Massenparteien im 20. Jahrhundert: Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien 3515111921, 9783515111928

Gibt es noch "Massenparteien"? Die jüngsten Wahlergebnisse in Deutschland und Italien lassen daran zweifeln, o

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German Pages 268 [270] Year 2018

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
(Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen)
Einleitung
TEIL 1: WEGE UND MODELLE DER VOLKSPARTEI (1890–1930)
(Thomas Welskopp) Die deutschen Sozialdemokraten. Von der sozialen Bewegung zur Massenpartei
(Maurizio Punzo)
Organisieren, um Politik zu machen.
Die Sozialistische Partei Italiens von ihren Anfängen bis
zum Ersten Weltkrieg
(Antonio Scornajenghi) Partito Popolare Italiano: Ursprung und Organisation
(Detlef Lehnert)
Die „klassische“ Sozialdemokratie als Organisationsbewegung im
späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik
(Aldo Agosti)
Kaderpartei, Untergrundpartei, Massenpartei
Die Kommunistische Partei Italiens von den Zwanziger bis
zu den Fünfziger Jahren
TEIL 2: PARTITO NAZIONALE FASCISTA UND NSDAP
ALS VOLKSPARTEIEN? (1920–1945)
(Armin Nolzen)
Mechanismen der Mitgliederintegration in der NSDAP, 1925–1945
(Susanne Meinl)
Die Alimentation der Macht
Franz Xaver Schwarz und das Amt des Reichsschatzmeisters der NSDAP
(Loreto Di Nucci)
Zwischen Partei und Staat.
Organisation und Funktionsweise der Faschistischen Partei Italiens
(Stefano Cavazza)
Faschismus vor Ort.
Die faschistische Partei auf lokaler Ebene
(Chiara Giorgi)
Die Sozialpolitik der faschistischen Partei
TEIL 3: VOLKSPARTEIEN NACH 1945: DURCHSETZUNG UND
KRISE EINES ERFOLGSMODELLS? (1945–1995)
(Paolo Mattera)
Parteiorganisation und Finanzierung.
Eine Fallstudie zur italienischen Sozialistische Partei (PSI)
von der Einheitsfront zur linken Mitte
(Daniel Schmidt) Von der Kanzlerpartei zur „modernen Volkspartei“. Neuorientierung und Konflikt in der CDU nach 1969
(Rüdiger Schmidt)
„Wer ist denn eigentlich Bürger?“
Der Wandel der SPD zur Volkspartei nach 1945
(Paolo Pombeni)
Die Frage der Volkspartei 1945–1963
(Massimiliano Livi)
Das politische System Italiens seit den 1970er Jahren.
Legitimationskrise oder Formwandel der Demokratie?
(Thomas Großbölting)
Von der „Krise der Volksparteien“ zum Aufstieg der AfD?
Fragen und Hypothesen zur Transformation des politischen Systems
in Deutschland
AUTORENVERZEICHNIS
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Massenparteien im 20. Jahrhundert: Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien
 3515111921, 9783515111928

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Stefano Cavazza Thomas Großbölting Christian Jansen (Hg.)

B A ND 5

Massenparteien im 20. Jahrhundert Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien

Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen (Hg.) Massenparteien im 20. Jahrhundert

AURORA Schriften der Villa Vigoni herausgegeben von Immacolata Amodeo Band 5

Massenparteien im 20. Jahrhundert Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien

herausgegeben von Stefano Cavazza, Thomas Großbölting und Christian Jansen

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder und mit freundlicher Unterstützung des Dipartimento di Scienze Politiche e sociali – Alma Mater Studiorum Università di Bologna.

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INHALTSVERZEICHNIS Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen Einleitung ....................................................................................................

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TEIL 1: WEGE UND MODELLE DER VOLKSPARTEI (1890–1930) Thomas Welskopp Die deutschen Sozialdemokraten Von der sozialen Bewegung zur Massenpartei .................................................

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Maurizio Punzo Organisieren, um Politik zu machen Die Sozialistische Partei Italiens von ihren Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg ........................................................................................

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Antonio Scornajenghi Partito Popolare Italiano: Ursprung und Organisation......................................

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Detlef Lehnert Die „klassische“ Sozialdemokratie als Organisationsbewegung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik ...........................................

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Aldo Agosti Kaderpartei, Untergrundpartei, Massenpartei Die Kommunistische Partei Italiens von den Zwanziger bis zu den Fünfziger Jahren ....................................................................................

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TEIL 2: PARTITO NAZIONALE FASCISTA UND NSDAP ALS VOLKSPARTEIEN? (1920–1945) Armin Nolzen Mechanismen der Mitgliederintegration in der NSDAP, 1925–1945 ...............

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Susanne Meinl Die Alimentation der Macht Franz Xaver Schwarz und das Amt des Reichsschatzmeisters der NSDAP ..... 109

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Inhaltsverzeichnis

Loreto Di Nucci Zwischen Partei und Staat Organisation und Funktionsweise der Faschistischen Partei Italiens ............... 127 Stefano Cavazza Faschismus vor Ort Die faschistische Partei auf lokaler Ebene ........................................................ 141 Chiara Giorgi Die Sozialpolitik der faschistischen Partei ....................................................... 157 TEIL 3: VOLKSPARTEIEN NACH 1945: DURCHSETZUNG UND KRISE EINES ERFOLGSMODELLS? (1945–1995) Paolo Mattera Parteiorganisation und Finanzierung Eine Fallstudie zur italienischen Sozialistische Partei (PSI) von der Einheitsfront zur linken Mitte .............................................................. 175 Daniel Schmidt Von der Kanzlerpartei zur „modernen Volkspartei“ Neuorientierung und Konflikt in der CDU nach 1969...................................... 189 Rüdiger Schmidt „Wer ist denn eigentlich Bürger?“ Der Wandel der SPD zur Volkspartei nach 1945 .............................................. 199 Paolo Pombeni Die Frage der Volkspartei 1945–1963 .............................................................. 215 Massimiliano Livi Das politische System Italiens seit den 1970er Jahren Legitimationskrise oder Formwandel der Demokratie? ................................... 229 Thomas Großbölting Von der „Krise der Volksparteien“ zum Aufstieg der AfD? Fragen und Hypothesen zur Transformation des politischen Systems in Deutschland .................................................................................................. 257 Autorenverzeichnis ........................................................................................... 267

EINLEITUNG Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen Für die Parteiengeschichte ist 2017 ein besonderes Jahr. Nicht Vorgänge in Italien oder Deutschland, sondern politische Entwicklungen in den USA markieren diese Zäsur. Mit Donald Trump erkämpfte sich in den Vereinigten Staaten erstmalig ein Bewerber das Amt des Präsidenten, der nahezu unabhängig von den Großparteien der USA zu den Vorwahlen und Wahlen angetreten war. Das Establishment der Republikaner hatte den Kandidaten allenfalls geduldet, aber keinesfalls uneingeschränkt unterstützt. Noch im Oktober 2016 mutmaßten verschiedene Medien, dass die „Grand Old Party“ eigentlich ohne eigenen Kandidaten sei. Da „trampelt in ihrem Namen ein Mann durchs Land, der sich von der Partei losgesagt hat und allenfalls noch den rechtspopulistischen Teil der republikanischen Wählerschaft und die notorischen Clinton-Hasser repräsentiert. Es ist ein Mann, der sich nur noch um sich selbst schert und dem es völlig egal ist, wen er mit in den Abgrund reißt.“1 Wie so viele Berichterstatter ging auch dieser Journalist fehl in seiner Prognose: Nicht die demokratische Kandidatin Hillary Clinton, sondern der mehr oder weniger auf eigene Rechnung agierende Donald Trump wurde zwar nicht von der Mehrheit der Amerikaner gewählt, aber doch vor dem Hintergrund des indirekten Wahlrechts von so vielen gewählt, dass er zum Präsidenten der USA gekürt wurde. Bis heute, so scheint es, ist die republikanische Partei, auf Grund dieses Ergebnisses tief konsterniert, und das, obwohl sie in beide Kammern des US-Systems die Mehrheit hält und sich damit eigentlich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befindet. Verschiedene republikanische Parteigrößen haben sich dem President-Elect und dann dem Präsidenten als Berater und Funktionsträger angedient, andere wie der Senator von Arizona und Präsidentschaftskandidat der republikanischen Partei 2008, John McCain, entwickelten sich hingegen zu den größten Kritikern des 45. Präsidenten der USA. Auch wenn generell der Präsident der USA unabhängiger von der Räson seiner jeweiligen Partei agiert, ist gerade Trump völlig ungebunden und damit unabhängig und unkontrolliert zugleich. Mit welchem Konzept und mit welchen Kandidaten die republikanische Partei 2020 in den Wahlkampf ziehen wird, bleibt eine spannende Frage. In Deutschland und Italien treffen die Vorgänge in den USA auf viel Befremden und haben durchaus unterschiedliche Auswirkungen. In den Vereinigten Staaten hatten Journalisten schon 2015 auf die Ähnlichkeiten zwischen Berlusconi und

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Hubert Wetzel, Trump zertrümmert die Republikanische Partei, in: Süddeutsche Zeitung, 12.10.2016, S. 4.

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Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen

Trump hingewiesen.2 Weniger in Italien, wo eher die Unterschiede gesehen werden, als in Deutschland fragen sich viele: Ist Trump wie Berlusconi?3 Die meisten sehen den Sieg Trumps als ein weiteres Beispiel einer personenzentrierten Politik, die Italien schon erlebt hat.4 In der Bundesrepublik stärkte der Erfolg von Donald Trump einerseits die AktivistInnen von AfD und PEGIDA5, die sich in ihrer Elitenschelte, in ihrer Ablehnung des Systems wie auch im ausländerfeindlichen Chauvinismus bestätigt sahen. Andererseits führte der Erfolg Trumps dazu, dass in Meinungsumfragen und Urnengängen die Erfolgskurve der Rechtspopulisten abflachte. Viele der Protestwähler, die mit ihrem Kreuz bei der AfD sich weniger zu deren Positionen bekennen, als vielmehr ihren Protest gegen das „System“, das Establishment und die etablierten Parteien zum Ausdruck bringen wollten, entschieden sich auf Grund der Vorgänge in den USA eher vorsichtiger, machten ihr Kreuz an einer anderen Stelle oder wählten nicht. Dieser vielleicht am meisten Aufsehen erregende „Fall“ – der Aufstieg des Parteilosen Donald Trump zum mächtigsten Politiker der Erde und dessen Rückwirkungen auf Italien und Deutschland – ist allerdings nur ein Indiz für eine tiefgreifende Veränderung in der Zuordnung von politischer Kultur, Demokratie und Parteien. In der langen Linie des 20. Jahrhunderts sind das Aufkommen Donald Trumps wie früherer (rechts)populistischer Bewegungen, etwa in Italien Forza Italia, Lega Nord, Movimento Cinque Stelle oder in Deutschland „Alternative für Deutschland“ (AfD) nur das Ende einer langen Entwicklung. Es gibt viele Indizien dafür, dass sich die Rolle der Parteien im politischen System seit den 1980er Jahren verändert hat. Insbesondere die Ära der Massen- und Mitgliederparteien scheint vorbei zu sein, also insbesondere der politischen Organisationen, die sich um möglichst viele Mitglieder bemühen und mit der hohen Zahl 2

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Frank Bruni, La dolce Donald Trump, in: New York Times, 18.7.2015; Rula Jebreal, Donald Trump Is America’s Silvio Berlusconi, in: Washington Post, 15.9.2015; Roger Cohen, The Trump-Berlusconi Syndrome, in: New York Times, 14.3.2016. Die These fand Anklang auch in Europa: John Foot, We’ve seen Donald Trump before – his name was Silvio Berlusconi, in: The Guardian, 20.10.2016. In Italien berichteteten die Zeitungen sofort über diese Interpretationen, ohne aber klar Stellung zu nehmen: Massimo Gaggi, Intervista a Frank Bruni: Prodotto della civiltà televisiva può diventare il Berlusconi USA, in: Il Corriere della Sera, 8.8.2015. Giuliano Ferrara, Qualche verità su Trump e Berlusconi, in: Il Foglio, 5.3.2016. In diesem Artikel betonte der Journalist, der auch Minister in der ersten Berlusconi-Regierung war, einige Ähnlichkeiten zwischen den zwei Politikern, aber auch die politischen Unterschiede: Trump sei nach rechts orientiert, Berlusconi sei ein Liberaler. Berlusconi selber hat Ähnlichkeiten mit Trumps Biographie anerkannt, aber auch die politischen Unterschiede klar hervorgehoben: er sei kein rechter Politiker. Siehe das Interview: Francesco Verderami, Analogie tra me e Trump, ma io non sono la destra. Da Obama mondo instabile, in: Il Corriere della Sera, 12.11.2016. Die Betonung der „Personzentrierung“ in der Literatur ist auf die 90 Jahren und auf die Analyse der Berlusconi Erfolg zurückzuführen: siehe Giampietro Mazzoleni, Towards a Videocracy. Italian political Communication at a turning point, in: European Journal of Communication, 10 (1995), S. 291–319. Siehe auch Donatella Campus, The 2006 election: more than ever, a Berlusconi-centred campaign, in: Journal of Modern Italian Studies, 11 (2006), S. 516–531. Über Pegida siehe Hans Vorländer, Maik Herold, Steven Schäller, PEGIDA: Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016.

Einleitung

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ihrer Mitglieder und Anhänger auch politisch argumentieren – unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung. Sowohl in Italien wie auch in Deutschland schrumpfen die Mitgliederzahl dieser Massen- und Mitgliederparteien seit den 1980er Jahren.6 Dass zusätzlich die Wahlbeteiligung sinkt und die Akzeptanz für die Parteien als Träger des politischen Geschäfts nachlässt, ist ein mittlerweile „robustes Phänomen“.7 Wenn die Meinungserhebungen weiter differenzieren, stellt sich oftmals heraus, dass der Verdruss nicht allgemein dem politischen System gilt, sondern vor allem den Parteien und ihrem Personal. Hinzu kommen interne Entwicklungen: Die Parteitage als Orte der internen Meinungsbildung gehen in ihrer Bedeutung zurück und avancieren mehr und mehr zu Medienspektakeln, auf denen sich die Parteielite der Wählerschaft präsentiert. Nicht mehr das Geflecht von Ortsvereinen, Kreis- und Landesverbänden mit ihren demokratischen Strukturen, sondern die Medien sorgen für parteiinterne Kommunikation und Willensbildung. Gegenüber den Wählern brauche man zum Regieren eh nur „Bild, BamS und Glotze“, so soll der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Schröder kurz nach seiner Wahl gesagt haben und verwies damit auch seine eigene Partei in eine Statistenrolle.8 Dabei sind es keinesfalls nur diese inneren Entwicklungen, die die Arbeit der Parteien verändern und schwieriger machen. Politik selbst und ihre praktische Operationalisierung hat sich verändert. Die Komplexität des politischen Prozesses steigert sich, so dass es schwieriger wird, Lösungen zu finden und diese sowohl im Erfolgsfall wie auch beim Scheitern einzelnen Verantwortlichen zuzuschreiben. Zudem hat die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft die gezielte Ansprache von Kollektiven enorm erschwert. Beide Veränderungen hängen zusammen mit einer zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung, die ihrerseits die Grenzen nationaler Politik ebenso verwischt wie übersteigt.9 Auch damit stoßen die wesentlich national organisierten Parteien rasch an ihre Grenzen. All diese Indizien deuten auf einen Befund hin, der den Hintergrund für die Beiträge in diesem Buch bildet und den der Politologe Wolfgang Merkel 2013 so formulierte: „Die Hochzeit der politischen Parteien ist mit dem 20. Jahrhundert zu Ende gegangen“ und „Ersatz für das 21. Jahrhundert“ ist „nicht in Sicht“10. Diese Krisenbeschwörungen sind ebenso wie die tatsächlichen Krisen nicht neu, im Gegenteil. Und dennoch sind Parteien nach wie vor das institutionelle Rückgrat der politischen Systeme, in Italien und in Deutschland. Es sind die Parteien, die immer noch und anders als in den USA das politische Spitzenpersonal stellen. Sie organisieren die Meinungsbildung im Parlament, sie formulieren im Wahlkampf, aber auch darüber hinaus politische Ziele und stoßen dazu Diskussionen in der Ge6 7 8 9 10

Vgl. dazu u. a. Hubert Kleinert, Abstieg der Parteiendemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 35–36 (2007), S. 3–11, Zitat S. 3 f. Emanuel V. Towfigh, Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien, Tübingen 2015, S. 1. Vgl. Ludwig Watzal, Editorial, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–36 (2007). Vgl. Wolfgang Schroeder, Wozu noch Volksparteien? in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3 (2017), S. 27–30, Zitat S. 27. Wolfgang Merkel, Krise? Krise! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2013, S. 7.

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Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen

sellschaft an. An der Oberfläche des Makroblicks zeigt sich vor allem Kontinuität. Die Partei als politische Institution, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet und im 20. Jahrhundert verfestigt hat, ist ein Erfolgsmodell. Darauf verweist schon allein die lange Wirkungsdauer dieser politischen Institution. Die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes haben die Parteien in Artikel 21, Abs. 1, S. 1, GG zwar zurückhaltend, aber im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung explizit erwähnt. Sie beschreiben Parteien als eine (und damit nicht als einzige) Institution, die bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirkt. Die Parteien sind darauf verpflichtet, ihrer „inneren Ordnung“ nach demokratischen Grundsätzen zu entsprechen wie auch über die Herkunft ihrer Mittel und Vermögenswerte Auskunft zu geben. Der Entwicklung der konkreten politischen Ausprägung wird auf diese Weise – insbesondere mit Absatz 3 „Das Nähere regelt das Bundesgesetz“, also das erst 1967 beschlossene Parteiengesetz – einerseits viel Raum und andererseits ein gesetzlicher Rahmen gegeben. Das Fehlen entsprechender Regelungen in der italienischen Verfassungsordnung, vor allem das Fehlen eines Gesetzes, das demokratische Mindestanforderungen an die innere Organisation von Parteien verlangt, sind eine der Hauptursachen der Instabilität des italienischen Parteiensystems und machen einen wesentlichen Unterschied zwischen der politischen Kultur Italiens und der Bundesrepublik aus. „Parteien“ wie Forza Italia oder Movimento Cinque Stelle, die mit schwach ausgeprägter innerparteilicher Demokratie allein auf eine Person zugeschnitten sind, sind in Deutschland nicht möglich. Mit Blick in die Zukunft erscheint die starke Verankerung der Parteien in der politischen Kultur Deutschlands manchem Beobachter gar als „alternativlos“.11 Zwar wird immer wieder über Formen direkterer Bürgerbeteiligung oder auch darüber diskutiert, ob Verbände und andere Zusammenschlüsse aus der Zivilgesellschaft die Funktionen der Parteien übernehmen könnten. Rasch wird aber deutlich, dass damit eine noch viel stärkere Selektion von Beteiligung verbunden wäre, engagieren sich doch hier überproportional die akademischen Mittelschichten. Vielen Beobachtern der politischen Szene erscheinen die Parteien damit nicht nur als Garanten, sondern sogar als Essenz der Demokratie. Sie sollen den Willen der Bevölkerung repräsentieren und zugleich ebenso stabile wie responsive Bindungen in der Gesellschaft schaffen. Noch stärker als in Deutschland ist in Italien partitocrazia (Parteienherrschaft) ein Schimpfwort, das oft im politischen Kampf verwendet wird (obwohl sein Erfinder, der Politologe Giuseppe Maranini, partitocrazia als wissenschaftliches Konzept verstehen wollte).12 Der verbreitete Unmut über die (angebliche) partitocrazia hat zwar historische Traditionen und eine Mentalität, die staatlichen Vorgaben und Institutionen generell skeptisch gegenübersteht, maßgeblich beigetra-

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Vgl. Schroeder, Wozu noch Volksparteien? (wie Fn. 9), S. 27–30, Zitat S. 28. Damiano Palano, Il giovane Maranini. Appunti per una storia della scienza politica italiana tra le due guerre, in: Teoria Politica 17 (2001), S. 148.

Einleitung

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gen.13 Aber eine zentrale Rolle hat auch die Wahrnehmung der diffusen Korruption der politischen Parteien und Eliten wie auch des Klientelismus gespielt. Darüber hinaus versuchten die italienischen Verfassungsväter (auch hier waren nur wenige Frauen beteiligt), wenn auch mit politischen Bedenken und ohne parteienfeindliche Absichten, die Macht des Parlaments durch die Einführung von (rein abrogativen) Volksabstimmungen in der Verfassung auszubalancieren.14 Dieses plebiszitäre Korrektiv des Parlamentarismus stand lange Zeit nur auf dem Papier. Erst in den 1970er Jahren nutzte die außerparlamentarische Opposition Referenden als politische Instrumente, um Entscheidungen der Parlamentsmehrheit zu korrigieren. Nicht selten sind die Betreiber solcher Referenden allerdings spektakulär gescheitert wie etwa der organisierte Katholizismus und die Christdemokraten 1974 beim Referendum gegen das liberale Scheidungsgesetz und 1981 gegen ein liberales Abtreibungsgesetz. Besonders in den achtziger Jahren dienten die Volksabstimmungen als Waffe gegen das Parteiensystem. Nach der Krise der italienischen Parteiensysteme, hat eine Reihe von Referenden 1993/94 entscheidend dazu beigetragen, dass das seit 1946 ausgestaltete Parteiensystem unterging und keine der damaligen Parteien heute noch existiert.15 Es ist die Ambivalenz von Krise und den damit verbundenen Abgesängen auf die Parteien auf der einen und die hohen Erwartungen auf der anderen Seite, die die Autorinnen und Autoren dieses Buches zusammengeführt hat. Den zunehmenden Krisendiskurs der Parteien seit Ende der 1970er Jahren in Deutschland wie auch den Zusammenbruch der seit Kriegsende dominierenden Parteienstruktur seit 1993 in Italien nehmen wir zum Anlass, die Erscheinungsform der Massenpartei zu historisieren und dabei ihre Leistungen wie auch ihre Grenzen im italienisch-deutschen Vergleich darzustellen. Die lange Linie, die in diesem Buch vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende des 20. Jahrhunderts gezogen wird, soll helfen, längerfristige Trends und Entwicklungen zu erkennen und damit das meist kurzsichtige Reden von der „Krise der Parteien“ abzulösen durch Untersuchungen, die die Bandbreite der Entwicklung herausarbeiten. Wir konzentrieren uns dabei auf den Typus der Partei, der bis heute besondes prägend und erfolgreich ist, nämlich die Massen- und Mitgliederpartei. Nach und nach löste dieser Typus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts den älteren Typus der Honoratiorenpartei ab und konnte bis in die 1970er Jahre hinein große Teile der Bevölkerung als Wähler und Wählerinnen, viele auch als Mitglieder integrieren. Die ersten Massenparteien, die im Rahmen der Fundamentalpolitisierung und der Ergänzung des liberalen Forderungs- und Wertekatalogs durch demokratische 13 14

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Vgl. Christian Jansen, Eine Tradition der Rebellion gegen das staatliche Gewaltmonopol. Italien 1848–1980, in: ders. u. a. (Hg.), Die Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen Verstafüatlichung und Privatisierung im 20. Jahrhundert, Paderborn 2010, S. 189–204. In der Debatte fürchteten einige Abgeordnete davor, dass die Volksabstimmung von Minderheitparteien instrumentalisiert werden und zu eine Blockade des Gesetzgebubungsprozesses führen könnte. Siehe: Assemblea Costituente, Commissione per la cosituzione, Adunanza plenaria, 24, Resoconto sommario della seduta pomeridiana di mercoledì 29 gennaio 1947, S. 231–233 (Jetzt auch online: http://www.camera.it/_dati/costituente/lavori/Commissione/sed024/sed024.pdf) Näheres in: Christian Jansen, Italien nach 1945, Göttingen 2007, S. 202–228.

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Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen

Maximen, also seit 1849 entstanden, verwiesen auf die „Quantität“ und führten die hohe Zahl an Unterstützern als Argument für ihre Anliegen (ähnlich wie die zur selben Zeit sehr beliebten Petitionen) in den politischen Diskurs ein. Damit stellten sie das ältere Prinzip der Honoratiorenpartei, das alleine die „Qualität“ (die philosophische oder moralische Begründung eines Argumentes oder das Ansehen derjenigen, die es vertraten) relevant sei, in Frage. Die frühesten Massenparteien in Deutschland verstanden sich aber zugleich als Vertretung nur eines Sektors der Gesellschaft: etwa im deutschen Fall der Centralmärzverein, die erste Massenpartei, als Verteidiger der Revolution gegen die Reaktion, der „Treubund mit Gott für König und Vaterland“ hingegen als Verteidiger der Ordnung gegen die Revolution oder die Sozialisten als Klassenpartei der Lohnabhängigen. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts entstand parallel zum integralen Nationalismus, der die ganze Nation integrieren wollte und sie bisweilen auch bereits als „Volksgemeinschaft“ apostrophierte, eine neue Art von Massenparteien, die explizit klassenübergreifend sein und das ganze Volk organisieren wollte. Allen Unterschieden zum Trotz realisierte sich dieser neue, mit dem Modell der Volkspartei verbundene Anspruch zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in katholischen und seit dem Ersten Weltkrieg in faschistischen Parteien: die politische Organisation reklamierte für sich eine nicht klassen- oder interessengeleitete Politik zu verfolgen und die gesamte „Volksgemeinschaft“ zu integrieren, die im deutschen Sprachraum sowohl in der katholischen Volkspartei, dem Zentrum, als auch bei den deutschen Faschisten von der NSDAP zum positiven ideologischen Leitbegriff wurde. Sobald diese die Regierungsverantwortung übernahmen, amalgamierten Partei und Staat tendenziell miteinander. In diesem Prozess lösten sich die in der Opposition gegen das protestantische Deutsche Reich und das liberal-antiklerikale Königreich Italien entstandenen katholischen Parteien (1870 Zentrumspartei, 1919 Partito Popolare Italiano) als erste vom zuvor dominanten Modell der Massenpartei als Klassenpartei (Konservative als Partei des Adels, des protestantischen Klerus und der Beamten, Liberale als bürgerliche Partei, Sozialisten als Arbeiterpartei). Während des Ersten Weltkriegs entstand dann in verschiedenen europäischen Ländern ein neuer Typus der klassenübergreifenden Massenorganisation, den man als faschistisch bezeichnen kann: die erste Partei dieses Typs war die kurzlebige Deutsche Vaterlandspartei (1917–18, mehr als 1 Million Mitglieder). Die faschistischen Parteien beanspruchten zwar einerseits, die gesamte „Volksgemeinschaft“ zu integrieren, „das Volk“ als Ganzes zu vertreten und damit andere Parteien überflüssig zu machen. Andererseits war ihre Propaganda wesentlich von verschiedenen „Anti“s geprägt: Antikommunismus, Antisozialismus, Antisemitismus, Antiliberalismus und Antipluralismus. Für die Phase, in der faschistische Parteien zu Regierungsparteien avancierten, sind insbesondere die erheblichen Unterschiede zu klassischen Parteien in parlamentarisch-demokratischen Systemen herauszustreichen. Für die Zeit nach 1945 ist insbesondere danach zu fragen, welche Überhänge von der Diktatur in die Demokratie in Deutschland wie auch in Italien zu verzeichnen sind und welche spezifischen Neuentwicklungen in beiden Ländern angestoßen wurden. Fluchtpunkt der in diesem Buch versammelten Beiträge ist dann die jew-

Einleitung

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eils national unterschiedlich eingefärbte Debatte um die Grenzen beziehungsweise das Versagen der Parteiendemokratie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes analysieren mit einem transnationalen Blick den Aufstieg und Niedergang des Typus Volkspartei/Massenpartei in Deutschland und Italien während des 20. Jahrhunderts. Das übergreifende Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, herauszuarbeiten, ob es spezifische, vielleicht sogar national geprägte Entwicklungspfade, in der modernen Parteiengeschichte gab. Dabei tragen die Beiträge der institutionellen Eigenentwicklung der Organisationen Rechnung, indem sie Parteien nicht allein als aus ihrer weltanschaulichen oder ideologischen Prägung, der Gesellschaft oder den Machtverhältnissen selbst abgeleitete Phänomene erklären, sondern diese als abhängig von „intervenierenden Variablen“ (K. v. Beyme) beschreiben. Dazu gehören neben dem Wandel der „cleavage“-Struktur durch staatliche Wohlfahrtssysteme, der fortschreitenden Entideologisierung oder dem Medienwandel auch politische Rahmenbedingungen wie die Erweiterung des Wahlrechts, die (Nicht)Einführung von Parteiengesetzen, die staatliche Parteienfinanzierung und vieles mehr. Ein Schwerpunkt der in diesem Buch versammelten Untersuchungen liegt auf der Analyse von innerparteilichen Strukturen wie Organisationsstatuten und -praxis, Mitgliederverwaltung, Alimentierung der Funktionäre, Formen der internen Kommunikation etc. Welche Verfahren entwickelten moderne Massenparteien in verschiedenen Ländern und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen zur Regelung interner Konflikte (Parteigerichtsbarkeit, Ausschlussverfahren)? Woher kam das Parteivermögen, wie wurde es verwaltet, akkumuliert und wann mit welchen politischen Zielen eingesetzt? Handelt es sich bei der häufig beklagten Vetternwirtschaft um ein Symptom saturierter Parteistrukturen? Neben solchen klassischen sozial- und parteiengeschichtlichen Fragestellungen, die gleichwohl für die wenigsten Parteien systematisch erforscht und dargestellt sind, erscheinen auch eher kulturgeschichtliche Fragen interessant. Wie ließ sich etwa das Konzept einer lebenslangen Parteimitgliedschaft („von der Wiege bis zur Bahre“) mit den unterschiedlichen politischen Interessen verschiedener Generationen vereinbaren? Wie gelang es modernen Massen- und Mitgliederparteien und insbesondere den Volksparteien, die unterschiedlichen Interessen verschiedener sozialer Gruppen in der Mitgliedschaft zu integrieren? Wie lassen sich Widersprüche zwischen Gruppeninteressen und dem Parteiprogramm harmonisieren? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Funktionären und einfachen Mitgliedern? Wie wurden die unvermeidlichen Konflikte zwischen beiden Gruppen beigelegt? Damit werfen die Beiträge, so die Hoffnung aller Beteiligten nicht nur historiographisch neue Fragen auf, sondern bereichern auch die aktuellen Selbstverständigungsdebatten über die politischen Kulturen in Italien und Deutschland. Im ersten Teil stehen Studien zu den jeweils ersten Massenparteien in beiden Ländern – zu den linken Parteien der Arbeiterbewegung, aber kontrastiv auch zum partito popolare, der16 im fast vollkommen katholischen Italien in weit höherem 16

Durchgängig werden in diesem Buch die italienischen Parteien als Maskulina angesprochen, wie es ihrem grammatischen Geschlecht im Italienischen entspricht.

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Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen

Maße „Volkspartei“ war, als es die deutsche Zentrumspartei je werden konnte. Da diese ein Stiefkind der neueren Parteiengeschichtsschreibung ist, fehlte sie sowohl 2014 auf der Tagung als auch jetzt im Band, und die italienische Schwesterpartei muss exemplarisch für die Probleme einer katholischen Volkspartei stehen. Der zweite Teil des Buchs beschäftigt sich mit der Zwischenkriegszeit und den seinerzeit in Italien wie dem Deutschen Reich herrschenden Faschistischen (PNF) bzw. Nationalsozialistischen Volksparteien (NSDAP). In den fünf innovativen, den Forschungsstand wesentlich erweiternden Aufsätzen stehen Organisationsstrukturen im Mittelpunkt sowie die Sozialpolitik des PNF, die seine Legitimität als Volkspartei erhöhen sollte. Die Zeit zwischen 1945 und 1990 war in vielen europäischen Ländern die Epoche der Volksparteien. In diesen Jahrzehnten konnten diese häufig absolute Mehrheiten erzielen, oftmals standen sich zwei große Volksparteien (wie etwa in der Bundesrepublik CDU/CSU und SPD, in Italien der PCI und die die Democrazia Cristiana) gegenüber, gewannen insgesamt 70 % und mehr der Wähler und banden zugleich eine in die Millionen zählende Mitgliedschaft an sich. Die zunehmende Pluralität der deutschen und der italienischen Gesellschaft, der damit verbundene Wertewandel wie auch die Auflösung der bis dato die Volkspateien tragenden sozialmoralischen Milieus führten zu einer bis heute anhaltenden Krise dieses Parteientyps. Im letzten Abschnitt des Buches nehmen drei Beiträge diesen Gedanken auf und versuchen systematische und vergleichende Perspektiven aufzuzeigen. Während zum einen die Hochzeit der Volksparteien nach 1945 aus der Perspektive ihres Niedergangs neu gedeutet wird, entwerfen die abschließenden Texte jeweils für Italien und für Deutschland einen Ausblick auf Gegenwart und Zukunft. Obwohl Historiker für die Zukunft eigentlich nicht kompetent sind, sind das Ende der Ära der Massenparteien und der Beginn einer neuen Phase einer Rekonzeptualisierung des Politischen klar erkennbar, deren weitere Entwicklung und Folgen allerdings noch völlig offen sind.

TEIL 1: WEGE UND MODELLE DER VOLKSPARTEI (1890–1930)

DIE DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATEN Von der sozialen Bewegung zur Massenpartei Thomas Welskopp 1. PIONIERE: DIE ALLGEMEINE (DEUTSCHE) ARBEITERVERBRÜDERUNG VON 1848 Die deutsche Sozialdemokratie verdankte ihre Existenz nicht der Stiftung eines Vereins, der als „Partei“ auftreten bzw. als solche „gebraucht“ werden sollte, durch Ferdinand Lassalle, wie es die Parteifolklore der SPD 2013, zu ihrem vermeintlichen 150jährigen Geburtstag, noch einmal so penetrant wie falsch beschworen hat. Sie hätte vor zwei Jahren eigentlich ihr 165jähriges Jubiläum feiern können. Aber mit der Fixierung auf Lassalle und seinen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) war schon immer in der Sozialdemokratie die Vorstellung verbunden, in diesem Gründungsmoment am 23. Mai 1863 sei ihre „Parteiwerdung“ in einem modernen Sinne zu sehen und dieser Parteibegriff sei mit der straffen zentralistischen Organisation zu identifizieren, die Lassalle den zwölf Delegierten in Leipzig vorschlug – mit sich selbst als auf fünf Jahre gewähltem Präsidenten mit quasidiktatorischen Vollmachten an der Spitze.1 Aber was hieß „Partei“ um 1863, was „Organisation“? Warum nannte sich der ADAV nicht „Partei“, sondern „Verein“? Und war er wirklich so straff organisiert – und wenn nicht, wie funktionierte er dann? Die wirkliche erste organisatorische Verfestigung der sozialdemokratischen Strömungen im demokratischen Spektrum war nicht der ADAV 1863, sondern die Allgemeine (deutsche) Arbeiterverbrüderung von 1848, konstituiert im zeitlichen Nachklang der Märzrevolution im Umfeld von zwei Arbeiterkongressen in Berlin und Frankfurt am Main. Sofort fällt auf, dass der ADAV 1863 vom Namen her an diese frühere Gründung offenbar anschließen wollte – seiner eigenen Konstituierung war die weitgehend schiefgelaufene „zweite“ Arbeiterkongressbewegung in den deutschen Territorien vorangegangen. Die Arbeiterverbrüderung zeigt besser als der ADAV (und auch der nur auf dem Papier), in welchem sozialen und politischen Stellenwert man sich die frühe deutsche Arbeiterbewegung zu denken hat: Entgegen ursprünglich geäußerten Plänen, eine „Arbeiterkammer“ (nach dem Muster des französischen „Arbeitsministeriums“) als „soziales 1

Thomas Welskopp, Diktatur der Einsicht. Die SPD begeht ihren 140. Geburtstag. Was genau kann sie dabei feiern?, in: Berliner Zeitung, 23.05.2003, S. 9; ders., „Die Einigkeit, das ist der Funke, der alles zusammenschmilzt …“ – Die deutsche Arbeiterbewegung von 1863 bis 1890, in: Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863–2013. Katalog zur Großen Landesaustellung 2013 Baden-Württemberg, hg. vom Technoseum Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, Mannheim 2013, S. 77–108.

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Gegenparlament“ zu schaffen, weil Arbeiterinteressen in der seit Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagenden Nationalversammlung nicht vertreten waren, einigte man sich auf die Bildung einer Föderation deutschsprachiger Arbeitervereine – wenn man so will, bedeutete das den Abschied von einer „außerparlamentarischen Opposition“ und die Hinwendung zu einem vorpolitischen Lobbyverband.2 Das Berliner, mit der offiziellen Gründung am neuen Vereinssitz dann Leipziger Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung konnte somit keinerlei Funktion eines politischen Führungsorgans erfüllen. Zwar traten bis zum Frühjahr 1850 insgesamt zwischen 90 und 120 durch autonome lokale Arbeitervereine vertretene Orte mit ihr in Verbindung. 75 lokale Vereine gingen durch ihren Anschluss an das gemeinsame Wanderunterstützungssystem für Handwerksgesellen eine engere institutionelle Beziehung zur Zentrale ein. Die Mitgliederhöchstzahl der Arbeiterverbrüderung soll zwischen 18.000 und 20.000 Personen betragen haben, bei einer beträchtlichen Fluktuation.3 Aber das Zentralkomitee in Leipzig war weit davon entfernt, diese lokale Vereinsbewegung politisch oder auch nur organisatorisch wirklich führen zu können. Es diente mehr oder weniger als Korrespondenzzentrale, die sich bemühte, die überregionale Kommunikation der Lokalvereine aufrechtzuerhalten und zu koordinieren und diesen nicht zuletzt durch ihr vom 3. Oktober 1848 an erscheinendes Publikationsorgan „Die Verbrüderung“, das von Stephan Born redigiert wurde, die Bestätigung zu vermitteln, Teil einer großen gemeinsamen Sache zu sein.4 Ansonsten betrachtete es das Zentralkomitee als seine Aufgabe, weitere nationale Arbeiterkongresse vorzubereiten, auf denen dann die eigentlichen organisationspolitischen Beschlüsse gefasst werden sollten. Aber schon der für Juni 1849 einberufene Kongress kam wegen der politischen Wirren der Reichsverfassungskampagne nicht zustande; der im Februar 1850 in Leipzig abgehaltene Kongress, der wegen der einsetzenden Verfolgung bereits konspirativ zusammenkommen musste, zog dann aus der bisherigen Tätigkeit der Arbeiterverbrüderung ein bitteres, fast resigniertes Fazit.5 Insbesondere sei es ihr nicht gelungen, ihre Agenda auch nur punktuell in den politischen Prozess einzuspeisen. Vielmehr hätte sich die breitere demokratische Bewegung in den revolutionären und nachrevolutionären Konflikten als Konkurrentin um Mitglieder und Sympathisanten erwiesen, deren klare politische Ausrichtung viele Unterstützer von der Arbeiterverbrüderung abgezogen habe.6 Dies alles belegt die große Distanz der Arbeiterverbrüderung von jedem modernen Verständnis von „Partei“. Sie war organisatorischer Ausdruck einer sozialen Bewegung von städtischen Handwerksgesellen, kleinen Meistern und Gewerbetrei2 3 4 5 6

Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 32 f. Zahlen nach: Toni Offermann, Die regionale Ausbreitung der frühen deutschen Arbeiterbewegung 18848/49–1860/64, in: Geschichte und Gesellschaft, 13 (1987), S. 419–447 und 426 ff. Horst Schlechte (Hg.), Die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung 1848–1850. Dokumente des Zentralkomitees für die deutschen Arbeiter in Leipzig, Weimar 1979, S. 24. Vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit (wie Fn. 2), S. 649. Thomas Welskopp, „Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände …“ – Die deutsche Arbeiterbewegung vor 1863, in: Durch Nacht zum Licht? (wie Fn. 1), S. 31–57.

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benden, die sich als „Arbeiterbewegung“ bezeichnete und soziologisch im Kern eine Vereinsbewegung war, welche sich von unten nach oben konstituierte, jeweils in lokalen Verhältnissen wurzelte, aber das über fast sämtliche deutsche Regionen hinweg – eine Lokalbewegung „in allgemeiner Absicht“ also. Auch vom zeitgenössischen Verständnis her konnte die Arbeiterverbrüderung als eine Föderation von Vereinen keine „Partei“ sein, hieß das doch lange im 19. Jahrhundert nicht mehr als „Gesinnungsgemeinschaft“. Und als solche waren den Zeitgenossen seit dem Vormärz nur zwei „Parteien“ geläufig: die des „Umsturzes“ – oder der Revolution – und die der „Beharrung“, die konservativ-monarchischen, nach 1848 dann reaktionären Kräfte, ganz gleich wie ihre organisatorische Verortung und Bindung aussah. Dieses polare Parteiensystem konnte sich beispielsweise im Frankfurter Paulskirchenparlament in inoffizielle Fraktionsgemeinschaften ausdifferenzieren, was nichts daran ändert, dass die Vereine der Arbeiterverbrüderung sämtlich der „Umsturzpartei“ zuzuschlagen waren, ohne dass dies dem Verband irgendein besonderes politisches Profil verliehen hätte. Deswegen auch die Probleme mit den Mitgliedern und Sympathisanten, wenn die „handfeste“ Politik als Konkurrentin um Loyalität und Commitment auftrat. Ebensolche Vorsicht gebietet der Begriff der „Organisation“. Ich werde im Folgenden – wie bereits zuvor – „Organisation“ im Sinne der aktuellen Organisationssoziologie, also in der Bedeutung der „formellen Organisation“ verwenden, dies aber eingedenk der Tatsache tun, dass die Zeitgenossen in der Arbeiterverbrüderung „Organisation“ ganz anders verstanden. Ihre Zielsetzung auf dem Berliner Arbeiterkongress von 1848 bestand in einer „Organisation der Arbeit“, wobei, angelehnt an französische semantische Muster, „Organisation“ nichts formalistischbürokratisch Verbandshaftes bedeutete, sondern tatsächlich auf die Restituierung einer „organisch gewachsenen“ Ordnung, hier auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Arbeit anspielte. Die alte Ordnung sei unter dem Druck der kapitalistischen Kommerzialisierung zerbrochen und atomisiert worden; eine neue, wie ehedem „organische“ Ordnung müsse nun durch ein mehrstufiges System hergestellt werden. Bezeichnenderweise blieb die politische Implementierung eines solchen Systems, was den Konsens der politischen Behörden und der Unternehmer vorausgesetzt hätte, offen. Als Schritt zur Anbahnung einer solchen „Organisation der Arbeit“ galt die „Organisation der Arbeiter“, die aber auch nicht die Formation in Vereinen und eine verstärkte Rekrutierung zu diesen meinte, sondern die lokale Formierung nach Gewerken in Lokalkomitees, die dann über die Durchführung der „Organisation der Arbeit“ zu wachen gehabt hätten – das war eine Neuauflage älterer korporatistischer Vorstellungen, was das „Organische“ in „Organisation“ noch einmal besonders betont. Zugehörigkeit definierte sich hier nicht über voluntaristische Mitgliedschaft, sondern qua beruflicher Zuordnung. Die eigene Verbandsaktivität beschrieb man dagegen als „Assoziation“, nicht als „Organisation“, die Mitglieder bezeichneten sich als „Vereinsgenossen“, und wenn es um interne Regelungen, um Machtverteilung und Leitungspositionen ging, sprach man von „Verfassung“. Das sollte sich bis weit in die 1870er Jahre hinein fortsetzen.7 7

Welskopp, Banner der Brüderlichkeit (wie Fn. 2), S. 647 ff.

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2.„SOZIALE BEWEGUNGEN“, „ORGANISATIONEN“ UND „PARTEIEN“ Als „soziale Bewegung“ verstehe ich einen Modus der Mobilisierung und Aktivierung von Akteuren, die ein identitätsstiftendes sozialkulturelles Merkmal oder eine sozialpolitische Wertewelt teilen und zumeist bereits in vor-organisatorische Primärgruppen und Personennetzwerke eingebunden sind, zu dem Zweck, einen zahlenmäßig mächtigen kollektiven Akteur zu simulieren und diesem in der medialen Öffentlichkeit Gehör und zum etablierten politischen Betrieb Zutritt zu verschaffen, und sei es um den Preis, das zumeist intransigente „politische Establishment“ regelrecht zu sprengen.8 Eine soziale Bewegung ist nicht von vornherein politisch, formiert sich aber stets in politischer Absicht. Sie personifiziert gewissermaßen eine Herausforderung an das politische System. Das kann in die Gründung einer Partei münden, dies ist aber nicht zwingend. Eine soziale Bewegung kommt nie spontan zustande und ist auch keine reine Massenerhebung von unten. Wie gesagt, haben vor-organisatorische Gruppenbildungen, die wie Kristallisationskerne wirken, eine entscheidende Bedeutung. Wo ein solches Vor-Bewegungspotential als Ressource fehlt, ist die Konstituierung einer sozialen Bewegung unwahrscheinlich.9 Ferner aber gibt es in jeder sozialen Bewegung organisatorische Kerne, gleichsam „Mikrozellen“, ohne die die überlokale Koordination, die Mobilisierung der „großen Zahl“, die Kommunikation mit den Medien und der Auftritt auf der politischen Bühne undenkbar wären. Gleichwohl sind soziale Bewegungen von einem Überschuss an Bewegungsenergie über organisatorische Verfestigungen gekennzeichnet. Formelle Institutionen sind nicht selten kurzlebig, es treten konkurrierende formelle Führungszirkel in Erscheinung, und weder eine klare Legitimation durch die Basis noch eine eindeutige Mandatierung sind zu erkennen. Soziale Bewegungen funktionieren nicht über formelle Mitgliedschaften, obwohl es sie bei den organisatorischen Kernen geben mag. In sozialen Bewegungen sind vielmehr Sympathisanten, „Bystanders“, Mobilisierbare und Aktivisten die entsprechenden (informellen) Teilnehmerrollen. Diese können jederzeit wechseln und sind nicht stabil. Aus Sympathisanten, „Bystanders“ und Mobilisierbaren rekrutiert sich die „Masse“ der „großen Zahl“, das jeweilige face-to-face-Publikum, das die soziale Bewegung zur Manifestation ihres außerparlamentarischen politischen Gewichts gegenüber Medien und politischem „Establishment“ wie einen öffentlichen Resonanzraum mobilisiert. Die Aktivisten kommen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, zum Teil kämpfen sie sich als Milieuführer in der Be8

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Thomas Kern, Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, Wiesbaden 2008, S. 122 ff.; Doug McAdam / Sidney Tarrow / Charles Tilly, Dynamics of Contention, Cambridge u. New York 2001, S. 47 ff.; Thomas Welskopp, Anti-Saloon League und Ku Kux Klan: Ressourcenmobilisierung durch „charismatische Verbände“, in: Jürgen Mittag / Helke Stadtlandt (Hg.), Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014, S. 241–268. Vgl. Christian Jansen, Gab es Soziale Bewegungen in „Deutschland“ vor 1871? in: Ebenda, S. 41–60. John D. McCarthy / Mayer N. Zald: The Enduring Vitality of the Resource Mobilization Theory of Social Movements, in: Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of Sociological Theory, New York 2002, S. 533–565, Zitat S. 533.

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wegung nach vorn, basierend auf ihrer Autorität in den vor-organisatorischen Primärgruppen und Netzwerken. Sie „ziehen“ die Bewegung, sorgen für Mobilisierungserfolge und treten gegenüber Medien und Politik als Repräsentanten auf. In der Regel sind dies „charismatische“ Persönlichkeiten, die auch einen „charismatischen“ Führungsstil entwickeln, wobei man sich das Charisma nicht als auf eine singuläre Führungsperson verdichtete Eigenschaft zu denken hat, sondern als ein „demokratisiertes“ Charakteristikum, das viele Aktivisten teilen mögen und das zum Beispiel qua rhetorischer Begabung performativ in Aktion gesetzt wird.10 Die organisatorischen Kerne von Bewegungen sind klar auf die Mobilisierung der Angehörigen und auf die mediale und politische Außenagitation ausgerichtet. Sämtliche Ressourcen werden darauf verwendet. Ein Mitgliedermanagement oder eine auf die Disziplinierung der eigenen Anhängerschaft ausgerichtete Binnenadministration gibt es nicht. Das ist der Unterschied zur „formellen Organisation“, die hauptsächlich auf ebendiese Zwecke ausgerichtet ist. Idealiter umfasst eine formelle Organisation alle Angehörigen – es gibt also keinen „Überschuss“ informeller Zugehörigkeit wie bei Bewegungen. Formelle Organisationen definieren die „Mitgliederrolle“, an die bestimmte „Rollenerwartungen“ geknüpft sind, insbesondere solche an den „Eintritt“ und den „Austritt“ der Mitglieder – bzw. die Einschränkung oder gar Verhinderung des letzteren, zumindest aber die Kontrolle darüber. All das dient der Stabilisierung der formellen Organisation über längere Zeiträume und mittelbar der Aufrechterhaltung der organisationsinternen Hierarchie. Angesichts der Kurzlebigkeit der Arbeiterverbrüderung, die faktisch nur die zwei Jahre zwischen 1848 und 1850 bestand, und angesichts der Schwäche und Fluidität ihrer zentralen Institutionen, die auf Wandel angelegt waren, schließlich angesichts der hohen Fluktuation sowohl von institutionellen Affiliationen vorübergehend angeschlossener Arbeitervereine als auch unter deren Mitgliedschaft lässt sich die Verbrüderung klar dem Muster der sozialen Bewegung und nicht dem der formellen Organisation zuschlagen. Von „Partei“ soll im Folgenden nicht wie im 19. Jahrhundert als „Gesinnungsgemeinschaft“, sondern in einem gängigen soziologischen Verständnis gesprochen werden. Danach sind Parteien formelle Organisationen, die auf politischen Machterwerb und Machterhalt ausgerichtet sind. Parteien können sich im außerparlamentarischen Vorfeld konstituieren und formieren, drängen aber letztlich in das System des etablierten politischen Establishments hinein – und sei es unter der Parole, dieses umzustürzen. Gelingt der Zutritt zum etablierten politischen System – etwa durch Demokratisierungen des Wahlrechts und die Zulassung zu Wahlkämpfen um parlamentarische Mandate und politische Ämter – kommen Parteien erst zu ihrer charakteristischen organisatorischen Form. Hier ist häufig der Übergang von einer „Bewegungsform“ von Parteien, die diesen Namen bislang nur als propagandistische Parole vor sich her getragen haben, zu einer tatsächlichen „formellen Organisationsform“ von Partei zu beobachten. Dazu gehört eine striktere Erfassung und Diszipli10

Thomas Welskopp, Incendiary Personalities: Uncommon Comments on Charisma in Social Movements, in: Jan Willem Stutje (Hg.), Charismatic Leadership and Social Movements. The Revolutionary Power of Ordinary Men and Women, New York/Oxford 2012, S. 164–179.

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nierung der Mitgliedschaft, nicht zuletzt zum Zweck der Ressourcenausstattung mit finanziellen Mitteln, vor allem aber die Ausrichtung der formellen Organisation auf die Durchführung von Wahlkämpfen, die Eliteauslese für Ämter und Mandate sowie die Organisation des parlamentarischen und/oder Regierungsbetriebs. Das führt noch einmal deutlich vor Augen, dass die Arbeiterverbrüderung als soziale Bewegung, nicht aber als Parteibildung anzusprechen ist. Das schmälert freilich nicht ihren politischen Impetus. Wohl aber erlaubt es eine genauere soziologische Einordnung, die auch noch auf die Frühphase ihrer Nachfolger Anwendung findet. Im Fall der Verbrüderung kann man im Beobachtungszeitraum zwischen 1848 und 1850 sogar eine „Entparteipolitisierung“ feststellen, den die angeschlossenen Vereine im Februar 1850 freimütig konstatierten, um umso dringlicher auf die Prinzipien „Selbstorganisation“ und „Selbsthilfe“ durch vereinsgestützte Sozialpolitik zu setzen. So berichtete der Arbeiterverein Halle an der Saale: „Halle Arbeiterverein wurde gegründet im Jahre 1848 den 15. October. Er war im Anfang ein rein politischer Verein, jedoch wurden die Mitglieder bald belehrt, daß auf diesem Felde allein kein Heil für sie erwachse, weshalb sie die politische Tendenz ganz aufgaben und es zu ihrer Hauptaufgabe machten, die materiellen Verhältnisse der Arbeiter zu heben.“11 Die Konkurrenz der revolutionären Strömungen und Ereignisse machen die Blockade einer Parteibildung überaus deutlich – die (soziale) „Vereinsbewegung“ geriet in diesen Jahren immer wieder in Gefahr, durch die Revolution und ihre Nachwehen zerrissen zu werden. So berichteten die Arbeitervereine aus dem besonders bewegten Maingau: Die Schöpfung, Entwickelung, das theilweise Ende und die Wiederherstellung dieser Vereine [des Maingaus] lassen sich kurz und in 3 Epochen fassen, welche heißen: Revolution, Reaktion und Restauration. Als Kinder der Revolution glaubten viele Arbeiter ihrer Mutter treu bleiben zu müssen, besonders als das Bewußtsein reger wurde. So sehen wir sie aus dem bewegten Lebensmeere des Jahres 1848 entsteigen, wir sehen sie im Strome der Zeit des Jahres 1849 theilweise mit fortgerissen und sehen die Trümmer sich wieder sammeln. – Die Septembergeschichte 1848 in Frankfurt a. M., der Belagerungszustand daselbst machten den Verein unmöglich. Die badische Erhebung wirkte theils zertrümmernd, theils lähmend auf den Hanauer und Offenbacher Verein; der Verein zu Darmstadt hatte mehr Glück und wurde weniger von den Stürmen erschüttert. – Sie können aber die Überzeugung haben, daß die Entwickelung der umgestalteten Vereine eine rasche sein wird, da sie, wenn auch mitunter arm an Zahl, doch reich an Erfahrungen durch die jüngste Zeit geworden sind und wir also eines praktischen Wirkens gewiß sein können.12

Das zeigt aber auch gleichzeitig, dass die in dieser und der späteren Formierungsphase entstandenen Vereine der frühen deutschen Arbeiterbewegung ebenfalls weniger als formelle Organisationen, denn als extrem fluide Gebilde einer dynamischen „Vereinsbewegung“ zu sehen sind. 11

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Auszug aus den Protokollen der Generalversammlung deutscher Arbeiter am 20. Februar in Leipzig [1850], in: Dieter Dowe / Toni Offermann (Hg.), Deutsche Handwerker- und Arbeiterkongresse 1848–52. Protokolle und Materialien, Bonn 1983, S. 258; Welskopp, Banner der Brüderlichkeit (wie Fn. 2), S. 210 f. Auszug, S. 263; Welskopp, Banner der Brüderlichkeit (wie Fn. 2), S. 210 f.

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Das gilt selbst für den von Organisationsfetischisten so gepriesenen ADAV. Der entwickelte nämlich entgegen Ferdinand Lassalles Aversion gegen jede unproduktive „Vereinsspielerei“ an der Basis seiner großstädtischen „Gemeinden“ ein reges Vereinsleben, was man als performativen Ausdruck einer sich im Spiel selbst beweisenden „Vereinsbewegung“ deuten sollte. Als der Augsburger Tuchscherergeselle Johann Leonhard Wahl, 36jährig, am 21. Mai 1865 eine Rede anlässlich der Stiftungsfeier des ADAV hielt, rühmte er zwar die „ächt demokratische kraftvolle Verfassung“ des Gesamtvereins, betonte dann aber eindrucksvoll das vereinsmäßige Eigenleben einer durch und durch demokratisch verfassten lokalen Gliederung, der die Bezeichnung „Verein“ nur gesetzlich verwehrt blieb: Bei uns herrscht das freie Wort der Debatte! Dem Geringsten von uns ist das Wort gegönnt; direkt oder auf indirektem Wege, kann und muß jede Frage, sei selbe persönlich oder anonym durch den Briefkasten gestellt, vor öffentlicher Versammlung besprochen und durch Abstimmung entschieden werden; bei Stimmengleichheit wird die Appelation an die höhere Instanz ergriffen und so die Sache zum Austrag gebracht. Wir fürchten keine Kritik, jeder Gegner ist uns höchst willkommen; jedes Problem, das gegnerischerseits in der Arbeiterfrage auftaucht und in der Presse erscheint, wird sofort der Prüfung unterzogen. Außer unserer Literatur werden alle Fragen der Neuzeit pro und contra diskutirt, den Mitgliedern zur Kenntniß gebracht, und somit gewiß eine Bildung angestrebt, die zur Freiheit führen muß.13

Die Arbeitervereine selbst bildeten bis zur Zäsur des Sozialistengesetzes ein soziales Bewegungselement, wurden aber nach 1867 und bis 1878 zu den organisatorischen Kernen einer sozialdemokratischen sozialen Bewegung, die dabei war, zu einer „Partei“ im oben umrissenen Sinn zu mutieren. 3. VON DER „SOZIALEN BEWEGUNG“ ZUR „PARTEIBEWEGUNG“ BIS 1878 Die deutsche Sozialdemokratie wies von den Anfängen bis zum Beginn des Sozialistengesetzes alle zentralen Charakteristika einer sozialen Bewegung auf: eine periodische oder punktuelle, schwer auf Dauer zu stellende Mobilisierung von Teilnehmern, stark fluktuierende Teilnehmerzahlen, face-to-face-Veranstaltungen wie „Volksversammlungen“ als wichtigste Betätigungsform, überlokale und überregionale Vernetzung über Medien, Medienpräsenz als Politikziel, ein Überschuss von „Bewegungselementen“ über organisatorische „Kerne“, schnelle Aufstiegschancen für lokale Milieuführer, die entscheidende Rolle charismatischer Führung, wobei die intensive Redekultur der Sozialdemokratie mit ihrer breiten, jedermann möglichen Beteiligung zu einer „Demokratisierung“ von Charisma führte, der „Eventcharakter“ sozialdemokratischer Veranstaltungen, die immer auch Selbstzweck waren: das performative Ausagieren sozialdemokratischer Subjektvorstellungen, die

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Karl Borromäus Murr / Stephan Resch (Hg.), Lassalles „südliche Avantgarde“. Protokollbuch des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Gemeinde Augsburg (1864–1867), Bonn 2012, S. 161 f.

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eine Art „Selbstermächtigung“ zu politischem Handeln und politischer Bedeutung beinhalteten.14 Als soziale Bewegung war die frühe deutsche Sozialdemokratie „Assoziationsbewegung“. Ich habe sie auch als „Vereinsbewegung“ und ihre politischen Institutionen als „Vereinsparteien“ bezeichnet. Auch Honoratiorenparteien aber hatten nicht selten Landschaften lokaler Vereine als ihre Basis. Die lokalen Vereine mandatierten und entsandten dann führende Persönlichkeiten – Honoratioren – in die politischen Körperschaften. Für die Sozialdemokratie war die „Assoziation“ zu Vereinen, die „Assoziation“ in Vereinen und Versammlungen, dagegen großenteils Selbstzweck. Da das Vereinsgesetz lokale Zweigvereine für die Parteien, sofern diese selbst als Vereine aufgestellt waren, verbot, können die lokalen Arbeitervereine und sozialdemokratischen Vereine nicht als formell organisierte Basisgliederungen einer zentral operierenden Partei angesprochen werden. Dem entsprach auch das innere Funktionieren solcher lokalen Vereine, denen eine Mitgliederkontrolle und -disziplinierung nie gelang, und die eine riesige Mitgliederfluktuation zu beklagen hatten. Aus all diesen Gründen konnten die lokalen Vereine auch lange Zeit nicht als Territorialgliederungen der Partei (oder der Parteifraktionen) funktionieren. Die Vereine dienten wie die so genannten „freien Versammlungen“ vielmehr als die Hauptbetätigungsformen der sozialdemokratischen Bewegung. Durch Vereinstätigkeit und Auftritt auf Versammlungen manifestierten sie zugleich den Anspruch auf volle politische Bürgerrechte und Partizipation in den politischen Körperschaften und schufen sich den Eintritt in die Sphäre der politischen Öffentlichkeit, der durch die Gesetze gedeckt war. Straßendemonstrationen oder die symbolische Besetzung öffentlicher Plätze waren gesetzlich verboten – die für eine soziale Bewegung unerlässliche, medial beobachtete Öffentlichkeit wurde mit den Vereinsgründungen und Versammlungsaufrufen gewissermaßen in einem inneren, ummauerten Schutzraum erzeugt und durch performatives Ausagieren als „eigene“ Sphäre immer wieder aufs Neue reklamiert, symbolisch hervorgehoben und reproduziert. Aus einer „praxeologischen“ Perspektive übten die frühen Sozialdemokraten in den Vereinen und auf den „freien“ Versammlungen Politikformen ein, in einem Verfahren des „doing association“, das sie für die Teilnahme an Wahlen und die spätere parlamentarische Tätigkeit bestens vorbereitete.15 Eine zentrale Funktion für die überregionale Vernetzung dieser an vielen Orten zugleich auftretenden, untereinander aber nur spärlich verkoppelten Assoziationsinitiativen erfüllte die sozialdemokratische Parteipresse. Dabei war der so genannte „Vereinsteil“ der Blätter das wichtigste Instrument, erlaubte er doch den lokalen 14 15

Thomas Welskopp, The Political Man: The Construction of Masculinity in German Social Democracy, 1848–1878, in: Stefan Dudink / Karen Hagemann / John Tosh (Hg.), Masculinities in Politics and War. Gendering Modern History, Manchester/New York 2004, S. 257–275. Thomas Welskopp, Vernetzte Vereinslandschaften. Zur Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie, in: Jürgen Herres / Manfred Neuhaus (Hg.), Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 101–115.

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Initiativen, ihre Aktivitäten als Bestandteil einer größeren, überregionalen, ja, reichsweiten Bewegung darzustellen und damit sichtbar zu machen. Die rasche Gründung von sozialdemokratischen Lokalblättern in den frühen 1870er Jahren, die die nationale Berichterstattung weiter forcierten und sich nicht etwa provinzialisierten, förderte die Vernetzung lokaler Milieus und deren Ausgreifen ins Umland. Zugleich bot die sozialdemokratische Lokalpresse den Protagonisten regionaler oder lokaler Parteimilieus Brotberufe – oder, anders gesagt: stellte die finanziellen Ressourcen für eine Existenz als Berufspolitiker in Zeiten ohne staatliche Diäten und ohne eine üppig gefüllte Parteikasse zur Verfügung.16 1877 waren an den zu dieser Zeit existierenden 41 politischen Zeitungen der vereinigten Sozialdemokratie (Sozialistische Arbeiterpartei) 44 zum größten Teil hauptamtliche Redakteure beschäftigt. 25 dieser Zeitungen, überwiegend Lokal- und Regionalblätter, wurden in 14 zu dieser Zeit bestehenden, oftmals eigens zu diesem Zweck gegründeten Genossenschaftsdruckereien hergestellt.17 Die proliferierende Gründung sozialdemokratischer Lokalblätter in den frühen 1870er Jahren war aber nicht zuletzt eine organisatorische Verlegenheitslösung, um den jeweils sehr wenigen Führungspersönlichkeiten in den lokalen Gliederungen und in den Vereinen eine finanzielle Basis für ihre Aktivitäten zu verschaffen, die sich in der Regel derart häuften, dass an eine „bürgerliche“ Berufstätigkeit, falls sie nicht ohnehin in den Journalismus oder ins Druckgewerbe fiel, zeitlich kaum zu denken war. Das funktionierte mehr schlecht als recht – nicht alle sozialdemokratischen Lokalorgane konnten sich wirtschaftlich tragen. Aber in den vorausgegangenen Jahren vor allem während der Konkurrenz zwischen dem ADAV und der „Eisenacher“ Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Bebel-Liebknecht) hatte man mit reisenden Berufsrednern – die auf Zeit angeheuert wurden und daher auf eine Verlängerung ihres Engagements erpicht waren –, so genannten „fliegenden Agitatoren“, überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht. Auch konnten diese „Reisekader“ die Erfordernisse der „stabilen“ – ortsfesten – Agitation nicht erfüllen, da sie jeweils nur kurz vor Ort weilten. Diese Erfordernisse nahmen aber mit der Territorialisierung der sozialdemokratischen Basismilieus zu – und die Einrichtung der Lokalblätter war eine – höchst unvollkommene – Antwort darauf. Finanzielle Prekarität und ständige Überarbeitung waren charakteristisch für die in den sozialdemokratischen Parteiorganisationen Beschäftigten.18 Diese Grundausrichtung begann sich durch zwei Entwicklungen zu ändern: erstens durch die seit 1867 regelmäßige Teilnahme der sozialdemokratischen Gruppierungen an den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag, dann zum Deutschen Reichstag, die diese Gruppierungen überhaupt erst zur Partei im klassischen Sinn

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Thomas Welskopp, Existenzkampf um Abkömmlichkeit. „Berufspolitiker“ in der deutschen Sozialdemokratie bis zum Sozialistengesetz, in: Lothar Gall (Hg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn u. a. 2003, S. 185– 222. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 444 ff. Ebenda, S. 431 ff.

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machte19, und zweitens durch die zunehmende Verfolgung, die mit Erlass des Sozialistengesetzes die Sozialdemokratie eben jener selbst geschaffenen öffentlichen Sphäre beraubte, in der sie sich als soziale Bewegung entfaltet hatte und in der sie als soziale Gruppierung auch lebensweltlich ihren essentiellen Interaktionsraum besaß.20 4. VON DER „MILIEUPARTEI“ ZUR MILIEUABGESTÜTZTEN „MASSENPARTEI“ VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG Die zwölf Jahre des Sozialistengesetzes (1878–1890) brachten dann drei Veränderungen: erstens die „Parlamentarisierung“ der Führungsgruppe, aus Selbstschutz, aber auch als Zeichen einer neuartigen organisatorischen Verselbständigung einer professionellen Parteispitze gegenüber der Basis; zweitens die „Lokalisierung“ und „Verlebensweltlichung“ der Parteibindungen – aus der „Assoziationsöffentlichkeit“ urbaner Zentren wurden Nachbarschaftsnetzwerke informeller Natur, eine Art „sozialdemokratisches Milieu“ entstand, vor allem an den schon bisherigen Hochburgen der Bewegung; schließlich die Reformulierung des Organisationsbegriffs, der jetzt strategisch auf die planmäßige Durchführung der Wahlkämpfe ausgerichtet wurde. Mit 495.000 (1877) und 437.000 (1878) Stimmen bzw. 9,1 oder 7,6 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen war die Sozialdemokratie vor dem Sozialistengesetz sicher noch keine Massenpartei; sie wurde es, aufgrund der Wahlergebnisse, ausgerechnet während der Laufzeit des Ausnahmegesetzes. 1890 erreichte die Sozialdemokratie 1,4 Mio. oder 20 Prozent der abgegebenen Stimmen.21 In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bedeutete „Massenpartei“ noch nicht die organisatorische Durchdringung einer in die Millionen zählenden Mitgliedschaft „von oben“ mit den in der Organisationssoziologie vorgegebenen Zielen einer Überwachung der Erwartungen an die Mitgliedschaft (hier vor allem: Zahlmoral der Mitglieder) bzw. der Disziplinierung der Mitglieder in den Basiseinheiten. Vielmehr existierten eine Reihe urbaner sozialdemokratischer Milieus, eine sich zunehmend in Berlin verselbständigende professionelle Parteiführung und Parteielite und Ortsgliederungen mit variierender Mobilisierungskraft nebeneinander. Die lokalen urbanen Milieus blieben weiterhin beruflich sehr heterogen mit starkem handwerklichen Schwerpunkt und bestanden aus lebensweltlichen Nachbarschaftsbeziehungen, die zunehmend durch ein kommerzielles Parteimilieu, gebildet etwa aus den sprichwörtlichen sozialdemokratischen Gastwirten, aus Konsumvorständen etc., integriert wurden. Die lokalen Milieus bildeten die territoriale Gliederung der deutschen Sozialdemokratie ab. In den Wahlen vom Januar 1912 erreichten die Sozialdemokraten ihr bestes Ergebnis vor dem Ersten Weltkrieg, als sie 4,2 Mil19 20 21

Klaus Erich Pollmann, Arbeiterwahlen im Norddeutschen Bund 1867–1870, in: Geschichte und Gesellschaft, 15 (1989), S. 164–195. Vernon L. Lidtke, The Outlawed Party. Social Democracy in Germany 1878–1890, Princeton 1966. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit (wie Fn. 2), S. 494 ff.

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lionen Stimmen – ein Anteil von 35 Prozent – gewannen und mit 110 Sitzen die größte Fraktion im Reichstag stellten. Erst allmählich gelang eine organisatorische Verdichtung des sozialdemokratischen Milieus, das sich in ähnlicher Struktur mit regionalen Schwerpunkten in vielen urbanen Zentren des Deutschen Reichs herausbildete, ohne dass zwischen diesen regionalen Ausprägungen mehr als informelle strukturelle Koppelungen bestanden. Diese Verdichtung erfolgte auf der einen Seite über die Bildung von territorialen Basiseinheiten der Mitgliedschaft, sobald die Vereinsgesetze das erlaubten, also durch die Gründung von „Ortsvereinen“, die anderswo, beispielsweise in Berlin, „Abteilungen“ genannt wurden. Das gab den Charakter dieser Basiseinheiten treffender wieder als der gewohnte Begriff des Vereins, da diese Lokaleinheiten wenig mit den voluntaristischen Assoziationen der 1860er und frühen 1870er Jahre gemein hatten. Die „Ortsvereine“ dienten der Disziplinierung der Mitglieder in Form der amerikanischen „politischen Maschinen“, wenn auch mit demokratischeren internen Umgangsformen. Sie dienten ferner der Ressourcenbündelung für Aktionen wie Wahlkämpfe, da sie die Überwachung der Zahlungsmoral erleichterten; der Parteikassierer, der die Mitglieder turnusmäßig zuhause aufsuchte, wurde zu einer Erscheinungsform in der Partei, die bis in die 1980er Jahre fortexistierte (und an die ich mich deshalb auch persönlich noch erinnern kann). Zum anderen entwickelten sich die Freien Gewerkschaften in spannungsreicher Arbeitsteilung zur Partei und dienten – ebenso wie die sozialdemokratisch orientierten Konsumgenossenschaften – der Partei als Vorfeldorganisationen, die zwischen einer milieuartig abgestützten sozialdemokratischen lebensweltlichen Grundeinstellung an der territorial verdichteten Basis und der Bindung an die Sozialdemokratische Partei vermittelten. Das Ortsvereinsmodell der SPD war spürbar der Struktur der gewerkschaftlichen „Zahlstellen“ nachempfunden. Eine wichtige Funktion bei der netzwerkförmigen Verdichtung informeller Milieustrukturen kam dabei den eigentlich aus den Gewerkschaften heraus gebildeten „Arbeitersekretariaten“ zu, die Klaus Tenfelde so überzeugend erforscht hat.22 Als „Clearingstellen“ für arbeitsrechtliche Probleme gedacht, bevor es ein sozialstaatliches Arbeitsrecht gab, erfüllten die „Arbeitersekretariate“ auch Aufgaben für eine bedürftige Klientel, die in den 1860er Jahren noch sozialistische Rechtskonsulenten und Winkeladvokaten wie etwa Carl Wilhelm Tölcke wahrgenommen hatten.23 Sie erledigten für ihre Klienten wichtige Korrespondenz, etwa gegenüber Behörden, vermittelten z. B. in Mietstreitigkeiten und Kreditangelegenheiten und dienten zuweilen auch als Rechtsbeistand. Sämtliche Arbeitersekretäre der Freien Gewerkschaften – darunter prominent auch Friedrich Ebert, der Heidelberger Sattlermeister, der in Bremen dieses Amt ausübte – waren Sozialdemokraten, die nicht selten in führende Positionen in der Partei aufstiegen.

22 23

Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 21996. Arno Herzig, Der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein in der deutschen Sozialdemokratie. Dargestellt an der Biographie des Funktionärs Carl Wilhelm Tölcke (1817–1893), Berlin 1979.

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Auch die Arbeitersekretäre – wie man an der Biografie Friedrich Eberts gut sehen kann – standen stellvertretend für die massive Überforderung der unterbesetzten und chronisch unterfinanzierten lokalen Partei- und Gewerkschaftsorganisation und für die gesundheitsgefährdende Überarbeitung der wenigen fest angestellten Funktionäre.24 Die Verfestigung einer wohlgenährten „Parteioligarchie“, wie Robert Michels in seiner berühmten, der deutschen Sozialdemokratie abgelesenen Studie 1911 behauptet hat, lässt sich jedenfalls für die in Sachen Mitglieder und Wählerschaft so beeindruckend expandierende Vorkriegspartei empirisch nicht unterfüttern.25 Auch wenn es sich nicht im Einzelnen quantifizieren lässt, denke ich, dass diese frühe Verdichtung des sozialdemokratischen Milieus auch zu seiner Ausdehnung, zur Rekrutierung neuer Mitglieder, Sympathisantenkreise und Wählerschichten, beigetragen hat, da z. B. neue Gewerkschaftsmitglieder ungeachtet ihrer vorherigen politischen Orientierung in das Umfeld der Partei gesogen wurden und sich ganz praktisch, etwa aufgrund der Erfahrungen mit einem aktiven Arbeitersekretär, von den Vorzügen dieser neuen politischen Bindung überzeugen konnten. Aber natürlich machten auch die puren Wahlerfolge sexy, und wenn man sich als Stimmrechtinhaber aus nachvollziehbaren Gründen gern auf der Seite der Gewinner sah, dann wurde die SPD vor dem Ersten Weltkrieg allein schon wegen ihrer Erfolge bei den Wahlen zu einem Anziehungspunkt für Neu-, Erst- und Wechselwähler.26 5. DIE DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATEN: VON DER „SOZIALEN BEWEGUNG“ ÜBER DIE „VEREINSPARTEI“ UND „MITGLIEDERPARTEI“ ZUR „MILIEUPARTEI“ Die deutsche Sozialdemokratie konnte nur in kleinstem Ausmaß auf „Honoratioren“ zurückgreifen, die den Zugang zum politischen System bereits besaßen oder zumindest in einem erweiterten Sinn zum politischen Establishment gehörten. Sie musste ihr Führungspersonal aus sich selbst hervorbringen, eine „organische Elite“ schaffen, wie Antonio Gramsci dies später genannt hat. Auch das ist ein Grund, warum die Sozialdemokratie als soziale Bewegung entstand, deren Verhältnis zur (partei-)politischen Sphäre auch nach Gründung des ADAV lange nicht feststand, was sich auch gut an der windungsreichen Formierung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aus dem Vereinstag deutscher Arbeitervereine (seit 1868 Verband deutscher Arbeitervereine) zwischen 1863 und 1869 ablesen lässt. Allerdings war diese soziale Bewegung keine Massenbewegung, wie wir sie heute kennen, sondern 24 25 26

Walter Mühlhausen / Friedrich Ebert, Sozialdemokrat und Staatsmann, Leinfelden-Echterdingen, 2010. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 41989 (zuerst Leipzig 1910). Stefan Berger, Social Democracy and the Working Class in Nineteenth and Twentieth Century Germany, Harlow/London u. a. 2000, S. 91 ff.

