einen geht es um eine möglichst genaue Umschreibung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen, wobei insbesondere die Reichweite des Tatbestands deutlich werden muss. Auch bei erstmaliger Fortbildung sollte die Regelung möglichst konturscharf sein. Vorliegend gab es mehrere richterliche Regelungen (s. oben Regel 1–5). Alle sind im Grundsatz in ihren Voraussetzungen und Folgen – abgesehen vom üblichen Interpretationsspielraum – deutlich umrissen. In einem Rechtsstreit darüber, ob der Tatbestand mit seinen entsprechenden Rechtsfolgen eingreift, wenn ein freiwilliges, vollständiges Delisting vorliegt, wäre eine Ansicht kaum vertretbar, die etwa argumentiert, es sei nach der Rechtsprechung gar kein Hauptversammlungsbeschluss mit einfacher Mehrheit notwendig oder ein Pflichtangebot sei überflüssig. Das Gericht will eben unsichere generalklauselartige Formulierungen vermeiden. Über das Bestimmtheitsgebot als Mindestanforderung hinaus haben die Richter in diesem Punkt eine gelungene Fortbildung betrieben.103 Zwei Kritikpunkte lassen sich finden: Das Gericht geht davon aus, dass das Pflichtangebot durch die Gesellschaft oder durch den Großaktionär abzugeben ist. Was aber ist ein „Großaktionär“? Dieser Punkt wird in der Entscheidung nicht genauer umrissen, er findet sich auch nicht im Gesetz.104 Er dürfte in den wenigsten Fällen zu Problemen führen, weil ein Delisting im Regelfall von einem Aktionär betrieben werden wird, der über eine sehr deutliche Mehrheit in der Gesellschaft verfügt. Kritisch zu sehen ist auch der mehrdeutige Begriff des „Pflichtangebots“. Dieser Punkt wird sogleich in einem anderen Zusammenhang besprochen.

F. Ableitbarkeit der Regel aus dem Gesetz Eine Rechtsfortbildung muss sich – sofern man sich mit der herrschenden Ansicht bewegt105 – als ein Weiterdenken der gesetzgeberischen Grundentscheidungen darstellen. Dazu sind präzise Angaben notwendig, auf welche gesetzlichen Vorgaben die Fortbildung gestützt wird und inwieweit gegebenenfalls von diesen abgewichen wird. Es muss einsichtig gemacht werden, dass der Gesetzgeber eine solche richterliche Regel getroffen hätte. Als Beweis dafür dienen bereits getroffene Vorentscheidungen in Form der Verfassung bzw. der Gesetze. Als Flankierung dieser Anforderung muss die Ableitung auch methodenehrlich sein, d. h. un 103 Die Frage nach dem Verhältnis zu richterrechtlichen Konkurrenzregelungen stellte sich vorliegend nicht. 104 Kritisch etwa Bürgers, NJW 2003, 1642, 1644. 105 Für die Strukturierende Rechtslehre passt der Begriff der Ableitung gerade nicht. Denn dort Schafft der Rechtsanwender die Norm. Es geht daher darum, ob die geschaffene Regel der Verfassung bzw. dem Gesetz noch zugerechnet werden kann. Es sind also zwei in der Sache verschiedene Wege mit demselben Ziel.

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zulässige Argumente werden nicht hinter Zulässigen getarnt (Ehrlichkeitsgebot) und die Entscheidungsbegründung enthält alle auch wirklich bei der richterlichen Entscheidungsfindung berücksichtigten Kernargumente und setzt sich  – jedenfalls bei Grundlagenentscheidungen – mit den anderen Meinungen auseinander (Vollständigkeitsgebot). Bei der Macrotron-Entscheidung stellen sich schwerpunktmäßig zwei Probleme: Lässt sich aus Art. 14 GG eine Forderung stellen, die einen Hauptversammlungsbeschluss und Pflichtangebot im Sinne des BGH verlangt und ist aus den genannten einfachgesetzlichen Normen (Gesamtanalogie) die Ausweitung des Spruchverfahrens auf das Delisting ableitbar. In der Literatur wurde z. T. darüber gerätselt, ob der BGH bei Regel 3 und 4 einen Weg beschreiten wollte, der zu einer der Literaturmeinung führt.106 Diese hat z. T. eine Abfindungspflicht aus §§ 29 Abs. 1 S. 2 UmwG, 207 UmwG hergeleitet.107 M. E. ergeben sich aus der Entscheidung keine Anhaltspunkte für eine solche Vermutung. Vielmehr hat der BGH seine Entscheidung auf Art. 14 GG gestützt, ohne den Weg über die einfach-gesetzlichen Normen der Literatur zu gehen. I. Hauptversammlungsbeschluss und Pflichtangebot 1. Die Aktie als verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet das Eigentum, wozu nach dem BVerfG auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum gehört, dass im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch Privatnützigkeit und die private Verfügungsbefugnis gekennzeichnet ist.108 Der Schutz erstreckt sich auf die mitgliedschaftliche Stellung in einer AG, die das Aktieneigentum vermittelt. Aus der mitgliedschaftlichen Stellung erwachsen dem Aktionär im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Gesellschaftssatzung sowohl Leitungsbefugnisse als auch vermögensrechtliche Ansprüche.109 Die Leitungsbefugnis beruht darauf, dass das Aktienrecht die Aktionärsversammlung als zentrales Organ der Gesellschaft vorsieht. Die vermögensrechtliche Stellung ist in dem gesetzlichen Anspruch auf den Bilanzgewinn, soweit er zur Verteilung kommt, in dem Recht zum Bezug neuer Aktien bei Kapitalerhöhungen sowie dem Recht auf Teilnahme an dem Liquidationserlös begründet.110 106

Marsch-Barner, LMK 2003, 108, 109. Marsch-Barner, LMK 2003, 108, 109. 108 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 931 m. w. N.; zum Ganzen ausführlich s. Schmidt-Aßmann, in: Brenner / Huber / Möstl, Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, 2004, 1009 ff. 109 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 931. 110 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 931 m. w. N. 107

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

2. Art. 14 GG als tragfähige Begründung Der BGH bemüht Art. 14 GG in der Delisting-Entscheidung, um die Regeln 1–5 zu stützen. Hierzu gab es in der Literatur einige Vorarbeiten, die Art. 14 GG beim Delisting als einschlägig sahen.111 Diese wurden jedoch von einer weit größeren gegenteiligen Ansicht begleitet, mit der sich der BGH nicht auseinandersetzt.112 Bereits dadurch verletzt der BGH letztlich eine wichtige Anforderung an eine gelungene Fortbildung, weil er einen Teil des Vollständigkeitsgebots verletzt. Insgesamt verliert die Entscheidung dadurch an Legitimität und Überzeugungskraft. Nur wenn der BGH davon ausgehen konnte, dass die Ansichten, die Art. 14 GG als nicht einschlägig ansahen, aufgrund verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung obsolet geworden sind (was schon zweifelhaft wäre), könnte man argumentieren, dass eine Auseinandersetzung unterbleiben kann. Weil für die Interpretation der Verfassung das BVerfG zuständig ist, kommt es mithin darauf an, ob aus bereits vorgenommenen Entscheidungen folgt, dass die Regelungen des BGH notwendig sind. Art. 14 GG muss einfordern, dass die Regeln 1–5 aufgestellt werden müssen. Dafür müsste Art. 14 GG den Fall des vollständigen freiwilligen Delistings im Schutzbereich erfassen. Der BGH ging davon aus, dass das mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung der Fall sei. Zur Begründung verwendete der BGH entsprechend der obigen Darstellung folgenden Gedankengang:113 Mit dem Rückzug der Gesellschaft aus dem amtlichen Handel wird dem Aktionär der Markt genommen, den Wert seiner Aktien jederzeit durch Veräußerung zu realisieren. Diese Verkehrsfähigkeit der Aktie genießt nach dem BVerfG einen besonderen Schutz nach Art. 14 GG. Dieser Schutz verlangt in Fällen, in denen dem Aktionär nach dem Gesetz ein Abfindungsanspruch zusteht, den Abfindungsbetrag so zu bemessen, dass die Minderheitsaktionäre nicht weniger erhalten, als sie bei einer freien Deinvestitionsentscheidung in dem maßgebenden Zeitpunkt hätten erzielen können. Im Ergebnis darf der Aktionär dann nicht schlechter stehen, als wenn er seine Aktie selbst am Markt veräußert hätte. Der BGH geht noch weiter und folgert, dass nicht nur die jederzeitige Realisierungsmöglichkeit des Verkehrswertes, sondern auch der Verkehrswert selbst Eigenschaften des Aktieneigentums sind und wiederum selbst verfassungsrechtlichen Schutz genießen würden. Zusammengefasst: Die Verkehrsfähigkeit der Aktie wird vom Schutz des Art. 14 GG mitumfasst. Der BGH beruft sich dabei im Wesentlichen auf die DAT / Altana114 und Moto-Meter 115-Entscheidungen.116

111

S. zusammenfassend auch Schoppe, Aktieneigentum, 2011, 348 ff. S. dazu im Einzelnen die Nachweise bei Ekkenga, ZGR 2003, 878, 882 (Fn. 11 u. 12) bzw. Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 164 f. 113 S. auch oben Argument 5–6. 114 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289. 115 BVerfG, Beschluss v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95 u. 147/97, NZG 2000, 1117. 116 Auch genannt wird die Hartmann&Braun / Mannesmann Entscheidung, BVerfG, Beschluss v. 8.9.1999 – 1 BvR 301/89, NZG 2000, 28. 112

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a) Moto-Meter-Entscheidung als tragfähige Grundlage In der Moto-Meter-Entscheidung ging es um eine sog. übertragende Auflösung, also ebenso wie beim Delisting um einen klassischen Fall eines Interessenkonflikts zwischen Mehrheitsaktionär und den Minderheitsaktionären. Bei diesem Sonderfall der Vermögensübertragung nach § 179a AktG erwirbt der Mehrheitsaktionär unter Hinausdrängen der Minderheit das gesamte Unternehmen einer beherrschten Aktiengesellschaft. Es wird dabei mit der Tochtergesellschaft einen Kaufvertrag über deren ganzes Vermögen geschlossen, wobei der Mehrheitsaktionär mit qualifizierter Mehrheit in der Hauptversammlung dem Vertrag zustimmt und damit einhergehend die Auflösung der Aktiengesellschaft beschlossen wird. Anders als beim Kauf durch einen außenstehenden Dritten wird der Mehrheitsgesellschafter ein Interesse daran haben, dass die Gegenleistung möglichst gering ausfällt. Die für die Übernahme des Vermögens der AG erbrachte Gegenleistung fließt in die Abwicklungsmasse ein, aus der die Minderheit im anschließenden Liquidationsverfahren mit Geld abgefunden wird.117 Dadurch werden nach dem BVerfG die mitgliedschaftliche und die vermögensrechtliche Stellung der auszuschließenden Minderheitsaktionäre tangiert. Das leuchtet unmittelbar ein, denn durch den Verlust der Beteiligung wird das mitgliedschaftliche Bestandsschutzinteresse beeinträchtigt und die einseitige Festlegung des Erwerbspreises durch den Mehrheitsaktionär gefährdet ihr vermögensrechtliches Interesse am Werterhalt ihrer Investition.118 Das Grundrecht aus Art. 14 Abs.1 GG erfordert nach Ansicht der Richter weiter, dass ein Minderheitsaktionär, der gegen seinen Willen aus der Gesellschaft, an der er beteiligt ist, gedrängt wird, als Kompensation wirtschaftlich voll entschädigt werden muss. Es müsse zudem Sicherungen dafür geben, dass ein zum Ausscheiden gezwungener Aktionär erhalte, was seine gesellschaftliche Beteiligung an dem arbeitenden Unternehmen Wert sei.119 Das BVerfG sieht zwei Wege als denkbar an, ohne sich selbst gegenüber den Zivilgerichten festzulegen: Das Spruchverfahren in analoger Anwendung des § 306 AktG a. F. oder aber eine Wertkontrolle im Rahmen der aktienrechtlichen Anfechtungsklage. Sei beides nicht möglich, müsse die übertragende Auflösung auf eine Anfechtungsklage von Minderheitsaktionären hin unterbunden werden.120 Insgesamt ist eine übertragende Auflösung bei Gewährleistung eines vollen Wertausgleichs verfassungsrechtlich unbedenklich. Wenn der BGH nun behauptet, dass die Verkehrsfähigkeit der Aktie, „verstanden als Eignung zur jederzeitigen Veräußerung in einem organi 117

So die Definition bei Stein, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz. Band 4, §§ 179 – 277, 4. Aufl. 2016, § 179a Rn. 71; Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 179a Rn. 21. 118 Stein, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz. Band 4, §§ 179 – 277, 4. Aufl. 2016, § 179a Rn. 72 119 BVerfG, Beschluss v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95 u. 147/97, NZG 2000, 1117, 1119. 120 BVerfG, Beschluss v. 23.8.2000  – 1 BvR 68/95 u. 147/97, NZG 2000, 1117, 1119; s. auch Stein, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz. Band 4, §§ 179 – 277, 4. Aufl. 2016, § 179a Rn. 72.

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sierten (liquiden) Markt“121, nach dem BVerfG vom Schutz des Art. 14 GG umfasst ist, dann wird übersehen, dass dem BVerfG die Verkehrsfähigkeit im Moto-­MeterBeschluss lediglich als Rechtfertigung für eine Einschränkung des verfassungsrechtlich garantierten Mindestschutzes des Aktionärsvermögens diente.122 Es geht nicht um den Schutzbereich. Weil der Aktionär nach Ansicht des VBVerfG bei voller Kompensation die Möglichkeit hat, sich bei einem funktionieren Kapitalmarkt anderweitig mit Aktien einzudecken, rechtfertigt das den Entzug seiner konkreten Aktienposition:123 „Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Beeinträchtigung der Minderheitsaktionäre hinsichtlich ihrer Kapitalanlage im Licht dieses Grundrechts nicht als besonders schwer bewertet wird, sofern die Aktionäre eine dem Wert ihrer Aktien entsprechende Entschädigung erhalten. Dann ist es ihnen in aller Regel möglich, eine alternative Kapitalanlage in einem Unternehmen gleicher oder ähnlicher Ausrichtung zu finden, jedenfalls in Zeiten eines funktionierenden Kapitalmarktes.“124 b) DAT / Altana-Entscheidung als tragfähige Grundlage In der Sache ging es bei der DAT / Altana-Entscheidung um die Eingliederung (§ 320 AktG a. F.) der DAT AG in die Altana AG. Zwischen beiden wurde 1988 ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag (§ 291 AktG a. F.) geschlossen. Als die Altana AG als beherrschende Gesellschaft zu etwas über 95 % an der DAT AG beteiligt war, wurde die Eingliederung vorgenommen. Dabei wurde den Minderheitsaktionären im Zusammenhang mit den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag eine Ausgleichzahlung (§ 304 AktG a. F.) bzw. alternativ eine Barabfindung (§ 305 AktG a. F.) i. H. v. 550 DM angeboten, obwohl sich der Kurs der Aktie am Bewertungsstichtag auf mehr als das Doppelte belief (über 1150 DM125) und sich auch vorher dauerhaft auf einem vergleichbaren Niveau befand. Aufgrund des § 320b Abs. 1 AktG wurde den Minderheitsaktionären wegen der Eingliederung ein Angebot i. H. v. 600 DM gemacht, obwohl der Börsenkurs der DAT AG in der Zeit vor dem Bewertungsstichtag deutlich höher lag (zwischen 700–970 DM126). Die Beschwerdeführerin hielt sowohl den festgesetzten Ausgleich und die angebotene Abfindung für unangemessen niedrig und strengte deshalb ein Spruchstellenverfahren nach § 306 AktG an. Gleiches galt auch für das zweite Abfindungsangebot (§ 320 Abs. 6 a. F. i. V. m. § 306 AktG). Mit ihrer Verfassungs 121

Ekkenga, ZGR 2003, 878, 883. So zu Recht die Deutung bei Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 799. 123 Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 799. 124 BVerfG, Beschluss v. 23.8.2000 – 1 BvR 68/95 u. 147/97, NZG 2000, 1117, 1119. Nicht unkritisch wird aber gesehen, dass nun nicht die konkrete Zusammensetzung der Aktienposition geschützt wird, sondern nur der Wert. S. Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 799; kritisch etwa Fleischer, BeckRS 9998, 42447. 125 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 933. 126 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 933. 122

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beschwerde rügte die Beschwerdeführerin vornehmlich eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 14 GG Abs. 1 GG. Das BVerfG sah es mit Art. 14 Abs. 1 GG als unvereinbar an, bei der Bestimmung der Abfindung oder des Ausgleichs für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre nach §§ 304, 305, § 320b AktG den Börsenkurs der Aktien außer Betracht zu lassen. Seitdem war anerkannt, dass bei aktien- und umwandlungsrechtlichen Strukturmaßnahmen der Börsenkurs die Untergrenze der Barabfindung darstellt. Wie das BVerfG bereits im Feldmühle-Urteil127 festgestellt hatte, schließt Art. 14 Abs. 1 GG die Eingliederung einer AG in einen Konzern gegen den Willen einer Aktionärsminderheit nicht aus, obwohl diese dadurch eine erhebliche Minderung oder sogar einen Verlust ihrer in der Aktie verkörperten Rechtsposition erleiden kann.128 Voraussetzung für die Zulässigkeit ist nach dem BVerfG allerdings, dass die berechtigten Interessen der zum Ausscheiden gezwungenen Minderheitsaktionäre gewahrt bleiben. Dazu gehört neben wirksamen Rechtsbehelfen gegen einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht vor allem eine Entschädigung für den Verlust der Rechtsposition. Anders als bei Enteignungen zum Wohl der Allgemeinheit kommt als Entschädigung in diesem Fall, in dem der Hauptaktionär den Nutzen aus der Konzernierungsmaßnahme zieht, aber nur eine volle Abfindung in Betracht. Der Ausscheidende muss erhalten, was seine gesellschaftliche Beteiligung an dem arbeitenden Unternehmen Wert ist. Bei der Eingliederung nach § 320 AktG handelt es sich nach dem BVerfG um die gleiche Sachverhaltskonstellation, die dem Feldmühle-Urteil zugrunde lag. Aber auch beim Unternehmensvertrag verlangten die vom BVerfG zum Schutz der Minderheitsaktionäre aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleiteten Anforderungen Beachtung. Zwar werden die außenstehenden Aktionäre in diesem Fall nicht „aus ihrer Gesellschaft gedrängt“, müssen aber doch nach Ansicht der Verfassungsrichter eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer grundrechtlich geschützten Gesellschaftsbeteiligung hinnehmen, die einem Verlust jedenfalls wirtschaftlich gleichsteht.129 Von Verfassungswegen muss die grundrechtlich relevante Einbuße vollständig kompensiert werden.130 Die Entschädigung und folglich auch die Methode ihrer Berechnung müssen nach dem BVerfG dem entzogenen Eigentumsobjekt gerecht werden. Das Aktieneigentum ist den Verfassungsrichtern nach nicht zuletzt durch seine Verkehrsfähigkeit geprägt. Das gilt vor allem für die börsennotierte Aktie. Sie wird an der Börse gehandelt und erfährt dort aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage eine Wertbestimmung, an der sich die Aktionäre bei ihren Investitionsentscheidungen orientierten. Insbesondere Kleinaktionären, die regelmäßig nicht über alle relevanten Informationen verfügen, steht nach der Auffassung der Richter kein anderer Maßstab zur Verfügung, an dem sie den Wert dieses spezifischen Eigentumsobjekts messen können.131 Der Vermögensverlust, 127

BVerfG, 07.08.1962 – 1 BvL 16/60, BVerfGE 14, 263. BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931. 129 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931. 130 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932. 131 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932. 128

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den der Minderheitsaktionär durch den Unternehmensvertrag oder die Eingliederung erleidet, stellt sich für ihn als Verlust des Verkehrswerts der Aktie dar. Dieser ist mit dem Börsenkurs der Aktie regelmäßig identisch. Da der Verkehrswert die Untergrenze der wirtschaftlich vollen Entschädigung bildet, die Art. 14 Abs. 1 GG für die Entwertung oder Aufgabe der Anteilsrechte einfordert, stehe es mit diesem Grundrecht grundsätzlich nicht in Einklang, im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren eine Barabfindung festzusetzen, die niedriger ist als der Börsenkurs. Sonst erhalten die Minderheitsaktionäre für ihre Aktien weniger, als sie ohne die zur Entschädigung verpflichtende Intervention des Mehrheitsaktionärs bei einem Verkauf bekommen würden.132 Bei genauerer Betrachtung dieser Entscheidung wird ersichtlich, dass es bei der Eingliederung um die Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten Gesellschaftsbeteiligung geht, die ein Aktionär gegen eine volle Kompensation hinzunehmen hat. Anders liegt der Fall zwar bei einem Gewinnabführungs- bzw. Beherrschungsvertrag (hier wird die vermögensrechtliche Stellung bzw. die Leitungsbefugnis beeinträchtigt),133 aber die außenstehenden Aktionäre werden in diesem Fall nicht aus „ihrer“ Gesellschaft gedrängt. Jedoch müssen sie eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer grundrechtlich geschützten Gesellschaftsbeteiligung hinnehmen, die einem Verlust jedenfalls wirtschaftlich gleichstehe.134 Bei wirtschaftlicher Betrachtung stehen nach dem BVerfG der Fall der Eingliederung und des Gewinnabführungs- bzw. Beherrschungsvertrag gleichwertig nebenein­ander.135 Das rechtfertige eine Gleichbehandlung. Beim Delisting allerdings wird – wie oben dargestellt – kein Aktionär aus der Gesellschaft gedrängt oder zumindest in wirtschaftlich vergleichbarer Weise beeinträchtigt,136 weil nur die Handelbarkeit der Aktie (erheblich) eingeschränkt wird und ggf. der Kurswert nach Ankündigung des Delistings sinkt. Letzteres ist ein allgemeines Marktrisiko. Insofern passt der Vergleich mit der DAT / Altana Entscheidung nicht zusammen. Das spricht bereits gegen eine Übertragung der Gedanken. Es gibt noch ein wichtigeres Argument, das gegen das Verständnis des BGH spricht. Die Verkehrsfähigkeit ist nach den korrekt interpretierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gar nicht Schutzgut, sondern ein notwendiger Schutzmaßstab,137 d. h. wenn das Aktieneigentum z. B. durch eine Eingliederung i. S. von § 319 ff. AktG verloren geht, liegt unstrittig ein Fall vor, der unter den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt, weil eben diese Position entzogen wird. Dem Ak 132

BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932. Drygala / Staake / Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, 680 ff. 134 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931. Zu den Einzelheiten vgl. BGH, Beschluss v. 20.05.1997 – II ZB 9/96, BGHZ 135, 374, 377 f. 135 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931. 136 Wilsing / Kruse, WM 2003, 1110, 1112. 137 Ekkenga, ZGR 2003, 878, 884; s. auch den Verweis von Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 169 f. auf Ekkenga, der dieser Meinung zustimmt; in die gleiche Richtung argumentiert auch Klöhn, ZBB 2003, 208, 214 f. 133

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tionär steht aber u. a. ein Anspruch auf Abfindung zu (§ 320b AktG)138 und an dieser Stelle muss für die Wertbemessung auf den Verkehrswert abgestellt werden. Gleichzeitig ist dieser selbst eben nicht Bestandteil von Art. 14 GG, sondern dient nur zur Bestimmung der Höhe der Kompensation. Er wird damit nur auf der Rechtfertigungsebene relevant,139 ist aber selbst nicht Schutzgut. Diese Feststellung gilt auch, wenn der Wortlaut der Formulierung des BVerfG „Verkehrsfähigkeit als Eigenschaft des Aktieneigentums“140 in eine andere Richtung weisen mag. Richtig wird deswegen in der Literatur darauf verwiesen, dass nur bei einem wirklich vorhandenen Eingriff in das Aktieneigentum ein Abfindungsanspruch den Börsenkurs aufgrund der gegebenen Verkehrsfähigkeit der Aktie nicht außer Betracht lassen darf. Die Frage des Richters müsste daher lauten: (1) Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich vor? (2) Wird der Börsenkurs bei der Abfindung beachtet? Der Schutzbereich – wie oben formuliert – ist aber beim Delisting gar nicht betroffen, sondern eben nur die von Art. 14 Abs. 1 GG nicht umfasste Verkehrsfähigkeit.141 Mit dem Gesichtspunkt, dass die Aktionäre für die Handelbarkeit einen höheren Preis gezahlt haben als für nichthandelbare Aktien und durch das Delisting diese erlangte Position verloren geht, hat sich das Gericht nicht auseinandergesetzt. Denn auf den Bestand dieser Handelbarkeit bezieht sich das Vertrauen der Aktionäre in einem besonderen Maße.142 Hiergegen spricht aber, dass die Aktien durch das Delisting nicht ihre Privatnützigkeit verlieren.143 Unangetastet bleiben die Mitverwaltungs- und Vermögensrechte der Aktionäre. Auch handelt es sich bei der Realisierbarkeit eines Veräußerungsgewinns – und insb. auch darum geht es den Aktionären am regulierten Markt – um eine bloße Gewinnaussicht. Eine solche ist nicht von Art. 14 GG umfasst. 3. Folgerung Es werden zwei Grundsätze einer gelungenen Rechtsfortbildung verletzt: (1) das Präzisionsgebot und (2) das Gebot zum Weiterdenken der gesetzgeberischen Entscheidung. Das Präzisionsgebot setzt – wie oben dargestellt – voraus, dass in der zu untersuchenden Entscheidung deutlich werden muss, auf welche gesetzlichen Vorgaben die Fortbildung gestützt wird. Jedenfalls bei Regel 1–4 ist das nicht eindeutig. Die hier gewählte Interpretation geht davon aus, dass alle Regeln des BGH auf 138 Ein Angebot zur Abfindung in bar muss gemacht werden, wenn die Muttergesellschaft abhängig im Sinne des § 16 AktG ist. 139 Klöhn, ZBB 2003, 208, 214. 140 BVerfG, Beschluss v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, BVerfGE 100, 289, NZG 1999, 931, 932. 141 A. A. Schoppe, Aktieneigentum, 2011 371 ff. 142 Schoppe, Aktieneigentum, 2011, 383. 143 Bergbach, Anteilseigentum: Betrachtungen zur Stellung von Gesellschaftern, insbesondere Aktionären, unter der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 694.

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Art. 14 GG beruhen. In diese Richtungen geht auch ein Teil der Äußerungen in der Folgeliteratur.144 Damit wäre zumindest eine Grundlage benannt. Diese war aber fehlerhaft: Eine zutreffende Begründung der Ableitung der Regel aus Art. 14 GG (in dem Verständnis des BVerfGs) fehlt, sodass in der Konsequenz dieser Teil der Fortbildung als nicht gelungen bezeichnet werden kann. Dieser Befund ist auch unabhängig davon, ob es noch andere Möglichkeiten einer Herleitung für das Pflichtangebot bzw. den notwendigen Hauptversammlungsbeschluss gibt, denn mit diesem hat sich der BGH nicht auseinandergesetzt. Reservebegründungen müssen bei der Bewertung einer Entscheidung an dieser Stelle außer Betracht bleiben. Dass der BGH eine Rechtsfortbildung betrieben hat, die sich als ein Weiterdenken der gesetzgeberischen bzw. verfassungsgebenden Grundentscheidungen in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts darstellt, ist nicht ersichtlich.145 Es muss zudem bedacht werden, dass es nach der Auffassung des BGH nicht mehr um die Konkretisierung von einfachgesetzlichen Normen mittels des Verfassungsrechts (z. B. § 242 BGB), sondern um die Schaffung eigener, neuer und unzulässiger146 Rechtssätze aus der Verfassung gehen würde.147 Hier rückt dar BGH gefährlich nah an die Kompetenzen des Gesetzgebers heran. Unklar bleibt auch, was der BGH unter dem Pflichtangebot verstand. Ob auch hier auf Art. 14 GG zurückgegriffen werden sollte, ohne das einfache Gesetzesrecht zu bemühen oder ob es dagegen um die Analogie einer Norm ging, blieb offen. Die Literatur war sich uneinig, da der BGH nur beim Spruchverfahren einfach-gesetzliche Normen für eine analoge Anwendung benennt. So wurde gefragt, ob es sich etwa dabei um ein „Pflichtangebot“ i. S. d. § 35 ff. WpÜG handelt.148 Der Begriff des „Pflichtangebots“ war also genaugenommen schon besetzt. Die Anwendung des WpÜG wurde sowohl dem Gesetz als auch einer Analogie nach abgelehnt. Folglich musste angenommen werden, dass der BGH den Begriff des 144

Eßers / Weisner / Schlienkamp, DStR 2003, 985, 987. Gegen einen Abfindungsanspruch sprach sich vor und nach dem Delisting-Urteil ein Teil der Literatur aus. S. de Vries, Delisting, 2002, 114 ff. m. w. N.; Göckeler, in: Müller / Beckmann, Beck’sches Handbuch der AG, 2. Aufl. 2009, § 28 Rn. 38 m. w. N. Woher der BGH das Erfordernis der einfachen Mehrheit für den Hauptversammlungsbeschluss nimmt, wird nicht ersichtlich. Soweit er die Holzmüller-Grundsätze verneint, die eine ¾-Mehrheit des Grundkapitals voraussetzen (Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018 § 119 Rn. 59), ist die Entscheidung konsequent. Scheinbar gibt es aber nun eine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung zwischen dem Gesetz und Holzmüller-Grundsätzen aufgrund von Art. 14 GG. Diese Herleitung gestaltet sich als schwierig. Warum eine einfache Mehrheit dem vom BGH selbst eingeforderten Schutz des Art. 14 GG gerecht werden soll, wenn doch beim Delisting üblicherweise selbst eine ¾-Mehrheit schon kein Problem für den Mehrheitsaktionär darstellt, ist nicht einsichtig. Ähnlich auch ­Kubis, in: Kropff / Semler, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Band 4 §§ 118–147, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 85. 146 Ebenso wohl auch Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 800; Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 165 f. 147 So zu Recht Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 166. 148 Vgl. auch Holzborn, WM 2003, 1105, 1107 f. 145

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Pflichtangebotes losgelöst von diesen Vorschriften verwenden wollte und damit lediglich eine Pflicht zur Abgabe eines Kaufangebotes beschrieben hat.149 Grundlage wäre dann wieder Art. 14 GG. Ein Teil der Literatur sah dagegen eine Herleitung aus Art. 14 GG oder eine analoge Anwendung der §§ 207 UmwG, 305 AktG als denkbare Grundlage an, weil der BGH eben auf das Spruchverfahren abgestellt hatte.150 Das deutet auf einen Missstand hin, denn für die Bewertung, Legitimität und spätere Anwendung (insb. bei Folgefragen151) kam es für eine konsistente Rechtsprechung entscheidend darauf an, mithilfe welcher Norm eine Herleitung erfolgte. Auch insofern kann die Entscheidung des BGH als nicht gelungen bezeichnet werden, denn die Festsetzung erscheint mangels Begründung willkürlich.152 Die Problematik einer Verankerung wird auch dadurch deutlich, dass die Fachgerichte versucht haben, die Macrotronentscheidung in der Folge unterschiedlich zu legitimieren. So hat das BayObLG den Abfindungsanspruch auf eine Analogie zu § 207 UmwG gestützt, dass KG dagegen auf Grundlage der §§ 29, 207 UmwG und 305, 320 b, § 327 b AktG begründet, das OLG Düsseldorf wiederum auf den nach der Macrotron-Entscheidung eingefügten § 29 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG analog.153 II. Gesamtanalogie beim Spruchverfahren Der BGH ging – wie bereits dargelegt – beim Spruchverfahren (Regel 5) von einer (ausdrücklich nicht genannten) Gesamtanalogie zu § 306 AktG, §§ 305 ff. UmwG in den damals geltenden Fassungen aus. Gefordert wurde diese Analogie aufgrund des Umstands, dass das Spruchverfahren für einen ausreichenden Schutz der Minderheitsaktionäre aufgrund des befürwortenden Pflichtangebots wegen Art. 14 GG notwendig ist (Minderheitenschutz). Wenn aber – wie soeben dargestellt – Art. 14 GG keine tragfähige Grundlage bildet, bricht diese Argumentation ein. Eine solche Analogie ergibt nur Sinn, wenn es einen klar formulierten Anspruch gibt, der mit mithilfe des Prozessrechts durchgesetzt werden soll. Zurecht wurde daher in der Literatur bzw. Rechtsprechung darauf verwiesen, dass die „Prozessordnungen stets nur Hilfsmittel […] zur Durchsetzung des materiellen Rechts“ seien.154 Wo ein solcher Anspruch aber fehlgeht, weil er nicht überzeugend

149

Eßers / Weisner / Schlienkamp, DStR 2003, 985, 987; so auch Eckhold, in: Marsch-­Barner  / ​ Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 62 Rn. 50. 150 Land / Behnke, DB 2003, 2531, 2533. 151 S. z. B. Meyer, Gesellschaftsrechtliche Ausgleichs- und Abfindungsansprüche im Spruchverfahren, 2010, 171 ff. 152 Kritisch auch Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 119 Rn. 40 und Spindler, in: Schmidt / Lutter, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 52. 153 Klöhn, NZG 2012, 1041, 1044 m. w. N.; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 30.12.2004  – 19 W 3/04 AktE, BeckRS 2005, 1175. 154 Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 801 mit Verweis auf die Rechtsprechung.

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begründet werden kann, so muss auch eine analoge Anwendung der Verfahrensvorschriften fehlgehen. III. Zwischenergebnis Der BGH leitet aus Art. 14 GG in nicht überzeugender Weise die Regeln 1–5 her.155 Art. 14 GG wird dabei nicht nur zur Lückenbegründung, sondern bei Regel 1–4 auch zur Lückenschließung verwendet, obwohl – wie sogleich ersichtlich wird – nicht unumstritten einfachgesetzliche Anknüpfungspunkte vorhanden waren. Vielleicht handelt es sich auch deshalb nach einer Ansicht in der Literatur um eine „offene Fortbildung“, weil Anknüpfungspunkte im einfachen Recht fehlten.156 Allein durch die z. T. bestehenden Auslegungsschwierigkeiten von Entscheidung und der Offenheit des Grundgesetzes ist eine wirkungsvolle Eindämmung der richterlichen Freiheit bei Rechtsfortbildungen aufgrund von Grundrechten nicht gewährleistet. Regel 5 wird zwar auch wegen des Verständnisses von Art. 14 GG als notwendig erachtet, an dieser Stelle bemüht sich der BGH jedoch um einen einfachgesetzlichen Anknüpfungspunkt. Die Begründung ist wiederum inkonsistent, denn auch hier überzeugt die Lückenfeststellung nicht. Die Einhaltung der gesetzgeberischen Grundentscheidung ist daher insgesamt nicht überzeugend dargelegt. Damit verbunden gibt es Schwierigkeiten im Hinblick auf das Präzisionsgebot beim Pflichtangebot.

G. Fallnähe der Regelung Die aufgestellten Regeln zum Delisting sollten zwischen fallnaher Regelung und fallübergreifender Beantwortung von Folgefragen nach Abwägung zugunsten der im konkreten Fall überwiegenden Alternative ausfallen. Im Grundsatz gilt aber, dass aus Gründen der Rechtssicherheit eine Entwicklung der richterlichen Regel möglichst nur am Fall stattfinden sollte. Es muss auch bedacht werden, dass möglichst keine Folgefragen offenbleiben. Als bedeutend wurden solche Folgenfragen eingeordnet, die die entwickelten Regeln unanwendbar machen, weil ein Teil fehlt oder unklar formuliert ist oder aber auf Tatbestands- bzw. Rechtsfolgenebene ein Problem übersehen wurde, dessen Regelung die gleichmäßige und rechtssichere Anwendung der richterlichen Fortbildung bedurft hätte. Im Grundsatz sind die Rechtsprechungsregeln und die Urteilsbegründung Teil der Entscheidung eines konkreten Sachverhaltes.157 Der BGH wollte den vorliegenden Fall des vollständi 155

S. auch Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 166 ff.; Ott, Der Rückzug von der Börse, 2005, 245 ff. 156 Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 922. 157 Allerdings obiter dicta BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47; NZG 2003, 280, 282: „Für die Minderheits- und Kleinaktionäre, deren Engagement bei einer Aktiengesellschaft allein in der Wahrnehmung von Anlageinteressen besteht, bringt der Wegfall

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gen, freiwilligen Rückzugs von der Börse regeln. Insofern ist das Bedürfnis nach Fallnähe eingehalten worden. Eine Verletzung kann sich nur noch aus der Notwendigkeit ergeben, naheliegende Folgefragen mit zu beantworten. I. Folgefragen In der Folge zur Macrotron-Entscheidung wurden viele Fragen aufgeworfen158 und durch die Literatur diskutiert. Es wurde darauf hingewiesen, dass unklar sei, wer nun eigentlich das Barabfindungsgebot machen könne. Der BGH ging wie oben beschrieben davon aus, dass ein Angebot von der Aktiengesellschaft selbst oder aber von dem Aktionär kommen kann. Fraglich war, ob auch Dritte ein solches abgeben konnten.159 Eine solche Frage ist von einer nachrangigen Bedeutung, da sie im Grundsatz der gleichmäßigen und rechtssicheren Anwendung der richterlichen Fortbildung nicht im Wege stehen, weil das Angebot regelmäßig von den zuerst Genannten abgegeben worden wäre. Gleiches gilt auch für das Problem, wer nun eigentlich als Mehrheits- bzw. wer als Minderheitsaktionär anzusehen ist und ob mehrere Aktionäre zusammengefasst als Mehrheitsaktionär gewertet werden.160 Es ist zwar richtig, dass diese Begriffe nicht klar umrissen sind, der klassische Delistingfall dreht sich aber um einen Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit.161 Der BGH muss nicht jeden Sonderfall bedenken. Er soll sich beim Aufstellen der Regel am Ausgangs- bzw. Grundfall orientieren, was er in dieser Entscheidung auch gemacht hat. Wesentlich schwieriger 162 ist die Frage zu beantworten, wie sich das Fehlen des Abfindungsangebots auswirkt.163 Auf die Frage kam es in der Entscheidung nicht an, weil der Großaktionär ein Angebot vorgelegt hatte. Es

des Marktes hingegen wirtschaftlich gravierende Nachteile mit sich, die auch nicht durch die Einbeziehung der Aktien in den Freihandel ausgeglichen werden können.“ Im Fall wurde der Handel mit Aktien völlig eingestellt, sodass die Bemerkung zum Freihandel nicht zur Lösung des Falles beiträgt. 158 S. dazu auch noch Lutter, JZ 2003, 684, 686 159 Göckeler, in: Müller / Beckmann, Beck’sches Handbuch der AG, 2. Aufl. 2009, § 28 Rn. 41; so auch Eckhold, in: Marsch-Barner / Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 62 Rn. 50. 160 Göckeler, in: Müller / Beckmann, Beck’sches Handbuch der AG, 2. Aufl. 2009, § 28 Rn. 41. 161 Vgl. Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 919 f., 929. 162 Sehr umstritten war diese Frage bis zur Aufgabe der Macrotron-Entscheidung. Z. T. wurde die Bedingungslösung favorisiert Heidel, DB 2003, 548, 549; Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 930; Kubis, in: Kropff / Semler, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Band 4 §§ 118–147, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 88; Krolop, NZG 2005, 546, 546 f. wobei aber die dort besprochene Rechtsprechung eine a. A. vertrat (Fn. 2 u. 3); a. A. auch Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 802 f. sowie Eckhold, in: Marsch-Barner / Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 62 Rn. 57 (Anspruchslösung). 163 Heidel, DB 2003, 548, 549.

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gab zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten.164 Nach der sog. Anspruchs­ lösung, die auf dem Rechtsgedanken §§ 29, 207 UmwG, 305 AktG fußt, besteht ein echter Anspruch der Minderheitsgesellschafter. Mit Wirksamkeit des Beschlusses der Hauptversammlung entsteht nach dieser Ansicht eine abgeleitete, gesetzliche Pflicht der Gesellschaft und des Mehrheitsgesellschafters zur Abgabe eines Erwerbsangebots.165 Der Aktionär kann im Spruchverfahren das Angebot einfordern. Der Beschluss selbst leidet an keinem Mangel. Nach der sog. Bedingungslösung ist die Abgabe des Pflichtangebots keine originäre Pflicht, sondern lediglich Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses.166 Den minderheitlichen Aktionären muss bereits in der Bekanntmachung über den zustimmenden Delisting-Beschluss ein Abfindungsangebot für den Fall des Widerrufs der Börsenzulassung unterbreitet werden.167 Fehlt es an einem solchen Angebot, muss der Aktionär sich dabei nach einer Untermeinung gegen den Beschluss selbst wenden. Das bedeutet im Regelfall eine (zivilrechtliche) Anfechtungsklage.168 Nach anderer Ansicht ist dagegen der Beschluss sogar nichtig.169 Diese Frage ist von einer nicht unerheblichen Bedeutung. So unterscheiden sich die Voraussetzungen der Meinungen schon in der ersten Phase des Delistings. Denn bereits bei der Einberufung der Hauptversammlung muss nach der Bedingungslösung in der Bekanntmachung das Delisting angekündigt und ein Angebot gemacht werden. Die Konstellationen des „kalten Delistings“ sind durch die Entscheidung des BGH ebenfalls fraglich geworden. So war zum damaligen Zeitpunkt – etwa für die Verschmelzung einer börsennotierten AG auf eine nicht börsennotierte AG (s. nun § 29 Abs. 1 S. 1 2. Fall UmwG) – zu problematisieren, ob auch dort eine Abfindung durch eine analoge Anwendung des § 29 UmwG zu zahlen ist.170 Der BGH hat sich dazu nicht geäußert, weil nur das freiwillige Delisting Streitgegenstand war. Ein Hinweis wäre zumindest in einem orbiter dictum möglich gewesen. Man sieht daran, dass dem BGH im Grundsatz bei sich verschieden treffenden Sachlagen die notwendige Einwirkungsmöglichkeit auf ein rechtliches System fehlt. Denn wenn man sich entscheidet, dass man das freiwillige Delisting so regeln möchte, wie es der BGH getan hat, so muss man auch sehen, dass dadurch ein Wertungswiderspruch zwischen dem freiwilligen Delisting und bestimmten Konstellationen des kalten Delistings entstehen und die Praxis im Unklaren gelassen wird, ob der BGH nicht in Zukunft auch dort ein Abfindungsangebot fordert.

164

S. dazu ausführlich Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 801 f. Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 802. 166 So Krolop, NZG 2005, 546. 167 Kubis, in: Kropff / Semler, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Band 4 §§ 118–147, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 88. 168 Krolop, NZG 2005, 546, 547. 169 Heidel, DB 2003, 548, 549; Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 119 Rn. 43 mit Verweis auf sonst entstehende Regelungslücken. 170 Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 119 Rn. 45; Hüffer, in: Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 119 Rn. 26. 165

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II. Abwägung Richtigerweise ist die Frage, wie mit einem fehlenden Angebot umgegangen werden muss, eine Folgefrage, die nicht zwingend vom BGH zu beantworten war. Denn aufgrund der BGH-Rechtsprechung war es den Gesellschaftern möglich, das Pflichtangebot bei Hauptversammlungsbeschluss abzugeben, um sich nach der strengeren Bedingungslösung nicht der Gefahr auszusetzen, dass eine spätere Anfechtungsklage den Beschluss zunichtemacht bzw. dieser als nichtig anzusehen ist. Ein solcher Schritt hätte die Praxis nicht vor die Unanwendbarkeit der neuen Rechtsfortbildung gestellt. Die Regel war daher sowohl für die Gerichte als auch die Praxis umsetzbar. Auch hätte der BGH vorschnell gehandelt, wenn er sich auch noch in weiteren Details festgelegt hätte, ohne eine erste Stellungnahme zu den Problemen der Literatur abzuwarten. Es ist fraglich, ob der BGH diesen Streit nicht sogar zugunsten der Bedingungslösung entschieden hat, weil er formuliert,171 dass ein adäquater Schutz der Minderheitsaktionäre nur dadurch erreicht werden könne, dass ihnen eben mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot zugehen muss.172 Wer hier eine andere Meinung vertritt, muss eine Abwägung treffen, die wie gezeigt zugunsten des BGH ausfällt. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie mit der Problematik des kalten Delistings umgegangen werden musste. Es hätte nach hier vertretener Ansicht jedenfalls nicht geschadet, wenn der BGH kurz das kalte Delisting angesprochen hätte. Weil richterliche Zurückhaltung im Rahmen der Rechtsfortbildung ein hohes Gut ist und damit auch das Gegenteil vertretbar erscheint, soll die Fallnähe der Regelung insgesamt bejaht werden.

H. Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung Die Fortbildung muss die vom BVerfG aufgestellten verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung beachten. Gleichzeitig geht es auch um die Einheit der Rechtsordnung und Systemgerechtigkeit i. S. e. subjektiven Auslegungsund Fortbildungstheorie. Bei der Macrotron-Entscheidung stechen dabei zwei Proble­matiken heraus. Zum einen ist fraglich, ob die Fortbildung generell durch eine bereits vorhandene Regelung des Delistings durch den Gesetzgeber gesperrt wurde und zum anderen, ob sich die vom BGH aufgestellten Regelungen 1–5 systemgerecht einfügen.