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eine „Vereinsbewegung“, die sich in den Arbeitervereinen ihre demokratischen „Muster-“ und „Minirepubliken“ schuf, politische Verfahren einübte, aufstrebendem Führungspersonal eine rhetorische Bühne bot und somit den Keim für eine „echte“ Parteibildung pflanzte. Bis zum Sozialistengesetz waren dies „Vereinsparteien“, mit den lokalen Arbeitervereinen als Basis, wenn die Organisationen auch vor allem zu Wahlkampfzeiten weit über ihre Binnengrenzen hinaus auf eine milieuverwandte Sympathisantenschaft und potentielle Wählerklientel ausgriffen. Aber den Vereinen oblag die Aktivierung und Mobilisierung der Mitglieder. Auch das einfache Mitglied einer sozialdemokratischen Partei wurde als Aktivist konzipiert; sofern „Massen“ rekrutiert werden konnten, wurden auch an sie aktive Mitgliederrollen als Erwartungen gerichtet. Das unterschied das sozialdemokratische Prinzip der Mitglieder- und Massenintegration von dem einer – etwa kommunistischen – Kaderpartei. Das Ausnahmegesetz führte zum einstweiligen Zusammenbruch der „Vereinspartei“. Die Sozialdemokratie differenzierte sich in enger umrissene Führungszirkel, die durch den Abgeordnetenstatus vor Verfolgung geschützt waren oder sich dieser durch das Exil entzogen, und nunmehr eher informelle lebensweltliche urbane Milieus aus, Nachbarschafts- und Kollegennetzwerke, die die Basis für die spätere territoriale Gliederung der Partei legten. Diese kennzeichnete, nach Wiederzulassung der Vereine, die starke Expansion der Partei bis zum Ersten Weltkrieg. In diesem Gerüst wuchs die deutsche Sozialdemokratie zur „Massenpartei“ heran, blieb als solche aber eine auf Aktivierung ausgerichtete „Mitgliederpartei“. Das änderte sich noch einmal in der Zwischenkriegszeit, in der man eine stärkere organisatorische „Versäulung“ des sozialistischen Milieus und damit trotz gewaltig gesteigerter Anstrengungen zur organisatorischen Integration – bei gleichzeitig abnehmenden Bemühungen um Mobilisierung – eine tendenzielle Entkoppelung prinzipiell sympathisierender lokaler Milieus beobachten kann. Aber auch jetzt gab es keine Abkehr von dem grundsätzlichen Prinzip einer „Massenpartei“ als „Mitgliederpartei“ – und keine Hinwendung zur Massenführung durch eine Kaderpartei.

ORGANISIEREN, UM POLITIK ZU MACHEN Die Sozialistische Partei Italiens von ihren Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg Maurizio Punzo* Diejenigen, die auf dem im August 1892 in Genua abgehaltenen Kongress die Sozialistische Partei ins Leben riefen und sie vorläufig Partito dei lavoratori italiani (Partei der italienischen Arbeiter) nannten, orientierten sich ganz offenkundig am Modell der Democrazia sociale di Germania, wie die SPD damals einer wortwörtlichen Übersetzung zufolge bezeichnet wurde.1 In dem in Genua beschlossenen Programm bekräftigte man in aller Klarheit, dass die Arbeiter „ihre Emanzipation allein durch Vergesellschaftung der Arbeitsmittel (Böden, Bergwerke, Betriebe, Transportmittel usw.) sowie durch die gemeinschaftliche Verwaltung der Produktionsmittel erlangen“ könnten. Dieses Ziel könne nur erreicht werden durch die Bewegung des Proletariats, organisiert in einer von den anderen Parteien unabhängigen Klassenpartei, die sich auf zwei Ebenen zu entfalten hat: 1. im Kampf der Berufsgruppen zugunsten unmittelbarer Verbesserungen der Situation der Arbeiter (Arbeitszeiten, Löhne, Fabrikordnungen, usw.), für den die Arbeitskammern (Camere del lavoro) und andere Handwerks- und Berufsverbände (Associazioni di arti e di mestieri) zuständig sind; 2. über einen umfassenderen Kampf, der auf die Eroberung der öffentlichen Machtmittel (Staat, Kommunen, öffentliche Verwaltungen usw.) abzielt, um diese von Instrumenten der Unterdrückung und Ausbeutung, wie sie heute auftreten, in ein Instrument zur wirtschaftlichen und politischen Enteignung der herrschenden Klasse zu verwandeln.2

Die neue Partei, die jedwedes Konzept eines gewaltsamen Umsturzes ausdrücklich ablehnte, hatte es ohnehin nicht nötig, sich eine revolutionäre Struktur zu geben. Im Gegenteil, sie beabsichtigte wirtschaftlichen und politischen Kampf deutlich voneinander zu trennen, indem erstgenannter an jene Arbeitervereine delegiert wurde, die man heute mit dem damals noch nicht gebräuchlichen Ausdruck „gewerkschaftlich“ (sindacali) bezeichnen kann.

* 1

2

Übersetzung Fabio Guidali, überarbeitet von Christian Jansen und Jan-Pieter Forßmann. I Socialisti Italiani ai Socialisti Tedeschi. Alla Democrazia Sociale di Germania nel Congresso di Halle, in: Cuore e Critica, vom 2. Oktober 1890, S. 209–210. Zum Text des Statuts, der auch in der Zeitschrift La Montagna (Napoli, 28. September 1890) veröffentlicht wurde, vgl. Ernesto Ragionieri, Socialdemocrazia tedesca e socialisti italiani 1875–1895. L’influenza della socialdemocrazia tedesca sulla formazione del Partito Socialista Italiano, Mailand 1976, S. 241– 242. Das Programm des Partito dei lavoratori, das in der Zeitschrift Lotta di Classe (Mailand, 20.–21. August 1892) veröffentlicht wurde, auch bei Luigi Cortesi, La costituzione del Partito Socialista Italiano, Mailand 1962, S. 260–261.

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Die frühen 1890er Jahre waren für die Organisation der Arbeiterbewegung eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Am 1. Oktober 1891 war in Mailand die erste Arbeitskammer (Camera del lavoro) gegründet worden, die zum Prototyp etlicher weiterer Gründungen avancierte. Der Zweck dieser neuen Organisationen bestand darin, sämtliche Arbeiter- und Gesellenbünde einer bestimmten Stadt zu vereinen. Als im Sommer 1893 der erste nationale Kongress der Arbeitskammern stattfand, existierten bereits zwölf von ihnen. Diese schufen sich einen Dachverband, der sich in den Folgejahren durch zusätzliche Beitritte vergrößerte. Im Jahr 1891 wurde ebenfalls in Mailand die Associazione dei metallurgici (Metallarbeiterverband) gegründet, der Kern der späteren FIOM, also der Federazione degli impiegati e operai metallurgici (Verband der Angestellten und Arbeiter der Hütten- und Metallindustrie), welche sich der bereits vorhandenen Associazione nazionale dei tipografi (Nationale Vereinigung der Buchdrucker) zur Seite stellte, aus der 1893 die Federazione del Libro (Buchverband) hervorging. Erstgenannte Vereinigung diente in den folgenden Jahren als Vorbild für die anderen berufsspezifischen Arbeitnehmerorganisationen. Parallel zum Wachstum der Sozialistischen Partei zeichnete sich somit auch im gewerkschaftlichen Bereich die Doppelstruktur der italienischen Arbeiterbewegung ab, die auf Arbeitskammern und nationalen Branchengewerkschaften (Federazioni di mestiere) beruhte. Parallel zur Entwicklung dieser Organisationsformen stellte sich in den kommenden Jahren die Frage ihrer wechselseitigen Koordinierung. Gelöst wurde dieses Problem zunächst über die Schaffung des Segretariato della resistenza (Widerstandssekretariat) im Jahr 1902 und anschließend, nachdem dieses sich offenbar als ungeeignet für seine Aufgaben erwiesen hatte, durch die Gründung der Confederazione generale del lavoro (Allgemeiner Gewerkschaftsbund, CGL) und die Wiederherstellung der Federazione nazionale dei lavoratori della terra (Nationaler Verband der Landarbeiter, kurz: Federterra) im Jahr 1906, nach einer Periode der Krise. Charakteristisch für die sozialistische Bewegung Italiens war nämlich, seit ihren Anfängen, ihre starke Präsenz im ländlichen Bereich und vor allem unter lohnabhängigen Landarbeitern (braccianti), deren Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse mehr und mehr denjenigen der Fabrikarbeiter glichen. Mit dem auf dem Kongress des Jahres 1892 gebilligten Programm hatte der Partito dei lavoratori italiani vor allem dank Filippo Turati den Sozialismus deutlich bejaht. Damit hatte die Partei einen bemerkenswerten Schritt nach vorne getan, war ihre Vorgängerpartei, der Partito operaio italiano (Italienische Arbeiterpartei, POI), doch immer an die Radikaldemokratische Partei (Partito democratico radicale) gebunden geblieben. Vor allem aus Zeitmangel wurde jedoch kein vergleichbarer Durchbruch mit Blick auf das Parteistatut erzielt: Die Delegierten hatten nicht länger in Genua bleiben können, und so war es nicht einmal möglich gewesen, mit der Diskussion über dieses wichtige Thema überhaupt zu beginnen. Daher verabschiedete man einen Text, der das Statut des Partito operaio italiano fast wortgetreu übernahm und lediglich die Vorschrift änderte, wonach sämtliche Mitglieder lohnabhängige Arbeiter sein mussten. Da dem POI aber unmittelbar nicht einzelne Personen, sondern nur politische oder gewerkschaftliche Vereine angehören konnten, behielt auch der Partito dei lavoratori anfänglich dieselbe Organisationsform

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bei, die im vorangegangenen Jahrzehnt entwickelt worden war, als man politische Aufgaben noch nicht deutlich von gewerkschaftlichen getrennt hatte. Dies erwies sich aber für die neuen Gegebenheiten der Arbeiterbewegung als ungeeignet und ohnehin als unvereinbar mit dem sozialistischen Programm.3 In den ersten Jahren ihrer Existenz bestand die Sozialistische Partei folglich aus sehr unterschiedlichen Zusammenschlüssen, nämlich aus Arbeiterbünden, politischen Vereinen sowie „historischen“ Organisationen wie das Mailänder Consolato operaio (Arbeiterkonsulat), die sich dazu entschlossen hatten, die Radikaldemokratische Partei zu verlassen, um dem Sozialismus zu folgen. Die sozialistischen Führer stellten sich unverzüglich der Aufgabe, die Frage der Parteimitgliedschaft klarer zu definieren. Man setzte stärker auf individuelle Mitgliedschaften, um so die Partei klarer von den gewerkschaftlichen Vereinen zu trennen. Einer der Gründe dafür lag in dem Bestreben, die Gewerkschaften vor repressiven Maßnahmen der staatlichen Exekutive zu bewahren, die eigentlich gegen die Partei gerichtet waren. Als die Regierung Crispi im Oktober 1894 zu solchen Maßnahmen griff, bedeutete das Dekret zur Auflösung der Partei zugleich das Verbot aller Vereine, die der Partei angehörten, darunter auch der Gewerkschaften. Der Parteitag, der im darauffolgenden Januar in Parma heimlich zusammentrat und sich endgültig für den Namen Partito socialista italiano (PSI, Italienische Sozialistische Partei) entschied, beschloss die Änderung des Statuts und damit die Anwendung des Prinzips der individuellen Mitgliedschaft. Dieses Prinzip brachte nunmehr eine klare Trennung der politischen von den gewerkschaftlichen Strukturen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung mit sich.4 Die Hoffnung aber, auf diese Weise den Gewerkschaften erneut auf den PSI zielende Unterdrückungsmaßnahmen zu ersparen, erfüllte sich nicht. Im Mai 1898, als über nahezu ganz Italien der Belagerungszustand verhängt wurde, teilten die Camere del lavoro das Schicksal der Sozialistischen Partei und vieler anderer politischer Assoziationen, nicht nur der extremen Linken, sondern auch der gegenüber dem laizistisch-liberalen Staat unversöhnlich auftretenden („intransigenten“) Katholiken: Sie wurden aufgelöst. Tatsächlich hatte sich allerdings ein beachtlicher Schritt hin zur eindeutigen Abtrennung der Partei von den Gewerkschaften ereignet, obgleich die Entscheidung auf dem Parteitag von Parma, allein für sich genommen, die Frage des künftig

3

4

Cortesi, La costituzione del Partito Socialista Italiano (wie Fn. 2). Vgl. auch ders., Il socialismo italiano tra riforme e rivoluzione. Dibattiti congressuali del Psi 1892–1921, Bari 1969, S. 1–24; Gastone Manacorda, Il movimento operaio italiano attraverso i suoi congressi. Dalle origini alla formazione del Partito socialista (1853–1892), 3. Aufl., Rom 1971, S. 315–354; Letterio Briguglio, Turati 1892. Origini e caratteri del PSI, Mailand 1992. Zum Partito operaio vgl. Maria Grazia Meriggi, Il Partito Operaio Italiano. Attività rivendicativa, formazione e cultura dei militanti in Lombardia (1880–1890), Mailand 1985; zur Partei der Radikalen: Alessandro Galante Garrone, I radicali in Italia (1849–1925), Mailand 1973. Der offizielle Bericht über den Kongress in Parma findet sich in: Lotta di Classe, 19.–20.1.1895. Vgl. auch Noi, La riunione socialista di Parma, in: Critica Sociale, 5,2 (16.1.1895), S. 23–24, und Cortesi, Il socialismo italiano tra riforme e rivoluzione (wie Fn. 3), S. 42–46.

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zu regelnden Verhältnisses zwischen den beiden Instanzen der sozialistischen Arbeiterbewegung noch nicht lösen konnte. Seit der Entstehung der Camere del lavoro hatten sich die Sozialisten durchaus die Frage nach der politischen Rolle, ferner der Funktion dieser Organisationen gestellt, waren jene neuen Institutionen doch gegründet worden, um Aufgaben wie Stellenvermittlung und Berufsausbildung zu übernehmen, die eigentlich kaum mit der ideellen Vorstellung vom Klassenkampf zu vereinbaren waren. Nicht umsonst unterstützten daher die Radikaldemokratische Partei und viele Gemeindeverwaltungen, zum Beispiel in Mailand, die Camere del lavoro, denen sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Nutzens einen jährlichen Zuschuss gewährten. Da die Camere del lavoro innerhalb der Arbeiterbewegung die wichtigsten Institutionen zur Vertretung der ökonomischen Interessen der Arbeiter waren, mussten die Sozialisten nicht nur darauf zielen, deren Entstehung und Entwicklung zu fördern und die Arbeitnehmer zum Beitritt in diese Institutionen zu ermutigen, sondern auch ihre Leitung zu übernehmen. Gleichwohl waren sie der Meinung, dass sich die Arbeitskammern nicht zum Sozialismus bekennen und Arbeitnehmern jedweder politischen Orientierung und jedweden religiösen Glaubens offen stehen sollten. Im Einklang damit widersetzten sich die Sozialisten, als die Leghe cattoliche del lavoro (Katholische Arbeiterbünde) entstanden, konsequent der Ausweitung kommunaler Subventionierung auf diese Organisationen, da diese sich nur an die katholische Arbeiterschaft wandten.5 Die Camere del lavoro wurden, wie auch immer, überwiegend von Sozialisten gebildet und geleitet, sodass sich die Konkurrenzkämpfe innerhalb der Partei, die bald zwischen Reformisten und Revolutionären um ideologische wie politische Führerschaft ausbrachen, ebenso in den Arbeitskammern widerspiegelten. Die enge Bindung, die sich zwischen der Sozialistischen Partei und der Arbeiterbewegung etablierte, war kein Selbstläufer. Sie war das Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung und daraus resultierender Propaganda, Organisationsformen und programmatischer Zielsetzungen, über welche der Drang nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit mit der Forderung nach ökonomischen wie rechtlichen Verbesserungen und gesetzlichen Reformen verknüpft wurde. 5

Diese kompromisslose Haltung änderte sich später allerdings. Die Sozialisten im Mailänder Stadtrat hatten sich immer der Subventionierung der Lega cattolica del lavoro widersetzt, aber der im Jahr 1914 gewählte sozialistische Gemeinderat entschied sich dafür, die Unterstützung nicht nur der Camera del lavoro und der Unione sindacale milanese zu gewähren, die dem revolutionären Syndikalismus anhingen, sondern auch dem Katholischen Arbeiterbund. Turati war derjenige, der dem Gemeinderat eine Änderung des ersten von den Sozialisten vorgelegten Haushaltsplans vorschlug, mit der man erklärte, dass der Zuschuss „Anstalten und Dienstleistern“ gewährt werden müsse, „durch die die organisierten Arbeiter für die Besserung der wirtschaftlichen Situation der Arbeiterklasse sorgen“. Der Bürgermeister Caldara stimmte zu und ergänzte, dass die finanzielle Hilfe den Organisationen gewährt werden müsse, „die sich auf dem Boden des Klassenkampfes befinden, aber nicht weil sie einen klassenbedingten Widerstand leisten“. Außerdem wies er darauf hin, dass auch die Lega del lavoro einen Zuschuss aus seinem Fonds zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erhalten hatte. Vgl. Maurizio Punzo, Un Barbarossa a Palazzo Marino. Emilio Caldara e la Giunta socialista (1914–1920), Mailand 2014, S. 97–98.

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Hierüber kam es innerhalb der Sozialistischen Partei zu einer Debatte, die Mitte der 1890er Jahre begann und anlässlich des Parteitags in Rom im September 1900 mit der Annahme eines „Minimalprogramms“ (programma minimo) endete. Dabei handelte es sich um ein Verzeichnis möglicher Reformen, deren Auflistung jedoch erklärtermaßen lediglich als beispielgebend zu betrachten war. Außerdem setzte sich nunmehr die Überzeugung durch, die während des harten Oppositionskampfes gegen die reaktionären Regierungen Francesco Crispis, Antonio Starabba Di Rudinìs und Luigi Pelloux’s herangereift war, wonach das erste zu erkämpfende wie zu verteidigende politische Ziel die Freiheit, als unentbehrliche Voraussetzung für die Entwicklung der Arbeiterbewegung und der Sozialistischen Partei selbst, war.6 Die Teilnahme an Wahlen bot ohne jeden Zweifel eine besonders wichtige Grundlage zur sozialistischen Partizipation am politischen und sozialen Leben. Die Wahlsysteme wirkten sich daher unmittelbar sowohl auf die Parteistruktur als auch auf bedeutende politische Entscheidungen aus, beispielsweise wenn es um Bündnisse mit anderen Parteien ging. Nach den Wahlrechtsreformen zunächst auf nationaler, später auf kommunaler und provinzialer Ebene (1882 und 1888) genossen allein männliche Bürger, die lesen und schreiben konnten, das Recht zu wählen. Bei den Wahlen zum italienischen Abgeordnetenhaus galt das System der absoluten Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, d. h., nach dem ersten Wahlgang fand eine Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten statt, falls niemand die Mehrheit für sich hatte gewinnen können. Den Sozialisten standen drei Alternativen offen: entweder sowohl beim ersten Durchgang als auch bei der Stichwahl alleine zu kandidieren oder von Anfang an eine gemeinsame Kandidatur mit den „verwandten“ Parteien – Radikale und Republikaner – zu vereinbaren oder ihre Stimmen bei der Stichwahl einem „verwandten“ Kandidaten zukommen zu lassen, um diesem möglichst zum Sieg zu verhelfen. Bei den Kommunalwahlen konnte jeder Wähler Stimmen für vier Fünftel der ausgeschriebenen Sitze abgeben. Dieses Verfahren garantierte einerseits immer das Vorhandensein einer zumindest kleinen Oppositionsfraktion im Gemeinderat, andererseits eine breite Mehrheit derjenigen Wahlliste, die für ihre jeweiligen Kandidaten bereits eine relative Mehrheit hatte gewinnen können. Für die Provinzialwahlen galt noch ein anderes Wahlsystem: Jeder aus mehreren Gemeinden bestehende Bezirk (mandamento) wählte einen Provinzialrat. Auch hier lag es für die Parteien auf der Hand, Koalitionen mit „verwandten“ Gruppierungen einzugehen, es sei denn, man glaubte stark genug zu sein, um alleine zu gewinnen, oder dass es einem schlicht unmöglich erschien, ein Bündnis mit den anderen zu schließen.7 Eine der ersten Entscheidungen, die die Sozialistische Partei demnach zu fällen hatte, war die zwischen transigenza (Nachgiebigkeit, d. h. Kompromissbereit6 7

Congresso Nazionale del Partito Socialista Italiano: Roma, 8-9-10 settembre 1900, Il programma minimo socialista. Relazione (Filippo Turati, Claudio Treves, Carlo Sambucco), Milano, ohne Datum. Zum Bericht vgl. auch Critica Sociale, 10,17 (1.9.1900), S. 258–259. Zum italienischen Wahlsystem vgl. Pier Luigi Ballini, Le elezioni nella storia d’Italia dall’Unità al fascismo. Profilo storico-statistico, Bologna 1988 und Maria Serena Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 a oggi, Rom/Bari 1996.

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schaft) oder intransigenza (Unnachgiebigkeit, im Sinne eines dogmatischen Alleingangs): War es von Nutzen, ein Bündnis mit den „verwandten“ linken Parteien, also Radikalen oder Republikanern, zu schließen? Oder war die Aufstellung eines eigenen Kandidaten bzw. einer eigenen Wahlliste vorzuziehen? Vordergründig wirkte sich eine solche Entscheidung auf die Parteistruktur nicht aus, aber letzten Endes entsprachen unterschiedlichen politischen Strategien unterschiedliche Organisationsmodelle. Die Reformisten, deren führender Vertreter Filippo Turati war, plädierten für ein Bündnis mit Radikalen und Republikanern, um zunächst ein liberales System im Staat durchzusetzen und zu wahren, und um andererseits im Parlament diejenigen liberalen Regierungen zu unterstützen, die gesetzlich zugesicherte Grundfreiheiten auch der Arbeiterbewegung zugestanden: die Versammlungs-, Vereins- und Pressefreiheit sowie das Streikrecht. Seit der Unterdrückung der Fasci siciliani durch die Regierung Crispi 1894 kam Turati zu der Einsicht, dass es notwendig war, sich mit Radikalen und Republikanern zu verbünden, um politische Freiheiten zu gewinnen und zu verteidigen. Auf den sozialistischen Parteitagen stellte sich aber heraus, dass er sich mit dieser Meinung noch in der Minderheit befand. Die Mehrheit gestand in Sachen Wahlbündnissen allein so viel zu, dass nur bei Stichwahlen die Kandidaten einer „verwandten“ Partei von Fall zu Fall unterstützt werden durften. Als die Regierung Rudinì im Mai 1898 den Repressionskurs von oben verschärfte, änderte sich die Situation grundlegend und es wurde ermöglicht, sich anlässlich der Kommunalwahlen 1899 und der Abgeordnetenhauswahlen 1900 mit den anderen linken Parteien auf Kandidaten zu einigen. Nicht alle im PSI glaubten aber, dass dies eine endgültige Entscheidung war. Anders als die reformorientierte Mehrheit waren die Revolutionäre nicht überzeugt, dass die Sozialisten die liberale Wende verteidigen und stärken sollten, die die Regierung Zanardelli im Februar 1901 einleitete. Die Einschätzung der politischen und ökonomischen Lage durch die Reformisten unterschied sich ziemlich stark von derjenigen der revolutionären Strömung. Dementsprechend verschieden wurde die Funktion der Partei, ihre Rolle in der Gesellschaft und in den Institutionen konzipiert. Aus der Perspektive der Reformisten war es unerlässlich, dass jedes Glied innerhalb der Partei seine Eigenständigkeit beibehielt: Die Parlamentsfraktion sollte unabhängig von der Parteiführung über ihr Verhalten im Abgeordnetenhaus beschließen, die Ortsgruppen, die auf der Ebene der Gemeinden und Wahlkreise agierten, sollten ihre eigenen Entscheidungen über politische Allianzen treffen können. Die Revolutionäre, die die Propagierung von Prinzipien für die Hauptaufgabe der Partei hielten, meinten dagegen, dass die organisatorische Struktur zentralisiert werden müsse und dass alle den Vorgaben der Parteiführung sowie der Ortsgruppen folgen sollten.8 Die innerparteiliche Auseinandersetzung über diese Themen wurde mit aller Härte geführt und ging weit über die Frage politischer Koalitionen hinaus. Die Reformisten, die die vom britischen Sozialismus und insbesondere von der Fabian Society übernommene Überzeugung teilten, dass der „kommunale Sozialismus“ – 8

Zur Organisation der Sozialistischen Partei vgl. Maurizio Degl’Innocenti, Geografia e istituzioni del socialismo italiano, Neapel 1983 und Maurizio Ridolfi, Il PSI e la nascita del Partito di massa. 1892–1922, Rom/Bari 1992.

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d. h. die Eroberung und Regierung der Gemeinden – das Modell für den Weg zum Sozialismus darstellte, waren keinesfalls bereit zu akzeptieren, dass gewählte sozialistische Amtsträger in ihren Entscheidungen der Parteiführung unterworfen sein sollten. Als der sozialistische Einfluss in den Kommunen an Bedeutung gewann und sich sozialistische Verwaltungen, besonders nach den Wahlen im Juni 1914, auch in wichtigen Städten bildeten, wurde der Ruf nach vollständiger Unabhängigkeit dieser Verwaltungen von den örtlichen Sektionen und der Parteiführung, die in der Zwischenzeit allesamt der revolutionären Strömung zugefallen waren, zum Anlass erbitterter Konflikte. Das veranschaulicht vor allem die Geschichte der Stadträte in Mailand und Bologna, die 1914 bis 1920 von Emilio Caldara und Ernesto Zanardi geleitet wurden. Diese mussten ihre administrativen Entscheidungen permanent gegen die Einmischung der Partei verteidigen. Das galt allem voran während des Krieges bei der Organisation der Kriegsfürsorge, da die Revolutionäre sie für unvereinbar mit der neutralistischen Politik des PSI hielten. In jenen Jahren musste die sozialistische Fraktion im Parlament ihre Vorrechte und ihre politische Vision mit aller Kraft gegen die machtvolle Einmischung der Parteiführung behaupten, die die Entscheidung der Abgeordneten kritisierte, das überfallene Vaterland vor allem nach der Niederlage von Caporetto gemeinsam mit den anderen zu verteidigen. Nach der reformistischen Auffassung zielte sozialistisches Wirken in der Gesellschaft nicht nur auf die Parteistruktur, sondern auf die gesamte Arbeiterbewegung, die zwar aus vielen voneinander unabhängigen Akteuren bestand, welche aber dennoch zur Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen und zur Schaffung von Voraussetzungen für eine freiere und gerechtere Gesellschaft eng zusammenarbeiteten. Für Turati und seine Lebensgefährtin sowie wichtigste Mitarbeiterin Anna Kuliscioff zählte im Übrigen nicht so sehr die Schaffung einer durchorganisierten und disziplinierten Partei, sondern vielmehr die fortschreitende und unaufhörliche Veränderung der Gesellschaft, um in ihr Kräfte freizusetzen, die imstande waren die Arbeiterklasse voranzubringen: Für uns kommt die Revolution aus den realen Gegebenheiten (viene dalle cose). Wir zählen auf sie, und wir leben mitten in ihr. Jede Schule, die eröffnet wird, jeder Geist, der sich von Umnebelung befreit, jedes Rückgrat, das sich aufrichtet, jedes chronische Übel, das beseitigt wird, jede Anhebung des Lebensstandards der Notleidenden, jedes Schutzgesetz zugunsten der Arbeiter ist ein Quäntchen Revolution, das sich der großen Masse hinzugesellt, wenn alles das zum Zwecke eines deutlichen und bewussten gesellschaftlichen Wandels koordiniert wird. Der Tag wird kommen, an dem die Schneeflocken eine Lawine bilden. Diese verborgenen Kräfte wachsen zu lassen und jeden Tag daran zu arbeiten bedeutet, eine tagtägliches revolutionäres Werk zu verrichten, und zwar weitaus mehr als auf den Dächern die unausbleibliche Revolution herbeizugrölen, die sich nie entschließt auszubrechen.9

Ein Jahr später, nachdem die von den Sozialisten unterstützte Regierung Zanardelli ein paar Monate im Amt und infolgedessen der Kampf zwischen den verschiedenen 9

t.-k., Dichiarazioni necessarie: Rivoluzionari od opportunisti?, in: Critica Sociale, 10,1 (1.1.1900), S. 1–4.

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Strömungen in der Partei ausgebrochen war, erinnerte Turati an die Ziele der Sozialisten: den Kollektivismus und den Klassenkampf, als das hierfür gewählte Instrument. Dabei skizzierte er ein umfassendes Projekt, das den zivilen und wirtschaftlichen Fortschritt Italiens ermöglichen sollte, und fügte dem hinzu: Drittens ist ein allgemein verbreiteter Gedanke der Sozialistischen Partei, dass die obengenannte Umformung der Gesellschaft weder von oben per Dekret noch durch plötzlichen Ungestüm von unten vollzogen werden kann, sondern eine langsame und schrittweise Veränderung voraussetzt, allem voran des industriellen Rückgrats (dessen Wandel von selbst erfolgt, ohne dass das Agieren von Einzelnen oder von Parteien viel dazu beitragen kann), und dann, damit zusammenhängend, eine nicht weniger langsame und schrittweise Umwandlung und Anhebung des Denkens, der Gewohnheiten, der Fähigkeiten der proletarischen Massen. Diese Anhebung erfolgt nicht durch mystische Offenbarung oder Einflößung von Geboten, sondern durch das Üben, welches Kräfte verlieht, und durch Reformen, die entweder das Üben ermöglichen oder die Früchte und Eroberungen desselben durch gesetzliche Einrichtungen festigen.10

Um diese Strategie konsequent zu verfolgen, bedurfte es der Kontrolle über die gesamte Bewegung. Die Reformisten, die auf dem Parteitag vom April 1904 in Bologna durch den Zusammenschluss der revolutionären Strömungen unter Enrico Ferri und Arturo Labriola in die Minderheit gedrängt worden waren, erkannten, dass es nicht ausreichte, auf die Wiedererlangung der Mehrheit in der Partei hinzuarbeiten, wenn es ihnen zugleich nicht gelang, die Führung und Neuausrichtung der Gewerkschaftsbewegung zu übernehmen. Beim Generalstreik im September 1904 hatte sich gezeigt, dass den Gewerkschaften eine eindeutige Kursrichtung fehlte. Eben aus diesem Grund kam es 1906 zur Gründung der Confederazione generale del lavoro und zur Wiederherstellung der Federterra, um für die Industrie- und Landarbeiter eine solidere Organisierungsstruktur zu schaffen, die den Bedürfnissen eines wirtschaftlich sich rasch entwickelnden Landes angemessen war. Zusammen mit der Lega delle cooperative (Italienischer Genossenschaftsverband) und der Federazione delle società di mutuo soccorso (Verband der Arbeiterhilfsvereine) bildeten CGL und Federterra ein mächtiges Netzwerk, an dem auch die Sozialistische Partei selbstverständlich teilhatte. Die Zusammenarbeit der Arbeitergewerkschaften, Bauernverbände, Genossenschaften und Hilfsvereine mit der Partei wurde durch die Übernahme von Führungsposten an der Spitze jener Organisationen durch Sozialisten gewährleistet.11

10 11

Filippo Turati, Il Partito socialista e l’attuale momento politico, in: Critica Sociale, 11,14 (16.7.1901), S. 209–214. Es gibt keine Spezialstudien, die sich mit den schwierigen Verhältnissen zwischen der Sozialistischen Partei und der gewerkschaftlichen Bewegung beschäftigen, aber folgende Arbeiten bieten nützliche Informationen: Zeffiro Ciuffoletti, Storia del PSI – I. Le origini e l’età giolittiana, Rom/Bari 1992; Luciana Marchetti (Hg.), La Confederazione Generale del Lavoro negli atti, nei documenti, nei congressi: 1906–1926, Mailand 1962 (mit einem Vorwort von Franco Catalano); Idomeneo Barbadoro, Storia del sindacalismo italiano dalla nascita al fascismo, 2 Bde., Firenze 1973; Adolfo Pepe, Storia della CGdL dalla fondazione alla guerra di Libia 1905–1911, Bari 1972; Adolfo Pepe, Storia della CGdL dalla guerra di Libia all’intervento 1911–1915, Bari 1971.

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Von Anfang an stellte sich das Problem der Koordinierung der Politik der Sozialistischen Partei mit derjenigen der CGL sowie der Definition der jeweiligen Kompetenzen. Formal wurde diese Frage durch die Übereinkunft gelöst, dass der politische Kampf von der Partei, die Auseinandersetzung auf der wirtschaftlichen Ebene von den Gewerkschaften geführt werden sollte. In vielen Fällen war es freilich nicht einfach, die beiden Handlungsbereiche klar voneinander zu trennen. Aber solange die Reformisten die Führung in der Partei innehatten, traten keine größeren Probleme auf, was das Verhältnis zur Confederazione del lavoro und zur Federterra betraf. Nichtsdestoweniger war es gleichsam unvermeidlich, dass die Führungsriege der Verbände, gestärkt sowohl durch die Zahl der Verbandsmitglieder, die deutlich höher lag als die Zahl der Parteimitglieder, als auch durch gute Wahlergebnisse, die den Gewerkschaftsführern eine starke Position innerhalb der sozialistischen Parlamentsfraktion verschafften, darauf drängte, die Lenkung der gesamten Bewegung zu übernehmen. Auch tendierte sie dazu, der Partei ihr eigenes politisches Programm aufzuzwingen. Das wurde bei der Abgeordnetenhauswahl von 1909 deutlich, als das sozialistische Programm zu weiten Teilen von der Confederazione del lavoro übernommen wurde. Als nächster Schritt hätte die Umwandlung der Partei zum politischen Instrument der Gewerkschaftsbewegung folgen können, so wie es Leonida Bissolati und Ivanoe Bonomi nach dem Labour-Vorbild offen herbeisehnten. 1907 entwickelte Bonomi hierzu eine Vision in seinem Buch Le vie nuove del socialismo12 (Die neuen Wege des Sozialismus). Einerseits stimmte er dabei den von allen Reformisten stillschweigend geteilten revisionistischen Thesen Eduard Bernsteins vollständig zu, andererseits schlug er vor, der neuartigen und bedeutenden Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung Rechnung zu tragen, weshalb die Sozialistische Partei in eine „Partei der Arbeit“ zu verwandeln war. Bissolati wiederum stellte die Sozialistische Partei 1910 auf dem Mailänder Parteitag sogar als „ausgetrockneten Ast“ dar, der abgeschnitten gehöre, damit die Confederazione del lavoro ihre politische Rolle vollständig ausfüllen konnte, auch im Parlament, als mächtige Repräsentantin hunderttausender Mitglieder. Dieses Projekt, dem die Gewerkschaftsführer nicht wenig Sympathien entgegenbrachten, konnte sich dennoch nicht durchsetzen und wurde noch auf dem Mailänder Parteitag selbst endgültig fallengelassen. Turati und die Mehrheit der Reformisten stellten sich dagegen, weil sie weiterhin an die politisch führende Rolle der Partei und an ihre Unabhängigkeit von den Gewerkschaften glaubten. Das bedeutete jedoch nicht, dass es deshalb zu einer Übereinstimmung mit den Revolutionären gekommen wäre, obwohl diese sich ebenfalls gegen das Projekt einer „Partei der Arbeit“ wandten. Letztere plädierten nach wie vor für ein ganz anderes Parteimodell als die Reformisten. Die enge Verbindung zwischen Politik und Organisation offenbarte sich am drastischsten in der Zeit, als die Revolutionäre die innerparteiliche Mehrheit auf nationaler Ebene gewonnen hatten, was in vielen Städten zu Rebellionen der Reformisten gegen die eigenen Parteiorgane führte. Lange vor dem für die Revolutionäre 12

Ivanoe Bonomi, Le vie nuove del socialismo, Mailand 1907.

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so erfolgreichen Parteitag von 1904 befanden sich die Reformisten schon in Schwierigkeiten, weshalb sie sich vielerorts abspalteten und durchaus beachtliche autonome Gruppierungen bildeten. Diese vereinigten sich erst dann wieder mit den offiziellen Organisationen der Partei, nachdem die Revolutionäre geschlagen worden waren. Der in dieser Hinsicht eklatanteste Fall ereignete sich in Mailand, Hauptstadt des italienischen Sozialismus und Hochburg des Reformismus, wo die Anhänger Turatis 1903 den Mailänder Ortsverein verließen und die Gruppi socialisti milanesi (Sozialistische Gruppen Mailand) gründeten. Nach dem Parteistatut hätten sie als aus der Partei ausgeschlossen betrachtet werden müssen, die somit in der Stadt nur noch durch die von den Revolutionären beherrschte Ortsgruppe vertreten gewesen wäre. Aber die Gruppi, die in ihren Reihen einige der einflussreichsten Persönlichkeiten des italienischen Sozialismus wie Turati, Kuliscioff und Claudio Treves zählten, stellten zugleich die übergroße Mehrheit der Mailänder Sozialisten einschließlich sämtlicher sozialistischer Gemeinderatsmitglieder. Der Ausschluss der Gruppi aus der Partei hätte den Ausschluss des Mailänder Sozialismus sowie eines Großteils der reformistischen Strömung überhaupt bedeutet, zumal es in anderen Städten, darunter in Rom, zu ähnlichen Abspaltungen gekommen war. Die Gruppi verblieben daher in der Partei und spielten mit Hilfe der parlamentarischen Fraktion, die die Abspalter weiterhin und in jeder Hinsicht als echte Parteimitglieder betrachtete, stets eine gewichtigere Rolle als die offizielle Parteiorganisation. Die innerhalb des PSI und den Arbeitskammern stattfindende Konfrontation spitzte sich durch den Generalstreik vom September 1904 weiter zu, der die Kluft zwischen gegensätzlichen Auffassungen über den Kampf für den Sozialismus vergrößerte, nicht nur zwischen der reformistischen und der revolutionären Strömung, sondern auch unter den Anhängern der letzteren. Die bei diesem Streik gesammelte Erfahrung brachte die Anhänger Arturo Labriolas dazu, der Doktrin und Praxis des revolutionären Syndikalismus zu folgen, der nach französischem Vorbild in der Gewerkschaft und nicht in der Partei die Vorkämpferin der sozialistischen Revolution sah. Auf diese Weise löste sich der revolutionäre Syndikalismus nicht nur in aller Deutlichkeit vom Reformismus sowie vom Syndikalismus der CGL, sondern auch von dem alten sozialistischen Revolutionskonzept, wonach weiterhin der Partei die Aufgabe zufiel, den Umsturz zu organisieren. Die Rückeroberung der Macht innerhalb der Partei durch die Reformisten, die 1906 auf dem Parteitag in Rom eingeleitet und 1908 in Florenz vollendet wurde, wurde durch den Bruch unter den Revolutionären begünstigt. Die revolutionären Syndikalisten verließen ihrerseits die Partei im Jahr 1907 und engagierten sich, ganz im Einklang mit ihren eigenen Ansichten, einzig und allein in den gewerkschaftlichen Organisationen, die teils noch für einige Zeit der Confederazione del lavoro anhingen, teils unabhängig blieben. Erst 1912 entstand die Unione Sindacale Italiana (Italienische Gewerkschaftsunion, USI), der sogar die Anarchisten angehörten. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, spaltete sich die USI zwischen Neutralisten und Interventionisten, und Letztgenannte gründeten einen neuen Verband, die Unione Italiana del Lavoro (UIL). Mit der Entstehung der Confederazione del lavoro und der Federterra erhielt der italienische Sozialismus ab 1906 seine endgültige Gestalt. Dieser neue Aufbau

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der Arbeiterbewegung wurde weder nach der Wiedererlangung der Parteiführung durch die sich Benito Mussolini anschließenden Revolutionäre, die sich auf dem Parteitag in Reggio Emilia 1912 vollzog, noch nach der darauffolgenden Abspaltung der Anhänger Bissolatis und Bonomis, die den Partito socialista riformista italiano (Italienische Reformsozialistische Partei, PSRI) gründeten, infrage gestellt. Jene Abspaltung schwächte die reformistische Strömung, die nun nicht mehr in der Lage war, die Parteiführung zurückzuerobern, obwohl sie immer noch einen bedeutenden Faktor für die politischen Entscheidungsprozesse in der Partei darstellte. Der PSI war im Übrigen sehr heterogen und zeichnete sich je nach Region und Stadt durch höchst unterschiedliche Mitgliederzahlen und Charakteristika aus. Trotzdem erwies sich sein Gefüge im Großen und Ganzen als solide und war sogar imstande, politische Führungswechsel zu überstehen. Wie sich 1912 klar und deutlich zeigte, war es bereits nicht mehr möglich, Abspaltungen auf der lokalen Ebene zu verhindern. Die Entstehung des PSRI offenbarte aber auch, dass die überwiegende Mehrheit der sozialistischen Wähler den PSI weiterhin als zentralen Bezugspunkt betrachtete, trotz des großen Erfolgs der neuen Partei bei den Wahlen von 1913 und Bissolatis außergewöhnlicher Popularität. Der zunehmende Erfolg auf dem Felde der Wahlen, mit dem kontinuierlichen Anstieg der Wählerstimmen für die Sozialistische Partei und dem daraus resultierenden wachsenden Einfluss der sozialistischen Parlamentsfraktion, der seinen Höhepunkt 1919 erreichte, als der PSI 156 Sitze im Abgeordnetenhaus gewann, war zweifellos höchst beeindruckend, ferner auch die Eroberung hunderter Kommunen und einiger Provinzen. Das alles reicht aber nicht aus, um das Gewicht des Sozialismus im politischen und gesellschaftlichen Leben Italiens insgesamt zu erfassen. Neben der gewerkschaftlichen Bewegung, die durch dieselbe Weltanschauung und ein gemeinsames Netz von Führern, Organisatoren und einfachen Aktivisten untrennbar mit der Partei verbunden war, muss auch an die genossenschaftliche Bewegung erinnert werden. Diese stellte eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Kraft dar, vor allem in einigen Provinzen der Po-Ebene und insbesondere in der Emilia und der Romagna. Zu der Überzeugung, dass sowohl die Konsum- als auch Produktions- und Arbeitsgenossenschaften ethisch und wirtschaftlich den kapitalistischen Unternehmen überlegen seien und dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft die Verbreitung von Genossenschaften unabdingbar voraussetze, trat die Zufriedenheit über die Besserung der Lebensbedingungen sowohl der Genossenschaftsmitglieder als auch der Verbraucher. Eine weitere ebenso bedeutende wie positive Folge des Genossenschaftswesens war die Förderung einer spürbaren Zunahme von Vereinsaktivitäten. Wie die Arbeiter- und Gesellenbünde, Arbeiterhilfsvereine, Arbeitskammern, einzelnen Parteisektionen und -vereine formierten sich die Genossenschaften als Orte ständiger Begegnung eines Großteils der Bevölkerung, der eigene Denkweisen, Wertesysteme, ferner auch Symbole und sogar eine eigene Sprache und Musikkultur teilte. In vielen Städten wurden die von der sozialistischen Arbeiterbewegung geleiteten Organisationen in ein- und demselben Gebäude untergebracht, im sogenannten „Volkshaus“ (Casa del popolo), das sich so zu einem wichtigen Be-

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zugspunkt für das gesamte Gemeinwesen entwickelte. Diese Erfahrungen waren darüber hinaus allen Parteien der Sozialistischen Internationalen gemeinsam. Indem sie den Informationsaustausch und Kontakte förderte, als Mittel der Propaganda diente, zu Debatte und Auseinandersetzung erzog und zur Verbreitung populärer Kultur beitrug, spielte selbstverständlich auch die Presse eine gewichtige Rolle, und zwar nicht nur Journale wie die 1896 gegründete Parteizeitung Avanti! (Vorwärts!), sondern auch die kleineren, von Anna Kuliscioff liebevoll als giornaletti bezeichneten Periodika, Wochen- und Monatsschriften, die in etlichen Städten veröffentlicht wurden. Die Zahl dieser Zeitschriften war ungemein hoch, zumal jede Klein- oder Großstadt zumindest für einige Zeit über ein solches Blatt verfügte. Einige konnten sich nur überaus kurze Zeit, andere jahrzehntelang in der Öffentlichkeit halten, aber in ihrer Gesamtheit stellten sie eine der wirksamsten Formen der Agitation, Nachrichtenübermittlung und Koordination unter den Aktivisten sowie des Dialogs mit der Bevölkerung dar. Oft waren sie auch Organe einer bestimmten Strömung, Instrumente im internen Kampf, der die gesamte Entwicklung der Sozialistischen Partei kennzeichnete und dessen Lebhaftigkeit die Partei einerseits gegenüber ihren Gegnern schwächte andererseits Anzeichen höchster Lebendigkeit war. Vor der breiten Masse der Periodika profilierten sich einige besondere Zeitschriften, vor allem die Critica Sociale, gegründet 1891 von Turati. Dreißig Jahre lang war sie der Kompass für Denken und Handeln des italienischen Sozialismus.13 Sowohl die Critica Sociale als auch der Avanti! förderten die Veröffentlichung einer Vielzahl von Büchern und Broschüren, die zur Verbreitung der sozialistischen Ideen beitrugen. Unter diesen Publikationen konnte man die Werke der führenden Persönlichkeiten des internationalen Sozialismus finden, nicht nur von Marx und Engels, sondern auch von Emile Vandervelde, August Bebel, Karl Kautsky, Jean Jaurès, Victor Adler und vielen anderen. Hinzu kamen Kongressreden und -beschlüsse, Zeitschriftenartikel sowie Aufsätze und Untersuchungen über die Arbeitswelt und die Erfahrungen der Arbeiterbewegung in der ganzen Welt. Die Sozialisten leisteten zudem eine beachtliche Kulturarbeit, da sie überzeugt waren, dass das Lernen und Lesen als unverzichtbare Mittel zur Emanzipation der Arbeiterschaft dienten. Sie setzten sich daher beharrlich für den Aufbau und die Verbreitung von Volks- wie Leihbibliotheken ein und sorgten für die Einrichtung von Volkshochschulen, die Vorlesungs- und Vortragsreihen über eine Vielfalt von Themen organisierten, ferner von Volkstheatern, damit sich auch die Mittellosen den Besuch von Schauspielen, Opern- und Konzertveranstaltungen erlauben konnten. Dabei kooperierten die Sozialisten in diesem Kontext oft mit Radikalen und Republikanern, selbst nachdem die Gründe für Absprachen politischer Art oder im Vorfeld von Wahlen mit deren Parteien schwächer geworden waren. Die Frage der Bündnisse mit „verwandten“ Parteien wurde indessen noch lange innerhalb der So13

Zum Avanti! vgl. Gaetano Arfé, Storia dell’Avanti!, 2 Bde., Mailand 1956 u. 1958 und einbändig Rom 1977. Zur sozialistischen Presse vgl. Patrizia Audenino, Cinquant’anni di stampa operaia. Dall’unità alla guerra di Libia, Mailand 1976. Zu Turati und der Critica Sociale vgl. Maurizio Punzo, L’Esercizio e le riforme. Filippo Turati e il socialismo, Mailand 2011.

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zialistischen Partei weiterdiskutiert. Während man in Mailand, wo die Taktik der transigenza zum allerersten Mal in die Praxis umgesetzt worden war, gegen 1910 hin zu dem Schluss kam, dass die Zeit nun gekommen sei, lediglich eigene Kandidaten und Listen zu den Wahlen aufzustellen, entstanden anderswo sogenannte „Volksblöcke“ (Blocchi del popolo), die es ermöglichten, den gemäßigten und klerikalen Kräften in wichtigen Städten die Regierung abzutrotzen. Das eklatanteste Beispiel dafür war Rom, wo von 1907 bis 1913 Ernesto Nathan als Bürgermeister fungierte, der bis 1904 Großmeister der Freimaurer-Großloge Grande Oriente d’Italia gewesen war, ein Amt, das er nach 1917 erneut bekleidete. Wie schwer nur die Verbindungen zwischen den verschiedenen Akteuren der extremen Linken trotz aller Unterschiede oder gar gegenseitigem Misstrauen gekappt werden konnten, zeigte sich anhand der Tätigkeit der Mailänder Società Umanitaria (Humanitäre Gesellschaft). Bei dieser handelte es sich um eine wichtige Institution, die sich für berufliche Ausbildung, die Analyse sozialer Probleme, Beschäftigungsförderung, die Stärkung der Genossenschaften und der Bauernbewegungen sowie sogar für den Bau von Arbeiterhäusern engagierte. Ihr Erfolg entsprang der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen radikaler Demokratie, die stark vom Freimaurertum beeinflusst war, und dem reformistischen Sozialismus, welcher der Kooperation mit dem freimaurerischen Radikalismus treu geblieben war, selbst nachdem sich die Sozialisten dazu entschlossen hatten, die politischen Wahlen unabhängig und selbstbestimmt zu bestreiten. Wie auch immer, sowohl die Anhänger einer ausgeprägteren sozialistischen Selbständigkeit als auch die Befürworter einer engen Verbindung zu den anderen linksextremen Parteien waren sich über die Notwendigkeit einig, sich nicht zu isolieren und den Dialog zu den anderen Parteien offen zu halten, wie vor allem ebenso zu allen anderen sozialen Schichten, besonders zum Mittelstand. Allein nach dem Triumph des Maximalismus (massimalismo) geriet die Sozialistische Partei in der Nachkriegszeit gegenüber den anderen politischen Kräften in die Isolation, was den Erfolg des Faschismus begünstigte. Dagegen wurden die großen sozialistischen Institutionen wie die Gemeindeverwaltungen, die CGL, die Genossenschaften und die Parlamentsfraktion während des Krieges ihrer Aufgabe gerecht und trugen dazu bei, die sozialistische Bewegung in ihrer Gesamtheit in eine große nationale Kraft zu verwandeln, obwohl die politische Kluft zwischen Reformisten und Revolutionären zu dieser Zeit zunahm. Nachdem Bissolati und Bonomi aus der Partei ausgeschieden waren, setzten sich Turati und seine Anhänger mit der Frage auseinander, welche Rolle sie als Minderheit im PSI spielen konnten. Die von Benito Mussolini geführte Mehrheit zielte darauf, eine umfassende revolutionäre, sowohl antiparlamentarische als auch antireformistische Front ins Leben zu rufen. In Anbetracht der ausgeprägten Vielschichtigkeit der sozialistischen Bewegung setzten die Reformisten darauf, dass das politische Agieren der Confederazione del lavoro, der sozialistisch geführten Gemeinden und der parlamentarischen Fraktion die durch die verhängnisvolle Politik der revolutionären Parteiführung verursachten Schäden eindämmen würde. Außerdem waren sie der Überzeugung, dass es gleichwohl Aufgabe der Reformisten bleiben würde, der Sozialistischen Partei den Weg aufzuzeigen, da die revolutio-

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nären Bekundungen Mussolinis und der anderen Vertreter seiner Strömung ihrer Meinung nach lediglich einen grundlegenden Mangel an Strategie kaschierten. Die Ergebnisse des Parteitags, der im April 1914 in Ancona stattfand und nichtsdestoweniger von Mussolini dominiert wurde, schienen ihnen Recht zu geben. Das bei jener Gelegenheit für die anstehenden Kommunalwahlen verabschiedete Programm war von Emilio Caldara vorgeschlagen worden und eindeutig reformorientiert. Wenige Wochen später wurde Caldara zum Mailänder Bürgermeister gewählt, an die Spitze eines weitgehend von Reformisten dominierten Gemeinderats. In hunderten weiteren von den Sozialisten eroberten Kommunalverwaltungen, darunter in Bologna, Monza, Busto Arsizio und in vielen anderen Gemeinden, gab die reformistische Strömung ebenfalls den Ton an. Durch die gemeindliche Kriegsfürsorge und Maßnahmen zugunsten der Verbraucher konnten die sozialistischen Stadtverwaltungen, angefangen bei derjenigen in Mailand, der gesamten Bevölkerung während des bewaffneten Konflikts des Weltkriegs wirkungsvoll beistehen, wenngleich sie ihre Unabhängigkeit von der Parteiführung hartnäckig verteidigen mussten. Das Engagement für die Kriegsfürsorge, welches eine höhere Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien und sozialen Schichten erforderte, schien den Weg zu konkreter sozialistischer Mitwirkung bei der Gestaltung der neuen Phase der italienischen Nachkriegszeit zu eröffnen. In dieselbe Richtung wiesen die Stellungnahmen der Critica Sociale und der Parlamentsfraktion. Nach der Niederlage von Caporetto hatte man in der Critica Sociale nämlich dazu aufgefordert, „den notwendigen Zusammenhalt für den äußersten Widerstand zu stiften, indem man ihn mit aller Disziplin und jedwedem Opfer unterstützt“,14 während Turati im Abgeordnetenhaus bekräftigte: „[Die Front am Monte] Grappa ist unser Vaterland“.15 Die Dinge verliefen jedoch anders. Zunächst verhinderten die Revolutionäre, die sich nach der von ihnen hochgepriesenen Oktoberrevolution zu Maximalisten entwickelt hatten, die Teilnahme der Sozialisten an der vom Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando anvisierten Kommission zur Untersuchung der Nachkriegsprobleme. Daraufhin änderten sie auf dem sozialistischen Parteitag vom November 1919 das Parteiprogramm, indem sie die leninistische Strategie der gewaltsamen Machtergreifung übernahmen. Es wurde nämlich bekräftigt, dass die Partei „im Rahmen der Wahlkampagnen und innerhalb der Organisationen des bourgeoisen Staates (…) die eindringlichste Propagierung der kommunistischen Prinzipien“ betreiben und dafür kämpfen werde, „die Niederschlagung obengenannter Organisationen bourgeoiser Herrschaft zu erleichtern“. „Die Werkzeuge der bourgeoisen Herrschaft zur Unterdrückung und Ausbeutung (Staat, Kommunen, öffentliche Verwaltung) können auf keinen Fall in Organe der Befreiung des Proletariats umgewandelt werden“, verkündete man zudem im maximalistischen Beschlussantrag, um weiter fortzufahren: „(…) Den Organen [der Bourgeoisie] müssen neue prole14 15

Claudio Treves / Filippo Turati, Proletariato e resistenza, in: Critica Sociale, 27,21 (1.– 15.11.1917), S. 266–267. Discorsi parlamentari di Filippo Turati pubblicati per deliberazione della camera dei deputati, Bd. 3, Rom 1950, S. 1548–1558 (Sitzung vom 23. Februar 1918).

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tarische Organe (Arbeiter-, Bauer- und Soldatenräte, Volkswirtschaftsräte, etc.) entgegengesetzt werden, die zunächst (unter bourgeoiser Herrschaft) als Instrumente des gewaltsamen Befreiungskampfs zu dienen haben, um sich dann zu Organen des sozialen und wirtschaftlichen Wandels sowie des Aufbaus der neuen kommunistischen Ordnung zu entwickeln“. Die gewaltsame Ergreifung der politischen Macht durch die Arbeiter markiere „den Übergang der Macht selbst von der bürgerlichen zur proletarischen Klasse“, wodurch „das Übergangsregime der Diktatur des gesamten Proletariats“ errichtet werde.16 Schließlich erzwangen die Maximalisten bei den Kommunalwahlen vom November 1920 den Ausschluss aller reformistisch gesinnten Gemeinderäte von den Wahllisten. Das kam einer regelrechten Lahmlegung der sozialistischen Bewegung gleich und bedeutete organisatorisch die Abkehr von der Einheit der vielfältigen sozialistischen Gruppierungen, die trotz etlicher Schwierigkeiten bis zum Krieg bestanden hatte. Aus allgemeiner politischer Perspektive begünstigte dies die faschistische Machtergreifung. Mit der Geburt des Partito comunista d’Italia (Kommunistische Partei Italiens, PCd’I) im Januar 1921 und im Oktober 1922, am Vorabend des Marschs auf Rom, des Partito socialista unitario (Sozialistische Einheitspartei, PSU) büßte die Parteiorganisation indessen ihre Einigkeit endgültig ein. Bald gab es in Italien keine Möglichkeit mehr, sich demokratisch zu organisieren, und auch den Sozialisten blieb nur mehr die Wahl zwischen dem Weg ins innere oder äußere Exil.

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Franco Pedone (Hg.), Il Partito Socialista Italiano nei suoi Congressi, Bd. 3, 1917–1926, Mailand 1963, S. 89.

PARTITO POPOLARE ITALIANO: URSPRUNG UND ORGANISATION* Antonio Scornajenghi 1. EINLEITUNG Die italienische Geschichtsschreibung setzt sich schon seit langem eingehend mit den Hintergründen der Entstehung des Partito Popolare Italiano (Italienische Volkspartei – im Folgenden in der italienischen Abkürzung PPI verwendet) auseinander. Zahlreiche Historiker haben dazu bedeutende Studien mit unterschiedlichen Ansätzen vorgelegt: Ein Teil sieht ausschließlich die politischen Reflexionen Luigi Sturzos als ausschlaggebend für die Entstehung der Partei an.1 Andere Forscher2 dagegen beziehen in ihre Betrachtungen auch den Einfluss verschiedener katholischer „Bewegungen“ auf das politische Programm der PPI ein. Giorgio Vecchio etwa analysierte in einer Studie Ende der 1980er Jahre die Leitgedanken, die dem politischen Programm des PPI zu Grunde lagen.3 Darin betont Vecchio zwar die wichtige Rolle Don Sturzos und seiner politischen Überlegungen, zeigt aber gleichzeitig auf, dass im Parteiprogramm „eine unbestrittene Kontinuität zwischen PPI, Christdemokraten, der Aktion der ‚katholischen Abgeordneten‘ und, ganz generell, der katholischen Bewegung zu Zeiten Giolittis“4 festzustellen sei. Allerdings habe es vor allem unter dem Blickwinkel der politischen Konzeption und der parlamentarischen Rolle einen deutlichen Bruch zwischen den „katholischen Abgeordneten“ und der PPI vor allem hinsichtlich der persönlichen Präsenz und der politischen Handlungsfreiheit der einzelnen Abgeordneten gegeben. Einige Historiker haben sich darüber hinaus näher mit dem europäischen Umfeld beschäftigt5 sowie mit dem Einfluss, den beispielsweise die deutsche Zent* 1 2 3 4 5

Übersetzung Evelyn Wellding, überarbeitet von Christian Jansen. Gabriele De Rosa ist der Hauptvertreter dieser Richtung. Siehe dazu seine Bücher: Storia del movimento cattolico in Italia, Band II: Il Partito Popolare Italiano, Bari 1966, und Luigi Sturzo, Torino 1977; außerdem die Studien von Francesco Malgeri und Francesco Piva. Darunter: Fausto Fonzi, Pietro Scoppola, Giorgio Vecchio und Guido Formigoni. Giorgio Vecchio, Alla ricerca del partito. Cultura politica ed esperienze dei cattolici italiani nel primo Novecento, Brescia, 1987, siehe v. a. S. 217–268. Ebenda, 257. Zu den „katholischen Abgeordneten“, siehe Guido Formigoni, I cattolici deputati (1904–1918). Tradizione e riforme, Rom 1988. Giuseppe Vecchio, La democrazia cristiana in Europa (1891–1963), Mailand 1979; Bartolo Gariglio (Hg.), Cristiani in politica. I programmi politici dei movimenti cattolici democratici, Mailand 1988; und Jean Dominique Durand, Storia della democrazia cristiana in Europa. Dalla Rivoluzione francese al postcomunismo, Mailand 2002.

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rumspartei6 auf die Anfang des 20. Jahrhunderts in Italien angestellten Reflexionen über die Partei-Organisation hatte7. Ein Einfluss, dem der italienische Katholizismus mindestens zwei unterschiedliche Denkrichtungen verlieh: Auf der einen Seite unterstrichen Antonio Pavissich und Angelo De Santi in ihrer Zeitschrift La Civiltà Cattolica den konfessionellen Charakter der deutschen Partei8; auf der anderen Seite standen beispielsweise Filippo Meda9 und Ernesto Vercesi, die im Osservatore cattolico versuchten, den rein konfessionellen Charakter (den sie dem Zentrum keineswegs absprachen) „weiter auszudehnen und ein Programm zu erstellen, das sich als ‚sozial‘ oder ‚politisch‘ umschreiben lässt“10. Hierbei handelte es sich um zwei Richtungen (die eine eher „klerikal“, die andere unabhängiger vom „Heiligen Stuhl“), die sich ebenfalls, mutatis mutandis, im Inneren der PPI gegenüberstanden. An dieser Stelle möchte ich anfügen, dass beide Positionen insgesamt gesehen ein sozusagen instrumentalisiertes Verständnis der deutschen Zentrumspartei hatten. Auf jeden Fall aber war von den 1870er Jahren an das Bild vom deutschen „Mythos“ unter den italienischen Katholiken weit verbreitet. Dieses Konzept hat vielleicht am klarsten Kardinal Ferrari während der Vorbereitungen zum 50. Nationalen Kongress der Katholiken in Köln im August 190311 in dem Ausdruck „Germania docet“ zusammengefasst. Dieser Ausdruck beinhaltete „diese Verbindung von Bewunderung und Verherrlichung, die das deutsche Zentrum Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Italien hervorrief“.12 Der vorliegende Aufsatz beleuchtet die Gründung des PPI und seine Organisation unter besonderer Berücksichtigung der ausschlaggebenden Rolle des Heiligen Stuhls, der – im Gegensatz zu seiner Position noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts – die Gründung einer politischen Partei autorisierte. Vieles hatte sich in der 6

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Zum Zentrum siehe John K. Zeender, The German Center Party (1890–1906), in: Transactions of the American philosophical Society, 66 (1976), S. 84 und passim. Siehe auch Il movimento cattolico e la società italiana in cento anni di storia, Rom 1976, S. 197–238; Jean Marie Mayeur, Partiti cattolici e democrazia Cristiana in Europa, Mailand 1983; und Karl. Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20 Jahrhundert, Frankfurt a/M 1986. Siehe auch Ettore Passerin d’Entreves / Konrad Repgen (Hg.), Il cattolicesimo politico e sociale in Italia e Germania dal 1870 al 1914, Bologna 1977. Stefano Trinchese, Governare dal Centro. Il modello tedesco nel „cattolicesimo politico“ italiano del ’900, Rom 1994, S. 3–51. Giovanni Sale, „La Civiltà Cattolica“ nella crisi modernista (1900–1907), Mailand 2001. Guido Formigoni, Stato e partiti nel pensiero di Filippo Meda, in: Bollettino dell’Archivio per la storia del movimento sociale cattolico in Italia, 25 (1990), fasc. II–III, S. 181–225. Vecchio, Alla ricerca del partito (wie Fn. 3), S. 34; Gabriele De Rosa, Filippo Meda e l’età liberale, Florenz 1959, S. 62 und passim. Sandor Agocs, „Germania doceat!“. The Volksverein, the model for italian catholic action, 1905–1914, in: The Catholic Historical Review, 61/1 (1975), S. 31–47. Siehe generell: Emil Ritter, Il movimento cattolico-sociale in Germania nel XIX secolo e il Volksverein, Rom 1967; Wilhelm Spael, La Germania cattolica nel XX secolo 1890–1945, Rom 1974; und Heinz Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1898–1918, Mainz 1979. Trinchese, Governare dal Centro (wie Fn. 7), S. 8. Siehe auch Universalità e cultura nel pensiero di Luigi Sturzo, Soveria Mannelli 2001; Christiane Liermann, La Germania nella visione di Luigi Sturzo, in: Eugenio Guccione (Hg.), Luigi Sturzo e la democrazia nella prospettiva del terzo millennio, Florenz 2004, Band I., S. 255–271.

Partito Popolare Italiano: Ursprung und Organisation

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Zwischenzeit verändert: In erster Linie gab es einen neuen Papst, Benedikt XV., der Pius X., einen entschiedenen Gegner einer politischen Organisation nach Vorbild des deutschen Zentrums in Italien abgelöst hatte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war der neue Papst der Gründung einer „nicht konfessionell gebundenen“ Partei gegenüber entschieden positiver eingestellt. Abschließend bewertet die vorliegende Abhandlung die Folgen der schwierigen Allianz zwischen PPI und Liberalen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese sind u. a. Ausdruck für den tiefgreifenden Unterschied zwischen der von der neugegründeten PPI vertretenen politischen Auffassung, die Wählerschaft als Masse zu betrachten, und der aus dem 19. Jahrhundert stammenden tiefverwurzelten politischen Idee einer von Notablen verkörperten politischen Interessenvertretung, die immer noch von einem großen Teil des liberalen Lagers vertreten wurde. 2. DIE ENTSCHEIDUNG VON PAPST PIUS X. Bekanntermaßen entschied sich Papst Pius X. für eine andere Lösung als die, die von La Civiltà Cattolica und von Meda aufgezeigt wurde. Er nahm von „der Idee des Zentrums oder jedenfalls der Idee einer ‚katholischen Partei‘ Abstand und zog es vor, die Gläubigen zu einer ‚vereinzelten‘ Teilnahme am politischen Geschehen zu ermuntern, wobei sie die jeweilige Situation Fall für Fall abwägen sollten und zwar außerhalb einer einheitlichen und beständigen nationalen Organisation“13. Aus den Berichten der Bischöfe zur Lage in den einzelnen Wahlkreisen, die diese an das Päpstliche Staatssekretariat schickten und die im Geheimen Staatsarchiv des Vatikans aufbewahrt werden14, geht deutlich hervor, dass sich Pius X. stets gegen die Gründung eines „Zentrums“ gestellt hatte. Gegen die Bitten der Bischöfe an das Päpstliche Staatssekretariat um eine Suspension des non expedit bestand der Heilige Stuhl darauf, dass dieses Dekret offiziell in Kraft bleiben sollte. Gleichzeitig gestattete der Papst aber den Bischöfen – vor allem nach dem Erlass der Enzyklika Il Fermo proposito (Juni 1905) – sich „Fall für Fall“ zu entscheiden und die einzelnen Situationen auszuwerten: Eine italienische Version des „Zentrums“ sollte dagegen mit allen Kräften unterbunden werden15. Warum lehnte der Heilige Stuhl die Gründung einer politischen Partei nach deutschem Vorbild so vehement ab? Dafür sind verschiedene Gründe verantwortlich. In erster Linie hätte die Gründung einer Partei die förmliche Aufhebung des non expedit impliziert und damit die – ebenso ausdrückliche – Akzeptanz vollendeter Tatsachen. Die Katholiken hätten in diesem Fall nämlich nicht nur an den Kommunalwahlen teilnehmen können, wie es bereits geschah, sondern auch an Parlamentswahlen, obwohl das Verbot offiziell noch in Kraft war. Ein weiterer kritischer Punkt bestand in der Schwierigkeit, Romolo Murri und Giovanni Battista Paganuzzi, Guido Miglioli und Carlo Cornaggia Medici in einer einzigen Partei unter 13 14 15

Vecchio, Alla ricerca del partito (wie Fn. 3), S. 34. Fondo Segreteria di Stato, vor allem in den Jahren 1909–1913. Maria Serena Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 a oggi, Rom/Bari 1995, S. 144.

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einen Hut zu bringen, denn zwischen ihnen bestanden extreme politische Unterschiede. Dieser Umstand trug nicht nur zur Auflösung der Opera dei Congressi im Jahr 1903 bei, sondern führte auch zu größten Problemen innerhalb der PPI. Abschließend sei nicht nur an das mangelnde Feingefühl des Papstes dem Parlament und generell politischen Parteien gegenüber erinnert, sondern auch an seine Befürchtungen, dass sich in Italien – ähnlich wie bereits in Frankreich unter Präsident Combes geschehen – eine antiklerikale Stimmung entwickeln könnte, sollten sich die Katholiken politisch an vorderster Front engagieren. 3. DER HEILIGE STUHL UND DER PPI: VON UNTERSTÜTZUNG ZU WACHSENDER FEINDSELIGKEIT Der Heilige Stuhl spielte – wie bekannt – eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Gründung des PPI, da er der Gründung der Partei zustimmte und sie nicht zu verhindern suchte.16 Zwar war der PPI nicht durch Initiative des Heiligen Stuhls entstanden, dieser hat aber durch seine positive Haltung die Gründung der Partei erleichtert. Don Sturzo selbst betonte diesbezüglich, wie wichtig die liberale Haltung von Papst Benedikt XV. (Nachfolger von Pius X. seit 1914) den Gründungsmitgliedern des PPI gegenüber gewesen sei, und bedankte sich im Dezember 1918 beim Papst explizit für das Vertrauen und Interesse, das dieser den italienischen Katholiken, die eine politische Partei gründen wollten, gegenüber gezeigt habe.17 Die neue Partei nahm zwar die traditionellen religiösen und sozialen Forderungen der Katholiken auf, stellte sie aber in einen größeren politischen Kontext. Das politische Konzept des PPI zielte auf eine Reform des Staates und die Überwindung der individualistischen und bürgerlichen Prinzipien des aus dem Risorgimento hervorgegangenen Liberalen Italien.18 Doch änderte sich im Lauf der Zeit die positive Haltung des Heiligen Stuhls zum PPI. Dies hatte verschiedene Gründe: Einmal wurde die „Unnachgiebigkeit“ kritisiert, die von der Partei in den Kommunalwahlen vom September 1920 den Liberalen gegenüber gezeigt und die in hohen Kirchenkreisen immer weniger gern gesehen wurde19; außerdem wurde dem PPI vorgeworfen, dass in einigen Regionen 16 17

18 19

Alfredo Canavero, I cattolici e la società italiana. Dalla metà dell’800 al Concilio Vaticano II, Brescia 1991, S. 149. Das Protokoll der Versammlung vom 17. Dezember 1918 befindet sich im Archiv der Sacra Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari (ASCAES), Italia, aa. 1918-’21, fasc. 349, f. 51–52, und ist schon bekannt aus den Studien von De Rosa. Siehe auch die ebendort aufbewahrte namens- und datumslose Notiz, fasc. 348, f. 5, veröffentlicht in: Antonio Scornajenghi, Santa Sede e Partito Popolare Italiano alla vigilia delle elezioni politiche del 1919, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia, 49 (2005), S. 77–78. Über die positive Haltung des Heiligen Stuhls gegenüber der PPI siehe Francesco Malgeri, Luigi Sturzo, Cinisello Balsamo 1993, S. 104–113. Pietro Scoppola, Coscienza religiosa e democrazia nell’Italia contemporanea, Bologna 1966, S. 343. ASCAES, Italia, aa. 1918–21, fasc. 348, passim.

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Italiens (Lombardei, Friaul, Venetien etc.) der sindacalismo bianco (die „weißen “, also katholischen Gewerkschaften) ähnliche Methoden wie der sindacalismo rosso (die „roten“, sozialistischen Gewerkschaften) anwenden würde; hinzu kam das von Don Sturzo mit Nachdruck und Kohärenz vertretene Konzept der Überkonfessionalität; ein weiterer ausschlaggebender Faktor war der Tod Benedikts XV. (im Januar 1922) und der Beginn der Amtszeit von Pius XI., welcher den PPI immer mehr als Hindernis für eine Lösung der „Römischen Frage“ betrachtete.20 Der rechte und klerikalste Flügel des PPI unterstützte mit der Zeit immer mehr diese Haltung des Heiligen Stuhls.21 Mussolini dagegen, der „der Kirche gegenüber immer öfter seine große Wertschätzung zum Ausdruck brachte, schien der Kirche mehr Garantien als Don Sturzo zu geben. Diese scheinbar in Aussicht gestellte Freiheit für die Kirche ließ die Tatsache aus den Augen verlieren, dass diese mit dem Verlust der Freiheit von allen bezahlt wurde „.22 4. STRUKTUR, ORGANISATION UND FINANZIERUNG DES PPI. EIN VERGLEICH MIT DEN LIBERALEN Der PPI erwies sich von Anfang an als eine Partei, die großen Zuspruch bei den Massen erzielte. Die Folgen des Ersten Weltkriegs hatten den zerbrechlichen Zusammenhalt unter den Liberalen auf eine harte Probe gestellt. Die Liberalen waren stärker als je zuvor gespalten und unfähig, mit den Phänomenen der Massenmobilisierung umzugehen und hinreichend Wähler anzusprechen. Die Wahlergebnisse des Jahres 1919 hatten zu einem wahren „Erdbeben“23 im politischen System Italiens geführt: Zum ersten Mal seit der Gründung Italiens hatten die Liberalen die absolute Mehrheit im Parlament verloren und sahen sich dazu gezwungen, eine Koalitionsregierung mit der einzigen politischen Kraft einzugehen, die – wenn auch unter großen Schwierigkeiten – bereit war, sie zu unterstützen: der PPI von Luigi Sturzo. Zwischen diesen beiden Parteien gab es jedoch große organisatorische und programmatische Unterschiede. In erster Linie betrachtete ein großer Teil der Führungsriege der Liberalen die Partei von Sturzo als einen Abklatsch des Klerikalismus aus dem 19. Jahrhundert,24 der aufgrund der beträchtlichen Verbreitung der 20 21 22 23

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Malgeri, Luigi Sturzo (wie Fn. 17), S. 124–125. Giovanni Sale, Popolari e destra cattolica al tempo di Benedetto XV, Mailand 2005; ders., Fascismo e Vaticano prima della Conciliazione, Mailand 2007. Canavero, I cattolici nella società italiana (wie Fn. 16), S. 164. Giovanni Sabbatucci, Il terremoto del 1919: la riforma elettorale e la crisi del sistema liberale, in L’Italia contemporanea, Neapel 1991, Band II, S. 167. Siehe auch Pier Luigi Ballini, Le elezioni nella storia d’Italia dall’Unità al fascismo. Profilo storico-statistico, Bologna 1988, S. 179–195; Serge Noiret, La nascita del sistema dei partiti nell’età contemporanea. La proporzionale del 1919, Manduria/Bari/Rom 1994, S. 169–194, und Ders., La questione elettorale nella storia d’Italia. Da Salandra a Mussolini (1914–1928), Rom 2011, S. 56–74. Scoppola, Coscienza religiosa (wie Fn. 18), S. 302 und passim.

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Partei in Italien sogar als noch gefährlicher als vorher eingeschätzt wurde. Und in der Tat verfügte die liberale Partei kaum über eine organisatorische Struktur in Italien, während sich der PPI auf eine Organisation stützen konnte, die die katholische „Bewegung“ im Verlauf vieler Jahrzehnte aufgebaut hatte. Denn die von Don Sturzo gegründete Partei verfügte in Italien über ein dichtes Netz von Pfarreien sowie über lokale Organisationen verschiedenster Art (soziale und wirtschaftliche Einrichtungen sowie karitative Organisationen etc.). Um zu verstehen, wie es 1919 zu einem derartig spektakulären Wahlergebnis kommen konnte, empfiehlt sich ein Blick zurück: Schon bei der Auswahl der Kandidaten im Vorfeld der Wahlen von 1919 kam man nicht umhin, „die allgemeine Situation [in Betracht zu ziehen], in der sich die katholische Bewegung nach dem Experiment der liberal-klerikalen Blocks und dem Patto Gentiloni befand“.25 Sturzo unternahm daher schon mehrere Monate vor den Wahlen beträchtliche Anstrengungen, um seine Partei in jedem einzelnen Wahlbezirk als diszipliniert und gut vorbereitet auf das bevorstehende Ereignis zu präsentieren. Der sizilianische Geistliche hatte – im Gegensatz zu vielen liberalen politischen Führern – den neuen Geist des Verhältniswahlrechts sehr wohl verstanden, in dem es nicht länger um eine Auseinandersetzung zwischen einzelnen Persönlichkeiten ging, sondern um einen Vergleich zwischen ganz klar umschriebenen Parteiprogrammen. Diese Form des Wahlrechts privilegierte eine engmaschige Organisation im Lande (Ortsgruppen, Sektionen etc.) und bestrafte „diejenigen politischen Gruppen, die weiterhin auf lokale Autoritäten, auf repräsentative Persönlichkeiten aus dem liberalen Umfeld sowie auf sogenannte Ein-Mann-Parteien (partiti personali) setzten“26. Sturzo wusste um die Notwendigkeit, das Parteiprogramm überall im Land zu verbreiten, und er wusste, dass man sich dort, wo die Partei im Kampf war, nicht nur auf die tatsächliche, sondern auch auf die potenzielle politische und ökonomische Situation Italiens konzentrieren musste. Ein Rundschreiben, das der Vorsitzende des PPI im Februar 1919 an die „Sekretäre und Beauftragten der Provinzkomitees des Partito Popolare Italiano“27 verschickte, ist ein deutliches Zeugnis dafür, dass sich Sturzo der großen Bedeutung einer guten Organisation für den Erfolg einer politischen Partei bewusst war. Dem Rundschreiben war ein Fragebogen beigelegt, mit dessen Hilfe der organisatorische Stand der jeweiligen Provinz erhoben werden sollte.28 Der Vorsitzende des PPI drängte die Männer seines Vertrauens wiederholt, neue Ortsgruppen einzurichten und neue Mitglieder zu werben.29 Wie reagierte nun aber die Parteibasis auf die Direktiven der Parteispitze? Mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit – wie man den Berichten der Präfekten an das Innen25 26 27

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Giuseppe De Rosa, Il Partito Popolare Italiano, Rom 1988. S. 81. Malgeri, Luigi Sturzo (wie Fn. 17), S. 127. Archivio Storico Istituto Luigi Sturzo Roma (ASILSR), Fondo Luigi Sturzo, sc. 59, Heft 220. Das Rundschreiben wird auch teilw. zitiert in Giuseppe De Rosa, A che cosa può servire una rilettura delle origini e della storia del popolarismo sturziano?, in: Sociologia, 26, 2–3 (1991), S. 13–14. ASILSR, Fondo Luigi Sturzo, sc. 59, Heft 220. In den Abruzzen bediente sich Sturzo bspw. der Hilfe Giuseppe Spataros. Siehe ASILSR, Fondo G. Spataro, sc. 3, Hefte 13 und 17.

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ministerium über das ganze Jahr 1919 hinweg entnehmen kann.30 Dazu ist generell zu sagen, dass der Organisationsstand von Region zu Region differierte. Am höchsten war er in Norditalien (vor allem im Piemont, in der Lombardei und in Venetien), während die Situation in Süditalien völlig uneinheitlich war: Sizilien, Kampanien und die Abruzzen waren relativ gut organisiert, in anderen Regionen – wie etwa in Apulien und der Basilikata – indes fand sich die Partei mit größeren organisatorischen Schwierigkeiten konfrontiert. Der PPI stellte eine bedeutende Neuheit im politischen Panorama dar, und zwar sowohl auf programmatischer wie auch auf organisatorischer Ebene mit seinen „modernen Vision“ des parlamentarischen Lebens und der „Funktion der Parteien im Leben des Staates“. Die Beziehung zwischen der Parteispitze und der parlamentarischen Gruppe, die Position des politischen Parteisekretärs, „die von Sturzo gewollte Praxis der parlamentarischen Übereinkommen mit dem Ziel der Bildung von Mehrheiten auf der Basis von genauen programmatischen Absprachen“ sind einige der „grundsätzlichen“ Elemente dieser neuen Vision der „Funktion und der Verantwortung der Parteien“31, die Sturzo mit großem Nachdruck und mit Überzeugung vertrat. Das wirklich Neuartige an der Partei aber zeigte sich in den ideologischen und programmatischen Aussagen, die „zwar einige traditionelle Postulate der katholischen Bewegung aufnahmen (Freiheit der Lehre, Verteidigung des Kleingrundbesitzes, das Beharren auf Zwischenkörperschaften in einem zentralisierten Staat, eine pazifistische und den Völkerbund bejahende Politik), diese aber in einen Gesamtrahmen stellten, der sich völlig von der alten Protestbewegung der Katholiken, aber auch von deren modernisierter moderater klerikaler Form unterschied“.32 Der PPI war überkonfessionell und klassenübergreifend. Damit war er Ausdruck „einer Denkweise, einer Kultur und eines Programms, dem sich jeder anschließen konnte, der den Geist und die Zielsetzungen [der Partei] teilte“; daher richtete sich der PPI nicht nur an die Katholiken, sondern an alle „freien und starken“ Menschen, er charakterisierte sich über „den ethischen und zivilen Anspruch, das Interesse für die Probleme und die Realität jener unruhigen Nachkriegszeit, die Rückbesinnung auf die Werte Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit sowie die Forderung nach tiefgreifenden politischen, administrativen und sozialen Veränderungen“.33 In diesem Kontext sind auch die außerordentlichen Erneuerungsbestrebungen des sturzianischen PPI zu erwähnen, angefangen mit dem Kampf um die Einführung des Verhältniswahlrechts, das von vielen Anhängern der Partei als effizientes Instrument zur politischen Moralisierung betrachtet wurde. Sturzo legte außerdem größten Wert auf die Ehrlichkeit und den unbescholtenen Ruf seiner Mitstreiter, die 30 31 32 33

Antonio Scornajenghi, L’alleanza difficile. Liberali e popolari tra massimalismo socialista e reazione fascista (1919–1921), Rom 2006, S. 53 und passim. Pietro Scoppola, Idea di partito cattolico, in: Francesco Traniello (Hg.), Dizionario Storico del Movimento Cattolico in Italia 1860–1980, Band I/1, Turin 1981, S. 203. Siehe auch Giuseppe De Rosa, L’utopia politica di Luigi Sturzo, Brescia 1972. Vecchio, La democrazia cristiana in Europa (wie Fn. 5), S. 73. Francesco Malgeri, Il partito politico nel pensiero di Luigi Sturzo, Bologna 1996, S. 765.

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keinerlei Einträge im Führungszeugnis haben durften. Dies zeigte sich zum Beispiel am Fall des Adelfo Negretti, bei dem sich Sturzo bis ins Detail gehend danach erkundigte, ob die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren und sich auf einen im Juli 1918 gegen ihn verhängten Schuldspruch des Landgerichts Bologna bezogen, wahr waren. Der Abgeordnete versicherte Sturzo, dass der Kassationshof in Rom dieses Urteil schon im Oktober desselben Jahres aufgehoben habe.34 Hinsichtlich der Organisation muss hervorgehoben werden, dass die flächendeckenden und engmaschigen Aktivitäten des PPI zeitlich nicht allein auf die Wahlen begrenzt war, wie es bei den Komitees und Assoziationen der Liberalen der Fall war: Die Partei wollte sich in der Zivilgesellschaft verankern. Zu diesem Zweck wurde ihr eine moderne Struktur mit einem Parteisekretariat, einem Nationalrat, einem Netz von lokalen Ausschüssen mit regelmäßigen Kongressen und einer eigenen Presse gegeben. Francesco Malgeri hat die Organisation der PPI klar beschrieben: Im Verlauf weniger Monate gelang es dem PPI, eine stabile und umfassende Massenorganisation aufzubauen. Im Juni 1919 existierten 20 Provinzkomitees und 850 lokale Ausschüsse. Gleichzeitig hatten sich zahlreiche Frauenvereinigungen und Wahlkampfgruppen gebildet. Ein Jahr später gab es bereits 3.137 Ausschüsse und 251.740 Mitglieder. Der Partei hatten sich zudem 20 Tages- und 51 Wochenzeitungen angeschlossen. Das erste offizielle Presseorgan der Partei war bis zum 8. Juni 1919 die römische Tageszeitung Corriere d’Italia, die dann von der Wochenzeitung Il Popolo nuovo unter der Leitung von Don Giulio De Rossi abgelöst wurde. Seit dem 5. April 1923 wurde die Tageszeitung Il Popolo unter der Leitung von Giuseppe Donati das führende Presseorgan der PPI.35

In einem langen Artikel in der Zeitung L’Italia vom 25. November 1919 mit dem Titel La nostra battaglia continua! (Unser Kampf geht weiter!) wurde die moderne Massenpartei, „die ihre Stärke aus der Organisation bezieht, und je perfekter die Organisation ist, desto größer ist die Stärke der Partei“, umrissen. Ebenso stand die Rolle der Abgeordneten im neuen Wahlsystem in krassem Gegensatz zur bisherigen Figur des Interessenvertreters seines Wahlkreises, der als solcher von der amtierenden Regierung abhing – ein modus operandi, der sich bei den Liberalen nach und nach seit der italienischen Einheit durchgesetzt hatte.36 Bemerkenswert ist auch, dass sich der PPI von Anfang an eines modernen und bei den Liberalen unbekannten Systems zur Mitgliederwerbung und Finanzierung der Partei bediente.37 Außerdem bemühte sich Sturzo um die Verfestigung der Beziehungen zwischen „der Parteispitze und der PPI-nahen Tagespresse“. Diesbezüglich verkündete er Anfang März 1919 auf einer Tagung der „mit dem PPI sympathi-

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Archivio Storico della Camera dei Deputati (ASCD), Carte Adelfo Negretti, b. 2, Heft 2.3. Die Episode wird in meinem Buch L’alleanza difficile (wie Fn. 30.) beschrieben, S. 54–55. Francesco Malgeri, Il Partito Popolare Italiano, in: Alberto Melloni (Hg.), Cristiani d’Italia. Chiesa, società, Stato, 1861–2011, Band II, Rom 2011, S. 1109 und passim. La nostra battaglia continua! In: L’Italia, 25.11.1919. Siehe Rundbrief Sturzos vom 17. November 1920 an die Provinzkomitees und Parteiausschüsse, archiviert im ASCD, Carte Adelfo Negretti, b. 2, Akte 2.1.

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sierenden Zeitungsdirektoren“ „die Gründung eines Pressebüros, das dem politischen Sekretär des PPI untergeordnet war“.38 Was die Finanzierung der neuen Partei anbelangt, muss vor allem die Unterstützung der Banco di Roma hervorgehoben werden – diese belegen zahlreiche Mitteilungen an den Fondo Luigi Sturzo über die erfolgte Übersendung von Schecks seitens des Geschäftsführers Vicentini (zwischen 1920 und 1921).39 Dazu kam die Förderung durch lokale Banken und Gesellschaften wie etwa die Assicurazione Cattolica (Katholische Versicherungsgesellschaft) etc. Giorgio Vecchio erinnert in diesem Zusammenhang beispielsweise an den Banco Ambrosiano40 in Mailand. Die Partei konnte zudem auf die finanzielle Unterstützung von Pfarrkomitees und Privatleuten zählen. 5. DAS SCHWIERIGE BÜNDNIS ZWISCHEN DEN LIBERALEN UND DEM PPI UND SEINE FOLGEN Die Allianz zwischen der liberalen Partei und der PPI erwies sich alles andere als stabil,41 was verschiedene Ursachen hatte. Vor allem provozierte die außerhalb der „Institutionen“ (um einen Ausdruck von Duverger42 zu übernehmen) erfolgte Entstehung der Massenparteien „eine gewisse Form von Misstrauen ihnen gegenüber, wodurch die Möglichkeit einer wahren Zusammenarbeit von vornherein mit Vorurteilen belastet war“.43 Die Schwierigkeiten waren aber nicht nur politischer Art: Der sturzianische PPI „drang mit seiner innovativen Parteikonzeption in einen starren und streng festgelegten politischen Kontext ein, der nicht dazu bereit war, diese aufzunehmen“,44 denn das damalig vorherrschende Staatsrecht45 war zum großen Teil von der Lehre des Politikers und Staatsrechtlers Vittorio Emanuele Orlando46 geprägt, der die Partei „als Organ (in funzione) des Staates und nicht der Gesellschaft betrachtete“.47 Hinzu kam die forma mentis eines Großteils der liberalen

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Das Dokument befindet sich in ASILSR, Fondo Luigi Sturzo, sc. 158, Akte 757. ASILSR, Fondo Luigi Sturzo, sc. 60, fasc. 223. Giorgio Vecchio, I cattolici milanesi e la politica, Mailand 1982. Zur Finanzierung der lokalen Banken siehe Mario G. Rossi, Le origini del partito cattolico, Rom 1977, S. 281 und passim. Scornajenghi, L’alleanza difficile (wie Fn. 30). Maurice Duverger, I partiti politici, Mailand 1961. Paolo Carusi, I partiti politici italiani dall’Unità ad oggi, Rom 2008, S. 67. Francesco Traniello, Città dell’uomo. Cattolici, partito e Stato nella storia d’Italia, Bologna 1998, S. 136, S. 101–140 und S. 141–184. Paolo Pombeni, La ragione e la passione. Le forme della politica nell’Europa contemporanea, Bologna 2010, vor allem S. 359. Paolo Pombeni, Il problema del partito politico nella riflessione della scienza politica italiana (1870–1914), in: Raffaela Gherardi / G. Gozzi (Hg.), I concetti fondamentali delle scienze sociali, S. 107–135. Von Pombeni siehe Partiti e sistemi politici nella storia contemporanea (1830–1968), Bologna 1994, S. 91–153. Maria Serena Piretti, La giustizia dei numeri. Il proporzionalismo in Italia (1870–1923), Bologna 1990, S. 62.

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Führungsriege,48 die der Auffassung war, dass der PPI die Gedanken- und Handlungsfreiheit bedrohe. Die Regierungskoalition gestaltete sich schwierig sowohl aufgrund des Antiklerikalismus einiger Mitglieder der liberalen Führungsriege, die unter dem Einfluss der Freimaurerei standen (einige Mitglieder der diversen Regierungen waren aktive Freimaurer), aber auch aufgrund der unterschiedlichen politischen Positionen innerhalb des PPI, die nur schwer auf eine kohärente und klar umrissene Aktionslinie festzulegen waren.49 Ich beziehe mich hierbei nicht nur auf die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen der Gruppe der Parlamentarier, die früher zu den „katholischen Abgeordneten“ gehört hatten (darunter Filippo Meda, Giuseppe Micheli und Livio Tovini), und der sturzianischen Parteiführung,50 sondern auch auf die Spannungen innerhalb ebendieser parlamentarischen Gruppe (hier sind beispielsweise die ganz unterschiedlichen Positionen hinsichtlich des Parteiprogramms von Miglioli und Meda zu erwähnen, ganz zu schweigen von Stefano Jacini). Die Auseinandersetzungen zwischen Don Sturzo und der parlamentarischen Gruppe betrafen die grundsätzliche Vorstellung von Partei und die Bedeutung der Wahlbeteiligung der Katholiken:51 Der Konflikt bestand zwischen der sturzianischen Parteikonzeption der aktiven Interessenvertretung in einer bürgerlichen Gesellschaft auf der einen Seite oder als passive Gefolgschaft von Notabeln auf der anderen Seite, das ein nicht geringer Teil der parlamentarischen Gruppe vertrat: also Massenpartei versus Honoratiorenpolitik (concezione notabilare della politica).52 Traniello merkt darüber hinaus an, dass die sturzianische Parteikonzeption mehr dem Konzept einer programmatischen Partei nach Robert Michels entspreche als dem Modell der funktionalen Partei von Max Weber.53 Es waren also keine einfachen und problemlosen Voraussetzungen (auch aufgrund der ungenügenden Regierungserfahrung vieler Mitarbeiter Don Sturzos), mit denen sich der PPI kon48

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Paolo Pombeni, Partiti e sistema politici nella storia contemporanea, Bologna 1994, S. 115– 116. Siehe auch Ders., Trasformismo e questione del partito. La politica italiana e il suo rapporto con la vicenda costituzionale europea, in: Ders. (Hg.), La trasformazione politica nell’Europa liberale (1870–1890), Bologna 1986, S. 215–254. De Rosa, Il Partito Popolare Italiano (wie Fn. 25), S. 81. Zur PPI-internen Debatte siehe Francesco Malgeri (Hg.), Gli atti dei congressi del Partito Popolare Italiano, Brescia 1969. Siehe dazu Giorgio Vecchio, Politica e democrazia nelle riviste popolari (1919–1926), Roma 1988, S. 21 und S. 38 und passim. Francesco Traniello, I cattolici e l’idea di partito dal Risorgimento ai contratti clerico-moderati, in: Gaetano Quagliariello (Hg.), Il partito politico nella belle époque. Il dibattito sulla forma-partito in Italia tra ’800 e ’900, Mailand 1990, S. 557–602. Zu Sturzo siehe Giuseppe De Rosa, Il partito moderno nel pensiero sturziano, im Themenheft „Problemi sociologici, politici e istituzionali in Luigi Sturzo e nella tradizione del popolarismo“, in: Sociologia, 21, 2–3 (1986), S. 37–56. Guido Formigoni, Il ceto politico dei popolari: un’analisi del gruppo parlamentare, in: Fabio Grassi Orsini / Gaetano Quagliariello (Hg.), Il partito politico dalla Grande Guerra al fascismo. Crisi della rappresentanza e riforma dello stato nell’età dei sistemi politici di massa (1918– 1925), Bologna 1996, S. 785–828. So Traniello, Città dell’uomo (wie Fn. 44), S. 167–168.

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frontiert sah, der sich nach den schmeichelhaften Wahlergebnissen des Jahres 1919 in der Rolle der entscheidenden Kraft für die Regierungsbildung Italiens befand. Im Großen und Ganzen bildete sich in den parlamentarischen Gruppen eine „Berufung zum Regieren“ heraus, die sie „als Mittler und Verbindungsleute zwischen die Wähler und die Regierung stellte, natürlicher und effektiver als die Führungsorgane der Parteien“. In der Tat dominierte innerhalb der Parteiführung viel eher „die Unversöhnlichkeit der Positionen, eine gewisse Abstraktheit hinsichtlich des Problems der Allianzen, das starre Festhalten an programmatischen Inhalten: alles in allem eine stärkere Ambition, die alte Führungsklasse zu ersetzen und eine Reform des politischen Systems herbeizuführen“.54 Da die andere neue Massenpartei, die Sozialistische Partei Italiens (PSI) auf seinen radikalen Positionen beharrte, kam in diesen Jahren für die liberalen Gruppen als einzig möglicher Bündnispartner nur der PPI in Frage – eine Allianz, die sich aber als äußerst schwierig erwies aufgrund der politischen und „kulturellen“ Differenzen, von denen hier nur einige der eklatantesten aufgezählt seien: zum einen die Gewissheit der Liberalen, auf alle Fälle auf die Unterstützung des PPI (die inzwischen auf den Rang reiner „Wahlstimmen-Bringer“ abgesunken war) zählen zu können; das kurzsichtige Beharren der führenden Liberalen (Nitti und später Giolitti) auf eine Einigung vor allem mit dem reformistischen Flügel des PSI (wobei den Sozialisten bei der gewerkschaftlichen Interessenvertretung praktisch das Feld überlassen wurde – zum Nachteil der katholischen Gewerkschaften, die quasi als Fremdkörper angesehen wurden); die sich hartnäckig haltende, aber keineswegs mehr den Tatsachen entsprechende Annahme, noch immer über die absolute Mehrheit im Parlament zu verfügen; die Unfähigkeit zu begreifen, dass die tiefgreifenden Veränderungen, die der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte, eine komplette Neuorganisation der Politik verlangten; die Sturheit der Parteiführung und eines Teils der parlamentarischen Gruppe der PPI, die nicht einsehen wollten, dass ihr grundlegend innovatives Programm nicht durch ebenso kontinuierliche wie sterile Ultimaten durchzusetzen war, sondern einer stufenweisen Umsetzung bedurfte. Es sei hier an das Neun-Punkte- sowie das Zehn-Punkte-Programm erinnert, das sie Nitti aufoktroyierten,55 oder an die intransigente Taktik im Hinblick auf die Provinz- und Kommunalwahlen 1920 etc.56

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Agostino Giovagnoli, La cultura democristiana tra Chiesa cattolica e identità italiana (1918– 1948), Rom/Bari 1991, S. 7. Es handelt sich um Bedingungen des PPI, um in die 2. und 3. Regierung Nitti (März und Mai 1920) einzutreten: in der Innenpolitik Arbeits-, Koalitionsfreiheit und Schulfreiheit; Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Parlaments; Verstärkung der Staatsaktion; regionale Dezentralisierung; in der Sozialpolitik: Agrar- Industrie- und Arbeitsreformen; Maßnahmen zugunsten Süditaliens; in der Außenpolitik: Lösung der „Adriatische Frage mit Schutz der Rechte der italienisch sprechenden Einheimischen“. Vgl. Le condizioni dei popolari per l’accordo con l’on. Nitti, in: La Tribuna, 21 Mai 1920. Über das Verhältnis zwischen Nitti und PPI zu dieser Zeit siehe: Scornajenghi, L’alleanza difficile (wie Fn. 30), S. 98–102 und S.139–144. Die intransigente Taktik bestand darin, dass der PPI an der Kommunalwahl ohne Wahlbündnis mit anderer Parteien teilnehmen musste: Ebenda, S. 180 ff.

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Die Unnachgiebigkeit Sturzos, seine mangelnde Bereitschaft zu Konzessionen, mag dazu beigetragen haben, der Partei eine präzise Identität zu stiften, doch haben sie auch – zumindest in den Augen der Liberalen – den Eindruck hinterlassen, dass der PPI weniger eine reformistische als vielmehr eine antisystemische (oder zumindest eine zum herrschenden System alternative) Partei sei. Die zum Beispiel von Filippo Meda und der von ihm geleiteten Zeitschrift Civitas vorgebrachten realpolitischen Vorschläge für eine Zusammenarbeit zwischen dem PPI und fortschrittlichen Liberalen wurden seitens des Parteivorstands nicht in Erwägung gezogen. Gemeinsam mit einigen Mitgliedern des gemäßigten Flügels der parlamentarischen Gruppe des PPI war Meda Befürworter einer Regierungskoalition, in der der PPI sein Augenmerk auf Vorschläge richten sollte, die unter den gegebenen Umständen durchsetzbar waren. Anders gesagt: Meda hatte die konkrete parlamentarische Situation genau analysiert und – da der PSI wegen seiner Radikalität als Koalitionspartner nicht in Frage kam – erkannt, dass die einzig mögliche Mehrheit nur durch Liberale und PPI zustande kommen konnte. Er lud den PPI also ein, sich – im Einklang mit seinen Idealen – mit den Liberalen abzustimmen, wobei „nur der Teil der programmatischen Garantien eingefordert werden sollte, welchen durchzusetzen die Umstände erlaubten“. Der PPI und die Liberalen attackierten sich gegenseitig aufs heftigste: Der PPI bezichtigte die Liberalen der Inkonsequenz und des Parasitismus; anders herum beschuldigten die Liberalen (auch unter dem Einfluss der Freimaurer) den PPI, eine subversive und vom Vatikan abhängige Partei zu sein, deren Ziel es sei, die Grundfeste des Staates zu erschüttern. In völligem Widerspruch dazu wandten sich aber einige führende liberale wie Nitti an den Vatikan, um die Partei Sturzos zum Nachgeben zu bewegen. Der Gegensatz zwischen den Liberalen und dem PPI war beträchtlich, und der Wille, sich gegenseitig als Kräfte, die zum Wiederaufbau des Landes beitragen können, anzuerkennen, war fast nicht erkennbar: Anstatt sich als Hälfte eines geteilten Ganzen zu betrachten, zeigten sich die beiden Lager wie „zwei Nationen“, die gegeneinander kämpften. So zeichnete sich eine langsame Agonie der liberalen Institutionen in der frühen Nachkriegszeit ab, die in mehreren Etappen verlief. Eine dieser Etappen war vom gänzlich fehlenden loyalen Einvernehmen zwischen den Liberalen und den PPI während der ersten Nachkriegsregierungen (unter Nitti und Giolitti) geprägt – ein Umstand, der als wahres Leitmotiv gelten darf und außerdem zur Interpretation und zum Verständnis der Geschehnisse während der Regierungen Bonomi und Fachta (1921–1922) wie auch bei der Konsolidierung der Diktatur und dem aventininischen Intermezzo (1923–1925) beitrug. Bei der fortschreitenden institutionellen Zersetzung wirkten – mit unterschiedlicher Gewichtung und Verantwortung – alle politischen Kräfte mit: in erster Linie die Liberalen, die ungeachtet der weggebrochenen Wählerschaft meinten, noch immer das Sagen zu haben, und nicht einen Deut ihrer Macht abgeben wollten (außer an die Faschisten, die sich ihrer aber binnen weniger Jahre entledigten). Scharfsinnig hat Roberto Ruffilli die Probleme innerhalb der liberalen Führungsriege aufgezeigt, ihre Unfähigkeit, den Übergang von „der Politik als Instru-

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ment der Entscheidung hin zur Politik als Instrument der Vermittlung“57 zu akzeptieren. Unter dieser Lesart können auch einige grundsätzliche Knoten im Verständnis des Verhaltens der Liberalen nach dem Krieg gelöst werden: Die von Giolitti in den Wahlen 1921 verfolgte Politik der „nationalen Blöcke“ sollte für das liberale Lager eine den Massenparteien gegenüber autonome parlamentarische Mehrheit erzielen; oder die Diskussion um das Verhältniswahlrecht, die 1923 in der Annahme des Acerbo-Gesetzes gipfelte, was – zu Recht – als politischer „Selbstmord“ der Führungsriege definiert worden ist58. Exakter: es war der Schlussakt eines „Selbstmords“, „der länger als ein Jahrzehnt gedauert hat“59 und der bereits in der Ära Giolitti, zu Zeiten der Einführung des „allgemeinen“ Wahlrechts (1912) begonnen hat, als sich der Liberalismus nicht mit Nachdruck und Konsequenz um die politische Organisation des Landes gekümmert hatte – ein Problem, das schließlich nach der Einführung des Verhältniswahlrechts 1919 unaufschiebbar wurde. Die wahre Achillesferse der liberalen Führungsriege aber lag in der Tatsache begründet, dass sie die rappresentanza individuale nicht in Frage gestellt hat, also an einem repräsentativen System und einer Wahlkultur fest hielt, die das Verhältnis zwischen dem Kandidat und seinen Wählern in den Wahlkreisen hervorhoben, und infolgedessen eine Partei als ein informelles Konglomerat verschiedener Leader mit je eigener Gefolgschaft konzipierten. Um den Veränderungen in der italienischen Gesellschaft gerecht zu werden, hätte das im Wachstum befindliche Land jedoch eine ihm wesensgleiche Organisation benötigt, nämlich eine liberale Massenpartei. So aber standen die Liberalen völlig unvorbereitet vor der sozial-ökonomischen Krise der Nachkriegszeit. Erschwerend kam hinzu, dass die verschiedenen liberalen Leader dieselbe Mentalität der Vorkriegszeit, als sie noch über die unanfechtbare Mehrheit verfügten, an den Tag legten und so jegliche Möglichkeit auf eine Einigung mit den für den Wiederaufbau verfügbaren Kräften des Landes (vornweg der PPI) behinderten. Der PPI war die wahre Neuheit der ersten Nachkriegszeit, jedoch verhielt er sich – vielleicht aus der Überzeugung heraus, „das Neue auf dem Vormarsch“ zu sein – dem liberalen Staat gegenüber zu feindselig, war zu langsam im Verständnis der heiklen politischen Situation. Vor allem die Männer an der Parteispitze, und hier in erster Linie Sturzo, waren einzig und allein darauf bedacht, ihr politisches Projekt so schnell wie möglich zu verwirklichen statt, wie es für eine neu gegründete Partei angemessen gewesen wäre, in kleinen Schritten vorzugehen. Die Sozialisten waren wie berauscht von ihrem Traum von der Revolution, der sich aber angesichts der gegen sie gerichteten gewalttätigen Reaktionen seitens der Faschisten und großer Teile der Gesellschaft bald in einen Albtraum verwandelte. 57

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Siehe Istituzioni, società e Stato. Scritti di politica e di storia di Roberto Ruffilli, hrsg. von Giuliana Nobili Schiera, Band II, Bologna 1989 passim. Das Zitat entstammt dem Aufsatz Aspetti del rapporto Stato e Società nell’età liberale (1986), ebenda, S. 703. Zu Ruffilli siehe Maria Serena Piretti, Roberto Ruffilli: una vita per le riforme, Bologna 2008. Giovanni Sabbatucci, Il suicidio della classe dirigente liberale. La legge Acerbo 1923–1924, in: Italia contemporanea, 174 (1989), S. 55–80. Giovanni Orsina, Senza Chiesa né classe. Il partito radicale nell’età giolittiana, Roma 1998, S. 260.

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Zu spät wurden sie sich ihrer Schwäche und der heiklen politischen Situation des Moments bewusst. Das gegenseitige Misstrauen zwischen Liberalen und Popolari hinsichtlich des jeweiligen kulturellen und politischen Hintergrunds hat also in entscheidendem Maße zum Scheitern bei der „ersten Bewährungsprobe der Demokratie und des Pluralismus auf Massenebene“60 beigetragen. Wenn auch eine loyale Allianz zwischen konfessionslosen und katholischen Kräften nach 1919 und in der aventinischen Periode nicht zustande gekommen ist, so bildete ein solches Bündnis in der zweiten Nachkriegszeit (wenn auch unter komplett verändertem Kräfteverhältnis und unter großen Schwierigkeiten) die Achse beim Wiederaufbau des Landes nach der faschistischen Diktatur – dieses Mal aber in der gemeinsamen Anstrengung, alte Hürden zu überwinden und die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

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Giovagnoli, La cultura democristiana (wie Fn. 54), S. 3.

DIE „KLASSISCHE“ SOZIALDEMOKRATIE ALS ORGANISATIONSBEWEGUNG IM SPÄTEN KAISERREICH UND IN DER WEIMARER REPUBLIK Detlef Lehnert 1. EINLEITUNG Was ist die „klassische“ Sozialdemokratie? Eine klassenspezifische politische Organisationsbewegung! So ließe sich die Thematik sehr knapp in Frage/AntwortForm skizzieren. Aber der Reihe nach: Der Begriff „klassische Sozialdemokratie“ wird hier mit einem sich auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts erstreckten sozial- und kulturhistorischen Grundverständnis von „klassischer Moderne“ verwendet.1 Doch ebenfalls in (heute zuweilen ungebührlich vernachlässigter) politischökonomischer Hinsicht ist solch eine Periodisierung struktur- und gesellschaftsgeschichtlich sinnvoll: Auch der Industriekapitalismus mit seinen Klassenpolaritäten befand sich zwischen der Jahrhundertwende und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre in einer Organisationsbewegung, freilich ganz anderen Zuschnitts. Dabei muss die Krisenhaftigkeit, im Sinne ihrer Erschütterungsdynamik, bei allen technisch-ökonomischen Rationalisierungsprozessen immer hinzugedacht werden. Solche Organisationsbewegungen wurden von der Formierung einer wirkungsmächtig differenzierten Massenöffentlichkeit begleitet: Schon 1897 ist nach verfügbaren, nicht einmal vollständigen Daten mit einer Gesamtauflage deutscher Tageszeitungen von ca. 9 Mio. zu rechnen, die sich bis 1910 auf ca. 18 Mio. verdoppelte.2 Allein zwischen 1904 und 1909, mit insofern nachholend schnellerem Wachstumstempo, duplizierte sich auch die „Gesamtauflage aller SPD-Zeitungen“ von 0,6 auf 1,2 Mio.3 Nicht zufällig also nach weithin abgeschlossener Printmedienverdichtung wurde 1907/1912 mit jeweils 85 % Beteiligung an Reichstagswahlen eine (vorläufige) Höchstmarke erreicht. Diese sollte erst in den 1970er Jahren mit über 90 % auf dem Höhepunkt einer öffentlich-rechtlichen TV-Versorgung der Bundesrepublik klar übertroffen werden. Gesamtschätzungen belaufen sich gar auf bis zu 25 Mio. Zeitungsexemplare vor dem Ersten Weltkrieg4, was in der Weimarer Republik nicht mehr zuwachsfähig sein konnte. Eine massengesellschaftlich-urbane Lebenswelt bildete dafür gleichermaßen die Voraussetzung wie eine weitere Antriebskraft: Die Bevölkerungszahl im Deut1 2 3 4

Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln 2000, S. 275. Jochen Loreck, Wie man früher Sozialdemokrat wurde, Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 26. Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte, Konstanz 2000, S. 147.

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schen Reich war von 41 Mio. Ende 1871 auf 56,4 Mio. Ende 1900 vor allem in Großstädten gewachsen; sie erhöhte sich bis Ende 1910 sogar beschleunigt weiter auf 65 Mio., um dann bis 1933 aus verschiedenen Gründen (Geburtenrückgang, Kriegstote, Gebietsverluste, Krisen) zu stagnieren. Wer solche Basisprozesse z. B. angesichts mancher einseitig „kulturalistischer“ Historiographie-Moden unterschätzt, mag einen Blick voraus auf die Zeit von den späten 1950er Jahren bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre wagen: Ein wiederum besonders dynamisches Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum beflügelte den gesellschaftlichen Progressismus und dabei nicht zuletzt den „Genossen Trend“ zugunsten der bundesdeutschen SPD. Die politisch-subkulturelle Vergemeinschaftung der unterschiedlichen Sozialmilieus war bis zum Ende der 1890er Jahre weitgehend abgeschlossen. Der Kulturkampf hatte in den 1870er Jahren ein um die Zentrumspartei gruppiertes katholisches Milieu verdichtet, das Sozialistengesetz bis zum Ende der 1880er Jahre die Sozialdemokratie noch stärker zu einer sub- und gegenkulturellen Solidargemeinschaft zusammengeschweißt. Auch der Agrarkonservatismus besaß seit 1893 mit dem „Bund der Landwirte“ eine schlagkräftige Massenagitation. Sogar das nationalbürgerliche Lager begann nach Gründung des noch elitären Alldeutschen Verbands (1891) dann verstärkt im Zuge des imperialistischen Mobilisierungsschubs in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre den milieutypischen Individualismus zugunsten von nun auch mittelständischen agitations- und interessenpolitischen Organisationszugehörigkeiten zu relativieren (Flottenverein, Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband etc.). Nur eine gewisse Revitalisierung des Liberalismus erfolgte nicht mehr vor der Jahrhundertwende, sondern in der Breite erst mit Gründung des Hansabundes 1909 und der (links-)liberalen Fusion zur Fortschrittlichen Volkspartei 1910. 2. DIE FORMATIVE ORGANISATIONSBEWEGUNG ZUR KLASSISCHEN SOZIALDEMOKRATIE Die meisten organisatorischen Voraussetzungen für die weitere Entwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren zum Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die seit Herbst 1890 diesen Namen trug,5 hatte auf jenem Parteitag einstimmig beschlossen, „daß die Presse das beste Agitations- und Kampfesmittel ist“.6 Eine Partei mit 1890 nun über 1,4 Mio. Wählern konnte diese Massenbasis nach dem Ende der Restriktionen des Sozialis5

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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a. S. vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin 1890, S. 242 u. 248 (Beschluss); der Vorwärts. Berliner Volksblatt war ab 1891 „Central-Organ“ dieser Partei (ebenda, S. 8.). Die nach 1945 vorrangig benutzte Abkürzung SPD wurde erst bei gleichzeitiger Existenz der USPD nach 1917 gebräuchlicher, wird also hier nur wegen der Verknappung schon für die Zeit seit 1890 verwendet. Die Abkürzung Protokoll Parteitag (und Jahreszahl) meint nachfolgend immer die SPD (ab 1890: http://library.fes.de/parteitage). Protokoll Parteitag 1890, S. 231 (Zitat) u. 240 (Beschluss).

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tengesetzes in Zukunft nicht mehr vornehmlich durch Wanderredner und Volksversammlungen erreichen.7 Mit dem Erfurter Programm 1891, den beiden Vorsitzenden August Bebel (seit 1892) und Paul Singer sowie der Flankierung mit der ab November 1890 bestehenden freigewerkschaftlichen „Generalkommission“ unter Carl Legien wurde diese formative Phase komplettiert. Der SPD-Anteilszuwachs bei Reichstagswahlen nach Aufhebung des Sozialistengesetzes war mit 1893 = 23,3 %, 1898 = 27,2 %, 1903 = 31,7 %, 1907 = 29 % und 1912 = 34,8 % jenseits des (regierungsseitig nationaldemagogisch mitbewirkten) Rückschlags 1907 auffällig trendstabil. Die absoluten Stimmenzahlen unter Berücksichtigung der von 72,5 bzw. nur 68 % (1893/1898) auf erwähnte 85 % steigenden Wahlbeteiligung weisen mit 1893 = 1,79 Mio., 1898 = 2,11 Mio., 1903 = 3,01 Mio., 1907 = 3,26 Mio. und 1912 = 4,25 Mio. auf zwei Schübe in der politischen Massenverankerung 1903 und 1912 hin. Angesichts des Mehrheitswahlrechts galt das noch stärker für die Mandatszahlen, die von 1893 = 44, 1898 = 56, 1903 = 81, 1907 = 43, 1912 = 110 (von 397) den Einbruch 1907 mit Entwicklungssprüngen 1903 und 1912 umrahmten.8 Die Mitgliederentwicklung der SPD-nahen Freien Gewerkschaften war viel mehr konjunkturabhängig; sie profitierten aber nach einem Rückschlag von 295.000 auf 255.000 in Krisenjahren zwischen 1890 und 1895 seither umso dynamischer von beschleunigter industriekapitalistischer Expansion mit 1900 = 0,68 Mio., 1905 = 1,34 Mio., 1910 = 2,02 Mio. und dann 1913 = 2,55 Mio. Organisierten.9 Die Gewerkschaftszugehörigkeit ging einem (aber nur bei einer Minderheit erfolgenden) Parteibeitritt gewöhnlich voraus.10 Da erst zum Jahresende 1899 einzelstaatliche (besonders preußische) Verbindungsverbote gegen „politische Vereine“ (örtliche Parteigliederungen) reichsgesetzlich entfielen, gibt es vor den Reorganisationsjahren 1905/06 keine insgesamt verlässlichen Mitgliederzahlen der SPD. Für Hamburg verfügbare Ziffern mit 1900 = 12.551, 1905 = 21.756, dann jedoch für das Berichtsjahr 1906/07 = 32.929 deuten ebenso wie sächsische von 1901 = 25.581, 1905 = 54.044, dann aber 1906/07 = 79.959 auf eine deutliche Beschleunigung 1906 innerhalb einer auch zuvor ausgeprägten Zuwachsphase hin. Die reichsweite SPD-Mitgliedschaft stieg nach erstmals versuchter Gesamterfassung 1905/06 = 0,38 Mio. und dabei offenbar noch im neuen Registrierungsprozess 1906/07 = 0,53 Mio. über 1909/10 = 0,72 Mio. und 1911/12 = 0,97 Mio. bis auf 1913/14 = 1,09 Mio. an. Die jährliche Fluk7

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Kein Gegenbeleg sind die Autobiographien hinterlassenden 26 Referenzpersonen bei Loreck, Sozialdemokrat (wie Fn. 3), die bei einem mittleren Geburtsjahr 1867 ihr Erstpolitisierungsalter 17–18 dann eben überwiegend noch in den 1880er Jahren erlebten, im Mittelwert 1889 Parteimitglied wurden (S. 194) und eher in Gesprächen am Arbeitsplatz erstes Interesse zeigten (S. 183). Es folgte dann neben Versammlungsbesuch verstärkt auch Lektüre von Zeitungen und Büchern/Broschüren (S. 196). Gerhard A. Ritter / Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 40–42. Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980, S. 101 u. 125. Loreck, Sozialdemokrat (wie Fn. 3), S. 222.

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tuationsrate war allerdings besonders in mobilen Ballungsräumen trotz solchen Nettozuwachses beträchtlich;11 die regionale Verankerung der Parteiorganisation unterlag einer weitläufigen Spreizung: In dem seit den Gründungszeiten der 1860er Jahre zu den Hochburgen zählenden Stadtstaat Hamburg waren 1912 schon 6,0 % aller Einwohner vom Säugling bis zum Greis gerechnet sozialdemokratisches Mitglied, gefolgt von Lübeck mit 4,7 % und dem Agitationsbezirk (nicht allein der Stadt) Leipzig 4,0 % sowie Bremen (3,4 %) und Dresden (3,2 %); erst dann folgte u. a. Groß-Berlin (3,1 %), das in absoluten Zahlen (jedes achte Mitglied) in sehr deutlichem Abstand vorn lag. Gegenüber reichsweitem Durchschnitt von 1,5 % waren am untersten Ende mit 0,06–0,2 % ostelbische Agrargebiete wie Posen und Westpreußen, doch auch überwiegend katholische Bergbau- und Schwerindustriezentren wie das (starke polnische Volksgruppen beinhaltende oberschlesische) Kattowitz und das Saargebiet vertreten; dort wurden jeweils auch nur 3,8–14,5 % der Stimmen für die SPD in den Reichstagswahlen 1912 abgegeben.12 Seit dem Reichsvereinsgesetz von 1908 konnten Frauen offiziell Parteimitglieder werden. Davon machten sie regen Gebrauch, so dass sich deren Zahl von bescheidenen Anfängen 1908 = 29.458 über forciert steigend 1911 = 107.693 bis 1914 = 174.754 bereits so eindrucksvoll vermehrte,13 dass allein sie fast doppelte Gesamtstärke aller damals parteimäßig organisierten französischen Sozialisten erreichten.14 Eine grobe Schätzung von insgesamt erst annähernd 100.000 deutschen Sozialdemokraten nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 189015 verdeutlicht das Ausmaß des Wachstumsprozesses bis 1914. Die knapp 1,1 Mio. Mitglieder 1914 büßen nichts von ihrer Eindruckskraft ein, wenn aus erwähnten Regionaldaten hochgerechnet für 1900 von rund 0,2 Mio. auszugehen ist, danach aber weitere Verdoppelung jeweils binnen fünf Jahren erzielt wurde. Diese rasanten Zuwachsraten waren neben damals begrenzterer Lebenserwartung16 und Organisationsverbot für Jugendliche bis zum Reichsvereinsgesetz 1908 der Hauptgrund dafür, dass die

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Dieter Fricke, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869 bis 1914, Berlin 1976, S. 245 (reichsweit) S. 251 f. (Sachsen) S. 256 f. (Hamburg) S. 247 f. (Fluktuation). Gerhard A. Ritter, Die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich in sozialgeschichtlicher Perspektive, München 1989, S. 35 f.; ders. (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München 1990, präsentiert datengesättigte Regionalstudien, die hier nur punktuell bzw. summarisch berücksichtigt werden können. Fricke, Arbeiterbewegung (wie Fn. 11), S. 326. Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 81972, S. 77, beziffert dies für 1914 auf 90.000, bei einer Mio. Gewerkschaftsmitglieder und 101 Nationaldeputierten für nur 1,4 Mio. Wahlstimmen. Ritter, Sozialdemokratie (wie Fn. 12), S. 32. Auch die auf reichliche Vervierfachung von 1890 bis 1905 hinauslaufenden Daten zu Groß-Berlin entsprechen jener informierten Schätzung: Eduard Bernstein, Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905, Berlin 1924, S. 438. In den 1890er Jahren mit 15 in die Arbeitswelt eintretende männliche Jugendliche, um die es bei der betrachteten Organisationsbewegung seit 1905 wesentlich geht, hatten im Durchschnitt (bei Arbeitern weniger als) 45 Jahre vor sich (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Sterbefaelle/Tabellen/Lebenserwartung.pdf?__blob=publication File).

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Mitglieder um das erste verlässliche Zählungsjahr 1906 herum in deutlicher Mehrheit 25–40 Jahre alt waren.17 Kurz vor Aufhebung der Verbindungsverbote war im Reichstag 1899 – nach der „Umsturzvorlage“ 1894 – auch noch das sog. „Zuchthausgesetz“ gescheitert, dem zufolge Streikpostenstehen in Arbeitskämpfen als Drohung gegen Arbeitswillige mit Zuchthausstrafe hätte belegt werden können. Es ist daher nachvollziehbar, warum ein aus illegaler Tätigkeit unter dem Sozialistengesetz bewährtes dezentrales Vertrauensleutesystem erst allmählich durch eine fortentwickelte Organisationszentrale in Berlin und Regionalmetropolen überformt worden ist.18 Das geschah in der Ära des seit 1890 amtierenden und 1907 verstorbenen Parteivorstandssekretärs Ignaz Auer, der als Vertreter eines – theoretischen Streit für unfruchtbar erklärenden und so parteiintegrierend wirkenden – „Praktizismus“ angesehen werden kann.19 Selbst aus Bayern stammend und dann als handwerklicher sowie gewerkschaftlicher und parteipolitischer Wandergeselle in verschiedensten Regionen sich aus tiefster Armut emporarbeitend, konnte Auer verschiedene Tendenzen in eigener Person ausgleichen: Er war gegenüber süddeutschen, innerparteilich föderalistischen Tendenzen nachsichtiger als Bebel, ohne sich mit ihnen zu identifizieren; er hatte Sympathien für Bernsteins Reformismus, doch nicht für dessen Revisionismus; gegenüber dem Akademiker Wilhelm Liebknecht und dem rede- und auch schreibfreudigen Handwerksmeister August Bebel20 war der ehemalige Sattler Auer proletarisches Urgestein, der eigene Lektürefrüchte geschickt hinter organisationspragmatischer Theorieverdrossenheit zu verbergen gelernt hatte. Nach dem Ende der Verbindungsverbote stellte der Mainzer Parteitag 1900 dem Organisationsstatut eine durch Beitragsleistung präzisierte Mitgliederdefinition voran: „§ 1. Zur Partei gehörig wird jene Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unterstützt.“21 Der Berichterstatter Auer ließ keinen Zweifel an den Hintergründen der viele andere Punkte betreffenden Änderungen: „Die bisherige Organisation unserer Partei war veranlaßt durch die Lage unserer Vereinsgesetzgebung in Preußen“.22 Dennoch erfolgte die grundlegendere Neuorganisation nach mehrjährigen Erörterungen an der Mitgliederbasis erst auf dem Jenaer Parteitag 1905. Die wichtigste Passage des neuen Statuts lautete: „§ 4. Die Grundlage der Organisation bildet für jeden Reichstagswahlkreis der Sozialdemokratische Verein, dem jeder im Wahlkreise wohnende Parteigenosse, sofern ihn nicht zwingende Gründe daran hindern, als Mitglied anzugehören hat. Erstreckt sich der Wahlkreis über eine Mehrzahl von Ortschaften, so können in allen Orten, in denen Parteigenossen vorhanden sind und 17 18 19 20 21 22

Ritter, Sozialdemokratie (wie Fn. 12), S. 43. Zur relativen Kontinuität vom Sozialistengesetz zu den 1890er Jahren: Torsten Kupfer, Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende, Essen 2003. Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Berlin 41976. Zusammenfassend nun Jürgen Schmidt, August Bebel. Kaiser der Arbeiter, Zürich 2013. Protokoll Parteitag 1900, S. 6. Ebenda, S. 139.

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die sonstigen Verhältnisse es zulassen, Ortsvereine des Sozialdemokratischen Vereins gebildet werden.“ In § 5 wurden dann auch Zusammenschlüsse der Vereine zu „Bezirksverbänden“ und „Landesorganisationen“ vorgesehen; § 6 überließ diesen mittleren Ebenen die Festsetzung der Mitgliedsbeiträge, unter Zugriffsmöglichkeit von 20 % für die „Zentralkasse“.23 Die auch vom Mehrheitswahlrecht veranlasste Fokussierung auf die Reichstagswahlkreise war darin ebenso unverkennbar wie das Bemühen um den Ausgleich von dezentralen und zentralen Organisationsakzenten. Im Hinblick auf seinen nachfolgenden Aufstieg ist es bemerkenswert, dass Friedrich Ebert in Jena 1905 mit nur knapp über 60 % Delegiertenstimmen als neuer Parteisekretär das einzige umstrittene Mandat unter den sonst neben Bebel/Singer und Auer nahezu einmütig bestätigten Vorstandsmitgliedern erhielt.24 Auch er gelernter Sattler ursprünglich süddeutscher Herkunft mit zugleich norddeutschen Parteistationen, wuchs Ebert nach baldigem Tod Auers schrittweise in dessen Rolle eines um Geschlossenheit bemühten Organisationspragmatikers hinein.25 Eine Rückprojektion seiner erst nach Bebels Tod 1913 im Ersten Weltkrieg erlangten Position in die frühere Tätigkeitsphase ginge an der Realität vorbei; der Vergleich mit Stalins Aufstieg als Mann des Apparats26 ist auch wegen Eberts Rückhalt gerade bei den Gewerkschaften aus seinen Jahren 1900–1905 als Bremer Arbeitersekretär27 ziemlich grotesk. Dies gilt ebenso für häufig ungeprüft nacherzählte Oligarchie-Thesen des von der Sozialdemokratie enttäuschten Syndikalisten (und späteren italienischen Faschisten) Robert Michels.28 Mit der „täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen“29 hatte 1905 der Kölner Gewerkschaftskongress die Ablehnung jeglicher Debatte um den politischen Massenstreik begründet. Von dort her kam, angesichts frühzeitigerer Millionenstärke und des Bedarfs an branchengewerkschaftlicher Organisationskraft für Lohnkämpfe und Arbeitskonfliktbegleitung diverser Art, der stärkere Ausbau eines hauptamtlichen Funktionärskörpers gegenüber 1900 = 269 mit schon 1907 = 1625 Köpfen.30 Bis 1906 gab es keine Diäten für Reichstagsabgeordnete, so dass Organisations- und Redakteursstellen die materielle Grundlage für sozialdemokratische Volksvertreter bildeten. Außerdem mussten öffentlich bekennende Parteimitglieder 23 24 25 26 27 28 29 30

Protokoll Parteitag 1905, S. 6. Ebenda, S. 363. Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006; Peter-Christian Witt, Friedrich Ebert, Bonn 31992. Carl E. Schorske, Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie von 1905 bis 1917, Berlin 1981, S. 167. Klaus Tenfelde, Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914, Heidelberg 1993 (zu Ebert S. 5 ff.). Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911; auch zur Rezeption: Harald Bluhm / Skadi Krause (Hg.), Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens, Wiesbaden 2012. Protokoll der Verhandlungen des fünften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22.–27. Mai 1905, Berlin 1905, S. 30. Ernst Deinhardt, Gewerkschaftsbeamte, in: Sozialistische Monatshefte, 22 (5.11.1908), S. 1435–1436, Beleg S. 1435.

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jederzeit mit Diskriminierungen und Maßregelungen durch staatliche und private Arbeitgeber rechnen. Wenn nicht eine wirtschaftlich selbständige Existenz z. B. als Parteigastwirt – womit Ortsgruppentreffen sanktionsfrei gesichert waren – erlangt werden konnte, ließen sich begabte Propagandisten für mehr als nur Freizeit-Engagement einzig in hauptberuflichen Funktionen erhalten. Dies bedenkend, waren im Berichtsjahr 1907/08 reichsweit nur 78 hauptamtliche Parteisekretäre in den Bezirksorganisationen und Wahlkreisen noch gering bemessen; der Anstieg bis 157 für 1913/14 vollzog ungefähr die Mitglieder- und Mandatsentwicklung nach.31 Von einer die Organisationsbewegung überwuchernden Bürokratisierung findet sich also in der SPD bis 1914 noch keine Spur. Die 1909 und 1912 vollzogene Fortschreibung des Jenaer Statuts von 1905 folgte neben der Frauenbeteiligung mit einem abgestuften Delegiertenschlüssel32 der unterschiedlichen Mitgliederentwicklung: Von den 397 Reichstagswahlkreisen 1912 hatten 122 nur bis zu 300 SPDMitglieder und weitere 128 zwischen 301 und 1500, während an der Spitze Hamburg III allein 42.532 aufwies.33 Zur nicht selten zu pauschal behaupteten Immobilität hat das rasante Organisationswachstum – eben auch in der Massenbasis – eher noch nicht geführt; das belegt über die zunehmende Wahlbeteiligung hinaus gerade auch die Mobilisierung gegen das Hauptärgernis des preußischen (seit 1896 auch sächsischen) Dreiklassenwahlrechts.34 Ob es chancenreich gewesen wäre oder in einem Blutbad seitens des staatlichen Gewaltapparats geendet hätte, die Massendemonstrationen zum politischen Massenstreik als Erzwingungsmittel zu verschärfen, blieb auf dem Höhepunkt solcher Debatten zwischen 1905 und 1910 mehr eine Frage an die – organisatorisch sich dabei primär kompetent sehende – Gewerkschaftsbewegung.35 Wenn zur Reichstagswahl 1907 in Berlin von ca. 20.000 Aktivisten knapp 4,5 Mio. Flugblätter in mehreren Staffeln verteilt wurden, zeigte diese öffentliche Mobilisierung immerhin einen basisnahen Multiplikator-Effekt der Organisationskraft.36 Unterhalb der Schwelle einer revolutionären Herausforderung der bis zur Kriegsniederlage 1918 übermächtig erscheinenden Staatsgewalt und großer Arbeitskämpfe, doch für die Beteiligten keineswegs risikoarm, waren in den Hochburgen der SPD nahezu jährlich „Demonstrationsversammlungen“ zu verzeichnen. Sie wandten sich gegen Gesetzgebungsvorhaben oder Behördenakte, feierten politische Gedenktage oder manifestierten sozialen Protest.37 Wie Eduard Bernstein 31 32 33 34

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Fricke, Arbeiterbewegung (wie Fn. 11), S. 222. Protokoll Parteitag 1912, S. 154 (§ 7.1.) u. S. 327 („mit allen gegen 8 Stimmen angenommen“). Ebenda, S. 10. Jörg Rössel, Soziale Mobilisierung und Demokratie. Die preußischen Wahlrechtskonflikte 1900 bis 1918, Wiesbaden 2000, bes. S. 154 ff. u. S. 261 ff.; zu den beteiligungsstarken Leipziger Demonstrationen (1908: 80.000) Michael Rudloff u. a., Leipzig – Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996, S. 69–71. Peter Brandt / Detlef Lehnert, „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013, S. 92–94. Dieter Hertz-Eichenrode, Parteiorganisation und Wahlkämpfe der Sozialdemokratie in Berlin 1871–1918, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Aufstieg (wie Fn. 12), S. 254. Bernstein, Berliner Arbeiterbewegung (wie Fn. 15), S. 170–193.

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schon 1908 ersten Versionen der Oligarchie-These von Michels am Beispiel der inzwischen „90.000 organisierte Mitglieder“ zählenden SPD Groß-Berlins entgegenhielt, vollzog sich „teils Dezentralisation teils neue und stärkere Zentralisation“: Die „Zahlabende“ entwickelten sich aus früheren organisationstechnischen Schwerpunkten „immer mehr zu Diskussionsversammlungen“, während die „Vereinsversammlungen“ mehr der im Ablauf gestrafften „Erledigung von Geschäften des Wahlvereins“ dienten. Auf der Ebene des 1905 gebildeten „Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend“ wurde ein „Zentralvorstand“ von der „Generalversammlung“ begleitet, „in die die einzelnen Wahlkreise nach dem Verhältnis ihrer Mitgliederzahl Delegierte entsenden“.38 Wie im Unterschied beispielsweise von Schweizer Urkantonen zum modernen Territorialstaat war es auch in der Sozialdemokratie ein kommunikationsrelevantes Strukturgesetz der großen Zahl, welches dezentrale Versammlungsdemokratie mit zentraler Repräsentativdemokratie verknüpfte. 3. ZUM KRIEGS- UND REVOLUTIONS-INTERMEZZO DER SPALTUNG IN SPD UND USPD In den ereignisreichen Jahren von der Kriegskreditbewilligung im August 1914 bis zum Vereinigungsparteitag von SPD und USPD im September 1922 blieben organisationspolitische Details im Hintergrund. Die kurzlebige Massenbewegungspartei USPD ist ein Thema für sich, das hier nicht im vorgegebenen Umfang mit abgehandelt werden kann.39 Vor dem mehrheitlichen Anschlussvotum zur kommunistischen III. Internationale gab es im Oktober 1920 stattliche 894.000 USPD-Mitglieder, nach der Spaltung im April 1921 noch 340.000, während die KPD einen Zustrom von 370.000 registrierte; es waren also rechnerisch ca. 180.000 verloren gegangen.40 Davon werden sich begrenzte Anteile der SPD angeschlossen haben, die mit 1,22 Mio. 1921 nach 1,18 Mio. 1920 so ihren Höchststand vor der Vereinigung 1922 erlebte. Nach dem Kontinuitätsbruch des Krieges, als Mitgliedsbeiträge der vielen Soldaten ausblieben, hatte die SPD mit 1,01 Mio. 1919 – trotz im Jahresverlauf von ca. 0,3 auf 0,75 Mio. anwachsender Massenverankerung der USPD – fast schon wieder Vorkriegsstärke erreicht.41 Die 1,17 Mio. SPD- und 0,29 Mio. USPDMitglieder im Frühjahr 1922 ergaben im Frühjahr 1923, bei einem registrierten Übertritt von 0,21 Mio. ehemaligen USPD-Mitgliedern, zusammen den Höchststand von 1,26 Mio. der (V)SPD. So gingen angesichts der verschärften Inflationskrise 0,12 Mio. MSPD-Mitglieder (zumeist beitragssäumig) per Saldo verloren.42 38 39 40 41 42

Ders., Die Demokratie in der Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 18/19 (1908), S. 1106–1114, Zitate S. 1109 f. Außer den Titeln der nächsten beiden Anm. auch David W. Morgan, The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party 1917– 1922, Ithaca/London 1976. Robert F. Wheeler, USPD und Internationale, Frankfurt a. M. 1975, S. 263. Hartfrid Krause, USPD, Frankfurt a. M. 1975, S. 303. Mitgliederzahlen auch nach Protokoll Parteitag 1924, S. 16.

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Im Abstand zur von Max Weber hergeleiteten Terminologie der Führer- und/ oder Massendemokratie war das Organisationsgefüge der revolutionären Bewegungen am Ende des und nach dem Ersten Weltkrieg weder stark auf einzelne Führungspersonen zugeschnitten noch von Führungslosigkeit geprägt. Die improvisierte Rätebewegung des Übergangs vom monarchischen Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs zur im Januar 1919 gewählten Weimarer Nationalversammlung war ihrer Massenbasis wie den Führungsorganen nach eine situationsbedingte Erscheinungsform der sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Organisationsbewegung. Am ehesten könnte man die Revolutionären Obleute mit ihrem Schwerpunkt in der kriegswichtigen Metallindustrie als neue Form einer quasi-syndikalistisch an der Betriebsbasis ansetzenden, informell organisierten proletarischen Bewegung charakterisieren. Zumal unter der Burgfriedenspolitik der Kriegsjahre nicht einmal turnusmäßige Reichstags- und Landtagswahlen stattfanden und gewerkschaftliche Lohnkämpfe durch Fronteinsatz der Jahrgänge des besten Organisationsalters behindert waren, lebte in jener Rätebewegung der Obleute eine Betriebsvariante des früheren wohnortbezogenen Vertrauensleutesystems der Sozialdemokratie wieder auf. Freilich war auch der prominenteste Obleute-Vertreter Richard Müller43 weit davon entfernt, deutscher Revolutionsführer im November 1918 sein zu können. Nicht einmal die Mehrheit der eigenen Partei USPD hatte er hinter sich. Die USPD war gemäß dem reichsweiten Wahlergebnis des 19. Januar 1919 mit 7,6 % nicht stark genug, auf die SPD mit dominierenden 37,9 % einen parlamentarischen oder wirksamen außerparlamentarischen Druck ausüben zu können. Der Aufstieg der USPD zur Massenpartei begann seit dem Frühjahr 1919 (mit einem Höhepunkt 1920, vor deren Spaltung) erst in Überwindung der organisatorischen NachzüglerPosition, angesichts der Enttäuschung breiter Arbeitermassen über die SPD und nicht zuletzt Ablehnung der vielzitierten „Noske-Politik“ der Gewaltanwendung mit keineswegs republiktreuen Militärformationen. Dass gerade in Hochburgen die USPD eine authentischere Fortsetzung der klassischen Sozialdemokratie ohne Anpassungsprozesse der Kriegsjahre zu sein beanspruchte, lässt sich exemplarisch an der (neben Hamburg) in einer Regionalmetropole wohl traditionsreichsten Leipziger Organisation studieren. Von der dortigen Sozialstruktur vor der Reichsgründung44 bis hin zu weitläufig verzweigten Milieuorganisationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik45 sind örtliche Voraussetzungen gut erforscht. Während in Berlin die Mobilitätsdynamik einer Haupt- und Industriestadt und in Hamburg diejenige einer Handels- und Hafenstadt wirksam blieb, lässt sich an Leipzig und Umgebung das Phänomen der verdichteten Solidargemeinschaft46 prägnant studieren. Dazu trug auch ein „System der Arbei43 44 45 46

Ralf Hoffrogge, Richard Müller – Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008. Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978. Thomas Adams, Arbeitermilieu und Arbeiterbewegung in Leipzig 1871–1933, Köln 1999. Zum Begriff und Hintergrund Peter Lösche / Franz Walter, Zur Organisationskultur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft,

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terbibliotheken“ in Leipzig bei, das 1911 an 59 Standorten mit 17 eigenen Gebäuden 53.000 Bücher umfasste.47 Die Stadt Leipzig hatte nach der Berufszählung von 1925 zwar nur einen durchschnittlichen Arbeiteranteil knapp unter der Hälfte der Erwerbstätigen, aber zusätzlich mit einem Drittel Angestellte/Beamte doppelt so viele derartige Beschäftigtenanteile als reichsweit.48 Die Führungsrolle der Leipziger USPD als Massenorganisation mit gegenüber dem Vorkriegsstand 40.000 auf 60.000 Mitte 1920 anschwellender Mitgliederstärke war gegenüber der SPD mit Anfang 1920 weniger als 2500 Mitgliedern geradewegs erdrückend. Dass im Gegensatz zu diesem Verhältnis von fast 25:1 die Relation bei den Reichstagswahlen in Leipzig im Juni 1920 mit 44 % USPD zu 7 % SPD (und 2 % KPD) „nur“ gut 6:1 betrug, lag an der trotz Schwundprozesses gegenüber 1919 relativ besseren Stellung der SPD bei weniger beitrittsgeneigten Angestellten und Beamten. Nach der USPD-Spaltung blieben dieser Partei in Leipzig immer noch 43.000 Mitglieder, zur KPD traten höchstens 11.000 über; die SPD konnte nur mit geringem Zuwachs auf 3245 profitieren, über 6000 gehörten keiner Partei mehr an. Der im dritten Quartal 1922 abgewickelte Vereinigungsprozess der USPD mit der SPD vollzog sich, nachdem die Abspaltung zur KPD „verdaut“ war, in Leipzig per Saldo zunächst ohne jegliche Einbuße.49 Das Hauptproblem der USPD war die Ungleichzeitigkeit ihrer Massengewinnung mit den gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die sich nach dem Ende der Streikbewegungen des Frühjahrs 1919 und im Zeichen der Empörung über den Versailler Vertrag einige Monate später bereits nach rechts hin verlagerten. Das kulminierte im Kapp-Putsch des Frühjahrs 1920, eröffnete jedoch aus dessen Abwehr in einem Generalstreik wohl letztmalig die Chance einer grundlegenden Machtverschiebung zugunsten der Arbeiterbewegung. Der wichtigste Grund dafür, nicht einmal mit dieser nach dem Revolutionswinter 1918/19 einzigartigen Massenbewegung etwas von einiger Dauer politisch zu erreichen, war zweifellos die längst vertiefte Spaltung. Diese manifestierte sich bei der Reichstagswahl im Juni 1920 mit einem Verhältnis von 21,7 % MSPD und 17,9 % USPD (sowie erst 2,1 %

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48 49

15 (1989), S. 511–536; dies., Zwischen Expansion und Krise. Das sozialdemokratische Arbeitermilieu, in: Detlef Lehnert / Klaus Megerle (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990, S. 161–187; Peter Lösche (Hg.), Solidargemeinschaft und Milieu. Sozialistische Kultur- und Freizeitorganisationen in der Weimarer Republik, 4 Bde., Berlin 1990–1993. Stefan Berger, Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich: 1900–1931, Bonn 1997, S. 171 unter Bezugnahme auf den „Bericht über die Tätigkeit des Bezirksvorstands der SPD Leipzig“ (einschlägig im Buch von Berger auch der Vergleich zur Parteiorganisation beider Länder S. 90–152). Jesko Vogel, Der sozialdemokratische Parteibezirk Leipzig in der Weimarer Republik, Hamburg 2006, S. 32. Ebenda, S. 135 f., 220, 231 u. 273 f.; die Rechtsabspaltung „Alte“ SPD von 23 Fraktionsmitgliedern des sächsischen Landtags blieb 1926 spektakulär erfolglos, indem sich nur 1 % der sächsischen SPD-Mitglieder dieser Gruppierung anschlossen (ebenda, S. 450–453, Zahlen S. 453/Fn. 95). Eher Kabinettsmitglieder und Parlamentarier als die Funktionsträger der Partei konnten sich dermaßen von ihrer vormaligen Basis entfernen.

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KPD).50 Das Stichwort „Arbeiterregierung“, in die Debatte geworfen von jenem gewerkschaftlichen Streikführer Legien,51 in dessen Dachverband 1905 gegenüber den Diskussionen in der SPD noch das Verdikt „Generalstreik ist Generalunsinn“ kursierte, zielte nicht auf Varianten einer „Diktatur des Proletariats“, sondern meinte dominierenden Einfluss auf die Regierung. Diesen konnte Legien, zuvor Architekt der unmittelbar nach Revolutionsbeginn 1918 gebildeten Zentralarbeitsgemeinschaft mit den Unternehmerverbänden, auch deshalb nicht selbst ausüben, weil seine Gesundheit nach drei Jahrzehnten an der Organisationsspitze längst zerrüttet war und er schon Ende 1920 verstarb. Auch Friedrich Ebert – seit Februar 1919 als Reichspräsident in die koalitionsbildende Staatspolitik entrückt – lässt sich zuvor nicht als Anführer einer sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Umsturzbewegung zum Kriegsende charakterisieren. Vielmehr konnte er am 9. November 1918 als Reichskanzler einer Revolution von oben, in Amtsüberlassung seitens des Prinzen Max von Baden, seit dem Folgetag auch im Rat der Volksbeauftragten aus SPD und USPD die Leitungsposition gegenüber den Kabinettskollegen und dem Regierungspersonal mit dem Eigengewicht seiner Massenorganisation beanspruchen. Während Karl Liebknecht für den Spartakusbund noch mehr als den Revolutionären Obleuten die Abstützung durch eine Massenpartei fehlte, gelang es auch dem ebenfalls am 9. November die Republik ausrufenden SPD-Mitvorsitzenden Philipp Scheidemann trotz seines Redetalents nicht, dem Verhandlungs- und Organisationsroutinier Ebert die Führungsrolle beim Hineinwachsen in die Weimarer Legalordnung streitig zu machen. 4. DIE SPD ALS ETABLIERTE MASSENORGANISATION IN DER WEIMARER REPUBLIK Es gehört zu den Negativklischees über die Weimarer SPD, dass ihr – zwischen August Bebel und Kurt Schumacher nach 1945 – hinreichend profilierte Führungspersönlichkeiten für eine wirkungsvolle Massenpolitik gefehlt hätten. Nun brachte aber gerade die verstärkte Massenverankerung ausweislich der Wahlergebnisse seit Revolutionswinter 1918/19 die Abwanderung von Spitzenpolitikern in höchste Ämter der Republik auch über Ebert hinaus mit sich: Scheidemann als erster Reichsministerpräsident wurde das Opfer seines wortstarken Neins zum Versailler Vertrag, und 1920 bis 1932 amtierten mit jeweils nur Unterbrechung weniger Monate die weit über ihre Partei hinaus angesehenen Sozialdemokraten Otto Braun52 als preußischer Ministerpräsident und Paul Löbe als Reichstagspräsident. Alle vier 50

51 52

Jürgen Falter u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 68; überdurchschnittlich vertreten und dabei stärker als die SPD war die USPD in den Wahlkreisen Berlins (und Umgebung), Mitteldeutschlands (Merseburg und Thüringen), Leipzig und als einziges westdeutsches Gebiet Düsseldorf Ost (u. a. mit Essen und dem heutigen Wuppertal). Karl-Christian Führer, Carl Legien 1861–1920, Essen 2009. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a. M. 1977.

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waren zwischen 1865 und 1875 geborene ursprüngliche Facharbeiter, also in Bebels SPD mit der „Generation Ebert“53 während deren forcierter Organisationsbewegung in hauptamtliche journalistische bzw. verwaltende Funktionen aufgestiegen. Nach der Ära Ebert/Scheidemann war seit 1919 mit Otto Wels jener Ex-Tapezierer einer der SPD-Vorsitzenden, dessen mutige Reichstagsrede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz im März 1933 wohl vor Willy Brandts Warschauer Kniefall der wichtigste mit einer Person verbundene symbolpolitisch-moralische Höhepunkt deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts ist.54 Zum Vergleich sei erwähnt, dass von anderen Parteien heute fast nur politisch motiviert von rechts Ermordete im historischen Gedächtnis fortleben: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als KPD-Gründer, der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner von der USPD, Außenminister Walther Rathenau für die linksliberale DDP und der Ex-Finanzminister Matthias Erzberger des katholischen Zentrums (der Name Heinrich Brünings wird nicht mit der Republik, sondern mit deren Ende verbunden). DNVP-Führungspersonen werden vor Alfred Hugenberg (seit 1928), der seine Partei spaltete, in Wahlen trotz seines Presseimperiums ruinierte und an Hitlers NSDAP auslieferte, öffentlich nicht erinnert. Die große Zeit des rechtsliberalen DVP-Politikers Gustav Stresemann kam erst 1923 (bis zum frühen Tod 1929) mit nur kurzer Reichskanzlerschaft und danach langer Amtsdauer als Außenminister. Aber selbst ohne den ex-post-facto-Determinismus, alles primär von der Endkrise 1932/33 her zu betrachten, kann die Veralltäglichung der Leitungsfunktionen einer nun etablierten Massenorganisation in einer demokratischen Republik nicht überraschen. Über engere Spezialistenkreise hinaus wenig zur Kenntnis genommen wurde bislang, dass nach dem Höhepunkt der Mitgliederzahlen von SPD und freigewerkschaftlichem Dachverband ADGB 1922 auch die sektoralen Massen- und Milieuorganisationen der Arbeiterbewegung ihre höchste Blüte in den 1920er Jahren erlebten. Auch wenn die in zeitgenössischen Angaben kolportierten Ziffern von bis zu dreieinhalb Millionen Mitgliedern des mit etwa 90 % sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Republikschutzverbands Reichsbanner Schwarz Rot Gold nicht oder nur durch eher symbolische Kollektivanmeldungen vorstellbar sind: Realistischere Schätzungen von zumindest einer Million haben ihre unbestreitbare Bedeutung als Gegengewicht zu republikfeindlichen Kampfverbänden.55 Schon früher bestanden Konsumvereine an vielen Orten, sie waren die außer den Gewerkschaften mit Abstand breiteste Massenorganisation (1922–1926 über drei Mio. Mitglieder).56 Nunmehr erlangten auch Bau- und Wohnungsgenossenschaften eine wachsende Bedeutung angesichts des fast kompletten Ausfalls von zehn Errichtungsjahrgängen zwischen Kriegsbeginn 1914 und dem Ende der Stabilisierungskrise 1924. 53 54 55 56

Bernd Braun, Die „Generation Ebert“, in: Klaus Schönhoven / ders., Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–86. „Das Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten“ (Untertitel) dokumentiert in deren Breite nun eindringlich Klaus Schönhoven, Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht, Bonn 2017. Vgl. Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold, Düsseldorf 1966, S.72–74; Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik?, Bonn 2011, S. 16–18. Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970, Frankfurt a. M. 1984, S. 188 f.