171

In diese Richtung Heidel, DB 2003, 548, 549 und Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, 930 Fn. 87. 172 BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, NZG 2003, 280, 283.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

I. § 43 Abs. 4 BörsG a. F. als abschließende Regelung Hier fällt zuvorderst die Frage ein, ob nicht § 43 Abs. 4 BörsG a. F. eine ab­ schließende Regelung des freiwilligen, vollständigen Delistings umfasst. Hätte der Gesetzgeber hier eine Regel eingefügt, die für das Delisting als umfassend und abschließend zu bewerten gewesen wäre, so wäre eine Fortbildung unzulässig. Dann würden sich die Regelungen zum Delisting nicht wie für eine gelungene Fortbildung gefordert bruchlos in die Rechtsordnung einfügen, weil der Wille des Gesetzgebers hintenangestellt worden wäre und damit die verfassungsrechtliche Grenze der Fortbildung überschritten worden wäre. Würde die Untersuchung dagegen ergeben, dass eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes gegeben ist, so wäre eine Fortbildung gemäß der ganz herrschenden Meinung im Grundsatz zulässig und damit in diesem Punkt verfassungskonform. Der Wortlaut der Norm ist wenig ergiebig. Der Gesetzgeber hat in der Norm einen Schutzmechanismus in der Weise aufgebaut, dass zunächst der Widerruf nicht den Schutz der Anleger widersprechen dürfe173 und dass durch eine Ausgestaltung nähere Bestimmungen in der Börsenordnung (zwingend) durch die jeweilige Börse zu treffen seien. Dem Wortlaut nach wäre eine Auslegungshypothese in der Form, dass es sich um eine abschließende Regelung handelt, zumindest nicht zu verwerfen. Für eine abschließende Regelung spricht dagegen die Systematik, weil der Gesetzgeber im Aktienrecht das Delisting im Rahmen der Einführung des § 43 Abs. 4 BörsG a. F. nicht geregelt hat. Es handelte sich damit um die einzige Regelung zum freiwilligen Delisting. Andererseits liegt hier die Annahme einer abschließenden Regelung für das Gesellschaftsrecht auch wiederum fern, denn der Gesetzgeber hat die Regelung, dass die Börsen­ordnungen die auftretenden Interessenkonflikte lösen sollen, im BörsG getroffen und sich insofern für eine kapitalmarktrechtliche Regelung entscheiden. Dennoch ging eine breite Ansicht in der Literatur und z. T. die Rechtsprechung entgegen dem BGH174 von einer abschließenden Regelung auch für das Gesellschaftsrecht aus. Als Argument wurde vorgetragen, dass der Gesetzgeber durch die Kompetenzverlagerung mittels Regelungsvorbehalt für die Börsen zum Ausdruck bringen wollte, dass er damit das Delisting abschließend regelt.175 Das Landgericht München I argumentierte dagegen im Wesentlichen mit der Rechtssicherheit. Durch das erst 1998 durch das 3. Finanzmarktförderungsgesetz176 eingeführte freiwillige Delisting müssen sich die Marktteilnehmer nicht auf durch Richterrecht zusätzlich geschaffene formelle und materielle Voraussetzungen ein 173

Zu den einzelnen Abstufungen je nach zukünftiger „Entfernung“ zum (deutschen) regu­ lierten Kapitalmarkt nach dem Delisting s. Groß, Kapitalmarktrecht, 2002, § 39 Rn. 16. 174 Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 798: „Den Bestrebungen des Gesetzgebers, den Ausgleich der mit einem Delisting zusammenhängenden Interessenkonflikte den Börsen zu überlassen, steht der BGH offensichtlich ebenso ablehnend gegenüber wie der Fristenlösung, die nach Ansicht einiger der Börsen zum Schutz der Kleinaktionäre ausreichend sein soll.“ 175 Wirth / Arnold, ZIP 2000, 111, 113 f. 176 Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Dritte Finanzmarktförderungsgesetz) v. 24.03.1998, BGBl. I S. 529 ff.

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stellen. Sie dürfen auf eine abschließende Regelung durch den Gesetzgeber vertrauen. Eine andere weit verbreitete Auffassung sah dagegen die Norm als nicht abschließend an. Entscheidend gegen eine abschließende Regelung spricht nach diesen Stimmen der Vergleich mit anderen Delisting-Varianten: Die Defungibilitätswirkung des Delistings sei vergleichbar mit dem Rechtsformwechsel in eine nicht börsenfähige Gesellschaftsform oder einer nachträglichen Vinkulierung von Aktien. Bei den zuletzt genannten Maßnahmen werde Gesellschaftsrecht neben Kapitalmarktrecht angewandt. Gleiches muss dann auch für das reguläre Delisting gelten.177 Teilweise wurde argumentiert, dass die aktienrechtliche Binnenorganisation nicht von der Norm im BörsG erfasst werden kann. Die Norm kann einzig spezifisches aktienrechtliches Anlegerschutzrecht sperren, wobei auch das verneint wurde, weil die Entstehungsgeschichte und Funktion der Norm ein solches Verständnis nicht hergeben.178 Genauere Begründungen wurden letztlich nicht angeführt. Andere kommen in vergleichbarer Weise in ihrer Untersuchung zum Schluss, dass das Delisting keine gesellschaftsrechtliche Behandlung erfahren hat, weil der Sinn der Vorschrift dieser öffentlich-rechtlichen Norm die Funktion hat, den Kapitalmarkt zu schützen.179 Aussagen in dergestalt, dass privatrechtliche, verbandsinterne Fragen mitgeregelt werden sollten, lassen sich nach dieser Meinung dem Gesetz nicht entnehmen. Eine solche Regel wäre im BörsG verfehlt.180 Abgestellt wird hier also auf die unterschiedlichen Regelungszwecke. Während das Gesellschaftsrecht durch Organisationsfragen geprägt ist, gehe es beim Kapitalmarktrecht eben um die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte.181 Wie – so der Gedankengang – kann dann das Kapitalmarktrecht eine abschließende Regelung für das Innenrecht enthalten. Das Problem dieser Argumentation liegt darin, dass der Gesetzgeber die Regelung sehr wohl als abschließend ansehen dürfte, weil er bewusst den Börsen die weitere Regelung überlassen hat. Wozu er dann noch gesellschaftsrechtliche Regelungen als zulässig erachten soll, leuchtet nicht unmittelbar ein. Es wäre verfehlt, ihm vorzuwerfen, er habe nicht bedacht, dass die Börsen eine solche Norm zur Entschädigung auch abschaffen bzw. nicht vorsehen könnten. Insofern überzeugt das Argument der Literatur nicht, dass die Regelungszwecke in unterschiedliche Richtungen gehen und daher keine abschließende Regelung vorliegen könne. In der Tat spricht auch im Hinblick auf die historische Auslegung vieles für die Argumentation der Mindermeinung.182 Im Regierungsentwurf183 als mögliche Auslegungshilfe ist zu lesen: „Das Börsenrecht soll in 177

Zetzsche, NZG 2000, 1065 f. Mülbert, ZHR 2001a, 104, 116 f.; ähnlich auch Hüffer, in: Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 119 Rn. 23; s. auch später die Stellungnahme zur Frosta-Entscheidung von Bayer, NZG 2015, 1169, 206 f. 179 de Vries, Delisting, 2002, 81. 180 de Vries, Delisting, 2002, 81. 181 Schlitt, in: Grunewald / Schlitt, Einführung in das Kapitalmarktrecht 3. Aufl. 2014, § 1 I. 2; vgl. auch Buck-Heeb Rn. 5 sowie 7 ff. 182 So auch Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 35 f., der aber dennoch eine andere Ansicht vertritt. 183 Regierungsentwurf v. 6.11.1997, BT-Drucksache 13/8933 S. 55, 57. 178

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wichtigen Bereichen modernisiert werden. Darüber hinaus sollen umfangreiche Deregulierungsmaßnahmen dazu beitragen, den Aktienhandel zu fördern, den Emittenten den Börsenzugang zu erleichtern, die Wettbewerbsposition der Börsen zu stärken und den Anlegerschutz zu verbessern. Hierzu werden zahlreiche Vorschriften des Börsengesetzes […] geändert. Der Entwurf sieht insbesondere folgende Maßnahmen vor: […] c) gesetzliche Regelung des Rückzugs eines Emittenten von der Börse […].“ Weitergehend heißt es: „In der Vergangenheit ist die Frage der Zulässigkeit und der Voraussetzungen eines teilweisen oder vollständigen Rückzugs eines Emittenten von der Börse, der mit einer Beendigung der Zulassung der Wertpapiere verbunden ist (sog. De-Listing), außerordentlich kontrovers beurteilt worden. Vor diesem Hintergrund ist eine gesetzliche Regelung angezeigt.“ Bereits durch den letzten Satz wird deutlich, dass – weil eine gesetzliche Regelung angezeigt ist und diese nur im BörsG getroffen wurde – zumindest der Entwurf darauf hindeutet, dass es sich um eine abschließende Regelung handeln sollte. Sodann heißt es: „Eine solche Regelung bringt nicht nur für Unternehmen, deren Wertpapiere bereits an einer inländischen Börse zugelassen sind und die einen teilweisen oder vollständigen Rückzug vom inländischen organisierten Kapitalmarkt beabsichtigen, eine wünschenswerte Klärung. Sie schafft zugleich Planungssicherheit für inländische und ausländische Unternehmen, die einen Gang an eine inländische Börse erwägen, baut Vorbehalte vor einem solchen Schritt ab, und stellt so einen Beitrag zur Förderung von Risikokapital dar. Die vorgeschlagene Regelung berücksichtigt sowohl die Interessen der Emittenten als auch der Anleger. Vorgesehen ist, daß die Zulassungsstelle bzw. der Zulassungsausschuß die Zulassung zur amtlichen Notierung oder zum geregelten Markt auf Antrag des Emittenten widerrufen kann, wenn der Schutz der Anleger einem Widerruf nicht entgegensteht. Der Schutz der Anleger ist insbesondere dann gewahrt, wenn auch nach dem Widerruf ein ordnungsgemäßer Börsenhandel in dem Wertpapier an einem organisierten Kapitalmarkt, der bestimmte Mindeststandards erfüllt, gewährleistet erscheint. […]. Auch im Bericht des Finanzausschusses findet sich eine ähnliche Formulierung: „Gesetzliche Regelung des Rückzugs eines Emittenten von der Börse (sog. Delisting) – Aufnahme einer gesetzlichen Regelung der Voraussetzungen eines Delistings. Hierdurch Erhöhung der Rechtssicherheit für Emittenten und Börsen.“184 Die Schaffung von Rechtssicherheit erstrebt der Gesetzgeber im Regelfall dadurch, dass er eine Materie abschließend regeln möchte. Anzeichen dafür, dass er das hier nicht erzielen wollte, ergeben sich nicht. Er sah den Schutz der Anleger durch seine anvisierte Regel als ausreichend an („.Die vorgeschlagene Regelung berücksichtigt sowohl die Interessen der Emittenten als auch der Anleger.“). Dass dieser Schutz unzureichend sein kann, steht auf einem anderen Papier und ist sicherlich auch zu kritisieren. So ist es nicht verwunderlich, dass auch dem BGH vorgeworfen wurde, er habe „nicht besonders glücklich agiert“, weil der Anlegerschutz durch die Kompetenzverlagerung auf ein zu niedriges Niveau sinken kann.185 Jedoch gilt die Ge 184 185

Bericht des Finanzausschusses v. 11.2.1998, BT-Drs. 13/9874 S. 122. Streit, ZIP 2003, 393.

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setzesbindung auch im BörsG. Ebenso überzeugt auch nicht der Vergleich mit der Defungibilitätswirkung von anderen Maßnahmen, indem Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht zusammen angewendet werden, weil der Gesetzgeber eben hier nicht völlig systemkonform und sicher unbeabsichtigt eine andere Regelung bevorzugen kann, solange er nicht gegen seine Bindung an die Verfassung verstößt. Zugegeben werden muss aber, dass das vom Landgericht München vorgetragene Argument freilich nichts darüber sagt, ob auch eine abschließende Regelung vorliegt. Dem Landgericht München wird zusätzlich auch Inkonsequenz vorgeworfen, weil es einerseits die börsenrechtliche Regelung als abschließend ansieht, anderseits einen Hauptversammlungsbeschluss einfordert.186 In der Gesamtschau war die Rechtslage gar nicht so deutlich, wie es die herrschende Meinung behauptet hat. Es ließe sich sehr gut auch ein anderes Ergebnis vertreten, sodass die Regelungen zum Delisting sich in diesem Punkt nicht völlig über­zeugend in das vorhandene Recht einfügen.187 II. Systemgerechtigkeit Fraglich ist, ob sich die Regelung in das bestehende Recht einfügt. Geschaffen wurde eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit jenseits des Gesetzes und den Anforderungen der Holzmüller-Rechtsprechung (s. o.). Gleichzeitig wurde ein ungeschriebener Abfindungsanspruch geschaffen, sofern man die Herleitung mittels Art. 14 GG für richtig hält. Aber auch wenn man eine einfachgesetzliche Grundlage für das Pflichtangebot auffindet und die analoge Anwendung bejaht, geht es um einen solchen nicht kodifizierten Anspruch. 1. Hauptversammlungsbeschluss Wie bereits ausgeführt, erkennt der BGH eine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung im Falle des Delistings an. Diese siedelt der BGH zwischen dem Gesetz und den Holzmüller-Grundsätzen aufgrund von Art. 14 GG an. Ausgangspunkt für die Überlegung, ob eine solche Regelung systemgerecht ist, muss zunächst das Gesetz sein. Wesentliche Norm für die Zuständigkeit der Hauptversammlung ist der § 119 AktG. Es handelt sich dabei um eine wesentliche Kompetenzabgrenzungsnorm zwischen Geschäftsleitung und Hauptversammlung.188 Die

186

So auch Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1166 Fn. 14 und Mülbert, ZHR 2001a, 104, 116. Ebenso Ekkenga, ZGR 2003, 878, 898 f.: „Die Rechtsfortbildung des BGH hat insofern systemverändernden Charakter, als das Urteil radikal mit dem gesetzgeberischen Ziel bricht, den Anlegerschutz beim regulären Delisting börsenrechtlich zu gewährleisten […].“ 188 Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 1 bzw. 9. 187

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

Hauptversammlung beschließt in den im Gesetz189 und in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen (§ 119 Abs. 1 AktG). Zu den gesetzlich geregelten Fällen zählt auch der § 119 Abs. 2 AktG, der bestimmt, dass auf Verlangen des Vorstands die Hauptversammlung über Fragen der Geschäftsführung entscheiden kann. Die Norm ist abschließend.190 Zutreffend wird daher festgestellt, dass es eigentlich keinen Raum für ungeschriebene Zuständigkeiten gibt.191 Dennoch hat der BGH – wie oben ausgeführt – die Kompetenzen der Hauptversammlung bereits in der Holzmüller-Entscheidung ausgeweitet. Daher wurde z. T. unterstellt, er judiziere contra legem.192 Auch der historische Normzweck unterstützt diese Ansicht. So wurde herausgearbeitet, dass es im AktG 1937 eine Vorgängernorm (§ 103 AktG193) gab, die im AktG in § 119 AktG übernommen wurde.194 Bei der Einführung ging es darum, die Hauptversammlung, „die bisher in allen Fragen des wirtschaftlichen Lebens der Aktiengesellschaft die entscheidende Stelle war“, eine Beschränkung aufzuerlegen.195 Nur in den im Gesetz oder in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen (s. § 103 Abs. 1 AktG 1937) sollte die Hauptversammlung noch zuständig sein. Das spricht dafür, die Ausweitung der Kompetenzen der Hauptversammlung durch Rechtsfortbildung kritisch zu sehen. Blendet man diesen Aspekt aus, so hat der BGH in der Entscheidung auch festgestellt, dass bei schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte und Interessen der Aktionäre, der Vorstand ausnahmsweise nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sein kann, gem. § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidung der Hauptversammlung herbeizuführen. Das bedeutet gleichzeitig, dass nur bei schweren Eingriffen eine Ausweitung der Kompetenz vorliegt. Solche Eingriffe hat der BGH in der Macrotronentscheidung abgelehnt und damit die Holzmüller-Rechtsprechung für den Fall des Delistings verworfen, gleichwohl – quasi von einer anderen Seite kommend – über Art. 14 GG eine Pflicht zur 189

Zu weiteren Fällen, die nicht im § 119 AktG geregelt sind s. Bungert, in: HoffmannBecking, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Band 4: Aktiengesellschaft, 4. Aufl. 2015, § 35 Rn. 12 ff. 190 Drinhausen, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 1; s. auch Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 31; a. A. Stöber, WM 2014, 1757, 1759 der aufgrund des Worts „namentlich“ die Möglichkeit einer offenen Norm bejaht. 191 Bungert, in: Hoffmann-Becking, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Band 4: Aktiengesellschaft, 4. Aufl. 2015, § 35 Rn. 46: „Wie sich aus § 119 Abs. 1 AktG ergibt, regeln Gesetz und Satzung die Beschlusskompetenzen der Hauptversammlung abschließend. Für darüber hinausgehende ungeschriebene Kompetenzen verbleibt daneben an sich kein Raum. Dennoch hat sich in der Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, dass das Gesetz eine Regelungslücke aufweise und dass der Hauptversammlung eine ungeschriebene Zuständigkeit für bestimmte Grundlagenentscheidungen zukomme“; ebenso Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 21. 192 Kessler, AG 1995, 61, 70 m. w. N. 193 Die Norm stammt vom 30. Jan. 1937 und befindet sich im RGBl. I S. 107, 126. 194 Geßler, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985, 773 mit Verweis auf die Begründung in Fn. 19. 195 Geßler, in: Lutter, Festschrift für Walter Stimpel zum 68. Geburtstag am 29. November 1985, 1985, 774 mit Verweis auf die Begründung in Fn. 19.

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Befragung bejaht, obwohl diese Norm im Verständnis des BVerfG eine solche Herleitung nicht hergibt (s. o.). Eine solche Ausweitung der Kompetenz – mag sie auch von vielen in der Sache zu Recht befürwortet werden – entspricht weder dem gesetzlichen Leitgedanken des § 119 AktG (s. o.), noch ist der BGH in seiner eigenen Rechtsprechung konsequent, die in der Holzmüller-Entscheidung zum Ausdruck kommende Vorstellung, die Ausweitung der Hauptversammlungszuständigkeit auf „krasse Fälle“ zu begrenzen.196 Denn der Verlust der Handelbarkeit an der Börse entspricht – wie der BGH selbst feststellt – nicht diesem richterrechtlichen Grundsatz, der es angemessen erscheinen lassen würde, dass die Hauptversammlung befragt werden muss. Unabhängig davon ist zu bedenken, dass ein darüber laufender Schutz oftmals aufgrund der Beteiligungsverhältnisse in der AG leerlaufen würde.197 Falls man § 119 AktG in einer solchen Strenge versteht und letztlich ein Analogieverbot unterstellt, dass auch heute noch Bestand hat und nicht durch „Zeitablauf“ an Legitimität verloren hat,198 ergibt sich daraus: Die Regelung ist nicht systemgerecht i. S. einer subjektiven Auslegungstheorie. Die Regelung fügt sich auch nicht bruchlos in die Rechtsprechungskette des BGH ein. 2. Abfindungsanspruch und Pflichtangebot Das Gesetz kennt eine ganze Reihe von Abfindungsansprüchen im Rahmen von Strukturmaßnahmen. Als Beispiele können die §§ 29, 207 UmwG herhalten. Immer geht es dabei um erhebliche Strukturmaßnahmen. Im Gegensatz dazu muss nach § 250 UmwG den Aktionären im Umwandlungsbeschluss bzw. -bericht kein Barabfindungsgebot gemacht werden, sofern es um den Formwechsel einer Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien oder umgekehrt geht.199 § 207 UmwG ist dann unanwendbar. Es gibt also keinen Anspruch gegen die Gesellschaft auf entgeltliches Ausscheiden.200 Der Grund wird darin gesehen, dass 196

Freilich war und ist der Streit um den Umfang der Holzmüller-Rechtsprechung nicht leicht zu entscheiden. Einige plädierten für eine Begrenzung der Rechtsprechung, andere für eine Ausweitung, s. dazu Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 119 Rn. 17. 197 Mülbert, ZHR 2001b, 104, 134 f.; Bungert, BB 2000, 53, 55. 198 S. zum Verlust der Bedeutung des historischen Arguments im gesellschaftsrechtlichen Kontext Fleischer, in: Habersack / Hommelhoff, Festschrift für Wulf Goette zum 65. Geburtstag, 2011, S. 80 m. w. N.; a. A. Stöber, WM 2014, 1757, 1759: „Der Katalog des § 119 Abs. 1 AktG ist seit seiner Einführung durch das AktG 1965, (27) also seit fast einem halben Jahrhundert, nicht erweitert worden, obwohl sich die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen seitdem ganz erheblich verändert haben. Dass der Gesetzgeber die Hauptversammlungszuständigkeiten im Jahr 1965 ohne Rücksicht auf das Auftreten von Sachverhalten, die seinerzeit noch nicht voraussehbar waren, für alle Zeiten abschließend festschreiben wollte, kann nicht angenommen werden.“ Dagegen aber wohl nach Stöber Fn. 26: „Kiefner / Gillessen, AG 2012, 645, 650, 653: § 119 Abs. 1 AktG trage „Züge eines Analogieverbots“. 199 Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 250 UmwG Rn. 1; Semler / Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017 § 250 Rn. 2. 200 Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 250 UmwG Rn. 1; Semler / Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 250 Rn. 2.