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Was gemeinhin unter lebensweltnaher und bildungsbezogener Arbeiterkulturbewegung rubriziert wird, ist zu vielgestaltig, um hier in der breit diversifizierten Massenerfassung auch nur einigermaßen vollständig aufgezählt werden zu können. Von der „Wiege bis zur Bahre“, in sozialisationsrelevanter Hinsicht beginnend mit den von Kurt Löwenstein geleiteten „Kinderfreunden“ über die von Marie Juchacz gegründete „Arbeiterwohlfahrt“ und finalisiert mit Feuerbestattungsvereinen der Freidenkerbewegung, gab es im Umfeld (früher sagte man parteizentrierter: Vorfeld) der SPD eine breite Palette von Angeboten. Um noch einmal auf das Fallbeispiel Leipzig zurückzukommen: Gerade die tiefe Krise 1923/24 auch in solcher Parteihochburg motivierte zum nachfolgenden Ausbau der funktionsdifferenzierten Milieuorganisationen57 als Bastion gegenüber einem wieder feindlicheren bürgerlichen Umfeld sowie zugleich der nun ernsthafteren Herausforderung durch eine kadermäßig geführte KPD. Auf dem Kieler Parteitag 1927 warnte der Vorsitzende Wels bereits vor einer Tendenz zur „Überorganisation“ infolge der vielen milieubezogenen „Nebenzweige“, die er mit „über vierzig Spielarten der organisatorischen Betätigungsmöglichkeiten“ bezifferte.58 Der Organisationsbericht zum Leipziger Parteitag 1931 erwähnte für die Jahre 1928 bis 1930 jeweils um 8000 Beschäftigte im gesamten Wirkungsfeld der Sozialdemokratie als „technisches, kaufmännisches, redaktionelles Personal“.59 Dessen überwiegenden Anteil z. B. in Druckereien und bei der Buchhaltung, also Facharbeiter- und einfachen Angestelltentätigkeiten, wird man nicht unter der Rubrik des Funktionärswesens abhandeln können. In gewisser Hinsicht vollzog das Organisationsmilieu der Sozialdemokratie einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nach, der besonders in den großen Städten neben die Arbeiterschaft zunehmend differenzierte Angestelltenberufe treten ließ. Wenn sozialstatistisch alternativlos (wegen des Hausfrauenanteils) insoweit nur männliche Mitglieder anhand einiger Großstädte ausgewertet wurden, zeigte sich diese Tendenz: Während Selbständige/Freie Berufe nur unter oder wenig über 5 % vertreten blieben und 1908 in Frankfurt/Main und 1914 in Hamburg jeweils annähernd 90 % der SPD-Mitglieder Arbeiter waren, konnten nun 1925/26 in Bremen und Hamburg bereits 12–13 % Angestellte/Beamte und von diesen auch in dem anders strukturierten Hannover immerhin 9 % verzeichnet werden. Verglichen mit der Berufszählung 1925 waren Arbeiter noch (anderthalbfach) über- und Angestellte/Beamte (auf Zweidrittelniveau) unterrepräsentiert.60 Bei einer breiteren, nicht nur wenige große Städte erfassenden Zählung 1930 registrierte die SPD unter

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Vogel, Parteibezirk Leipzig (wie Fn. 48), S. 379–386. Protokoll Parteitag 1927, S. 34 f. Protokoll Parteitag 1931, S. 247. Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1926, Berlin o. J. (1927), S. 23; bei Friedrich-Wilhelm Witt, Die Hamburger Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, Hannover 1971, S. 54 waren die Hausfrauen zu solchen Vergleichszwecken herauszurechnen; zur Berufszählung Dietmar Petzina u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reichs 1914–1945, München 1978, S. 55.

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ihren Mitgliedern ein Verhältnis von knapp 6:1 der Arbeiter gegenüber Angestellten/Beamten,61 während die Berufszählung knapp 3:1 ausgewiesen hatte. Jedenfalls im Vergleich zum Kaiserreich und mit Schwerpunkt vor allem in großen Handels- und Verwaltungsstädten ging die Weimarer SPD den ersten Schritt auf dem Weg von der Arbeiter- zur Arbeitnehmerpartei: Schon bei den Krisenwahlen zum Reichstag im Mai 1924 bewirkte der Abstrom von Arbeiterstimmen zur (dort fast gleichstarken) KPD die Annäherung der SPD-Wahlverankerung bei Arbeitern und Angestellten/Beamten, und 1928 stieg der SPD-Anteil dann in beiden Gruppen etwa gleichmäßig auf das Anderthalbfache. Erst die krisenverschärfte Ausnahmesituation des Juli 1932 führte sogar zur etwas besseren Position der SPD bei Angestellten/Beamten gegenüber den (häufiger erwerbslosen) Arbeitern.62 Überbewerten darf man diesen Befund auch jenseits der Weimarer Endkrise nicht: Die relative Wahlschwäche der SPD bei ländlichen Arbeitern und die stärkere Konzentration von Angestellten/Beamten auf (große) Städte führten in doppelter Hinsicht dazu, die in der Mitgliederverteilung noch klar ersichtlichen Unterschiede der SPD-Anhängerschaft bei Arbeitern und Angestellten/Beamten statistisch zu überlagern. Ein aus dem Umfeld von Debatten um das Godesberger Programm (1959) zuweilen rückprojizierter „Volkspartei“-Begriff macht auch jenseits der weitgehenden Unerreichbarkeit großer Teile der (bäuerlich bzw. handwerklich und einzelhändlerisch selbständigen, zumal katholischen) breiten Volksmasse historiographisch wenig Sinn:63 Es hatte sich zeitgenössisch bereits die Weimarer Rechte aus DNVP und DVP „solche“ Parteinamen angeeignet, während links davon DDP, SPD und USPD in Absetzung vom Obrigkeitsstaat bis 1918 auf ein ‚D‘ für demokratisch besonderes Gewicht legten.64 Die von noch mehr Organisationskraft getragene Mobilisierungsfähigkeit wird mit den – auf entgegengesetztem Spektrum der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 ziemlich genau entsprechenden – 14½ Mio. Ja-Stimmen beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926 dokumentiert: Dafür votierten in den Wahlkreisen (Alt-)Berlin, Hamburg und Leipzig (mit Umgebung) jeweils deutlich über 50 % der überhaupt Stimmberechtigten.65 Auch wenn ein breites Spektrum von linksbürgerlichen Intellektuellen und Publizisten einschließlich der großstädtisch konzentrierten demokratischen Massenpresse bis hin zur KPD den Volksentscheid unterstützte, wollte und konnte dazu von den Parteien nur die SPD eine (nahezu) 61 62 63

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Protokoll Parteitag 1931, S. 245. Jürgen W. Falter, Die Wählerpotentiale politischer Teilkulturen 1920–1933, in: Detlef Lehnert / Klaus Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 298. Allenfalls mag von einem negativen „Volkspartei“-Effekt angesichts des Verlusts von Arbeiter(und Arbeitslosen-)Stimmen an die KPD gesprochen werden: Detlef Lehnert, Zur historischen Soziographie der „Volkspartei“. Wählerstruktur und Regionalisierung im deutschen Parteiensystem seit der Reichsgründung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. 1–33, bes. S. 21. Mit ambivalenten Befunden dazu auch Peter Lösche / Franz Walter, Auf dem Weg zur Volkspartei? Die Weimarer Sozialdemokratie, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. 75–136. Im Kaiserreich nannten sich linksliberale Gruppierungen die Freisinnige bzw. (seit 1910) Fortschrittliche Volkspartei. Falter u. a., Wahlen und Abstimmungen (wie Fn. 50), S. 46 f. u. 80.

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reichsweite Organisationskraft entfalten. Das hob der Vorstandsreferent Konrad Ludwig auf dem anschließenden Kieler Parteitag 1927 hervor, indem er „im Jahre 1926 36.789 öffentliche und 57.981 Mitgliederversammlungen“ sowie „100 Millionen Flugblätter und 9 Millionen anderer Schriften“ erwähnte sowie manchen Bündnispartnern ihrem quantitativ geringen Beitrag gemäß mehr Realismus empfahl: „Was bedeutet dagegen die durch den sogenannten Kuczinski (sic!)-Ausschuß veröffentliche Tatsache, daß durch diesen 3 Millionen Flugblätter verteilt und 51.000 Mark für den Volksentscheid aufgewendet seien! Das bedeutet, daß das Aufreißen des Mundes im Gegensatz zur Leistung steht. (Sehr richtig!) Unsere Genossen sind es gewesen, die die Arbeit machen mußten.“66 In der Stadt Leipzig z. B. „mobilisierte die Partei rund 10.000 Aktivisten“ für den „‚Schleppdienst‘, das Begleiten der potentialen Befürworter zu den Wahllokalen“; dies war „mehr als die KPD in ganz Westsachsen Mitglieder aufweisen konnte“.67 Im Reichsmaßstab wurde nach der Hyperinflation 1923 und Massenarbeitslosigkeit infolge der Stabilisierungskrise 1924 bis Ende 1925 mit 0,81 Mio. ein Tiefpunkt der SPD-Mitgliederstärke in der Weimarer Republik registriert, bevor sich dann bis Ende 1929 ein Wiederanstieg auf 1,02 Mio. vollzog.68 Ein Frauenanteil von 0,165 Mio. = 20 % bedeutete Ende 1926 gegenüber dem unmittelbaren Vorkriegsstand fast Stagnation. Deren Negativkomponente in deutlich von 0,92 auf 0,66 Mio. gesunkener männlicher Beteiligung war mehr auf die Spaltung und insoweit weniger auf eine Parallelstärke der KPD zurückzuführen; ihre „nach Moskau angegebene Zahl von 112.000 Mitgliedern“ bezweifelte der SPD-Vorsitzende Wels öffentlich.69 Als erstaunlich krisenresistent erwies sich die SPD-Mitgliederzahl in der Weltweltwirtschaftskrise70: 1,04 Mio. Ende 1930 und trotz der SAPD-Absplitterung 1,01 Mio. Ende 1931 (bei auf 23 % wachsendem Frauenanteil) zeigten Kompensationserfolge der inneren Mobilisierung; auch 0,97 Mio. Ende September 1932 lagen noch deutlich über dem Niveau von 1924 bis 1928, das auch für die SPD nur eine Periode der mühsamen relativen Stabilisierung gewesen ist. Jene Parteimitglieder, die in der beschleunigten Organisationsbewegung mit Schwerpunkt zwischen 1906 und 1913 im jungen männlichen wahlberechtigten Alter zwischen 25 und 30 beigetreten und (was aber nur teilweise zutraf) der SPD auch 1926 erhalten geblieben waren, zählten nun zwischen 38 und 50 Jahre. Tatsächlich wurde 1926 die Alterskohorte zwischen 36 und 50 als die am stärksten vertretene registriert.71 Wer im Weimarer Gründungsimpuls 1919/20 mit 30 Jahren 66 67 68 69 70 71

Protokoll Parteitag 1927, S. 44; gemeint ist der Statistiker und Vater des Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski: Robert Lorenz, Robert René Kuczynski (1876–1947). Ein politischer Intellektueller in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 61 (2013), S. 505–521. Vogel, Parteibezirk Leipzig (wie Fn. 48), S. 467. Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1929, Berlin o. J. (1930), S. 169. Jahrbuch 1926, S. 29; Parteitag 1927, S. 40. Diese Zahlen der Spätphase nach Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin 1987, S. 584 mit Fn. 107. Jahrbuch 1926, S. 24; die auf dem Parteitag 1931, S. 246 präsentierten Zahlen für 1930 zeigten (in Prozentwerte umgerechnet) keine nennenswerte Veränderung, weil die jüngeren Neubeitritts-Jahrgänge den Alterungsprozess der Langzeitmitglieder ausgleichen konnten.

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(kriegsbedingt später) beitrat, gehörte im Lebensalter 36 bzw. 37 ebenso 1926 zu jenem mittleren Block, der allein schon ca. 45 % ausmachte. Die jüngeren Gruppen bis 35 umfassten mit ca. 28 % sogar geringfügig mehr als die 27 % älteren über 50 Jahre. Es handelte sich also in der Weimarer SPD um eine generationelle Verdichtung jener mittleren Altersgruppen, die als junge Erwachsene von Bebels weithin legaler Sozialdemokratie in deren späterer Entwicklungshälfte geprägt wurden – ob sie kontinuierlich Mitglied waren oder erst später beitraten. Zwischen 36 bis 50 Jahre alt waren also die meisten Mitglieder in der SPD. Dieser Befund wurde auf dem Kieler Parteitag 1927 für Angestellte in Parteifunktionen und Parteipresse ungefähr bestätigt: 498 Personen (= 38 %) waren zwischen 40 und 50, immerhin 300 (= 23 %) von 30 bis 40, aber nur 75 (= 6 %) unter 30, in umgekehrter Richtung 311 (= 24 %) zwischen 50 und 60, aber nur 126 (= 9 %) über 60. Nicht diese inzwischen etwas über 1000 hauptamtlich Tätigen, sondern die Aufzählung fast durchweg ehrenamtlicher „3146 in den Kreistagen, 1122 in den Städten, 6773 Stadtverordnete und 29.000 Gemeindevertretungen in 7000 Gemeinden“ legte Zeugnis ab von einer durch Massenunterstützung in Wahlgängen getragenen Breite des Engagements der Parteimitglieder.72 Wesentliche Veränderungen an dem Jenaer Statut von 1905 und seinen Fortschreibungen 1909/12 hat es im betrachteten Zeitrahmen nicht mehr gegeben, abgesehen von dort noch primärer Gliederung nach den 397 Reichstagswahlkreisen, nunmehr aber der zum Weimarer Proportionalwahlrecht passende Aufbau „Bezirksverband“, „Unterbezirke“ und „Ortsvereine“. Was sonst das 1925 letztmalig im Parteitagsprotokoll (mit partiellen Änderungen) abgedruckte „Organisationsstatut“73 im Wortlaut von der Vorkriegszeit unterschied, waren vorrangig Formalisierungen aus der Organisationspraxis und die stärkere Berücksichtigung der eigenständigen Bedeutung der inzwischen wahlberechtigten Frauen.74 Dem längst innerparteilich etablierten dezentralisierten Unitarismus entsprach in der Weimarer Republik seitens des Parteivorstands die „Herausgabe eines Musterstatuts für die Bezirksorganisationen“; dieses hatte nur empfehlenden Charakter, doch machte es sich „der weitaus größte Teil“ dieser Regionalgliederungen als offenbar hilfreich zu eigen.75 Unter den 32 Bezirksorganisationen war Ende 1926 Hamburg mit 70.000 Mitgliedern vor dem benachbarten Schleswig-Holstein mit 46.700 führend, während das in der Vorkriegszeit dominierende Berlin als Hauptschauplatz der Spaltungsfolgen nunmehr erst an sechster Position lag. Mit insgesamt 8230 Ortsvereinen,76 also etwa pro 100 Mitglieder einer, wurde eine weit verzweigte Basisverankerung gerade auch für die Kommunalpolitik gewährleistet. 72 73 74

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Protokoll Parteitag 1927, S. 44. Protokoll Parteitag 1925, S. 11–17. Das Statut ebenda, S. 11 (§ 5 Abs. 1) sah vor, auf Delegations- und Leitungsebenen „den weiblichen Mitgliedern im Verhältnis ihrer Zahl eine Vertretung zu gewähren“; das Protokoll enthielt zusätzlich auch den Bericht der Frauenkonferenz (S. 327–372), wie es seit 1919 etablierte Praxis war. Erste Änderungen sind bereits im Protokoll Parteitag 1919 verzeichnet (S. 76 f.). Protokoll Parteitag 1927, S. 45. Jahrbuch 1926, S. 25 u. 29.

Die „klassische“ Sozialdemokratie als Organisationsbewegung

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5. FAZIT UND AUSBLICK Im Verlauf der Weimarer Republik hätte die (wohlbemerkt schon 1913/14) Millionenpartei SPD dem späteren einseitigen Bild einer intern ziemlich perfektionierten und nach außen immobileren „Parteimaschine“ näher kommen können, wären nicht ständig Kontinuitätsbrüche zu verzeichnen gewesen: Krieg, Spaltung der Partei, Revolution, Inflation, Weltwirtschaftskrise – und dann noch weiter NS-Regime, Krieg, Nachkriegschaos, Besatzung, Teilung des Landes, Kalter Krieg. Mit Ansätzen gerade einmal zwischen dem relativen Stabilisierungsherbst 1924 und dem Krisenbeginn 1929 hat sich wohl erst nach Kurt Schumachers Tod und dem 17. Juni 1953, unter nun verfestigten Bedingungen in der Ära des Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer und zunächst auch seines „Apparatlenkers“ Fritz Heine,77 jener Organisationstypus etabliert, der häufig allzu pauschal auf Weimar und teilweise gar das späte Kaiserreich rückprojiziert wurde. Allerdings gab es auch zuvor in der langen Gründungsperiode 1848 bis 1890 wenig Parteikontinuität; gerade deshalb konnte danach eine Ära Bebel dermaßen prägend wirken. Aus der Rückblende wird man sich gegen die – freilich erst im Krisenjahr 1930 zu evident bedrohlicher Massenmobilisierung aufsteigende – NSDAP eine noch erheblich organisations- und mobilisierungsstärkere SPD wünschen dürfen. Relativ zur Bevölkerungszahl hat es damals eine solche weitaus stimmenanteils- und mitgliederstärkere Sozialdemokratie tatsächlich in Österreich und dabei besonders im „roten Wien“ mit über 400.000 SDAP-Mitgliedern in einer Stadt von 1,8 Mio. Einwohnern gegeben.78 Dass auch sie, die die Spaltung während des Ersten Weltkriegs durch eine rechtzeitige Korrektur auf einen oppositionellen Kurs vermieden hatte, im Bürgerkrieg 1934 gegen ein autoritäres Regime unterlag, wird man nicht unabhängig vom deutschen „1933“ beurteilen können. Zuvor wurde 1930 in einem den Organisationsfragen gewidmeten Aufsatz in der SPD-Theoriezeitschrift „Die Gesellschaft“ dieses nachbarstaatliche Parteimodell besonders gewürdigt. „Die großartige Leistung der österreichischen Sozialdemokratie, die eine in der Geschichte noch nie dagewesene Werbekraft der Bewegung erwiesen hat, besteht eben darin, daß sie diesen Gegensatz gelöst hat: die Aktionen der Partei werden zu Massenbewegungen, die Massenbewegungen verlaufen im Rahmen der Parteiorganisation.“79 Wenn solches für Deutschland nicht zutreffen konnte, lag das nicht zuletzt an den Nachwirkungen der Parteispaltung von 1916/17, also exakt in der Mitte der hier im Kern betrachteten Zeitspanne von 1900 bis 1933.

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Stefan Appelius, Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen 1999. Detlef Lehnert, Die Metropole des Organisationspatriotismus, in: Zeitgeschichte, 19 (1992), S. 319–355. Alexander Schifrin, Parteiapparat und Parteidemokratie, in: Die Gesellschaft, 7 (1930), S. 505– 528, Zitat S. 524.

KADERPARTEI, UNTERGRUNDPARTEI, MASSENPARTEI Die Kommunistische Partei Italiens von den Zwanziger bis zu den Fünfziger Jahren* Aldo Agosti Die italienische kommunistische Partei (PCI), deren Geburtsstunde am 21. Januar 1921 in Livorno war, entstand als die letzte Sektion der Dritten Internationale, und zwar im Sinne des strategischen Masterplans der „revolution ante portas“: Es wurde beabsichtigt, eine Trennung zwischen der Avantgarde des organisierten Proletariats einerseits und andererseits dem sogenannten Sumpf des Reformismus und des Zentrismus zu schaffen, um das Proletariat mit dem Ziel in die Revolution zu führen, ein sowjetisches Regime zu errichten. Selbst wenn dieses Vorhaben noch wenige Monate zuvor eine Legitimation gehabt hätte, so war es doch in den ersten Monaten des Jahres 1921 angesichts der politischen Lage Italiens überholt. Unmittelbar nach der Besetzung der Fabriken (September 1920), die mit einer schweren Niederlage der Gewerkschaften endete, hatte der Niedergang der sozialistischen Arbeiterbewegung angefangen. Die Industriellen hatten umgehend die Lage unter ihre Kontrolle gebracht, die politisch aktiveren Arbeiter entlassen, die Löhne gesenkt und härtere Arbeitsbedingungen in den Werken eingeführt. Unterdessen hatte die faschistische Gewalt zunächst auf dem Land dann auch in den Städten zu wüten begonnen1. Dies geschah mit aktiver finanzieller Unterstützung der Gutsbesitzer und einiger Industriezweige. So wurde der PCI widerwillig zum Paradebeispiel eines Widerspruchs, der die ersten Jahre der Entwicklung und Festigung auch der anderen kommunistischen Parteien charakterisieren sollte: Parteien, die ursprünglich als Organisationsinstrumente der Revolution konzipiert und erschaffen wurden, mussten in einer nicht mehr revolutionären Realität agieren2. Obwohl verhältnismäßig spät gegründet, hatte der PCI3 einen nicht minder langen und komplexen Entstehungs- und Reifungsprozess als die anderen kommunis* 1 2

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Übersetzung: Davide Masuzzo und Christian Jansen. Claudio Natoli, La Terza Internazionale 1919–1923. Proletariato di fabbrica e reazione industriale, Rom 1982, S. 67–113. Wolfgang Eichwede, Revolution und internationale Politik. Zur kommunistischen Interpretation der kapitalistischen Welt 1921–1925, Köln 1917 S., 7–37; Serge Wolikow, L’Internationale Communiste. Le Komintern ou le rève dechu du parti mondial de la révolution, Paris 2010, S. 57–75: Aldo Agosti, Il partito mondiale della rivoluzione. Saggi sul comunismo e l’Internazionale, Mailand 2009, S. 135–152. Die offizielle Bezeichnung war Partito comunista d’Italia und diese wurde zumindest bis 1944 beibehalten, als erzu dem Partito comunista italiano wurde. Im Folgenden wird nur noch die Abkürzung PCI verwendet.

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tischen Parteien. Der Krieg hatte die gesellschaftliche Struktur und die soziale Vernetzung Italiens zutiefst verändert: Eine neue Arbeiterklasse war in den militarisierten Fabriken entstanden, weniger duldsam als diejenige, welche die großen gewerkschaftlichen Kämpfe aus der Giolitti-Ära geführt hatte. Auf dem Land hatte der Krieg außerdem lang gefestigte soziale Verhältnisse zerrüttet. Die pachtbäuerlichen Zonen Zentralitaliens, die von Tagelöhnern bearbeiteten Flächen der Poebene und sogar die Regionen des Mezzogiorno, wo sich eine gewaltige Landbesetzungsbewegung entwickelte, wurden zum Schauplatz großer Streiks und Unruhen. 1920 hatte sich die Mitgliederzahl des PSI (Italienische Sozialistische Partei) gegenüber dem Stand 1914 fast vervierfacht und überschritt die 200.000er Marke, was ihn zur ersten wirklichen Massenpartei der italienischen Geschichte machte. Dies führte zu einer Veränderung der geographischen Verteilung und der Sozialstruktur der Partei und zeigte die Unzulänglichkeiten ihres organisatorischen Aufbaus. In der Tat blieb der PSI weiterhin hauptsächlich eine Organisation der Propaganda. Ohne direkte Verbindung zu den Massen erreichte er diese lediglich über die Berufsgenossenschaften und die Arbeitskammer: Seine Sektionen waren im Wesentlichen lokale Kultur- und Propagandakreise, welche untereinander nicht durch eine gemeinsame politische Führung auf der Ebene der Provinzien und Regionen koordiniert waren.4 Als der PCI Anfang 1921 gegründet wurde, zeigte er noch markante Züge der Zugehörigkeit zur sozialistischen politischen Familie, von der er sich allmählich abkoppelte. Die Mehrheit der 59.000 Militanten, deren Delegierte in Livorno für die kommunistische Option stimmten, stammte in Wirklichkeit aus den Reihen des sozialistischen Maximalismus und weder aus der von Bordiga beeinflussten Strömung noch aus der Turiner Strömung um Ordine Nuovo (Neue Ordnung), die beide als Grundpfeiler der Partei angesehen Ebene und die Aufmerksamkeit der Bolschewisten erregt hatten. Zu den PCI-Gründern gehörten teils Funktionäre (Verwaltungsbeamte, Gewerkschafter, Abgeordnete), die über prägende Erfahrungen im PSI verfügten, teils – und das war wohl der größte Teil – handelte es sich um erst 1920 dem PSI beigetretene Mitglieder. Ein weiterer beträchtlicher Teil kam aus den Reihen des sozialistischen Jugendverbands, der sich überwiegend (47.000 von 53.000 Mitgliedern) der neuen Partei anschloss und somit diese mit einer stattlichen Anzahl an Kadern auf unterer und mittlerer Führungsebene versorgte. Dies bedeutete, dass die „alte“ sozialistische Tradition, welche durch die sozialen Spannungen der Nachkriegszeit wiederbelebt wurde, sich in den PCI ergoss, besonders in Regionen wie der Emilia Romagna und der Toskana: Eine hauptsächlich urbane, handwerkliche und eher plebejische als Arbeiter-Tradition, welche oft nicht unbedeutende anarchistisch-gewerkschaftliche und allgemein „subversive“ Anklänge hatte, wobei „subversiv“ bereits Ablehnung gegenüber einer als ungerecht empfundenen Gesellschaft und gegenüber den Regeln eines Staats bedeutete, der per definitionem

4

Andreina de Clementi, Radiografia del partito dopo la scissione di Livorno 1921–125, in: Il Partito comunista italiano. Struttura e storia dell’organizzazione 1921–1979, hg. von Massimo Ilardi / Aris Accornero, Mailand 1982, S. 899–933.

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den unteren Schichten fremd und feindlich gesinnt war. Außerdem bedeutete es auch, dass die Geburtsstunde des PCI Ausdruck eines Generationenbruchs war.5 Auf jeden Fall gelang es der neuen Partei, die eigene Position auf dem ganzen nationalen Territorium zu festigen. Sie wiederholte jedoch größtenteils die spezifische geographische Verankerung des PSI und war eine grundsätzlich kleinstädtisch geprägte Organisation, Abbild der tiefen Verwurzelung in der damaligen Gesellschaft und zugleich einer mangelnden Durchdringung der größeren Industriezentren, mit Ausnahme von Turin. Eine derartige Struktur, bestehend aus in kleineren und in mittleren Zentren tätigen Sektionen, lässt einen heterogenen Aufbau vermuten, in dem die häufigsten Berufe in der Provinz die größte Rolle spielten (Handwerker, Laufburschen, Angestellte in kleineren Unternehmen oder im Dienstleistungssektor). Das scheint sich auch durch die kommunistische Mitwirkung an der Confederazione Generale del Lavoro (CGL – Allgemeiner Gewerkschaftsbund) zu bestätigen, in der die Mitglieder der neuen Partei eine bedeutende Minorität zwischen einem Viertel und einem Drittel der gesamten Mitglieder war. Der Einfluss der Mitglieder der neuen Partei war anteilmäßig größer in den Berufskammern und in den Berufsverbänden: in den letzteren waren die Kommunisten nur in Sekundärsektoren stark, außer örtlich – wie zum Beispiel in Turin – unter den Metallarbeitern. Schwach waren die Auswirkungen der Spaltung bei den bäuerlichen Massen, die in Federterra (Landarbeitergewerkschaft) organisiert waren, während das Netz der Kooperativen sowie die überwiegende Mehrheit der „roten“ kommunalen und Provinzverwaltungen unter Kontrolle der Sozialisten blieb.6 Ein erster Beleg für die Stärke der neuen Partei ließ sich bei den politischen Wahlen im Mai 1921 erkennen. Die Ergebnisse waren nicht gerade berückend: während der PSI einen Großteil seiner Anhänger behielt und fast 1.600.000 Stimmen und 122 Sitze erhielt, kam der PCI nicht einmal auf 300.000 Stimmen und bekam dafür gerade einmal 15 Sitze. Jedoch waren diese Stimmen Ausdruck einer entschlossenen und kompakten revolutionären Minderheit. Die strenge und doktrinäre Ideologie von Amadeo Bordiga, der in Livorno zum Generalsekretär der Partei ernannt wurde, war zweckmäßig für die notwendige defensive Festigung und die unnachgiebige Moral passte gut zu einer Partei, die in entscheidendem Kontrast zur sozialistischen Tradition stand und Disziplin und Effizienz als eigenes Markenzeichen etablierte. Das führte jedoch in die politische Isolation.7 Aber diese Gestalt geriet in immer stärkeren Gegensatz zur Politik der Kommunistischen Internationale und führte zwischen 1923 und 1924 zur Entmachtung Bordigas und zu seiner Ersetzung durch eine neue Führungsgruppe mit Gramsci an der Spitze. Die Krise des Faschismus, die auf die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti durch faschistische Schläger folgte, ermöglichte der neuen 5 6 7

Renzo Martinelli, Il partito comunista d’Italia 1921–1926. Politica e organizzazione, Rom 1977, S. 88–110. Ebenda S. 153–188. Paolo Spriano, Storia del Partito comunista italiano. I. Da Bordiga a Gramsci, Torino 1967, S. 165–191. Zu Bordiga: Franco Livorsi, Amadeo Bordiga. Il pensiero e l’azione politica 1912–1970, Rom 1976, S. 190–270.

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Führung erneut die politische Initiative zu ergreifen, diesmal aber mit mehr Flexibilität als in der Vergangenheit. In den Beziehungen mit den Führungen der anderen Parteien im Komitee der antifaschistischen Opposition herrschte weiterhin gegenseitiges Misstrauen vor, und so kam es nicht zu irgendeiner Form dauerhafter Zusammenarbeit; jedoch waren die Erfolge des PCI auf der organisatorischen Ebene beträchtlich: die Mitgliederzahl, die nach 1923 auf unter 9.000 gesunken war, stieg im gesamten Jahre 1924 auf 18.000, aus denen im folgenden Jahr fast 25.000 wurden.8 Es handelte sich nicht nur um einen zahlenmäßigen Zuwachs: es war ein Zeitraum, in dem die soziale Zusammensetzung der Mitglieder, die Organisation, die politische Strategie, kurz gesagt, die gesamte Partei einen umfassenden, tiefgreifenden Wandel verzeichnete. Die „Bolschewisierung“ der kommunistischen Parteien, die auf dem 5. Komintern-Kongress beschlossen wurde, führte auch für den PCI zu einer Einengung des Raumes für freie politische Debatten, jedoch mündete sie in den schon von Gramscis Führungsgruppe vorangetriebenen Erneuerungsprozess ein und fand Organisationsformen, die die Wurzeln der Partei in der Gesellschaft verstärkten und weiter verbreiteten. Die Ersetzung des territorialen Organisationsprinzips der Sektionen durch die Organisation am Arbeitsplatz in Fabrikzellen trug dazu bei, die Basis der Partei in der Arbeiterklasse zu verändern und erhöhte den Einfluss der Arbeiter in den Großbetrieben der industriellen Zentren des Landes. Die Betriebszelle war der Verfolgung durch die Polizei weniger ausgesetzt als die Sektion und eignete sich so besser für eine Untergrundorganisation. Parallel hierzu nahm, als Konsequenz verstärkter Aktivität in der bäuerlichen Sphäre, die Zahl der aktiven Kommunisten in Süditalien zu, und es zeigte sich eine größere Präsenz der Partei in den „traditionellen“ landwirtschaftlichen Massen (vor allem Tagelöhner und Halbpächter) in der Emilia und der Toskana. Parteiintern führte die Bolschewisierung zur Etablierung einer beträchtlichen Anzahl von Funktionären, die zum eigentlichen Rückgrat der Partei wurden. Als die Ausnahmegesetze von 1926 alle anderen Parteien entmachteten, war der PCI die einzige Partei, die bereits eine illegale Struktur geschaffen hatte, mit Anhängern, die bereits im Untergrund agierten und über ein Verbindungsnetz mit logistischen und operativen Basen verfügte: der PCI schaffte es mehrere Monate lang eine fieberhafte Propaganda zu betreiben, vor allem durch das Verteilen einer großen Anzahl von Zeitungen und Flugblättern. Er entwickelte sich so zum kämpferischsten antifaschistischen Akteur, während die anderen Oppositionsparteien der praktisch von der Bühne verschwanden oder nur noch in der Emigration wirkten. Aber es war ein Kraftaufwand, der nicht lange durchzuhalten war: während es im Mai 1927 noch 10.000 organisierte Kommunisten in Italien gab, von denen die meisten sich im Norden befanden, wurden in der zweiten Hälfte des Jahres viele festgenommen oder über die Grenze getrieben. Obwohl das Inlandsnetz nach jeder Festnahme geduldig neu gewebt wurde, war es weitestgehend von agents provocanteurs der

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Martinelli (wie Fn. 5), S. 203–227.

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faschistischen Polizei infiltriert. Vor dem Ende der 20er Jahre reduzierte sich das Netz auf ein äußerst dünnes Gerüst von Mitgliedern.9 Ein immer wichtiger es Element für die Stärke der Partei wurde somit die Existenz eines soliden Fundaments unter den ausgewanderten Arbeitern, vor allem in Frankreich, Belgien und in der Schweiz. Es handelte sich dabei um eine Auswanderung, die sich aus verschiedenen Motiven vollzog, diese waren wirtschaftlicher und politischer Natur, vor allem hochqualifizierte Arbeiter sahen sich gezwungen das Land aufgrund der Diskriminierung durch die Vorgesetzten und die polizeilichen Verfolgungen zu verlassen. Die Beziehungen zu den Parteien der aufnehmenden Länder, insbesondere zu dem PCF, erwiesen sich nicht als konfliktfrei: jedoch stellte das Reservoir der Emigranten für den PCI eine äußerst wichtige Ressource dar, da sie in großzügiger Weise Gastfreundschaft, Unterkünfte, Adressen boten und vor allem da sich hier immer wieder Aktivisten fanden, die bereit waren für die Partei nach Italien legal oder illegal zurückzukehren.10 Die politische Linkswendung der Kommunistischen Internationale 1928 hatte auch auf den PCI tiefgreifende Auswirkungen. In Erwartung einer Radikalisierung der italienischen Situation, entschloss sich das Ufficio politico im Dezember 1929, den Führungssitz nach Italien selbst zu verlegen, was die innere Struktur nicht vollkommen unberührt ließ. Trotz des sehr hohen „menschlichen Preises“ in Form inhaftierter Mitglieder, die die „Wende“ – so wurde die Neuausrichtung genannt – mit sich brachte, gab es zu Beginn eine starke Wiederaufnahme der geheimen Aktivitäten des PCI in Italien und in gewisser Hinsicht stellte dies eine Neugründung des Kommunismus in Italien dar: sie markierte den Erfolg kommunistischer Kader, die nicht mehr von der Spaltung von 1921 geprägt waren, sondern vom alltäglichen Widerstand gegen den Faschismus. Es vollzog sich auch eine Verschiebung des geographischen Schwerpunkts der Partei, von den nördlichen zu den zentralen Regionen des Landes: es gestaltete sich weniger schwierig ein, wenn auch kleines, geheimes Verbindungsnetz auf dem Land aufrecht zu erhalten, als in den Fabriken der großen Städte, wo Kontrolle und Überwachung rigoroser waren. Es bleibt festzuhalten, dass die Mitglieder Anfang 1932 noch circa 7.000 waren, mehr oder weniger so viele wie Ende 1927. In Wirklichkeit war die Fluktuation sehr hoch: nach der „Wende“ traten 5.000 neue Mitglieder innerhalb von nur 18 Monaten ein. In einer Situation wie der italienischen, nämlich in absoluter Illegalität, war eine solche Schwankung ein Indiz für eine Veränderungsfähigkeit, die von einem noch existierenden, wenn auch immer komplizierteren Bezug zu einigen Bevölkerungsschichten (Arbeitern, Tagelöhner, Halbpächter) und zu kleinen Intellektuellenzirkeln getragen wurden.11 Eine Reihe kollektiver Verhaltensweisen vor allem an der proletarischen Basis, die sich mit der Zeit festigten und die sich über familiäre und freundschaftliche Netzwerke entfalteten, auf die die politischen und ideologischen Risse sich kaum 9 10 11

Paolo Spriano, Storia del Partito comunista italiano. II. Gli anni della clandestinità, Turin 1969, S. 18–42 und 61–72. Giorgio Amendola, Storia del Partito comunista italiano 1921–1943, Rom 1978, S. 121–142. Aldo Agosti, Storia del PCI, Roma-Bari 1999, S. 31–32.

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auswirkten, förderte diesen Veränderung. Ein kommunistischer Kern konnte sich auf Dauer in den unteren Schichten etablieren, auch wenn die Beziehungen zwischen der Basis und der Führung immer prekärer wurden.12 Nach den ersten unbestreitbaren Erfolgen, zumindest bei der Bekehrung von Faschisten, erlebte die Politik der „Wende“ eine schwere Krise, als der Faschismus seine eigene Organisation als reaktionäres Regime mit Massenanhang perfektionierte. Mehr oder weniger zur selben Zeit, 1934, veränderte sich auch die Politik der Kommunistischen Internationale. An die Stelle der Parole „Klasse gegen Klasse“, die die Sozialdemokratie zum „Sozialfaschismus“ erklärt hatte, trat nun das Konzept der proletarischen Einheitsfront und dann der Volksfront.13 Die Suche nach einer umfassenden politischen Linie, die den Erfordernissen der antifaschistischen Einheit in der Emigration ebenso entsprach wie der Notwendigkeit sich im Land mit der (oft überschätzten) Unzufriedenheit zu verbinden, die in den Massenorganisationen des Faschismus heranreifte, hat den PCI in den folgenden Jahren beschäftigt – mit schroffen Ausschlägen und taktischen, nicht immer glücklichen Schwankungen. Für Palmiro Togliatti, der den PCI weiterhin aus der Ferne dirigierte, aber auch für Ruggero Grieco, der ihn de facto als Sekretär in Paris vertrat, sollte sich die Volksfront nicht mit einem „Kartell antifaschistischer demokratischer Parteien“ identifizieren: sie sollte vielmehr aus der „Verbindung der antifaschistischen Front mit der innerfaschistischen Opposition“ entspringen. Vom eigenen inneren Drang besessen, „in täglicher Kleinarbeit die Interessen der Massen zu verteidigen“ reagierten die italienischen Kommunisten stets mit Verdruss – sie sprachen von Ablenkungsmanövern – auf die Aufforderung der Sozialisten und der Bewegung Giustizia e Libertà, über elementarste Forderungen hinaus die Inhalte des antifaschistischen Programms zu klären.14 Die Auswirkungen des Terrors von 1937–1938 in der Sowjetunion waren auch für den PCI verheerend, denn diesem wurde aus Moskau mangelnde Wachsamkeit gegen den Trotzkismus vorgeworfen. In der Führungsgruppe entstand eine schwere Krise, die 1938 mit dem Auflösen des Zentralkomitees und einer kompletten Überprüfung der Führungsschicht mit brutalsten Methoden, ihren Höhepunkt erreichte. Die negativen Konsequenzen waren in allen Richtungen zu spüren: die Räume für autonome politische Arbeit wurden kleiner, die Beziehungen zu den anderen antifaschistischen Exilparteien wurden durch neue Polemiken verschlechtert, und vor allem hinderte das Klima des obsessiven Verdachts, welches sich einschlich, die Partei daran, die Möglichkeiten in vollem Maße zu nutzen, die sich aus der Verbreitung neuer geheimer Untergrundgruppierungen in Italien ergaben, die oft von jungen Intellektuellen gebildet wurden, welche aus den Reihen der faschistischen „Fronde“ stammten,. Die Folge war der Bruch aller Verbindungen und die nahezu 12 13 14

Giovanni De Luna, Donne in oggetto. L’antifascismo nella società italiana 1922–1939, Turin 1995, S. 67. Spriano, (wie Fn. 9), S. 370–94. Aldo Agosti, Un front populaire avec les fascistes? Les communistes et l’anomalie italienne, in: S. Wolikow / A. Bleton-Rouget (Hg.), Antifascismes et nation. Les gauches européennes au temps du front populaire, Dijon 1998, S. 101–112.

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vollkommene Stilllegung jeglicher Aktivitäten der Partei in Italien, die so deutlich geschwächt in die entscheidende Auseinandersetzung während des Krieges eintrat.15 Die Reorganisation des PCI im Untergrund setzte erst nach dem Sommer 1941 auf mühsame Weise erneut ein und gelang weder schnell noch leicht. In den Monaten, die dem Fall des Faschismus vorangingen, gab es neben dem Kern weniger Tausend fester Mitglieder, die sich hauptsächlich in den Fabriken befanden – und die einen wichtigen Bezugspunkt in den großen Streiks der Industriestädte des Nordens im März 1943 darstellten – ein Aufblühen von Gruppen, die sich aus alten Kameraden, die entweder aus dem Gefängnis entlassenen worden waren oder sich aus einer erzwungenen Passivität befreit hatten, aber auch aus jungen Studenten und Intellektuellen zusammensetzten. Die politische Orientierung dieser Gruppen war eher schwankend und tendierte manchmal zu revolutionären und Klassenstandpunkten, die deutlich von jenen abwichen, die Moskau und Togliatti ausgaben. Aber mit der Befreiung Süditaliens und dann auch Roms und Florenz zwischen Frühling und Sommer 1944 nahm die Stärke der Partei in großem Maße zu. Laut den Schätzungen der Organisationskommission lag die Anzahl der Mitglieder 1944 schon bei 502.000, von denen sich 105.000 nördlich der „Gotenlinie“ befanden, also in dem Teil Italiens, der unter deutscher Besetzung stand. Der außergewöhnliche Rhythmus des weitgehend selbsttätigen Parteizuwachses hatte verschiedene Gründe. Die kommunistische Organisation war während des Faschismus, auch wenn sie ihre Grenzen hatte, am tiefsten in der Gesellschaft verwurzelt: vom Faschismus als Erzfeind deklariert, wurde der PCI, über sein eignes Wollen hinaus, zum Sammelbecken der traditionellen subversiven Grundströmung der italienischen Unterschichten. Im Moment des Sturzes des Regimes ernteten die Kommunisten die Früchte dieser Saat. Außerdem entpuppten sie sich als entschlossenste und effizienteste Organisatoren des Partisanenkriegs; selbstverständlich profitierten sie auch von der enormen Popularität, die die UdSSR und Stalin gewonnen hatten, insbesondere nach Stalingrad.16 Aber ihr Erfolg war auch das Ergebnis präziser strategischer und organisatorischer Entscheidungen, die seit 1944 getroffen wurden, nach der Rückkehr Togliattis nach Italien. Auf der politischen Ebene deklarierten sie als Kampfziele eine „progressive Demokratie“, das heißt eine Demokratie, die den „Volksmassen“ den Zugang zu politischem Leben und Führung des Landes ermöglichte, jede Wurzel des Faschismus vernichten und offen für sozialistische Elemente bei der wirtschaftlichen und sozialen Umstrukturierung sein sollte. Auf der organisatorischen Ebene war der PCI – auf den Impuls Togliattis hin – von den politischen Kräften, die sich 15 16

Paolo Spriano, Storia del Partito comunista italiano. III. I fronti popolari, Stalin, la guerra, Turin 1970, S. 159–261. Paolo Spriano, Storia del Partito comunista italiano. IV. La fine del fascismo. Dalla riscossa operaia alla lotta armata, Turin 1973; Pietro Secchia, Il Partito comunista e la guerra di Liberazione 1943–1945. Ricordi, documenti inediti e testimonianze, (Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Annali XIII), Mailand 1973; Ernesto Ragionieri, Il partito comunista, in: Leo Valiani u. a. (Hg.), Azionisti, cattolici e comunisti nella Resistenza, Mailand 1971, S. 303–351.

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nach dem Fall des Faschismus im Land neu bildeten, diejenige, die am radikalsten und explizitesten ihre Struktur erneuerte, indem sie sich eben – in Bezug auf ihre vorangehende Tradition – eine „Neue Partei“ nannte.17 Die Sorge, der neuen politischen Linie gerecht zu werden, die nach 1944 durch ein neues Organisationsmodell erarbeitet wurde, welches in der Lage war die neuen Aufgaben, denen die Partei gegenüberstand zu bewältigen, begleitete die kommunistische Debatte sowohl im schon befreiten Süden, als auch in den Hochburgen der Resistenza im Norden dauerhaft. Die Idee der „neuen Partei“ war im Vergleich zur „progressiven Demokratie“, der originellere Beitrag, der von den italienischen Kommunisten zum Überdenken der kommunistischen Strategie zur Machtübernahme geleistet wurde. In den Wurzeln dieses Beitrags steckten andere Elemente. Schon in den Beschlüssen des Lyoner Parteitags 1926 war die Rede von der Notwendigkeit „die Tendenzen zu bekämpfen, die künstlich die Kader beschränken“, also nur ideologisch gefestigte Personen als Kader zu akzeptieren, und sich „allen Terrains, die sich uns bieten werden, anpassen zu können“. Diese frühen Grundsätze wurden überdacht im Lichte der Analyse der italienischen Gesellschaft als „reaktionäres Massenregime“, wie es in Togliatti 1935 in Moskau ausgearbeiteten „Lektionen über den Faschismus“ hieß. Als er 1944 nach Italien zurückkehrte, überzeugte sich Togliatti, in Anbetracht einer vom Krieg zerrütteten und von 20 Jahren Faschismus irregeleiteten Gesellschaft, dass es einer Partei bedürfe, die in der Lage war all die Wogen in der Gesellschaft zu glätten und deshalb tendenziell fähig war eine organische, nicht „ideologische“, Beziehung mit der italienischen Realität herzustellen und sie zu disziplinieren, ohne dabei die hauptsächlich passiven Formen der Massensozialisierung, die der Faschismus ihr eingeimpft hatte, zu vergessen, sondern sie vielmehr zum eigenen Vorteil zu nutzen. Es vollzog sich also eine entscheidende Modifikation in der Struktur der Kommunistischen Partei, die dann in dem vom 5 Parteitag beschlossenen Statut im Januar 1946 offiziell wurde: nämlich dass die Mitgliedschaft nur von der Akzeptanz des politischen Programms der Partei abhänge und nicht vom religiösen Bekenntnis und von „philosophischen Überzeugungen“.18 Auf der Basis traditioneller Elemente und der Entwicklung origineller Ideen, die sie zum großen Teil Palmiro Togliatti verdankte, war die Neue Partei eine neuartige Synthese aus Massen- und Kaderpartei. Der PCI wies nämlich alle Eigenschaften einer Massenpartei auf, insofern er die Partei aller Arbeiter war und die Arbeiterklasse eine unangefochtene Zentralität im Vergleich zu den anderen sozialen Klassen inne hatte, die sich eher in zweitrangigen Positionen als „Verbündete“ wiederfanden. Gleichzeitig war der PCI auch eine Kaderpartei, insofern sie, um zu funktionieren eine „professionelle“ – vorbereitete, verantwortungsbewusste und disziplinierte – Führungsschicht brauchte, die in der Lage war politisch zu agieren und die Massen zu lenken. Es handelte sich um eine geschickte, wenn auch nicht 17 18

Donald Sassoon, Togliatti e il partito di massa. Il PCI dal 1944 al 1964, Rom 2014 (1. Aufl. 1980), S. 35–70. Aldo Agosti, Palmiro Togliatti. Un uomo di frontiera, Turin 2003 (1. Aufl. 1996), S. 287–290.

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deklarierte Vermittlung zwischen revolutionärer Ideologie und sozialdemokratischer Politik, das heißt zwischen Reformen und Revolution. Was die organisatorische Struktur der Partei angeht, knüpfte das Statut von 1946 an den Parteitag von 1926 in Lyon an, indem es den „Primat der Zellen“ wieder anerkannte, von denen alle Aktivitäten der Mitglieder ausgingen. Die Neuerung bestand jedoch darin, dass der Zelle eine Sektion – eine Struktur aus der sozialistischen Tradition – zur Seite gestellt wurde. Die Sektion stand Ende des 19./Anfang 20. Jahrhunderts für den Übergang von der kollektiven zur individuellen Mitgliedschaft. Obwohl diese im Widerspruch zur politisch-organisatorischen Logik der Dritten Internationale stand, wurde in die Neue Partei die Ebene der Sektion eingeführt, um der Zelle – in welcher meist ein quasi soldatischer Ton herrschte – eine politische Ebene zur Seite zu stellen, die demokratisch organisiert, der Gesellschaft gegenüber offener war als die Zelle und hauptsächlich Propaganda und Wahlwerbung betrieb. Das Statut definierte die Sektion als „Versammlungsort und Treffpunkt für die Genossen, die ihr angehören,“ und teilte ihr die Aufgabe zu, „das Zentrum der politischen, kulturellen und unterstützenden Aktivitäten für alle Arbeiter vor Ort“ zu werden. Mit dem Ziel „Eine kommunistische Sektion pro Kirchturm“, womit man die Christliche Demokratie (DC) auf der Ebene der territorialen Organisation herausfordern wollte, widmete sich der PCI in den Jahren 1945–1947 auf intensive Weise der Verstärkung der eigenen lokalen Strukturen. Um eine quantitative Vorstellung von der Expansion der kommunistischen Verwurzelung zu bekommen, reicht es aus festzustellen, dass aus den 29.230 Zellen und den 7.380 Sektionen im Dezember 1945, 50.093 und 9.997 im Dezember 1947 wurden.19 Dieses stürmische Wachstum der Partei, die in nur wenigen Monaten die nie wieder erreichte Anzahl von mehr als zwei Millionen Mitgliedern erreichte, führte dazu die Tauglichkeit des organisatorischen Apparates erneut zu überdenken, da er inzwischen enorme Proportionen angenommen hatte. Die Gelegenheit bot sich bei der Organisationskonferenz in Florenz im Januar 1947. Auch wenn der PCI noch in der Regierung war, waren Anzeichen für das Ende der Regierung der nationalen Einheit schon zu erkennen, vor allem weil sich die Beziehungen zwischen den Alliierten des Weltkriegs veränderten und der Kalte Krieg bevor stand. Die Idee der Neuen Partei stand nicht zur Disposition – und auch in Zukunft nicht. Aber in Florenz bestätigten Togliatti und Pietro Secchia, die für die Organisation Verantwortlichen, das leninistische Prinzip der politischen Organisation, welches auf der Arbeit der einzelnen Mitglieder basierte: ein Konzept des „produktiven Militanten“, bei dem jedes Parteimitglied über ein Amt eine bestimmte Aufgabe erhält und die Verantwortung hat, diese bestmöglich bis zur vollkommenen Erfüllung zu bewältigen. Diese Aufgabe hatte einen doppelten Zweck: zum einen diente sie dazu, jedes Zahnrad in effizienter Weise funktionieren zu lassen und zum Anderen jedes Mitglied in einer von Unterordnung und Disziplin ge19

Renzo Martinelli, Storia del Partito comunista italiano, IV. Il „Partito nuovo“ dalla Liberazione al 18 aprile, Turin 1995, S. 7–61; Ders., Gli statuti del PCI 1921–1979, in: Il Partito comunista italiano (wie Fn. 4), S. 68–71.

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zeichneten Beziehung zu hierarchisch höher Gestellten einzubinden. Außerdem wurden in Florenz die Zentralität der Zelle bekräftigt und einige Maßnahmen durchgeführt, um ihre Effizienz zu erhöhen. Die Spannung zwischen revolutionärer Ideologie und sozialdemokratischer Praxis wurde in Florenz nicht aufgelöst, sondern blieb mindestens bis zur folgenden organisatorischen Wende 1955 in der Schwebe. Weiterhin enthielt das Statut eine Reihe von sich widersprechenden Elementen: auf der einen Seite standen die Zelle, der demokratische Zentralismus, der Aktivismus, die Disziplin und die hierarchische Ordnung, die auf das leninistische Modell und die Idee einer Partei mit dem Potenzial, die politische und wirtschaftliche Ordnung des Landes in einer gewaltsamen Revolution umzustürzen, zurückgingen; auf der anderen Seite symbolisierten die territoriale Sektion, die organisatorische Dezentralisierung und der Charakter einer Massenpartei die Öffnung der Partei nach außen sowie die Absicht sich auf die Gesellschaft als Ganze und auf die Ebene der Institutionen und die Konkurrenz bei Wahlkämpfen, einzulassen. Auch wenn es Togliatti in dieser Phase mühsam gelang seinen Leuten das ein fast „sozialdemokratisches“ Parteienkonzept aufzuoktroyieren, prägten den PCI doch weiterhin die Spuren der Untergrunderfahrung: eine Mischung, die nicht wenige Führungsprobleme, insbesondere in der Beziehung zur mitteleren Funktionärsebene, und ein prekäres Gleichgewicht zwischen Disziplin und Demokratie mit sich brachte. Die organisatorische Straffung von 1948 bremste sehr bald den Aktivismus der Mitglieder. Diese widmeten sich nur noch sehr begrenzt dem tatsächlichen sozialen und politischen Kampf, sondern wandten sich immer mehr internen Aufgaben, wie der Propaganda und Kampagnen zur Mitgliedererwerbung, zu. Letztendlich führte dies zu einer Partizipationskrise, die sich auch quantitativ als Rückgang der Beitritte bemerkbar machte.20 All diese Probleme blieben für viele Jahre ungelöst. Das erste Zeichen der Veränderung kam 1954 wahrnehmen: als einer seiner engsten Mitarbeiter die Partei verließ, verlor Pietro Secchia die Zuständigkeit für die Parteiorganisation.21 Kurz daraufhin schaffte die Organisationskonferenz vom 9. bis 14. Januar 1955 in Rom die Unterteilung der Zelle und Gruppen von 10 Aktivisten und der Funktion des Zellenleiters ab. Sie führte Kontrollkomissionen auf Provinz- und Sektionsebene ein. 1955/56 fand eine Reorganisation statt, die zwei Hauptziele verfolgte: mehr Demokratie in den Basisorganisationen und endgültige Abschaffung der Zellen zu Gunsten der territorialen Sektionen.22 Dieser vorsichtige Überarbeitungsprozess der Parteiorganisation begann gerade, als sich das „unvergessliche 1956“ ereignete. Die Reaktionen des PCI auf den 20. Parteitag der KPdSU (14.–25.2.1956) waren zunächst von großer Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Im gesamten Frühjahr vertrat der PCI eine defensive Haltung, 20 21 22

Marcello Flores / Nicola Gallerano, Sul PCI. Un’interpretazione storica, Bologna 1992, S. 131– 145. Marco Albeltaro, Le rivoluzioni non piovono dal cielo. Pietro Secchia, una vita di parte, RomBari 2014, S. 160–180. Hierzu genaueres im ersten Teil von Ilardi/Accornero (Hg.), Il Partito comunista italiano (wie Fn. 4), S. 3–292.

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wodurch er die neuen Ansätze des XX. Parteikongresses lobte (die unterschiedlichen Wege zum Sozialismus, die Vermeidbarkeit des Krieges) und jene Teile der Politik der italienischen Kommunisten hervorhob, welche die neue Linie und ihre Originalität antizipiert bzw. bereits bewiesen haben. Eine Veränderung gab es erst Anfang Juni nach Kommunalwahlen, bei denen der PCI eine, wenn auch nur kleine Schlappe erlitten hatte: in einem Interview der Zeitschrift „Nuovi Argomenti“, bei dem er auch den spektakulären und oberflächlichen Charakters der Offenlegung der Stalinistischen Verbrechen durch Chruschtschow beklagte, wagte Togliatti eine historische Analyse mit einer gewissen Substanz, in der er die Hintergründe der im Geheimbericht Chruschtschows auftauchenden Fragen beleuchtete und die Aufmerksamkeit auf die sozialen und politischen Strukturen richtete, die die „Fehler“ von Stalin zugelassen hatten. Von noch größerer Bedeutung waren seine Schlussfolgerungen: die politische Struktur im Inneren der kommunistischen Bewegung hatte sich verändert, das sowjetische „Modell“ konnte nicht mehr obligatorisch sein, das sozialistische Lager war nicht mehr monozentrisch, sondern polyzentrisch.23 Die folgenden, dramatischen Geschehnisse von 1956 in den Volksdemokratien zeigten aber, wie schwer sich diese Neuerungen in die Praxis umsetzen ließen. Togliatti und die Führungsschicht des PCI betrachteten die Unterdrückung der Arbeiterbewegungen von Poznan im Juli und das Zerschlagen des Aufstandes in Budapest im November durch die Rote Armee als „schmerzhafte Notwendigkeit“ um zu unterbinden, was als eine von antisozialistischen und reaktionären Elementen gelenkte Revolte interpretiert wurde. So gebrochen und schwierig die Haltung des PCI auch war, wollte er sich doch nur auf „eine Seite der Barrikade“ stellen. Die ungarische Tragödie traf die Partei tiefer, als es der Widerhall des Geheimberichtes von Chruschtschow je gekonnt hätte. Mehr als hundert Intellektuelle, die dem PCI angehörten oder nahe standen, unterschrieben ein Manifest, das die sowjetische Intervention verurteilte; Di Vittorio, kommunistischer Sekretär der CGIL, unterstützte den scharfen Protest, den der Gewerkschaftsdachverband vorbrachte und wurde dafür von der Parteiführung hart kritisiert.24 Anzeichen für Dissidenz gab es, wenn auch nur sporadisch, an der Basis, und es begann ein Mitgliederschwund: 200.000 verließen die Partei. Das Ausmaß der Abwanderung zeigt, dass, selbst wenn es die sichtbarsten und lautesten Brüche unter den Intellektuellen gab, die stillen Austritte in signifikanter Weise auch die kommunistische Basis in der Arbeiterklasse einschlossen, auch wenn die deutliche Mehrheit eine Wagenburg um die Partei bildete. Diese überstand die Zerreißprobe dennoch besser, als es ihre Gegner erwartet hätten. Eine intensive Debatte, die von einer leidenschaftlichen Beteiligung der Genossen geprägt war, erfasste die Partei auf allen Ebenen. Der VIII. Parteitag, am 8. Dezember 1956 in Rom eröffnet, knüpfte, vor allem im Bericht Togliattis, an die Perspektive der „neuen Art von Demokratie“ an, indem er genau auf den Charakter der Übergangsmacht einging, die strukturelle Transfor23 24

Giovanni Gozzini / Renzo Martinelli, Storia del Partito comunista italiano, VII. Dall’attentato a Togliatti all’VIII Congresso, Turin 1998, S. 505–571. Adriano Guerra / Bruno Trentin, Di Vittorio e l’ombra di Stalin. L’Ungheria, il PCI e l’autonomia del sindacato, Rom 1997, S. 133–186.

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mationen hin zum Sozialismus einleiten könne. Die Programmerklärung akzentuierte deutlich die Möglichkeit, dass diese Transformationen im Rahmen demokratischer Rechte und der von der Verfassung vorgegebenen freien Mehrheitsbildung durchführbar seien. Wichtig waren auch die Abkehr von der Sicht auf die Gewerkschaften als „Transmissionsriemen“ und die Bekräftigung der Eigenständigkeit der Massenorganisationen.25 Diese Weiterentwicklung der strategischen Perspektive äußerte sich in einem partiellen Austausch des Führungspersonals sowohl auf zentralen als auch auf lokaler Ebene, was den bereits 1954 eingeleiteten Prozess verstärkte, eine neue Generation von Kadern zu fördern. Weitere neue Elemente trugen dazu bei, das Innenleben und das Versammlungswesen des PCI demokratischer zu gestalten. Eine neue Definition des demokratischen Zentralismus setzte sich durch, bei der sowohl der Respekt für die „Parteiendemokratie“ und für „die Aktivität und die Initiative aller Aktivisten (militanti)“ als auch engere Beziehungen zwischen den Führungsorganen und der Basis, zwischen „den hohen und niedrigen Instanzen“, Platz fanden. Zu den Pflichten der Mitglieder zählten nun der Kampf gegen „jegliche Form von Verletzung der Demokratie und der Parteistatuten“ und gegen „Bürokratismus und Vorurteile“, während zu den Rechten jenes wichtige der Kritik an „jedem Führungskader und jeder Organisation der Partei“ hinzukam.26 Der VIII. Parteitag beseitigte schließlich die Regionalkomittees, die es seit dem Statut von 1948 gab, mit Ausnahme der Regionen mit Sonderstatut: man versuchte auf diese Weise die Verbindung zwischen den Provinzverbänden und der Zentrale flexibler zu gestalten. In Anbetracht der festgestellten Schwierigkeiten hinsichtlich der politischen Tätigkeiten in Italien und der internationalen Situation, zeigte die italienische kommunistische Führung ein bemerkenswertes dynamisches Potential bei der Umformulierung der Identität, der politischen Strategie und Organisation der Partei. Dennoch kann man 1956 nur teilweise von einer „Wende“ reden. So waren auf der einen Seite die getroffenen Maßnahmen nicht in der Lage an den Aktivismus und das Engagement der Genossen in der glorreichen und außergewöhnlichen Nachkriegszeit anzuknüpfen. Auf der anderen Seite veränderten die Regelungen, die eine größere interne Demokratisierung ermöglichen sollten, nur in oberflächlicher Weise die Gewohnheiten und Praktiken eines großen Teils der Mitglieder und Kader der ersten Generation, was dazu führte, dass man den nationalen und lokalen Führungsspitzen zugestand, ihre Machtbefugnisse unangetastet zu behalten. Die Angst vor Neuerungen, die durch die Bemühungen das eigene Organisationsmodell zu überprüfen entstand, wurde auch genährt durch tiefgreifende Veränderungen der Wirtschaft und der italienischen Gesellschaft, die den PCI vor neue Herausforderungen stellten. In wenigen Jahren, die mit der dritten Legislaturperiode der Republik Italien (1958–1963) übereinstimmten, veränderte ein schneller und stürmischer Prozess ökonomischer und sozialer Transformation das Gesicht des Landes. Mehr als 900.000 Personen zogen vom Süden in andere Regionen des Landes, vor allem in die nördlichen. Italien hörte auf ein vorwiegend agrarisches 25 26

Gozzini/Martinelli, Storia del Partito comunista italiano (wie Fn. 23), S. 572–638. Martinelli, Gli statuti (wie Fn. 19), S. 75–78.

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Land zu sein und wurde zu einer der am stärksten industrialisierten Nationen des Westens. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate dieser fünf Jahre erreichte ein in der Geschichte Italiens nie da gewesenes Niveau: 6,3 %. Die industrielle Produktion war mehr als verdoppelt und die Produktivität der Arbeiter war anderthalbmal so hoch wie vorher, aber die Gehälter blieben stabil. Gleichzeitig veränderten sich Lebensstile und -gewohnheiten, Formen des soziale Zusammenhalts und Mentalitäten radikal und schnell. Der PCI hatte, wie die meisten politischen Kräfte, manche Schwierigkeit die strukturellen Veränderungen der Gesellschaft zu begreifen und vielleicht mehr noch zu verstehen, dass die vorhandenen politischen Modelle, bei denen Ideologien eine zentrale Rolle spielten, zu kriseln begannen.27 Außerdem veränderte sich, ohne dass sie es vollkommen wahrnahm, die Partei selbst. Der Rückgang der Mitgliederzahl machte sich nach und nach bemerkbar: von 1954 bis 1963 sank sie um mehr als 27 %. Auch die Fluktuation unter den Anhängern nahm zu. Der Anteil der Arbeiter unter den Mitgliedern hatte sich bei knapp unter den 40 % stabilisert, damit hatte sich der Anteil der eingeschriebenen Kommunisten an der Arbeiterklasse in etwas mehr als einem Jahrzehnt von 30 auf 10 % verringert, während der Anteil der Mittelschichten in der kommunistischen membership anstieg – wenn auch in geringerem Maße. Im Hinblick auf die Führungsschicht verringerte sich schrittweise der Einfluss der Generation des Exils, die von Moskau und vom Dienst für die Komintern geprägt worden war. Stattdessen trat eine Generation die Nachfolge an, die während oder nach der Resistenza zur Partei gestoßen war und alle Etappen ihrer politischen Karriere im Nachkriegsitalien durchlaufen hatte.28 Diese Veränderungen bedeuteten insgesamt jedoch keinen Rückgang der Legitimation und Repräsentationsfähigkeit der Partei: dies belegen die Parlamentswahlen von 1963 deutlich, bei denen der PCI circa eine Million Stimmen mehr als 1958 und somit 25,3 % der gültigen Stimmen erhielt – eine Zunahme um 2,6 % bei gleichmäßigem Wachstum im gesamten Land. Die veränderte Relation zwischen Mitgliedern und Wählern zu Gunsten der Letzteren war der wichtigste Indikator für den tiefgreifenden Wandel, den der PCI schon durchlaufen hatte: von einem Instrument zur Verteidigung der elementaren Freiheits- und Organisationsräume der Unterschichten, zugleich Schutzwall und Bezugspunkt ihrer subversiven Traditionen zur aktiven und dynamischen politischen Kraft trotz ihrer Isolation auf nationaler politischer Ebene. Diese politische Kraft zeigte sich nicht nur in der Lage die Proteste jener Schichten, denen die Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Systems Italiens keine angemessenen Antworten lieferte, zu bündeln, sondern diese Proteste sogar in ein Reformprojekt zu führen, welches, trotz großer Unbestimmtheit praktikabel und glaubwürdig erschien.29 27 28 29

Guido Crainz, Storia del miracolo italiano. Culture identità, trasformazioni fra anni cinquanta e sessanta, Rom 1996, S. 53–155. Celso Ghini, Gli iscritti al partito e alla FGCI 1943–1979, in: Ilardi/Accornero (Hg.), Il Partito comunista (wie Fn. 4), S. 227–292; Marcello Fedele, La dinamica elettorale del PCI 1946– 1979, ebenda, S. 293–312. Agosti, Storia del PCI (wie Fn. 11), S. 91.

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Jedoch belastete die „eiserne Bindung“ – wie sie Togliatti selbst bezeichnet hatte – an die UdSSR und die sozialistischen Staaten wie eine negative Hypothek auf diese wachsende Legitimität. Es war eine Bindung, die auch wirtschaftlich große Bedeutung hatte: auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt der PCI weiterhin beständige Unterstützung von sowjetischer Seite (zum Beispiel im Jahr 1956 2.640.000 Dollar)30, ohne die die Kampagne zur Eigenfinanzierung und der großherzige Einsatz der Mitglieder in den Spendenkampagnen für die Presse letztendlich unzureichend gewesen wären, um den stattlichen Apparat zu unterhalten. Aber es ging nicht nur darum und auch nicht nur um eine unkritische Anpassung an alle Entscheidungen des sozialistischen Lagers in der internationalen Politik (wie zum Beispiel beim Mauerbau in Berlin 1961 oder anlässlich der Kubakrise 1962): bei der permanent wiederholten Bekräftigung der Überlegenheit des sozialistischen Systems hallte weiterhin das Echo der in den Dreißiger Jahren herauskristallisierten bipolaren Gegenposition von Sozialismus und Kapitalismus nach, und daraus folgte eine unvermeidbar verfälschte Deutung nicht nur der internationalen Situation, sondern der politischen und Klassenverhältnisse in den kapitalistischen Staaten. So wurde der Ruf nach einer Einigung zwischen den Parteien, die am engagiertesten um den sozialen Wandel in Italien kämpften – vor allem die Sozialisten, aber auch die Reformer in der DC und den kleineren laizistischen Parteien – der vorrangigen Entscheidung zwischen den Systemen („scelta di civiltà“) auf internationaler Ebene, untergeordnet und machte diesen Ruf weitgehend wirkungslos. Kurz vor seinem Tod am 21. August 1964 schien Togliatti, der mehr als jeder andere diesen Widerspruch verkörpert hatte, dies zu bemerken, und sprach das Problem einer neuen Beziehung zwischen dem führenden Staat (UdSSR) und den kommunistischen Parteien offen an. Die Entscheidung seines Nachfolgers als Sekretär des PCI, Luigi Longo, die Denkschrift, die Togliatti für die sowjetische Führung vorbereitet hatte, zu veröffentlichen – eine Entscheidung, die diese nicht guthieß – war ein wichtiger Schritt für den Verselbständigungsprozess der Partei, der in den folgenden Jahrzehnten, nicht ohne Schwankungen fortgeführt wurde und der erst mit dem endgültigen Untergang des „realen Sozialismus“ abgeschlossen war.31

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Valerio Riva, Oro da Mosca. I finanziamenti sovietici al PCI dalla rivoluzione d’ottobre al crollo dell’URSS, Milano 1999, S. 170–304. Carlo Spagnolo, Sul Memoriale di Yalta. Togliatti e la crisi del movimento comunista internazionale 1956–1964, Roma 2007, S. 26–65; Alexander Höbel, Il PCI di Luigi Longo 1964– 1969, Napoli 2010, S. 23–69.

TEIL 2: PARTITO NAZIONALE FASCISTA UND NSDAP ALS VOLKSPARTEIEN? (1920–1945)

MECHANISMEN DER MITGLIEDERINTEGRATION IN DER NSDAP, 1925–1945 Armin Nolzen 1. EINLEITUNG Die Geschichte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), wie sie sich seit ihrer Neugründung im Frühjahr 1925 entwickelte1, vollzog sich, um einen Begriff des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann zu verwenden, als Ausdifferenzierung einer Organisation. Luhmann zufolge können im Rahmen eines bestehenden sozialen Systems neue soziale Systeme entstehen, wenn es ihnen gelingt, sich durch spezifische Operationen abzugrenzen.2 „Ausdifferenzierung“ heißt also: Emergenz eines neuen sozialen Systems durch Grenzziehung gegenüber einem alten, das zu dessen Umwelt wird. Die NSDAP war, in Luhmanns Begrifflichkeit, ein soziales System vom Typ „Organisation“.3 Aus ihr differenzierten sich seit 1925/26 neue soziale Systeme heraus, die sich als Organisationen konstituierten. Als Motor dieses dynamischen Prozesses fungierte die Mitgliederentwicklung, die die NSDAP binnen weniger Jahre zu einer Massenpartei werden ließ. Zwischen 1925/26 und dem 30. Januar 1933 stieg ihre Mitgliederzahl von wenigen Tausend auf fast 850.000 an. Nach der so genannten Machtergreifung setzte sich diese Entwicklung nahezu explosionsartig fort, so dass der NSDAP am 8./9. Mai 1945 mehr als neun Millionen Menschen angehörten. Zwischen diesem quantitativen Wachstum der Mitgliedschaft der NSDAP und ihrem innerparteilichen Strukturwandel, der im Grunde genommen bis zum Ende des „Dritten Reiches“ anhielt, bestand ein zirkulärer Zusammenhang. Die bisherigen Gesamtdarstellungen, aber auch die Mo-

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Dazu Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, 2 Bde., Pittsburgh 1969–1973; Johnpeter H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920–1945, Ph. D. Thesis, Chapel Hill 1983, sowie Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920 bis 1945, Köln3 2009. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 595–608. Die beste Einführung in die Luhmannsche Theoriearchitektur ist Georg Kneer / Armin Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München4 2000. Als Nachschlagewerk ist wichtig Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Oliver Jahraus / Armin Nassehi / Mario Grizelj / Irmhild Saake / Christian Kirchmeier / Julian Müller, Stuttgart/Weimar 2012. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin3 1976, S. 29–53, sowie ders., Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000, S. 39–80. Zur Organisationssoziologie Luhmanns siehe Will Martens / Günther Ortmann, Organisationen in Luhmanns Systemtheorie, in: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart6 2006, S. 427–461.

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nografien zu Einzelaspekten der NSDAP4, haben diesen Sachverhalt vernachlässigt. Ihre Autoren belassen es dabei, die amorphe Struktur der NSDAP lediglich zu konstatieren, ohne sie überhaupt mit dem Mitgliederanstieg in Verbindung zu bringen. Die bisherigen Studien zur Mitgliedschaft der NSDAP sind ausschließlich an deren sozialer Zusammensetzung interessiert, ohne diese systematisch an ihren Organisationsapparat rückzubinden.5 Im Folgenden geht es um einen ersten Schritt auf dem Weg, die personenelle und organisatorische Entwicklung der NSDAP historiografisch enger aufeinander zu beziehen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der innerparteilichen Mitgliederintegration. Mittels welcher Mechanismen versuchte die NSDAP, ihre Mitglieder zu integrieren? Und welche Rolle spielten diese Mechanismen im Rahmen jener permanenten Ausdifferenzierung der NSDAP? 2. MOBILISIERUNG UND GEWALT: DIE NSDAP BIS ZUM 30. JANUAR 1933 Nach der Wiedergründung der NSDAP im Februar 1925 wechselte sie ihre Prioritätensetzung und strebte danach, die verhasste Weimarer Republik durch parlamentarische Mehrheitsbildung zu beseitigen. Unter Reichsorganisationsleiter Gregor Straßer und Reichpropagandaleiter Joseph Goebbels, den beiden entscheidenden Protagonisten der Parteiarbeit während der Weimarer Zeit6, ging sie zu einer Art volksparteilicher Doppelstrategie über.7 Zum einen öffnete sich die NSDAP für alle sozialen Schichten, indem sie sich ausdrücklich an alle Wahlberechtigten wandte und sie mit zielgruppenspezifischer Werbung zu gewinnen suchte. Zum anderen dehnte sie ihr Agitationsspektrum immer weiter aus und politisierte so alle nur erdenklichen Themen. Beide Prozesse, also die Öffnung für neue Wählerschichten durch sozial differenzierte Propaganda und die Fundamentalpolitisierung, hingen aufs engste miteinander zusammen. Das zeigte sich auch an einer weiteren Ausdif4 5

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Den Forschungsstand zum Thema repräsentieren die Beiträge in Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009. Michael H. Kater, The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders, 1919–1945, Cambridge 1983; Torsten Kupfer, Generation und Radikalisierung. Die Mitglieder der NSDAP im Kreis Bernburg 1921–1945, Berlin 2006, sowie Jürgen W. Falter (Hg.), Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt am Main/New York 2016. Zu diesen beiden NSDAP-Funktionären Udo Kissenkoetter, Gregor Straßer und die NSDAP, Stuttgart 1978, sowie Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie, München 2010, S. 67– 207. Aus der Masse an Literatur seien an dieser Stelle genannt Jeremy Noakes, The Nazi Party in Lower Saxony 1921–1933, Oxford 1971; Geoffrey Pridham, Hitler’s Rise to Power. The Nazi Movement in Bavaria 1923–1933, London 1973; Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NSPropaganda vor 1933, Bonn 1990; Dieter Ohr, Nationalsozialistische Propaganda und Weimarer Wahlen. Empirische Analysen zur Wirkung von NSDAP-Versammlungen, Opladen 1997; Claus-Christian W. Szejnmann, Nazism in Central Germany: The Brownshirts in ‚Red‘ Saxony, New York/Oxford 1999, sowie Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 566– 646.

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ferenzierung der NSDAP. Seit 1927 entstanden in ihrem organisatorischen Rahmen der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ), die Nationalsozialistische Frauenschaft (NSF), der Nationalsozialistische Schülerbund, der Kampfbund für Deutsche Kultur (KBK), der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB), der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB), der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund (NSDÄB) und – als Apparat für die Industriearbeiterschaft – die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation (NSBO).8 Anfang 1931 kamen noch die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) und der Kampfbund des gewerblichen Mittelstands (KGM) dazu. Von überragender Bedeutung war der am 1. August 1930 errichtete Agrarpolitische Apparat unter Richard Walther Darré, der jenen erdrutschartigen Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 ermöglichte, als sie 18,3 Prozent der Stimmen und 107 Mandate gewann.9 In dieser Ausdifferenzierung neuer Organisationen lag eine maßgebliche Voraussetzung für spätere Erfolge der NSDAP bei weiteren Reichs- und Landtagswahlen, denn sie konnte sukzessive an die lokale bürgerliche Vereinskultur andocken. Ohne eine solche Amalgamierung mit der bürgerlichen Infrastruktur hätte die NSDAP in der Weimarer Republik keine Massenbasis gewinnen können. Der zweite Faktor, der für den Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei entscheidend war, lag in jener Doppelstruktur zwischen Parteiapparat auf der einen Seite und Sturmabteilung (SA) auf der anderen. Die historische Forschung hat in der Regel die vielfältigen Konflikte zwischen den beiden konstitutiven Bestandteilen der NSDAP betont, dabei aber die Unterschiedlichkeit in der sozialen Praxis und der daraus resultierenden Anziehungskraft auf verschiedene soziale Gruppen vernachlässigt.10 Aus der bahnbrechenden Arbeit von Sven Reichardt wissen wir allerdings, dass sich Partei und SA, bei allen Spannungen, die zwischen ihnen bestanden, nachgerade kongenial ergänzten.11 Ursprünglich als defensiv orientierte Saalschutzorganisation konzipiert, ging die SA seit 1928/29 mehr und mehr zu einem offensiven terroristischen Vorgehen gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden über. Als Katalysator erwies sich die Aufhebung des SA-Verbots in Berlin am 31. März 1928. Binnen eines Jahres gelang es dem dortigen Gauleiter Goebbels, die Mitgliederzahl dieses paramilitärischen Verbandes der NSDAP in der 8

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Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München13 1992, S. 49–65, sowie Mathias Rösch, Die Münchner NSDAP 1925–1933. Eine Untersuchung zur inneren Struktur der NSDAP in der Weimarer Republik, München 2002, S. 231–379. Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgemeinden Deutschlands in der Weimarer Republik, Bonn 1996, S. 324–432, sowie Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990, Düsseldorf 2000, S. 220–290. Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, sowie Mark A. Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener Oberster SA-Führer, Göttingen 2016. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde: Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln/Weimar/Wien 2002.

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Reichshauptstadt auf über zweitausend Mann zu bringen und so mehr als zu verdoppeln. Dem Vorbild der italienischen Squadristi folgend, entwickelte die SA daraufhin im gesamten Reichsgebiet spezifische Formen der Gewalt. Dazu zählten beispielsweise Strafexpeditionen, die Besetzungen ganzer Mittelstädte, Straßenaufmärsche, Saalschlachten, der Kampf mit den Kommunisten um spezielle Lokale und Treffpunkte, gezielte Angriffe und Mordanschläge, der Kampf um Fahnen, Wimpel und Symbole sowie Erpressungen und Schutzgeldforderungen gegen Restaurantbesitzer oder Landwirte. Der Terror der SA war keine Reaktion auf eine Herausforderung durch die Kommunisten, wie lange behauptet wurde, sondern bildete ein Phänomen sui generis.12 Ihre Gewalt sicherte der SA gerade nach der Weltwirtschaftskrise, die im Oktober 1929 mit dem „Schwarzen Freitag“ begann, einen immer größeren Zulauf. Dabei ergab sich eine fundamentale Paradoxie. Die SA entwickelte sich immer mehr zu einer Organisation, die den Bürgerkrieg auf die Straße trug. Zugleich gerierte sich die NSDAP jedoch auch als diejenige Bewegung, die „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen versprach, indem sie den „Marxismus“ auszurotten vorgab. Die SA schuf also jene Bedingungen, unter denen sie als selbst ernannte „Ordnungsmacht“ auftreten konnte. Dies gelang nur, weil es in der Reichswehr maßgebliche Kräfte gab, die die SA-Führung logistisch und ideell unterstützten. Innerhalb der beiden großen Komplexe – der Partei mit den Fach- und Berufsorganisationen auf der einen Seite und der SA als paramilitärischer Organisation auf der anderen – entwickelten sich zwei unterschiedliche Modi der Mitgliederintegration: Im Parteiapparat war dies Mobilisierung, in der SA Gewalt. Im Mittelpunkt der Parteiarbeit, standen die Wahlkämpfe, die in der Endphase der Weimarer Republik in Permanenz stattfanden. Es mussten unzählige Versammlungen vorbereitet, Propagandamaterial verteilt, Plakate geklebt und Zeitungen und Zeitschriften redigiert und gedruckt werden, und die NSDAP legte Wert darauf, dass sich jedes Mitglied an diesen Aktivitäten beteiligte.13 In der Zeit bis 1933 gab es also keine passive Mitgliedschaft in der NSDAP. Wer sich zum Eintritt entschloss, mutierte unversehens zu einem Aktivisten, der sich tagtäglich für das Ziel der Partei einsetzte, die Macht zu erringen. Für die SA wissen wir, dass die Organisationsbindung im Wesentlichen auf gemeinsamer Gewaltausübung basierte.14 Mobilisierung und Gewalt waren also die zentralen Mechanismen der Mitgliederintegration bis 1933. In der historischen For12

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Dies ist aus anderer Perspektive Klaus Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, sowie Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998, zu entnehmen. Reichhaltiges Material dazu findet sich in den Arbeiten von Theodore Abel, Why Hitler Came into Power, New York 1938; Peter M. Merkl, Political Violence under the Swastika: 581 Early Nazis, Princeton 1975, sowie Katja Kosubek, „genauso konsequent sozialistisch wie national“. Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933. Eine Quellenedition 36 autobiographischer Essays der Theodore-Abel-Collection, Göttingen 2017. Sven Reichardt, Vergemeinschaftung durch Gewalt. Das Beispiel des SA-„Mördersturms 33“ in Berlin-Charlottenburg zwischen 1928 und 1932, in: Beiträge zur Geschichte der nationalso-

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schung hat es sich dagegen eingebürgert, in der charismatischen „Führerbindung“ den hauptsächlichen Integrationsfaktor zu sehen.15 Dies traf in erster Linie für diejenigen Personen zu, mit denen Adolf Hitler einen dauerhaften persönlichen Umgang pflegte. Die einseitige Fokussierung auf Hitlers Charisma vermag jedoch nicht zu erklären, wie es der NSDAP gelang, die Integration von Millionen einfachen Mitgliedern über einen verhältnismäßig langen Zeitraum sicherzustellen. Aus der persönlichen Verehrung einer charismatischen Person entsteht nicht zwangsläufig eine mittel- oder längerfristige Bindung an eine Organisation. 3. INSTITUTIONALISIERUNG UND KONTROLLE: DIE NSDAP ALS NETZWERK VON ORGANISATIONEN Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 setzte ein beispielloser Ansturm auf die NSDAP ein, in dessen Verlauf sich ihre Mitgliederzahl bis zum 30. Januar 1935 auf fast 2,5 Millionen verdreifachte. Diese Masseneintritte kamen für die NSDAP so überraschend, dass sie am 19. April 1933 eine Mitgliedersperre verhängte, die in den darauffolgenden Jahren zeitweilig wieder gelockert wurde. Die Partei entwickelte sich zu einem Kooptationsorgan, das eigenständig darüber entschied, wer ihr angehören durfte und wer nicht.16 Zum 1. Mai 1937 und auch zum 1. Mai 1939 lockerte der zuständige Reichsschatzmeister die innerparteiliche Mitgliedersperre, worauf zwei weitere Aufnahmewellen in die Partei folgten. Darüber hinaus gab die Parteiführung seit 1937 einmal jährlich den Angehörigen ihrer beiden Jugendorganisationen Hitler-Jugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM), die volljährig geworden und als „würdig“ erachtet worden waren, der Partei auch anzugehören, die einmalige Gelegenheit, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Auf diese Weise wechselten zwischen 1937 und 1945 schätzungsweise 1,3 Millionen Jugendliche zur Partei.17 Dies waren sieben bis acht Prozent der Gesamtmitglieder von HJ und BDM. Weitere Anlässe zur Aufnahme neuer Mitglieder entstanden seit 1938/39 dann durch die Einverleibung neuer Gebiete, also Österreichs, des Sudeten- und Memellandes und der ans Reich angegliederten polnischen und französischen Territorien. Durch die NS-Expansionspolitik kamen noch einmal mehr als 1,5 Millionen Parteimitglieder hinzu.

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zialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 7 (2002), S. 20–36. Grundlegend dazu jetzt Daniel Siemens, Stormtroopers: A New History of Hitler’s Brownshirts, Yale 2017. Pars pro toto seien hier die Arbeiten von Ian Kershaw, Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992; ders., Hitler, 2 Bde., Stuttgart 1998–2000, sowie ders., Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999, genannt. Relativierend allerdings Ludolf Herbst, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt am Main 2010. Zum Aufnahmeverfahren Michael Buddrus, „War es möglich, ohne eigenes Zutun Mitglied der NSDAP zu werden?“ Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin für das ›Internationale Germanistenlexikon 1800–1950‹, in: Zeitschrift für Geschichte der Germanistik, 23/24 (2003), S. 21–26. Armin Nolzen, Vom „Jugendgenossen“ zum „Parteigenossen“. Die Aufnahme von Angehörigen der Hitler-Jugend in die NSDAP, in: Benz, Parteigenosse (wie Fn. 4), S. 123–150, hier S. 149.

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Die Mitgliederentwicklung in der Partei, 1933–194518

Für die Frage der Mitgliederintegration erwies sich auch die so genannte Gleichschaltung, also die Einverleibung bestehender Vereine und Verbände durch die Fach- und Berufsorganisationen und die paramilitärischen Kampfbünde, die nach dem 5. März 1933 begonnen hatte, als wichtig. Im Unterschied zur Partei, die ja den Mitgliederzufluss strikt zu regeln versuchte, nahmen diese Organisationen immer neue Mitglieder auf. Die „Gleichschaltung“ beruhte teilweise auf offenem Zwang, teilweise auf Freiwilligkeit. So nahm die Zerschlagung der freien Gewerkschaften ihren Ausgangspunkt durch die Gewaltaktion am 2. Mai 1933.19 Andere Vereine und Verbände wurden von „Parteigenossen“ gewissermaßen unterwandert und von innen übernommen. Die meisten Organisationen reihten sich jedoch begeistert in die „nationale Bewegung“ ein und führten deren „Führerprinzip“ und „Arierparagraphen“ gleich freiwillig ein.20 Parallel zur Aufnahme immer neuer Mitglieder vollzog sich in der Partei, den paramilitärischen Kampfbünden und den Fach- und

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Angaben nach Bundesarchiv (BA) Berlin, NS 1/1116. Legende für die x-Achse der Tabelle: 1 = 30.1.1933; 2 = 1.5.1935; 3 = 30.6.1937; 4 = 30.6.1938; 5 = 31.3.1939; 6 = 6/1940 (einschließlich der „Reichsgaue“ Danzig-Westpreußen und Wartheland); 7 = 4/1941 (einschließlich der Untersteiermark und Kärnten-Krains); 8 = 2/1942; 9 = 3/1943; 10 = 5/1943, sowie 11 = 5/1945 (Schätzung). Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999. Dies zeigen die Lokalstudien von Wiliam Sheridan Allen, The Nazi Seizure of Power. The Experience of a Single German Town 1922–1945, rev. ed., New York 1984; Rudy Koshar, Social Life, Local Politics and Nazism: Marburg, 1885–1935, Chapel Hill 1986, sowie Walter Struve, Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus in einer industriellen Kleinstadt. Osterode am Harz 1918–1945, Essen 1992.

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Berufsverbänden ein Prozess der Institutionalisierung.21 Jede dieser Organisationen bildete einen eigenen vertikalen Apparat und ein in sich abgeschlossenes Funktionärskorps aus. Die Partei und die Fach- und Berufsverbände waren in Gaue, Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blocks eingeteilt; die paramilitärischen Kampfbünde gliederten sich in Einheiten wie Gruppen, Scharen und Stürme, deren territoriale Grenzen nicht mit denen der anderen Organisationen der NSDAP übereinstimmten.22 Diese entwickelte sich nach 1933 zu einem regelrechten Netzwerk von Organisationen, deren Zusammenarbeit bei Bedarf durch Sondervereinbarungen zwischen den Zentralbehörden, den so genannten Reichsleitungs-Dienststellen, geregelt wurde.23 Dieser Aspekt der Institutionalisierung fand dann mit der am 29. März 1935 erlassenen „Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ einen Abschluss. Die NSDAP bestand jetzt aus der Partei, den Gliederungen (SA, SS, HJ, BDM, NSKK, NSF, NSDStB, NSDozB) und angeschlossenen Verbänden (DAF, NSDÄB, NSRB, NSLB, NSV, NSKOV, RDB, NSBDT).24 Damit war jede einzelne ihrer Organisationen mittels eines spezifischen Rechtsbegriffs ins Gefüge des NS-Staates eingebaut worden. Die Institutionalisierungsprozesse in der NSDAP nach 1933 erstreckten sich darüber hinaus auf einen zweiten Bereich: die Etablierung individueller Verhaltensanforderungen durch Regel- und Normensysteme, was mit der Bildung eines Sanktionsapparates, Sanktionsdrohungen und realen Sanktionen einherging. Zu den wichtigsten Verhaltensanforderungen in der NSDAP zählten das Zahlen der Mitgliedsbeiträge, die Bereitschaft zur Übernahme eines Funktionärsamts, der Besuch von offiziellen Parteiveranstaltungen, das Unterlassen des „Umgangs mit Juden“ und später mit „fremdvölkischen“ Zwangsarbeitern, der regelmäßige Bezug der Parteipresse und viele andere Bestimmungen, die sich je nach tagespolitischer Lage schnell änderten.25 Die Mitglieder wurden stets nach dem Einzelprinzip re21

22 23 24 25

Zu diesem Begriff siehe Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen2 1983, S. 64–80. Eine Anwendung bei Armin Nolzen, Die Reichsorganisationsleitung als Verwaltungsbehörde der NSDAP. Kompetenzen, Strukturen und administrative Praktiken nach 1933, in: Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York 2011, S. 121–166, hier S. 133 f. Parteistatistik der NSDAP. Stand: 1. Januar 1935 (ohne Saarland), hg. v. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, 4 Bde., München 1935–1939, hier: Bd. III, S. 84 f., 92 f., 100 f. und 114 f. Organisationsbuch der NSDAP, hg. v. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München3 1937, S. 471–484c, sowie Ulf Lükemann, Der Reichsschatzmeister der NSDAP. Ein Beitrag zur inneren Parteistruktur, Phil. Diss. Berlin 1963, S. 95–141. Vgl. die Übersicht weiter unten; dort auch Auflösung der Abkürzungen; Das Recht der NSDAP. Vorschriften-Sammlung mit Anmerkungen, Verweisungen und Sachregister, Carl Haidn / Ludwig Fischer (Hg.), München 1936, S. 73–100. Die Verhaltensanforderungen in der NSDAP gehen aus den einschlägigen Monografien über die innerparteilichen Sanktionsapparate am deutlichsten hervor; siehe nur Donald M. McKale, The Nazi Party Courts. Hitler’s Management of Conflict in his Movement, 1921–1945, Lawrence 1974; Bianca Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizei-Gerichtsbarkeit, Baden-Baden 2002, sowie Kathrin Kollmeier, Ordnung und Ausgrenzung. Die Disziplinarpolitik der Hitler-Jugend, Göttingen 2007.

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gistriert, und zwar durch Mitgliedsausweise und Mitgliedskarten, Stammblätter, Personalbeurteilungen und detaillierte Übersichten, welche nationalsozialistischen Presseerzeugnisse sie abonnierten.26 Dies erfolgte mittels diverser Karteien, deren Funktion kaum einmal systematisch in den Blick genommen worden ist: die Zentralmitgliederkartei der Partei, die der Reichsschatzmeister in München führte, die Karteien für Parteifunktionäre, die von den Personalämtern der Gaue, Kreise und Ortsgruppen auf dem aktuellen Stand gehalten wurden, die „Warnkartei“ für ausgeschiedene Parteimitglieder, die umgezogen waren und deren Anmeldung am neuen Wohnsitz unterbunden werden sollte, sowie die „Querulantenkartei“, in der Angaben über diejenigen Personen gesammelt wurden, die als Bittsteller bei Parteibehörden unangenehm aufgefallen waren. Für die Alltagsarbeit der NSDAP am wichtigsten war die Haushaltskartei, in der jeder Ortsgruppenleiter alle Informationen über die Bewohner seines „Hoheitsbereiches“, die ihm die Zellen- und Blockleiter und deren Helfer lieferten, minutiös festhielt. Derartige Karteien führten übrigens auch die Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Die Institutionalisierung eines Netzwerks von Organisationen sowie von Verhaltenserwartungen, die diese an ihre Mitglieder richteten, führte zur Herausbildung eines weiteren innerparteilichen Integrationsmechanismus, den man am besten als „Kontrolle“ bezeichnen kann.27 Hierbei gelang es der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden einerseits, das Verhalten ihrer Mitglieder zu bestimmen, indem sie individuelle Karrierechancen an den Mitgliedschaftsstatus und die Intensität des freiwilligen Engagements koppelte.28 Der Kontrollmechanismus bezog sich andererseits auch auf Nichtmitglieder, die durch die kleinteilige Organisationsform der Partei und die meisten ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände tagtäglich mit deren Funktionären in Kontakt kamen.29 Zu denken ist an öffentliche Veranstaltungen der NSDAP, ihr ausgedehntes Sammlungswesen und die vielfältigen Beratungsfunktion ihrer lokalen Apparate. Von immenser Be26

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Dieser Sachverhalt ist am besten untersucht bei Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, S. 67– 176; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 368–503, sowie Bastian Hein, Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925–1945, München 2012, S. 113–127 und 191–255. Und zwar im Sinn von Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt am Main 2007, S. 226–237, hier S. 230 f. Dabei geht es nicht (oder nicht nur) um die Ausübung von Herrschaft, sondern um eine nachträgliche Korrektur von Abweichungen im Vergleich mit Zielwerten. Dies habe ich zu systematisieren versucht in: Armin Nolzen, Inklusion und Exklusion im „Dritten Reich“: Das Beispiel der NSDAP, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 60–77 und 199–205. Dazu Aryeh L. Unger, The Totalitarian Party. Party and People in Nazi Germany and Soviet Russia, Cambridge 1974, S. 83–104; Caroline Wagner, Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NS-Machtergreifung in Lippe, Münster 1998, S. 117–252, sowie Beate Meyer, „Goldfasane“ und „Nazissen“. Die NSDAP im ehemals „roten“ Stadtteil Hamburg-Eimsbüttel, Hamburg 2002, S. 73–97.

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deutung waren außerdem auch die „politischen Beurteilungen“, die vor allen nur erdenklichen Ernennungen, Beförderungen und Neubesetzungen im öffentlichen Dienst sowie der Bewilligung von individuellen Fürsorgeanträgen bei den unteren Parteibehörden eingeholt werden mussten.30 Schließlich war die NSDAP auch für die Verfolgung der Juden und andere so genannter Gegner von nicht zu unterschätzender Bedeutung.31 Sie kooperierte mit dem Polizeiapparat und lieferte diesem allerlei Informationen. Diese Mechanismen der Kontrolle wirkten insofern integrativ, als sie laufende Selbstanpassung der Mitglieder wie auch Nichtmitglieder der NSDAP an die jeweils vorherrschenden Verhaltensimperative bewirkten. Die Partei, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände schufen durch ihre (zweifache) Institutionalisierung immer neuer bürokratischer Apparate und immer neuer Verhaltenserwartungen die Voraussetzungen gleich mit, unter denen sie operierten. Dadurch, dass die NSDAP ein Netzwerk von Organisationen war, musste man sich nach 1933 zwangsläufig an ihr orientieren. 4. ERZIEHUNG UND HILFE: DIE NSDAP ALS ERMÖGLICHUNGSORGANISATION Die historische Forschung zum Thema „NSDAP“ hat es sich angewöhnt, dieses Netzwerk von Organisationen primär als Apparat der sozialen Disziplinierung zu begreifen. Demgegenüber ist es auf dem Hintergrund der neueren Forschung angezeigt, die Perspektive zu verschieben. Denn sie betont zum einen die Freiwilligkeit des Engagements in der NSDAP, zum anderen die vielen Möglichkeiten, die sich ihren Angehörigen selbst innerhalb reiner Pflichtorganisationen wie der Hitler-Jugend boten. Diese Möglichkeiten zeichneten sich nach 1936/37, als die Apparate der NSDAP vollständig institutionalisiert waren, immer deutlicher ab und hingen mit zwei weiteren Mechanismen der Mitgliederintegration zusammen: mit Erziehung und (sozialer) Hilfe. Unter „Erziehung“ ist allgemein die intentionale Einwirkung von Personen auf Personen mit dem Ziel einer Verhaltensänderung zu verstehen.32 Ein wichtiger Bestandteil dieser Erziehung der NSDAP war die weltanschau30

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Dazu Kerstin Thieler, „Volksgemeinschaft“ unter Vorbehalt. Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung und Gesinnungskontrolle in der Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleitung Göttingen Göttinger, Göttingen 2014, eine allerdings in vielerlei Hinsicht unzureichende Studie. Detlef Schmiechen-Ackermann, Der „Blockwart“. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 575–602, sowie Christine Müller-Botsch, „Den richtigen Mann an die richtige Stelle“. Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 93–234. Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. v. Dieter Lenzen, Frankfurt am Main 2002, S. 48–81, sowie ders., Schriften zur Pädagogik, hg. u. m. einem Vorw. vers. v. Dieter Lenzen, Frankfurt am Main 2004, S. 111–122. Wichtig auch Dieter Lenzen (Hg.), Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann, Frankfurt am Main 2004.

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liche „Schulung“. Wer ein innerparteiliches Funktionärsamt wahrnahm (und das waren in der Regel mindestens ein Zehntel der jeweiligen Organisationsangehörigen), musste regelmäßig an solchen „Schulungen“ teilnehmen.33 Dazu kamen „fachliche Schulungen“, die die angeschlossenen Verbände anboten.34 Die weltanschauliche wie die fachliche „Schulung“ dienten dem Ziel, die Funktionäre der NSDAP auszubilden sowie eine innerparteiliche „Führerauslese“ zu betreiben. Bei beiden Typen wurden die Parteifunktionäre auch beurteilt und im Falle guter Leistungen für höhere Ämter weiterempfohlen. „Schulungen“ ermöglichten also einen gewissen sozialen Aufstieg in der NSDAP. Mit dem Übergang des NS-Regimes zur Expansionspolitik 1938/39 erweiterte sich das Netzwerk von Organisationen, das sich unter dem Begriff „NSDAP“ rubrizieren lässt, um eine neue Gruppe von Verbänden, die bisher nur lose mit ihr verbunden gewesen waren: die so genannten betreuten Verbände der NSDAP. Auch diese Verbände praktizierten vielfältige Erziehungsmaßnahmen und gewährten ihren Mitgliedern materielle und soziale Vergünstigungen, die Nichtmitgliedern verwehrt wurden.35 Mit dem Export des Parteiapparates nach Österreich, ins Sudetenland und ins Memelgebiet und der daraus resultierenden Welle von Neuaufnahmen intensivierte die NSDAP ihre Erziehungsversuche, weil ihr diese Neumitglieder als „unsichere Kantonisten“ galten.36 Fast zum gleichen Zeitpunkt war mit der „Jugenddienstpflicht“ im März 1939 die totale Erfassung der deutschen Jugend von 10–18 Jahren abgeschlossen, die sich die Hitler-Jugend seit 1933 auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Die Hitler-Jugend, in der mittlerweile 90 Prozent aller Jugendlichen organisiert waren, weitete ihre Erziehungsmaßnahmen ebenfalls aus. Neben dem so genannten Jugenddienst, der zweimal wöchentlich, in der Regel mittwochs und samstags, stattfand, erwiesen sich die unzähligen HJ-Sonderformationen als wirksame Erziehungsinstrumente. Dazu zählten die Motor-HJ, die Marine-HJ, der Streifendienst und die Fanfarenzüge des Deutschen Jungvolks, um nur einige dieser 33

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Reibel, Fundament, S. 177–228 (wie Fn. 26); Mike Schmeitzner, Totale Herrschaft durch Kader? – Parteischulung und Kaderpolitik von NSDAP und KPD/SED, in: Totalitarismus und Demokratie 2 (2005), S. 71–99, hier S. 79–85, sowie Christian Bunnenberg, „Daher sieht es die Partei als ihre vornehmste Aufgabe an …“ „Schulungen“ als Instrumente der Differenzierung und Kontrolle, in: Nicole Kramer / Armin Nolzen (Hg.), Ungleichheiten im „Dritten Reich“. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen, Göttingen 2012, S. 139–154. Andreas Kraas, Lehrerlager 1932–1945. Politische Funktion und pädagogische Gestaltung, Bad Heilbrunn 2004, S. 151–154 und 222–257; Thomas Maibaum, Die Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt-Rehse, Med. Diss. Hamburg 2007, S. 31–122, sowie Folker Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, Tübingen 2008, S. 152–191. Zum Begriff Oskar Redelsberger, Von der NSDAP betreute Organisation – ein neues Rechtsgebilde, in: Deutsche Verwaltung, 16 (1939), S. 132 ff. Dazu allgemein Hermann Hagspiel, Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945, Wien 1995, S. 107–124; Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Essen 1999, sowie Martin Broszat, Die memelländischen Organisationen und der Nationalsozialismus, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, 2 Bde., München 1958–1966, hier: Bd. I, S. 395– 400, hier S. 397 f.

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Mitglieder in der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen beziehungsweise betreuten Verbänden (Stand: 1. September 1939)37

Organisationen zu nennen. Die wichtigste Sonderformation des BDM war das Werk „Glaube und Schönheit“, das die Bindungen der 17–21jährigen BDM-Angehörigen an den Nationalsozialismus vertiefen sollte. Das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ gliederte sich in Arbeitsgemeinschaften, die nach den individuellen Interessen der Mädchen gebildet wurden.38

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Armin Nolzen:, Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilbd. 1: Politisierung – Vernichtung – Überleben, hg. v. Jörg Echternkamp, München 2004, S. 99–193, hier S. 103. Die Zahlen von NSF und DFW sind korrigiert nach: Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront: Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011, S. 48 f.; die Zahlen von NSDStB und NSDozB nach Michael Grüttner, Das Dritte Reich 1933–1939, Stuttgart 2014, S. 109. Dazu Sabine Hering / Kurt Schilde, Das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“. Die Organisation junger Frauen im Nationalsozialismus, Berlin 2000, sowie Alexandra Offermanns, „Die wussten, was uns gefällt.“ Ästhetische Manipulation und Verführung im Nationalsozialismus, illustriert am BDM-Werk ‚Glaube und Schönheit‘, Münster 2004.

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In den Arbeitsgemeinschaften „Unser Heim“ beziehungsweise „Kleidung“ sollten ihnen spezifische Vorstellungen für Gestaltung von Räumen und Kleidung vermittelt werden.39 Zu diesem Zwecke arbeiteten die Mädchen mit den Architekten zusammen, die für den Bau der HJ-Heime zuständig waren, suchten Stoffe für Vorhänge, Kissen und Decken, Tapeten und Leuchten aus und wirkten an der Innenausstattung der HJ-Unterkünfte mit. In der „Arbeitsgemeinschaft Kleidung“ sollten sie lernen, wie man selbst schneiderte. Das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ diente der im Sinne des Nationalsozialismus „artgerechten“ Erziehung ihrer insgesamt 450.000 Angehörigen. Indem sie bestimmte Fertigkeiten erlernten oder ihre entsprechenden Talente ausbauten, sollte eine enge Symbiose zwischen weiblichem Lebensstil und der NS-Ideologie erreicht werden. Die Hitler-Jugend darf insofern nicht als Organisation verstanden werden, die von oben nach unten funktionierte, sondern sie war auch und gerade durch die Bedürfnisse ihrer Klientel geprägt. Mit dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich die Erziehung der Hitler-Jugend in zunehmendem Maß als „Kriegshilfseinsatz“ von HJ und BDM. Dazu zählten die Mitarbeit bei Polizei-, Verwaltungs- und Wehrmachtbehörden, der Einsatz im Feuerlösch- und Meldedienst, Hilfstätigkeiten bei der Heimatflak und als Luftwaffenhelfer, die „Betreuung“ verwunderter Soldaten und viele andere Tätigkeiten. Die Übergänge zur sozialen Hilfe der NSDAP, die mit der Eskalation des alliierten Luftkrieges gegen das Deutsche Reich im Februar 1942 immer wichtiger wurde, waren fließend. Die bedeutendste Organisation, die diese vielfältigen Hilfsmaßnahmen vor, während und nach alliierten Luftangriffen verantwortete, war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), der im Zweiten Weltkrieg mehr als 15 Millionen Personen angehörten.40 Im Laufe ihrer Tätigkeiten brachte die NSV Millionen von Obdachlosen unter, setzte Kochstellen und Notküchen in Gang, beschaffte Geschirr, stellte Verpflegung bereit, erfasste schwangere Frauen und fahndete nach vermissten Kindern, versuchte, die ungeregelte Massenflucht aus den Städten zu verhindern und setzte Gebäude, Liegenschaften und Kindertagesstätten instand, nachdem sie durch Luftangriffe beschädigt worden waren. Bis Anfang 1945 evakuierte die NSV zudem mehr als zehn Millionen Personen, um sie vor Luftangriffen zu schützen. Mittels dieser Hilfsmaßnahmen integrierte sie zum einen Funktionäre, zum anderen aber auch Mitglieder wie Nichtmitglieder.

39 40

Gabriele Kinz, Der Bund Deutscher Mädel. Ein Beitrag zur außerschulischen Mädchenerziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1990, S. 321 f. Dazu Peter Zolling, Zwischen Integration und Segregation. Sozialpolitik im „Dritten Reich“ am Beispiel der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) in Hamburg, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1986; Herwart Vorländer, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988; Eckhard Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivation, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Augsburg 1991, sowie Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999.

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5. SCHLUSSBETRACHTUNG Zurück zur eingangs gestellten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Mitgliederanstieg und Strukturwandel in der NSDAP. Es dürfte klargeworden sein, dass die NSDAP nicht einfach eine Organisation war, die nach einer möglichst weitgehenden Einverleibung der gesamten deutschen Bevölkerung trachtete. Vielmehr existierte zumindest im Fall der Partei und ihrer Gliederungen ein gewisses Interesse, diesen Organisationen beizutreten und ihnen anzugehören. Demgegenüber fungierten die angeschlossenen beziehungsweise die betreuten Verbände eher als Sammelbecken der „gleichgeschalteten“ Vereine und Organisationen, wenngleich sich für ihre Mitglieder auch vielfältige Karrierechancen eröffneten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Schaffung unzähliger Funktionärsämter in der NSDAP. Diese waren zu über 90 Prozent ehrenamtlich, das heißt, dass sich die jeweiligen Amtsinhaber aus eigenem Antrieb engagierten und dafür im günstigsten Fall soziales Prestige einheimsten. Als Scharnier zwischen innerparteilichem Mitgliederanstieg und Strukturwandel in der NSDAP fungierten die sechs Mechanismen der Mitgliederintegration, die ich genannt habe: Mobilisierung, Gewalt, Institutionalisierung, Kontrolle, Erziehung und soziale Hilfe. Sie lassen sich mit einem Begriff, den der US-amerikanische Organisationssoziologe Philip Selznick prägte, auch als „operative Codes“ beschreiben.41 Dieser Begriff Selznicks hebt darauf ab, dass die Integration von Mitgliedern in einer modernen Organisation wie der NSDAP nicht durch persönliche Bindung, sondern mittels operativer Routinen erfolgt. Diese wiederum lassen sich nicht einfach als Resultate von Interaktionen zwischen Personen begreifen oder gar mittels einer handlungstheoretischen Herangehensweise beschreiben, wozu die NS-Forschung tendiert. Vielmehr bestehen operative Routinen aus der Kommunikation von Entscheidungen, und zwar in dreierlei Hinsicht: Entscheidungen über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Organisation, Entscheidungen über Stellen und deren Besetzung (formale Positionierung) und Entscheidungen über soziales Prestige (informale Positionierung).42 Die Ausdifferenzierung der NSDAP, von der ich eingangs mit Luhmann gesprochen habe, kann auch als interne Differenzierung durch Grenzziehung beschrieben werden. Diese Grenzziehung vollzog sich durch die drei genannten Typen von Entscheidungen und die daraus resultierenden operativen Codes der NSDAP. Diese gelten, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, sowohl für die Mitglieder wie für die Nichtmitglieder der NSDAP, für deren interne wie externe Umwelt.43 Ich habe diese sechs operativen Codes hier idealtypisch einem bestimmten 41 42

43

Philip Selznick, The Organizational Weapon: A Study of Bolshevik Strategy and Tactics, New York 1952, S. 1–16, hier S. 13. Dazu allgemein Jay M. Shafritz / J. Stephen Ott / Yong Suk Yang, Classics of Organization Theory, Belmont7 2010, S. 125–134. Zum Begriff „Entscheidung“ siehe Niklas Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungs-Archiv. Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik, 84 (1993), S. 287–310, sowie ders., Zur Komplexität von Entscheidungssituationen, in: Soziale Systeme, 15 (2009), S. 3–35. Dazu Armin Nolzen, The Nazi Party’s Operational Codes after 1933, in: Bernhard Gotto / Martina Steber (eds.), Visions of Community in Nazi Germany: Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, S. 87–100.

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Zeitabschnitt aus der Geschichte der NSDAP zugeordnet. In der Realität waren in der NSDAP alle sechs operativen Codes zugleich wirksam. Die Schwerpunktbildung der jeweiligen Codes, die ich vorgenommen habe, gilt einzig und allein im Hinblick auf die Mitgliederintegration. Sie sähe anders aus, wenn man die operativen Praktiken der NSDAP im Hinblick auf andere Organisationen oder auf ihre Nichtmitglieder analysierte. Und selbst meine zeitliche Schwerpunktbildung im Hinblick auf die Mitgliederintegration differierte, nähme man die einzelnen Organisationen der NSDAP separat in den Blick. Im Grunde genommen müsste man für jede einzelne dieser Organisationen immer die Mischungsverhältnisse in den operativen Codes untersuchen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt existierten. Die operativen Codes wären dann eine Heuristik, mittels derer man die Mechanismen der Mitgliederintegration in der NSDAP in den Blick bekommen könnte. Mittels dieser Heuristik könnte die NSDAP mit anderen Parteien kommunistischen oder demokratischen Typs verglichen werden, wozu dieser Band erste Ansätze bieten soll. Dabei fällt jedoch sogleich eine fundamentale Differenz ins Auge. Es handelt sich um den unterschiedlichen Stellenwert, den Parteien demokratischen und nichtdemokratischen Typs der Gewalt zubilligen. Jeder Vergleich zwischen Faschisten und Kommunisten auf der einen Seite sowie Sozial- und Christdemokraten auf der anderen Seite muss diesen Unterschied gebührend berücksichtigen.44 Er muss die Frage beantworten, welches funktionale Äquivalent bei sozial- und christdemokratischen Parteien an die Stelle der Gewalt tritt.

44

Zur Vergleichsperspektive im Hinblick auf politische Systeme und Parteien ist grundlegend Niklas Luhmann, Politische Soziologie, hg. v. André Kieserling, Berlin 2010, S. 253–330.

DIE ALIMENTATION DER MACHT Franz Xaver Schwarz und das Amt des Reichsschatzmeisters der NSDAP Susanne Meinl 1. EIN UNBEKANNTER MACHTFAKTOR DES „DRITTEN REICHES“? Die Hinrichtung der Geschwister Sophie und Hans Scholl war keine vier Monate vergangen, da erreichte den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund im Juni 1943 eine Sendung aus dem Allgäu. In ihm schilderte der unbekannte Briefeschreibende die Stimmung im Großraum München nach dem Fall von Stalingrad: „Deutsches Reich 1943 Überall wo man hinkommt spricht man nur Scholl und nochmal Scholl. Was ist denn mit diesen Studenten. Da sehe man, dass das deutsche Volk ein Sklavenvolk wäre, wer die Wahrheit sage, werde ermordet. In München seien schon mindestens 100 Menschen ermordet worden, seit der Nazi:Regierung [sic], angefangen mit Dr. Gerlich1 und aufgehört mit den Studenten. Jetzt sei das Maaß [sic] voll, die Münchner hassen die Partei. […] Das ganze Deutsche Reich habe so genug von dem angelogen sein und dem Terror, wir wüssten nicht wie das arbeitende Volk eine Sehnsucht habe erlöst zu werden von den unverschämten Nazi, sie können es kaum erwarten und würden jubeln, das Paradies hätten sie versprochen und geworden sei die Hölle und selber sind sie alle Bonzen.“2

Der Reichskassenwart des Studentenbundes übermittelte das Schreiben am 17. Juni 1943 nicht wie zu erwarten wäre an die Gestapo, sondern mit dem Vermerk „Geheim!“ an das Amt des Reichsschatzmeisters der NSDAP zur weiteren Veranlassung. Diese Institution mit Sitz in München war von 1933 bis 1945 zwar die zentrale Verwaltungsinstanz der NSDAP, nicht aber zuständig für die Überwachung und Verfolgung der politischen Opposition.3 Warum also wählte der Studentenfunktionär diesen Adressaten aus? 1 2 3

Dr. Fritz Gerlich, katholischer Journalist und Gegner des NS-Regimes. 1934 im Konzentrationslager Dachau ermordet. Oberabschnittsleiter NSDStB Hans Schweßinger an den M-Beauftragten des Herrn Reichsschatzmeisters, 17.6.1943, Bundesarchiv (BArch), NS 1, Nr. 308. Die Literatur zum Amt des Reichsschatzmeisters ist überschaubar. Es existiert außer einem nationalsozialistischen Handbuch (Dr. Anton Lingg, Die Verwaltung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, München 1940) genau eine Monografie: Ulf Lükemann, Der Reichsschatzmeister der NSDAP. Ein Beitrag zur inneren Parteistruktur, Diss. Berlin 1963. Im Kontext der Geschichte der NSDAP, ihrer Führungsgruppe und der Gliederungen zu nennen sind: Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure, Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt am Main 2001; Dieter Degreif, Franz Xaver Schwarz, Das Reichsschatzmeisteramt der NSDAP und dessen Überlieferung im Bundesarchiv, in: Friedrich P. Kahlenberg (Hg.), Aus der Arbeit der Archive. Festschrift für Hans Booms, Boppard 1989, S. 489–503; Michael Kater, The Nazi

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Bei Sichtung des Aktenbestandes zum Reichsschatzmeisteramt wird deutlich, dass der eingangs zitierte Brief kein Einzelfall war. Bis in die letzten Kriegsjahre suchten zahlreiche Einsender den Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz über Missstände und Korruption in der NSDAP aufzuklären. Ihre meist anonymen Briefe enthielten vermeintliche oder tatsächliche Verfehlungen großer und kleiner Parteigenossen, empörten sich über Misswirtschaft, Korruption und Verschwendung, vom mächtigen Gauleiter bis zum kleinen Blockwart. Sie sahen sich insbesondere in den Kriegsjahren durch einen Erlass und eine Reichstagsrede Hitlers vom März/ April 1942 ermutigt, der die führenden Persönlichkeiten zu vorbildlicher Lebensführung aufforderte und im Falle der „Pflichtvergessenheit“ mit radikalen Maßnahmen drohte.4 Ein Blick auf Hitler und sein engeres Umfeld verrät, dass der Appell kaum mehr war als ein populistisches Lippenbekenntnis, um für Ruhe an der „Heimatfront“ zu sorgen. Andere Einsender artikulierten dagegen prinzipielle Kritik an Teilsegmenten des NS-Staates, äußerten ihr Unbehagen am Krankenmord oder der Verfolgung des Klerus und der Juden.5 Einige suchten gar Adolf Hitler selbst über Schwarz vor dem Treiben von Partei und SS zu warnen und ein Einschreiten des als „anständig“ geltenden Reichsschatzmeisters und seiner Institution zu erreichen – eine Variation des naiven Diktums „Wenn das der Führer wüsste…“. Die Institution, an die sich die zahlreichen Volks- und Parteigenossen so optimistisch wandten, war das in München ansässige Amt des Reichsschatzmeisters, von 1933 bis 1945 die zentrale Verwaltungsinstanz der NSDAP. Dem Amt oblag die Mitgliederverwaltung und die innerparteiliche Finanzhoheit. Es war zugleich aber auch Kontrollinstanz für alle Gliederungen und angeschlossenen Verbände der NSDAP, die von ihr alimentiert wurden wie beispielsweise die Allgemeine SS, die Hitler-Jugend und die NS-Frauenschaft. Außerdem kümmerte es sich um den umfangreichen Grundbesitz der Partei und die technische Ausstattung der Gliederungen genauso wie um Uniformen, Ausrüstungsgegenstände und Waffen durch die Reichszeugmeisterei, die Durchführung der großen Lotterien oder die logistische Absicherung von Großveranstaltungen durch moderne, motorisierte Verpflegungsund Sanitätskolonnen wie den „Reichsautozug Deutschland“ und dem „Hilfszug Bayern“.

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Party. A Social Profile of Members and Leaders, 1919–1945, Oxford 1985; Dietrich Orlow, The Nazi Party 1919–1945. A Complete History, New York 2008; Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939– 1945, Wiesbaden 1989; Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP. 1920– 1945, Köln 2002; Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn 2002; Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York 2011; Mathias Rösch, Die Münchner NSDAP 1925–1933. Eine Untersuchung zur inneren Struktur der NSDAP in der Weimarer Republik, München 2002. Vgl. Bajohr, Parvenüs (wie Fn. 3), S. 165 f. Ebenda. Die ebenfalls im Bundesarchiv aufbewahrte Parteikorrespondenz (PKK), die Einzelfallentscheidungen des Obersten Parteigerichts und die in den Landesarchiven aufbewahrten politischen Gutachten enthalten eine Vielzahl derartiger Schreiben und Denunziationen.

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Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz galt als gehorsamer, aber machtbewusster Gefolgsmann des Parteiführers.6 Bei den höherrangigen Funktionären der NSDAP war er als kontrollwütiger Pedant genauso gefürchtet wie seine ubiquitären Revisoren. Der Düsseldorfer Gauleiter Friedrich Karl Florian nannte sie hasserfüllt „im Dreck wühlende Schweine“.7 Das Gros der einfachen Volks- und Parteigenossen dagegen schätzte Schwarz als Korrektiv zur grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft der in vielen Segmenten mangelhaft kontrollierten Staatspartei. Sein Amt galt als einer der Hüter der „Volksgemeinschaft“, das gemäß dem proklamierten Grundsatz des NS-Parteiprogrammes „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ bei Verstoß gegen Wirtschaftlichkeit und Kassenführung gegen jeden Parteifunktionär vorzugehen schien. Von 1934 bis 1941 ließ der Reichsschatzmeister durchschnittlich jeden Tag fünf Strafverfahren vor ordentlichen Gerichten einleiten. Die knapp 11.000 Fälle waren dabei nur die Spitze des Eisbergs, da viele Fälle vorgerichtlich oder auf der Ebene der parteiinternen Gerichtsbarkeit geklärt wurden.8 Massenorganisationen wie die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“, die „Deutsche Arbeitsfront“ oder die „Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung“ waren neben der Kernpartei ‚Hotspots‘ der Unterschlagung, Korruption und Vetternwirtschaft.9 Genau genommen hatte also fast jeder Volks- und Parteigenosse in den 12 Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ seine Berührungspunkte mit der Münchner Parteibürokratie. Es verwundert, das deren Wirkungsgeschichte und Struktur bis auf den Bereich der Mitgliederverwaltung bisher von der Forschung kaum behandelt worden ist.10 2. DER LANGE MARSCH VON DER ZIGARRENKISTE ZUM FINANZIMPERIUM: FRANZ XAVER SCHWARZ UND DAS AMT DES REICHSSCHATZMEISTERS Als die „Deutsche Arbeiterpartei“ im Januar 1919 aus dem Umkreis der ThuleGesellschaft entstand, war sie eine von vielen kleinen nationalistischen, antisemitischen und finanzschwachen Vereinen und Grüppchen, wie es sie in München nach der Revolution zuhauf gab. Ende 1919 wurde in einer Vorstadtkneipe jedoch bereits 6

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Auch die biografische Literatur zu Schwarz ist überschaubar. Die bislang neben Lükemann ausführlichste Biografie: Hubert Beckers, Franz Xaver Schwarz (1875–1947). Reichsschatzmeister der NSDAP 1925/45, http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/drittes-reich/ biografien/488-franz-xaver-schwarz-1875–1947.html, (27.9.2016). Eidesstattliche Erklärung Dr. Maierhofer, 2.11.1946, und Denkschrift über das Revisionswesen der NSDAP, 27.6.1947, Staatsarchiv München, Spruchkammerakte Herbert Haenssgen, SPK, K 598. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister(wie Fn. 3), S. 42; Bajohr, Parvenüs (wie Fn. 3), S. 12 f., S. 151 f. Vgl. ausführlich Bajohr, Parvenüs (wie Fn. 3). Vgl. Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009.

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eine eigene Geschäftsstelle eingerichtet und erstmals ein bescheidener Mitgliederbeitrag erhoben, der noch in eine Zigarrenkiste passte.11 Mitgliedsbeiträge, projektbezogene Zuwendungen (sogenannte Bausteine und Sonderumlagen), Spenden und Eintrittsgelder zu den immer populärer werdenden Versammlungen mit dem „Trommler“ Adolf Hitler füllten die Kasse zwar stetig, wurden aber durch die Inflation und die Ausgaben für den defizitären „Völkischen Beobachter“ wieder aufgefressen. Mehrere Kassenwarte, ortsüblich „Kassier“ genannt, versuchten das finanztechnische Chaos bis zum gescheiterten Putsch im November 1923 in den Griff zu bekommen, scheiterten aber immer wieder an der Parallelexistenz unterschiedlichster Töpfe und Verpflichtungen, und der Verquickung von Parteigeldern und Privateinnahmen Adolf Hitlers.12 Nur Großspenden potenter Förderer und Zuwendungen in Devisen verhinderten den finanziellen Zusammenbruch, und die prekäre Finanzlage der NSDAP dauerte bis 1933 an. Bei der Wiedergründung der NSDAP im Frühjahr 1925 übernahm Hitler den zuverlässigen Kassier der Platzhalterorganisation „Großdeutsche Volksgemeinschaft“. Franz Xaver Schwarz, ein für diese Aufgabe in den Ruhestand getretener Beamter der Stadt München, bemühte sich redlich, eine Mitgliederverwaltung einzurichten und vor allem über Beiträge und Sammlungen die maroden Parteifinanzen zu sanieren.13 Schwarz war 1922 über die Münchner Einwohnerwehr und den „Deutschvölkischen Schutz-und Trutzbund“ zur NSDAP gestoßen, hatte in ihr aber zunächst keine wesentliche Rolle gespielt.14 Mit weit reichenden Vollmachten ausgestattet, reorganisierte Schwarz die Partei nach den klassischen Grundsätzen deutscher Verwaltung, mit Kartotheken, doppelter Buchführung und einem Korsett aus Vorschriften, mit denen er in die Autonomie der neu entstehenden Gaue und Ortsgruppen massiv eingriff. So sollten die Ortsgruppen und die Sturmabteilungen (SA) möglichst nicht nur ihre eigenen Finanzmittel auftreiben, sondern Mitgliedsbeiträge teilweise vollständig in München abliefern.15 Aus dem Widerstand gegen die Zentralisierung entstand ein System „schwarzer Kassen“ und seit 1933 steuerbegünstigter Stiftungen, das Schwarz mit Hilfe einer eigenen Revisionsabteilung bekämpfte. Mit dem Erreichen der 100.000 Mitgliedergrenze und dem bescheidenen Erfolg bei den Reichstagswahlen 1928 konsolidierte sich die Kassenlage allmählich.16 Die Erfolge machten die NSDAP für zahlreiche große Spender aus Handel und Industrie attraktiv, wobei ein Teil der Gelder nicht direkt in die Kasse des Reichsschatzmeisters floss. Die Ortsgruppen 11 12 13 14 15 16

Vgl. Paul Bruppacher, Adolf Hitler und die Geschichte der NSDAP. Teil 1: 1889 bis 1937, Norderstedt 2009, S. 63 f. Albrecht Tyrell (Hg.), Führer befiehl…Selbstzeugnisse aus der „Kampfzeit“ der NSDAP. Dokumentation und Analyse, Düsseldorf 1969. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 19 ff. Vgl. Beckers, Schwarz; Staatsarchiv München, SPK, K 1731, Spruchkammerakte Franz Xaver Schwarz. Vgl. Tyrrell, Führer befiehl (wie Fn. 12), S.130 ff., 168–172, 178, 181, 222, 230 ff. Seventh Army Interrogation Center, Office of the Nazi Party Treasurer. Final Interrogation Report, 25.6.1945, U. S. National Archives and Records Administration, Washington D. C. (NARA), NND, Nr. 760050; Reichsschatzmeister, S. 53–86 (wie Fn. 3).

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und die SA wurden deshalb stärker von München aus kontrolliert, die Schatzmeister der Gaue und Ortsgruppen zur primären Loyalität zum Reichsschatzmeisteramt verpflichtet. Der Kleinkrieg zwischen den regionalen Parteiführern, ihren Finanzsachverständigen und der Münchner Zentrale um Dispositionfonds, Gehälter und Verfügungsmacht hielt bis in die Kriegsjahre an.17 Der Dauerwahlkampf seit Herbst 1930 und die Neukonzeption der Münchner Parteizentrale (Kauf und Umbau des „Braunen Hauses“) stellten in der letzten Phase vor der sogenannten Machtergreifung besondere Anforderungen an die Finanzierungskünste des Reichsschatzmeisters. Gleichzeitig sorgte die Weltwirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit für eine ansteigende Kriminalität unter den Funktionsträgern der NSDAP, schien der Griff in die Parteikasse doch manchmal als letzter Ausweg. Dank stetig steigender Mitgliederzahlen, Wahlerfolgen und finanziellen Zuwendungen Dritter, vor allem aus der Großindustrie, konnte Schwarz die Zahlungsunfähigkeit immer im letzten Moment abwenden. Hitler hatte ihm im September 1931 im Vertrauen auf seine absolute Loyalität eine Generalvollmacht für alle vermögensrechtlichen Angelegenheiten der Partei erteilt.18 Hitler konnte auch in späteren Jahren seinen Reichsschatzmeister für seine besonderen Verdienste nie genug loben: „Die Führung des Kampfes um die Macht war für die nationalsozialistische Bewegung nur möglich dank Ihrer glänzenden Organisation. Die Grundlagen dieser Organisation verwaltungsmässig und finanziell hergestellt zu haben, war Ihr Verdienst, mein lieber Parteigenosse Schwarz. Sie haben in den langen Jahren unseres Ringens dank Ihrer aufopferungsvollen Arbeit der Bewegung aus Eigenem die Mittel gesichert, die sie zur Durchführung ihres Kampfes so dringend benötigte.“19

Das „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 29. März 1935 zementierte den starken Status des Reichsschatzmeisters: Es legte fest, dass die Partei auch vermögensrechtlich eine Einheit bildete, Schwarz also für die Partei und ihre Gliederungen die Finanzaufsicht ausübte.20 3. STRUKTUR UND AUFGABEN 1933–1945 Die politische Entwicklung nach dem 30. Januar 1933 erzwang eine schnelle und umfassende Umstrukturierung der bisherigen Verwaltungsabläufe. Zunächst führte der Ansturm auf das Mitgliedsbuch zu einer Aufnahmesperre und Entstehung eines eigenen Amtes für das Mitgliedschaftswesen.21 Die Personalführung und -besol17 18 19 20 21

Vgl. Tyrrell, Führer befiehl (wie Fn. 12), S. 222; Reibel, Fundament (wie Fn. 3), insbesondere S. 48 f., 116–123, 230 ff., 237 ff., 255 ff., 263–270. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 25. Hitler an Schwarz, 30. Dez.1933, BArch, NS 1, Nr. 677. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 25 f. Vgl. ausführlich den Sammelband von Benz sowie die informative Homepage des Bundesarchives, „PG – Zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP“: https://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00757/index-0.html.de, (21.9.2016).

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dung erstreckte sich auf einen ständig anwachsenden Kreis haupt- und nebenamtlicher „Führer“. Dies, die Zerschlagung der Organisationen des politischen Gegners und die Einverleibung ihres Besitzes bildeten besondere Herausforderungen für die Revisoren, die sich in einem nicht ungefährlichen Gestrüpp von institutionellem Wildwuchs, individueller Bereicherung und systemimmanentem Dauerkonkurrenzkampf einzelner Parteigliederungen und -führer bewegen mussten. Nach einem mehrjährigen Umstrukturierungsprozess mit massiver Personalaufstockung nahm das Reichsschatzmeisteramt bis zu einer weiteren kriegsbedingten Umstrukturierung von 1937 bis 1943 die folgende Gestalt an: Bis zu neun, immer wieder umstrukturierte Hauptämter fungierten als Verwaltungs-, Kontroll- und Verteilungsinstanzen. Sie wurden ergänzt durch ein nahezu undurchschaubares System von Sonderbeauftragten und angeschlossenen Dienststellen.22 Hauptamt I (Stabsamt, später Reichsfinanzverwaltung unter Stabsleiter Hans Saupert, später mit Herauslösung der Stabsstelle und der Reichszeugmeisterei geleitet von Paul Wachlin) war verantwortlich für die Kassenführung und Buchhaltung sowie das Amt für Lotteriewesen. Letzteres unter der Leitung von Wilhelm Behret schöpfte nicht nur breit Kapital aus der Bevölkerung ab, sondern diente auch der Volksgemeinschaftspropaganda. Durch die politische Zielsetzung der Lotterien – etwa zugunsten der Arbeitslosen (Reichslotterie für Arbeitsbeschaffung) oder des Winterhilfswerkes (Reichs-Winterhilfswerk-Lotterie) – und die Ausschüttungspolitik – zahlreiche Klein- und Kleinstgewinne anstelle neuer Millionäre – sollte der ganzen Bevölkerung das Gefühl geben, im neuen Staat zu den Gewinnern zu gehören.23 Die vom Hauptamt verwalteten Gelder waren sowohl von der Partei selbst eingespielt worden (z. B. durch Mitgliedsbeiträge)24 wie seit dem Haushaltsjahr 1938 erfolgte Zuwendungen aus dem Reichshaushalt für die Übernahme von staatlichen Hoheitsaufgaben (Wehrertüchtigungslager der Hitlerjugend, Volkssturm, Luftschutz, Kinderlandverschickung etc.).25 Das Hauptamt II – Reichshaushaltsamt – unter Willy Damson führte die Haushalte der Gliederungen, Hauptamt III unter Hans Schieder bildete das Zentralpersonalamt. Hauptamt IV, das (Reichs-)Verwaltungsamt unter Dr. Paul Ruoff, organisierte den administrativen Ablauf des Reichsschatzmeisteramtes und seiner Liegenschaften in München, setzte seit 1938 die Regularien des Vierjahresplans um, aber küm-

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Angaben nach: Lükemann, Reichschatzmeister (wie Fn. 3), S. 27 ff.; BArch, NS 1, Nr. 1127; Seventh Army Interrogation Center, Office of the Nazi Party Treasurer. Final Interrogation Report, 25.6.1945, NARA, NND, Nr. 760050. Auf die Binnen-Umstrukturierungen zwischen 1934 und 1943 kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Die Darstellung wurde deswegen auch stark vereinfacht. Vgl. Sabine Schönbein, Millionenspiel mit Tradition. Geschichte der Klassenlotterie, o. O. 2008; Staatsarchiv München, SPK K 118, Spruchkammerakte Wilhelm Behret. Vgl. auch Fn. 43. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 163–174; Eidesstattliche Erklärung Paul Schmidt-Schwarzenberg, 19.5.1949, Staatsarchiv München, SPK, K 1401, Spruchkammerakte Fritz Reinhardt.

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merte sich auch um die Sammlung von Material zur Geschichte der NSDAP („Sammlung Rehse“). Hauptabteilung V unter Dr. Anton Lingg war in seiner Struktur schon fast ein kleines Reichsschatzmeisteramt für sich. Zu den wichtigsten Obliegenheiten seiner Hauptabteilung zählte die Führung des Amtes für Mitgliedschaftswesen. Das Amt regelte zusammen mit dem Obersten Parteigericht die Aufnahme neuer Parteigenossinnen und Parteigenossen oder den Ausschluss, vergab Ehrenzeichen wie den „Blutorden“ (für Teilnehmer des gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsches 1923) sowie das „Goldene Parteiabzeichen“, und leistete in Kooperation mit dem Hauptamt VII finanzielle Unterstützung für bedürftige „Vorkämpfer der Bewegung“. Es griff damit in das Leben von Millionen Partei- und Volksgenossen nachhaltig ein und definierte über Inklusion und Exklusion, Belohnung und Herausstellung den Status des Individuums in der „Volksgemeinschaft“. Zu Linggs Aufgaben gehörten außerdem der Bereich der Versicherungen (zeitweise) und die Verwaltung der Liegenschaften der Partei einschließlich der Leitung aller Baumaßnahmen in ihnen. Die Liegenschaftsverwaltung zählte im „Dritten Reich“ zu den größten Investoren in der öffentlichen Bauwirtschaft, vor allem als die private Bauwirtschaft durch die Kriegsengpässe zurückgefahren werden musste. Hier muss außerdem angemerkt werden, dass die Partei spätestens in den ersten Kriegsjahren mit der Übernahme oder Verwaltung enteigneten Besitzes von „Reichsfeinden“ der vermutlich größte Grundstückseigner in Europa wurde. Unter dem Dach der Hauptabteilung V war auch der Sonderbeauftragte des Reichsschatzmeisters für den Grundstückserwerb angesiedelt, der wegen seines harten Vorgehens gegen unwillige Verkäufer berüchtigte Reichsamtsleiter Gotthard Färber. Färber war unter anderem für den Erwerb der großen Liegenschaften am Obersalzberg, in Berchtesgaden (Hotel Berchtesgadener Hof), in Nürnberg (u. a. Hotel Deutscher Hof), in Bad Tölz (SS-Junkerkaserne), Grünwald (Park-Schlösschen) und in Pullach (Reichssiedlung Rudolf Heß / Führerhauptquartier Siegfried) für Hitler, Martin Bormann und Franz Xaver Schwarz verantwortlich, möglicherweise aber auch noch in anderen Teilen des Reiches und für andere NS-Größen.26 Nicht minder wichtig war Hauptamt VI, das Reichsrevisions- und Rechnungsamt, so etwas wie ein machtpolitisches Herz des Amtes. Es wurde zunächst von Evarist Straehler, später von Herbert Hänssgen geleitet.27 Es koordinierte das Heer der 50 bis 80 hauptamtlichen Revisoren, die turnusmässig und auf Sonderantrag die Finanzen der Parteidienststellen und der Gliederungen prüften.28 Schwarz nutzte sie ganz gezielt als Instrument der Machtausübung, Kontrolle und Disziplinierung. Seine Revisoren verfügten je nach Ort und Zeit über erhebliche Vollmachten und waren Ohr 26 27 28

Susanne Meinl / Bodo Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin 2014, S. 21, 23–28; Staatsarchiv Landshut, Spruchkammer Vilshofen Nr. 405, Spruchkammerakte Gotthard Färber. Straehler musste wegen „jüdischer Versippung“ das Reichsschatzmeisteramt verlassen, vgl. Staatsarchiv München, SPK, K 1799, Spruchkammerakte Evarist Straehler. Denkschrift Herbert Hänssgen / Hermann Ried, 27.6.1947, Staatsarchiv München, SPK, K 598, Spruchkammerakte Herbert Hänssgen.

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und Mund des fernen Reichsschatzmeisters. Blieben sie unbestechlich und deckten Unterschlagungen auf, winkten Belobigungen oder Gratifikationen aus der Parteikasse.29 Derartige Motivationszulagen waren auch bitter nötig: Zwischen dem Kontrollwahn des cholerischen Reichsschatzmeisters und den Partikularinteressen der Gauleitungen eingepresst, erlitten nicht wenige Revisoren einen Burnout, gingen früh in Pension oder wechselten von der Peripherie in die Münchner Zentrale.30 Das Hauptamt VII unter Friedrich Geisselbrecht ging aus der von Martin Bormann bis 1933 geleiteten SA-Hilfskasse hervor. Es war als Sozialamt zuständig für das Heer der in Not geratenen oder um Unterstützung nachsuchenden Parteigenossinnen und Parteigenossen. Die gewährten Darlehen und „Ehrenunterstützungen“ dienten ganz bewusst zur bescheidenen Alimentierung und Befriedung derjenigen Altparteigenossen, die beim Verteilen der Posten und Pöstchen seit der „Machtergreifung“ nicht zum Zuge gekommen waren. Die von Wilhelm Helfer geleitete Hauptabteilung VIII war die „Reichszeugmeisterei“ der NSDAP. Sie ging auf die von Ernst Röhm 1921 ins Leben gerufene Feldzeugmeisterei zurück. Seit 1930, als die Ausstattung von Partei und ihrer Gliederungen mit Uniformen und Ausrüstung auch von wirtschaftlichem, nicht nur erscheinungsbildlichem Interesse war, gingen die inhomogenen Ausrüstungsorganisationen und SA-Wirtschaftsstellen in die Befehlsgewalt des Reichsschatzmeisters über. Hitler ordnete im Mai 1934 die Zentralisierung des gesamten Beschaffungswesens an: Alle Beschaffungsvorhaben der Partei mussten über die Reichszeugmeisterei abgewickelt werden, vom HJ-Fahrtenmesser über Uniformen bis hin zu Rangabzeichen oder Pistolenfutteralen. Die Ausrüstungsgegenstände stellte die Reichszeugmeisterei nicht in Eigenregie her, sondern vergab kostenpflichtige Lizenzen und Berechtigungsscheine für Herstellung und Vertrieb an ausgewählte Firmen, vor allem mittlere und kleinere Industrieunternehmen und Handwerksbetriebe. Laut Angaben der Reichszeugmeisterei hatten bis Mitte 1934 reichsweit 15.000 Fabrik- und Handwerksbetriebe, 1.500 Straßenhändler, 75.000 Schneidermeister und 15.000 Verkaufsstellen einen solchen Berechtigungsschein erhalten. Diese Vergabepraxis war angesichts der zunehmenden Uniformisierung der Gesellschaft ein gutes Geschäft: Für 1935 spülten alleine die Lizenzgebühren eine halbe Million Reichsmark in die Parteikasse, bis 1935 lag der Gesamt-Umsatz bereits bei fast 10 Millionen Reichsmark. Die Auftragsvergaben wurden nach 1933 als Belohnungen gewährt und waren an Akzeptanz für das Regime gekoppelt.31

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Ebenda. Auswertung der Partei- und Spruchkammerakten von: Wilhelm Behret, Paul Bertelmann,Willy Damson, Friedrich Geisselbrecht, Georg Gradl, Albert Groll, Hermann Haag, Herbert Hänssgen, Wilhelm Helfer, Dr. Ludwig Hopfensberger, Werner Kalz, Christian Kiessling, Dr. Anton Lingg, Albert Miller, Hermann Ried, Wilhelm Roeder, Dr. Paul Ruoff, Hans Saupert, Hans Schieder, Erich Schuldt, Franz Xaver Schwarz, Leo Seus, Evarist Straehler, Dr. Leo Voggesser, Paul Wachlin, Willy Wimmer. Vgl. Norbert Götz / Peter Weidlich, Reichszeugmeisterei, in: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 22. Oktober 1993 bis 27.

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Das für Versicherungswesen zuständige IX Hauptamt wurde nach 1937 aus dem Hauptamt V herausgelöst und sorgte sich um Absicherung des Personals, der Liegenschaften und des Fuhrparks. Organisatorisch ergibt sich das folgende, vereinfachte Bild: Dem Reichsschatzmeister als Chef der Vermögensverwaltung der NSDAP unterstanden in vermögensrechtlicher, also nicht organisatorischer und politischer Hinsicht folgende Verwaltungsdienststellen: a) auf der Reichsebene unmittelbar: der Verwaltungschef der SA, des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) und der HJ (unmittelbar), der Verwaltungsleiter des NS-Studentenbundes und des NS-Dozentenbundes und der NSFrauenschaft (unmittelbar), der Verwaltungsleiter der Reichsorganisationsleitung, der Reichspropagandaleitung, der Reichsdienststellen Rosenberg, des Reichsautozuges Deutschland, des Hilfszuges Bayern b) auf der Gauebene: die Gauschatzmeister der Partei (unmittelbar), die Gruppengeldverwalter der SA, des NSKK (mittelbar), die Gebietsgeldverwalter der HJ (mittelbar), die Gaukassenverwalter der NS-Frauenschaft (mittelbar), die Gaukassenleiter des NS-Studentenbundes, d. NS-Dozentenbundes (mittelbar) c) auf der Kreisebene: die Kreiskassenleiter der Partei (mittelbar), die Standartengeldverwalter der SA, des NS-KK (mittelbar), die Banngeldverwalter der HJ (mittelbar), die Kreiskassenverwalterinnen der Frauenschaft (mittelbar) d) auf der Ortsgruppenebene: die Ortsgruppenkassenleiter der Partei (mittelbar), die Sturmgeldverwalter der SA (mittelbar), die Ortsgruppenkassenleiterinnen der Frauenschaft (mittelbar). Ein Prüfrecht besaß das Amt des Reichsschatzmeisters u. a. bei: 1. der Reichsorganisations- und Reichspropagandaleitung 2. den NS-Eliteschulen für die männlichen Heranwachsenden (Adolf HitlerSchulen, Reichsschule der NSDAP Feldafing) 3. dem Reichslager für Beamte Bad Tölz 4. Reichsdienststellen wie der „Kanzlei des Führers“ und den Dienststellen von Alfred Rosenberg inklusive der „Hohen Schulen“ 5. den Sondereinrichtungen der Reichsleitung im Bereich von Rundfunk und Filmproduktion 6. Wirtschaftsbetrieben der Reichsleitung 7. dem Obersten Partei-Gericht 8. der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt 9. dem Winterhilfswerk 10. der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung (ab Anfang 1944) Neben den bereits genannten Gauleitungen, Kreisen und Ortsgruppen waren auch die Auslandsorganisation der NSDAP und die Arbeitsbereiche der NSDAP in den

März 1994, München 1993, S. 283–286; Staatsarchiv München, SPK, K 671, Spruchkammerakte Wilhelm Helfer.

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besetzten Ostgebieten und den Niederlanden in vermögensrechtlicher Hinsicht dem Reichsschatzmeister unterstellt.32 Die SS bildete einen komplizierten Sonderfall. Obwohl der Reichsschatzmeister die Allgemeine SS alimentierte und einzelne Grundstücke in den Konzentrationslagern bzw. SS-Junkerschulen pro forma Parteivermögen waren, kapselte sich die SS-Führung durch die starke Machtposition von Heinrich Himmler weitgehend ab.33 Die Wirtschaftsunternehmen der SS, verschränkt mit dem Konzentrationslager-System, hatten de facto ihre eigene Gerichtsbarkeit und Revision. Himmler versüßte Schwarz und seinem Amt diese Verselbständigung mit hohen SS-Ehrenrängen und versuchte gleichzeitig, leitende Mitarbeiter durch ihre Zugehörigkeit in der SS aus ihrer Loyalität zum Reichsschatzmeisteramt herauszulösen.34 4. PERSONAL UND MITARBEITER Nach bescheidenen Anfängen arbeiteten 1934 bereits 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Büros des Reichschatzmeisteramtes.35 1939 waren es nach einer Statistik über 2.000, im übrigen fast so viele Frauen wie Männer (1.187 Männer, 1.037 Frauen). Die Frauen waren schwerpunktmäßig im Reichsrechnungsamt, im Vierjahresplan-Referat, der Reichskassenverwaltung, der Hausinspektion und in der Reichszeugmeisterei eingesetzt. Sie waren allerdings bis auf eine Ärztin nur in untergeordneten Posten als Stenotypistinnen oder bestenfalls als Kontoristinnen beschäftigt. Einlauf- und Auslaufstelle,36 Postwesen und die technischen Dienste waren bis auf das Fernmeldewesen rein männliche Domänen.37 Die ursprüngliche Führungsriege der im Zuge der Expansion erweiterten Verwaltung der frühen 1930er Jahre wurde teilweise ausgetauscht, teilweise warb die Privatwirtschaft die in den Weltwirtschaftsjahren in die Parteiverwaltung eingestiegenen Volkswirte, Banker, Juristen und Buchhalter mit höheren Löhnen und besseren Aufstiegschancen ab.38 Die Hauptabteilungsleiter waren zwar alle mehr oder minder langjährige Parteigenossen, entscheidend für eine Aufnahme in das Amt des Reichsschatzmeisters war jedoch die langjährige Berufserfahrung. Wer blieb, tat 32 33

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Angaben nach: Lingg, Verwaltung (wie Fn. 3); Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3); BArch, NS 1, insbesondere Nummern 153, 809, 810, 1127. Die Alimentierung der Konzentrationslager-SS und der Waffen-SS erging dagegen vom Reichsminister des Innern, vgl. Eidesstattliche Erklärung Paul Schmidt-Schwarzenberg, 19.5.1949, Staatsarchiv München, SPK, K 1401, Spruchkammerakte Fritz Reinhardt sowie Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 134–140, und Vernehmung Franz Xaver Schwarz durch Georg N. Shuster und Oron J. Hale, „Ashcan“, 21.7.1945, Institut für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum Franz Xaver Schwarz, ZS 1452. Albert Miller, Der Finanzmann (Beitrag Miller zur geplanten Festschrift zu Schwarz 70. Geburtstag 1945), BArch, NS 1, Nr. 153. Vgl. Orlow, Nazi Party (wie Fn. 3), S. 255. Die Ein- und Auslaufstellen kartierten die Postvorgänge. Diversen Statistiken in BArch, Parteikorrespondenz Werner Kalz. Eigene Auswertung Parteikorrespondenz und Spruchkammerakten leitender Mitarbeiter des Reichsschatzmeisteramtes.

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dies aus nationalsozialistischer Überzeugung oder schätzte nach Jahren der Krise den sicheren Arbeitsplatz. Im Bereich der subalternen Funktionen diente die Parteiadministration jedoch auch als Versorgungsinstitution eines Teils der auf dem Arbeitsmarkt nur schwer vermittelbaren „Alten Kämpfer“ der NSDAP. Sie wurden nun als Pförtner und Boten oder im Falle der Frauen als Putzkräfte beschäftigt wie beispielsweise Hitlers Lieblingsbäckerin Therese Deutschenbauer nach dem Konkurs ihres Geschäftes in den Jahren der Weltwirtschaftskrise.39 Die Hauptämter mit ihren mehr als 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren bis Kriegsende in zahlreichen Gebäuden rund um das „Braune Haus“ und den Königsplatz in München untergebracht. 1937 erhielt der Reichsschatzmeister gegenüber des sogenannten „Führerbaus“ mit dem „Verwaltungsbau“ einen repräsentativen Dienstsitz.40 Bis in das letzte Kriegsjahr gehörten Empfänge beim Reichsschatzmeister zum Besuchsprogramm für inländische und auswärtige Staatsgäste in der „Hauptstadt der Bewegung“.41 Millionen an Karteikarten und Mitgliedsakten zeigten den Besuchern die Verwurzelung des neuen Staates in der Bevölkerung. 5. DAS PARTEIVERMÖGEN UND SEINE DISTRIBUTION Bis heute liegen keine definitiven Zahlen über die genaue Höhe des Parteivermögens der NSDAP vor. Schwarz sprach bei seinen Vernehmungen im Sommer 1945 von einer Milliarde Reichsmark zu Kriegsende, von der jedoch ein Teil in Staatsanleihen gezeichnet worden war.42 Bekannt sind die einzelnen Komponenten und Quellen. Das flüssige Vermögen der NSDAP als Partei speiste sich nach Angaben von Schwarz und seinen leitenden Mitarbeitern aus: • • • • • •

39 40 41 42

nach Einkommen gestaffelten Mitgliedsbeiträgen (von 1 RM bis 8 RM als Höchstsatz). Sie erbrachten durchschnittlich monatlich 12 bis 15 Millionen RM. Aufnahmegebühren Verkauf der Parteimitgliedsbücher Erlös durch Verkauf von parteiamtlichem Schriftgut und Propagandamaterial Erlöse der Reichszeugmeisterei, Lotterie u. a. Sammlungen Zuwendungen Dritter beispielsweise durch Legate (Geld, Immobilien, Kunstgegenstände)

BArch, PKK Therese Deutschenbauer, Fragebogen für die „Ersten Mitglieder der NSDAP/ DAP“ 1933. Vgl. Ulrike Grammbitter / Iris Lauterbach, Das Parteizentrum der NSDAP in München, München 2009. Besuchsprogramme und Fotos in: BArch, NS 1, Nr. 282, 415. Special Detention Center „Ashcan“, Detailed Interrogation Report Franz Xaver Schwarz, 25.7.1945, NARA, NND, Nr. 760050.

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• •

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Einnahmen der Partei-eigenen Hotels43 jährliche Zuwendungen („Rückerstattungen“) auf Weisung Hitlers aus dem Reichshaushalt für die Übernahme von staatlichen Hoheitsaufgaben. Sie beliefen sich im Haushaltsjahr 1937 auf ca.100 Millionen Reichsmark und stiegen bis 1942 auf über 436 Millionen an. 1943 und 1944 steigerten sie sich noch einmal auf geschätzt 450 Millionen Reichsmark durch die Aktivitäten der Partei und ihrer Gliederungen bei der Kriegsführung bzw. der Bekämpfung des Bombenkrieges (Kinderlandverschickung, Evakuierungen, Luftschutz- und Feuerlöschwesen) und Aufstellung des Volkssturmes.44 Im Vergleich zu den nicht gedeckten Ausgaben im Reichshaushalt machten die Zuwendungen an die NSDAP jedoch einen vergleichsweise geringen Anteil aus.45

Nach einem Bericht des Oberbefehlsleiters46 Albert Miller von Ende 1944/Anfang 1945 belief sich der Umsatz bei der Reichsfinanzverwaltung der NSDAP (dem ehemaligen Hauptamt I) im Jahr 1933 auf rund 207 Millionen Reichsmark, im Jahr 1939 auf 986 Millionen Reichsmark und im Jahr 1943 auf knapp über 9 Milliarden Reichsmark.47 Das flüssige Vermögen war auf verschiedene Banken verteilt. Beweggrund hierfür waren nicht nur eine flexiblere Transaktion, Schwarz fürchtete auch Einflussnahmen konkurrierender Parteiführer wie seines Intimfeindes Robert Ley bei der „Bank der Deutschen Arbeit“.48 Außerdem konnten so keine Banken übermächtig und einzelne Banken gegeneinander ausgespielt werden. Der Zahlungsverkehr lief über überregionale Banken wie die Reichsbank, die Deutsche Bank, die Bank der Deutschen Arbeit, die Dresdner Bank und die Postscheckämter. Durch den Sitz in München kam aber auch den bayerischen Banken eine wichtige Rolle zu: Außer der Bayerischen Staatsbank waren es die Bayerische Vereinsbank und die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank.49

43 44 45

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Seventh Army Interrogation Center, Office of the Nazi Party Treasurer. Final Interrogation Report, 25.6.1945, NARA, NND, Nr. 760050. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 163–174; Eidesstattliche Erklärung Paul Schmidt-Schwarzenberg, 19.5.1949, Staatsarchiv München, SPK, K 1401, Spruchkammerakte Fritz Reinhardt. Zwischen dem Haushaltsjahr 1938/39 und dem letzten Haushaltsjahr 1944/45 lagen die Ausgaben bei knapp 32 Milliarden im letzten Friedensjahr und 171 Milliarden im letzten Kriegsjahr. Der Anteil der Kriegskosten stieg von 50 % auf weit über 74 %. Zahlen nach: Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944, herausgegeben vom Länderrat des US-amerikanischen Besatzungsgebietes, München 1949, http://www.digitalis.uni-koeln.de/Waehrung/waehrung398–406.pdf (21.9.2016). In der Verwaltung der NSDAP kam dem Leiter eines Hauptamtes der Rang Oberbefehlsleiter oder Befehlsleiter zu, je nach Zeit und Organisation. Ihm vorgesetzt war nur die Funktion des Reichsleiters. Miller, Der Finanzmann, BArch, NS 1, Nr. 153. Vgl. Lükemann, Reichsschatzmeister (wie Fn. 3), S. 106–132; Erklärung Hans Schieder, 24.6.1948, Staatsarchiv München, SPK, K 2012, Spruchkammerakte Hans Saupert. Seventh Army Interrogation Center, Office of the Nazi Party Treasurer. Final Interrogation Report, 25.6.1945, NARA, NND, Nr. 760050.