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die Rechtsstellung des Aktionärs im Kern unverändert bleibt.201 In Anbetracht dieses Faktums, so das Argument gegen die Anerkennung einer Delistingabfindung, müsse dann erst Recht bei einem freiwilligen vollständigen Delisting eine Barabfindung ausscheiden, bei dem es „nur“ um den Verlust der Börsennotierung geht. Das UmwG habe in seiner alten Fassung der Börsennotierung keine Bedeutung beigemessen.202 Man kann dieses Argument noch weiter untermauern: § 29 Abs. 1 S. 1 a. F. UmwG203 sieht (wie auch heute noch) vor, dass bei einer Mischverschmelzung unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Barabfindung besteht. Entscheidend ist, dass es um die Aufnahme eines Rechtsträgers durch einen Rechtsträger anderer Rechtsform geht. Die Rechtsform ändert sich folglich. Im Umkehrschluss heißt das: Bei der formwahrenden Verschmelzung gibt es kein Abfindungsangebot. In der Literatur wird dieser Umstand daher treffend mit den Wörtern „Abfindungsfreiheit der formwahrenden Verschmelzung“ betitelt.204 Würde also nach damaligen Recht eine börsennotierte Aktiengesellschaft auf eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft verschmolzen, so wäre keine Barabfindung zu zahlen.205 Auch bei der rechtsformwahrenden Spaltung kennt das Gesetz keine Abfindung (Abfindungsfreiheit der formwahrenden Spaltung). Wird etwa eine börsennotierte Aktiengesellschaft auf nicht börsennotierte bestehende Aktiengesellschaften aufgespalten (§ 123 Abs. 1 Nr. 1 UmwG), so gibt es eben keinen Anspruch auf Barabfindung.206 Diese Fälle gehen immer mit dem Verlust der Börsennotierung einher und stellen einen Fall des „kalten Delistings“ dar. Warum dieses System durch den BGH beim regulären Delisting durchbrochen wird, erschließt sich nicht. Denn der BGH hätte nun folgerichtig entgegen dem gesetzlichen Leitbild in den genannten Fällen auch ein überprüfbares Abfindungsangebot einfordern müssen.207 Damit hätte der BGH das System auf dem Kopf gestellt und letztlich eine erhebliche Systemänderung sowohl im AktG als auch UmwG vorgenommen. Für eine solche umfassende Änderung sollte der Gesetzgeber zuständig sein. Weil ein Pflichtangebot sich mit der Begründung des BGH nicht herleiten lässt, fügt sich reflexartig auch die verfahrensrechtliche Kehrseite in Form des Spruchverfahrens nicht systemgerecht in das Recht ein. 201

Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 250 UmwG Rn. 2; Semler / Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017 § 250 UmwG Rn. 2. 202 Mülbert, ZHR 2001b, 104, 137; Klöhn, ZBB 2003, 208, 210; s. jetzt aber § 29 Abs. 1 S. 1 UmwG n. F. 203 „Bei der Verschmelzung eines Rechtsträgers im Wege der Aufnahme durch einen Rechtsträger anderer Rechtsform hat der übernehmende Rechtsträger im Verschmelzungsvertrag oder in seinem Entwurf jedem Anteilsinhaber, der gegen den Verschmelzungsbeschluß des übertragenden Rechtsträgers Widerspruch zur Niederschrift erklärt, den Erwerb seiner Anteile oder Mitgliedschaften gegen eine angemessene Barabfindung anzubieten; § 71 Abs. 4 Satz 2 des Aktiengesetzes ist insoweit nicht anzuwenden.“ 204 Klöhn, ZBB 2003, 208, 210, s. dort auch zu weiteren Beispielen zur Bestätigung dieses Grundsatzes. 205 Mülbert, ZHR 2001b, 104, 137. 206 Mülbert, ZHR 2001b, 104, 137. 207 Klöhn, ZBB 2003, 208, 211.

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III. Bestlösungsforderung Die entscheidende Frage ist nun, ob es eine bessere Lösung gegeben hätte, die die Voraussetzungen einer gelungenen Rechtsfortbildung besser erfüllt hätte. Wenn man wie hier angedacht § 43 Abs. 4 BörsG a. F. als abschließende Regelung begreift, so erübrigt sich solch eine Überlegung freilich, denn die beste Lösung wäre dann, die Macrotron-Rechtsprechung nicht zu erlassen. Die Auseinandersetzung über diese Frage erübrigt sich aber, wenn festgestellt werden kann, dass nach damaligen Rechtsstand keine Möglichkeit bestand, die Macrotron-Rechtsprechung zu halten. Kritisch geprüft werden sollen im Folgenden nur die beiden problematischen Punkte der Ableitung aus dem vorhandenen Rechtssystem und des bruchlosen Einfügens. 1. Herleitung der Hauptversammlungszuständigkeit Wie bereits gesehen, lässt sich die Hauptversammlungszuständigkeit weder auf die Holzmüller-Grundsätze noch auf Art. 14 GG im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stützen. In der Literatur wurden mehrere Wege zur Begründung beschritten, von denen letztlich in der Sache keiner überzeugen kann.208 Der Gesetzgeber allein wäre rechtlich in der Lage gewesen, eine solche Pflicht zu statuieren. Einige dieser (letztlich nicht einschlägigen) Möglichkeiten zur Begründung sollen im Folgenden aufgezeigt werden. a) Holzmüller-Grundsätze aufgrund einer Strukturänderung im rechtlichen und faktischen Sinne Es wurde überlegt, im Delisting eine Strukturänderung zu sehen, die es rechtfertigt, einen Hauptversammlungsbeschluss einzufordern.209 Denn der Verlust der Börsennotierung führt nach dieser Ansicht zu einer wesentlichen Veränderung der Rechte und Pflichten der Aktiengesellschaft und der Situation der Aktionäre. So fallen neben Pflichten, die mit der Börsennotierung verbunden sind (z. B., §§ 44 ff. BörsG a. F., § 14 WpHG a. F.;210 § 15 WpHG a. F.211),212 auch gesellschaftsrechtliche Pflichten vorwiegend im Rahmen der Rechnungslegung weg. Die Aktionäre werden neben dem Wegfall von auch sie schützenden kapitalmarktrechtlichen Re-

208

So auch Both, Delisting, 2006, 182 f.; Groß, ZHR 2001, 141, 161 ff.; Mülbert, ZHR 2001b, 104, 129 ff. 209 Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 119 Rn. 39; Groß, ZHR 2001, 141, 163 ff.; Mülbert, ZHR 2001b, 104, 130 ff. 210 § 14 WpHG a. F. –Verbot von Insidergeschäften. 211 § 15 WpHG a. F. – Veröffentlichung und Mitteilung kursbeeinflussender Tatsachen. 212 vgl. Bungert, BB 2000, 53, 55.

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gelungen zudem der Verkehrsfähigkeit ihrer Aktien beraubt.213 Auch dadurch tritt eine Vermögensgefährdung ein, weil die Aktien jedenfalls beim Totalrückzug so gut wie nicht mehr handelbar sind.214 Allein deswegen ist nach dieser Meinung die Gefährdungslage für die Aktionäre – insbesondere solchen, denen es auf die jederzeitige Veräußerbarkeit ankommt – schon mit der Holzmüller-Rechtsprechung vergleichbar.215 In der Sache, so wurde argumentiert, geht es um ein Grundlagengeschäft.216 Andere dagegen sahen keinen Fall der Holzmüller-Grundsätze und gingen von einer reinen Angelegenheit der Geschäftsleitung aus.217 Ein Eingriff in der Intensität der Holzmüller-Grundsätze ist nämlich nicht gegeben.218 Dem Aktionär wird anders als beim Squeeze-out das Anteilseigentum nicht entzogen.219 Auch die wesentlichen Kernrechte des Aktionärs blieben unberührt (Gewinnrecht / Stimmrecht). Nimmt man an, dass ein schwerwiegender Eingriff in die Mitgliedsrechte der Aktionäre sowie kumulativ deren im Anteilseigentum verkörperte Vermögensinteressen gegeben sein müssen, um eine Ausweitung der Hauptversammlungszuständigkeit i. S. d. Holzmüller-Rechtsprechung zu rechtfertigen, so fehlt es bei dieser Sichtweise folglich in jedem Fall an der ersten Voraussetzung.220 Auch eine Vergleichbarkeit der Fälle ist nicht gegeben, weil eben nur faktische, reflexartige Folgen für die Aktionäre eintreten, die Holzmüller-Grundsätze sich aus einer besonders schwerwiegenden rechtlichen Situation für die Aktionäre rechtfertigen. Daneben überzeugte auch die damalige Rechtsprechung des BGH zur Holzmüller-­ Entscheidung bereits rechtstechnisch nicht. Denn § 119 Abs. 2 AktG, der als Anknüpfungspunkt für die Holzmüller-Rechtsprechung verwendet wurde, ist mit der damaligen Konzeption des BGH, es müsse in bestimmten Fällen eine Ermessensreduzierung des Vorstands zur Befragung der Hauptversammlung geben, nicht vereinbar. Diese Norm bietet auch221 dem Vorstand bei Entscheidungen, die ein erhöhtes Risiko für Haftungen in sich tragen, die Möglichkeit einzuräumen, durch die Befragung der Hauptversammlung eine Verantwortungsverlagerung herbeizu-

213

Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 761; vgl. auch Wirth / Arnold, ZIP 2000, 111, 114. Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 148 f. 215 Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 761; s. auch Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 148. 216 Vgl. Bungert, BB 2000, 53, 55. 217 Vgl. dazu etwa Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009 S. 40. 218 Ott, Der Rückzug von der Börse, 2005, 249. 219 Bungert, BB 2000, 53, 55. 220 Both, Delisting, 2006, 173 ff.; das Problem mit der Anwendung der Holzmüller-Grundsätze lag zu dieser Zeit darin, dass sich kein wirklicher Konsens über die genauen Voraussetzungen bilden konnte, s. dazu Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 37; Drinhausen, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 19; besonders deutlich Ott, Der Rückzug von der Börse, 2005, 248. 221 Sehr str., s. dazu: Drinhausen, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 1 bzw. Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 1 jeweils m. w. N. 214

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

257

führen (§ 93 Abs. 4 S. 1 AktG).222 In eigenen Angelegenheiten kann es dann keine Ermessensreduzierung geben. Ob ein außerbörslicher Handel in nennenswertem Umfang stattfindet und quasi die Intensität der Nachteile abmildere und damit auch gegen die schwere eines Eingriffs spreche – kann daher dahingestellt bleiben.223 Genau genommen existiert damit kein einfachgesetzlicher Anknüpfungspunkt für die Holzmüller-Rechtsprechung.224 Ein Hauptversammlungsbeschluss ist daher abzulehnen.225 b) § 180 Abs. 2 AktG analog Die §§ 180 Abs. 2, § 68 Abs. 2 S. 1 AktG regeln insbesondere die Vinkulierung von Namensaktien. Die Übertragung der Anteile wird dann an das Einverständnis der AG gebunden. Es wird argumentiert, dass das Delisting mit der Vinkulierung vergleichbar ist, weil die Aktien durch den Verlust des Marktes quasi „eingefroren“ werden.226 Dagegen spricht aber, dass eine rechtliche Einschränkung (Vinkulierung) und eine tatsächliche (faktische)  Einschränkung (Verlust der Handelbarkeit an der Börse) nicht vergleichbar sind.227 c) Gesamtanalogie §§ 240 Abs. 1 S. 1. 65 Abs. 1 S. 1 UmwG228 In unterschiedlichen Spielarten wird versucht, eine Analogie mittels des Umwandlungsgesetzes zu begründen.229 Es wurde argumentiert, dass ein Formwechsel in eine Kapitalgesellschaft anderer Rechtsform, also etwa von einer Aktiengesellschaft in eine GmbH, in den Folgen vergleichbar mit dem Übergang von

222

Thomas, Delisting und Aktienrecht, 2009, 134; de Vries, Delisting, 2002, 87; Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 48. 223 So Bungert, BB 2000, 53, 55. 224 A. A. etwa Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktien­ gesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 41 ff. (§ 179 AktG analog). 225 Sicher hätte ein Hauptversammlungsbeschluss auch trotz des regelmäßig unproblema­ tischen Mehrheitserfordernisses weitere positive Auswirkungen: Die Aktionäre könnten durch einen Beschluss mit Pflichtangebot selbst überprüfen, ob das Angebot angemessen ist und es gebe eine Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen zum Rechtsschutz (Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 41). Solche Auswirkungen sind aber nicht im Stande eine analogiefähige Norm zu begründen. Es sind im isolierten Zustand aber vielmehr nur Argumente, die ggf. für eine bestimmte Lösung sprechen. 226 Schwark / Geiser, ZHR 1997, 739, 762; s. auch Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1068. 227 Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 49. 228 Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 49 ff. 229 S. dazu die Nachweise bei Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 159 f.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

einer börsennotierten in eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft ist.230 Denn ein Delisting entspreche – so der Gedankengang – für den eher anlageorientierten Minderheitsaktionär in seiner wirtschaftlichen Wirkungsweise einem Formwechsel in eine Rechtsform mit verminderter Anteilsfungibilität.231 Darum muss ein Beschluss – wie in § 240 Abs. 1 S. 1 UmwG gefordert – herbeigeführt werden. Dagegen spricht, dass das damalige UmwG die Börsennotierung „konsequent ausblendet“.232 Im deutschen Recht gibt es keine verschiedenen Rechtsformen einer AG.233 Ebenso bleiben auch die Struktur der Gesellschaft und die Verteilung der Kompetenzen zwischen den einzelnen Organen erhalten.234 Beide Fälle sind nicht vergleichbar. d) Art. 14 Abs.1 GG Einer Ableitung von konkreten Rechtsätzen aus dem Grundgesetz stehen grundsätzliche Bedenken entgegen (s. o.). e) Ergebnis Eine Herleitung ist mit dem hier vertretenen restriktiven Ansatz nicht möglich. 2. Herleitung für das Pflichtangebot Fraglich ist, ob es darüber hinaus eine bessere Möglichkeit zur Ableitung des Pflichtangebots gegeben hätte. Auch hier stellt sich die Frage nur, sofern man nicht § 43 Abs. 4 BörsG a. F. als abschließend ansieht. Im Hintergrund spielt hier oftmals bei den unterschiedlichen Ansichten, die eine einfachgesetzliche Herleitung bevorzugten, der Gedanke mit, ob man nicht zwischen einer börsennotierten und nicht börsennotierten Aktiengesellschaft stärker unterscheiden muss. Die Frage lautet dann, ob die Unterschiede so groß sind, dass es gerechtfertigt erscheint, umwandlungsrechtliche Vorschriften analog auf das Delisting anzuwenden.

230

Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1068; Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 49 ff.; vgl. auch Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 160. 231 Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1068; Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 49 ff. 232 Mülbert, ZHR 2001b, 104, 137. 233 Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 161. 234 Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 161; so auch Ott, Der Rückzug von der Börse, 2005, 283 ff.; auch gegen Barabfindungsgebot auch Mülbert, ZHR 2001b, 104, 137.

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a) Verfassungskonforme Auslegung der einzelnen Börsenordnungen Eine verfassungskonforme Auslegung der einzelnen BörsO, die jedenfalls z. T. noch ein freiwilliges Angebot vorsahen, scheidet aus.235 Eine Auslegung in der Form, dass aufgrund von Art. 14 GG ein echtes Pflichtangebot entsteht, wäre ein bloßer durchlässiger Schutz, da die Vorschrift und damit auch ihre Abschaffung in der Hand der Einzelbörsen liegen würden. In diesem Punkt ist dem BGH zuzustimmen.236 b) Analogien zum UmwG Oftmals wurde in der Literatur versucht, ein Pflichtangebot über eine Rechtsfortbildung aus den §§ 29, 207 UmwG analog abzuleiten.237 Kerngedanke dahinter ist, dass wiederum eine Vergleichbarkeit zwischen der Situation einer Verschmelzung bzw. eines Formwechsels und dem Delisting besteht. Die Situation, die etwa § 207 UmwG regelt, ist nach dieser Ansicht vergleichbar mit derjenigen, die entsteht, wenn eine AG in eine GmbH umgewandelt werde.238 Auch dann würde eine Lage entstehen, in denen die Aktionäre einer verringerten Veräußerbarkeit der Anteile ausgesetzt seien und in der sie für ihre Aktien eine angemessene Abfindung verlangen könnten.239 Das gleiche müsse gelten, wenn eine Börsen-AG in eine private AG „umgewandelt“ wird, weil sich hier die Veräußerbarkeit der Anteile i. d. R. noch weit mehr verringert.240 Alle diesen Lösungen haben ein Problem: Die Rechtsstellung des Aktionärs wird in erheblichen Maße von den betroffenen umwandlungsrechtlichen bzw. aktienrechtlichen Vorschriften beeinträchtigt.241 Der Meinung, die auf § 207 UmwG zurückgreifen will, muss daher entgegengehalten werden, dass Sinn und Zweck dieser Norm ist, eine Pflicht des formwechselnden Rechtsträgers zum Angebot einer Barabfindung an die dem Formwechsel widersprechenden Anteilsinhaber zu begründen.242 Sie trägt den allgemeinen Rechtsge 235

So auch Klöhn, ZBB 2003, 208, 212. Denkbar wäre aber eine verfassungskonforme Auslegung des § 43 Abs. 4 S. 1 u. 2. BörsG mit Blick auf Art. 14 Abs.1 GG gewesen. Dieser Ansatz soll aber nicht weiter untersucht werden, da nach hier vertretener Ansicht Art. 14 GG ohnehin nicht einschlägig ist. 237 Zetzsche, NZG 2000, 1065, 1067; Marsch-Barner, LMK 2003, 108, 109; Vollmer / Grupp, ZGR 1995, 459, 476; Holzborn, WM 2003, 1105, 1108; Adolff / Tieves, BB 2003, 797, 802; Dry­ gala / Staake / Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 2012, 912; vgl. auch Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 187 Fn. 302 m. w. N. sowie Ott, Der Rückzug von der Börse, 2005, 283; dagegen etwa Hoffmann, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 119 Rn. 39 sowie Klöhn, ZBB 2003, 208, 212 f. und Bungert, BB 2000, 53, 57 f. 238 Vollmer / Grupp, ZGR 1995, 459, 476; vgl. auch Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 199. 239 Freilich sofern auch die dortigen Voraussetzungen vorliegen. 240 Vollmer / Grupp, ZGR 1995, 459, 476. 241 Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 203. 242 Decher / Hoger, in: Lutter / Bayer, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014, § 207 Rn. 1. 236

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

danken in sich, dass den Anteilsinhabern bei wesentlichen Strukturmaßnahmen, die mit einer nachhaltigen Veränderung oder Beeinträchtigung der Rechte der Anteils­inhaber verbunden sind, ein Austrittsrecht aus wichtigem Grund zusteht.243 Gleiches gilt auch für § 29 Abs. 1 S. 1 UmwG.244 Eine solche Veränderung der Rechte liegt beim Delisting nicht vor, weil eben nur die Börsennotierung wegfällt, die AG aber in ihren Strukturen unberührt bleibt (s. o.). Es fehlt damit bereits an der Vergleichbarkeit der Interessenlage.245 Auch eine Analogie zu § 29 Abs. 1 S. 2 UmwG scheitert. Nach dieser Norm ist bei einer Verschmelzung von Rechtsträgern derselben Rechtsform ein Barabfindungsangebot zu unterbreiten, wenn die Anteile oder Mitgliedschaften an den übernehmenden Rechtsträger Verfügungsbeschränkungen unterworfen sind. Denn dadurch tritt ein Fungibilitätsverlust ein. Der Normzweck des Austrittsrechts bei Verfügungsbeschränkungen in der aufnehmenden Gesellschaft besteht dementsprechend im Schutz der Minderheitsgesellschafter vor dem Eingriff in ihre Verfügungsbefugnis durch die Verschmelzung.246 Ein solcher rechtlicher Eingriff liegt beim Delisting wiederum nicht vor (s. o.). Zudem wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass § 29 Abs. 1 S. 2 UmwG eine gesetzliche Ausnahme normiere, die nicht über eine Analogie umgangen werden darf.247 Denn liegen die Voraussetzungen für ein Barabfindungsangebot nach § 29 Abs. 1 S. 1 UmwG nicht vor, so darf nur in den Fällen des § 29 Abs. 1 S. 2 quasi als gesetzlich geregelter Sonderfall ein Angebot erfolgen.248 Eine Analogie ist nach dieser Auffassung aufgrund der gesetzgeberischen Grundentscheidung dementsprechend nicht möglich.249 c) § 243 Abs. 2 S. 2 AktG Nach einer anderen Ansicht folgt das Pflichtangebot aus einer analogen Anwendung von § 243 Abs. 2 S. 2 AktG.250 Nach § 243 Abs. 2 S. 1 AktG sind Beschlüsse, die Sondervorteile gewähren, anfechtbar, weil darin eine Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht zu sehen ist.251 Sondervorteile sind Vorteile, die bei einer Gesamtwürdigung als sachwidrige, mit den Interessen der Gesellschaft 243

Decher / Hoger, in: Lutter, Umwandlungsgesetz 2014, § 207 Rn. 1; Kalss, in: Semler / Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 207 Rn. 1. 244 Decher / Hoger, in: Lutter / Bayer, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014, § 207 Rn. 1. 245 Ebenso Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 66. 246 Kalss, in: Semler / Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 29 Rn. 7. 247 Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 65. 248 Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 65. 249 Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 65. 250 Wackerbarth, WM 2012, 2077, 2079 f.; s. auch Wackerbarth / Eisenhardt, Gesellschaftsrecht II: Recht der Kapitalgesellschaften, 2013, Rn. 930. 251 Würthwein, in: Spindler / Stilz, Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 243 Rn. 190.

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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oder der anderen Aktionäre als unvereinbare Bevorzugung erscheinen, sowohl materielle Vorteile als auch die Stärkung der Stellung in der Gesellschaft.252 Nach § 243 Abs. 2 S. 2 AktG gilt S. 1 aber nicht, wenn der Beschluss den anderen Aktionären einen angemessenen Ausgleich für ihren Schaden gewährt. Dann liegt eine Treupflichtverletzung nicht vor, weil alle Beteiligten gleichbehandelt werden. In Bezug auf das Delisting wird argumentiert, dass der Großaktionär, der regelmäßig der Initiator des Delistings ist, weil er die kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten nicht benötige und eine Kostensenkung anstrebt, im Gegensatz zu den restlichen Aktionären einen Sondervorteil erhält. Das Abschneiden der Aktionäre von der Kapitalmarktpublizität ist daher nach einigen Stimmen als Schaden im Sinne des § 243 Abs. 2 S. 1 AktG anzusehen, der für die Anlegeraktionäre durch die Kostenvorteile der Gesellschaft aus dem Delisting nicht aufgewogen werde.253 Damit sei der zu fassende Hauptversammlungsbeschluss bei Vorhandensein von Minderheitsaktionären grundsätzlich gem. § 243 Abs. 2 S. 1 AktG anfechtbar. Die Anfechtbarkeit entfalle jedoch gem. § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG, soweit der Beschluss den anderen Aktionären einen „angemessenen Ausgleich“ für ihren Schaden gewährt.254 Problematisch an dieser Ansicht ist aber, dass das Delisting gar keines Hauptversammlungsbeschlusses bedarf (s. o.).255 Auch passen die Rechtsfolgen nicht ganz: Denn das Fehlen eines angemessenen Ausgleichs bewirkt nach § 243 Abs. 2 S. 1 AktG die Anfechtbarkeit mit der Folge einer Nichtigerklärung des Beschlusses. Der BGH hat überzeugend dargelegt, dass nur das Spruchverfahren einen angemessenen Interessenausgleich leisten kann. In der Literatur wird außerdem daran gezweifelt, ob ein Sondervorteil gegeben ist. Der Umstand, dass das Delisting bestimmte Aktionärsgruppen stärker als andere berühre, reicht hiernach allein nicht zur Annahme eines Sondervorteils aus. Denn der Vorteil des Großaktionärs folgt nach dieser Meinung nicht direkt aus dem Delisting, sondern mittelbar aus der beteiligungsbedingt erhöhten Teilnahme des Großaktionärs am Erfolg oder Misserfolg der Gesellschaft.256 d) Art. 14 GG Eine Herleitung aus Art. 14 GG scheitert aus denselben Gründen wie bereits oben angesprochen.257

252

Drescher, in: Henssler / Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016 § 243 AktG Rn. 29. Wackerbarth, WM 2012, 2077, 2079. 254 Wackerbarth, WM 2012, 2077, 2080. 255 Thomale, ZGR 2013, 686, 715. 256 Thomale, ZGR 2012, 715 f. 257 Ähnlich auch Picot, Die Rechte der Aktionäre beim Delisting börsennotierter Gesellschaften, 2009, 61; a. A. wohl Wilsing / Kruse, WM 2003, 1110, 1112. 253

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e) Ergebnis Nach der damaligen Rechtslage gab es keinen Anspruch auf Barabfindung.258

I. Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und Änderungsinteresse Aufgrund der obigen Ausführung kann man ein Interesse an der Änderung der Rechtslage zwar gut begründen, aber ein solches setzt auch immer die rechtliche Umsetzbarkeit voraus. Da diese nicht gegeben ist, hätte die Rechtsprechung konsequenter Weise die Macrotron-Entscheidung in dieser Weise nicht treffen dürfen und die richterliche Fortbildung unterlassen sollen.

J. Ergebnis Im Ergebnis kann sich daher im vollen Umfang der Einschätzung eines kleinen Teils der Literatur angeschlossen werden.259 Meines Erachtens wäre es besser gewesen, auf die Macrotron-Rechtsprechung zu verzichten. Dabei kann dahinstehen, ob es sich sogar um eine Rechtsfortbildung contra legem handelt. Denn es ist wie ausgeführt nicht völlig zweifelsfrei, dass der § 43 Abs. 4 BörsG a. F. vom Gesetzgeber als abschließende Norm konzipiert wurde. Gleiches gilt für § 119 AktG. Das ändert aber nichts daran, dass in einer solchen Zweifelslage die Richter besser von einer Fortbildung abgesehen hätten.

258

Gutte, Das reguläre Delisting von Aktien, 1. Aufl. 2006, 211 ff. Ekkenga, ZGR 2003, 878, 910: „Unter den schon jetzt sehr unterschiedlich akzentuierten Stellungnahmen findet sich u. a. die Einschätzung, der BGH habe ‚mutig und im Grundsatz richtig‘ entschieden. Die vorstehende Analyse sollte demgegenüber gezeigt haben, dass es mutiger und im Interesse einer geordneten Rechtsentwicklung vorzugswürdig sein kann, mit der Formulierung von Rechtssätzen, die nicht im Gesetz stehen und die sich auch nicht mittelbar aus dem Gesetz ableiten lassen, etwas zurückhaltender umzugehen. Der Senat hat sich nicht zurückgehalten. Er dürfte damit mehr Probleme neu geschaffen als gelöst haben, weil die außerparlamentarische Normgebung dort, wo das gesetzliche Normengeflecht in seinem Zusammenwirken mit den früheren Ergebnissen richterlicher Rechtsfortbildung immer engmaschiger wird, geradezu zwangsläufig zu Reibungen und Wertungswidersprüchen führen muss. Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für beratende Juristen und Gerichte, aber kein Beitrag zu mehr Rechtsklarheit und -sicherheit.“ Ähnlich auch Klöhn, NZG 2012, 1041, 1045: „Da das System der aktien- und umwandlungsrechtlichen Abfindungsansprüche die Börsennotierung ‚konsequent ausblendete‘, existierte die für eine Gesetzes- oder Rechtsanalogie zu den vorhandenen Abfindungsvorschriften erforderliche Lücke nicht. Dies mag aus rechtspolitischer Sicht bedauerlich sein. Gerichte dürfen diesen rechtspolitischen Mangel jedoch nicht im Wege der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung korrigieren.“ 259

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§ 14 Folgen der Macrotron-Entscheidung A. Die Delisting-Entscheidung des BVerfGE260 als Basis zur richterlichen Derogation I. Gegenstand Die beiden Verfassungsbeschwerden, die Gegenstand der Entscheidung des BVerfG zum Delisting wurden, betrafen im ersten Streitgegenstand einen regulären Börsenrückzug (Verfassungsbeschwerde durch die Hauptaktionärin), im zweiten Fall dagegen lediglich ein Downgrading (s. o., Verfassungsbeschwerde des Minderheitsaktionärs).261 Die Beschwerdeführerin im ersten Verfahren rügte mit ihrer 260

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99. Das erste Verfahren hatte im Kern folgenden Inhalt: Die Beschwerdeführerin war Hauptaktionärin der M-AG und beantragte im Mai 2004 beim Vorstand der M-AG, auf der bevorstehenden Hauptversammlung über einen Antrag zum Widerruf der Börsenzulassung abstimmen zu lassen. Gleichzeitig unterbreitete sie als Hauptaktionärin den anderen Aktionären das Angebot, deren Aktien unter der Bedingung eines erfolgreichen Delistings zu einem Preis von 1,70 Euro pro Aktie zu übernehmen. Vorstand und Aufsichtsrat der Gesellschaft griffen den Antrag der Hauptaktionärin auf. Nach einem entsprechenden Beschluss der Hauptversammlung der M-AG wurden im Oktober 2004 auf Antrag der Gesellschaft die Zulassung zum damaligen amtlichen Markt der Börse widerrufen und Ende Dezember 2004 die Notierung der Aktie eingestellt. Einige der Minderheitsaktionäre hielten das von der Hauptaktionärin unterbreitete Kaufangebot für zu niedrig und beantragten beim LG die Durchführung eines Spruchverfahrens zur Bestimmung der gebotenen Abfindung. Hiergegen und gegen die Entscheidungen des später angerufenen KG Berlin [KG Berlin, Beschluss v. 31.10.2007 – 2 W 14/06, BeckRS 2007, 19506: Anspruch auf Übernahme der Aktien zu einem angemessenen Kaufpreis (Gesamtanalogie zu den §§ 305, 320b, 327b AktG, §§ 29, 207 UmwG) sowie analoge Anwendung des Spruchgesetzes auf das Delisting nach vorherigen Kaufangebot (im Ergebnis folglich wie der BGH in seiner Macrotron-Entscheidung] wendete sich im weiteren Verfahren die Hauptaktionärin mit einer Verfassungsbeschwerde. LG und KG legten bei ihren mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen die Macrotron-Rechtsprechung des BGH zu Grunde. Die zweite Beschwerdeführerin war Aktionärin der L-Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA). Mehrheitsaktionärin (Kommanditaktionärin) war die L-GmbH, die ursprünglich mehr als 95 % der Anteile hielt; der Rest befand sich in Streubesitz. Im April 2006 wurde auf Antrag der L-KGaA die Zulassung der Aktien zum amtlichen Handel an der Münchener Börse widerrufen. Dem Antrag der Gesellschaft ging weder ein entsprechender Hauptversammlungsbeschluss voraus, noch wurde den Minderheitsaktionären ein Angebot zum Kauf ihrer Aktien unterbreitet. Der Widerruf wurde allerdings als so genanntes „Downgrading“ vollzogen: Die Aktien wurden fortan weiter im so genannten qualifizierten Freiverkehr, dem Segment „m:access“ der Börse München, und – wie auch zuvor – im Freiverkehr der Börse Stuttgart gehandelt. Im Jahr 2010 wurden auf Grund eines Hauptversammlungsbeschlusses die Aktien der übrigen Aktionäre gegen Barabfindung auf den Hauptaktionär übertragen („Squeeze-out“) und der Börsenhandel eingestellt. Im November 2010 vollzog die KGaA einen Rechtsformwechsel in eine KG, die unter L-KG firmiert. Im Ausgangs­verfahren, einem gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahren, beantragte die Beschwerdeführerin neben weiteren Minderheitsaktionären unter Berufung auf die Macrotron-Rechtsprechung des BGH die Festsetzung einer angemessenen Barabfindung. Das Verfahren richtete sich gegen die Mehrheitsaktionärin (die L-GmbH) sowie die Gesellschaft selbst, die L-KGaA. Das LG wies 261

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Verfassungsbeschwerde insbesondere eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 aufgrund der Fortbildung zum Delisting durch den BGH, denn sie sah sich als Hauptaktionärin einer Aktiengesellschaft einem ungerechtfertigten Spruchverfahren ausgesetzt, dass Minderheitsaktionäre nach dem Delisting zur Überprüfung des Pflichtangebots anstrebten. Die Fachgerichte sahen ein solches Spruch­verfahren als zulässig an. Die Beschwerdeführerin im zweiten Verfahren rügte insbesondere eine Verletzung ihres Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 GG, weil sie als Minderheitsaktionärin und Betroffene des Downlistings ein Spruchverfahren anstrebte, dass ihr durch die Fachgerichte verweigert wurde. Das BVerfG hielt die Verfassungsbeschwerden zwar für zulässig, aber unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten die jeweilige Beschwerdeführerin nicht in ihren als verletzt gerügten verfassungsmäßigen Rechten. Der Widerruf der Börsenzulassung von Aktien im regulierten Markt262 auf Antrag des Emittenten berühre nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs (Art. 14 Abs. 1 GG). Das für den Fall eines vollständigen Rückzugs von der Börse im Wege einer Gesamtanalogie zu den Vorschriften über andere gesellschaftsrechtliche Strukturmaßnahmen entwickelte, gerichtlich überprüfbare Angebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs an die übrigen Aktionäre, deren Aktien zu erwerben, halte sich in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Art. 2 I i. V. m. Art. 20 III GG).263 Im Kern hielt das BVerfG die vom BGH getroffene Rechtsfortbildung zum Delisting zwar nicht für verboten, aber auch nicht zwingend geboten. II. Art. 14 GG als Prüfungsmaßstab Der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt berühre nicht den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts des Aktionärs. Er nähme dem Aktio­ när keine Rechtspositionen, die ihm von der Rechtsordnung als privatnützig und für ihn verfügbar zugeordnet sei; er lasse die Substanz des Anteilseigentums in seinem mitgliedschaftsrechtlichen und seinem vermögensrechtlichen Element unbeeinträchtigt. 1. Grundsätze zu Art. 14 GG Zwar gewährleiste Art. 14 Abs. 1 GG das Eigentum. Dazu gehöre eben auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum, das im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis die Anträge zurück. Eine dagegen gerichtete sofortige Beschwerde zum OLG blieb erfolglos. Beide Gerichte vertraten die Ansicht, das Spruchverfahren sei nicht statthaft, weil in der Sache kein Fall der Macrotron-Rechtsprechung vorliegen würde. 262 Früher: amtlicher Markt. 263 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 118.

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gekenn­zeichnet sei. Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasse nach dem BVerfG die Substanz dieses Anteilseigentums in seiner mitgliedschaftsrechtlichen und vermögensrechtlichen Ausgestaltung. Der Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts sei beispielsweise durch die Eingliederung der Aktiengesellschaft in einen Konzern, durch den Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungs­vertrags, aber auch durch den Ausschluss des Aktionärs betroffen. Entscheidend sei in diesen Fällen, dass der Aktionär seine in der Aktie verkörperte Rechtsposition verliere oder diese in der Substanz verändert wird. Grundsätzlich nicht geschützt seien hingegen der bloße Vermögenswert des Aktieneigentums und der Bestand einzelner wertbildender Faktoren, insbesondere solcher, die die tatsächliche Verkehrsfähigkeit einer Aktie steigerten.264 Daher umfasse der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums grundsätzlich nicht den wertbildenden Effekt marktregulierender und unternehmensbezogener Vorschriften des Aktien- und des Börsenrechts, die nach der Zielsetzung des Gesetzgebers Transparenz schaffen und in Ansehung der wirtschaftlichen Macht großer börsennotierter Aktiengesellschaften sowie ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung auch der Missbrauchsprävention und dem Wohl der Allgemeinheit dienen sollen. Auch wenn sie der Gesellschaft und ihren Organen Pflichten auferlegte oder Rechte einräumte, die mittelbar auch für den einzelnen Aktionär oder für die Gesamtheit der potenziellen Anleger von Nutzen sein mögen, würden sie dadurch nicht zum Schutzgegenstand des Art. 14 Abs. 1 GG. Denn sie seien dem einzelnen Aktionär nicht in privatnütziger Verfügbarkeit normativ zugeordnet. Vielmehr stellten sie und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten nur wirtschaftliche Chancen und Risiken dar, die nicht an der eigentumsmäßigen Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG teilhaben.265 Hiervon ausgehend berührt der Widerruf der Börsenzulassung für den regulierten Markt nicht den Schutzbereich des Art. 14 GG. Die Substanz des Aktieneigentums wird durch den Widerruf weder in seinem mitgliedschaftsrechtlichen noch in seinem vermögensrechtlichen Element berührt. Das BVerfG führte als Begründung an, dass die durch den Handel im regulierten Markt der Börse möglicherweise faktisch gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktie nicht an der Gewährleistung des Aktieneigentums teilnehme.266 Zwar sei in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die besondere Verkehrsfähigkeit der Aktie als eine „Eigenschaft“ des Aktieneigentums anerkannt, damit zählt aber nur die rechtliche Verkehrsfähigkeit als solche zum erworbenen und von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand. Ließe sich eine gesteigerte Verkehrsfähigkeit feststellen, so erwiese sie sich als schlichte Ertrags- und Handelschance. Insbesondere beeinflusse die Börsenzulassung im regulierten Markt die rechtliche Verkehrsfähigkeit der Aktie nicht. Diese, verstanden als rechtliche Befugnis zur jederzeitigen Veräußerung in einem Markt, sei gerade nicht berührt. Auch nicht-börsennotierte Aktien sind nach der einfachrechtlichen Ausgestaltung ebenso verkehrsfähig. Die Handelbarkeit der Aktie in tatsächlicher Hinsicht sei grundsätzlich für die Frage 264

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 119. BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 120. 266 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 121. 265

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

des Bestands und der Zuordnung des Aktieneigentums ohne Bedeutung. Insoweit sind lediglich die Veräußerungschancen am Markt betroffen und allenfalls die Zirkulationsfähigkeit der Aktie faktisch beeinträchtigt. Die Funktionsfähigkeit eines Markts wird durch das Eigentumsgrundrecht nicht gewährleistet. Die Teilnahme der Aktie gerade am öffentlich-rechtlich organisierten börslichen Preisbildungs- und Handelssystem sei mithin nicht Gegenstand des Eigentumsschutzes. Nach alledem handele es sich im Blick auf das vermögensrechtliche Element des Aktieneigentums bei der Börsenzulassung im regulierten Markt um einen wertbildenden Faktor, wie er sich für die Aktie auch sonst in verschiedener Hinsicht finde. Auch dort sei er nur eine verfassungsrechtlich nicht geschützte Marktchance, so etwa bei der Aufnahme in einen Aktienindex, der die Nachfrage nach der Aktie in beachtlichem Maße beeinflussen könne.267 Die Beurteilung des Widerrufs als bloß wertbildender Umstand stehe im Übrigen im Einklang mit der spiegelbildlichen Rechtslage, dass der Aktionär keinen Anspruch auf eine Börsenzulassung habe und einen dadurch bedingten Wertzuwachs nicht auszugleichen hätte. Er habe dies als eine geschäftspolitische Maßnahme des Unternehmens und seiner Organe hinzunehmen. Der Widerruf erweise sich deshalb als ein mit dem Aktieneigentum miterworbenes Risiko, wie es etwa auch hinsichtlich des Geschäftsmodells des Unternehmens, der Markteinschätzung, der Langfristinteressen bei der gegebenen Aktionärsstruktur und deren voraussichtlicher Stabilität bestehe. 2. Vergleich mit der DAT / Altana-Entscheidung Interessant sind neben diesen rechtlichen Gründen auch die Ausführungen zur DAT / Altana-Entscheidung. Das BVerfG geht davon aus, dass seine getroffenen Feststellungen – die der Macrotron-Rechtsprechung des BGH entgegenlaufen – im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen.268 Der Senat habe in der DAT / Altana-Entscheidung hervorgehoben, dass bei einem Eigentumseingriff die besonders ausgeprägte Verkehrsfähigkeit der Aktie und insbesondere deren Börsenwert bei der Wertbestimmung des Eigentums zur Bemessung der angemessenen Abfindung berücksichtigt werden muss. Die Börsennotierung im regulierten Markt sei damit nur ein Gesichtspunkt, der die Verkehrsfähigkeit von Aktien verbessern kann und deshalb als wertbildender Umstand bei der hier nicht in Rede stehenden Bemessung einer angemessenen Abfindung nicht unberücksichtigt bleiben darf. Hingegen sei eine besonders ausgeprägte Verkehrsfähigkeit nicht als solche durch Art. 14 I GG geschützt. Damit widerspricht das BVerfG der früheren Auslegung der DAT / Altana-Entscheidung durch den BGH.

267 268

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 122. BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 123.

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3. Börsenzulassung zum regulierten Markt als Eigentumsbestandteil aufgrund von Sondervorschriften Die Börsenzulassung zum regulierten Markt lasse sich nach dem BVerfG auch nicht wegen der durch sie vermittelten Geltung zahlreicher Sondervorschriften für börsennotierte Aktiengesellschaften im Aktien- und Handelsrecht oder wegen der im regulierten Markt zur Anwendung gelangenden börsenrechtlichen Standards als Eigentumsbestandteil qualifizieren. Zwar unterliege die Zulassung zum Handel von Aktien am regulierten Markt einer Reihe von Sondervorschriften.269 Dieses dichte Regelwerk für börsennotierte Aktiengesellschaften diene mittelbar den Vermögens- und Mitgliedschaftsinteressen des einzelnen Aktionärs, komme ihm aber lediglich als Reflex zugute und erhebe das besondere Regelungsregime für die börsennotierte Aktiengesellschaft deswegen nicht zu einem Schutzgegenstand seines Aktieneigentums. Die Bestimmungen ließen sich in der Zusammenschau nicht dazu heranziehen, sie dem Aktieneigentum im Sinne einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition zuzuordnen. Sie erwiesen sich in ihrer Gesamtheit nicht als privatnützige Befugnisse des einzelnen Aktionärs, sondern seien lediglich durch das Aktieneigentum vermittelte Vorteile. Gleiches gelte für die durch die Börsenzulassung im regulierten Markt bedingten börsenrechtlichen Schutzstandards.270

269

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 123 f.: „Allein im Aktiengesetz findet sich für börsennotierte Gesellschaften eine Vielzahl von Regelungen, etwa zu den Vorstandsbezügen (§ 87 I AktG), zur Verjährungsfrist bei der Vorstandshaftung (§ 93 VI AktG), zum Wechsel eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsrat (§ 100 II Nr. 4 AktG), zur Anzahl der Aufsichtsratssitzungen (§ 110 III AktG), zu den Einberufungsvorschriften für die Hauptversammlung (§§ 121 ff. AktG), zur Niederschrift der Hauptversammlung (§ 130 AktG), zu den Bekanntmachungen (§§ 149, 248 a AktG) sowie zum Corporate Governance Codex (§ 161 AktG). Auf börsennotierte Aktiengesellschaften sind weitere kapitalmarkt- und bilanzrechtliche Sondervorschriften anzuwenden, so etwa nach dem Wertpapierhandelsgesetz. Grundsätzlich wird im Bilanzrecht nach der Größe der Kapitalgesellschaft differenziert; börsennotierte Aktiengesellschaften werden an das Bilanzrecht der großen Kapitalgesellschaften gebunden (§ 267 III 2 i. V. mit § 264 d HGB).“ 270 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012  – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 125: „Das öffentlichrechtliche Handelsregime, namentlich die Befugnisse der Börsenaufsicht (§ 3 III BörsG) und die Zulassungsfolgepflichten, sollen die ordnungsgemäße Durchführung des Handels gewährleisten und Missständen vorbeugen. Dieser Standard des Börsenrechts dient dem öffentlichen Interesse an der Transparenz, der Qualität und der Effizienz des Marktes für die Kapitalaufnahme durch die Unternehmen und an der Handelbarkeit der Aktie. Der Schutz des Kapitalmarkts und der Anleger lässt sich hingegen nicht im Sinne privatnütziger Verfügbarkeit dem einzelnen Aktionär zuordnen. Das schließt nicht aus, dass sich der Aktionär möglicherweise auf einzelne börsenrechtliche Bestimmungen im Sinne eines einfachrechtlichen subjektiven Rechts berufen kann.“

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

4. Kursverfall durch Delisting kein Argument für Beeinträchtigung wirtschaftlicher Substanz des Aktieneigentums Es könne – so das BVerfG – dahingestellt bleiben, ob der verfassungsrechtlich zu gewährleistende Schutz des Aktieneigentums in seinem vermögensrechtlichen Element eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte, wenn mit dem Widerruf regelmäßig ein Kursverfall einträte, der nach seinem Ausmaß die wirtschaftliche Substanz des Aktieneigentums träfe. Denn ein solcher Effekt lässt sich jedenfalls für die hier in Rede stehenden Zeiträume ab 2004 und die heutigen Verhältnisse nicht mehr tragfähig belegen. Ein regelhaft zu verzeichnender Kursverfall nach Ankündigung der Widerrufsabsicht lässt sich nach keiner der Stellungnahmen sachkundiger Dritter hinreichend abstützen.271 5. Keine Überschreitung der Grenzen richterlicher Fortbildung Im nächsten Abschnitt der Entscheidung wird zur Maßstabsbildung sodann auf die Grundsätze des Beschlusses zur Dreiteilungsmethode vom BVerfG verwiesen, der bereits oben ausführlich ausgewertet wurde.272 Diesen Maßstäben  – so das BVerfG  – halte die von der Beschwerdeführerin angegriffene Gesamtanalogie stand. Die Fachgerichte hätten sich mit ihrer Rechtsfortbildung nicht in Widerspruch zur gesetzgeberischen Grundentscheidung gesetzt; ihre Würdigung widerstreite auch nicht den anerkannten Auslegungsmethoden. Das geschriebene Recht enthalte allerdings keine gesetzliche Bestimmung, die vorschreibe, im Falle des Widerrufs der Zulassung zum regulierten Markt der Börse müsse der 271