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6. DEM „FÜHRER ENTGEGEN ARBEITEN“ – DER REICHSSCHATZMEISTER UND DAS VERHÄLTNIS ZU ADOLF HITLER Hitlers Verhältnis zu Schwarz, den er als loyalen und weitgehend autonomen agierenden Autokraten schätzte, lässt sich aus einigen Bemerkungen der so genannten „Monologe“ und „Tischgespräche“ rekonstruieren. Für ihn war der Reichsschatzmeister der geniale Organisator, dessen strukturell ordnende Hand eine der Grundlagen für den Sieg der NSDAP über die anderen Parteien bildete. Sein einziger Fehler: Er sei kein Jurist, sondern ein Praktiker.50 Loyalität und Dankbarkeit waren auch der Grund dafür, dass Hitler Schwarz trotz dessen altersbedingter Ausfallerscheinungen, ungeschickter Personalpolitik und Erosion des Führungskaders bis zum Schluss in seiner Position hielt.51 Die Dankbarkeit resultierte nicht nur aus den Verdiensten der Vergangenheit. Partei-Richter Walter Buch bezeichnete Schwarz einmal als „Hitlers Schäferhund“.52 Dieser Vergleich ist richtig und falsch zugleich, denn der Reichsschatzmeister war nicht nur der Hütehund der proklamierten Volksgemeinschaft, sondern konnte durchaus Züge einer beißenden Bulldogge annehmen – so Hitler sie von der Leine ließ. Insbesondere Schwarz’ Revisoren waren eine ständige Bedrohung für die finanzielle Autonomie und individuellen Bereicherungsaktivitäten der Parteigrößen. Letztere wurden in den Aktenschränken in München dokumentiert, wenngleich nur punktuell in Verfahren vor öffentlichen Gerichten oder dem Parteigericht zur Anklage gebracht. Wie insbesondere Stabsleiter Hans Saupert und der Leiter der Revisionsabteilung, Herbert Hänssgen, in ihrer Spruchkammerverhandlung deutlich machten, offenbarten sich hier Schein und Sein des Nationalsozialismus, denn Hitler ließ seinen Schatzmeister nur dann von der Leine, wenn ihm dies politisch nützlich erschien, und ließ ihn ansonsten diskret Unterschlagungen und Misswirtschaft mit hohen Zahlungen aus der Parteikasse auffangen.53 Wichtig auch für den „Privatmann“ und „Kunstmäzen“ Hitler war zum einen, dass ihm der Reichsschatzmeister jederzeit und in fast beliebiger Höhe Mittel zur Verfügung stellen konnte, besonders im Bereich des Immobilienerwerbs und der Bautätigkeit für Projekte wie den „Sonderauftrag Linz“.54 Auch im Bereich der breiten Kulturförderung wurden immer wieder Gelder aus der Parteikasse zur Ali-

50 51 52 53 54

Vgl. Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Werner Jochmann (Hg.), Hamburg 1982, insbesondere S. 291 f. Angeblich soll zu Anfang der 1940er Jahre kurzzeitig der Stabsleiter von Rudolf Heß, Martin Bormann, für Schwarz’ Nachfolge im Gespräch gewesen sein, vgl. Volker Koop, Martin Bormann. Hitlers Vollstrecker, Wien/Köln 2012, S. 55. Albert Krebs, Tendenzen und Gestalten der NSDAP. Erinnerungen an die Frühzeit der Partei, Stuttgart 1959, S. 199. Ausführlich: Staatsarchiv München, SPK, K 598 und 2012. Vgl. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 245 f.

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mentation favorisierter Künstler und Institutionen bereitgestellt wie beispielsweise für das von Hitler hoch geschätzte Gärtnerplatz-Theater in München.55 7. NACH 1945: EIN AMT WIRD ENTNAZIFIZIERT Als die West-Alliierten im Herbst 1944 auf die Grenzen des Deutschen Reiches zumarschierten, hatte die Civilian Affairs Division des US-War Departments bereits genaue Vorstellungen, was mit dem Vermögen der NSDAP in ihrer Besatzungszone passieren sollte.56 Schwarz galt als eine der Schlüsselfiguren für die Zerschlagung des NS-Regimes durch Zerstörung seiner finanziellen Basis. Über die Höhe der vorhandenen Gelder war man ansatzweise orientiert, wenn auch nicht über den Verbleib im Einzelnen. „The keeper of the Party treasure“, von dem Geheimdienst und War Department zunächst diskutierten „if he played no role in the Party activities“57, wurde als „outstanding nazi bureaucrat“ daher als einer der Top Ten der NS-Elite gesucht. Er fiel der 7. US-Armee am 16. Mai 1945 in der Nähe von München in die Hände,58 zusammen mit seinem Sohn Franz, einem Brigadeführer aus dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt.59 In seinen Vernehmungen vor dem IMT in Nürnberg und indirekt in dem Spruchkammerverfahren trat Schwarz als unpolitischer Fachbeamter und unbestechliches Gewissen der Partei auf. Die „Eidesstattlichen Erklärungen“ seiner engeren Mitarbeiter ließen jedoch die Konfliktzonen innerhalb des Amtes erkennen: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Vorgehen gegen die Korruption, das Kompetenzgerangel und der Profilierungswettstreit innerhalb des Amtes, unterschiedliche Konzeptionen in der Verwaltung und Amortisierung der Parteigelder, und nicht zuletzt die vieles überschattenden Machtkämpfe mit anderen Parteigrößen, die etliche seiner Mitarbeiter zerschlissen. Bei seinen Vernehmungen taktierte Schwarz geschickt: Er gab den persönlich „anständigen“ und „idealistischen“ Überzeugungstäter und übernahm die volle Verantwortung für sein Amt und seine Angestellten. Er vermittelte den Amerikanern nicht nur listig und letztlich erfolgreich die Trennung von Politik und apolitischer, reiner Verwaltung, sondern auch, dass sein Amt sich gegen Korruption und Willkür 55

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Vgl. die Spruchkammerakte des Intendanten des Gärtnerplatz-Theaters, Fritz Fischer, Staatsarchiv München, SPK, K 417. Die „Dotationen“ verdienter Politiker und Militärs kamen ebenfalls teilweise aus der Parteikasse, wenngleich in geringerem Maße, vgl. Gerd R. Ueberschär / Winfried Vogel, Dienen und Verdienen, Hitlers Geschenke an seine Eliten, Frankfurt am Main 2001, insbesondere S. 124 f. Foreign Economic Administration/Liberated Areas, Civil Affairs Guide, Property of the Nazi Party, its Affiliates, Members and Supporters in Germany, NARA, RG 153, Entry 135, Box 2. Office of Strategic Services, Dossier Franz Xaver Schwarz, 7.4.1945, NARA, RG 153, Entry 144, Box 56. Detailed Interrogation Report Franz Xaver Schwarz, 25. Juli 1945, NARA, NND 760050. Parteikorrespondenz und SS-Personalakte Franz Schwarz, Axis History Forum, http://forum. axishistory.com/viewtopic.php?f=38&t=97868&hilit=%26quot%3BFranz+Schwarz%26quot %3B (20.9.2016).

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eingesetzt habe.60 Außerdem, und das war für die Amerikaner wohl das entscheidende Kriterium, signalisierte Schwarz Kooperationsbereitschaft bei der Rekonstruktion der Geldbewegungen.61 Der ehemalige Reichsschatzmeister entging damit wohl der Nürnberger Anklagebank. Ob es tatsächlich einen Deal gegeben hatte, oder sich Schwarz nur wegen seiner schlechten Gesundheit nicht beim Militärtribunal juristisch verantworten musste, ist nicht bekannt. Genauso wenig, ob die USAmerikaner Schwarz im Internierungslager Regensburg gezielt von den anderen Siegermächten abschirmten, um sich sein Wissen um die Gelder exklusiv zu sichern. Schwarz, der sich in seinem Spruchkammerverfahren selbst noch als „Hauptschuldiger“ bezeichnet hatte, starb im Dezember 1947 vor dessen Abschluss.62 Die leitenden Mitarbeiter des Reichsschatzmeisteramtes, so sie den Krieg überlebt hatten oder von den Alliierten verhaftet worden waren, wurden in Vorbereitung des Nürnberger Militärtribunals in mehreren bayerischen Internierungslager für intensive Verhöre konzentriert und später von einer ausgewählten Münchner Spruchkammer zentral entnazifiziert. Wie interpretierte die Spruchkammer die Funktion des Reichsschatzmeisteramtes für den Aufstieg der NSDAP und die Mitverantwortung der leitenden Angestellten bei der Durchführung von Völkermord und Angriffskrieg? Die teilweise akzeptierten Entlastungsnarrative der angeklagten Funktionselite des Amtes changierten je nach Zeitphase und anklagender/untersuchender Instanz zwischen einer „normalen“ – d. h. apolitischen – Fachbürokratie und der Verkörperung eines „idealistischen“ Teils der NS-Bewegung. Der Ankläger in den Spruchkammerverfahren in München, 1. Staatsanwalt Julius Herf, verglich die Rolle von Schwarz und seiner Institution sogar mit der des Zensors in der altrömischen Gesellschaft, der eben nicht nur für die Verwaltung und Finanzen zu sorgen hatte, sondern auch für die Moral („Regimen morum“).63 Nach Analyse der ersten Spruchkammerverfahren scheinen die führenden Männer des Reichsschatzmeisteramtes zumindest in Bayern ausgesprochen erfolgreich die Erklärungs- und Entschuldungsbedürfnisse der ausgehenden Besatzungsphase für sich genutzt zu haben. Die Legende von der neutralen, die Auswüchse des NS-Staates bekämpfenden Fachbürokratie, mit der auch andere Bürokratien und Ämter in die Verwaltungsabläufe der Bundesrepublik zurückkehrten, ebnete den Parteifunktionären den Weg ins Berufsleben. Bis auf den Stabsleiter Hans Saupert und den Veteranen des Hitlerputsches Friedrich Geisselbrecht wurden fast alle Referenten, Abteilungsleiter, Revisoren und Sonderbeauftragten als Mitläufer eingestuft und in die Zivilgesellschaft entlassen.64 Wie die Integration des administrativen Kaders des 60 61 62 63 64

Franz Xaver Schwarz an den Alliierten Kontrollrat, 3.3.1947, Staatsarchiv München, SPK, K 1731, Spruchkammerakte Franz Xaver Schwarz. Detailed Interrogation Report Franz Xaver Schwarz, 25. Juli 1945, NARA, NND 760050. Meldebogen, 2.11.1946, Staatsarchiv München, SPK, K 1731, Spruchkammerakte Franz Xaver Schwarz Protokoll der öffentlichen Sitzung der Lagerspruchkammer Dachau, 22.6.1948, Staatsarchiv München, SPK, K 2012, Spruchkammerakte Hans Saupert. Ausgewertet wurden die Spruchkammerakten in den Staatsarchiven München und Landshut von: Gotthard Färber, Wilhelm Behret (StAM, SPK, K 115), Hermann Haag (StAM, SPK, K 587),

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Schatzmeisteramtes in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft schließlich funktionierte, ist eine der vielen offenen Fragen, die sich zur Struktur, den Machtbefugnissen und der konkreten Politik des Reichsschatzmeisteramtes bis heute ergeben. 8. HÜTER DER „VOLKSGEMEINSCHAFT“? EIN VORLÄUFIGES FAZIT Das Amt des Reichsschatzmeisters war eine der mächtigsten Institutionen des Dritten Reiches und ist bis heute so gut wie unerforscht. Daher dominiert nach wie vor die in sich widersprüchliche Selbstdarstellung der Akteure, die eine der wichtigsten Säulen des NS-Staates bei der Zerstörung der Demokratie und Vorbereitung von Völkermord und Angriffskrieg zum „Gewissen des Nationalsozialismus“ stilisierten und die Legende von der apolitischen Verwaltung tradierten. Kennzeichnend dafür ist die neueste Kurzbiografie von Schwarz, wobei die Beschreibung der Person letztlich auch für das Amt zuzutreffen scheint: „Er blieb aber im Grunde genommen der unpolitische, saubere, korrekte und tüchtige Beamte ohne politischen Weitblick. Er zeigte sich oft ein penibler Kleinbürger und stand dem unbürokratischen Durcheinander der meisten obersten Parteidienststellen fremd gegenüber. Oft hatte er Reibereien mit verschiedenen Parteigrößen; seine peinliche Korrektheit machte sich bei diesen nicht gerade beliebt.“65 Ein Blick in die neue Literatur zum NS-Staat und die zahllosen, wenngleich jetzt teilweise erst richtig zugänglichen Akten verrät, wie schief dieses Bild ist: Schwarz war von Anfang an ein machtpolitischer Akteur, sein Amt hatte genauso Intrigen und finanzielle Skandale wie andere NS-Gliederungen. Auch der vielgelobte und vertrauenerweckende Franz Xaver Schwarz trug in Anlehnung an Brecht durchaus auch Züge eines „Guten Menschen von Sezuan“. So deckte Schwarz 1932 in seinem Büro den lebensgefährlichen Übergriff eines korrupten SS-Führers auf den sogenannten „Träger der Blutfahne“ Heinrich Trambauer,66 beteiligte sich mit Parteirichter Walter Buch an einem Mordkomplott gegen Ernst Röhm,67 und setzte nach 1933 die scheidungsunwillige erste Ehefrau von Hermann Esser durch ein fabriziertes „Heimtückeverfahren“ so unter Druck, dass sie der Trennung von ihrem Ehemann zustimmen musste.68

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67 68

Herbert Hänssgen (StAM, SPK, K 598), Wilhelm Helfer (StAM, SPK, K 671), Anton Lingg (StAM, SPK, K 1060), Dr. Paul Ruoff (StAM, SPK, K), Hans Saupert (StAM, SPK, K 2012), Franz Xaver Schwarz (StAM, SPK, K 1731) sowie auszugsweise von Friedrich Geisselbrecht im Nordrhein-Westfälischen Landesarchiv (Detailinformation durch Wolf Stegemann a. d. Verf.). Beckers, Schwarz (wie Fn. 14). Vgl. Rainer Orth: „Von einem verantwortungslosen Kameraden zum geistigen Krüppel geschlagen.“ Der Fall des Hitler-Putschisten Heinrich Trambauer. In: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, 25 (2012), S. 208–236; Staatsarchiv München, SPK, K 1731, Spruchkammerakte Franz Xaver Schwarz. Ebenda und Rösch, Münchner NSDAP (wie Fn. 3), S. 384. Ausführlich: Staatsarchiv München, SPK, K 379, Spruchkammerakte Hermann Esser. Essers Tochter Eva aus der neuen, nicht ehelichen Beziehung war Patenkind von Eva Braun. Den Weg zur Trennung hatte ein neues Ehescheidungsgesetz geliefert.

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Noch schwerer wiegt der Vorwurf der Korruption: Schwarz ließ sich nicht nur von seinem späteren Reichsamtsleiter für die Parteiimmobilien Gotthard Färber beim Erwerb des teuren Palais Barlow schmieren,69 sondern angeblich auch von Baufirmen bei der Vergabe von Aufträgen für die Reichsautobahn. Da in diesen Skandal auch der oberbayerische Gauleiter Adolf Wagner verstrickt war, wurden die vom Sicherheitsdienst der SS, dem SD, angestellten Ermittlungen intern niedergeschlagen und der damit beauftragte Parteigenosse nach Berlin strafversetzt.70 Es war also das Glück des „Guten Menschen von München“, dass er frühzeitig starb und niemand einen tieferen Blick hinter die Kulissen der scheinbar unpolitischen Bürokratie warf, bis auf die kurze Zeit, in der in Nürnberg angeklagt und verhandelt wurde. Er und sein Amt waren sicher nicht das „Gewissen des Nationalsozialismus“, sondern willfähriges Instrument in der Hand des Parteiführers Adolf Hitler und Projektionsfläche für Millionen von Menschen, die man mit der Vision einer gerechten Volksgemeinschaft geködert hatte.

69 70

Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach, S. 26 (wie Fn. 26 ). Vernehmung Walter Kurreck durch das Bayerische Landeskriminalamt, 24.8.1964, Anlage zur Ermittlungssache gegen Kurreck wegen Mordes, Bundesarchiv Ludwigsburg, 1.12.1963, B 162, Nr. 965. Kurreck arbeitete nach 1945 für die Organisation Gehlen und den Bundesnachrichtendienst.

ZWISCHEN PARTEI UND STAAT Organisation und Funktionsweise der Faschistischen Partei Italiens* Loreto Di Nucci 1. EINLEITUNG Innerhalb der Massenparteien des 20. Jahrhunderts bildet der partito nazionale fascista (Nationalfaschistische Partei Italiens, PNF), ein Modell mit stark nationalistischen Zügen. Die Fasci italiani di combattimento (Italienische Kampfverbände) entstanden 1919 als Antipartei, d. h. als antiideologische situationsbedingte und freiheitliche Bewegung. Zum Zeitpunkt seiner Gründung 1921 konstituierte sich der PNF als bewaffnete Formation. In den Jahren zwischen 1922–25 war er „Regierungspartei“, wenngleich noch uneinheitlich und fragmentiert. Während seiner kurzen Zeit als Generalsekretär propagierte Roberto Farinacci das Modell einer Partei „jakobinischen“ Typs, einer Avantgarde, die die Regierungspolitik radikalisieren sollte. Eben deshalb zwang Mussolini ihn zum Rücktritt. Zwischen 1926 und 1931 beanspruchte die Partei unter Augusto Turati und später Giuriati eine „Volksinstitution“ (istituzione popolare) des faschistischen Staates zu sein. Unter dem Vorsitz von Starace, doch auch unter Ettore Muti, Adelchi Serena, Aldo Vidussoni und Enrico Scorza, strebte der PNF vor allem die Rekrutierung der größtmöglichen Zahl von Mitgliedern an, um sich als authentische „Partei der Nation“ mit einer neuen Identität zu legitimieren, dank derer Partei und Nation eine politische Einheit bilden sollten. 2. MILIZPARTEI, AUSERWÄHLTE MINDERHEIT ODER POPULÄRE INSTITUTION? Nachdem auf dem dritten Parteitag, der am 7. November 1921 in Rom eröffnet wurde, der PNF gegründet worden war, schrieb Mussolini, dass er keiner anderen existierenden Partei gleiche, da es sich hier um eine „Miliz“, d. h. eine militärische Organisation, handle. Das war gleichbedeutend mit der Behauptung, den Faschismus als eine „negative Kraft“ zu betrachten, die „den gewaltsamen Kampf gegen die gewaltsamen Formen des Kampfes antinationaler Parteien“1 weiterzuführen * 1

Übersetzung: Martina Radig, überarbeitet von Christian Jansen. La costituzione del Partito Fascista votata tra acclamazioni dal Congresso, in: Il Popolo d’Italia, 10.11.1921. Zum Begriff „Milizpartei“ sei verwiesen auf die Studien von Emilio Gentile. Er schrieb, dass „ein großer Teil der organisatorischen Schwierigkeiten des Partito fascista in

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gedachte. Eine Woche darauf wurden die Parteistatuten beschlossen, in denen es heißt, dass der PNF „eine der Nation dienende freiwillige Miliz“ sei. Das war keineswegs nur eine Propagandaformel, denn jeder Fascio hatte die Pflicht, Aktionstruppen (squadre d’azione) zu bilden, die jeweils ihren Kommandanten wählten. In dem Augenblick, in dem der PNF entsteht, ist er eine Milizpartei, die jedoch in ihrer Strukturierung demokratische Verfahren vorsieht. Sowohl die Mitglieder des Zentralkommittees als auch diejenigen der Führungsspitze werden vom nationalen Parteitag gewählt. Man muss außerdem berücksichtigen, dass für parlamentarische Entscheidungen die Fraktion zuständig war, an deren Sitzungen der Generalsekretär der Partei teilnahm, wenn auch nur mit beratender Stimme, und dass die Wahl der Kandidaten für das Parlament den lokalen Verbänden in den Wahlkreisen oblag, die dann von der Parteizentrale genehmigt wurden.2 Die Vorstellung, dass eine auf militärischer Grundlage konstituierte Partei der Disziplin einer Armee folge, erwies sich nach dem Marsch auf Rom als falsch. Der PNF hatte eine einheitliche und zentralisierte Struktur, doch effektiv organisatorisch gesehen war sie ein Bund aus „faschistischen Machthabern“ und „lokalen Tyrannen“. Das änderte sich im Januar 1925 durch Mussolinis Ansprache vor dem Abgeordnetenhaus am 3. Januar und die Ernennung Roberto Farinaccis zum Generalsekretär des PNF am 12. Beides zusammen bedeutete den Sieg des radikalen Flügels der faschistischen Bewegung.3 Laut Luigi Federzoni, Innenminister und entschiedenster Gegner Farinaccis, strebte dieser eine „Auflösung des Staates in der Partei an und wollte dann aus deren Vorstand eine andere Regierung bilden, in der er je nach dem als Superminister oder Antiminister fungierte“. Die Idee Farinaccis war die der „Einmischung“. Dieses Projekt, das eine Art Doppelherrschaft (diarchia) zwischen dem Generalsekretär und dem Regierungschef anstrebte, scheiterte jedoch an der realen Kräftekonstellation, so dass ihn Mussolini letztendlich seines Amtes enthob, nachdem er einige Monate seine radikalen Eifer toleriert hatte.4

2 3 4

der Zeit zwischen seiner Gründung und der Endkrise durch die permanenten Spannungen bedingt waren, die ihrer Natur als Milizpartei inhärent waren, was für einen Großteil der squadristi [Mitglieder faschistischer Schlägertrupps], Führer und einfache Mitglieder das Wesen des partito fascista darstellte […] während es für andere Mitglieder nur ein situationsbedingtes Anfangsstadium war.“ Emilio Gentile, Storia del Partito Fascista 1919–1922. Movimento e milizia, Rom-Bari 1989, S. 464. Partito nazionale fascista, Le origini e lo sviluppo del fascismo, Rom 1928, S. 156–158. Benito Mussolini, Il Partito Fascista, in: Il Popolo d’Italia, 12.11.1921. Lo statuto-regolamento del Partito Nazionale Fascista, in: Il Popolo d’Italia, 24.11.1921; auch in: Marcello Missori, Gerarchie e statuti del P. N. F. Gran consiglio, Direttorio nazionale, Federazioni provinciali: quadri e biografie, Rom 1986, S. 333–339. PNF, Il Gran Consiglio nei primi dieci anni dell’era fascista, Rom 1933, S. 181–184. Roberto Farinacci, Un periodo aureo del Partito Nazionale Fascista, Foligno 1927, S. 153–171. L’imponente congresso nazionale del Partito Fascista, in: Il Popolo d’Italia, 23.6.1925. Luigi Federzoni, Italia di ieri per la storia di domani, Milano 1967, S. 99–100. Farinacci, Un periodo aureo (wie Fn. 3), S. 336–338 u. 348–351. PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 215– 224; Lorenzo Santoro, Roberto Farinacci e il partito nazionale fascista 1923–1926, Soveria Mannelli 2008.

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Der neue Sekretär, Augusto Turati, begann den PNF in eine populäre Institution des faschistischen Staates zu verwandeln. Nach der Sitzung des faschistischen Großrates (Gran Consiglio di Fascismo) am 25. Juni 1926, formulierte Turati einige Leitlinien für das Vorgehen der Partei, aus der er eine Schule der Sittlichkeit machen wollte. Die Partei „der Regierung und der Massen“ sollte zum Fahnenträger „strengster Unnachgiebigkeit“ werden. Mit diesem Ziel vor Augen stimmte der Großrat im November dem neuen Statut zu, das alle demokratischen Verfahren abschaffte. Mit neuen Regeln verstärkte die Partei ihre pyramidale Struktur. Der Funktionsmechanismus, der die Auswahl der Führungskader reglementierte, war hierarchisch-vertikaler Natur. Der Großrat ernannte den Generalsekretär, dieser die federali (Provinzsekretäre), die ihrerseits die Sekretäre eines jeden fascio di combattimento der Provinz ernannten. Weniger als einen Monat nach der Annahme des Statuts ermächtigte der Großrat als höchstes faschistisches Organ den Generalsekretär, mit der Säuberungsaktion fortzufahren. Turati, der während seiner ersten sechs Monate als Generalsekretär 7.400 Mitglieder, darunter fünf Abgeordnete, aus der Partei ausgeschlossen hatte, begann eifrig mit der Arbeit und legte innerhalb eines Jahres dem Gran Consiglio seine Bilanz vor. Er eröffnete die Sitzung am 8. November 1927 mit der Mitteilung, dass er 2.000 Funktionäre und 30.000 Mitglieder aus der Partei entfernt hatte. Die scharfe Maßnahme, politisch unzuverlässige und moralisch untragbare Personen aus der Partei auszuschließen, diente dem Ziel, aus der Partei eine „Schule der Zivilisation“ und ein „Beispiel einer neuen kollektiven Moral“ zu machen, um „den Italiener der faschistischen Ära“ zu schaffen.5 Der herrschenden Kriegsrethorik entsprechend, hatte Turati die Partei als „zivile Armee der Nation“ definiert. Es handelte sich hierbei um eine sehr treffende Formulierung, denn sie unterstrich eine militärisch disziplinierte Struktur, der man durch eine „Einberufung“ beitrat und die über ein eigenes Foglio d’ordini (Befehlsblatt) verfügte. Dieses Foglio d’ordini war nach der Gazzetta Ufficiale (dem Gesetzblatt), das „offizielle Journal des Regimes“ und war nicht nur als einziges Organ der internen Kommunikation anerkannt, sondern spielte auch bei den Parteiausschlüssen eine wichtige Rolle, da sie mit der Veröffentlichung im Foglio d’ordini definitive Gültigkeit erlangte.6 Turati hatte die Mitgliedschaft als ein Privileg konzipiert, aber man musste nun wohlbedacht mit dem Entzug dieses Privilegs umgehen, da es unerreichbar geworden war. Denn mit Inkrafttreten des neuen Statutes war eine Beitrittssperre in Kraft getreten. Diese bestätigte das höchste Organ des Faschismus zu Beginn des Jahres 1927. Angesichts der mehr als 940.000 Parteimitglieder, die in 9.120 Fasci organi5

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Renzo De Felice, Mussolini il fascista, II. L’organizzazione dello Stato fascista, 1925–1929, Torino 1968, S. 186–187. Emilio Gentile, La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo Stato nel regime fascista, Rom 2001, S. 165 e 177. PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 225–227 u. 278–279. Das neue Statut auch in: Missori, Gerarchie e statuti (wie Fn. 2), S. 355–362. Augusto Turati, Una rivoluzione e un capo, Rom-Mailand o. J. [1927], S. 124 e 130. Foglio d’ordini, 6.9.1927; dass., 23.10.1926, in: PNF, I Fogli d’ordini. Dal 31 luglio IV al 24 settembre VIII, Roma 1935, S. 184 u. 63.

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siert waren, beschloss der Großrat am 6. Januar, dass jedes Beitrittsgesuch für 1927 abzulehnen sei. Das bedeutete allerdings nicht, dass der Zugang zur Partei völlig verschlossen gewesen wäre. Durch die „faschistische Einberufung“ (leva fascista) sollten alle für die Partei kandidierenden „Avantgardisten“ (14- bis 18jährige Jungfaschisten) aufgenommen werden, wenn sie das 18. Lebensjahr erreichten. Für die Faschisten, deren Mitgliedschaft regelmäßig symbolisch erneuert werden musste, hatte man in jedem Fascio eine „feierliche Übergabe des Parteibuches in Anwesenheit von Bevollmächtigten der Regierung und hoher Parteiführer (delle Autorità di Governo e dei Gerarchi del Partito)“ vorgesehen.7 Das Ritual der Erneuerung des Parteibuches war gut durchdacht, wie aus dem berühmten Rundschreiben Mussolinis vom 5. Januar 1927 an die Präfekten hervorging, das erneut betonte, dass der Präfekt die höchste Autorität des Staates in der Provinz darstellte. Also sollte für jeden deutlich herausgestellt werden, dass Ämter nicht nach Kriterien der mezzadria8, d. h. der Verantwortungsteilung, verwaltet werden durften und dass Unklarheiten der Autorität oder Verantwortung nicht toleriert würden. Nach Vollendung der „Revolution“ sollten die Partei und ihre Hierarchien sowohl auf zentraler als auch auf peripherer Ebene nichts weiter als ein Instrument des „Staatswillens“ sein (der Parteisekretär musste sich im Zweifel dem Präfekten unterordnen).9 Turati hatte die Natur der in dem Rundschreiben an die Präfekte angekündigten Wende und seine Bedeutung die die Entwicklung des Faschismus voll erkannt, doch das bedeutete nicht, dass die Aufgaben des PNF damit erfüllt gewesen wären. Der Generalsekretär stellte zwar (anders als Farinacci) keineswegs das Primat des Staates in Frage, doch er war andererseits überzeugt, dass die Partei eine absolut zentrale Stellung innerhalb des faschistischen politischen Systems einnehmen sollte. De facto bedeutete das, dass er alles tat, um die signoria (die Herrschaft) des PNF über die anderen „Lehen“ zu festigen. Es gelang ihm zum Beispiel, die Opera nazionale dopolavoro, die faschistische Freizeitorganisation, für sein Ziel zu gewinnen. Die Auswirkungen dieser „imperialistischen“ Politik des PNF zuungunsten anderer faschistischer Organisationen traten schon in der Sitzung des Großrats am 21. April 1927 zu Tage, als der Generalsekretär eine Übersicht über die im PNF zusammengefassten Kräfte vorstellte. Die Gesamtzahl der Mitglieder belief sich auf 2.193.823, zu denen die Mitglieder der verschiedenen Gewerkschaften, Kulturorganisationen, Sportvereine und Betriebsverbände hinzugerechnet werden mussten.10 Am 6. Jahrestag des Marsches auf Rom im Oktober 1928 waren die von der Partei kontrollierten Verbände und Organisationen noch zahlreicher geworden. 6.814.703 Italiener hatten sich unter dem Liktorenbündel vereinigt und hinzu kamen noch all diejenigen, die in Sportverbänden und der Freizeitorganisation Opera Nazionale dopolavoro (OND) eingeschrieben waren. Im Frühjahr 1927 wurde Tu7 8 9 10

PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 256–258. Anm. d. Übersetzers: Mezzadria ist eine in Mittelitalien übliche Form der Pacht, bei der die Erträge zwischen Landbesitzer und Pächter geteilt werden. Opera omnia di Benito Mussolini, hg. v. Edoardo e Duilio Susmel, Florenz 1951–1963, vol. XXII, S. 467–470. PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 256–257 u. 264–272.

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rati zum außerordentlichen Kommissar der OND berufen, so dass nun der PNF direkt für eine Einrichtung verantwortlich war, die die Masse der Werktätigen betreute. Ein enormes Wachstum verzeichneten die Fasci für Frauen von 900 Mitgliedern 1926 auf 50.000 1928. Ihr Funktionsbereich war u. a. die Organisation der Kinderferienheime am Meer und in den Bergen, in denen in den Jahren des Parteivorsitzes Turatis (1926–1930) eine wachsende Anzahl von Kindern ihre Ferien verbrachten. 1926 besuchten die Heime 60.000, im Jahr darauf schon 140.000 und 1930 150.000 Kinder.11 Seit der Faschismus als eine große „nationale Familie“ dargestellt wurde, eine Einrichtung für das Volk, die seinen weniger begüterten Kindern half, informierte das Foglio d’ordini über alle Initiativen, die auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der sozial Schwächeren zielten. Um zu vermeiden, dass das Projekt „DemVolk-Entgegenkommen“ nur eine abstrakte Idee bliebe, war es unumgänglich, dass die Partei als eine perfekte Organisationsmaschine funktionierte.12 Turati überschwemmte die Parteistrukturen mit Rundschreiben, in denen er von den Verbänden Uniformität und disziplinierte Durchführung der vom Generalsekretariat vorgegebenen Verfahren forderte und gleichzeitig über jede unternommene Maßnahme informiert werden wollte. Der Generalsekretär des PNF schien von einer Überwachungsmanie besessen, die ihm bei der schrittweisen Erschaffung eines faschistischen Ethos unvermeidlich schien. Dieses Ethos sollte sich perspektivisch zu einem Ideal entwickeln, mit dem sich die gesamte Nation identifizieren konnte.13 Durch seine eiserne Kontrolle gelang es Turati, in der Partei die „Eigenmächtigkeit der Führungsstäbe in der Provinz“ zu beenden.14 Doch obwohl er den Kommandostab fest in seinen Händen hielt, gelang es ihm nicht, die Konflikte zwischen Präfekten und Provinzsekretären der Partei zu verhindern. Dieser in der Provinz herrschende Dualismus wurde durch eine latente, aber kontinuierliche Form des Kontrastes zwischen dem Generalsekretär und dem Staatssekretär für Innere Angelegenheiten auf zentraler Ebene verstärkt, genauer gesagt, zwischen Turati und Michele Bianchi zuerst und Turati und Leandro Arpinati darauf. Mussolini wusste genau um dieses Dilemma und es ist u. a. auch dies der Grund, warum er 1928 beschloss, den Großrat zu konstitionalisieren. In einem Kommentar zu dieser politischen Entscheidung von großer Tragweite schrieb Giovanni Gentile, dass man damit „jeden Dualismus zwischen Staat und Partei aufgehoben“ und somit „die totale Einheit des Regimes“ erreicht habe. Die Partei hatte demzufolge „aufgehört, Partei

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Foglio d’ordini, 28.10.1928, S. 252–253; dass., 6.8.1926, S. 10; dass., 27.1.1930, S. 305; dass., 18.8.1930, S. 333; dass., 4.12.1926, S. 86–87, alle in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6). „Dem Volk entgegenkommen“ bedeutete, den Bereich der Volksfürsorge zu entwickeln. Ein erster Schritt in dieser Richtung war die Entscheidung Augusto Turatis, Sekretär des PNF, im Dezember 1926 in der Parteileitung das Ufficio opere assistenziali dei Fasci femminili (das Fürsorgebüro der faschistischen Frauen) einzurichten. Siehe Foglio d’ordini, 4.12.1926, in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6), S. 86–87. Archivio centrale dello stato, Mostra della rivoluzione fascista, b. 52, fasc. 122, sottofasc. 1, Circolari e autografi di Augusto Turati. Yvonne De Begnac, Taccuini mussoliniani, hg. v. Francesco Perfetti, Bologna 1990, S. 466–467.

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zu sein. Sie war schon die virtuelle und wird numehr immer deutlicher de facto die Nation“.15 Gentile hatte sich zwar hinsichtlich der wundertätigen Folgen dieser Maßnahme getäuscht, doch er hatte genau erkannt, dass sich die Partei immer mehr mit der Nation identifizierte. Auch Mussolini war derselben Überzeugung. In einer Ansprache vor den höchsten Parteikadern des PNF am 14. September 1929 sprach er von der Zeit, die das Regime nicht länger zu verlieren brauche, „um sich bis an die Grenzen der Nation auszudehnen“, da diese Entwicklung bereits eingesetzt habe und „das Instrument dieser Ausdehnung die Partei mit den dahinterstehenden Massen sei“. Es handele sich nun nur noch darum, in dieser Richtung weiterzuarbeiten, um „die Partei im Staat zu integrieren“. Dieser Integrationsprozess hatte ja schon im Januar 1927 mit dem besagten Rundschreiben an die Präfekte begonnen und seitdem war laut Duce „jede Form von Dualismus zwischen staatlichen Behörden und Parteihierarchie“ in Auflösung begriffen. Dem Präfekten unterstand „auch die Partei, d. h. auch der Provinzsekretär, der in seiner Funktion und Person als untergeordneter Provinzmitarbeiter die Rolle eines außerordentlichen Funktionärs der königlichen Präfektur innehatte“. Bei besagter Gelegenheit kündigte Mussolini an, dass die Parteisekretäre nunmehr auf seinen Vorschlag hin durch königliches Dekret ernannt werden würden. Gleichzeitig würden die Provinzsekretäre auf Vorschlag des Generalsekretärs per Dekret des Ministerpräsidenten eingesetzt. Dieses Verfahren fußte auf einer „absoluten Logik“, die die „bewusste, endgültige und feierliche Unterordnung der Partei unter den Staat“ bestätigte.16 Das neue vom Gran Consiglio in der Sitzung vom 18. Dezember 1929 angenommene Statut setzte alle Vorgaben Mussolinis um und legte offiziell fest, dass die Partei dem Staat, ihn durchdringend, untergeordnet war. Dieses Statut spiegelte also den Willen des Duce wider, doch auch Turati hatte seinen Beitrag geleistet. Die Zeitschrift Critica Fascista schrieb, dass er in der Partei „eine neue Architektur und eine neue Ethik“ verankert habe. Der PNF hatte akzeptiert, dass seine Funktionen denen des Staates untergeordnet waren, hatte aber auch erreicht, dass er auf alle Bereiche des italienischen Lebens Einfluss nehmen konnte.17 Nach Turati berief Mussolini Anfang Oktober 1930 Giovanni Giuriati an die Spitze der Partei, der in seiner Funktion als Präsident des Abgeordnetenhauses der geeignete Mann schien, um die von Turati erfolgreich begonnene Arbeit der völligen Eingliederung der Partei in den Staat zum Abschluss zu bringen. Während der Sitzung des Großrats am 8. Oktober 1930, in der Giuriati zum Generalsekretär berufen wurde, beschloss das höchste Parteiorgan außerdem die Bildung der Fasci giovanili di Combattimento (Jugendkampfbünde), die Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren aufnehmen sollten. Diese neue, der Partei unterstehende Organisation 15 16 17

Giovanni Gentile, La costituzionalizzazione del Gran Consiglio, Educazione Fascista, a. IV, gennaio, 1928, S. 86–87. PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 302–306. Benito Mussolini, Al gran rapporto del fascismo, in: Opera omnia (wie Fn. 9), S. 132–146. Statuto del PNF (1929), in: Missori, Gerarchie e statuti (wie Fn. 2), S. 370–377. Bilancio di cinque anni, Critica Fascista, a. VIII, n. 19, 1° ottobre 1930, S. 361–364.

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verzeichnete von Anfang an ein rasantes Wachstum, denn im März 1931 zählte sie schon 329.695 jugendliche Mitglieder. Im selben Monat erschien die Wochenzeitschrift Gioventù Fascista, die die Bildung der Jugend gemäß den Idealen der „Revolution“ fördern sollte. Sie fasste diese Ideale in dem von Mussolini kreierten Motto „glauben, gehorchen, kämpfen“ zusammen. Giuriati erklärte ihren Sinn folgendermassen: man müsse „glauben“, wie man einer mathematischen Formel glaube, dass einzig das faschistische Regime in der Lage sei, dem Vaterland eine Zukunft zu sichern; auch weil „Mussolini immer Recht habe“. Er hielt es nicht für nötig, „Gehorsam“ wortreich zu erklären, da Ungehorsam zur Anarchie, zur Auflösung des Staates und dem Ende der Nation führe. Der Begriff „kämpfen“ bedeutete für ihn, dass diese neue Organisation eine „Armee“ war, die den „Geist“, die „Muskeln“ und das „Bewusstsein“ stählen und vorbereiten sollte, eine Armee also, die „eine direkte Weiterführung der Aktionstruppen (squadre d’azione) darstellte, denen man einen großen Teil des vaterländischen Aufstandes verdanke“.18 Giuriati führte die von Turati begonnene „imperialistische“ Parteipolitik noch intensiver weiter, indem er die Vereine und Organisationen der Angestellten im Staatsapparat, den öffentlichen und halböffentlichen Einrichtungen und den Schulen der Partei einverleibte. Da ihm die wachsende Bedeutung klar war, die das Regime den Frauen als „militante Bürgerinnen“ beimaß, ordnete er über die Provinzsekretäre an, in kürzester Zeit die faschistische Frauenorgansation zu verstärken. Den faschistischen Frauen wurde vor allem die fürsorgerische Verantwortung für die „unteren Schichten“ übertragen, der entweder täglich in den Räumlichkeiten des Fascio oder durch die „faschistischen Helferinnen“ mit Hausbesuchen bei den Armen und Hilfsbedürftigen Rechnung getragen wurde. Die Frauen der Fasci leisteten auch ihren Beitrag bei der Sorge für die „Kinder des Volkes“, ein Tätigkeitsbereich, der 1931 weiter erheblich ausgedehnt wurde. Im August 1930 waren es noch 150.000 Kinder, die in den Ferienheimen an der See und in den Bergen aufgenommen wurden, im selben Monat des darauffolgenden Jahres schon 60 % mehr. Laut einem von dem PNF veröffentlichten Rechenschaftsbericht, dessen Zahlen von den einzelnen Präfekten Provinz für Provinz kontrolliert wurden, handelte es sich um 242.233 Kinder. Es war der Verdienst der Sekretäre und der Organisationen, dass diese Entwicklung stattgefunden hatte. Sie wurden per Parteiauftrag in die am 16. März 1931 geschaffenen Enti opere assistenziali eingegliedert.19 Im Jahr seines Parteivorsitzes arbeitete Giuriati auch an einer großangelegten Überprüfung der Mitgliederlisten, um all diejenigen auszuschließen, die die „faschistische Reinheit“ nicht garantierten. Mussolini war skeptisch und hatte seinem 18 19

PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 366–368 und 386–388. Emilio Gentile, Introduzione a Giovanni Giuriati, La parabola di Mussolini nei ricordi di un gerarca, Rom-Bari 1981, S. XXXIII–XXXVI. Foglio d’ordini, 26.1.1931, S. 355–356; dass., 26.5.1931, S. 357–359; dass., 22.8.1931, S. 362, alles in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6). Silvia Inaudi, A tutti indistintamente. L’Ente Opere Assistenziali nel periodo fascista, Bologna 2008, S. 61.

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Sekretär gegenüber geäußert, dass er für ihn ein Monument errichten lassen wolle, sollte es ihm gelingen, zehntausend Mitglieder aus der Partei zu entfernen. Als Giuriati jedoch Mussolini einen Überblick über die untersuchten Fälle und die eingezogenen Parteibücher zeigte, wurde dieser furchtbar wütend. Es ging ihm weniger um die Tatsache, dass es sich vorrangig um „moralische“ Gründe handelte, die die Ausschlüsse rechtfertigten, sondern um die Zahl der Ausgeschlossenen, die sich auf 120.000 belief. Eine derartige starre und unbeugsame Strenge spielte all denen in die Hände, die sich nach der „kleinen und stolzen Kampftruppe“ aus den Anfängen des Faschismus zurücksehnten, und bedeutete eine Rückkehr zum „jakobinischen“ Konzept Farinaccis.20 3. EINE „PARTEI DER NATION“ Nach Giuriati wurde Achille Starace zum Generalsekretär der Partei berufen, der dieses Amt vom 7. Dezember 1931 bis zum 29. Oktober 1939 bekleidete. Mit dieser Wahl entzog Mussolini dem PNF jede Ambition auf politische Autonomie und übertrug ihm die Mission, die gesamte Nation dem Faschismus unterzuordnen. Starace überflutete die Partei mit Rundschreiben, von denen einige schlechthin grotesk anmuten. Daneben gibt es Schreiben, die nicht unbedingt als außergewöhnlich zu bezeichnen sind, die aber eindeutig seinem Willen Ausdruck verleihen, den Lebensstil und die Verhaltensweisen der Parteimitglieder zu disziplinieren. Der PNF sollte gleichzeitig sowohl als Erzieher und Vorläufer gesehen werden. Giuseppe Bottai, Mitglied im Großrat, Arbeits- und später Erziehungsminister, schrieb, dass alle in der Partei aktiven Mitglieder „unaufhörlich das Modell einer mustergültigen Lebensführung anzustreben hatten“. Der Schlüsselbegriff war „Antizipation“, denn wenn man ein Muster und eine Vorwegnahme einer durch und durch faschistischen Nation bieten wollte, dann musste der PNF sicherstellen, dass alle Mitglieder, vor allem die Spitzenkader, exemplarisch alle zivilen Tugenden für die Italiener vorlebten. Besonders hohe Parteifunktionäre (gerarchi) hatten die Pflicht, stets in dem Verwaltungssitz ihres Kompetenzbereiches zur Verfügung zu stehen, da auch nur eine Stunde Abwesenheit inakzeptabel für all diejenigen gewesen wäre, die sich in der Gewissheit an die Partei wandten, unterstützt zu werden. Derjenige, der sich seiner Unterstützungspflicht entzog, hätte u. a. eine exakte „Dienstvorschrift“ Mussolinis verletzt, der angeordnet hatte, dass die Partei „ein hervorragendes und gleichzeitig extrem kapillares Instrument zu sein hatte, das das Volk in das allgemeine politische Leben des Staates eingliederte“. Hierbei handelte es sich um eine kurzfristige Strategie, langfristig jedoch sollte die Partei über die Erziehung der Jugendlichen dazu beitragen, den physischen und moralischen Typus des neuen Italieners zu schaffen. Auf den ersten Blick mag die Idee der anthropologischen Revolution als rein totalitäre Rhetorik anmuten, doch Mussolini war, wie 20

Giuriati, La parabola (wie Fn. 18), S. 129–130. Renzo De Felice, Mussolini il duce, vol. I, Gli anni del consenso 1929–1936, Turin 1974, S. 215. Arnaldo Mussolini, I solitari, in: Il Popolo d’Italia, 22.11.1930.

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Renzo De Felice wiederholt unterstrichen hatte, wirklich von der historischen Notwendigkeit überzeugt, den Charakter der Italiener neu zu formen. Es ging ihm darum, einige der tief verwurzelten geschichtlich bedingten „nationalen Fehler“ zu „korrigieren“ und keine Mühe zu scheuen, Italien „systematisch, zielstrebig, stark“ (sistematica, tenace, perseverante) zu machen.21 Dank des ihm von Mussolini anvertrauten Mandats arbeitete Starace darauf hin, dass die Partei eine „im Leben der Italiener stets präsente Rolle“ spielte. Nach der Bekanntmachung des neuen Statuts begann Starace mit der Umgestaltung der Fasci di combattimento und der faschistischen Ortsgruppen (gruppi rionali), um die Allgegenwärtigkeit der Partei in jedem Winkel des Landes zu sichern. Er verfügte, dass sowohl die Sekretäre der Fasci di combattimento als auch die Ortsgruppenleiter (fiduciari) nach vorheriger Genehmigung der Parteiführung nuclei (faschistische Basisgruppen) einrichten durften, die von einem Capo nucleo (Gruppenführer) geleitet wurden, dem gewöhnlich analog zu denen des Fascio di combattimento oder denen der faschistischen Ortsgruppen Funktionen übertragen wurden. Der nucleo konnte seinerseits in Arbeitsbereiche geteilt werden, die in bestimmten Quartieren, einzelnen Straßen oder Häuserzeilen operierten. Eine derartig fein verästelte Organisation, die bis in der kleinste vorstellbare territoriale Einheit vertreten war, kann nicht schlechthin als ein gigantischer bürokratischer und gleichzeitig unpolitischer Apparat abgetan werden. Erstens, weil die Vorposten der Partei bis in die Straßen und Straßenabschnitte hinein eine Form des politischen Apostolates darstellten, die auf eine von Mussolini gewollte faschistische Evangelisierung abzielte und zweitens, weil der PNF von vielen Italienern als „Schutzpartei“ gesehen wurde; als eine Art väterliche Einrichtung, an die man sich in schwierigen Momenten des Lebens wenden konnte.22 Seit seiner Ernennung zum Generalsekretär setzte Starace auf eine Wohlfahrtspolitik und legte während der Sitzung des Gran Consiglio del fascismo am 7. April 1932 einen ersten Rechenschaftsbericht vor, aus dem hervorging, dass der PNF in dem Quartal zwischen dem 15. Dezember 1931 und dem 15. März 1932 im Bereich der Betreuung, Fürsorge und Unterstützung verstärkt aktiv war. Einrichtungen wie die Enti opere assistenziali hatten für ihre Arbeit Spenden in der Höhe von 95,6 Millionen Lire erhalten. Unter Bezugnahme auf detailliertere Daten berichtete der Generalsekretär, dass an 90 Millionen Lebensmittelrationen verteilt wurden sowie 1,25 Millionen Kleidungsstücke, dass 2.314.000 Menschen in unterschiedlichster Form versorgt wurden und dass 5,5 Millionen Menschen finanzielle Unterstützung 21

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Il Partito: quindici anni dopo il 3 gennaio, in: Critica Fascista, 1.1.1940, S. 66–68. Benito Mussolini, Primo discorso per il decennale, in: Opera omnia (wie Fn. 9), vol. XXV, S. 134–136. De Felice, Mussolini il duce (wie Fn. 16), S. 39–43. Benito Mussolini, Settimo anniversario dei Fasci a Villa Glori, in: Opera omnia (wie Fn. 9), vol. XXII, S. 97–100. Discorso pronunciato dal duce alla seconda assemblea quinquennale del regime. Roma, 18 marzo 1934, in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6), S. 524–525. Statuto del PNF (1932) in Missori, Gerarchie e statuti (wie Fn. 2), S. 379–389. Atti del Consiglio nazionale e del Direttorio nazionale dal 12 dicembre 1931 X al 19 aprile 1934 XII, in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6), S. 544 u. 552. Luciano Cafagna, La grande slavina. L’Italia verso la crisi della democrazia, Venedig 1993, S. 62.

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erhalten hatten. Die Partei ging auf das Volk zu, vor allem in den Wintermonaten, wie aus dem Bericht an die Provinzsekretäre vom 30. Juni und 1. Juli 1934 hervorgeht. Starace hatte eine Übersicht über die Wohlfahrtsmaßnahmen während des Winters erarbeitet, bei der 1,75 Millionen Familien, d. h. 2.884.000 Menschen täglich unterstützt wurden, was mehr war als im Jahr zuvor, in dem 2.450.000 Menschen die Hilfe der Partei in Anspruch genommen hatten. Man hatte 169.788 Doppelzentner Weizenmehl und 66.749 Doppelzentner Maismehl, 17.128.000 Rationen Hülsenfrüchte, 13.880.000 Rationen Reis, 5.263.000 Rationen Milch, 33.286.000 Rationen rancio del popolo (Mahlzeiten für das Volk) ausgeteilt und für 9.347.000 Kinder Schulspeisung ausgegeben, was einem Gesamtbetrag von 132.694.256 Lire entsprach. Im Laufe des Direktoriums, das vom 22. bis zum 24 September stattfand, berichtete Starace, dass 506.635 Kinder Ferienheime besucht hatten. 1935 gab es 3.128 solcher Einrichtungen (636 mehr als 1934), wo nun 568.681 Kinder ihre Ferien verbrachten.23 Unter der Führung von Starace verstärkte der PNF sein Profil als Hilfseinrichtung. Es gelang ihm außerdem, das Monopol der politischen Erziehung der Jugendlichen an sich zu reißen, indem es dem Ministerium für Volksbildung (ministero dell’Educazione nazionale) die Opera nazionale balilla entzog. Am 27. Oktober 1937 wurden die ONB und die Fasci giovanili di combattimento unter der Schirmherrschaft des PNF in der Gioventù italiana del littorio (Italienische Jugend unter dem Liktoranbündel) vereint. Die GIL, der 1939 7.891.547 Jugendliche angehörten, hatte einer Reihe von Aufgaben gerecht zu werden, doch ihre Hauptfunktion lag in ihrer pädagogischen Rolle. Diese wurde auch formell vom Regime anerkannt, denn die Carta della Scuola (Schulcharta) ordnete der „GIL eine ‚erzieherische‘ Rolle zu“, die, wie Renzo De Felice schrieb, „weit wichtiger und offizieller war als die der ONB zuvor“. Die Kernaussage der Charta unter diesem Gesichtspunkt steht in ihr zweiten Erklärung und lautet, dass „Schulalter und politisches Alter in einer faschistischen Ordnung zusammenfallen. Das Schulwesen, GIL und GUF bilden zusammen ein einziges Instrument faschistischer Erziehung“. Mit der Einschulung begann also die politische Erziehung im Sinne des Faschismus, die zu großen Teilen der Schule übertragen wurde. Offiziell blieb die GIL eine eigenständige, gesonderte und vom Staat gut finanzierte Einrichtung. 1939 kam sie in den Genuss eines Förderbeitrags von 200 Millionen Lire, aus denen 1940 344 Millionen, 1941 580 Millionen und 1942 eine Milliarde und 130 Millionen Lire wurden. Um sich eine Vorstellung von den staatlichen Zuwendungen zu machen, reicht ein Blick in die Bilanz der PNF, die 1941 die 500 Millionengrenze nicht erreichte, ein Betrag, „der mehr oder weniger den Kontoständen des Außenministeriums und des Justizministeriums entsprach“.24 23 24

PNF, Il Gran Consiglio (wie Fn. 3), S. 401; Foglio d’ordini, 9.4.1932, in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6), S. 453. Atti del Consiglio nazionale e del Direttorio nazionale dal 2 luglio 1934-XII al 4 aprile 1935-XIII, in: PNF, I Fogli d’ordini (wie Fn. 6), S. 615–616. R. D. L. 27 ottobre 1937-XV, n. 1839. Istituzione della Gioventù italiana del littorio, in: Giovanni Davicini (Hg.), Lex. Legislazione italiana, XXIII-1937, luglio-dicembre, Torino 1937, S. 1842–1845. Loreto Di Nucci, Lo Stato-partito del fascismo. Genesi, evoluzione e crisi.

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Die GIL als Institution bestätigte, dass Dino Grandi Recht hatte, als er bemerkte, dass der Partei nach und nach „außerordentliche Befugnisse“ übertragen wurden. Dass dies der Realität entsprach, versteht man sofort, wenn man die Kompetenzbereiche des Generalsekretärs betrachtet und die Zahl der im neuen, im April 1938 verabschiedeten Statut genannten, von der PNF abhängigen 18 Organisationen (etwa das OND, das Nationale Olympische Komitee, Veteranenorganisationen und viele andere). Alle wuchsen permanent und bestätigen die zentrale Rolle der Partei innerhalb des faschistischen politischen Systems. Diese zentrale Stellung wurde auf institutioneller Ebene mit dem Dekret anerkannt, das dem Generalsekretär des PNF sowohl den Titel als auch die Funktionen eines Ministers und Staatsekretärs zuerkannte.25 Die zum Teil erdrückende Allgegenwärtigkeit des PNF in der italienischen Gesellschaft hatte aber auch laut der von Bottai herausgegebenen Zeitschrift viele positive Seiten. Beim Wechsel der Parteileitung im Oktober 1939 schrieb Critica Fascista, dass sich die Partei der Ära Staraces vor allem durch zwei Eigenschaften auszeichnete. Einerseits durch das Prestige, das sie im nationalen Leben gewonnen hatte, indem sie der Angelpunkt der Verfassungsordnung geworden war, andererseits durch die kapillare Struktur und das enge Netz eigener Organisationen und von ihr abhängiger Verbände, die alle Schichten der Nation durchdrangen. Es gab effektiv keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem die Partei nicht präsent gewesen wäre, so dass Starace an Mussolini von einer bis an die „äußersten Grenzen“ entwickelten Partei schreiben konnte. Was die äußerste Grenze bedeutete, wurde anlässlich der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Marsches auf Rom am 28. Oktober 1939 vom Generalsekretär selbst definiert. Bei dieser Gelegenheit legte er Mussolini eine Aufstellung der verfügbaren Kräfte des PNF und der angegliederten Verbände vor. Am Tag darauf wurde sie in Il Popolo d’Italia auf der ersten Seite veröffentlicht. Auf 43.733.000 Italiener kamen 20.411.596 Mitglieder der Partei und der von ihr abhängigen Organisationen.26 Ein Wachstum in diesem Ausmaß ließ deutlich erkennen, dass man auf die Parteimitgliedschaft der gesamten Nation abzielte. Auch unter den Generalsekretären Ettore Muti (Oktober 1939 – Oktober 1940), Adelchi Serena (Oktober 1940 – Dezember 1941), Aldo Vidussoni (Dezember 1941 – April 1943) und Carlo Scorza (April – Juli 1943) nahm die Zahl der Mitglieder des PNF noch zu. Am 30. Oktober 1940 informierte Il Popolo d’Italia seine Leser, dass die Partei nunmehr 23.281.622 Mitglieder zählte. 1941 wurden es

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1919–1943, Bologna 2009, S. 481. Renzo De Felice, Mussolini il duce, vol. II. Lo Stato totalitario 1936–1940, Turin 1981, S. 125. Niccolò Zapponi, Il partito della gioventù. Le organizzazioni giovanili del fascismo 1926–1943, in: Storia contemporanea, 1982, S. 572–573 u. 629– 630. Der Vermerk von Dino Grandi in: Gentile, La via italiana (wie Fn. 5), S. 184. Statuto del Partito Nazionale Fascista, in: Raccolta Ufficiale delle Leggi e dei Decreti del Regno d’Italia, a. 1938, vol. II, Roma 1938, S. 672–683. Conferimento al Segretario del P. N. F. del titolo e delle funzioni di Ministro Segretario di Stato in: dass., a. 1937, vol. I, Rom 1937, S. 11. Il Partito, in: Critica Fascista, 15.11.1939, S. 18–19. Le forze inquadrate nel Partito, in: Il Popolo d’Italia, 29.10.1939. De Felice, Mussolini il duce, vol. I (wie Fn. 16), S. 217–220; Gentile, La via italiana (wie Fn.5), S. 195–197.

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24.491.361 und 1942 endlich hatte man die astronomische Ziffer von 27.375.696 erreicht, d. h. 61 % der italienischen Bevölkerung.27 Diese beeindruckende Zahl wurde von Il Popolo d’Italia mit einer durch den zweiten Weltkrieg hervorgerufenen, die Gesamtheit umfassenden Beschleunigung erklärt. In einem Artikel vom 20. März 1941 schrieb Giuseppe Mastromattei, dass die schon auf ideeller Ebene verschmolzenen Begriffe Krieg, Partei und Nation nunmehr eine „einzige politische Wirklichkeit“ waren. Der Krieg wandele den Faschismus virtuell in eine „Partei als Nation“ (Partito-Nazione) um. Der „politischen Einrichtung der Partei als Nation“ entsprach demzufolge laut Mastromattei die „Einrichtung des Staates als Partei“ (Stato-Partito)“. Es ist von nicht unbeträchtlicher Bedeutung, dass die von Mussolini gegründete Zeitschrift feststellte, dass die Identifikation von Staat und Partei das Endergebnis eines historischen Prozesses sei. Diese Tatsache bietet uns Ansatzpunkte für verschiedene Überlegungen, die die gesamte Frage nach dem Regime und den Schwierigkeiten erhellen können, mit denen der Faschismus bei der Mobilmachung der notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen konfrontiert wurde, um die Anstrengungen eines Landes im Krieg unterstützen zu können. Seit der Machteroberung hatte der Faschismus die Antifaschisten verfolgt und eine Politik der Diskriminierung gegenüber den „gleichgültigen“ und „nicht faschistischen“ Italienern geführt. Es handelte sich dabei um eine „Unterscheidung zwischen Bürgern mit vollem Rechtsanspruch und Nicht-Mitgliedern der Partei, denen ein Teil ihrer Rechte entzogen wurde“. Viele Italiener, die über zwanzig Jahre hinweg diskriminiert wurden, fühlten sich während des Krieges nicht mehr in die Pflicht genommen, einem Staat treu und patriotisch zu dienen, der sie als antinational, als inneren Feind oder fünfte Kolonne des Feindes gebrandmarkt hatte. Ein weiterer Grund der Zersplitterung war die Tatsache, dass Mussolini das Land in den Krieg geführt hatte und von der Revolution sprach anstatt vom Vaterland, von der Partei anstatt vom Staat, vom Faschismus anstatt von Italien, wie Grandi und Federzoni in der Sitzung des Gran Consiglio vom 25. Juli 1943 hervorhoben. Nach Grandis Urteil hatten die „nazifaschistischen Propagandisten“ einen schwerwiegenden Fehler begangen, als sie erklärten, dass der Krieg ein „Krieg der Partei“, ein „faschistischer Krieg“, der „Krieg Mussolinis“ sei. Seiner Meinung nach war dies der „nagende Wurm des Widerstandes im Land“. Federzoni teilte diese Sicht der Dinge. Auch für ihn war es ein unverzeihlicher Fehler, „den ‚faschistischen Krieg‘ gepredigt zu haben“. Es habe sich um eine „plumpe Lüge“ gehandelt, denn „jeder Krieg betrifft das Leben, den Besitz, das Schicksal eines ganzen Volkes und kann demnach nur ‚national‘ sein“. Gleichzeitig war es eine „unheilvolle Unvorsichtigkeit“, da diese Formulierung „all jene, die nicht an der Parteispitze standen oder streng verpflichtete Parteimitglieder waren, in die Versuchung führte, sich den elementaren Pflichten eines jeden Bürgers seinem im tödlichen 27

Consegna a Mussolini della tessera n. 1 del Partito, in: Il Popolo d’Italia, 30.10.1940. Renzo De Felice, Mussolini l’alleato, vol. I, L’Italia in guerra 1940–1943, t. II, Crisi e agonia del regime, Turin 1996, S. 969. Emilio Gentile, Fascismo. Storia e interpretazione, Rom-Bari 2002, S. 172.

Zwischen Partei und Staat

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Kampf begriffenen Land gegengenüber zu entziehen“. Federzoni hatte bemerkt, dass man derart insistent von dem „faschistischen Krieg“ gesprochen hatte, dass die Partei die Statistiken ihrer Gefallenen und Verwundeten veröffentlichte, „als ob die nicht parteigebundenen Toten weniger interessieren würden“. Das hatte zur Folge, dass viele nach und nach zu der Überzeugung gelangten, dass nur diejenigen, die den Krieg gewollt hatten, verpflichtet waren, in ihm zu kämpfen.28 Federzoni hatte zweifelsohne den Stand der Dinge erfasst, doch ist andererseits nicht zu leugnen, dass viele Italiener freiwillig an die Front zogen, eben weil es sich darum handelte, an dem faschistischen Krieg teilzunehmen. Es waren zahlreiche Jugendliche, vor allem Universitätsstudenten, die sich als Freiwillige meldeten, um in den Krieg Mussolinis zu ziehen. Die freiwillige Kriegsbereitschaft der jungen Faschisten ist ein nicht irrelevantes Phänomen, denn es scheint zu bezeugen, dass es den PNF tatsächlich gelungen war, eine „Generation des Liktorenbündels“ im Sinne der ethischen Werte des Faschismus zu schaffen.29 Die Jugendorganisationen der Partei hatten Jungen und Mädchen aller Altersgruppen und aller sozialen Schichten eingegliedert und „zur militärischen Disziplin und zu Dienst- und Opferbereitschaft“ erzogen. Es war natürlich alles andere als einfach, sich alldem zu entziehen, doch es mangelte nicht an jenen, die sich dagegen auflehnten und jenen, die genau in diesen Organisationen begannen, ein antifaschistisches Bewusstsein zu entwickeln. Es gibt andererseits aber auch viele Zeugnisse dafür, dass die Militanz in der Opera nazionale balilla, in den Fasci giovanili di combattimento und in der Gioventù italiana del littorio weder nur das Ergebnis zwangsgesteuerter Eingliederung war, noch, dass es sich um einen rein formalen Beitritt gehandelt hätte.30 Wenn es also nicht diese starke ideologische Einbeziehung gegeben hätte, würde man nicht verstehen, weshalb sich so viele Jugendliche beider Geschlechter bewusst für die Teilnahme an den faschistischen Kriegen entschieden haben. Es ist von größter Bedeutung, dass trotz der existierenden Rassengesetze etwa 400 jüdi28

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30

Giuseppe Mastromattei, Vitalità del Partito, in: Il Popolo d’Italia, 20.3.1941. Emilio Gentile, La via italiana al totalitarismo, Nuova edizione, Rom 2008, S. 349. Dino Grandi, 25 luglio. Quarant’anni dopo, hg. v. Renzo De Felice, Bologna 1983, S. 287–289, 290–294, 298–299. Federzoni, Italia di ieri (wie Fn.4), S. 198–199 u. 298–300. Es gibt nur wenige, nicht offizielle und schwer bewertbare Zahlen, die die Teilnahme der Freiwilligen am Zweiten Weltkrieg belegen, trotzdem lassen sich einige Angaben nachweisen. Renzo De Felice zitiert einen vom PNF 1941 herausgegebenen Band, aus dem hervorgeht, dass bis zu jenem Moment 20.000 Anträge auf Einberufung junger Universitätsstudenten vorlagen. Dazu kamen „die 35.000 Universitätsstudenten, die auf Antrag des Sekretariats der GUF für die Jahrgänge von 1915 bis 1921 einberufen wurden und junge bei der GUF eingetragene und schon einberufene Hochschul- und Oberschulabsolventen bis zum 28. Lebensjahr, die sich auf etwa 20.000 beliefen“ (De Felice, Mussolini l’alleato (wie Fn. 27), S. 905–908). In einem anderen Band schreibt er, dass diese Daten korrigiert werden müssten, da aus einer aufmerksamen Kontrolle der Daten hervorgehe, dass das Militär versuchte, die freiwillige Einberufung zu minimalisieren und „viele Freiwillige als [regulär] Einberufene bezeichnete“. Siehe Renzo De Felice, Rosso e Nero, hg. v. Pasquale Chessa, Mailand 1995, S. 35. Zum Thema auch Luca La Rovere, Storia dei Guf. Organizzazione, politica e miti della gioventù universitaria fascista, 1919–1943, Turin 2003, S. 360–361. Roberto Vivarelli, Fascismo e storia d’Italia, Bologna 2008, S. 132.

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sche Männer jeden Alters und jeder sozialen Schicht an Mussolini geschrieben und um die militärische Einberufung gebeten haben. Unter diesen Briefen „stechen besonders jene hervor, die von jungen Juden zwischen zwanzig und dreißig Jahren geschrieben wurden, die in faschistischen Schulen und Jugendorganisationen erzogen worden waren und die die Ideale und den Geist der faschistischen Revolution verinnerlicht hatten“. Letztendlich sollte man nicht vergessen, dass nach dem 8. September 1943 viele junge Männer und Frauen der neuen Republikanisch Faschistischen Partei beitraten und beschlossen, in den Reihen der Repubblica sociale italiana31 zu kämpfen.

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Iael Nidam Orvieto, Lettere a Mussolini: Gli ebrei italiani e le leggi antiebraiche, in: La Rassegna Mensile di Israel 2003, S. 340–345.

FASCHISMUS VOR ORT Die faschistische Partei auf lokaler Ebene* Stefano Cavazza 1. EINLEITUNG Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht die faschistische Partei Partito Nazionale Fascista – PNF) vor Ort. Denn die italienische Forschung hat in den letzten Jahren die Rolle des Faschismus auf lokaler Ebene in zahlreichen Beiträgen untersucht, um die Dynamik des faschistischen Staates zu belegen,1 Der „lokale Faschismus“, darunter auch die faschistischen Parteiorganisationen in den Provinzen bzw. Städten, zählt zu den am intensivsten erforschten Themen der letzten Jahre.2 Das hat auch viel mit der Quellenlage zu tun. Wie u. a. Marco Palla und Michele Innocenti klar hervorgehoben haben, verhindern fehlende Quellen eine allgemeine Untersuchung der sozialen Struktur des PNF,3 was in erster Linie daran liegt, dass es kein zentrales Archiv der faschistischen Partei gibt, sondern nur Teile der ehemaligen Archivbestände der Partei überliefert sind. Hingegen sind in lokalen Archiven oft Materialien des PNF zu finden, die es erlauben, lokale Studien über die Partei durchzuführen.4 Wie aber Paul Corner und Valeria Galimi betonen, handelt es sich * 1

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Ich danke Evelyn Wellding für die sprachliche Bearbeitung meines Textes. Die Notwendigkeit, den lokalen Faschismus zu analysieren, wurde schon von Ernesto Ragionieri 1969 hervorgehoben: Ernesto Ragionieri, Il Partito fascista: appunti per una ricerca. in: La Toscana nel regime fascista, 1922–1939, Florenz 1969, S. 59–85. In diesem Bereich waren die Bücher von Paul Corner 1974 und Marco Palla 1978 und bahnbrechend: Paul Corner, Il fascismo a Ferrara 1915–1925, Rom/Bari 1974; Marco Palla, Firenze nel regime fascista, Florenz 1978. Auch das Buch von Luisa Passerini soll in diesem Kontext nicht vergessen werden: Luisa Passerini, Torino operaia e fascismo: una storia orale, Rom/Bari 1984. Siehe auch; Paolo Varvaro, Una città fascista: potere e società a Napoli, Palermo 1990; Giovanni Galli, Arezzo e la sua provincia nel regime fascista (1926–1943), Florenz 1992; Loreto Di Nucci, Fascismo e spazio urbano. Le città storiche dell’Umbria, Bologna 1992; Roger Engelmann, Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921–1924, München 1992. Über die spätere Entwicklung der lokalen Faschismusforschung siehe das Themenheft „Fascismi locali“, in: Ricerche di Storia Politica, n. F., 3 (2010), n. F. Siehe auch Renato Camurri, Introduzione. Le periferie del fascismo note di lettura, in: Venetica, 25 (2011), 7–14. Siehe auch: Tommaso Baris, Tra centro e periferia. Stato e partito negli anni del fascismo, in: Studi storici, 55 (2014), S. 27–40. Marco Palla / Michela Innocenti, Provinciali del fascismo: la struttura politica e sociale del PNF a Pistoia, 1921–1943, Pistoia 2007, S. 18. Im Staatsarchiv Turin beispielweise umfasst der Archivbestand der faschistischen Partei 80.000 persönliche Akten, die jetzt auch online verfügbar sind; siehe URL: http://archiviodistatoto-

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bei der Forschung über lokalen Faschismus zum Teil um Studien, die auf die lokale Ebene begrenzt sind, ohne das Verhältnis zum nationalen Kontext mit einzubeziehen.5 In den letzten Jahren ist aber auch klar geworden, dass sich ohne die Betrachtung der lokalen Ebene kaum die wirkliche Dynamik des Faschismus nachvollziehen lässt. Denn auch wenn der Faschismus zentralistisch orientiert war, waren die lokalen politischen Netzwerke wichtig für die Konstruktion des Regimes und des Konsenses sowie die Akzeptanz der faschistischen Diktatur, weil sich die politischen Maßnahmen in der Peripherie auswirkten und der Alltag in den Provinzen das Leben der Bürger mehr als die Paraden und die faschistische Propaganda beeinflussten.6 In den letzten Jahren wurde infolgedessen in zahlreichen Studien die lokale Entwicklung unter Berücksichtigung der Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie analysiert.7 Auf diese Weise haben Historiker einen Einblick in die Machtverhältnisse, in die Konsensbildung und in die Legitimierungsprozesse8 des Regimes gegeben, ohne sich allein auf die Figur Mussolinis oder auf die zentralen Apparate zu konzentrieren.9 Um die Relevanz der lokalen Ebene im Faschismus zu verstehen, ist aber zu unterstreichen, dass die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie in der italienischen Geschichte seit der Staatsgründung immer schon eine besondere Rolle spielte. Denn der italienische Staat wurde im Jahre 1861 nach dem zentralistischen Vorbild Frankreichs in province (Provinzen) untergliedert. Nach der Einigung hatte man zwar erfolglos versucht andere, stärker föderalistische Formen der Staatsorganisation zu finden, nämlich die Untergliederung in Regio-

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rino.beniculturali.it/Site/index.php/it/progetti/schedatura/pnf-torinese (abgerufen am 15. August 2016). Paul Corner / Valeria Galimi, Introduzione, in: Paul Corner / Valeria Galimi (Hg.), Il fascismo in provincia articolazioni e gestione del potere tra centro e periferia, Rom 2014, S. 7. Siehe Stefano Cavazza, Premessa, (wie Fn. 1), S. 324. Siehe z. B.: Arbeitsgruppe Regionalgeschichte (Hg.), Faschismus in der Provinz/Fascismo in provincia, in: Geschichte und Region/Storia e regione 8 (1999); Elena Vigilante, Il fascismo in Basilicata, Potenza 2004; Antonio Baglio, Il Partito nazionale fascista in Sicilia. Politica, organizzazione di massa e mito totalitario 1921–1943, Manduria 2005; Michelarcangelo Casasanta, Il Pnf a Torino: il gruppo dirigente nei primi anni del regime (1928–1934), in: Storia e problemi contemporanei 46 (2007), S. 71–99; Tommaso Baris, Il fascismo in provincia: politica e società a Frosinone, 1919–1940, Rom/Bari 2007; Centri e periferie: Italia 1931–1961. L’annale Irsifar, Mailand 2007; Monica Busti, Il governo della città durante il ventennio fascista. Arezzo, Perugia e Siena tra progetto e amministrazione, Perugia 2010; Alessandro Baù. All’ombra del Fascio: lo Stato e il Partito nazionale fascista padovano (1922–1938) Sommacampagna 2010; Fascismi periferici: nuove ricerche. L’Annale Irsifar, Mailand 2010; Gilberto Cavicchioli, Nera è la morte: i mantovani e la violenza fascista: 1919–1945, Mantova 2013, Fiorenzo Sicuri, Gli anni del Littorio. Il Regime fascista a Parma dalle leggi eccezionali alla guerra d’Etiopia 1925– 1936, Parma 2014; Alessandra Staderini, Fascisti a Roma. Il Partito nazionale fascista nella capitale (1921–1943), Rom 2014. In diesem Aufsatz wird der Begriff Legitimation/Legitimierung im Sinn von Max Weber verstanden: als Akzeptanz einer Herrschaft. Die „from Below“ Perspektive bildet die Basis der Studie von Paul Corner, in der die Wahrnehmung des Regimes in den Provinzen untersucht wird: von Paul Corner, The Fascist Party and Popular Opinion in Mussolini’s Italy, Oxford 2012.