Die korrekte Ermittlung der Tatsachen bzw. des Sachverhalts ist in der Entscheidung z. T. zweifelhaft. So ist der BVerfG davon ausgegangen, dass sich nicht feststellen lasse, dass schon die Ankündigung des Börsenrückzugs zu einem Kursverlust führe. Diese Feststellung erscheint brüchig, denn dass die Kurse nicht einbrechen, kann auch mit der gerade damals noch geltenden Macrotron-Entscheidung zusammenhängen. Diese Frage soll nicht weiter vertieft werden. S. dazu Koch, in: Hüffer / Koch, Aktiengesetz, 11. Aufl. 2014 Rn. 34 sowie dazu Bayer, NZG 2015, 1169, 1172 mit weiteren Nachweisen. Auch empirisch lässt sie sich scheinbar nicht belegen, s. Pilsl / Knoll, DB 2016, 181 ff.; a. A. aber Thomale, ZGR 2013, 686, 710. 272 BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 127: „Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Von daher ist auch eine analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften sowie die Schließung von Regelungslücken von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden. Rechtsfortbildung stellt keine unzulässige richterliche Eigenmacht dar, sofern durch sie der erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt wird. Der Gesetzgeber hat dies auch seit Langem anerkannt und dem obersten Zivilgericht die Aufgabe der Rechtsfortbildung ausdrücklich überantwortet (vgl. § 132 IV GVG, § 543 II 1 Nr. 2 ZPO). Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen. Richterliche Rechtsfort­bildung dürfe daher nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen.“

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Mehrheitsaktionär oder die Gesellschaft selbst den Minderheitsaktionären einen Ausgleich für eine Beeinträchtigung der Handelbarkeit anbieten. Eine Schutzbestimmung befinde sich allein auf der Ebene des Kapitalmarktrechts. Insoweit sehe § 39 II BörsG lediglich vor, dass der Widerruf dem Schutz der Anleger nicht widersprechen dürfe, überlässt die nähere Ausgestaltung indes den einzelnen Börsenordnungen. Die Instanzgerichte hätten diesen Schutz für unzureichend erachtet und einen näheren Interessenausgleich unter Rückgriff auf eine Gesamtanalogie zu gesellschaftsrechtlichen Regelungen für erforderlich gehalten.273 Diese Annahme eines Regelungsbedürfnisses sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Verfassungsrechtlich unbedenklich sei insbesondere, dass sich die Fachgerichte an der Gesamtanalogie nicht von vornherein durch die kapitalmarktrechtliche Anlegerschutzbestimmung des § 39 II BörsG deshalb gehindert gesehen hätten, weil diese Vorschrift als abschließend erachtet werden müsse. Der Gesetzeshistorie und der Gesetzessystematik ließen sich dafür keine verlässlichen Gründe entnehmen. Eine nähere Begründung gibt das BVerfG an dieser Stelle nicht. Es verweist auf die Gesetzbegründung274 sowie auf Publikationen, die sich für und gegen die Abgeschlossenheit der Regelung aussprechen.275 Im Prinzip widerspricht sich das BVerfG sogar selbst, denn es gibt mittelbar zu, dass es auch keine eindeutige, für eine Rechtsfortbildung offene Regelung gibt. Die Fachgerichte dürften in einfachrechtlicher Würdigung auch ein Pflichtangebot für gesellschaftsrechtlich geboten erachten, sei es auch von Verfassungs wegen – gemeint ist Art. 14 Abs. 1 GG – nicht zwingend geboten gewesen, die Ausgangslage beim Widerruf der Börsenzulassung im regulierten Markt wertungsmäßig mit denen ähnlich gelagerter Maßnahmen zu erachten, für die der Gesetzgeber ausdrücklich ein überprüfbares Pflichtangebot vorgesehen habe. Sie dürften jene Bestimmungen in ihrem Grundgedanken auf den Widerruf der Börsenzulassung übertragen. Sodann wird das BVerfG auch kritischer, indem es vorstellt, dass die Wertungsgleichheit der vorhandenen Regelungen mit der gesellschaftsrechtlichen Situation beim freiwilligen Delisting nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen auch fachrechtlich anders hätte beurteilt werden können.276 Denn mit keiner der von den Fachgerichten zur Analogiebildung herangezogenen Regelungen (§§ 305, 320 b, 327 b AktG, §§ 29, 207 UmwG) sei der Verlust des regulierten Markts als „Marktplatz“ vergleichbar. Alle diese, ein Pflichtangebot vorsehenden Regelungen, wiesen Besonderheiten auf. Überdies sei auch kein einheitlicher Schuldner für eine Abfindung feststellbar. Dies führe jedoch noch nicht dazu, dass ein krasser Wi-

273

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 129. BT-Dr 13/8933. 275 BVerfG, Beschluss v. 11.07.2012  – 1 BvR 3124/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 129: „Adolff / Tieves, BB 2003, 797 [798]; a. A. Wilsing / K ruse, WM 2003, 1110 [1113].“ 276 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 129. 274

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derspruch zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers oder sonst eine Lösung vom Recht im Sinne richterlicher Eigenmacht festzustellen wäre. Aus verfassungsrechtlicher Sicht steht der Annahme einer Gesamtanalogie nichts entgegen. Die Fachgerichte hätten den gesetzlich geregelten Ausgleichspflichten in den Fällen der Eingliederung (§ 320 b AktG), der Verschmelzung (§ 29 UmwG), des Formwechsels (§ 207 UmwG) sowie des Abschlusses eines Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrags (§ 305 AktG) den einheitlichen Grundgedanken entnommen, dass gesetzlich vorgeschriebene Pflichtangebote dem Aktionär die Möglichkeit eröffnen würden, zu entscheiden, ob er unter den durch die Strukturmaßnahme wesentlich veränderten Bedingungen an seinem Mitgliedschaftsrecht festhalten möchte. Sie würden insbesondere dem Minderheitsaktionär, der eine solche Strukturmaßnahme nicht verhindern kann, die Möglichkeit verschaffen, sich wegen der veränderten Rahmenbedingungen aus der Aktiengesellschaft gegen eine angemessene Abfindung zurückzuziehen.277 Dieser Gedanke könne auch im Fall des freiwilligen Delisting als vertetbar tragfähig angesehen werden. 6. (Nachträgliche) Akzeptanz des Gesetzgebers Gegen die Annahme einer Überschreitung der Grenzen richterlicher Rechtsbindung spreche weiter, dass der Gesetzgeber trotz verschiedener Aktivitäten im Umwandlungs- und Gesellschaftsrecht keinen Anlass gesehen hat, der mit der Macrotron-Entscheidung des BGH eingeleiteten Rechtsentwicklung entgegenzutreten. Bei der Erweiterung des § 29 UmwG auf den Fall der Verschmelzung einer börsennotierten auf eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft im Jahr 2007 hat die Gesetzesbegründung der Bundesregierung die Argumentation dieser Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2002 inhaltlich aufgegriffen und ausgeführt, der Verlust der Börsennotierung erschwere nicht rechtlich, aber faktisch die Veräußerungsmöglichkeit der Anteile.278 7. Analoge Anwendung des Spruchverfahrens nicht zu beanstanden Ebenso wenig sei gegen die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Spruchverfahrensgesetzes durch die Fachgerichte verfassungsrechtlich etwas einzuwenden.279 Sei die Gesamtanalogie hinsichtlich des materiellen Rechts (also des Erfordernisses eines Pflichtangebots bei einem vollständigen Rückzug von der Börse) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so gelte das auch für die entsprechende Anwendung des hier dem materiellen Recht dienenden Prozess 277

BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 130. BVerfG, Beschluss v. 11.07.2012 – 1 BvR 3124/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 131: „BT-Dr 16/2919, S. 13, s. dort auch S. 23, 28.“ 279 BVerfG, Urteil v. 11. 7. 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, BVerfGE 132, 99, 131 f. 278

Kap. 6: Die Entscheidungen zum Delisting im Fall „Macrotron“ 

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rechts, um die Angemessenheit des angebotenen Kaufpreises einer Überprüfung zuführen zu können. Zudem besteht kein Anhalt dafür, dass der Gesetzgeber eine Überprüfung des Pflichtangebots beim freiwilligen Delisting im Rahmen eines Spruchverfahrens hätte ausschließen wollen.280 III. Folgen für die Verfassungsbeschwerden Die erste Verfassungsbeschwerde des Hauptaktionärs habe entsprechend diesen Grundsätzen keinen Erfolg, denn die Fachgerichte hätten das beantragte Spruchverfahren zur Überprüfung des unterbreiteten Aktien-Kaufangebots zu Recht für zulässig erachtet. Die Würdigung der Fachgerichte, bei dem Angebot der Beschwerdeführerin handele es sich um ein Pflichtangebot, das aus einer Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen herzuleiten sei (§§ 305, 320 b, 327 b AktG, §§ 29, 207 UmwG)281, sowie die daran geknüpfte entsprechende Anwendung von § 1 SpruchG wahrten die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Entscheidungsbefugnis (Art. 2 I. V.m. Art. 20 III GG). Auch die zweite Verfassungsbeschwerde habe keinen Erfolg, da nach den obigen Grundsätzen insbesondere das Eigentumsgrundrecht nicht verletzt sei. Das „Downgrading“ sei ohne ein im Spruchverfahren überprüfbares Pflichtangebot der Gesellschaft oder ihres Hauptaktionärs verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Fachgerichte hätten bei ihrer Rechtsauslegung die grundrechtliche Gewährleistung des Aktieneigentums nicht verfehlt. Sie seien zwar davon ausgegangen, dass eine durch die Börsenzulassung im regulierten Markt gesteigerte Verkehrsfähigkeit vom Schutz des Eigentumsgrundrechts erfasst werde. Sei der Schutzbereich des Art. 14 I GG durch den Widerruf der Börsenzulassung indessen gar nicht berührt, unterliegen die Entscheidungen der Fachgerichte im Ausgangsverfahren schon deshalb im Ergebnis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 14 GG.

280

BVerfG, Beschluss v. 25.01.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193, 131 f.: „Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich vielmehr, dass der Rechtsausschuss des Bundestags im Zusammenhang mit der Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens ausdrücklich darauf hingewiesen hat, die Auflistung zum Anwendungsbereich in § 1 SpruchG sei nicht abschließend und stehe der Anwendung auf andere Fälle, wie dem Delisting, nicht entgegen (BT-Dr 15/838, S. 16). Diese Position ist im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unwidersprochen geblieben. Auch aus der Ablehnung einer späteren Anregung des Bundesrats, das Delisting als Anwendungsfall für das Spruchverfahren ausdrücklich in das Gesetz aufzunehmen, ergibt sich kein gegenläufiger Hinweis. Die Bundesregierung hatte sich bei ihrer Entgegnung dazu lediglich auf die noch nicht abgeschlossene Diskussion berufen (vgl. BT-Dr 16/2919, S. 25, 28). Demgemäß entspricht es der herrschenden Meinung in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur, dass die Aufzählung der Anwendungsfälle des Spruchverfahrens in § 1 SpruchG nicht abschließend ist […]. Das ist nicht unvertretbar.“ 281 S. dazu die Vorinstanz KG Berlin, Beschluss v. 31.10.2007 – 2 W 14/06, BB 2008, 354.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

IV. Wegfall der Begründung unerheblich Überraschender Weise wertete das BVerfG den Wegfall des Kernarguments des BGH Art. 14 Abs. 1 GG beim Delisting einschlägig nicht als schwerwiegend:282 Diese Rechtsprechung suche einen Interessenausgleich, der unabhängig davon tragfähig sei, ob er einfachrechtlich oder verfassungsrechtlich fundiert sei. Ob eine richterliche Rechtsauslegung verfassungsrechtlich die Gesetzesbindung übersteigt und daher unzulässig sei, beurteile sich nicht nach den Motiven für sie, sondern allein danach, ob die Auslegung als solche die Grenzen verfassungsrechtlich statthafter Rechtsfortbildung wahre. Die Gesamtanalogie mit dem Ergebnis, bei einem freiwilligen Delisting ein gerichtlich überprüfbares Pflichtangebot zu verlangen – sei also von Verfassungs wegen zulässig, aber nicht geboten. Es bleibe der weiteren Rechtsprechung den Fachgerichten überlassen, auf der Grundlage der mittlerweile gegebenen Verhältnisse im Aktienhandel zu prüfen, ob die bisherige Spruchpraxis Bestand habe und zu beurteilen, wie der Wechsel vom regulierten Markt in den qualifizierten Freiverkehr in diesem Zusammenhang zu bewerten sei.

B. Folgen Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konnte die Recht­ sprechung des BGH zunächst weiter Geltung für sich beanspruchen. Zwar war das wesentliche Kernelement in Form von Art. 14 GG entfallen, aber das BVerfG ließ dem BGH ausdrücklich eine Tür offen, seine Rechtsfortbildung anderweitig zu stabilisieren. Nur eine passende Begründung müsse dafür gefunden werden. Die Literatur übte dagegen teilweise deutliche Kritik am Argumentationsstil des Verfassungsgerichts.283 Genau genommen ist auch die Feststellung, die Ausgangsgerichte hätten eine Gesamtanalogie zur Herleitung des Pflichtangebots angenommen, nicht richtig. Ausdrücklich findet sich eine Analogie nur bei einem Gericht.284 Vielmehr war gerade die Herleitung des Pflichtangebots seit Macrotron sehr strittig. Damit geht im Prinzip auch der Prüfungsgegenstand fehl, denn die Frage, ob man Einzelnormen aus Grundrechten (Art. 14 GG) herleitet, bleibt so hin-

282

Für die Frage, ob eine richterliche Rechtsfortbildung noch verfassungsgemäß sei, komme es nicht darauf an, ob sie auch auf Art. 14 Abs. 1 GG zurückgeführt werden könne. Allerdings wäre die Rechtsentwicklung zur Gesamtanalogie davon mitausgelöst, dass der BGH in seiner Macrotron-Entscheidung seinerzeit das Aktieneigentum (Art. 14 GG) berührt sah. Dies wirke sich aber auf die zu treffende Entscheidung im Ergebnis nicht aus. 283 Thomale, ZGR 2013, 686, 695. 284 KG Berlin, Beschluss v. 31.10.2007 – 2 W 14/06, BB 2008, 354; die Entscheidung LG Berlin, 17.01.2006 – 102 O 186/04 war leider nicht aufzufinden; nicht ausdrücklich dagegen die Vorinstanzen OLG München, Beschluss v. 21.5.2008 – 31 Wx 62/07, NZG 2008, 755 bzw. BGH, Beschluss v. 25.6.2008 – II ZB 39/07, NJW-RR 2008, 1355.

Kap. 7: Derogation durch die Frosta-Entscheidung des BGH

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ter der Analogie zu den angeführten einfach-gesetzlichen Normen (§§ 305, 320 b, 327 b AktG, §§ 29, 207 UmwG) verborgen. Der BGH hat solch eine Analogie jedenfalls nicht vertreten. 7. Kapitel

Die Derogation der Macrotron-Entscheidung durch die Frosta-Entscheidung des BGH § 15 Sachverhalt und Entscheidung A. Sachverhalt Bei der letzten großen Entscheidung zum Delisting ging es um das Downlisting der Frosta AG vom regulierten Markt der Berliner Wertpapierbörse in den Entry Standard des Freiverkehrs der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB).285 Der Vorstand hatte mit Zustimmung des Aufsichtsrats einen Wechsel vom regulierten Markt in den Freiverkehr beschlossenen. Weder wurde bei dieser Maßnahme der Geschäftsleitung um Zustimmung der Hauptversammlung gebeten, noch den Aktionären ein Angebot auf Barabfindung unterbreitet. Nachdem der Widerruf der Zulassung am regulierten Markt wirksam wurde, beantragten Aktionäre beim LG ein Spruchverfahren zur Festlegung einer angemessenen Barabfindung. Dieses wies die Anträge als unzulässig zurück. Die Beschwerden der Aktionäre sowie die dagegen gerichteten Rechtsbeschwerden hatten keinen Erfolg.

B. Entscheidung Der BGH entschied in der Folge der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung zum Delisting, dass es keines Spruchverfahrens zur Ermittlung einer Barabfindung bedarf. Bei einem Widerruf der Zulassung der Aktie zum Handel im regulierten Markt auf Veranlassung der Gesellschaft haben die Aktionäre keinen Anspruch auf eine Barabfindung. Es bedarf nach Ansicht der Richter weder eines Beschlusses der Hauptversammlung noch eines Pflichtangebots. Der BGH begründete seine Entscheidung damit, dass der Widerruf der Zulassung zum Handel im regulierten Markt auf Antrag der Gesellschaft nicht zu einer Beeinträchtigung des Aktieneigentums führt. Die Macrotron-Entscheidung des BGH ist daher obsolet, da ihr die rechtliche Grundlage durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entzogen wurde. Der Widerruf der Börsenzulassung nimmt dem Aktionär nach dem BGH keine Rechtspositionen, die ihm von der Rechtsordnung als privatnützig 285

BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

und für ihn verfügbar zugeordnet sind; er lässt die Substanz des Anteilseigentums in seinem mitgliedschaftsrechtlichen und seinem vermögensrechtlichen Element unbeeinträchtigt. Zu dem von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand zählt nur die rechtliche Verkehrsfähigkeit, während die tatsächliche Verkehrsfähigkeit eine schlichte Ertrags- und Handelschance ist. I. Kein Hauptversammlungsbeschluss notwendig Nochmals bekräftigt der BGH, dass beim Delisting die mitgliedschaftsrechtliche Stellung des Aktionärs durch den Rückzug von der Börse nicht wie bei einer Mediatisierung seine Mitwirkungsrechte betroffen sind. Insofern liegt der BGH noch mit seiner alten Rechtsprechung auf Kurs.286 Erst im weiteren Verlauf der Entscheidung betont der BGH ausdrücklich, dass es keines Beschlusses der Hauptversammlung mehr bedarf, weil das Delisting nicht unter die in § 119 Abs. 1 AktG genannten Fälle fällt.287 Der erste Teil kann daher auch so verstanden werden, dass unabhängig von der Gesetzeslage richterrechtliche Regelungen wie die Holzmüllerdoktrin oder die in der Macrotron-Entscheidung konstruierte Haupt­ versammlungszuständigkeit nicht zur Anwendung kommen sollen. II. Kein Barabfindungsangebot 1. § 207 UmwG analog Ebenso ist nach Ansicht des BGH ein Barabfindungsangebot nicht in entsprechender Anwendung von § 207 UmwG erforderlich. Teilweise werde zwar vertreten, dass wegen einer Ähnlichkeit des Verlusts der Börsennotierung mit einem Formwechsel die umwandlungsrechtlichen Vorschriften über den Formwechsel (§§ 190 ff. UmwG) entsprechend anwendbar seien,288 dagegen spreche jedoch schon, dass ein Formwechsel bei einer AG nicht immer zu einer Barabfindung führe. Nach § 250 UmwG ist § 207 UmwG auf den Formwechsel einer AG in eine KGaA oder den umgekehrten Fall nicht anwendbar. Der BGH vertiefte seine Argumentation noch: Die Unterschiede zwischen einer börsennotierten und einer nicht börsen­ notierten AG kommen einem Formwechsel auch nicht gleich, weil die Vorschriften, die eine Börsennotierung voraussetzen, weder die Organisationsstruktur noch die Beteiligungsstruktur der Gesellschaft entscheidend verändern. Zwar knüpften zahlreiche Vorschriften des Aktienrechts an die Zulassung der Aktie zum Handel 286 BGH, Urteil v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, NZG 2003, 280, 282. In der Literatur wird bereits diese Passage so verstanden, dass es nun keines Hauptversammlungsbeschlusses mehr bedarf. Ausdrücklich: K. Schmidt, JUS 2014, 174, 175. 287 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 288 So etwa bereits (ablehnend) de Vries, Delisting, 2002, 119 f.

Kap. 7: Derogation durch die Frosta-Entscheidung des BGH

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im regulierten Markt an,289 jedoch die Börsenzulassung noch ihr Widerruf erfordern nach diesen aktienrechtlichen Vorschriften in jedem Fall eine Satzungsänderung. Die grundlegende Organisationsstruktur der Aktiengesellschaft oder die Beteiligungsrechte sind von den genannten Vorschriften nicht betroffen.290 Die Zulassung zum Handel im regulierten Markt kann schließlich auch ohne Antrag der Gesellschaft, etwa wegen eines geringen Handelsumsatzes, widerrufen werden (§ 39 Abs. 1 BörsenG). Wenn der Widerruf der Zulassung einem Formwechsel gleichkommen soll, müsste auch für diesen Fall ein Formwechsel angenommen werden. Regelungen für einen zwangsweisen Formwechsel enthalten die §§ 190 ff. UmwG jedoch nicht. 2. § 243 Abs. 2 S. 2 AktG Das Erfordernis eines Pflichtangebots folge auch nicht aus § 243 Abs. 2 S. 2 AktG.291 Teilweise werde vertreten, dass der Vorstand einen Beschluss der Hauptversammlung herbeiführen müsse, weil er nicht selbst über die rechtlichen Bedingungen entscheiden dürfe, unter denen er für die Gesellschaft unternehmerische Entscheidungen treffe und bei Vorhandensein eines Großaktionärs dieser einen ihm durch das Delisting bzw. Downlisting entstehenden Sondervorteil durch ein Abfindungsangebot nach § 243 Abs. 2 S. 2 AktG ausgleichen müsse.292 Dagegen spreche schon, dass aktienrechtlich eine Beteiligung der Hauptversammlung nicht vorgeschrieben sei (§ 119 Abs. 1 AktG). Sie könne auch nicht daraus hergeleitet werden, dass der Vorstand nicht über die Regeln für seine eigene Vergütung (§ 87 Abs. 1 S. 2 AktG) mitbestimmen, Berichtspflichten abschaffen (§ 176 Abs. 1 AktG), die Verjährung seiner Haftung bei Pflichtverletzungen verkürzen (§ 93 Abs. 6 AktG), seine Strafbarkeit verringern (§ 404 Abs. 1 AktG) oder über das Stimmrecht von Aktionären entscheiden (§ 328 Abs. 3 AktG) könne. Dass eine Geschäftsführungsmaßnahme auch günstige Auswirkungen auf den Vorstand habe, nehme ihm nicht die Geschäftsführungsbefugnis.293 Wenn der Vorstand Geschäftsführungsmaßnahmen nicht allein verantworten solle, sei in erster Linie der Aufsichtsrat und nicht die Hauptversammlung zur Mitwirkung berufen (§ 111 Abs. 1 und Abs. 4 AktG). Abgesehen davon passe die Regelung in § 243 Abs. 2 S. 2 AktG auf das Delisting nicht. Der Börsenrückzug sei nicht immer ein Sondervorteil, den ein Großaktionär suchen würde. In § 243 Abs. 2 S. 2 AktG sei ein angemessener Ausgleich und keine Abfindung für die anderen Aktionäre vorgesehen, und das Fehlen eines angemessenen Ausgleichs führe nicht zu einem Spruchverfahren, sondern zur Nichtigerklärung des Beschlusses (§ 243 Abs. 1 AktG und Abs. 2 S. 1 AktG). 289 S. zu den einzelne Vorschriften BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 147. 290 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 147. 291 So noch LG Hanau, Urteil v. 2.5.2002 5 O 63/01, AG 2003, 534. 292 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 147. 293 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 147.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

3. § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG Auf den Rückzug von der Börse ist nach Meinung der Richter auch nicht § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG entsprechend anzuwenden.294 Allerdings sei die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die formwahrende Verschmelzung grundsätzlich abfindungsfrei sei. Wenn dennoch bei der Verschmelzung einer börsennotierten auf eine nicht börsennotierte Gesellschaft ein Abfindungsangebot zu machen sei, beruht dies auf dem Wechsel aus dem regulierten Markt.295 Daraus kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber mit § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG einen allgemeinen Grundsatz anerkennen wolle, dass der Wechsel aus dem regulierten Markt in jedem Fall zu einer Abfindung führe. Die Anerkenntnis eines solchen allgemeinen Grundsatzes stehe entgegen, dass für andere Fälle des „kalten“ Delistings, in denen Maßnahmen auf indirektem Weg zur Beendigung der Zulassung führen könnten wie bei der Eingliederung in eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft keine Barabfindung vorgesehen sei (§ 320 b Abs. 1 S. 2 AktG). Die Gesetzesbegründung verweise auch nicht auf einen allgemeinen Grundsatz, sondern sehe nur in der faktischen Erschwernis der Veräußerbarkeit der Aktien einen Grund zur Gleichbehandlung mit der Verschmelzung auf einen nicht börsenfähigen Rechtsträger.296 Bis zur Einfügung von § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG wären die Aktionäre vor einer Beeinträchtigung durch das kalte Delisting bei der Verschmelzung einer börsennotierten AG auf eine nichtbörsennotierte AG nicht geschützt. Für das reguläre Delisting enthalte dagegen bereits § 39 Abs. 2 BörsenG eine Regelung, wonach der Widerruf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen dürfe. Dass nur der spezielle Fall des sogenannten „kalten“ Delistings bei der Verschmelzung einer börsennotierten AG auf eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft geregelt werden sollte und § 29 Abs. 1 1 Halbs. 1 Fall 2 UmwG nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sei, nach dem der Rückzug von der Börse mit einem Barabfindungsangebot einhergehen müsse, folge auch aus der Gesetzgebungsgeschichte des zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes.297 Der Bundesrat habe unter Berufung auf die Macrotron-Entscheidung darum gebeten, die Aufzählung der dem Spruchverfahrensgesetz unterliegenden Verfahren in § 1 SpruchG um das Delisting zu erweitern. Die Bundesregierung habe dies in ihrer Gegenäußerung abgelehnt, weil die Diskussion in Wissenschaft und Praxis über die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Delistings andauere und der Gesetzgeber keine vorschnelle Antwort geben solle.298

294

BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146 f. BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 296 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 297 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 298 Zu den Nachweisen BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 295

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4. Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen Eine Pflicht zu einem Barabfindungsangebot besteht dem BGH nach auch nicht auf Grund einer nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zulässigen Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen (§§ 305, 320 b, 327 b AktG, §§ 29, 207 UmwG).299 Da keine Gesamtanalogie zu diesen Vorschriften zu bilden sei und der Rückzug von der Börse auch nicht unter die in § 119 Abs. 1 AktG genannten Aufzählungen falle, bestehe auch keine aktienrechtliche Pflicht, einen Hauptversammlungsbeschluss herbeizuführen.300 a) Widerruf der Börsenzulassung keine Strukturmaßnahme Der Widerruf der Börsenzulassung ist nach dem BGH keine Strukturmaßnahme und ähnle ihr auch nicht. Die Binnenstruktur der Gesellschaft erfahre dadurch, dass sie sich aus dem regulierten Markt der Börse zurückzieht, keine Veränderung. Die aktienrechtlichen Vorschriften, die auf die Börsennotierung abstellten, dienten nur mittelbar den Vermögens- und Mitgliedsinteressen des einzelnen Aktionärs. Sie berührten die Interessen des Aktionärs – wie etwa die Besonderheiten bei der Vorstandsvergütung oder der Vorstandshaftung – kaum oder führten – wie etwa die Veränderung der Informationspflichten im Zusammenhang mit der Einberufung der Hauptversammlung – nicht zu einer Veränderung der Rahmenbedingungen der Beteiligung in einem Ausmaß, die einer Strukturänderung gleichkomme und eines entsprechenden Schutzmechanismus bedürfe. b) Auswirkungen des Rückzugs rechtfertigten keine analoge Anwendung Auch die bedeutenderen Auswirkungen des Rückzugs aus dem regulierten Markt im Kapitalmarktrecht auf die Interessen der Anleger rechtfertigten den Richtern nach eine analoge Anwendung der Vorschriften über Strukturmaßnahmen nicht.301 Die Meldepflichten für einen Beteiligungserwerb seien nach § 21 Abs. 1 S.1 WpHG bei börsennotierten Gesellschaften differenzierter als in § 20 Abs. 1 und Abs. 4 AktG; ein Kontrollwechsel könne grundsätzlich auch bei nicht börsennotierten Gesellschaften nicht unbemerkt stattfinden. Ein wesentlicher Unterschied liege darin, dass bei einer nicht börsennotierten Gesellschaft kein Pflichtangebot nach § 35 Abs. 2 S.1 WpÜG gemacht werden müsse.302 Allerdings würden auch die Aktio 299

BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 301 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 302 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 300

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näre einer börsennotierten Gesellschaft keinen vollständigen Schutz durch ein Barabfindungsangebot nach dem Kontrollerwerb genießen. Die einzelnen Aktionäre hätten keinen Anspruch auf eine Gegenleistung, wenn entgegen § 35 Abs. 2 WpÜG kein Pflichtangebot veröffentlicht werde. Vielmehr sei eine Kontrolle öffentlich-rechtlich durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht organisiert. Die Verbote bei Insidergeschäften (§ 14 WpHG) und das Marktmanipulationsverbot (§ 20 a WpHG) gelten auch für nicht börsennotierte Gesellschaften, solange sie in den Freiverkehr einbezogen sind (§ 12 S. 1 Nr. 1 WpHG). Lediglich die Ad-hoc-Publizitätspflicht gem. § 15 Abs. 7 WpHG betrifft nur Gesellschaften, deren Aktien zum Handel im regulierten Markt zugelassen seien oder die einen Antrag auf Zulassung gestellt hätten (§ 15 Abs. 1 S. 2 WpHG).303 Der Verlust solcher Informationspflichten rechtfertige keine gesellschaftsrechtlichen, sondern allenfalls kapitalmarktrechtliche Maßnahmen. c) § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG ausreichend Der Schutz der Anleger wird nach Ansicht des BGH in § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG304 geregelt. Dass dieser Schutz vor den tatsächlichen Beeinträchtigungen der Verkehrsfähigkeit durch den vollständigen Rückzug von der Börse oder den Wechsel in andere Börsensegmente durch das Börsengesetz unzureichend und darüber hinaus gesellschaftsrechtlich ein Barabfindungsangebot erforderlich sei, lasse sich entgegen der früheren Annahme des Senats, die allerdings den grundrechtlichen Schutz des Aktieneigentums im Blick gehabt hätte, nicht feststellen.305 § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG verlangt, dass der Widerruf der Zulassung zum Handel im regulierten Markt nicht dem Schutz der Anleger widersprechen darf. Soweit die Börsenordnungen vorsehen, dass nach der Bekanntgabe der Widerrufsentscheidung den Anlegern ausreichend Zeit verbleiben muss, die vom Widerruf betroffenen Wertpapiere im regulierten Markt zu veräußern und dazu die Wirksamkeit des Widerrufs bis zu sechs Monate hinausschieben, wenn den Aktionären nicht gleichzeitig ein Kaufangebot unterbreitet wird (z. B. § 40 II der Börsenordnung für die Frankfurter Wertpapierbörse), bleibt der Schutz der Anleger hinter dem Schutz durch ein Barabfindungsangebot nicht zurück. Der Aktionär kann sich damit selbst für eine 303

BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. Der alte § 38 Abs. 4 BörsG galt vom 01.07.2002 bis 31.10.2007. Hierfür wurde der § 39 BörsG neue formuliert. Der § 38 Abs. 4 BörsG lautete: „Die Zulassungsstelle kann die Zulassung zum amtlichen Markt auf Antrag des Emittenten widerrufen. Der Widerruf darf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen. […] Nähere Bestimmungen über den Widerruf sind in der Börsenordnung zu treffen.“ Der neue § 39 Abs. 2 BörsG lautet: „Die Geschäftsführung kann die Zulassung im Sinne des Absatzes 1 [Anm.: Handel im regulierten Markt] auch auf Antrag des Emittenten widerrufen. Der Widerruf darf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen.“ Und im § 39 Abs. 5 BörsG heißt es weiter: „Nähere Bestimmungen über den Widerruf sind in der Börsenordnung zu treffen.“ Insofern gibt es kein Besonderheiten. 305 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 304

Kap. 7: Derogation durch die Frosta-Entscheidung des BGH

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Deinvestition entscheiden, wenn er Vermögensnachteile aus dem Börsenrückzug und der Veränderung der Rahmenbedingungen für seine Investition befürchtet. Dass schon die Ankündigung des Börsenrückzugs regelmäßig zu einem Kursverlust führt, lässt sich nicht feststellen.306 Wenn der Anleger sich unter diesen Voraussetzungen selbst für eine Deinvestition zum aktuellen Börsenkurs entscheidet, steht er im wirtschaftlichen Ergebnis nicht anders als bei einem Barabfindungsangebot. Auch bei einem Barabfindungsangebot muss sich der Anleger zeitnah entscheiden, ob er es annimmt. Er könne nicht die weitere Kursentwicklung abwarten und dürfe nicht zu Lasten der Gesellschaft oder ihres Großaktionärs spekulieren. Auch wenn die Geschäftsführungen der Börse die sofortige Wirksamkeit des Widerrufs ohne ein Kaufangebot an die Anleger zulasse wie die Berliner Börse im Fall des Wechsels in den Freiverkehr der Frankfurter Börse müsse dies nicht notwendig dem in § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG verlangten Schutz der Anleger widersprechen. Die plötzliche Veränderung der Grundlagen der Beteiligung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Eigentumsbeeinträchtigung. Eine Beeinträchtigung der Liquidität der Beteiligung und des Veräußerungswerts müsse mit dem Wechsel, etwa vom regulierten Markt einer kleinen Börse in ein gesuchtes Segment des Freiverkehrs einer großen Börse, nicht zwangsläufig verbunden sein. Es lasse sich nicht feststellen, dass der Kurswert der Aktie infolge des Wechsels in den (qualifizierten) Freiverkehr grundsätzlich sinke.307 Das wäre auch im Fall des Downlistings der Aktien der Antragsgegnerin nicht anders. Soweit die Rechtsbeschwerdeführer einen Kursverlust von 10 % zwischen Veröffentlichung des Widerrufs und Beschwerdeeinlegung beklagt haben, hätte dem die Antragsgegnerin unwidersprochen entgegengehalten, dass der Kursverlust der allgemeinen Kursentwicklung entsprochen habe. Wenn die Anleger in der Verwaltungspraxis nicht ausreichend geschützt würden, sei einer unzutreffenden Anwendung von § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG mit den verwaltungsrechtlichen, auch aufsichtsrechtlichen Mitteln zu begegnen. § 39 Abs. 2 S. 2 BörsenG bietet, wie der 8. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden betont habe, ausreichende Ansatzpunkte für einen angemessenen, mit Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Zulassung durchsetzbaren Schutz der betroffenen Aktionäre. Hierdurch könne ein effektiver Rechtsschutz auch unabhängig von einer Erstreckung der grundrechtlichen Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG auf die durch eine Börseneinführung gesteigerte Verkehrsfähigkeit der Aktien gewährleistet werden. Soweit der Gesetzgeber im Kapitalmarktrecht den Anlegerschutz allein öffentlich-rechtlich ausgestaltet habe, sei eine Ergänzung durch einen zivilrechtlichen Anspruch der Anleger nicht schon deshalb veranlasst, weil ein individuell durchsetzbarer Anspruch für sinnvoll oder effektiver gehalten werde. 306

BGH, Beschluss v. 08.10.2013  – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 149, mit Verweis auf: „Heldt / Roye, AG 2012, 667 f.“ 307 BGH, Beschluss v. 08.10.2013  – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 149, mit Verweis auf: „Heldt / Roye, AG 2012, 667 f.“

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§ 16 Bewertung A. Sonderfall Rechtsrückbildung Auf eine Derogation von Richterrecht wie im Fall der Frosta-Entscheidung lassen sich die Kriterien zur Bewertung einer Entscheidung nicht vollständig übertragen. Es bedarf einer Modifizierung, weil man eigentlich die Rechtsfortbildung auf ihr Misslingen untersuchen muss, um zu sagen, ob eine Rechtsrückbildung308 gelungen ist. Dabei spielen folgende Gedanken eine besondere Rolle: Kommt man zum Ergebnis, dass eine Rechtsfortbildung nicht gelungen ist und sich auch nicht durch einen Austausch der Argumente stabilisieren lässt, so ist es besser, die Fortbildung nach sorgfältiger Abwägung insb. im Punkt der Rechtssicherheit (s. oben bei der Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse an der Rechtslage) aufzugeben und eine Rechtsrückbildung zu betreiben. Der Weg ist dann also vorgezeichnet. I. Keine gelungene (ursprüng­liche) Fortbildung309

Anwendung der Kriterien bis auf den letzten Punkt (s. o.). D. h.: –– Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre –– Klar formulierte und bestimmte Regel –– Ableitbarkeit der Regel aus dem Gesetz –– Fallnähe der Regelung –– Bruchloses Einfügen in die Rechtsordnung –– Bestlösungsforderung –– Dynamische Entwicklung der Rechtslage kann eine erneute Überprüfung im Zeitpunkt der Rechtsrück­ bildung notwendig machen.

II. Abänderung nicht möglich

Austausch der Konstruktion / Argumente der Fortbildung (Anpassung / Teilderogation)

III. Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtspre­ chung und dem Änderungs­ interesse an der Rechtslage

Erheblichkeit des Missstandes, der durch die Fortbildung entstanden ist

IV. Folge

Vollständige Derogation

308

S. dazu Westermann, in: Lieb / Noack / Westermann, Festschrift für Wolfgang Zöllner, 1998 S. 607 ff. 309 Ob stets eine misslungene Fortbildung Voraussetzung für eine gelungene Rechtsrückbildung sein muss, erscheint zweifelhaft. Es stellt sich nur die Frage, ob bei einer weniger gelungenen oder gar einer gelungen Fortbildung? die Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse an der Rechtslage zugunsten der neuen Kons­truktion ausfällt.

Kap. 7: Derogation durch die Frosta-Entscheidung des BGH

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B. Keine gelungene (ursprüngliche)Fortbildung Wie oben bereits festgestellt, handelt es sich nicht um eine gelungene Fortbildung.

C. Abänderung nicht möglich Fraglich ist, ob sich die ursprünglich Entscheidung des BGH durch einen Austausch der Rechtsgrundlage und Argumentation zumindest im Ergebnis halten lassen würde.310 Im Falle des Delistings besteht eine Besonderheit, weil sich die Rechtslage seit der Macrotron-Entscheidung dynamisch fortentwickelt hat. So wurde im Jahre 2007 im UmwG311 der neue § 29 Abs. 1 S. 1 2. Fall eingefügt. Danach ist bei der Verschmelzung einer börsennotierten Aktiengesellschaft auf eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft der übernehmende Rechtsträger verpflichtet, im Verschmelzungsvertrag oder in seinem Entwurf jedem Anteilsinhaber, der gegen den Verschmelzungsbeschluss des übertragenden Rechtsträgers Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat, den Erwerb seiner Anteile oder Mitgliedschaften gegen eine angemessene Barabfindung anzubieten. Auffallend ist, dass das Angebot vom Rechtsträger zu erfolgen hat. Es gelten also auch hier wieder die Grenzen der §§ 71 ff. AktG für den Erwerb eigener Aktien. Zumindest wäre eine Analogie für das reguläre Delisting denkbar, die die ursprüngliche Regel des BGH in derart abwandelt, dass das Angebot dann eben nur von der AG und nicht von Dritten (Großaktionär) kommen darf.312 Entscheidend ist wiederum, dass eine Analogie möglich ist. Auf den ersten Blick ergibt es durchaus Sinn, über solch einen Schritt nachzudenken: Denn es ist nicht einsichtig, warum der Gesetzgeber das kalte Delisting regeln sollte und darin ein Abfindungsangebot statuiert, sich aber quasi entgegen jeder Vernunft gegen eine unterschiedliche Behandlung beim regulären Delisting entscheiden sollte. Vielmehr könnte man davon ausgehen, dass er in den Jahren 2006–2007, also in der Zeit, in der die maßgeblichen Schritte zur Änderung des UmwG geschahen, von der Fortgeltung des Macrotron-Entscheidung ausgegangen ist.313 Eine Regelung, etwa im Aktien- oder Börsengesetz für das reguläre Delisting, wurde schlicht als nicht notwendig angesehen. Indirekt läge in einem konsequenten Weiterdenken auch eine Bestätigung und gleichzeitig auch Legitimierung der Rechtsprechung zum Delisting vor. Denn der Gesetzgeber 310 Treffend Bayer, NZG 2015, 1169, 215: „Insofern wäre es für den II. Zivilsenat in der Tat ‚ein Leichtes gewesen‘, die Macrotron-Grundsätze auf eine Analogie zu § 29 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 Alt. 2 UmwG umzusatteln.“ 311 Zweites Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes v. 19. 4. 2007, BGBl I, 542. Das Gesetz wurde im Bundesgesetzesblatt am 24.05.2007 veröffentlicht und trat nach Artikel 6 am 25.04.2007 in Kraft. 312 Als unschädlich sieht das etwa Klöhn, NZG 2012, 1041, 1045 an. 313 So Klöhn, NZG 2012, 1041, 1045; Habersack, ZHR 176 (2012), 463, 465; Bayer, NZG 2015, 1169, 214 ff.; Kubis, in: Goette / Habersack / Kalss, Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2018, § 119 Rn. 92.

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

hätte nun die Regeln für das reguläre Delisting derogieren können, sofern er mit ihrer Geltung nicht einverstanden gewesen wäre. Weil er das nicht tat, sondern sogar eine vergleichbare Regelung für das kalte Delisting kodifizierte, könnte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr davon auszugehen sein, dass es keine Grundlage für die Macrotron-Rechtsprechung gab. Die Gesetzesmaterialien geben freilich wenig Aufschluss über den Willen des Gesetzgebers: „Bei der Verschmelzung einer börsennotierten AG auf einen nichtbörsenfähigen Rechtsträger anderer Rechtsform haben die widersprechenden Aktionäre dieser Gesellschaft das Recht, gegen Barabfindung auszuscheiden. Gleichgestellt werden soll der Fall der Verschmelzung auf eine nicht börsennotierte AG. Der Verlust der Börsennotierung erschwert zwar nicht rechtlich, aber faktisch die Veräußerungsmöglichkeit der Anteile, so dass die Anwendbarkeit des § 29 sachlich gerechtfertigt erscheint […].“314 Dagegen wendet sich ausdrücklich der 2. Senat des BGH und ein Teil der Literatur.315 Wie oben beschrieben, argumentiert der BGH damit, dass der Norm kein allgemeiner Grundsatz entnommen werden kann, dass eine Abfindung auch beim regulären Delisting möglich sein muss, weil bei anderen Fällen des kalten Delistings es an einer solchen Anerkennung durch den Gesetzgeber fehle (§ 320 b Abs. 1 S. 2 AktG) und die Gesetzesmaterialien eine solche Lesart auch nicht hergeben würden.316 Außerdem gäbe es im Gegensatz zur Rechtslage vor 2007 bei einem solchen Fall des kalten Delistings in Form der Verschmelzung gar keinen Schutz. Ein Solcher sei bereits damals schon in § 39 Abs. 2 BörsG (bzw. § 43 BörsG a. F.) für das reguläre Delisting vorgesehen. Es gebe daher keinen allgemeinen Gedanken in derart, dass man beide Arten des Delistings gleich behandeln müsse, weil sich der Gesetzgeber bereits für eine Schutzvorschrift der Aktionäre beim regulären Delisting entschieden habe. Auch die Gesetzgebungsgeschichte spreche für eine Norm, die nicht analogiefähig sei: Der Bundesrat habe im Jahr 2006 unter Berufung auf die Macrotron-Entscheidung darum gebeten, die Aufzählung der dem Spruchverfahrensgesetz unterliegenden Verfahren (s. § 1 SpruchG) um das Delisting zu erweitern. Es ging also um eine Kodifikation des Richterrechts, weil die Rechtslage im Gesetz nicht mehr zutreffend abgebildet wurde. Die Bundesregierung hätte dies in ihrer Gegenäußerung abgelehnt, weil die Diskussion in Wissenschaft und Praxis über die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Delistings andauere und der Gesetzgeber keine vorschnelle Antwort geben solle.317 Daraus schließt der BGH nun scheinbar, dass der Gesetzgeber erst einmal abwarten wollte und gerade einen allgemeinen Rechtsgedanken habe verhindern wollen. Im Gegensatz dazu wird in der Literatur angemerkt, dass vom Gesetzgeber durchaus im Gesetzgebungs­ verfahren zum Spruchverfahrensgesetz im Jahre 2003 eine analoge Anwendung des SpruchG auf ungeregelte Fälle  – ausdrücklich auch das Delisting  – bejaht

314

BT-Drs v. 12.10.2006 16/2919, S. 13. Kocher / Widder, NJW 2014, 127, 128; a. A. ausdrücklich Bayer, NZG 2015, 1169, 214 ff. 316 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 317 BGH, Beschluss v. 08.10.2013 – II ZB 26/12, NJW 2014, 146, 148. 315

Kap. 7: Derogation durch die Frosta-Entscheidung des BGH

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wurde.318 Es ging bei der Zurückhaltung des Gesetzgebers – der ja schon damals das Delisting im Spruchverfahren hätte einfügen können – eher darum, erst einmal abzuwarten, was mit dem Delisting weiter passiere.319 Es leuchtet in der Tat nicht ein, weshalb der Gesetzgeber eine Norm für das kalte Delisting erlässt, aber dann im Sinne der Argumentation des BGH damit einverstanden sein soll, dass man die Regeln für das reguläre Delisting durch eine richterliche Derogation abschafft. Denn damit wäre eine sachliche Ungleichbehandlung verbunden. Es wäre dann gerade im Sinne des Gesetzgebers gewesen, die Regelung des § 29 Abs. 1 S. 1 2. Fall UmwG auch auf das reguläre Delisting zu erstrecken. Insofern läge dann auch eine planwidrige Regelungslücke vor, die aber eben durch ein theoretisches Fortgelten der Macrotronentscheidung geschlossen würde. Im Moment der Aufhebung der Macrotrongrundsätze würde diese quasi „wiederaufleben“ und könnte durch eine neue richterliche Rechtsfortbildung geschlossen werden. Dass der Gesetzgeber § 43 Abs. 4 BörsG a. F. bzw. § 39 Abs. 2 BörsG dann zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung immer noch als abschließende Regelung begreift, muss dann wegen der (scheinbaren) Anerkennung der Macrotron-Rechtsprechung verneint werden. Aufgrund der Einführung der neuen Norm im UmwG wäre nun auch die Interessenlage – wie bereits angedeutet – vergleichbar. Denn ob ein Delisting nun im Wege der Verschmelzung oder auf Antrag erfolgt, macht in der Sache keinen Unterschied.320 Die Schutzbedürftigkeit der Aktionäre und die generelle Interessenlage bleiben gleich. Die faktische Veräußerbarkeit der Aktien sind in beiden Fällen minimiert. Ob dem Gesetzgeber eine solche „logische Absicht“ unterstellt werden kann, ist fraglich. Man könnte eine solche auch als reine Fiktion bezeichnen. Es zeigt sich, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, den Willen des Gesetzgebers zu ergründen. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass beide Wege vertretbar sind und der BGH sich nicht zwingend für den Weg der Derogation hätte entscheiden müssen, zumal seine Argumentation, es komme mit Ankündigung des Delistings nicht zu einem Kurseinbruch, nicht überzeugend ist.321 So hätte man auch den zu Beginn dieser Arbeit angesprochenen Schwebezustand vermeiden können, der den Schutz der Kleinaktionäre eingeschränkt hat. Im Sinne der Rechtsstaatlichkeit ist der vom BGH beschrittene Weg der deutlich sichere. Im Sinne der Befürwortung einer richterlichen Zurückhaltung und dem Wunsch nach einer (rechtssicheren) Kodifikation richterlicher Rechtsfortbildungen soll ihm daher gefolgt werden.