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nen.10 Man entschied sich dann aber doch für die Einführung der Provinzen, weil diese ein Spiegelbild der historischen Rolle der Städte in der italienischen Geschichte darstellen sollten.11 Jede Provinz wurde von einem Präfekten geleitet, der in der Hauptstadt der Provinz residierte.12 Auch nach der Verwaltungsreform Crispis im Jahre 1889 blieb der Präfekt der „controlleur“ der Verwaltungsvorgänge in den Provinzen.13 1870 existierten 69 Provinzen, 1924 stieg ihre Zahl auf 76, 1927 erhöhte das faschistische Regime sie auf 92. Trotz der zentralistischen Struktur des Staates, die Befürworter einer regionalen bzw. föderalistischen Staatsform oft als unzulängliche oder sogar unterdrückende Form der Staatsorganisation anprangerten,14 hat die jüngste italienische Geschichtsschreibung diese Interpretation zum Teil revidiert und auf den „schwachen Zentralismus“ Italiens verwiesen, wobei die Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie und Aushandlungsprozesse zwischen lokalen und zentralen Eliten eine entscheidende Rolle in der Machtausbalancierung spielten.15 2. VON DER BEWEGUNG ZUR PARTEI In den ersten Jahren nach der Gründung der faschistischen Bewegung war die Organisation in vielen Provinzen noch ziemlich schwach ausgeprägt. Im Jahre 1920 versuchte daher die Leitung der Bewegung die lokalen faschistischen Vereine (die Fasci di combattimento) finanziell zu unterstützen und zu fördern.16 Noch im Juni 1921 war es aber zum Beispiel in Terni schwierig, einen Kandidaten für das Amt des Sekretärs des Fascio zu finden, weil „ein solches Amt viel Zeit verlangen 10 11

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Marco Minghetti, I partiti politici e la loro ingerenza nell’amministrazione, Bologna 1881, S. 244. Die Provinz als Institution wurde zunächst im Piemont und zwar noch vor der Gründung des italienischen Nationalstaats eingeführt (Adriana Petracchi, Le origini dell’ordinamento comunale e provinciale italiano. Storia della legislazione piemontese sugli enti locali dalla fine dell’antico regime al chiudersi dell’età cavouriana (1770–1861), Bd. I, Venedig, 1962, S. 88– 89). Zu den Präfekten siehe: Robert Fried, Il prefetto in Italia, Mailand 1967; Nico Randeraad, Autorità in cerca di autonomia: i prefetti nell’Italia liberale, Rom 1997. Guido Melis, Storia dell’amministrazione italiana (1861–1993), Bologna 1996. Zum Stand der Forschung siehe: Giovanna Tosatti, Note sulla storiografia amministrativa in Italia, in: Le carte e la storia, 6 (2004), S. 5–17. Fulvio Cammarano. Storia dell’Italia liberale, Rom/Bari 2011, S. 49. Siehe Marco Meriggi, La questione locale nella storiografia italiana, in: Le carte e la storia, 4 (2002), S. 15–18. Zum Konzept siehe: Raffaele Romanelli, Centralismo e autonomie, in: Raffaele Romanelli (Hg.), Storia dello Stato italiano, Rom 1995, S. 125–186; Stefano Cavazza, Regionalism in Italy: a critique, in: Eric Storm / Joost Augusteijn (Hg.), Region and State in Nineteenth-Century Europe. Nation-Building, Regional Identities and Separatism, London 2012, S. 69–89; Guido Melis, Fare lo Stato per fare gli italiani, Bologna 2015, S. 20–24. Emilio Gentile, Storia del Partito fascista: 1919–1922: movimento e milizia. Rom/Bari 1989, S. 123–125.

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würde“ und es keine Möglichkeit gab, diese Position zu bezahlen.17 Nach der Gründung des Partito Nationale Fascista am 9. November 1921 begann sich die Lage zu ändern. Infolgedessen nahm die Professionalisierung des Parteiapparats immer weiter zu und gleichzeitig wurde die Struktur der Partei immer komplexer. So entwickelte die faschistische Partei allmählich eine engmaschige Struktur vor Ort: Die Federazione Provinciale befand sich in der jeweiligen Hauptstadt der Provinz, zusätzlich hatte jede kleinere Stadt oder jeder kleinere Ort eine eigene Sektion, die Fascio di Combattimento. Außerdem gab es in jedem Stadtviertel Sektionen, die sogenannten Gruppi rionali. Die Partei bezog auch Settori (Straßenzüge) und Nuclei (Häuserzeilen) in ihre Organisation ein.18 Obwohl die Resultate der Arbeit der einzelnen Sektionen unterschiedlich ausfielen, war die Kapillarität der Parteiorganisation vor Ort eine Stärke der faschistischen Parteiorganisation. Infolge der Reform des Parteistatuts im Jahre 1926, durch die die Wahlen innerhalb der Partei abgeschafft wurden, unterstand die Partei vor Ort einem Segretario federale, der vom Generalsekretärr für jede Provinz ernannt wurde. Der Segretario Federale war Mitglied des nationalen Parteikomitees (Consiglio nazionale del Partito fascista).19 Genau aus diesem Grunde war er eine Schlüsselfigur im Verhältnis zwischen dem zentralen Machtapparat und der Partei vor Ort. Nach der Machtübernahme forcierte der Faschismus die Zentralisierung Italiens: Der von der Bevölkerung gewählte Bürgermeister wurde durch einen von Rom eingesetzten podestà ersetzt. Der Präfekt spielte aber weiterhin eine wichtige Rolle, weil es zu seinem Aufgabenbereich gehörte, dem Innenminister Kandidaten für das Amt des podestà vorzuschlagen. Dabei spielte die Partei am Anfang nur eine untergeordnete Rolle, obwohl es in den dreißiger Jahren üblich wurde, dass der Parteisekretär informell darum gebeten wurde, den Namen des Kandidaten zu nennen, noch bevor der Präfekt diesen offiziell vorschlug.20 Schon 1923 und 1927 hatte Mussolini mit zwei Rundschreiben das Primat des Präfekten über den Parteisekretär in den Provinzen hervorgehoben.21 Diese politische Entscheidung Mussolinis war Ausdruck seines anfänglichen Misstrauens gegenüber den lokalen Parteikadern. Denn als Mussolini im Jahr 1922 an die Macht kam, war er zwar der Führer der faschistischen Partei, hatte aber noch nicht die vollständige Kontrolle über die einzelnen Gruppen der Partei, insbesondere nicht über die paramilitärischen „faschistischen 17 18 19

20 21

Adunanza del Direttorio, 2. Juni 1921, im Staatsarchiv Terni, Umschlag 83. Frank Vollmer, Die politische Kultur des Faschismus. Stätten totalitärer Diktatur, Köln 2007, S. 157. Statuto del Partito Nazionale Fascista, 1926, in: Mario Missori, Gerarchie e statuti del P. N. F. Gran consiglio, Direttorio nazionale, Federazioni provinciali: quadri e biografie, Rom 1986, S. 355–362. Über die Veränderung des Parteistatuts siehe: Paolo Pombeni, Demagogia e tirannide: uno studio sulla forma-partito del fascismo, Bologna 1984. Zur Rolle der podestà siehe: Loreto Di Nucci, Il podestà fascista. Un momento della costruzione dello stato totalitario, in: Ricerche di Storia Politica, n. F., 1 (1998), S. 12–21. Über das Verhältnis zum Parteisekretär siehe Baris, Il fascismo (wie Fn. 7), S. 83. Alberto Aquarone, L’organizzazione dello stato totalitario, Turin3 1978, Bd.1, S. 31; zur Rolle der Präfekten siehe auch Adrian Lyttelton, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929, London 1973, S. 158–166.

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Kampfbünde“, die sogenannten squadre d’azione.22 Während seiner ersten Jahre als Regierungschef versuchte Mussolini daher zunächst, die Partei unter seine Kontrolle zu bringen. Dabei konzentrierte er sich auf zwei strategische Vorgehensweisen: Einerseits gründete er eine staatliche Miliz, die vorwiegend aus Mitgliedern der paramilitärischen faschistischen Gruppen (squadre di azione) bestand, aber von Offizieren der staatlichen Armee geleitet wurde.23 Andererseits gab Mussolini – wie erwähnt – den Präfekten in den Provinzen gegenüber Vorrang vor den Parteisekretären, auch um die gewalttätigen Ausschreitungen des squadrismo zu beenden.24 Das bedeutet aber nicht, dass die Partei in der Provinz keine wichtige Rolle gespielt hätte. In jeder Provinz gab es eine federazione provinciale, die bis 1926 von einem gewählten Parteisekretär geleitet wurde.25 So hatte sich zwar nach der Machtübernahme der Faschisten ein autoritärer Zentralismus durchgesetzt, der keinen Raum für Autonomie und Dezentralisierung ließ, doch wurden die politischen Belange der Peripherie auch im Faschismus weiterhin berücksichtigt. Lokale Konflikte äußerten sich beispielsweise durch anonyme Briefe, – wie später noch näher erläutert wird – in denen faschistische Kader persönlicher Vergehen oder politischer Übergriffe beschuldigt wurden26. Ein weiteres Beispiel für die Austragung von Konflikten auf lokaler Ebene war der Versuch an Mussolini als politischen Schiedsrichter bei der Beilegung lokaler Konflikte zu appellieren. Insgesamt war die Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie auch Teil der Organisationsdynamik der Partei, die einerseits strikt „von Oben“ bestimmt wurde, aber andererseits die Konflikte in der Peripherie unter Kontrolle bringen musste. 3. PARTEIORGANISATION Was die Organisation anbelangt, ist zu betonen, dass die faschistische Bewegung sich von Anfang an als Gegenpol zu den traditionellen Parteien verstand. In der Bezeichnung antipartito (Anti-Partei)27 kam dieses Konzept einer Organisation, 22 23 24

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Zum „Squadrismo“ siehe: Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde: Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. Aquarone, L’organizzazione (wie Fn. 21), S. 20. „Zwar ist der Staat mit allen Mitteln zur Verhütung und Unterdrückung ausgerüstet, doch gibt es noch ‚Überbleibsel‘, die verschwinden müssen. Ich spreche vom ‚Squadrismo‘, der im Jahre 1927 zwar nur anachronistisch, sporadisch ist, der aber noch stürmisch in der Zeit der öffentlichen Erregung wiederauftaucht. Deshalb muss man mit der Illegalität Schluss machen“ (Benito Mussolini, Ai prefetti, Circolare 7 gennaio 1927, in: Alberto Aquarone, L’organizzazione dello stato totalitario, Turin3 1978, Bd. 2, S. 486.) In jeder Provinz ernannte die Versammlung gemäß der Regelung des lokalen Status ein Direktorium. Das Direktorium wählte dann den Parteisekretär: Statuto del Partito Nazionale Fascista 1921, in Missori, Gerarchie e statuti (wie Fn. 19), S. 338. Giovanni Sole, Lettere anonime e lotta tra fazioni nel Cosentino. 1926–1943, In: Rivista di Storia Contemporanea, 15 (1986), S. 584–607. Siehe auch Salvatore Lupo, Il fascismo: la politica in un regime totalitario, Rom 2005, S. 331–333. Zum Begriff antipartito siehe Emilio Gentile, Le origini dell’ideologia fascista (1918–1925), Bari 1975, S. 128–134. Siehe auch: Lyttelton, The Seizure of Power (wie Fn. 21).

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die sich von allen anderen Parteien unterschied, zum Ausdruck. In der internen Debatte hatte der antipartito das Ziel, Schluss mit den „Cliquen, Klientelen, mit allen schiefen Interessen und schändlichen politischen Zielen, mit Allem, was die materielle und moralische Ausrüstung der verschiedenen Parteien […] ist“ zu machen.28 Hinter der antipartito Polemik steckte allerdings eine antidemokratische Haltung und diese hielt sich auch in der Zeit der Diktatur. Doch war der PNF – abgesehen von ideologischer Polemik – strukturell eine totalitäre Massenpartei.29 Was die lokale Ebene anbelangt, ist anzumerken, dass in den ersten Jahren des Faschismus die Kontrolle der lokalen Vereine (Fasci di combattimento) durch die Parteispitze gering war. Daher verfügten die Leiter der paramilitärischen „Squadre d’azione“ in den Provinzen über einen großen Handlungsspielraum. Erst nach seiner Machtübernahme im Jahre 1922 versuchte Mussolini die paramilitärischen Gruppen unter seine Kontrolle zu bringen. Parallel dazu wurde auch jede Form von politischer Autonomie in der Partei unterbunden. Das schon erwähnte neue Parteistatut aus dem Jahre 1926 führte die Ernennung aller Parteisekretäre „von oben“ ein.30 Im Jahre 1927 wurde den Präfekten ein Rundbrief zugestellt, um ihre Vormachtstellung gegenüber den Parteisekretären offiziell zu machen.31 Wie bekannt, 28 29

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Mario Gioda zitiert nach Gentile, Le Origini (wie Fn. 26), S. 132. Hier wird nicht die Definition von partito Milizia (Milizpartei) verwendet, weil sie sich nicht auf die Organisationsformen der Partei bezieht. Zu den Organisationsformen siehe: Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris 1992; Zum PNF als Parteiform siehe: Paolo Pombeni, La ragione e la Passione, Bologna 2010. Nach Emilio Gentile ist die „Milizpartei“ die Organisationsform einer Massenbewegung. Die Identität dieser Partei ist „nicht auf soziale Hierarchie und Abstammung ausgerichtet, sondern auf Kameradschaft. Die Partei beabsichtigt „eine nationale Regeneration, betrachtet sich im Kriegszustand mit politischen Gegnern und hat die Eroberung des politischen Machtmonopols durch die Verwendung von Terror, parlamentarischer Taktik und Kompromissen mit den regierenden Eliten zum Ziel“, um so die parlamentarische Demokratie zu zerstören“ (Emilio Gentile. Fascismo. Storia e interpretazione, Rom/ Bari, 2002, S. 71). Die Betonung liegt hier auf der „Militarisierung der Politik“, die von der faschistischen Massenbewegung durchgeführt wurde. In diesem Ansatz sind zwar organisatorische Elemente einbezogen, aber diese spielen keine zentrale Rolle. In vorherigen Publikationen hatte Gentile allerdings mehr auf die organisatorischen Folgen der Militarisierung verwiesen. Da diese Milizpartei „ihre Anhänger in Wehrverbänden mit einer militärischen Hierarchie und Disziplin organisierte“, war „die Militarisierung im Jahre 1922 […] der erste Schritt zu der totalitären Praxis“ (Emilio Gentile, Partei, Staat und Duce in der Mythologie und der Organisation des Faschismus, in: Karl Dietrich Bracher / Leo Valiani (Hg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, S. 200. Vgl. ausführlicher: Gentile, Storia del Partito fascista (wie Fn. 16), S. 461 ff. Die Definition ist kompatibel mit der in diesem Aufsatz verwendeten Klassifizierung. „Der Generalsekretär [der PFN] ernennt den Segretario federale [lokalen Parteisekretär]“ (Norma 15, Statuto del Partito Nazionale Fascista, 1926, In: Missori, Gerarchie e statuti (wie Fn. 19), S. 358. „Der Präfekt […] ist die höchste Amtsgewalt in der Provinz […]. […] der Präfekt muss die Tätigkeit der Partei […] stimulieren und harmonisieren. Aber es soll allen klar sein, dass die Amtsgewalt nicht geteilt werden kann […]. Die Partei und die Hierarchie sind, nach der durchgeführten Revolution, nichts als ein bewusstes Instrument des Staatswillens“ (Benito Mussolini, Ai prefetti, Circolare 5 gennaio 1927, in Alberto Aquarone, L’organizzazione dello stato totalitario, (wie Fn. 24) S. 485).

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verstand sich Mussolini anfangs als „primus inter pares“ unter den Faschisten, und aus diesem Grund versuchte er den Staat gegenüber der Partei zu stärken. Da er Ministerpräsident war, konnte er den Staatsapparat völlig unter seine Kontrolle bringen. Doch hing die Machtausbalancierung in den Provinzen in erster Linie von der Treue zu Mussolini und der Zugehörigkeit zu nationalen faschistischen Eliten ab. In Pisa gelang es Guido Buffarini Guidi – lokaler Parteisekretär von 1926 bis 1929 und Bürgermeister und podestà von 1923 bis 1933 in Pisa, dann Abgeordneter und Staatssekretär im Ministerium des Inneren – nach einem Streit den Präfekten versetzen zu lassen.32 Die Forschung hat dahingehend hervorgehoben, dass das Verhältnis zwischen Präfekten und Parteisekretär trotz des Rundschreibens vom Januar 1927 prekär blieb und oft Spannungen zwischen beiden bestanden, besonders nachdem Achille Starace in den dreißiger Jahren zum Generalsekretär ernannt worden war.33 In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre aber war es das Hauptanliegen der faschistischen Partei, wieder die Kontrolle über die lokalen Gruppen zu übernehmen. Die Geschichtsschreibung bezeichnet diese Phase als „Normalisierung“ der Partei. Diese „Normalisierung“ zielte nicht nur darauf ab, gewalttätige Ausschreitungen unter Kontrolle zu bringen, sondern auch zahlreiche Kader und Mitglieder aus der Partei auszuschließen.34 Dieser Prozess bezog sich insbesondere auf die Peripherie. Laut Emilio Gentile war die Zahl der Parteimitglieder nach 1922 erheblich gestiegen, und zwar von 299.876 Mitgliedern Ende 1922 auf 939.927 Mitglieder Ende 1926. Nach der Einschreibungssperre im Jahre 1927 unter dem Generalsekretär Augusto Turati wurden aber ca. 30.000 Mitglieder, darunter 2.000 Kader, aus der Partei ausgeschlossen. 1928–1929 stieg diese Zahl auf mehr als hunderttausend an und im Jahre 1930 wurden unter dem Generalsekretär Giovanni Giuriati weitere mehr als 120.000 Mitglieder gezwungen, die Partei zu verlassen.35 Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Provinzen. Beispielweise war die Zahl der Parteimitglieder in Parma im Dezember 1922 auf 7.345 gestiegen (organisiert in 43 Fasci). Diese Zahl stieg im Jahre 1925 auf 9.000 und 1926 auf 10.647 (in 53 Fasci). Nach den „Säuberungen“ sank die Zahl 1932 auf 8.02336 Parteimitglieder. Das Ziel, die Provinzen unter Kontrolle zu bringen, wurde also durch eine massive „Säuberungsaktion“ verfolgt. In Rom rühmte sich der 1923 zum Kommissar der römischen Parteiorganisation (fascio) ernannte Roberto Farinacci, 40.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen zu haben37. Die Strategie von Mussolini zielte 32 33 34 35

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Lupo, Il fascismo (wie Fn. 26), S. 323. Philip Morgan, The prefects and party-state relations in Fascist Italy, in: Journal of Modern Italian Studies, 3 (1998), S. 243. Lyttelton, The Seizure of Power (wie Fn. 21), S. 121–148. Emilio Gentile, Le rôle du parti dans le laboratoire totalitaire italien. in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations, 43 (1988), S. 571–572; zu einem späteren Zeitpunktwurde der Text vom Verfasser umgearbeitet und neu veröffentlicht in: Emilio Gentile, La via italiana al totalitarismo. Il Partito e lo Stato nel regime fascista. Rom 1995, S. 171. Fiorenzo Sicuri, Gli anni del Littorio, (wie Fn. 7), S. 95. Zitiert nach Alessandra Staderini, La federazione romana del PNF: uno strumento al servizio del totalitarismo, In: Emilio Gentile(Hg.), Modernità totalitaria. Il fascismo italiano, Rom/Bari

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aber nicht nur darauf ab, den Spielraum der lokalen „Führer“ (Ras) zu reduzieren, sondern auch Machtkonzentrationen in der Peripherie zu vermeiden sowie Hindernisse, die seine Strategie gefährden konnten, zu beseitigen. So musste Aurelio Padovani in Neapel von seinem Amt zurücktreten und sogar die Partei verlassen, weil er gegen den Zusammenschluss mit den Nationalisten war.38 Unter dem Generalsekretär Roberto Farinacci wurden zwischen Februar 1925 und März 1926 41 lokale Parteisekretäre neu ernannt. Das Ziel war klar ersichtlich: Die faschistische Partei wollte die volle Kontrolle über die Peripherie erzielen. Obwohl Farinacci die Hauptfigur des „intransigenten“ Faschismus war, der in den Provinzen stark verbreitet war, unterstützte er als Generalsekretär dieses Ziel. Laut Farinacci selbst waren im Jahr 1925 28 Provinzverbände (Federazioni provinciali) gut organisiert und stramm auf Parteilinie, 31 waren auf dem Weg der Konsolidierung, aber noch in 19 Verbänden hielten interne Konflikte und Spannungen an. Dass 28 von 78 lokalen Parteisekretären Abgeordnete des nationalen Parlaments waren, war zwar ein Beweis dafür, dass eine Zentralisierung der Partei im Gang war. Wie aber Lorenzo Santoro klar hervorgehoben hat, zielte Farinacci auf eine stärkere Rolle der Partei gegenüber dem Staat ab.39 Obwohl Mussolini die normalizzazione der Peripherie, also ihre Kontrolle wollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt einer solchen Strategie nicht zustimmen, weil sie die von Farinacci geführte Partei gestärkt hätte. Dies war u. a. einer der Gründe dafür, dass Farinacci schließlich abgesetzt wurde40. In Bezug auf die Gruppe der lokalen Parteisekretäre ist zunächst zu unterstreichen, dass alle überzeugte Faschisten waren. Zwischen 1921 und 1943 kamen 80 % aller Kader (709 Segretari federali) aus „alten Kämpfern“, sogenannte Fascisti della prima ora (Faschisten der ersten Stunde). Es handelte sich dabei um Faschisten, die schon vor dem Marsch auf Rom Mitglieder der Partei waren. 14 % der Kader waren erst später in die Partei (bis 1927) eingetreten und nur bei 4,65 % kann man tatsächlich von wahrem Nachwuchs sprechen, der sich aus der faschistischen Jugendorganisation rekrutierte.41 Man darf aber nicht vergessen, dass sich die Lage im Lauf der Zeit änderte. Vor Kriegsbeginn kamen bereits 20 % der Parteisekretäre aus der faschistischen Jugendorganisation.42 Das war eine Zahl, die zwar von der faschistischen Jugend selbst für unbefriedigend gehalten wurde, weil ihre Erwartungen höher waren. Doch war sie gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass die Professionalisierung der Politik unter dem Faschismus immer mehr voran schritt.

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2008, S. 145. Lyttelton, The Seizure of Power (wie Fn. 21), S. 190–191. Lorenzo Santoro, Roberto Farinacci e il Partito Nazionale Fascista 1923–1926, Soveria Mannelli 2008. Patrizia Dogliani, L’Italia Fascista, Mailand 1999, S. 75–76. Gentile, Le rôle du parti (wie Fn. 35), S. 572. Dogliani, L’Italia (wie Fn. 40), S. 91–92. Luca La Rovere, Storia dei Guf: organizzazione, politica e miti della gioventù universitaria fascista, 1919–1943, Turin 2003.

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4. ALTE ODER NEUE ELITEN? Ein weiterer interessanter Punkt in diesem Zusammenhang ist der soziale Hintergrund der sogenannten faschistischen Eliten. Schon seit längerem gibt es in Historikerkreisen eine Diskussion über die Rolle, die die faschistischen Organisationen bei der Förderung neuer Eliten spielten. In den 70er Jahren wurde die These der Förderung neuer Eliten oft bestritten, zum Teil auch, weil dies nicht zum Bild des antimodernen Faschismus passte. Denn lange Zeit vertrat die Mehrheit der Historiker die Auffassung, dass der Faschismus nur alte Eliten an die Macht gebracht und konsolidiert hätte.43 Allerdings wurde diese Hypothese auch durch die Forschung bestätigt, wie sich etwa am Beispiel der Toskana aufzeigen lässt. Denn dort kamen z. B. die podestà bis zum Ende der dreißiger Jahre aus der Aristokratie.44 In den letzten Jahren entwirft die Forschung ein komplexeres Bild. Neben den alten Eliten, die weiterhin eine wichtige Rolle in den Machtpositionen des Regimes spielten, wird neuerdings darauf hingewiesen, dass durch die Gründung und die Erweiterung der faschistischen Organisationen ebenfalls neue Eliten entstanden seien, die ihren Einfluss und ihre Machtpositionen ausschließlich der Politik verdankten. Historiker wie Marco Palla haben diese Ambivalenz des faschistischen Regimes klar hervorgehoben.45 Die soziale Herkunft dieser neuen Eliten unterschied sich zum Teil von derjenigen der alten Eliten, die nach 1922 in die Partei eingetreten waren. Lokale Parteisekretäre und Kader des PNF wurden nämlich zum großen Teil außerhalb des traditionellen Elitenkreises der Provinzen rekrutiert. Wie Marco Palla hervorhebt: „Die segretari federali kommen vor allem aus der politischen, militärischen, gewerkschaftlichen Führungsschicht vor dem Marsch auf Rom 1919–1922“, sind „zum großen Teil promoviert“ mit bürgerlicher Herkunft.46 1931 hatten 73,5 % der Kader einen Universitätsabschluss, darunter hatten zwei Drittel Jura studiert.47 1935 zählte man unter 93 Parteisekretären der Provinzen 39 ohne Abschluss, 5 Buchhalter, 4 Ingenieure, 5 Lehrer und 15 Rechtsanwälte48. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Faschisten von den alten liberalen Eliten. Das bedeutete aber keine soziale Revolution. Wie die Forschung bewiesen hat, behielten die traditionellen 43

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In seinem Aufsatz im Band der Storia d’Italia des Einaudi Verlages hob Ragionieri Folgendes hervor: „Vielleicht hat die Untersuchung des Faschismus als Regime von „neuen Männern“ die Rettung des Adels durch den Faschismus vernachlässigt, nämlich einer sozialen Gruppe, die durch die Konsolidierung der bürgerlichen Macht graduell marginalisiert wurde“ (Ernesto Ragionieri, La storia Politica e sociale, in: Ruggiero Romano / Corrado Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 4, Turin 1976, S. 2218). Ragionieri, Il Partito fascista (wie Fn. 1), S. 59–85. Marco Palla, I fascisti toscani, in: Giorgio Mori (Hg.), Storia d’Italia. Le regioni dall’Unità a oggi. La Toscana, Turin 1986, S. 453–528. Palla, I fascisti (Wie Fn. 44), S. 492–493. Marco Palla, Premessa, in: Fascismi locali, in: Ricerche di Storia Politica, n. F., 3 (2000), S. 296; siehe auch: Marco Palla, La presenza del fascismo. Geografia e storia quantitativa, in: Italia contemporanea, 183 (1991), S. 397–405. Adrian Lyttelton, La dittatura fascista, in: Giovanni Sabbatucci / Vittorio Vidotto, Storia d’Italia, Bd. 4, Guerre e fascismo 1914–1943, Rom/Bari 1998, S. 207. Ebenda, 208.

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Eliten ihre Machtpositionen in der kommunalen Verwaltung oder in der Wirtschaft bei. In diesen Bereichen war es für die Faschisten nicht einfach Einfluss auszuüben. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Machtkonstellationen des lokalen Faschismus sehr unterschiedlich waren. In einigen Provinzen blieb die Macht in der Hand der alten Eliten, in anderen Provinzen gewannen neue Eliten an Bedeutung. In Siena zum Beispiel behielten die alten Eliten ihre Machtpositionen, was zu innerparteilichen Streitigkeiten führte. So prangerte Gewerkschaftsführer Ratiglia 1929 die lokalen Machtkonflikte in Siena in einem Brief an den Generalsekretär Turati an, indem er die Lage in der Provinz als „düster und ernst“ beschrieb.49 In den dreißiger Jahren hielt ein Parteibericht fest, dass wichtige Ämter in der Politik und in der Verwaltung von Faschisten im Alter zwischen 45 und 60 Jahren besetzt waren, die erst nach 1926 oder sogar nach 1933 der Partei beigetreten waren. Einige standen anfangs sogar kritisch dem Faschismus gegenüber.50 Zum Verwaltungsdirektor und podestà wurde Fabio Bargagli Petrucci ernannt, ein Adeliger, der zunächst Nationalist war und erst später in den PNF eingetreten war. Im Fall von Siena wurde die lokale Bank, die Monte dei Paschi di Siena, zum „Schlachtfeld“. Sie blieb aber bis zum Ende der dreißiger Jahre „im Griff“ der alten Eliten. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Kontrolle der Sparkassen und Banken oft die Voraussetzung für eine wirkliche Kontrolle der Provinz war. Deswegen war der Kampf um die Kontrolle der lokalen Banken oft eine der Ursachen für lokale Konflikte.51 In anderen Fällen aber weist die Literatur darauf hin, dass der Faschismus sehr wohl zum Aufstieg neuer Eliten beitrug. Schon die Studie von Gabriella Gribaudi über Eboli hat klar hervorgehoben, dass der Faschismus die lokalen Machtverhältnisse zum Teil verändert hatte.52 Anhand von neueren Studien wurde belegt, dass alte Eliten dort die Macht behielten, wo sie sich sofort an den Faschismus anschlossen oder wo der Faschismus anfangs schwach war. In diesen Fällen spielten die alten Eliten lange Zeit eine zentrale Rolle vor Ort. In den Provinzen, wo der Faschismus von Anfang an ohne entscheidende Unterstützung der alten Eliten stark war, war die Macht der neuen faschistischen Eliten größer. Ausgehend von einer detaillierten Studie über Frosinone kommt Baris zu dem Schluss, dass die Parteiämter 49

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Brief von Ratiglia an Starace, 2. November 1929, in ACS PNF, situazione politica ed economica delle province, Busta 21. Zu den Konflikten der Partei in Siena siehe: Renzo Martinelli, Il Partito Nazionale Fascista a Siena, in: Alessandro Orlandini (Hg.), Fascismo e antifascismo nel senese, Florenz 1994, S. 92–103; Daniele Pasquinucci, Classe dirigente liberale e fascismo a Siena. Un caso di continuità, In: Italia Contemporanea, 184 (991), S. 443–468; Siehe auch Saverio Battente, Dalla periferia al centro: la classe dirigente a Siena tra nazionalismo e fascismo, in: Corner/Galimi (Hg.), Il fascismo in provincia (wie Fn. 5), S. 169–181. Notizie intorno alla situazione fascista di Siena e prov., o. J., in ACS PNF, situazione politica ed economica delle province, Busta 21. Zur Rolle der Monte dei Pasci siehe Pasquinucci, Classe dirigente liberale (wie Fn. 49) 454– 458; Zum Verhältnis zwischen Partei und ökonomischen Eliten siehe; A. Gagliardi, Sviluppo, élites economiche e periferie, in: Corner/Galimi (Hg.), Il fascismo in provincia (wie Fn. 5), S. 33–51. Gabriella Gribaudi, A Eboli: il mondo meridionale in cent’anni di trasformazioni, Venedig 1990.

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von homines novi übernommen wurden, während die alten Eliten oft politische Ämter etwa als podestà oder die Kontrolle über die ökonomischen Machtzentren übernahmen bzw. behielten.53 Viele Beispiele belegen diese Hypothese. So behielten in Padua die sogenannten Notabili die Kontrolle über die ökonomischen Machtzentren, und der Einfluss der faschistischen Partei blieb zweitrangig.54 Diese Marginalisierung der Parteiapparate vor Ort wurde in Padua oft beklagt. Die Faschisten versuchten erfolglos die Kontrolle über den elitären städtischen Verein „Società del Casino Pedrocchi“ zu übernehmen.55 In diesem Verein waren die Faschisten in der Minderheit und die alten lokalen Eliten wollten nicht so einfach die „Parvenus“ kooptieren. Auch nach der Auflösung des Vereins 1938 blieb der neue gegründete Circolo del Littorio ein Ort, allein das Parteibuch nicht die Einschreibung sichern konnte.56 5. KONFLIKTE VOR ORT Obwohl der Faschismus die alten Parteien und das Wahlprinzip heftig kritisiert hatte, weil sie Konflikte und Korruption verursachen würden, waren die Faschisten vor Ort selbst sehr streitsüchtig. Parteiinterne Konflikte waren auf der lokalen Ebene weit verbreitet. Die Faschisten selbst waren sich des Problems, das als beghismo bezeichnet wurde, durchaus bewusst, wobei der Machtkampf zwischen den Kadern in der Regel auf persönlichen Interessen beruhte. Der Begriff beghismo geht auf das Wort bega (Zank) zurück, mit dem ein Streit aus persönlichen und oft nichtigen Gründen bezeichnet wird. Nach einem Parteibericht von 1927 kam es bei 12 % der lokalen Fasci zu permanenten Streitigkeiten. Aus diesem Grund wurden in Padua 17 von 117 Fasci vom Präfekten und der Parteibehörde untersucht.57 Insgesamt gesehen änderten sich die lokalen Konflikte innerhalb der faschistischen Partei im Lauf der Zeit. In den ersten Jahren des Regimes waren die Konflikte zum Teil noch ein Ausdruck politischer Gegensätze und beruhten nicht nur auf der Verfolgung persönlicher Interessen. Die Kampfgruppen waren zum Teil zwar anarchisch, aber verkörperten oft die politische Linie des radikalen Flügels der Partei, den sogenannten fascismo intransigente (intransigenter Faschismus). Dieser Flügel versuchte von unten, von der lokalen Ebene her, die Linie der Partei zu beeinflussen und zu steuern. Als Roberto Farinacci, ein Exponent dieses Flügels, Generalsekretär wurde, baute er jedoch – wie schon erwähnt – gegen die Interessen dieser Gruppierung die Zentralisierung der Partei weiter aus. Nach dem Ende der Normalisierungsphase der Partei wurde der beghismo dann zum reinen Interessenstreit, der aber keinesfalls die faschistische Politik selbst in Frage stellte, sondern nur auf die Maximierung der Vorteile der Beteiligten ausgerichtet war. 53 54 55 56 57

Tommaso Baris, Il fascismo in provincia (wie Fn. 7). Alessandro Baù. All’ombra del Fascio (wie Fn. 7). Ebenda, S. 61–66. Ebenda, S. 69. Alessandro Baù, All’Ombra del Fascio (wie Fn. 7), S. 59.

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Lokale Konflikte konnten sich aber auch als Machtkonflikte innerhalb der Eliten gestalten. So versuchte 1925 Elia Rossi Passavanti, ein faschistischer Abgeordneter und Bezirksführer (capozona) der fasci in Terni vergeblich, der Übermacht des Stahlkonzerns Terni entgegenzutreten. Streitobjekt war der Vertrag zwischen dem Stahlkonzern und der Gemeinde, der die Nutzung von Flusswasser für industrielle Zwecke regelte. Durch den Vertrag fühlten sich die Grundbesitzer benachteiligt, denn er gewährte ihrer Ansicht nach der Firma zu viele Rechte. Deshalb baten 367 Grundbesitzer Passavanti um Hilfe, um den Vertrag aufzulösen.58 In diesem Streit stand der Parteisekretär von Perugia, Felice Felicioni, auf der Seite des Stahlkonzerns und gegen Passavanti. Passavanti appellierte direkt an Mussolini, um den Interessenkonflikt von Felicioni zu enttarnen.59 Felicioni wurde daraufhin im Mai 1926 durch den Kommissar Giuseppe Bastianini ersetzt. Passavanti selbst wurde zwar 1927 podestà und Parteisekretär in Terni, musste aber bereits im Juli von allen Ämtern zurücktreten.60 Denn die Parteizentrale in Rom und Mussolini selbst unterstützten die Konzernführung und Passavanti wurde „besiegt“.61 Hierzu ist anzumerken, dass auch andere Exponenten des lokalen Faschismus in Terni, die ebenfalls an den internen Streitigkeiten beteiligt waren, Ende des Jahres 1927 von der politischen Szene der Provinz verschwanden: Agostino Iraci und Guido Pighetti wurden zu Präfekten in Süditalien ernannt, Alfredo Misuri wurde nach Ustica verbannt.62 Passavanti blieb zwar in Terni und nahm weiterhin an den offiziellen Kundgebungen des Regimes teil, spielte aber nur noch eine marginale Rolle. Es handelt sich bei diesem Fall um keine Ausnahme. Auch in anderen Provinzen kam es zu großen Konflikten,63 sodass die lokalen Parteisekretäre relativ oft ihres Amtes enthoben wurden. Laut einem Parteibericht aus dem Jahr 1940 war die Lage der Partei in Reggio Calabria so kritisch und waren innere Streitigkeiten derart ausgeartet, dass die Parteisekretäre immer wieder ersetzt wurden: In einem relativ kurzen Zeitraum bekleideten 18 verschiedene Personen dieses Amt. Im Allgemeinen bemühten sich die Kader in dieser Stadt darum, „sich selbst und ihre Angehörigen als eigene, und zwar nicht als politisch, sondern als lokal und persönlich zu verstehende Gruppe zu fördern“.64 Oft äußerten sich die inneren Streitigkeiten in 58

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Renato Covino, Dall’Umbria verde all’Umbria rossa. in: Renato Covino / Giampaolo Gallo (Hg.), L’Umbria, Storia d’Italia. Le Regioni dall’Unità a oggi. Turin 1989, S. 578. Zu Terni siehe jetzt auch: Angelo Bitti, Il fascismo nella provincia operosa: politica, economia e società a Terni nel ventennio nero (1921–1940), PhD Dissertation, Dottorato di Ricerca in Storia d’Europa: società, politica, istituzioni (XIX–XX secolo), XXVI Ciclo, Viterbo 2014. (http://dspace. unitus.it/bitstream/2067/2882/3/abitti_tesid.pdf). Covino, Dall’Umbria (wie Fn. 58), S. 579. Ebenda, S. 580. Zur späteren Entwicklung der Provinz und dem sozialen Kompromiss mit alten Eliten siehe: Ebenda S. 581–584. Ebenda, S. 584. Siehe z. B. Baris, Il fascismo in provincia (wie Fn. 7), S. 51. Zitiert nach Ferdinando Cordova, Il fascismo nel Mezzogiorno: le Calabrie, Soveria Mannelli 2003, S. 238.

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anonymen Briefen. Leider fehlt eine generelle Studie zu diesem Phänomen, das aber in der Regel nur auf lokalen Konflikten beruhte. Anonyme Briefe waren zwar in ganz Italien verbreitet, aber es scheint, dass das Phänomen in Süditalien häufiger war als in Norditalien65. Anhand der Analyse von 300 anonymen Briefen aus der Provinz Cosenza, kam Giovanni Sole bereits 1986 zu dem Schluss, dass die Briefe auf die Streitigkeiten zwischen verschiedenen lokalen Gruppen zurückzuführen waren. Insbesondere in kleineren Städten war der „Spieleinsatz“ das Amt des podestà. Die Gegenparteien bestanden einerseits aus Anhängern des podestà und andererseits aus den Freunden des lokalen Parteisekretärs, der oft selbst nach dem Amt des podestà strebte.66 Beide Lager waren keine festen Blöcke, weil Beteiligte die Seiten wechseln konnten, doch in der vorliegenden Fallstudie waren Familienbande und persönliche Beziehungen für die Zugehörigkeit zu beiden Lagern entscheidend. In extremen Fällen wurden sogar Proteste auf der Straße von diesen Gruppen organisiert, um die „Feinde“ in Schwierigkeiten zu bringen oder politisch zu delegitimieren.67 Normalerweise aber waren anonyme Briefe das beste Mittel, die Anhänger der Gegenpartei in schlechtes Licht zu rücken, indem diese als Opportunisten, korrupt usw. beschrieben wurden.68 Die Polizei konnte die Autoren in der Regel zwar nicht identifizieren, aber war oft imstande, den inneren Parteikampf nachzuvollziehen, der dahintersteckte. Obwohl anonyme Briefe auch in demokratischen Regimen vorkommen, ist anzunehmen, dass sie in Diktaturen eine besondere Rolle als eine Form des politischen Kampfes spielen.69 Die Anklagen, die in den anonymen Briefen gegen die Parteikader aufgrund von Korruption, sexueller Skandale usw. erhoben wurden, waren zum großen Teil Verleumdungen, um den Gegner in einem politischen System zu schwächen, das keinen offenen Machtkampf erlaubte. Zum Teil waren sie aber auch ein Zeichen für die Korruption innerhalb der Partei, was in vielen Fällen durch die Informanten der Polizei bestätigt wurde.70 Doch ist offensichtlich, dass das Verhältnis zur Parteizentrale in Rom ausschlaggebend für den Ausgang lokaler Konflikte war, wie der Fall aus Terni deutlich zeigt. Diese innerparteilichen lokalen Konflikte hielten die gesamte Zwischenkriegszeit über an, wenn auch viele Streitigkeiten bereits in den dreißiger Jahren beigelegt wurden.

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Baris, Il fascismo in provincia (wie Fn. 7), S. 164. Sole, Lettere anonime (wie Fn. 26), S. 590. Ebenda, S. 595–597. Ebenda, S. 599–600. Fulvio Cammarano / Stefano Cavazza, Delegittimazione: note per un approccio storico, in: Krypton, 2 (2013), S. 62. Paul Corner, Fascist Italy in the 1930 s: the Provinces, in Popular Opinion, in: Paul Corner (Hg.), Totalitarian Regimes: Fascism, Nazism, Communism, Oxford 2009, S. 131.

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6. SOZIALE FUNKTION DER PARTEI VOR ORT UND LEGITIMATIONSPROZESSE Die Rolle der Partei vor Ort sollte nicht unterschätzt werden, weil die soziale Funktion der Partei vor Ort in den dreißiger Jahren an Bedeutung zunahm. Unter Führung von Starace wandelte sich die Partei nicht nur in einen Mobilisierungsapparat für die Massen, sondern auch in eine Fürsorgeorganisation. So stellten sich in jedem Stadtviertel die Parteisektionen (die Gruppi Rionali) als Hilfsstrukturen zur Verfügung. Die Gruppi Rionali sollten Kontrolle über die Stadtviertel ausüben, aber gleichzeitig betreuten sie auch die Bürger in vielen Belangen fürsorgerisch: Sie berieten etwa bei juristischen oder medizinischen Problemen, organisierten Ferienlager für Kinder oder gründeten Kindertagesstätten.71 Selbst die Kommunisten erkannten die positive Funktion der Gruppi Rionali an, denn sie „setzen sich bei Hausbesitzern ein, um die Zwangsräumung von Arbeitslosen zu verschieben, zur Versöhnung bei Streitigkeiten beizutragen, einen betrunkenen Ehemann oder Vater auf Anfrage der Familie zur Ordnung zu rufen“.72 Die Organisation der Partei vor Ort bezog sich aber nicht nur auf den PNF, sondern auch auf die dazugehörigen Parteiorganisationen: die Frauenorganisation (Fascio Femminile), die lokale Filiale der Freizeitorganisation (Opera Nazionale Dopolavoro), die Fürsorgeorganisation (Ente Opere Assistenziali), die Kinderhilfe (Opera Nazionale Maternità e Infanzia) die Jugendorganisationen Opera Nazionale Balilla und Fasci Giovanili, die sich 1937 unter der Kontrolle der Partei in der GIL (Gioventù italiana del Littorio) zusammenschlossen. Obwohl die Strategie dieser verbündeten Organisationen von Rom aus gestaltet wurde, hatte die Partei vor Ort die Aufgabe, diese Strategie in die Tat umzusetzen. Zum Beispiel war im Fall der Ente Opera Assistenziali der Parteisekretär gleichzeitig der Vorsitzende des Leitungsausschusses73 und konnte in dieser Position nicht nur die sozialen Ausgaben steuern, sondern auch über die Fürsorgetätigkeit verschiedener Institutionen entscheiden.74 Insgesamt gesehen spielten diese Organisationen eine wichtige Rolle in der sozialen Fürsorge auf lokaler Ebene und trugen zum Legitimationsprozess des Regimes bei. Nach dem Ende der Einschreibungssperre im Jahr 1932 diente die Einschreibung in die Partei auch der Förderung der individuellen Karriere. Im öffentlichen Dienst war die Parteizugehörigkeit ab 1932 allerdings Pflicht.75 Trotzdem konnte die aktive Mitgliedschaft den Aufstieg im öffentlichen Dienst begünstigen.76 Das 71 72 73 74 75 76

Emilio Gentile, Fascismo (wie Fn. 29), S. 190–192. Alberto Mario Marcucci, La conquista dei giovani, in Stato operaio, agosto 1934, zitiert nach Emilio Gentile, Fascismo (wie Fn. 29), S. 197. PNF, Il Partito Nazionale Fascista, Rom 1936, S. 94. Zur Ente Opere assistenziali siehe: Silvia Inaudi, A tutti indistintamente: l’Ente opere assistenziali nel periodo fascista, Bologna 2008. Baris, Il fascismo in provincia (wie Fn. 7), S. 148. Dogliani, L’Italia (wie Fn. 40), S. 88. Die Wichtigkeit des Parteibuches für den sozialen Aufstieg behielt ihre Relevanz in der Öffentlichkeit auch nach dem Krieg bei. Die Kritik am politischen Klientelismus wurde zum Leitfaden des politischen Diskurses in der Republik. Abgesehen von moralischen Erwägungen

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Parteibuch ermöglichte zudem eine Karriere in den faschistischen Organisationen und stellte damit einen anderen Weg zum sozialen Aufstieg dar. Besonders unter dem Generalsekretär Starace stieg nicht nur die Zahl der Mitglieder, sondern auch die der Parteikader und der Angestellten im Parteiapparat. 1943 zählte die Partei 8.838 Angestellte, von denen 7.742 in den Provinzen eingesetzt waren. Das Gehalt für diese Mitarbeiter betrug 70 Millionen Lire.77 Wenn man dann noch die Angestellten in den anderen Parteiorganisationen dazu rechnet – 1931 zählte allein die Jugendorganisation 35.000 Ausbilder78 -, hatte sich die Zahl der Arbeitsplätze bzw. Nebenbeschäftigungen im politischen Bereich bedeutend vergrößert. Obwohl zuverlässige Gesamtzahlen noch fehlen, steht fest, dass die Partei ein wichtiger Arbeitgeber war, und zwar besonders auf der lokalen Ebene. In Arezzo beispielweise waren vor dem Krieg 30 Parteikader und 200 Mitarbeiter bei der Partei angestellt. Das Gehalt des lokalen Parteisekretärs betrug mehr als 5.000 Lire im Monat79, eine bemerkenswerte Summe, wenn man an die üblichen Gehälter im öffentlichen Dienst denkt.80 Was die Legitimationsprozesse des Regimes anbelangt, spielte die Arbeitsbeschaffung durch den Staat bzw. die Partei eine wichtige Rolle. Inwieweit diese Loyalität an die faschistische Ideologie oder an den Arbeitgeber gebunden war, ist schwer zu sagen. Was die Stabilisierung des Regimes anbelangt, waren jedoch Fürsorgemaßnahmen durch die Partei und die Arbeitsbeschaffung durch bürokratische Apparate keine marginalen Elemente. Hinzu kommt aber die unter Historikern viel diskutierte Antinomie zwischen Konsens und Opposition im Faschismus,81 die allerdings inzwischen überholt zu sein scheint. Dies ist nicht nur auf das Fazit, dass Konsens in einer Diktatur nicht existieren kann, zurückzuführen, sondern auch auf das Bewusstsein der Komplexität des Verhältnisses zwischen Machthabern und Staatsbürgern. In diesem Zusammenhang haben die Studien über die kommunistischen Diktaturen nach der Wende und über den Zusammenbruch der Sowjetunion neue Elemente ans Licht gebracht, die auch auf die Faschismusforschung übertragen werden konnten.82 Die Alterna-

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sollte man sich fragen, ob dieser Weg zum sozialen Aufstieg nicht als ein Zeichen einer sozialen Immobilität bzw. Geschlossenheit der italienischen Gesellschaft zu betrachten ist. Giovanna Tosatti, Impiegati, in: Victoria De Grazia / Sergio Luzzato (Hg.), Dizionario del Fascismo, Bd. 1, Turin 2002, S. 601. Lyttelton, La dittatura fascista (wie Fn. 47), S. 224. Ragionieri, La storia Politica (wie Fn. 43), S. 2225. 1939 umfasste das jährliche Gehaltsniveau des öffentlichen Dienstes von 6.200 Lire (Angestellte) bis zu 52.600 Lire (Präfekt). Doch die Angestellten einer Gemeinde verdienten viel weniger, u. U. auch weniger als 1.000 Lire im Jahr; Siehe: Tosatti, Impiegati (wie Fn. 78), S. 601. Zur alten Debatte innerhalb der italienischen Faschismusforschung siehe: Tommaso Baris/ Alessio Gagliardi, Le controversie sul fascismo degli anni Settanta e Ottanta, in: Studi storici, 55 (2014), S. 317–333. Renato Camurri / Stefano Cavazza / Marco Palla, Fascismi locali: considerazioni preliminari, in: Fascismi locali (wie Fn. 1), S. 275; Paul Corner, Introduction, in: Popular Opinion (wie Fn. 70), S. 9; Stefano Cavazza, Miti e consenso durante il fascismo, in: Angelo Varni (Hg.), Storia di Bologna. Bologna in età contemporanea 1915–2000, Bologna 2013, S. 480–482.

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tive Konsens oder Opposition wird heute als Vereinfachung betrachtet,83 weil die Menschen in jedem Regime unterschiedliche Haltungen gegenüber den Machthabern einnehmen. Obwohl es an dieser Stelle nicht möglich ist, eine Diskussion über dieses Thema zu führen, ist hervorzuheben, dass das Thema der Parteiorganisation vor Ort eng mit dieser Fragestellung verbunden ist. Ob die Partei als Organisation vor Ort erfolgreich war, ist aber fragwürdig. Denn einerseits war es zwar für sie schwer, ihre Ziele umzusetzen, wie die Studie von Paul Corner zeigt, und außerdem war die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Korruption und dem Klientelismus innerhalb der Partei nicht zu unterschätzen.84 Andererseits entsprachen das große Angebot von Arbeitsstellen in den Parteiorganisationen, zahlreiche Freizeitangebote und Fürsorgeaktionen sowie die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs durch das Parteibuch Bedürfnissen in der Bevölkerung. Für die Ausbildung des „neuen“ faschistischen Menschen war das aber wahrscheinlich zu wenig. Um die Diktatur zu stabilisieren, also im Sinne von Max Weber zu legitimieren, hätten diese Gegebenheiten ausreichen können, solange es keine wirkliche Alternative gab oder sich die äußere Situation nicht veränderte. Bei Ausbruch des Krieges wurde aber offensichtlich, dass sich die Partei vom Parade- und Fürsorgeapparat nicht so einfach in eine Partei verwandeln konnte, die die Bevölkerung für den Krieg mobilisierte.

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„Simplistic models seeking to make clear distinctions between ‚regime‘ and ‚people‘, ‚state‘ and ‚society‘, ‚support‘ and ‚opposition‘ are clearly inadequate to explore the complex and often ambivalent ways in which people interact with, respond to, and make their way through dictatorial regimes, where they may approve of some policies, be adversely affected by others, and have a variety of conflicting opinions and changing motives as they are caught up in and seek to live their lives through a constantly changing apparatus of mobilization and control.“ (Mary Fulbrook, Demography, Opportunity or Ideological Conversion? Reflections on the Role of the ‚Second Hitler Youth Generation‘, or ‚1929ers‘, in the GDR, in: Popular Opinion (wie Fn. 70), S. 184). Ausführlicher Mary Fulbrook, The State and the Transformation of Political Legitimacy in East and West Germany since 1945, in: Comparative Studies in Society and History, 29 (1987), S. 211–244. Corner, Popular Opinion (wie Fn. 70).

DIE SOZIALPOLITIK DER FASCHISTISCHEN PARTEI* Chiara Giorgi 1. EINLEITUNG Im Faschismus nahm die Politik eine dominierende Stellung bei der Organisation und Verwaltung des nationalen Sozialleistungssystems ein. Insbesondere ab der zweiten Hälfte der 20er Jahre und vor allem im Verlauf der 30er Jahre prägten die auf breiten Konsens in der Bevölkerung ausgerichteten propagandistischen Ziele des Regimes einen großen Teil der Maßnahmen, die auf dem Gebiet der Fürsorge und der sozialen Vorsorge eingeleitet wurden. Die Instrumentalisierung der Sozialgesetzgebung und der sozialen Vorsorge, die vom Regime mit ungeheurem propagandistischen Aufwand betrieben wurde, hatte nämlich zum Ziel, die politische Vorherrschaft und den Machtanspruch der Faschisten besonders in den gesellschaftlichen Schlüsselsektoren zu konsolidieren. Zu diesem Zweck bemächtigte sich das Regime auch der „Werkzeuge“ der sozialen Vorsorge. Dabei handelte es sich – wie im Folgenden näher ausgeführt wird – um den größten italienischen Sozialversicherungsträger Istituto nazionale fascista di previdenza sociale (Italienische Faschistische Sozialversicherungsanstalt, abgekürzt INFPS), und um die für die staatliche Fürsorge zuständige Einrichtung der Partei, die Ente Opere Assistenziali (Amt für Hilfswerke, abgekürzt EOA). Zudem überschneiden sich die Jahre des Faschismus mit dem historischen Zeitraum, der – nicht nur in Italien, sondern auch in anderen europäischen Staaten – für die Entwicklung der nationalen Modelle des Sozialstaates entscheidend war. Das INFPS als zuständiges Organ für die Wohlfahrtspolitik war Ausdruck für die tiefgreifenden Veränderungen der staatlichen Sozialsysteme in der Zwischenkriegszeit und prägte die Modernisierung Italiens wesentlich mit. Gleichzeitig führte gerade die auf das Ziel der sozialen Kontrolle ausgerichtete Instrumentalisierung der neuen italienischen Sozialgesetzgebung zu einer engmaschigen Präsenz der Einheitspartei, der Faschistischen Partei Italiens (Partito nazionale fascista – PNF), in den für soziale Vorsorge und Assistenz zuständigen Einrichtungen. Auf diese Weise bestätigte die Partei ihre Rolle als unabdingbare Mittlerin zwischen den Bürgern und der staatlichen Institution generell. Die Neuheit, die sich in der Zwischenkriegszeit im Kontext der „vom Faschismus durchgeführten konstitutionellen Revolution“ herausbildete, betraf die „Natur“ des PNF, der „die Leitung dessen, was wir heute als welfare state bezeichnen würden“, übernahm: „also die Verwaltung eines beträchtlichen Anteils der staatlichen Wohlfahrt, *

Übersetzung Evelyn Wellding, überarbeitet von Christian Jansen.

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die Stellenvermittlung, die Verteilung oder – genauer gesagt – die Reglementierung der Stellenvergabe im öffentlichen Dienst, das Management einiger für den Konsens in der Bevölkerung bedeutender sozialer Probleme.“1 Mein Beitrag wird sich daher auf drei Schwerpunkte konzentrieren: Erstens sollen die typischen Merkmale, die das Sozialversicherungswesen während des faschistischen Regimes angenommen hat, untersucht werden – und zwar besonders zu dem Zeitpunkt, als sich dieses zu einem der Hauptelemente der sozialen Konsolidierung des Regimes entwickelte. Im Anschluss daran soll aufgezeigt werden, wie der wichtigste italienische Sozialversicherungsträger, der für die Umsetzung der Vorsorgepolitik zuständig war, den Zielen der faschistischen Sozialpolitik „unterworfen“ wurde und dabei einige seiner ursprünglichen Aufgabenbereiche, die die Wahrung der Interessen der Versicherten und ihres Vermögens betrafen, verlor. Gleichzeitig soll hier die Schlüsselrolle untersucht werden, die das INFPS bei der Kontrolle über Italien einnahm: Dank seiner dezentralisierten Zweigstellen wurde es zu einem der großen administrativen Kommunikationssysteme des Regimes und wirkte sowohl bei der Bildung eines politischen Konsens in der Bevölkerung als auch bei der lokalen Sozialpolitik selbst mit. Man holte bei den Niederlassungen des Instituts in den einzelnen Provinzen seine Rente ab, die von der Propaganda als Schöpfung des Regimes und seines Duce gefeiert wurden; das Institut war in die diversen vom Regime organisierten kulturellen und sozialen Veranstaltungen und Aktivitäten eingebunden; es war auf nationaler Ebene an verschiedensten Finanzgeschäften beteiligt; es verfügte landesweit über Krankenhäuser und Kliniken, die bedürftigen Bürgern offen standen. Vor allen Dingen aber musste das Institut seine Tätigkeit den Erfordernissen des Regimes unterordnen, dem Druck und den Forderungen der Partei und deren Provinzverbänden nachgeben, die das Institut mit seinen dezentralen Zweigstellen als soziales und politisches Kontrollorgan auszunutzen.2 Abschließend soll das Wohlfahrtssystem untersucht werden, wobei sich einige ungewöhnliche Aspekte hinsichtlich der Umsetzung von Regierungsmaßnahmen zeigen werden. 2. ZWISCHEN DIKTAT UND KONZESSIONEN Ende der 30er Jahre schrieb Benito Mussolini in erregtem Ton an den damaligen Präsidenten des INFPS, dass er die Feier zum 20jährigen Jubiläum des Faschismus „mit einem großen Schritt nach vorn auf dem Weg zu einer Sozialgesetzgebung, die 1

2

So Paolo Pombeni, Il partito fascista, in Angelo Del Boca u. a. (Hg.), Il regime fascista. Storia e storiografia, Rom 1995, S. 207; ders., Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma-partito del fascismo, Bologna 1984, S. 261. Zur Vertiefung sei verwiesen auf Massimilano Gregorio, Parte totale. Le dottrine costituzionali del partito politico in Italia tra Otto e Novecento, Mailand 2013. Diesbezüglich sei auf analoge Erwägungen hingewiesen, in: Chiara Giorgi, The Allure of Welfare State in Giulia Albanese / Roberta Pergher (Hg.), In the Society of Fascists. Acclamation, Acquiescence, and Agency in Mussolini’s Italy, New York 2012, S. 131–148.

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die Distanzen verkürzt“3, begehen wolle. Dabei spielte er sicherlich auf die Distanz zwischen dem faschistischen Staat und den Italienern an – den „Massen“, die gemäß den totalitären Absichten des Regimes zu einem einzigen Körper, zu einer Nation geschmiedet und vereint werden sollten. So gesehen zeigte sich in den Worten Mussolinis der klare faschistische Wille, die soziale Vorsorge noch stärker als bisher zu einem der Hauptinstrumente der Regierung und der Propaganda zu machen. In der Tat gehen gerade die zentralen Jahre des Faschismus mit bedeutenden Gesetzen zur Sozialpolitik einher, die darauf abzielten, breite Schichten der Bevölkerung ins System zu integrieren und zu kontrollieren. Die während des Faschismus entstandenen Charakteristiken des nationalen Sozialleistungssystems überlebten den Fall des Regimes und trugen zur Entstehung des für Italien so typischen Modells des sogenannten „partikularistisch-klientelistischen“ Sozialstaates bei.4 Generell sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Thema Wohlfahrt unabhängig vom gerade herrschenden System „einen Trumpf darstellt, den die Politiker in dem Moment ausspielen, wenn sie ihre Regierungsprogramme vorstellen“5 – im Fall Italiens jedoch scheinen bereits seit der faschistischen Ära politische Ziele mit dem Ziel der Sozialkontrolle eine besonders wichtige Rolle gespielt zu haben. Schon seit ihrer Einführung in der Epoche des Liberalismus gab es keine allgemeine Sozialgesetzgebung, sondern insgesamt nur sehr begrenzte und regional und von Branche zu Branche sehr unterschiedliche Bestimmungen; es war aber letztendlich das faschistische Regime, das „die Entscheidung zur Fragmentierung des Arbeitsmarktes“6 bestätigte und bekräftigte. Das Regime stützte sich auf das bereits seit dem Jahr 1919 bestehende System der Pflichtversicherung und erließ im Laufe der Zeit weitere Maßnahmen im Bereich der Sozialversicherung und der sozialen Vorsorge, die auf einige ausgewählte und fragmentierte Sektoren des Arbeitsmarktes gezielt waren. So wurde zum Beispiel im Verlauf der 20er Jahre die Kategorie der Landarbeiter benachteiligt, indem man sie aus der Arbeitslosenversicherung ausschloss, während im gleichen Zeitraum andere Berufsgruppen durch zahlreiche Maßnahmen, beispielsweise durch eine Ausdehnung des Versicherungsschutzes, begünstigt wurden. In der Regel geschah dies aus politischem Kalkül und diente dem Werben um Konsens. 3 4

5

6

Benito Mussolini, am 24. November 1939 an Bruno Biagi, in Archivio Centrale dello Stato, Segreteria particolare del Duce, Gewöhnlicher Brief (1922–43), b. 509.562 „Istituto Naz. della Previdenza Sociale“ (INPS). Maurizio Ferrera, Il Welfare state in Italia. Sviluppo e crisi in prospettiva comparata, Bologna 1984, S. 36. Vgl. Ugo Ascoli, Il sistema italiano di welfare und Massimo Paci, Il sistema di welfare italiano tra tradizione clientelare e prospettive di riforma, beide in: Ugo Ascoli (Hg.), Welfare state all’italiana, Rom 1984. Franco Bonelli, L’evoluzione del sistema previdenziale italiano in una visione di lungo periodo in: INPS, Novant’anni di previdenza in Italia: culture, politiche, strutture, Tagungsakten. Rom 9.–10. November 1988, S. 140, und ders. Appunti sul „Welfare State“ in Italia, in: Studi storici 2–3 (1992), S. 669–680. Maurizio Ferrera, Modelli di solidarietà. Politiche e riforme sociali nelle democrazie, Bologna 1993, S. 201.

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Während sich in einigen europäischen Ländern ein universelles Verständnis vom Welfare-Staat durchsetzte, in den alle Staatsbürger – unabhängig von ihrer beruflichen Position, den geleisteten Beitragszahlungen oder ihrem aktuellen Beschäftigungsstand – einbezogen waren, war in Italien das Gegenteil der Fall: Die im Faschismus auf dem Gebiet des welfare eingeführten Maßnahmen waren eine Frage des Ermessens und bezogen sich nur auf einzelne Sektoren und Beschäftigungskategorien. Eng daran gebunden war die Tatsache, dass das Regime die Bewilligung einiger (sehr begrenzter) Vorsorgeleistungen gegen politische Rechte ausspielte. Die faschistische Politik bediente sich des Mittels der ökonomischen Anreize sowie sozialer Vergünstigungen, um den Mangel an politischen Rechten und Grundfreiheiten auszugleichen. Dabei handelte es sich um die Art von Konzessionen, wie sie von totalitären Staaten zur „Neutralisierung“ der politischen Gegner und zur Einbeziehung bestimmter Gesellschaftsgruppen, die „relativ außerhalb der Reichweite des Staates liegen“7, verabschiedet werden. Es waren also keine staatsbürgerlichen Errungenschaften, sondern Zugeständnisse, die Teil eines Regierungsprojekts zur Schaffung eines einheitlichen, aber stark differenzierten Volkskörpers waren, dessen „höheren Bedürfnissen“, wie eine der zahlreichen Werbebroschüren der INFPS besagte, sich „jeder Arbeitende beugen musste“8. Die Arbeitnehmer waren zum einen in das System eingebunden, da sie Pflichtbeiträge bezahlten bzw. weil sie zur Produktion beitrugen, nicht etwa weil sie Rechtssubjekte waren. Zum anderen war der Zugang zum Sozialsystem nicht allen Arbeitskräften gestattet (ausgeschlossen waren beispielsweise Landarbeiter und Haushaltshilfen) und nur über eine Reihe ebenso verpflichtender wie „disziplinierender“ Prozeduren zu erlangen. Um etwa Arbeitslosenunterstützung zu bekommen, musste man sich auch „von Kommissionen, die aus Funktionären mit spezifischen Kompetenzen sowie aus lokalen Vertretern der Staatsmacht inklusive Vertretern des örtlichen PNF und der Gemeindeverwaltung“9 zusammengesetzt waren, prüfen lassen. Außerdem musste der Antragsteller eine detaillierte Aufstellung über die gesundheitliche und finanzielle Situation seiner gesamten Familie vorlegen sowie die Zustimmung moralisch integrer Personen in Kontrollpositionen vorweisen: der visitatrici fasciste (faschistischen Besucherinnen). Deren Aufgabe war es, Berichte über die betroffene Person oder Familie zu verfassen, auf deren Grundlage über eine Zuteilung oder Bewilligung der beantragten Sozialleistung entschieden wurde – im Mittelpunkt stand jeweils die moralische und politische Integrität des 7 8 9

Paul Corner, Fascismo e controllo sociale, in: Italia contemporanea 228 (2002), S. 396. Istituto nazionale fascista della previdenza sociale, Al di là del lavoro e al di là del salario, Rom 1942, S. 10. Corner, Fascismo (wie Fn. 7), S. 398–99. Wie der Autor erklärt, war das Urteil der „visitatrici“ (Besucherinnen) entscheidend dafür, ob eine Frau die Möglichkeit für einen Aufenthalt in einer Klinik der Opera nazionale maternità e infanzia (OMNI) erhielt. Hierzu wird verwiesen auf Chiara Saraceno, Costruzione della maternità e della paternità, in: Angelo Del Boca u. a. (Hg.), Il Regime fascista, Rom 1995 und auf Michela Minesso (Hg), Stato e infanzia nell’Italia contemporanea, Bologna 2007.

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Antragstellers. Die Sozialleistungen mit ihrem konzessionsmäßigen Charakter unterlagen also der Genehmigung durch das Regime, der „Antwort“ der Leistungsempfänger (hinsichtlich Beteiligung und Integration) sowie dem Ermessen verschiedener für das soziale Versicherungs- und Wohlfahrtssystem zuständiger Institutionen. Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die staatliche Fürsorge, um die sich bezeichnenderweise die Ente Opere Assistenziali (EOA), ein Organ der Faschistischen Partei, mittels gezielter politischer und klientelistischer Maßnahmen kümmerte, die in einen Prozess der „Politisierung der mit der Hilfe verbundenen Personen“ eingebettet waren. Die oft Züge von Wohltätigkeit annehmende Sozialfürsorge wurde also nicht als öffentliche Aufgabe wahrgenommen, sondern als eine Leistung der faschistischen Einheitspartei. Die Regierung wählte nach eigenem Ermessen Aktionsbereiche und Begünstigte und verfolgte damit gezielt politische und klientelistische Ziele. Auch die Rolle der Fürsorge gegenüber den ärmsten Schichten darf nicht außer Acht gelassen werden, und zwar vor allem bezüglich des Eindringens der faschistischen Partei und ihrer Ausläufer in allerprivateste Bereiche sowie bezüglich der Möglichkeit für das Regime, eine höhere soziale Akzeptanz durch die Verabschiedung gewisser Wohlfahrtsmaßnahmen zu erzielen.10 Hinsichtlich der Fürsorge ist das Beispiel der Invaliditätsrenten äußerst signifikant: In vielen INFPS-Niederlassungen in den Provinzen konnte man zahlreiche Fälle extremer „Elastizität“ bei ihrer Bewilligung feststellen. Dieses Phänomen trat in der Tat dort auf, wo der Direktor der Niederlassung direkt Einfluss auf das Antragsverfahren genommen hatte, oft „im Widerspruch zu den Antworten des Amtsarztes auf die gerichtsärztlichen Fragen“. Die Bewilligung von Renten gehorchte nämlich einer Logik, die dem Sozialversicherungswesen nicht wirklich innewohnt, die aber das INPFS zur Bewilligung nicht gerechtfertigter Pensionsleistungen veranlasste – und dabei sind, wie man in den Prüfberichten zur Kontrolle über die Leistungen der Provinzniederlassungen behauptete, „die Bewilligungen außer Acht gelassen, die tatsächlich auf Fürsprache einflussreicher Persönlichkeiten, von Freunden oder Bekannten gewährt wurden“11. Auch Fälle dieser Art gab es zuhauf. Generell gesehen stieg seit den 30er Jahren die Zahl der Invalidenrenten im Vergleich zu den Altersrenten kontinuierlich, ja übertraf sie sogar bis zum Ende des Jahrzehnts. In diesem Sinne erhielt die Invalidenrente während des Faschismus nach und nach eine andere, nicht an ihren ursprünglichen Zweck gebundene Funktion. Ihre große „Popularität“ verdankte sie der leichten Zugänglichkeit und der großen Nachsicht, die bei ihrer Bewilligung waltete – und nicht selten auch dem Druck seitens der PNF-Verbände. Ein weiteres Beispiel sind die Berechtigungsausweise für Sozialleistungen und Renten, die zu einem Kontrollinstrument beziehungsweise einem zusätzlichen Mit10 11

Silvia Inaudi, A tutti indistintamente: l’Ente opere assistenziali nel periodo fascista, Bologna 2008, S. 14. Inchiesta circa servizio pensioni, luglio 1937, Servizio ispettivo, sede di Torino, in: Archiv INPS.

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tel der politischen Propaganda wurden. Statt als das angesehen zu werden, was sie wirklich waren, nämlich eine auf Pflichtbeiträgen beruhende Leistung, wurden die Renten als „Prämie“ maskiert, die direkt vom „Duce“ und aus dessen Güte heraus aufgebracht wurden. Der Zugang zu jedweder Leistung des sozialen Für- und Vorsorgesystems war an das Urteil verschiedener faschistischer oder dem Faschismus nahestehender Autoritäten gebunden12. Das Regime wollte eine allgemeine Zustimmung zum faschistischen Nationalstaat erreichen, indem es die traditionelle Klassenschranken überwand und die soziale Zusammenarbeit beschwor, auf die der Propagandaapparat mit zunehmender Kraft sein Augenmerk richtete.13 Da verwundert es nicht, dass zu den Beweggründen für die faschistische Sozialgesetzgebung – außer der Absicht, eine regimefreundliche öffentliche Meinung zu schaffen und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise abzufedern – auch der politische Aspekt der imperialistischen Expansion des Faschismus zählte. Besonders die Maßnahmen zur Geburtenförderung und zum Mutterschutz (1939 wurde zum Beispiel die Mutterschaftsversicherung durch die Heirats- und Geburtenversicherung (assicurazione di nuzialità e natalità) ersetzt) hatten demografische Funktion und gehorchten auch dem typisch faschistischen Slogan „Molti, sani e forti“ („zahlreich, gesund und stark“). So stützte sich die vom faschistischen Regime verfolgte innere, aber auch äußere Machtentfaltung auf das Wohlfahrtssystem sowie auf die neuen und erweiterten Sozialmaßnahmen, die im Laufe der 30er Jahre in diesem Bereich ergriffen worden waren. Die neuen Generationen von Italienern sollten gesund und stark sein, bereit, die „zukünftigen Expansionskriege“ des Regimes auszukämpfen.14 Die Zeit der größten Anstrengungen des Regimes auf dem Gebiet der Sozialleistungen (man spricht hier von einer expansiven Phase)15, begann bereits in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. In diesem Sinne – und stets unter dem Aspekt der Kontrolle und sozialen Konsolidierung – wurden zwischen den Jahren 1926/’27 bzw. ab dem Beschluss der Carta del Lavoro („Arbeitscharta“)16 Maßnahmen ergriffen, die die soziale Absicherung auf mehrere (ausgewählte, doch fragmentierte) soziale Bereiche ausdehnten; die Zahl der Versicherten stieg, und vor allem wuchsen die Anstrengungen bei der Organisation des Sozialsystems.17 12 13 14 15 16

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Wie Corner, Fascismo (wie Fn. 7), S. 399, richtigerweise beobachtet hat. Victoria De Grazia, Consenso e cultura di massa nell’Italia fascista, Rom 1981, S. 4. Lorenzo Gaeta, L’Italia e lo Stato sociale. Dall’Unità alla seconda guerra mondiale, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Storia dello Stato sociale, Rom 1996, S. 238. Cfr. Arnaldo Cherubini, Storia della previdenza sociale, Rom 1977; Arnaldo Cherubini / Italo Piva, Dalla libertà all’obbligo. La previdenza sociale fra Giolitti e Mussolini, Mailand 1998. Besonders die Punkte XXVI und XVII und XXVIII der Charta del Lavoro bezogen sich auf: die Vorsorge, die als höchste Manifestation des Prinzips der Zusammenarbeit zwischen den Klassen definiert wurde, auf die Entwicklung einiger Versicherungsaspekte und auf den gewerkschaftlichen Schutz bei Verwaltungspraktiken und Rechtsfragen im Bereich der Unfallund Sozialversicherungen. Vgl. Francesco Mazzini, Il sistema previdenziale in Italia fra riforma e conservazione: gli anni della Costituente, in: Andrea Orsi Battaglioni (Hg.), Amministrazione pubblica e istituzioni finanziarie fra Assemblea Costituente e politica della ricostruzione, Bologna 1980, S. 522.

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3. DIE VORSORGE UND DIE PARTEI: DAS NATIONALE FASCHISTISCHE INSTITUT FÜR SOZIALE VORSORGE (ISTITUTO NAZIONALE FASCISTA DELLA PREVIDENZA SOCIALE) Das INFPS repräsentierte zweifellos die faschistische Behörde schlechthin. Das in der Liberalen Ära gegründete und vom Regime übernommene Institut erhielt in den 30er Jahren (1933) seinen Namen, der – bis auf das F für faschistisch – bis heute beibehalten wurde. Bereits ab den 20er Jahren kam es zu bedeutenden Veränderungen innerhalb des Vorsorgesystems des Instituts, das im Laufe der Zeit neue Aufgaben übernahm, die allmählich seinen Charakter veränderten. Das Institut verlor so nach und nach seine Autonomie und spezifische Funktion als Finanzbehörde, die doch der Logik des Versicherungswesens zu gehorchen hatte, und machte sich stattdessen die sozialen Ziele der faschistischen Politik zu eigen. Die neue organisatorische und finanzielle Expansion erfolgte nicht etwa aufgrund von Entscheidungen und auf Initiativen der leitenden Beamten des Instituts, sondern durch einen externen Anstoß, der bezeugt, dass das wichtigste Organ der nationalen Sozialvorsorge eine instrumentelle Rolle im sozialpolitischen Programm des Regimes innehatte. Im Zuge dieser allgemeinen Umformung wandelte sich auch die Verwaltungsstruktur: Von einer „schlanken“ Verwaltung wie andere öffentliche Wirtschafts- und Finanzkörperschaften ging man zu einem komplexeren, einer Ministerialverwaltung ähnlichen System über. Der einstige Rentenversorger INFPS verwandelte sich in eine große Wohlfahrtsbehörde, die auch Krankenhäuser und Kliniken führte.18 Die Aufgaben des Instituts wuchsen, ebenso die Kompetenzen und die Eingriffsbefugnis in Bereiche, die oft nichts mehr mit dem Sozialversicherungswesen zu tun hatten, wie zum Beispiel Immobiliengeschäfte, medizinisch-gesundheitliche oder mit der demografischen Politik des Regimes verbundene Angelegenheiten. Innerhalb der Reformen von 1935, einer wichtigen Neuordnung der Sozialgesetzgebung, erschien ein neuer Gesetzestext, der die Aufgaben der EOA nicht nur im Bereich der Vorsorge, sondern auch im Fürsorge- sowie im kulturellen und propagandistischen Bereich umriss. Von Bedeutung war an diesem Wendepunkt die Konzentration der Macht auf die Figur des Präsidenten und Generaldirektors, der personelle Wechsel an der Behördenspitze (hin zu immer mehr faschistischen Parteigängern) und vor allem neue Verfügungen hinsichtlich der Finanzgeschäfte, der Bilanz und der Verwendung der Fonds des Instituts. Das INFPS musste daher in diesen Jahren, laut einer internen Veröffentlichung, eine steigende Zahl an „Initiativen von höchster sozialer Tragweite“ umsetzen. Die beeindruckendste unter diesen sei „die demografische Kolonisierung Libyens mit 18

Es sei im Detail verwiesen auf Chiara Giorgi, La previdenza del regime. Storia dell’Inps durante il fascismo, Bologna 2004. Siehe auch Guido Melis, L’organizzazione della gestione: l’INPS nel sistema amministrativo italiano (1923–1943), in INPS, Novant’anni (wie Fn. 5); Fabio Bertini, Il fascismo dalle assicurazioni per i lavoratori allo stato sociale, in: Marco Palla (Hg.), Lo Stato fascista, Florenz 2001.