318

Bayer, NZG 2015, 1169, 216. Bayer, NZG 2015, 1169, 217. 320 So auch sinngemäß Bayer, NZG 2015, 1169, 217, der auch eine Gleichbehandlung einfordert. 321 S. bereits oben. 319

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Teil 3: Die Bewertung der BGH-Rechtsprechung zum Delisting 

D. Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse Folgt man der obigen Argumentation, so besteht bei der Macrotron-Recht­ sprechung ein Missstand in der Form, dass es weder für den Hauptversammlungsbeschluss noch dem Pflichtangebot eine Rechtsgrundlage gibt. Die Kontinuität der Rechtsprechung muss in einem solchen Fall hinter dem Rechtsstaatsprinzip (Gesetzesbindung, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit) zurücktreten.

E. Ergebnis Die Rechtsrückbildung des BGH ist damit rechtlich gelungen.322 Es gab keinen anderen Weg, die Macrotron-Entscheidung zu retten. Die vom BGH vorgenom­ mene Rechtsrückbildung führte quasi zu einem Vakuum im Bereich des Delistings. Viele Unternehmen nutzten diese Schutzlücke, wie zu Beginn dieser Arbeit beschrieben, aus.323 Das Einschreiten des Gesetzgebers mit dem Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie vom 20. November 2015324 beendete diesen Zustand.325 Der Gesetzgeber entschied sich mit dem reformierten § 39 BörsG für eine kapitalmarktrechtliche Lösung.326 Nach hier vertretener Lösung hat der BGH durch die Aufgabe seiner Macrotron-Rechtsprechung erst die Motivation für den Gesetzgeber geschaffen, eine eigene Regelung zu schaffen. Es ist zweifelhaft, ob der Gesetzgeber diesen Weg beschritten hätte, wenn der BGH eine Konstruktion über eine Analogie gewählt hätte. Immerhin existiert damit nun eine Kodifizierung und weitere Referenztexte (insb. die Gesetzgebungsbegründung) zur Auslegung. Auch die Effizienz wird der neuen Regel bescheinigt.327

322

Kritisch Spindler, in: Schmidt / Lutter, Aktiengesetz, 3. Aufl. 2015, § 119 Rn. 59 f. S. ausdrücklich auch BT-Drs. 18/6220 v. 30.09.2015, 83: „Im Nachgang zu der ‚Frosta‘-­ Entscheidung ist die Zahl der Emittenten, die einen Widerruf der Zulassung ihrer Aktien zum Handel im regulierten Markt beantragt und den Rückzug vollzogen haben, stark angestiegen.“ 324 S. dazu BGBl I, 2029, 2039 f. 325 S. dazu Bayer, NZG 2015, 1169, 1169 ff.; Koch / Harnos, NZG 2015, 729; Harnos, ZHR 2015, 750; Gegler, BRK 2016, 273; Zimmer / Imhoff, NZG 2015, 1056; Groß, in: Groß, Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2016 § 39 BörsG Rn. 25a. 326 Ausdrücklich hat man sich gegen eine gesellschaftsrechtliche Lösung entschieden, BT-Drs. 18/6220 v. 30.09.2015, 84. 327 Morell, ZBB 2016, 68. 323

8. Kapitel

Zusammenfassung 1. Es gibt keine von Kritik freie Rechtsanwendungs-1 bzw. Rechtskonkretisierungstheorie.2 Kernfrage ist, ob sich die Bedeutung einer Zeichenkette rechts­ sicher ermitteln lässt oder durch den Rechtsanwender erst geschaffen wird. Hierzu besteht in der Literatur erheblicher Streit. Eine sprachwissenschaftliche noch besser fundierte Rechtswissenschaft muss hierzu in der Zukunft einen Beitrag leisten, da die Frage von grundlegender Bedeutung für den Rechtsstaat ist. 2. Überzeugend erscheint es, dass die Bedeutung einer Zeichenkette erst durch den Anwender geschaffen wird. Ziel dieser Konkretisierung einer Zeichenkette ist die Festlegung des historischen Gesetzessinns. Die „Auslegungsmethoden“ und weitere Hilfsmittel dienen im Kampf um die Bedeutung als Argumentations­ substrat. Der Richter darf sich über diesen Willen im Grundsatz nicht hinwegsetzen. Lässt sich der historische Normzweck nicht sicher festlegen, dann darf der Richter nach einer Abwägung entscheiden, ob er eine Rechtsfortbildung vornehmen will. Dabei gelten unterschiedliche Kriterien. 3. Die Trennbarkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung wird von einem Teil der Literatur kontrovers diskutiert und mit sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen angereichert. Sofern man der Überlegung zur Unbestimmtheit von Sprache beipflichtet, ist die Wortlautgrenze nur bedingt zu Abgrenzung leistungsfähig. Die herrschende Meinung hält dennoch an ihr fest. Es handelt sich dann um eine juristische Grenze, deren sinnvolle und rechtsstaatliche Ausübung den Richtern anvertraut ist und die durch die kritische Literatur bzw. durch den Instanzenzug überprüft werden muss. Nach einer anderen zutreffenden Ansicht bildet der Wille des Gesetzgebers die Grenze der Auslegung. Durch sie ergeben sich neben dem Wortlaut noch weitere Argumentationsmöglichkeiten, die Rechtssicherheit schaffen. Das BVerfG vertritt wohl eine Vereinigungstheorie zwischen Wortlautgrenze und Willen des Gesetzgebers. 4. Die als „subjektive Theorie“ bezeichnete Rechtsanwendungsmethode hat in der Literatur vermehrt Zuspruch erfahren. Auch das BVerfG wird – sofern es mit seinen aufgestellten Grundsätzen Ernst macht – von den Instanzgerichten die Beachtung des Willens des Gesetzgebers stärker einfordern. Damit wäre eine „freie, richterliche Rechtsfortbildung“ auch im Gesellschaftsrecht passé. Jedoch ist auch 1 Hier gemeint als klassische (objektive) Theorie (insb. Larenz) und den neueren subjektiven Strömungen (insb. Rüthers). 2 Hier gemeint als Strukturierende Rechtslehre.

286

Kap. 8: Zusammenfassung

diese Theorie durch Unsicherheiten belastet, weil der Wille des Gesetzgebers nicht immer sicher zu ermitteln ist und eine frühere gesetzgeberische Entscheidung mit der Zeit an Überzeugungskraft verlieren kann. 5. Auch bei der Auslegung von Entscheidungen schlägt das sprachwissenschaftliche Problem der Bedeutungsermittlung (bzw. -festsetzung) zu. Zudem müssen hier die Auslegungsmethoden an die Eigenheiten der Rechtsprechung angepasst werden. Der genauen Ermittlung der Sachverhaltsdaten, der Berücksichtigung vom Entscheidungsketten und getroffenen Wertungen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. 6. Der Richter ist gegenüber dem Gesetzgeber bei der Rechtsfortbildung im klaren Nachteil. Er ist sowohl ressourcenmäßig als auch aufgrund der Bindung an Gesetz und Recht strukturell unterlegen. Er ist zudem auf der Instanzgerichtsebene zwischen Einzel- und Grundsatzentscheidung gefangen. Das Spannungsfeld wird durch den Umstand verschärft, dass die Bedeutung von Richterrecht in unserer Rechtsordnung aufgrund einer faktischen Bindungswirkung enorm ist. 7. Ob eine Rechtsprechung als gelungen bezeichnet werden kann, hängt sowohl von zwingenden als auch von fakultativen Faktoren ab. Es lässt sich ein Modell entwickeln, um in bestimmten Fällen eine deutliche Vorhersage über die rechtliche Gelungenheit zu treffen. In anderen Fällen wird sich zumindest eine grobe Richtung vorzeichnen lassen. Der Richter kann in der Gesamtschau einiges unternehmen, um zu einer gelungenen Rechtsfortbildung beizutragen. Bei anderen Faktoren bestehen dagegen keine oder nur geringe Einflussmöglichkeiten. Das Endergebnis wird letztlich nicht immer eindeutig sein, weil sich Kriterien zu Abwägung der einzelnen Bewertungsschritte mit Ausnahme der zwingenden verfassungsrechtlichen Fragen kaum formulieren lassen. Die Kritik an Entscheidungen lässt sich so zumindest strukturieren und rationalisieren. 8. Eine gelungene Fortbildung setzt die Aufhebung eines rechtlichen Missstandes unter Berücksichtigung der überlieferten Fortbildungslehre voraus, wobei eine klar formulierte und bestimmte sowie fallnahe Regel entwickelt werden muss, die sich aus dem Gesetz ableiten lässt und sich bruchlos in die Rechtsordnung einfügen muss. Unter mehreren Varianten sollte diejenige ausgewählt werden, die den Anforderungen am besten entspricht. Am Ende muss eine Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse an der Rechtslage getroffen werden. 9. Eine gelungene Rechtsrückbildung setzt eine misslungene Fortbildung voraus, die nicht durch einen Austausch der Begründungen stabilisiert werden kann und dadurch an Legitimität gewinnt. Auch hier ist wieder eine Abwägung zwischen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und dem Änderungsinteresse an der Rechtslage vorzunehmen. 10. Das Hin und Her der Entwicklung des für das Delisting geltende Recht hätte vermieden werden können, wenn der BGH die Macrotron-Entscheidung ohne die

Kap. 8: Zusammenfassung

287

Rechtsfortbildung getroffen hätte. Ein solcher Schritt wäre notwendig gewesen, weil der BGH wesentliche Grundsätze einer gelungenen Fortbildung verletzt hat. Die Entscheidung war daher nicht gelungen. Die Vorinstanzen haben dagegen zurecht auf eine Fortbildung verzichtet. 11. Die Aufgabe der Macrotron-Entscheidung war auch nach der Entscheidung des BVerfGs nicht zwingend, weil sich eine weitere Stabilisierungsmöglichkeit durch Änderungen im UmwG ergeben hatte. Dennoch war die Entscheidung aufgrund richterlicher Selbstbeschränkung zu begrüßen, weil die Richter aufgrund ihrer unzureichenden Wirkungsmöglichkeiten auf das Regelungsfeld des Delistings und wegen ihrer geringeren Ressourcen im Zweifel das Feld lieber dem Gesetzgeber überlassen sollten. Zudem ist die Abbildung einer Regel im Gesetz der rechtssicherere Weg.

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Sachwortverzeichnis Abfindungsanspruch ​38, 224, 236 ff., 253 ff. Actio pro socio ​39 f. Analogie –– Gesamtanalogie ​156, 162, 177 ff., 232, 243 f., 257 f., 268 ff. –– strukturierende Rechtslehre ​82  f. –– Wortlautgrenze ​56  ff. Analogieverbot ​64 ff., 84, 180 Analytische Rechtstheorie ​67  ff. Anlegerschutz ​23, 212, 217, 220, 223 ff. ARAG / Garmenbeck-Entscheidung ​121 ff., 168, 200 Aufsichtsrat ​121 ff., 168, 200, 222, 273 ff. Auslegung –– Definition ​58  ff. –– Gegenstand ​59 –– Methoden ​58  ff. –– objektive Auslegungstheorie ​56  ff., 72, 155 –– Rangfolge ​149 –– ratio decidendi ​112  ff. –– subjektive Auslegungstheorie ​87  ff. –– verfassungskonforme ​259 –– von Richterrecht ​110  ff. –– Wortlautgrenze ​56  ff. Begriffsjurisprudenz ​87 Begründungspflicht, Rechtsfortbildung ​153, 156, 185 Bewertung von Richterrecht siehe gelungene Rechtsfortbildung Bezugsrechtsausschluss ​53, 203, 213 Bindungswirkung, Richterrecht ​29  ff. Börsenrückzug siehe Delisting Börsenzulassung ​205  ff. Bundesverfassungsgericht –– Gewaltenteilungsgrundsatz ​132 ff., 145 ff. –– Grenzmodifikatoren ​149  ff. Business Judgement Rule ​49, 53 Cross-Test ​113

Deduktion ​177  f. Definitionslehre ​59 Delisting –– Abfindungsangebot ​225 ff., 274 ff. –– Arten ​205  ff. –– Begriff ​205 –– Eingliederung ​224, 238 ff., 265, 275 f. –– Freiverkehr ​219, 272 f., 278 f. –– Gelatine-Entscheidung ​22 –– gesellschaftsrechtliche Voraussetzungen ​ 211 ff., 218 ff., 223 ff., 273 ff. –– Hauptversammlungsbeschluss ​213  f., 219 f., 224 f., 274 –– kaltes ​206  f. –– kapitalmarktrechtliche Voraussetzungen ​ 205 ff., 284 –– Marktsegmentwechsel ​278  f. –– Minderheitenschutz ​225  f. –– Rechtsfolgen ​207 –– reguläres ​205  f. –– regulierter Markt ​22 ff., 207, 241, 264 ff., 273 ff. –– Spruchverfahren ​218, 222, 226, 270 –– vollständiges ​205  ff. Demokratieprinzip ​157 Derogation –– durch Gericht ​202  f. –– durch Gesetzgeber ​202 –– Frosta-Entscheidung ​273  ff. Dreiteilungsmethode ​97  ff. Einheit der Rechtsordnung ​180 ff., 247 Einheitliche Rechtsprechung ​35, 185 Entlastungsfunktion ​47 Folgerichtigkeit ​182  f. Frosta-Entscheidung –– Bewertung ​280  ff. –– Entscheidung ​273  ff. –– Sachverhalt ​273

Sachwortverzeichnis Funktionen Richterrecht –– Entlastungsfunktion ​47 –– Gerechtigkeitschaffung ​46 –– Rechtsanpassung und -ergänzung ​42 ff. –– Stabilisierungsfunktion ​47  ff. –– Umsetzung des Gesetzgeberwillens ​45 –– Vereinfachungsfunktion ​50 –– Verkürzungsfunktion ​50 Gelatine-Entscheidung ​22  ff. Gelungene Rechtsfortbildung –– Abwägung der Kriterien ​196 –– Herleitung ​124  ff. –– Konsequenzen für Gesetzgeber und ­Gerichte ​197  ff. –– Systematisierung ​193  ff. Gerechtigkeitschaffung ​46  f. Gerechtigkeitsgedanke ​129 Gesamtanalogie siehe Analogie Gesetzesauslegung siehe Auslegung Gesetzesbindung ​56 ff., 90, 96, 98 ff., 138 ff., 145 ff., 177 ff. Gesetzesvorbehalt ​150 Gesetzgebung –– abändernde ​200  f. –– deklaratorische ​198  f. Gewaltenteilung ​65, 132, 145 ff., 284 Gewohnheitsrecht –– Gerichtsgebrauch ​38 –– Rechtsquelleneigenschaft ​37  ff. Gleichbehandlung ​34, 65, 216, 240, 276, 283 Gleichgestimmtheit der Rechtsprechung ​ 183 f. Hauptversammlung –– Beschlusskontrolle ​210, 215 f., 222 –– ungeschriebene Zuständigkeit ​219, 251 ff. Historische Auslegung ​87 ff., 91, 102, 110, 147 Historische Interessenbewertung ​88 Höchstrichterliche Entscheidungen ​25, 35 f., 118. Holzmüller-Entscheidung ​22, 209 f., 213, 219, 224 f., 230 ff., 251 ff., 274 Induktionsschluss ​177  f. Interessenjurisprudenz ​87  ff., 116 Interpretationsunsicherheiten ​121  ff.

311

Kodifikationsidee ​42  f., 201 Kompetenzeingriffe ​144  f. Kompetenzverschiebung ​147  f. Kompetenzverteilung siehe Gewaltenteilung Legitimationsdefizit ​157, 170  f. Lücke –– Begriff ​42  ff. –– Gesetzeslücke ​126 –– Lückenarten ​43  ff. –– Lückenausfüllung ​143  ff. –– Lückenfeststellung ​141  ff. Lückenproblematik ​42  f. Macrotron-Entscheidung –– Rechtsentwicklung ​208  ff. –– Sachverhalt ​211  f. Manipulationpotential ​155  ff. Minderheitsaktionäre ​219 ff., 230, 236 ff., 243, 247, 261, 264, 269 Normative Pragmatik ​77 Normativitätsthese ​75  f. Normkonkretisierung ​33 ff., 82, 102, 112 f., 231, 303 Normtext ​19, 28, 80 ff., 91, 108 f. Normzweck ​41, 91, 100, 109, 231, 252, 260, 285 Offenheit der Sprache ​118 Persönlichkeitsrecht ​55 Präjudizien ​26, 32 ff., 81, 107, 111 Präjudizienbindung ​33 f., 36, 45, 113 Prognostizierungsdefizit ​161, 167 Ratio decidendi ​112  ff. Rechtsanpassung ​9, 42 ff., 125 Rechtsanwendung ​35, 61 ff., 84, 87, 95 f., 139, 142, 148, 165, 186 Rechtseinheit ​41 Rechtsfähigkeit ​51, 100, 143, 166, 190, 199, 288 Rechtsfortbildung –– Arten (intra ius …) ​126 ff. –– Begriff siehe auch Richterrecht –– contra legem ​126, 128, 144, 152, 155, 199, 252, 262

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Sachwortverzeichnis

–– Definition ​58  ff. –– gelungene siehe Gelungene Rechtsfort­ bildung Rechtsquelle ​25, 29  ff. Rechtsquelleneigenschaft ​29 ff., 37 ff. Rechtsquellenlehre ​28  ff. Rechtsrückbildung ​18, 52 f., 59, 93, 159, 183, 202 f., 280 ff., 308 Rechtssicherheit ​15, 31 ff., 43, 47, 65 f., 85, 128, 138, 162 ff., 175 ff., 244, 248, 250, 280 ff. Rechtsstaatsprinzip ​97, 133, 137, 164, 181, 284 Regelregressargument ​103 Regelungslücke ​94, 96, 142 ff., 183, 193, 218, 222, 232, 252, 283 Ressourcenunterschied ​163, 170, 175 Richterliche Rechtsfortbildung siehe Rechtsfortbildung Richterrecht –– Auslegung ​110  ff. –– Bedeutung ​25  f. –– Begriff ​26  ff. –– beschränkter Überprüfungsumfang ​134  ff. –– Ermächtigung ​130  ff. –– faktische Geltung ​28  ff. –– Funktion ​41 ff., 47 ff. –– gelungenes siehe Gelungene Rechtsfort­ bildung –– im Gesellschaftsrecht ​50  ff. –– Legitimationsdefizit ​157 –– Manipulationpotential ​155  f. –– Rechtsquelleneigenschaft ​29  ff. –– verfassungsrechtliche Bedenken ​130  ff. Richtigkeitskontrolle ​133, 135 Rügeverkümmerung ​93, 98, 140, 152 ff. Semiotisches Dreieck ​69  ff. Sperrwirkungen ​151, 154 Sprache ​43, 56 ff., 70 ff., 90, 104 ff., 128, 285 Sprachgebrauch ​57, 61, 63, 68, 90, 92, 103, 106, 118 Sprachphilosophie ​56 ff., 71 ff., 101 ff. Sprachregel ​105 Sprachspiel ​73, 80 Sprachtheorien ​57, 79 Staatsgewalt ​131

Stabilisierungsfunktion ​47 f., 109, 119 Streitentscheidungsfunktion ​157  f. Strukturierende Rechtslehre –– Analogien ​82  f. –– Kritik ​108 –– Normprogrammgrenze ​79  ff., 108 Systematische Auslegung ​118 Systemgerechtigkeit ​16, 180 ff., 195, 247, 251 Tatbestand ​60, 74, 108, 174, 186 ff., 234 Teleologische Reduktion ​60 Trennbarkeitsthese ​58  ff. Trial and Error ​20 Umsetzung des Gesetzgeberwillens ​45, 99 Untrennbarkeitsthese ​56, 79 ff., 102 Verdeckte Gestaltungsspielräume ​155  f. Vereinfachungsfunktion ​49  f. Verfassungsbeschwerde ​94, 97, 136, 263, 271 Vertrauensschutz ​35, 66, 99, 138 Vertretbarkeits- und Willkürprüfung ​135 Vorbehalt des Gesetzes ​155 Vorstand ​22 f., 121, 199, 203 ff., 223, 230, 252, 256, 263, 273 ff. Vorverständnis ​60, 62, 292 Wertungsjurisprudenz ​120, 302 Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ​ 180, 182 Wille des Gesetzgebers ​45, 91, 94, 99, 101, 110, 133, 138, 147, 151 ff., 248, 268, 285 f. Wirkungsstadium ​164 Wortbedeutung ​57, 60 ff., 68, 71 Wortgebrauchsregeln ​68, 73 ff., 104 f. Wortlautauslegung ​90, 117  f. Wortlautgrenze –– Begriff ​58  ff. –– Doppelgrenze ​101  f. –– Rechtsprechung ​84  ff. –– Überlieferte Auffassung ​58  ff. Wortsinn ​61 f., 73, 81, 84, 92, 101 f., 126 Zeichenkette ​285 Zwei-Bereiche-Modell ​71