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der Urbarmachung, der Aufteilung und der Zuteilung von etwa 1.000 Landgütern an Kolonisten […] mit einer Investition von zirka 250 Millionen Lire in Vorkriegswährung“19 gewesen. Das war die Art, in der der Faschismus die großen finanziellen Reserven des Instituts verwendete – zur Finanzierung von Projekten zur Landgewinnung, für Maßnahmen zur industriellen Sanierung, für die Eroberungen in Afrika, für die Aufteilung der Kolonien in Landgüter, für Kommunikation, für den sozialen Wohnungsbau und so weiter. Im Verlauf der zwei faschistischen Jahrzehnte gab das Institut auch seinen Aktivitäten im Gesundheitswesen starke Impulse, indem es die Einrichtung von Erholungsheimen, Thermalbädern und Ferienlagern förderte – was bei jeder größeren Kundgebung als Wohlfahrtsleistung des Regimes propagandistisch aufbereitet wurde. Die Logik des Faschismus sah vor, immer mehr strategische Bereiche des Sozialsystems an sich zu ziehen und das INFPS als Instrument zur Bindung an das Regime zu nutzen, was einen Prozess der Bürokratisierung einleitete und ein Wachstum des Instituts ohnegleichen nach sich zog. Angesichts des Verwaltungsaufwands einer stetig wachsenden Zahl von Versicherungen verlor die Behörde ihre Effizienz wie auch ihre Autonomie. Die erbrachten Sozialleistungen lagen zumeist unter den eingezahlten Beiträgen, und die Rendite des Instituts tendierte – verursacht durch ungünstige Finanzgeschäfte, die völlig abseits der Natur der EOA als Sozialversicherungs- und Rententräger lagen – mehr und mehr abwärts20. Das INFPS wurde so zum Träger der gesamten Sozialversicherung, zur zentralen Behörde, die eine Vielfalt an differenzierten Versicherungsformen und einzelner Versicherungsverträge gleichzeitig vorhielt. Zu den Maßnahmen, die die größten Auswirkungen zeigten, zählten die 1934 eingeführten assegni familiari. Diese Familienbeihilfen sollten der Sozialgesetzgebung – ganz im Sinne der demografischen Politik des Regimes – eine familienorientierte Prägung verleihen. Sie waren ebenso wie die Umwandlung der Mutterschutzversicherung in eine Heirats- und Geburtenversicherung Teil des faschistischen Programms zur Stärkung der Familie. Wie dem auch sei – das beträchtliche Vermögen der INFPS floss oft in Aktivitäten, die die Qualität und das Niveau der Versicherungsleistungen gefährdeten, war aber äußerst zweckmäßig bei der Befriedigung der spezifischen klientelpolitischen Bedürfnisse des faschistischen Italien. So ist es zum Beispiel bezeichnend, dass sich gerade innerhalb des Führungsorgans des INFPS eine heftige Debatte um den widersprüchlichen Status der Behörde entwickelte. Der Widerspruch nährte sich aus dem Anspruch der Führungselite, das Institut solle seine Autonomie sowie eine rigide Finanzverwaltung und sichere Investitionspolitik beibehalten, gleichzeitig aber Promotor und Verwalter von Initiativen sein, die in eine Politik eingebun19 20

INPS, Il primo settantennio di attività dell’INPS attraverso la legislazione previdenziale, Rom 1970, S. 256. Zum Beispiel beliefen sich die in den Jahren 1920–1929 erbrachten Sozialleistungen auf nur 948 Millionen Lire gegenüber Einnahmen von 5.340 Milliarden, in der Zeit von 1930 bis 1939 hingegen wurden 11.168 Milliarden an Beiträgen eingenommen und 8.971 Milliarden an Sozialleistungen bezahlt.

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den waren, deren Leitlinien in der Regierung und in der Führung der Faschistischen Partei entschieden wurden. Die wohl offensichtlichste Konsequenz all dessen war, dass die nationale Sozialgesetzgebung nie eine universalistische Dimension erreichte. Ganz im Gegenteil schuf sie ein System, das einer „Art Harlekin-Kostüm“21 glich, in dem sich jede einzelne Berufskategorie mit ihren jeweiligen spezifischen Bedürfnissen widerspiegelte. Die Fragmentierung der Empfänger von Vorsorgeleistungen, die Begünstigungen, die Diskriminierung beherrschten in höchstem Maße die Sozialversicherungspolitik des Regimes, das vor allem danach trachtete, ihm politisch nahestehenden Leistungsempfänger „zu protegieren und zu umwerben“.22 Bezeichnenderweise wurde in einer Publikation, die die Koordinaten des Sozialsystems in den frühen 40er Jahren aufzeigen sollte, in rechtfertigendem Ton geschrieben, dass das INFPS nicht „nur der höchste Organismus“ sei, „in dem zahlreiche Versicherungssektoren koordiniert und vereint sind, sondern auch ein sehr wirksames Mittel zum politischen Handeln ist, das sich von seinem Ziel, von seiner Struktur und seinen Methoden her mit der Doktrin des faschistischen Korporativstaates in perfektem Einklang befindet“.23 Diese Aussage belegt bestens, was aus dem Institut geworden war: ein den politischen Beschlüssen des Regimes und seiner Partei untergeordnetes Organ. Dabei bediente sich das Regime des PNF als einzigen Kanal, über den die Bürger „die Anerkennung ihrer Rechte im Bereich der Sozialleistungen und der Gesundheitsvorsorge“24 erreichen konnten. Allgemeiner ausgedrückt: Während des Faschismus koexistierten Elemente der Repression, der Neutralisierung der Opposition, der Integration und der Akzeptanz. Die Möglichkeit, Zugang zu Vergünstigungen verschiedenster Natur zu haben, war „das zentrale Element eines Anpassungsprozesses“ globalen Charakters, bei dem die Partei die zentrale Rolle spielte.25 Der Faschismus, der sich rühmte, eines der modernsten Sozialleistungssysteme Europas geschaffen zu haben, bediente sich eines vielgliedrigen Systems, in das alle Arbeitnehmer als Produktionsfaktoren (und nicht als Staatsangehörige) eingebunden waren; eines Systems, in dem die Versorgung mit Sozialleistungen eher den Kriterien der eigenen Konsolidierung entsprach als denen der sozialen Gerechtigkeit und der Bekämpfung von Armut und Bedürftigkeit.26 Der Faschismus propagierte jede seiner Maßnahmen wie eine Verpflichtung des Landes dem Duce gegenüber; er benutzte die Wohlfahrtsprogramme für ein modernes System der sozialen Kontrolle, wobei er die „zugelassenen“ Leistungsempfänger zur Teilnahme zwang. 21 22 23 24 25 26

Domenico Preti, Istituto nazionale fascista per la previdenza sociale (Infps), in: Victoria De Grazia / Sergio Luzzatto (Hg.), Dizionario del fascismo, Bd. I, Turin 2002, S. 695. Mazzini, Il sistema (wie Fn. 17), S. 521. Istituto nazionale fascista delle previdenza sociale, La previdenza sociale, Rom 1941, S. 7. Mariuccia Salvati, Lo Stato sociale in Italia: caratteri originali e motivi di una crisi, in: Passato e presente 32 (1994), S. 25. Corner, Fascismo (wie Fn. 7), S. 395 (Tim Mason aufgreifend). Ebenda.

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4. TERRITORIALE DYNAMIKEN UND DAS VORSORGESYSTEM ALS RESSOURCE Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg, bei der Einführung der Pflichtversicherung, zeichnete sich ab, dass ein dezentrales System geschaffen werden musste, um das Funktionieren der Sozialversicherung in den Provinzen im Einklang mit den Richtlinien der Zentralverwaltung garantieren zu können. Insbesondere seit den 30er Jahren aber erlangte die territoriale Strukturierung der Sozialversicherungsanstalt eine weitverzweigte Gliederung, und dies vor allem hinsichtlich des Ausbaus einer Kommunikationsachse zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Landes. Die Reform von 1933 schließlich zielte auf eine Stärkung der Niederlassungen des Instituts in jeder einzelnen Provinz. Die ursprünglich aus einer Notwendigkeit zur Rationalisierung entstandene landesweite Vernetzung des INFPS war dann in der Zwischenkriegszeit als Kontrollkanal des Faschismus von großer Relevanz. Vor allem anhand von Vorgängen in den Provinzen lässt sich das Wesen der Wohlfahrtspflege und ihres Verwaltungsorgans in der Zeit des Faschismus verstehen. Aus diesem spezifischen Blickwinkel wird zugleich die Dynamik der Interaktion zwischen den verschiedenen Parteien deutlich, die in die Sozialversicherung involviert waren. Dabei handelte es sich nicht nur um die Sozialpartner (Arbeitnehmer und Arbeitgeber), sondern auch um die faschistische Partei, die eine grundlegende Rolle bei der Verteilung der Ressourcen aus der Sozialversicherung spielte. In zahlreichen Niederlassungen des Instituts in den Hauptstädten der italienischen Provinzen häuften sich Fälle von Vertragsverletzungen und Veruntreuungen (z. B. bei der Festlegung der Invaliditätsrente), für die allein das faschistische Regime verantwortlich war. Das Regime wurde in mehreren Fällen primärer Bezugspunkt bei der Lösung von Versicherungsfragen und entschied über die Einstellung oder Kündigung lokaler Angestellter, indem es über den Parteisekretär politisch beeinflusste Nominierungen erzwang. Die Besetzung des Instituts durch faschistisches Parteipersonal erwies sich aus verschiedenen Gründen als strategisch: erstens, weil das INFPS die größte Versicherungs- und Sozialanstalt war; zweitens, weil es mithin die Behörde war, die über die meisten und überdies schnell abrufbaren finanziellen Mittel verfügte; und drittens, weil das INFPS ein weitverzweigtes Netz von Niederlassungen und Zweigstellen besaß, über die ein effizientes Kontrollsystem auf nationaler Ebene aufgebaut werden konnte. Die INFPS-Niederlassungen in den Provinzen erhielten so eine strategische Rolle bei den lokalen Verwaltungen sowie großen Einfluss auf das spezifische Kräftegleichgewicht in den Städten. Oft kam es vor, dass die lokalen politischen Autoritäten ein Eingreifen der örtlichen INFPS zum Auffangen von Klassenkonflikten erbaten, und dies nicht um des Ablaufs des normalen Versicherungs- und Fürsorgegeschäfts willen. Das Institut übte so eine relevante Funktion im Bereich der Regierungspolitik des Regimes aus, wobei es oft riskierte, die eigene Funktionalität dem Diktat der Partei und der faschistischen Regierung zu unterwerfen.

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Zudem war das Institut auch ein bedeutender Partner bei oft nicht öffentlich gemachten Verhandlungen mit verschiedenen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Institutionen: mit Wirtschafts- und Finanzeliten, hohen Ministerialbeamten, Repräsentanten der verschiedenen öffentlichen Anstalten, PNF-Funktionären, den Vertrauensleuten der Gewerkschaften und Mussolini höchst selbst. Es war bedeutender Mittler bei der Verwaltung der finanziellen Reserven des Landes und der Vergabe von sozialen Vergünstigungen des Regimes und wurde so zum Ansprechpartner für zahlreiche Bitten um öffentliche Intervention von Seiten lokaler wie nationaler Kreise. Die diversen Akteure, die daran Interesse hatten, aus dem Geldfluss des Instituts zu schöpfen, verstärkten mittels Gesuchen ganzer Sozialkategorien ihren Einfluss auf generelle Entscheidungen. 5. FÜRSORGE UND PARTEI: DER FALL DER ENTE OPERE ASSISTENZIALI Der Bereich der Wohlfahrtspflege ist in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Studien gewesen, durch die einige generelle Merkmale des Faschismus herausgearbeitet werden konnten. Dafür stehen beispielhaft die Untersuchungen über die Aktivitäten der Ente Opere Assistenziali (EOA) im urbanen Kontext sowie die Studien über die peripheren Einrichtungen der Opera Nazionale per la Protezione della Maternità e dell’Infanzia (ONMI), des Hilfswerks für Mutterschaft und Kindheit, dem im Bereich der Fürsorge sicherlich ambitioniertesten Projekt der Faschisten.27 Im Fokus dieser Untersuchungen steht die Rolle der faschistischen Partei als wichtigstes Instrument des Regimes, mit dem das lokale und soziale wirtschaftliche Gefüge durchdrungen und für eigene Zwecke beeinflusst wurde28. Während anderswo die Wohlfahrt „höchste staatliche Aufgabe“ war, entschied sich das Regime, diese Aufgabe der Partei und ihren Ortsverbänden anzuvertrauen29. So wurde im 27

28 29

Vgl. insbesondere Silvia Inaudi, A tutti indistintamente (wie Fn. 10); dies., Strategie politiche e processi di integrazione sociale a Torino negli anni Trenta, in: Silvia Inaudi u. a. (Hg.), L’organizazione del consenso, in: Ricerche di storia politica, n. F., 3 (2010), S. 325–29. Vgl. außerdem Tullia Catalan, Fascismo e politica assistenziale a Trieste. Fondazione e attività dell’Ente Comunale di Assistenza (1937–1943), in: Anna Maria Vinci (Hg.), Trieste in Guerra. Gli anni 1938–1943, Trieste, Istituto regionale per la storia del movimento di liberazione nel Friuli Venezia Giulia, 1992; Anna Maria Vinci (Hg.), Carità pubblica, assistenza sociale e politiche di welfare: Il caso di Trieste, Trieste 2012; Vgl. auch Annalisa Bresci, L’ONMI nel ventennio fascista, Italia Contemporanea, 92 (1993); Maurizio Bettini, Stato e assistenza sociale in Italia. L’Opera nazionale Maternità e Infanzia, 1925–1975, Pisa 2008; Domenica La Banca, Assistenza o beneficenza? La Federazione napoletana dell’ONMI (1926–39), in: Contemporanea, 1 (2008); Dies., Tra Stato e partito. Il governo dell’assistenza nelle periferie (1925–1945), in Paul Corner / Valeria Galimi (Hg.), Il fascismo in provincia. Articolazioni e gestione del potere tra centro e periferia, Rom 2013. Silvia Inaudi, Strategie politiche (wie Fn. 27), S. 325 ff. David G. Horn, L’Ente Opere Assistenziali: strategie politiche e pratiche di assistenza, in: Maria Luisa Betri u. a., Il fascismo in Lombardia. Politica, economia e società, Mailand 1989, S. 481.

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März 1931, als Giovanni Giuriati Generalsekretär des PNF war, unter dessen Leitung die EOA als Sondereinrichtung der Partei gegründet. Diese Behörde ermöglichte in kürzester Zeit die Umwandlung des ursprünglich auf die Wintermonate beschränkten Hilfswerks Opera Assistenza Invernale („Winterhilfswerk“ – kurz OAI, eine seit 1930 den einzelnen Bezirksverbänden der Partei angegliederte und von den faschistischen Frauenverbänden gemanagte Organisation) in eine ständige und komplexe Einrichtung. Doch in Wirklichkeit hatte schon 1926 der Prozess eingesetzt, der darauf abzielte, der Partei die Leitung der Wohlfahrtseinrichtungen anzuvertrauen – ein Prozess, der zu einer Erweiterung der Aufgaben des PNF und zur Einbindung der Partei in das Sozialsystem Italiens führte.30 Im Zuge dieser Entwicklung wurden – unter dem damaligen Generalsekretär des PNF Augusto Turati – die Opere Assistenziali (Hilfswerke – kurz OA) geschaffen, die „alle nicht zu den [kirchlichen] Opere Pie gehörenden Wohlfahrtsinitiativen koordinieren und unter der Schirmherrschaft der Partei vereinigen“ sollten. Im Jahre 1927 wurde im Parteipräsidium des PNF ein Referat für die Hilfswerke eingerichtet, das dem Büro für faschistische Frauenverbände unterstand. Unter der Leitung von Giuriati nahm der Einfluss der Partei im Bereich der sozialen Fürsorge rasch zu und half bei der Konsolidierung des Faschismus in ganz Italien, was insbesondere angesichts der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von großer Bedeutung war. Bereits im Oktober 1930 bekräftigte ein Rundschreiben von Giuriati die effektive Umgestaltung des Fürsorgesektors, durch die sich für die einzelnen Verbände der Partei (besonders für die faschistischen Frauenorganisationen) neue Aktionsbereiche eröffneten. Damit verbunden erging an die Verbände die Aufforderung, ihre auf einzelne Stadtbezirke bezogenen Wohlfahrtspraxis zugunsten einer umfassenderen Intervention aufzugeben. In dieser „Übergangsphase“, in der nur wenige finanzielle Mittel zur Verfügung standen31, wurden parallel zu den Hilfswerken der Partei spezifische Organisationen gegründet. Es handelte sich dabei um die zuvor schon erwähnten Opera Assistenza Invernale (OAI), die vor allem in den großen städtischen Zentren Norditaliens operierten und als Vorläufer der EOA betrachtet werden können. Folgt man Inaudi, so war die Organisation der OAI nicht nur völlig von der Initiative der einzelnen Parteiverbände abhängig, sondern auch vom Netzwerk persönlicher Beziehungen zwischen der Partei und den lokalen Einrichtungen und war in vielen Fällen ein Indikator für das „sozioterritoriale und machtpolitische Gleichgewicht“.32 In der Tat wurden gerade in großen Städten wie Mailand oder Turin zahlreiche Institutionen und Wirtschaftsverbände mit dem Ziel mobilisiert, die Fürsorgeleistungen zu koordinieren und auszubauen. Diese beschränkten sich jedoch auf die Verteilung von Bedarfsgütern an die Ärmsten und Bedürftigsten in der Bevölkerung. 30 31 32

Pombeni, Demagogia e tirannide (wie Fn. 1), S. 138. Die finanzielle Verfügbarkeit hing von den (knappen) Geldmitteln der Verbände und von den persönlichen Zuwendungen Mussolinis ab, nicht aber von den Finanzreserven des Innenministeriums. Vgl. Inaudi, A tutti indistintamente (wie Fn. 10), S. 51. Ebenda, S. 52.

Die Sozialpolitik der faschistischen Partei

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Zusammenfassend gesagt gab es zwei grundlegende Elemente, die die Entwicklung der OAI (und später der EOA) kennzeichneten: ihre enge Kopplung an rein politische Zwecke und ihre Fähigkeit, bürgerliche Kräfte einzubinden. Die EOA entstanden am 16. März 1931 mittels einer offiziellen Anordnung des Generalsekretariats der faschistischen Partei, die jedem Provinzverband die Gründung einer Hilfsorganisation befahl und den lokalen Parteisekretär mit ihrer Leitung betraute (mit einem zwar separaten, aber vom PNF abhängigen Haushalt). Anfangs auf die Kinderfürsorge beschränkt, dehnten die EOA aber nach und nach ihren Aktionsbereich aus. Mit dem neuen Generalsekretär des PNF Achille Starace (seit Dezember 1931) begann dann der systematische Ausbau der sozialen Fürsorge und gleichzeitig die Potenzierung der Rolle der faschistischen Partei in diesem Bereich33. Im Verlauf des Jahres 1932 war schließlich die Strukturierung der EOA abgeschlossen: Die EOA blieb eine parteiabhängige Organisation mit spezieller Verwaltung; die Zusammenarbeit mit der ONMI wurde in ganz Italien ausgebaut; mit der Leitung der Hilfswerke wurden die EOA-Provinzverbände betraut. Diese mussten sich um die Koordinierung der Fürsorgeleistungen in den Provinzen und die Verteilung der Einnahmen je nach Bedarf auf die einzelnen kommunalen Verbände kümmern. Die Aufgabenbereiche der EOA bezogen sich zwar vor allem auf Fürsorgeleistungen für Arbeitslose (aber auch andere Kategorien von Bedürftigen) und die Unterstützung bei Gesundheits-und Hygienefragen (darunter in erster Linie la tutela della stirpe, der „Schutz der Nachkommenschaft“, wofür der Ausbau der Ferienlager die Hauptinterventionsachse darstellte). Die wichtigsten Initiativen allerdings bestanden in Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung des Personals (mit eigens dafür eingerichteten Vorbereitungskursen bei den einzelnen Verbänden) und der Einführung eines Berechtigungsscheins für Fürsorgeleistungen. Dieses Dokument stellte ein bedeutendes Instrument zur sozialen Kontrolle dar und ermöglichte es der Partei, die Bevölkerung zu überwachen. Im Übrigen war jeder, der auf Hilfe angewiesen war, dazu gezwungen „die Vermittlung der faschistischen Einrichtungen in Anspruch zu nehmen: Denn der Berechtigungsschein wurde von den EOA ausgestellt“34. Anspruch darauf hatte jeder Bedürftige. Der Wirkungskreis der EOA war also weit gefasst: Die Behörde übernahm die Organisation von Sommerferienlagern für Kinder und die soziale Fürsorge für Arbeitslose in den Wintermonaten, sie kümmerte sich um Wohnungslose und besondere Kategorien von Bedürftigen. Allerdings unterlag die EOA einer doppelten – oft konfliktbehafteten – Kontrolle durch Parteileitung und Innenministerium (über die Präfekturen), trotz größtmögliche administrative Dezentralisierung, war hinsichtlich der Organisation ihrer Aktivitäten von Initiativen der Parteiverbände vor Ort abhängig und in jeder Kommune vertreten. Die Behörde war einer der wichtigsten Garanten für das reibungslose Funktionieren der Politik- und Parteimaschinerie im Faschismus. Die dazu durchgeführten Forschungen konzentrierten sich deshalb im Wesentlichen auf die Herausarbeitung der verschiedenen Aufgabenbereiche, die 33 34

Vgl. im Einzelnen, ebenda, S. 71–75. Ebenda, S. 80.

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der Behörde zugewiesen waren (von der Brotverteilung über die Verteilung finanzieller Mittel an Gemeinden, Wohltätigkeitskongregationen und Verbände, bis hin zu anderen Initiativen, darunter die Betreuung Alter und Behinderter sowie Kuraufenthalte). Weiterhin konzentrierte die Forschung sich auf die Analyse der Beziehungen und der Interaktion der Behörde mit anderen Einrichtungen (von den faschistischen Frauenverbänden und dem faschistischen Jugendverband Opera Nazionale Balilla bis zur ONMI); auf die Finanzierungsmodalitäten und die Herkunft der finanziellen Mittel, die der EOA zuflossen (von Seiten der faschistischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, aus den Fonds der Kommunen oder von privaten Quellen, aus Zuwendungen Mussolinis und in einigen Fällen sogar Gelder kirchlicher Organisationen); über die Leistungsempfänger (auch unter Berücksichtigung der Rolle, die die Einrichtung hinsichtlich der Deckung der bestehenden „Lücken“ im Versicherungssystem einnahm). Die Untersuchungen zur EOA haben auch – zumindest teilweise – die Erwartungshaltungen aufgezeigt, die sich bei den Leistungsempfängern herausgebildet hatten, und zwar vor allem hinsichtlich des politischen und klientelistischen Charakters der Fürsorgeleistungen seitens der EOA. Am Beispiel der Stadt Mailand zeigt sich ganz konkret, welche Rolle die Behörde im Zeitraum zwischen 1931 und 1937 im Alltag vieler Bürger der Stadt spielte. Hier werden verschiedene Widersprüche zwischen Partei und Staat deutlich, zwischen dezentraler Präsenz und Aktion sowie zentraler Kontrolle, zwischen Fürsorge- und Vorsorgemaßnahmen, zwischen „Strategien zur politischen Konvertierung und Klientelismus“35. Durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise und die unzureichende Arbeitslosenversicherung kam den Fürsorgediensten der Partei besondere Bedeutung zu. Die ursprünglich auf den Winter beschränkten Wohlfahrtsleistungen wurden so wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der anhaltenden Nachfrage der Mailänder Bevölkerung zu einer ständigen Einrichtung. Eine ähnliche Dynamik ließ sich in Turin während der 30er Jahre beobachten. Hier führten vor allem die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise zu einer Potenzierung der staatlichen Fürsorgeleistungen. In dieser Situation engagierte sich vor allem der Bezirkssekretär für den Ausbau der Leistungen vor Ort und die Behörde wurde so in kürzester Zeit zum „Aushängeschild des Turiner Faschismus“ und zu einem wichtigen Mittel bei der Bildung des bürgerlichen Konsens36. Die Aktivitäten der EOA umfassten sowohl die Bewilligung von Gütern für den Grundbedarf (Lebensmittel, Kleidung) für bedürftige Familien als auch andere Probleme, bei denen die Partei intervenierte oder vermittelte, beispielsweise die Lösung von Wohnproblemen, die Bezahlung der Steuern, den Abschluss von Verträgen mit Einzelhändlern hinsichtlich der Verteilung von Gütern des Grundbedarfs, die medizinische Grundversorgung durch den Hausarzt oder die Betreuung von Kindern in Ferienlagern (gerade dieser Sektor stellte „den fortschrittlichsten Aspekt der Wohlfahrtspolitik dar, mit der die EOA betraut war“37). Weiterhin diente die 35 36 37

Horn, L’Ente Opere Assistenziali (wie Fn. 29), S. 481. Inaudi, Strategie politiche (wie Fn. 27), S. 326. Im Detail sei verwiesen auf Inaudi, A tutti indistintamente (wie Fn. 10), S. 82–101. Ebenda, S. 121.

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EOA der Partei bei der Kontaktaufnahme zu den städtischen Eliten und den katholischen Gruppen Turins. Durch die Behörde und durch das Netz ihrer sozialen Fürsorgedienste, die „die traditionellen Formen der Versicherungs- und Sozialleistungen innerhalb der Stadtviertel langsam ablösten“38, gelang es dem PNF, seinen politischen Einflussbereich und seine Machtposition in der Stadt zu konsolidieren. So entstanden in den einzelnen Stadtvierteln immer mehr Bezirksämter der EOA, der Radius ihrer Tätigkeiten – und damit auch die Kontrolle – weitete sich immer mehr aus (der Bezug von Fürsorgeleistungen implizierte, detaillierte Informationen über die persönliche Situation liefern zu müssen)39. Indem man die Vergabe von Fürsorgeleistungen weithin bekannt machte, wurde aber nicht nur ein bedeutendes Werk der Propaganda vollbracht, sondern auch Faschisten der ersten Stunde integriert, die als Hilfskräfte in die Tätigkeiten der Behörde eingebunden wurden. Auf diese Weise verwirklichte sich jener Prozess der Ideologisierung der Sozialfürsorge und der Politisierung des für sie tätigen Personenkreises, der in der Folgezeit wichtige Auswirkungen hatte. Die Untersuchungen zu den beiden großen Stadtzentren Mailand und Turin zeigen einige gemeinsame Probleme und Widersprüche: Klientelismus, Partikularismus, Begünstigung, Korruption, Ineffizienz und die Bürde veralteter sozialer Praktiken und Bräuche. Trotzdem trug die Wohlfahrtspolitik zur sozialen Akzeptanz des Faschismus. Aus der Darstellung der Ereignisse sind ganz allgemein die grundsätzlichen Widersprüche hervorgegangen, die sich zwischen den Prozessen der Rationalisierung und der Beibehaltung der traditionellen Regierungssysteme der Gesellschaft, zwischen den Anstößen zur Schaffung eines universalistischen Systems und dem Beharren auf individualistischen Praktiken und Verhaltensweisen zeigten40. Das erneute historiographische Interesse für diesen Abschnitt in der Geschichte der Wohlfahrtspolitik verbindet sich mit dem Studium des Eindringens des PNF in privateste Bereiche, der Möglichkeit für das Regime, durch die Verabschiedung bestimmter sozialer Maßnahmen eine erhöhte Zustimmung innerhalb der Gesellschaft zu erzielen. Es bestätigt sich so die entscheidende und neue Rolle, die die Partei bei der Organisation und Verwaltung der Sozialfürsorge und im gesamten Bereich der nationalen Sozialpolitik in den zentralen Jahren der Modernisierung des Landes übernahm.

38 39

40

Inaudi, Strategie politiche (wie Fn. 27), S. 327. Um Arbeitslosenunterstützung zu beziehen, war es notwendig, eine detaillierte Aufstellung der finanziellen Verhältnisse und des Gesundheitszustandes sämtlicher Familienmitglieder abzuliefern. Außerdem wurden die Anträge zum Bezug von Fürsorgeleistungen allen faschistischen Behörden vorgelegt. War die Leistung einmal gewährt, mussten sich die Arbeitslosen täglich beim Arbeitsamt melden. (vgl. Corner, Fascismo (wie Fn.7), S. 398). Es hat sich herausgestellt, – Alberto Preti / Cinzia Venturoli, Fascismo e stato sociale, in: Vera Zamagni (Hg.), Povertà e innovazioni istituzionali in Italia. Dal Medioevo a oggi, Bologna 2000, S. 736 – dass zu den Instrumenten der Sozialpolitik, die zur Bildung des Mythos Mussolinis und zur Förderung individualistischer und pietistischer Verhaltensweisen beitragen sollten, auch das Sondersekretariat des Duce gehörte.

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Die Untersuchung der faschistischen Sozialpolitik und die Schilderung der zentralen Rolle der Partei ist wichtig für die Erforschung der „Wurzeln des Sozialstaates italienischer Art“41. Angesichts der im Laufe der Geschichte der Republik ständigen Wiederkehr von Problemen, die mit der partikularistischen und korporativen Natur des italienischen Staates42 verbunden sind, ist diese Analyse von außerordentlicher Bedeutung. Hinsichtlich der spezifischen Merkmale nationaler Sozialpolitik, war die Rolle der Partei entscheidend. Damit ist der PNF als „bürokratischadministrativer Organismus“ und als „eine Wohlfahrts-Partei“ zu kennzeichnen.43

41

42 43

Maurizio Ferrera, Welfare all’italiana: un’introduzione, in: ders. u. a., Alle radici del welfare all’italiana. Origini e futuro di un modello sociale squilibrato, Venedig 2012, S. 7. Über die Zentralität des Faschismus für die Charakteristiken des italienischen Sozialstaats sei verwiesen auf Salvati, Lo Stato sociale (wie Fn. 24). Siehe auch Maria Sophia Quine, Italy’s Social Revolution: Charity and Welfare from Liberalism to Fascism, New York 2002. Diesbezüglich wird verwiesen auf Sabino Cassese, L’Italia una società senza Stato?, Bologna 2011; S. Cassese, Governare gli italiani, Storia dello Stato, Bologna 2014. Renzo Martinelli, Il Partito nazionale fascista come organismo burocratico-amministrativo, in: Passato e Presente, 6 (1984), S. 188.

TEIL 3: VOLKSPARTEIEN NACH 1945: DURCHSETZUNG UND KRISE EINES ERFOLGSMODELLS? (1945–1995)

PARTEIORGANISATION UND FINANZIERUNG Eine Fallstudie zur italienischen Sozialistische Partei (PSI) von der Einheitsfront zur linken Mitte* Paolo Mattera Die jüngeren Forschungen zu den großen Massenparteien im 20. Jahrhundert haben ihr Augenmerk auf das komplexe Wechselverhältnis zwischen den politisch-ideologischen Entscheidungen an den Parteispitzen auf der einen und den organisatorischen Entwicklungen auf der anderen Seite gerichtet und ihm eine lange Reihe fruchtbarer Studien gewidmet.1 Ein weiterer, durchaus schwieriger Aspekt der Organisationsstrukturen, ist hingegen in der Geschichte der Parteien und Demokratien lange verdrängt worden, nämlich die notwendige Finanzierung zum Aufbau der komplexen Massenorganisationen.2 Vom ideellen Einsatz freiwillig tätiger Parteimitglieder allein vermochten die Parteien nicht zu leben; Mieten für die lokalen Parteibüros waren zu zahlen, Propagandakosten waren zu decken (Druck der Plakate und der Presseorgane, Erwerb von Mikrophonen und Verstärkern), und nicht zuletzt galt es die Löhne und Gehälter für die Funktionäre eines alle Aktivitäten wirksam lenkenden Parteiapparates als die teuerste Ausgabeposition zu stemmen. Im Nachkriegsitalien nahm das Problem erheblich an Gewicht zu. Nach übereinstimmender Ansicht der Historiker handelte es sich bei dem 1946 neu entstandenen Gebilde um eine „Parteienrepublik“, in der die Massenparteien von Anfang an über die traditionelle Vertretungsfunktion hinaus zum Garanten des demokratischen Staates avancierten und auf diese Weise die Treue ihrer Mitglieder zu den Grundsätzen der entstehenden Demokratie sicher stellten.3 Im Rahmen dieser wichtigen Aufgabe konnten sich die beiden großen Massenparteien, die Democrazia Cristiana und die kommunistische Partei, aufgrund der Unterstützung durch die Kirche bzw. durch die Sowjetunion erhebliche Positionsgewinne verschaffen.4 Die sozialistische Partei, der solche Hilfestellungen fehlten, hatte hingegen mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen und sah sich gezwungen, nach immer neuen Lösungen zu suchen. Gerade deshalb bietet sich der PSI als besonders interessanter Fall an, anhand dessen sich nicht nur das Wechselverhältnis zwischen den * 1 2 3 4

Übersetzung von Gerhard Kuck. Die Abkürzungen zur Bezeichnung der archivalischen Quellen stehen am Ende des Beitrages. Eine Synthese der Geschichtsschreibung bietet: Paolo Pombeni, La storiografia politica in Italia (1985–1995), in: Ricerche di storia politica, 11 (1996), S. 79–106. Luciano Cafagna, La grande slavina. L’Italia verso la crisi della democrazia, Venedig 1993, S. 54. Pietro Scoppola, La repubblica dei partiti, Bologna 1991. Simona Colarizi, Storia politica della repubblica, Rom/Bari 2006.

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politischen Entscheidungen an der Spitze und den organisatorischen Erfordernissen an der Basis exemplarisch untersuchen lässt, sondern auch die Frage vertieft werden kann, welche Rolle dabei die Suche nach den Finanzquellen spielte. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens erweist sich die Übergangsphase zwischen der Aufkündigung des Bündnisses mit dem PCI und der langsamen Annäherung an eine Regierung der linken Mitte als besonders aufschlussreich. Zweierlei Begründungen lassen sich für diese Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes und -zeitraumes anführen. Einerseits handelt es sich um eine mittlerweile quellenmäßig sehr gut aufgearbeitete Phase, so dass sich mit hinreichender Klarheit die zahlreichen Stränge rekonstruieren lassen, die sich zu einem komplexen Netzwerk verdichteten; andererseits lässt sich aus der Art der damaligen Schwierigkeiten und Entscheidungen ableiten, welchen Zwängen Massenparteien ausgesetzt waren und in welchem Zwiespalt sich ihre Führungen befanden. Dementsprechend besteht der Beitrag aus zwei großen Abschnitten: Zunächst sollen die Wurzeln der Faktoren, die die nachfolgenden Entscheidungen beeinflusst haben, herausgearbeitet werden; im zweiten Teil wird dann die Übergangsphase eingehender betrachtet. Gleich nach der Befreiung im Jahr 1945 wurden die sozialistischen Parteiführer vom gewaltigen Mitgliederzuwachs in den lokalen Parteisektionen überrascht. Um das Phänomen in seinem ganzen Umfang zu erfassen, reichen zwei Angaben: 1920, auf dem Höhepunkt des biennio rosso, zählte der PSI ungefähr 216.000 Mitglieder, Ende 1945 waren es über 685.000.5 Diese bisher unerreichten Dimensionen schufen neue Probleme. Die Sektionen entwickelten lebhafte politische Aktivitäten, während hitzige Debatten oftmals in einen Konflikt zwischen den Anhängern entgegengesetzter Faktionen auszuarten drohten, weil es an einer einheitlichen Führung und Koordination fehlte6. Hier zeigte sich das erste Schlüsselproblem: die politische Stabilität ergab sich unmittelbar aus der organisatorischen Stabilität. Alle an den Parteisekretär Nenni gerichteten Berichte und Briefe schlugen in die gleiche Kerbe, wenn sie hervorhoben, es fehle an Parteifunktionären, die in der Lage wären, die unterschiedlichen Aktivitäten an der Basis zu leiten.7 Zu dieser Erkenntnis kamen auch die Präfekturen.8 Bestätigt wurde sie von den kommunistischen Verbänden, die darüber klagten, es sei schwierig, gemeinsame Aktionen mit den Sozialisten durchzuführen.9 Woran lag es? Die Antwort findet sich sowohl in den an Nenni gesandten Briefen als auch in den offiziellen Parteiakten: Die geringen Finanzmittel machten es unmöglich, Vollzeitkräfte einzustellen, so dass einige Provinzialföderationen über keinen Angestellten verfügten, während in anderen 5 6 7 8 9

ISRT, AFL, b. 3, f. 15, „Situazione iscritti al 31 dicembre 1945“, maschinenschriftliches Dokument vom Januar 1946. Paolo Mattera, Il partito inquieto. Organizzazione, passioni e politica dei socialisti italiani dalla Resistenza al Miracolo economico, Rom 2004, S. 85–90. FN, APN, SC, b. 44, Faszikel 2024 und 2025, b. 45, Faszikel 2025 und 2026. ACS, MI, DGPS, CA, 1944–46, b. 34; vgl. insbesondere die Berichte der Präfekten von Siena, 2. Februar 1946, Rom, 5. Mai 1946, und Siracusa, 5. April 1946. IG, APC, RP, mf. 088, „Piemonte“, Note sul congresso delle federazioni regionali, 11. Dezember 1945; mf. 089, „Emilia Romagna“, Convegno provinciale di Bologna, 18. Juni 1945; „Lombardia“, riunione del Comitato Federale di Milano, 13. Juni 1945.

Parteiorganisation und Finanzierung

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(vor allem in Mittel- und Norditalien) die wenigen hauptamtlichen Kräfte unterschiedlichste Aufgaben übernehmen mussten und folglich arbeitsmäßig überlastet waren.10 Diese Rahmenbedingungen machten den Parteispitzen klar, dass finanzielle Autonomie, organisatorische Stabilität und politische Durchschlagskraft engstens zusammenhingen. Wie kam man an die notwendigen Gelder? Von Anfang an schöpfte die sozialistische Partei aus internen Quellen. Hier sind in erster Linie die Mitgliedsbeiträge zu nennen.11 Sie reichten jedoch aus zwei Gründen nicht: Einerseits durfte eine Partei, die sich an die Mittel- und Unterschichten wandte, sie nicht zu hoch ansetzen.12 Andererseits zahlten viele Mitglieder verspätet oder gar nicht, was die Sekretariate der einzelnen Sektionen dazu zwang, mit großem Arbeitsaufwand immer wieder die Pünktlichkeit bei den monatlichen Zahlungen einzufordern.13 Die Parteizentrale zapfte deshalb eine zweite interne Quelle an, nämlich die Organisation von Spendenaktionen unter Mitgliedern und Sympathisanten zu besonderen Anlässen, etwa zugunsten des Parteiorgans Avanti! oder vor Wahlkampagnen.14 Aufgrund ihres Ausnahmecharakters vermochten aber auch derartige Initiativen die Finanzierung der Partei kaum auf Dauer sicherzustellen. Die internen Quellen reichten also nicht hin, so dass man sich unter den gegebenen Umständen nach außen wenden musste. An wen aber? Die einzige Möglichkeit bestand darin, „befreundete“ Parteien oftmals anderer Länder anzusprechen, die geneigt waren, dem PSI im Namen gemeinsamer Ideale und Interessen zu helfen. Nicht zufällig galt der erste Versuch den Parteien der früheren Sozialistischen Internationale und insbesondere der Labour-Partei, die im Juli 1945 die Wahlen in Großbritannien gewonnen hatte und ein hohes internationales Prestige genoss.15 So wandte sich der Parteisekretär Nenni an einige labouristische Zirkel in London und regte die Durchführung von Spendenaktionen zugunsten des PSI an.16 Zugleich legten die langen Jahre, die er im französischen Exil verbracht hatte, Nenni nahe, die Kontakte zu den Pariser sozialistischen Parteiführern zu suchen; tatsächlich konnte der Schatzmeister Spinelli der Parteileitung Anfang 1947 berichten, dass „in Frankreich zirka 9 Millionen“ zur Verfügung stünden.17 Obgleich diese Unterstützungsleistungen nicht gerade beträchtlich waren, besaßen sie doch erhebliche politische Implikationen: Die französischen Sozialisten 10

11 12 13 14 15 16 17

ISRT, AFL, b. 1, f. 3, Federazione di Napoli, Schatzmeister Cafiero am 30. September 1945; Federazione di Milano, Bericht vom 1. Dezember 1945; Federazione di Firenze, Comitato Federale, Besprechung vom 9. Oktober 1945; FN, APN, SC, b. 45, f. 2027, Briefe an Nenni von G. C. aus Rom vom 12. Dezember 1945, von Liliana Torrisi aus Turin vom 21. November 1945, ohne Unterschrift aus Ancona vom 14. Dezember 1945. ISRT, AFL, b. 2, f. 11, Rundschreiben vom 20. Juli 1945. FN, APN, SC, vgl. die zahlreichen Briefe zum Thema in b. 45 f. 2028. ISRT, AFL, b. 2, f. 11, Rundschreiben Nr. 50 aus Rom, 12. November 1945. Ibid., Rundschreiben des Sekretariats vom 5. März 1946. Peter Weiler, British Labour and the Cold War, Stanford 1988. FN, APN, SC, b. 46, f. 2028, Briefe von G. Giglio (der in London dem Verlauf der Sammelaktion beiwohnte) an Nenni vom 23. August und 10. September 1945. ISRT, AFL, b. 5, f. 41, Direzione Psi, Sitzung vom 14. Januar 1947.

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und mehr noch die Labouristen hofften, dank ihrer Hilfe würde sich innerhalb des PSI eine politische Linie durchsetzen, die ihrer eigenen mehrheitlich entsprach, d. h. eine reformistische Orientierung, die ein Bündnis mit den Kommunisten ausschloss.18 Das war nun gewiss nichts Neues angesichts der bekannten Positionen der Internationale, aber im Zusammenhang mit dem beginnenden Kalten Krieg konnte dieser politische Druck potentiell brisant werden. In denselben Wochen wurden nämlich auch US-Gewerkschaften vor allem dank der Initiative des italo-amerikanischen Gewerkschafters Luigi Antonini tätig, der sich über den Italian-American Labor Council (Ialc) und die American Federation of Labor darum bemühte, den italienischen Sozialisten finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.19 Bedingung war allerdings, dass die Gelder nicht an die gesamte Partei gingen, nicht an die Strömungen also, die einem Bündnis mit dem PCI zustimmten, sondern nur an einen bestimmten Flügel um Faravelli und Saragat, der eine Aktionseinheit mit den Kommunisten ablehnte.20 Nach einem zweiten, späteren Bericht der Sozialistischen Internationale, die sich damals als Committee of the International Socialist Conference im Wiederaufbau befand, flossen Gelder auch aus dem Osten, d. h. aus der UdSSR und den Ländern des sowjetischen Blocks wie Polen, die ebensowenig für die Gesamtpartei, sondern spiegelbildlich nur für die linken Strömungen bestimmt waren, die die Aktionseinheit mit dem PCI und sogar eine mögliche Fusion der beiden Parteien der italienischen Linken befürworteten.21 Hier scheint nun das zweite Schlüsselproblem auf: Die Suche nach politischer Stabilität und die für den organisatorischen Bestand der Partei entscheidende Finanzierungsfrage standen mit den politischen Prozessen des Kalten Krieges in einem Wechselverhältnis und verschärften damit die Kontraste zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb des PSI noch, anstatt sie abzuschwächen. Eine komplexe Gemengelage mit langfristigen Folgen bildete sich heraus. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Interne Auseinandersetzungen und internationaler Druck führten im Laufe des Jahres 1946 zur Spaltung der Partei: im Januar 1947 entstand der PSLI (Partito Socialista dei Lavoratori Italiani, später Partito socialdemocratico) um Saragat, der sich am westlichen Block unter der Führung der USA orientierte, während der PSI um Nenni ein Bündnis mit den Kommunisten befürwortete und sich zunehmend dem von der Sowjetunion dominierten Block annäherte. Die Wahlen von 1948 bestritt der PSI zusammen mit den Kommunisten. Die Wahlniederlage der Volksfront brachte die Sozialisten um Nenni an den Rand des Abgrunds, so dass die organisatorischen Parteistrukturen Anfang 1949 kurz vor der Auflösung standen.22 18 19 20 21 22

Weiler, British Labour (wie Fn. 15); Nicolas Castagnez, Socialistes en République: la Sfio de la IV République, Rennes 2004, S. 21–34; Jaques Kergoat, Histoire du Parti Socialiste, Paris 1997, S. 46–67. Federico Romero, Gli Stati Uniti e il sindacalismo europeo, 1944–1951, Rom 1989, S. 54–68. ILGWU, LAR, b. 17, f. 5, Antonini a Faravelli, 19. Dezember 1945 und 27. Februar 1946; b. 36, f. 6, Antonini an Nenni am 11. Oktober 1945, Nenni an Antonini am 24. Oktober 1945. IISH, ASI, Correspondence Italy, 1947–48, Bericht V. Laroks an Bureau, 1947. Mattera, Il partito inquieto (wie Fn. 6), S. 121–158.

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Nenni und der neue Vizesekretär Morandi reagierten auf zweifache Weise: politisch bekräftigten sie das Bündnis mit dem PCI, organisatorisch schufen sie völlig neue, komplexe Verwaltungsstrukturen mit ungefähr 1.300 direkt von der Parteizentrale bezahlten Funktionären und etwa 900 weiteren Angestellten, vor allem Gewerkschafts- und Genossenschaftsangehörigen, die – und das ist wichtig – in gemeinsam mit dem PCI geführten Einrichtungen arbeiteten.23 In diesem Zusammenhang stellte sich erneut das Problem der Finanzierung. Da die Eigenmittel weiterhin nicht ausreichten, wandte man sich wieder nach außen. Aufgrund der politischen Annäherung an die Kommunisten und die UdSSR änderten sich allerdings die Ansprechpartner. Die amerikanischen Gewerkschaften stellten selbstverständlich jede Hilfe ein. Noch traumatischer war der Bruch mit der Sozialistischen Internationale, aus der der PSI 1949 ausgeschlossen wurde.24 So blieb Osteuropa als einziger Kanal übrig. Auf konkrete Spuren stößt man dabei allerdings kaum. Es scheint sicher zu sein, dass der PSI in den fünfziger Jahren zur Gruppe der „befreundeten“ Parteien gehörte, die von Moskau finanziert wurden. Die von dort fließenden Gelder reichten jedoch nicht aus, vielmehr gingen nach französischen Quellen zusätzliche Zahlungen seitens der polnischen Führung direkt an Nenni,25 und weitere Unterstützungsmaßnahmen scheinen über Prag gelaufen zu sein.26 Aus sehr viel späteren amerikanischen Quellen erfahren wir schließlich, dass die Direktfinanzierung der Partei durch „Provisionsanteile am Handel mit Osteuropa“ ergänzt wurde; ihr Umfang belief sich schätzungsweise auf eine Million Dollar im Jahr.27 Dank dieser Leistungen war die Parteiführung zum ersten Mal in der Lage, einen modernen, stabilen Verwaltungsapparat aufzubauen. Er war allerdings teuer erkauft, ging doch die politische Autonomie verloren. Die Abhängigkeit von den Leistungen aus dem Osten untergrub jeglichen politischen Entscheidungsspielraum, und die Logik des Kalten Krieges ließ jeden Gedanken an eine Lockerung der Beziehungen zum PCI und zur UdSSR zumindest problematisch erscheinen. Bereits Mitte der fünfziger Jahre hatte Nenni versucht, Bewegung in die italienische Politik zu bringen, indem er eine „Öffnung nach links“ vorschlug, d. h. einen Dialog zwischen der zentristischen Regierung und der politischen Linken anstrebte, innerhalb dessen der PSI eine vermittelnde Brückenfunktion ausüben sollte.28 Im Verlauf des Jahres 1956 konkretisierte sich die Wende. Bereits im Sommer, als die Enthüllungen aus Chrustschows „Geheimbericht“ über Stalin bekannt wurden, begann es an der Parteibasis zu gären: Zwei Strömungen bildeten sich heraus, von denen eine auf eine Lockerung der Beziehungen zum PCI drängte, während die 23 24 25 26 27 28

FT, APS, Organizzazione, Federazioni, b. 29, aufbereitete Daten: Mattera, Il partito inquieto (wie Fn. 6), S. 185–189. Simona Colarizi, I socialisti italiani e l’Internazionale socialista, 1947–1958, in: Mondo Contemporaneo, 2 (2005), S. 97–115. OURS, PS-SFIO, Commission des affaires internationales, Le Parti Socialiste en Italy (ohne Datum) (über die sowjetischen Tabellen: Victor Zaslavsky, Lo stalinismo nella sinistra italiana, Mailand 2004, S. 130–131). Karel Bartosek, Les Aveux des Archives, 1948–1968, Paris 1996, S. 341. NARA, RG 84, b. 2, f. 305, Notes on the situation of the Italian Socialist Party, 8. August 1961. Colarizi, Storia politica (wie Fn. 4).

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andere sich auf die traditionellen Positionen versteifte;29 das tendenzielle Vorherrschen der erstgenannten erfüllte dabei die kommunistische Führung mit großer Sorge.30 Angesichts dieser Sachlage ergriff Nenni bereits Anfang Juni 1956 die Initiative und traf sich mit dem sozialdemokratischen Parteiführer Matteo Matteotti, um den Spielraum für eine Annäherung der beiden sozialistischen Parteien auszuloten.31 Dieser Schritt löste sofort Beunruhigung unter den amerikanischen Diplomaten aus, die sich zu fragen begannen, ob Nenni nicht ein doppeltes Spiel spiele und ihm deshalb zu misstrauen sei.32 Sofort setzten die für den Kalten Krieg typischen Mechanismen der Blockzugehörigkeit ein. Nenni bemühte sich um politische Deckung bei den Parteien der Internationale. Trotz des 1949 erfolgten Bruches pflegte der sozialistische Sekretär weiterhin Kontakt zum linken Flügel der Labour-Partei, insbesondere zu Bevan und Crossma; 1954 war er sogar zu einem Vortrag bei der Londoner Fabian Society eingeladen worden.33 Aufgrund dieser Beziehungen hatte sich Bevan bereits im Mai 1956 nach Italien begeben, um sich persönlich ein Bild von den Positionen der beiden sozialistischen Parteien zu machen.34 Auch die französischen Sozialisten, die kurz zuvor unter der Führung von Guy Mollet an die Macht zurückgekehrt waren, zeigten ein wachsendes Interesse an Italien, denn eine Wiederannäherung zwischen dem PSI und den Sozialdemokraten hätte die politische Achse in Europa nach links verschoben.35 Während einer ersten Mission im Juli 1956 gelangte der Vizesekretär der SFIO (Section francaise de l’Internationale ouvrière) Pierre Commin nach einigen Gesprächen mit Matteotti und Saragat zu der Überzeugung, dass die Bedingungen für eine Wiedervereinigung der sozialistischen Parteien auf demokratisch-reformistischer Basis gegeben seien und informierte davon den Präsidenten der Sozialistischen Internationalen, den Labour-Politiker Morgan Phillips.36 Angesichts der sich zuspitzenden kommunistischen Krise im Rahmen des Entstalinisierungsprozesses häuften sich die Initiativen der Sozialisten in einem komplexen, schwer durchschaubaren Dreiecksspiel. Im August drängte der Sozialde29

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FN, APN, SC, b. 54, f. 2058, Briefe aus Rom und Mailand an Nenni vom 6. Juni 1956, aus Cefalù vom 7. Juni, aus Sulmona und Siena vom 10. Juni 1956; vgl. auch ACS, MI, DGPS, CA, 1956, b. 22, Berichte des Präfekten von Bologna vom 17. Juni 1956 und des Präfekten von Turin vom 27. Juni 1956. IG, APC, RP, mf. 0444 „Emilia Romagna“, Bericht des Föderationssekretärs Montanari, 21. Juni 1956; „Piemonte“, Bericht des Sekretärs des Regionalkomitees vom 8. Juli 1956. FN, APN, SP, b. 90, f. 2215 „Incontro Nenni-Matteotti“, 6. Juni 1956. NARA, RG 59, b. 3605, f. 765.00/6–556, Telegramm Nr. 4153 der italienischen Botschaft in Washington, 7. Juni 1956; Telegramm Nr. 4180, 8. Juni 1956. FN, APN, SC, b. 26, f. 1395, Briefe an Nenni von Dino Gentili (der den Kontakt zu den labouristischen Parteiführern hielt), 14. März, 22. März, 19. April und 2. Mai 1954; Briefe von Crossman an Gentili, 28. April und 6. Mai 1954. Über das Ergebnis der Reise Pietro Nenni, Tempo di Guerra fredda. Diari, Milano 1981, S. 625–629. Über Bevan, John Campbell, Aneurin Bevan and the Mirage of British Socialism, New York 1987. FN, APN, SC, b. 25, f. 1352, Fenoaltea (über seine Reise) an Nenni, 2. Mai 1956. Denis Lefebvre, Guy Mollet, Paris 1992. IISH, ASI, Italy, Correspondence 1947–1958, Brief von Pierre Commin an Morgan Phillips, 10. Juli 1956.

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mokrat Mario Zagari, der die Wiedervereinigung befürwortete, Commin, Mollet und Phillips, die Sozialistischen Internationale solle einen Vorstoß unternehmen.37 Commin ergriff die Gelegenheit und bat Phillips um ein direktes Mandat.38 Der Chairman der Internationale wollte jedoch nicht sofort offiziell in Erscheinung treten und schlug vor, zunächst informelle Wege zu beschreiten.39 So kam die zweite Reise Commins zustande, der zu einem Treffen zwischen Nenni und Saragat riet, nicht zuletzt auch, um „künstliche Barrieren zu überwinden“, welche die „zwischenmenschlichen Beziehungen“ belasteten.40 Ein direkter Kontakt zwischen den beiden Parteiführern schloss sich an.41 Eine Begegnung in Pralognan in den französischen Alpen schien schließlich die Voraussetzungen zu schaffen, um den Vereinigungsprozess zwischen den beiden sozialistischen Parteien einzuleiten.42 Washington zeigte sich beunruhigt: Das in Nenni gesetzte Vertrauen erschien dort übereilt, weil er formal noch mit den Kommunisten verbündet war,43 das State Department forderte „substantielle Beweise“ für die effektive Unabhängigkeit des PSI von Moskau.44 Wie aber sollte das geschehen? Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Kontakte und Debatten auf politischer Ebene stattgefunden, wobei (wiederum) die Wechselwirkungen zwischen den inneren Verhältnissen in den verschiedenen Ländern einerseits und den durch den Kalten Krieg bedingten internationalen Einflüssen andererseits zu Tage getreten waren. Die Unabhängigkeit der Sozialisten von den Kommunisten maß sich jedoch nicht nur nach politisch-ideologischen Kriterien. Die Führer der Labour-Partei wussten sehr wohl, dass ein Großteil des Verwaltungsapparates des PSI durch die aus Osteuropa fließenden Mittel unterhalten wurde.45 Commin sprach noch ausdrücklicher von „ungefähr 800 Funktionären“, die in den Föderationen – so fügte er maliziös hinzu – „der Arbeit nachgehen, die Ihr vermutet“.46 Und hier kam die Komplexität der Verhältnisse wieder zum Vorschein: Die politische Autonomie hing von der organisatorischen Autonomie ab, die 37 38 39 40 41 42 43

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LPA, International Department, b. Italy, 1946–1961, Phillips an Mollet, 8. August 1956. IISH, ASI, Italy, Correspondence 1947–1958, Brief von Pierre Commin an Morgan Phillips, 10. August 1956. LPA, International Department, b. Italy, 1946–1961, Phillips an Mollet, August 1956. OURS, SFIO, Commission des Affaires Internationales, Le problème de l’unification socialiste, Compte rendu stenografique, ES – 133 BD, 24. November 1956. FN, APN, SC, b. 39, f. 1843, Saragat an Nenni, 26. August 1956. LPA, Italy Correspondence, Rundschreiben B 11/57, Anhang III, Bericht Saragats über das Treffen in Pralognan. NARA, RG 59, b. 3615, f. 765.003/9–556, Telegramm der römischen Botschaft an das Staatssekretariat, 5. September 1956; Staatssekretariat, Office Memorandum „Developments on the Italian Socialist Scene“, 7. September 1956. Einen umfassenden Überblick über die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in den 50er Jahren vgl. Leopoldo Nuti, Gli Stati Uniti e l’Apertura a sinistra. Importanza e limiti della presenza americana in Italia, Rom 1999. NARA, RG 59, b. 3605, f. 765.00/8–2856, Department of State an die römische Botschaft, 1. September 1956. LPA, NEC, b. 122, Bericht von Phillips, 27. März 1957. OURS, PS-SFIO, Commission des Affaires Internationales, La Question de la Unification Socialiste, 24. November 1956.

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ihrerseits auf der finanziellen Autonomie beruhte. Von nun an rieb sich der langsame Transformationsprozess des PSI von einer Oppositions- zur Regierungspartei an diesem Problemknoten und an den großen Schwierigkeiten, ihn zu lösen. Nenni bemühte sich sofort um Rückenstärkung. Die Gewerkschaftsführer der UIL informierten die amerikanische Botschaft, der sozialistische Parteisekretär sei „auf der Suche nach materieller Unterstützung“, um zu verhindern, dass die von PCI-treuen Funktionären geführten Föderationen seinen Autonomiekurs vereitelten.47 Und tatsächlich begannen die amerikanischen Diplomaten zu überlegen, ob es nicht zweckmäßig sei, Nennis Plan einer wieder vereinten sozialistischen Partei zu unterstützen; in diese Richtung drängte sie auch der Verteidigungsminister Taviani, der in einem Gespräch mit Botschafter Luce „freiweg sagte, dass die UdSSR diese Partei finanzieren würde, wenn die Vereinigten Staaten es nicht täten, und dass es wirklich um nichts anderes gehe als darum, ob die vereinigte Partei – wenn sie je zustande käme – von Rubeln oder Dollars am Leben erhalten wird“.48 Ein derart drastisches Dilemma rief angesichts der sich überstürzenden Ereignisse einen bisher unbekannten Aktivismus hervor: Eine neue, entscheidende Stufe war mit dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn erreicht, als Nenni das politische Bündnis mit dem PCI aufkündigte.49 Deshalb richteten sich alle Antennen auf den Parteitag des PSI, der Anfang 1957 in Venedig stattfand. Die Amerikaner blieben skeptisch,50 während die Labouristen und französischen Sozialisten, die dem Kongress beiwohnten, sich optimistisch zeigten.51 Eine Art offizieller Anerkennung erhielt der Kongress schließlich durch die Teilnahme des Chairmans der Internationalen Phillips.52 Der Resolutionsentwurf der Parteiführung, der auf die Unabhängigkeit vom PCI und auf die Vereinigung der Sozialisten abzielte, schien die Skeptiker zu widerlegen und die Optimisten zu ermutigen.53 Am Ende jedoch behielten Nennis Gegner unter Ausnutzung der Spaltung und Unentschlossenheit des Funktionärsapparates bei den Wahlen zum Zentralkomitee die Oberhand.54 Es gab keinen schlagenderen Beweis dafür, dass jede politische Linie Gefahr lief zu scheitern, wenn eine angemessene organisatorische Vorbereitung fehlte. Angesichts dieser Wechselwirkung und der sich daraus ergebenden Zwangslage bezo47 48 49

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NARA, RG 59, b. 4813, f. 865.062/8–1056, „Memorandum of Conversation with Valerio Agostinone, Uil International affairs officier“, 10. August 1956. Ibid., b. 3606, f. 765.00/10–456, „Conversation with Minister of Defense Taviani“, from Embassy of Rome to Dept State, 4. Oktober 1956. FN, APN, SP, b. 90, f. 2215, Direzione Psi, 6. November 1956. Über den ungarischen Aufstand und die sowjetische Invasion vgl. Mark Kramer, New Evidence on Soviet Decision-Making and the 1956 Polish and Hungarian Crisis, Cold War International History Project Bulletin, Nr. 8–9, Winter 1996, S. 358–384 NARA, RG 56, b. 3606, f. 765.00/2–557, Embassy Rome to Dept State, „Memorandum of Conversation with Matteo Matteotti“, 29. Januar 1957. LPA, NEC, Meeting of 23 January 1957. IISH, ASI, b. 667, Italy Correspondence, Saragat an Phillips, 5. Januar 1957. FN, APN, SP, b. 90, f. 2215, Direzione Psi, 1. Dezember 1956, Abschlussbericht über den Kongress. Über die Prozesse auf dem Kongress von Venedig: Mattera, Il Partito inquieto (wie Fn. 6), S. 272–284.

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gen die politischen Beobachter gegensätzliche Positionen. Während „Nennis Niederlage auf dem Kongress des PSI“ in den Augen der US-Botschaft nahelegte, einem noch in den Händen der Kommunisten liegenden Verwaltungsapparat keinerlei Hilfe zu gewähren,55 und Saragat die Labouristen wutentbrannt vor jeder weiteren Initiative warnte,56 riet Bevan genau im Gegenteil dazu, die Nenni treu gebliebenen Funktionäre finanziell zu unterstützen und ihnen damit gegen die prokommunistischen Parteimitglieder zu helfen.57 Der Chairman der Internationale erkannte scharfsinnig, dass der heikelste Punkt darin bestand, dass die Gewerkschaftsorganisation CGIL von PCI und PSI gemeinsam getragen wurde: „Der größte Teil der europäischen Parteien geht davon aus, dass der Bruch mit den Kommunisten auf politischer Ebene unter Beibehaltung der gewerkschaftlichen Einheitsfront ein Widerspruch in sich darstellt“.58 Tatsächlich berichteten zahlreiche Präfekten vom Druck, den die kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre auf ihre der Wiedervereinigung zuneigenden sozialistischen Kollegen ausübten, die nun oftmals marginalisiert wurden und ihr Gehalt mit Verspätung erhielten.59 So war Luigi Antonini (der sich, wie gezeigt, 1946 für Saragat eingesetzt hatte) im Sommer zuvor eigens nach Italien gekommen, um die Gefahr prokommunistischer Machenschaften zu bannen, zumal, wie er schrieb, „Nennis sozialistische Einheit ein Wechselbalg sein würde“.60 Angesichts dieser Konstellation erwiesen sich die Monate in der zweiten Hälfte des Jahres 1957 und Anfang 1958 als sehr schwierig für den PSI. Auf politischer Ebene kam es zu einem regelrechten „Stellungskrieg“: Die Autonomisten um Nenni schlugen neue Initiativen vor, während die Parteilinke alle Vorhaben blockierte, damit die Partei paralysierte und über die eigenen Funktionäre die Kräfteverhältnisse umkehrte.61 In organisatorischer Hinsicht führte diese Situation dazu, dass viele entmutigte Parteimitglieder in Passivität verfielen und der Apparat durch die Rivalität entgegengesetzter Strömungen gespalten wurde.62 Angesichts der wachsenden Schwierigkeiten versuchte Nenni die Finanzierungsquellen zu diversifizieren und nahm Kontakt zu Unternehmerkreisen auf, die – wie Mattioli und Rizzoli (der in seiner Jugendzeit ein sozialistischer Drucker gewesen war) – „mehr oder weniger als Sympathisanten des PSI bekannt waren“.63 55 56 57 58 59 60 61 62 63

NARA, RG 59, b. 2539, f. 611.65/3–57, Keppel (Embassy of Rome) to Torbert (Dept of State), 5. März 1957. IISH, ASI, b. 667, Italy Correspondence, Saragat an Phillips, 10. Februar 1957. LPA, NEC, Meeting of the NEC, 27. Februar 1957. IISH, ASI, Italy Correspondence, Bericht von Phillips, 11. März 1957, auch in LPA, NEC, b. 122. ACS, MI, DGPS, CA, 1956, b. 23, Bericht der Präfekten von Pavia vom 8. November 1956, von Turin vom 10. Oktober 1956, von Imperia vom 12. November 1956, von Venedig vom 2. Dezember 1956. ILGWU, LAR, b. 17, f. 7, Antonini an Faravelli, 19. Juni 1956. FN, APN, SP, b. 91, f. 2221, Direzione Psi, Sitzungen vom 2. und 3. Oktober, 23. Oktober und 3. November. FT, APS, Circolari, b. 4, f. 1, Rundschreiben vom 4. März 1957, 10. April 1957, 12. April 1957 und 4. Juni 1957. ACS, MI, GAB, PP; b. 69, f. 175 P/94, Aufzeichnung des Innenministers vom 26. März 1957.

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Amerikanische Quellen berichteten, ohne allerdings eindeutige Beweise vorlegen zu können, dass der Präsident des ENI-Konzerns Mattei einen Teil der Betriebsgelder auch dem PSI zukommen ließ, um die Regierung unter Druck zu setzen.64 Diese Mittel flossen allerdings recht spärlich, so dass im Sommer verschiedene sozialistische Exponenten neue Appelle an die Labour-Partei richteten.65 Ihre Bemühungen blieben erfolglos. Der neue Führer der Labour-Partei Hugh Gaitskell, der innerhalb seiner Partei gegen große Widerstände zu kämpfen hatte, zeigte sich direkten Eingriffen in die italienischen Angelegenheiten abgeneigt.66 Darüber hinaus wirkten die Amerikaner, die immer noch mit Misstrauen auf Nenni blickten, auf die Briten ein, ihren diesbezüglichen Aktivismus zu bremsen.67 Großes Gewicht besaß dabei zweifellos die immer noch tiefe politisch-ideologische Distanz, wie aus einem Brief hervorgeht, den der Sekretär der norwegischen sozialistischen Partei nach dem Besuch einer Delegation italienischer Sozialisten an die Internationale richtete: „Diese Leute […] reden von Klassenkampf und Marxismus wie die norwegischen Sozialisten vor dreißig Jahren, möglicherweise weil ihre aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage der unsrigen von damals entspricht“.68 Angesichts des internationalen Drucks, der internen politischen Lähmung und der organisatorisch-finanziellen Schwierigkeiten schien das Schicksal des PSI besiegelt. Inzwischen rückten die Wahlen von 1958 näher, die einen Wendepunkt darstellen sollten.69 Während der Wahlkampagne kam es im linken Lager zu einem Schlagabtausch zwischen den einstigen kommunistischen und sozialistischen Verbündeten. Der aus den Geschehnissen von 1956 geschwächt hervorgegangene, territorial aber nachhaltig verankerte PCI beschloss, seinen Aktionsradius organisatorisch auszuweiten;70 dementsprechend flossen viele Energien und Gelder in die Einrichtung neuer und in die verstärkte Förderung bestehender Parteibüros.71 Sie sollten zu einer Stätte „vorpolitischer“ Aktivitäten werden, an die sich Menschen in Schwierigkeiten wenden konnten, oder die Momente der Muße boten, indem man 64 65 66 67 68 69

70 71

NARA, RG 59, b. 3617, f. 765.13/9–2557, Memorandum from Embassy of Rome to Dept of State, 27. September 1957. LPA, Italy Correspondence, Memorandum von Zagari und Faravelli an Morgan Phillips, 1. Juli 1957; Brief der Leitung des PSI an den Labour-Führer Gaitskell, 25. Juni 1957. Geoffrey McDermott, Leader Lost. A Biography of Hugh Gaitskell, Princeton 1971; Philip Maynard Williams, Hugh Gaitskell. A Political Biography, London 1979. NARA, RG 59, b. 3615, f. 765.003/3–2657, The State Department to the Embassy of London and to the Embassy of Rome, 28. März 1957. IISH, ASI, b. 677, Italy documents 1957–1960, Haakon Lie to Albert Carthy, 30. Dezember 1957. Über die Dynamiken der Wahlkampagne 1958 vgl. Stefano Cavazza, Comunicazione di massa e simbologia politica nelle campagne elettorali del secondo dopoguerra, in: Pier Luigi Ballini / Maurizio Ridolfi (Hg.), Storia delle campagne elettorali in Italia, Mailand 2002, S. 224– 236. IG, APC, mf. 0453, Rundschreiben Nr. 141, Roma 22. Januar 1958. Der organisatorische Aktivismus des PCI wird auch in zahlreichen Berichten der Präfekten erwähnt: ACS, MI, GAB, 1957–1960, b. 405, f. 17221/2, zusammenfassende Berichte der Präfekten von Novara, Mantova, Milano, Roma, Napoli, Catania und Palermo, alle vom 5. Mai 1958.

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sich zum Beispiel vor neuen, durch Parteigelder finanzierten Fernsehgeräten gemeinsam Fußballspiele anschaute.72 Das Ziel bestand darin, ein „Zugehörigkeitsgefühl“ und eine Atmosphäre der Sympathie für die Partei zu schaffen, was sich dann, so hoffte man, auf das Wahlverhalten auswirken würde. Der durch die organisatorischen Mängel geschwächte PSI, der über keinen mit dem PCI vergleichbaren Stab von Funktionären verfügte, verzichtete auf eine engmaschige Propagandatätigkeit und vertraute auf „Überzeugungsstimmen“, die er durch sein Selbstverständnis als progressive, demokratische Kraft unter den linksorientierten, reformgeneigten Wählern zu gewinnen hoffte.73 Die Ergebnisse fielen zwiespältig aus: trotz der politischen Schwierigkeiten und dank des regen Aktivismus konnte der PCI seinen Stimmenanteil von 22 % halten, während der PSI aufgrund seines neuen Images, eine unabhängige Fortschrittspartei zu sein, trotz der großen internen Probleme auf 14 % kam und damit das in seiner Parteigeschichte beste Ergebnis erzielte.74 Die Auswirkungen zeigten sich sofort. Auf der ersten Sitzung der Parteileitung nach den Wahlen forderte Nenni die Einberufung eines neuen Kongresses, der die nicht mehr haltbare Stagnation aufbrechen sollte.75 Der Einsatz war hoch, ging es doch darum, die endgültige Kontrolle über die Partei zu erlangen. Eingedenk der Irrtümer von 1957 wandten Nenni und seine Anhänger eine politisch-organisatorische Doppelstrategie an, zumal die internen Gegner um Tullio Vecchietti bereits im Sommer 1957 direkte Beziehungen zur sowjetischen Botschaft aufgenommen hatten, nicht zuletzt auch, um finanzielle Unterstützung zu erhalten.76 Reichten den autonomistischen Kräften die Eigenmittel? Offensichtlich nicht. Daraus ergab sich eine weitere Frage: An wen konnten sie sich wenden? Intern war weiterhin wenig zu holen. Und außerhalb der Partei blieb es bei den üblichen Gesprächspartnern: der amerikanischen Botschaft, der Sozialistischen Internationale und deren Mitgliedersparteien, d. h. den französischen Sozialisten und der britischen Labour-Partei. Während in Washington das Misstrauen anhielt, waren es nun die Labouristen, die vor allem in der Person des Abgeordneten Alfred Robens die Initiative ergriffen. Er war es, der nach Italien reiste und nach einem Treffen mit Nenni seiner Partei und der Internationalen vorschlug, mindestens 30.000 Pfund zur Verfügung zu stellen: „Eine kleine Summe, um eine hochwichtige Schlacht im Kalten Krieg zu gewinnen“.77 Handelte es sich dabei um eine bedeutende Summe? Saragat verneinte die Frage.78 Allerdings deckte die britische Hilfeleistung über ein Drittel des 72 73 74 75 76 77 78

IG, APC, mf. 0453, Commissione Centrale di organizzazione, Besprechung vom 24. September 1958, zusammenfassender Bericht von Amendola. FT, APS, Circolari, b. 4, f. 6, Rundschreiben vom 12. Februar, 13. und 21. März 1958. Colarizi, Storia politica (wie Fn. 4), S. 69–71. FN, APN, SP, b. 91, f. 2222, Direzione Psi, Sitzung vom 20. Juni 1958. Fabio Bettanin u. a. (Hg.), L’Italia vista dal Cremlino. Gli anni della distensione negli archivi del Comitato Centrale del Pcus, Roma 2015, S. 70–72. IISH, ASI, b. 677, f. Italy docs, vertrauliche Nachricht von Robens an den Präsidenten der Internationale Carthy, 5. Juli 1958. NARA, RG 59, b. 3608, f. 765.00/8–558, from Embassy of Rome to State Department, 5. August 1958.

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gesamten Kostenaufwands für den Verwaltungsapparat ab, der sich nach internen Dokumenten auf ungefähr 120 Millionen Lire belief.79 Denn 30.000 Pfund entsprachen damals ungefähr 50 Millionen Lire. Überdies teilte Robens der amerikanischen Botschaft einige Monate später mit, dass es sich dabei um eine erste Tranche gehandelt habe, der „substantielle Mittel“ gefolgt seien.80 Hiermit war ein Wendepunkt erreicht. Die Entwicklung vollzog sich von nun an zwar nicht linear, war vielmehr von zahlreichen Unterbrechungen und Krisen gekennzeichnet, doch das Eis war gebrochen: Die Zweifel, die die internationalen Kreise Nenni gegenüber hegten, wurden nach und nach zerstreut, die Unterstützung für dessen Flügel nahm dementsprechend zu. Auf dem Kongress vom Januar 1959 siegten die Autonomisten um Nenni mit etwas über 60 %.81 Nennis Entscheidung, eine Leitungsgruppe zu bilden, die allein aus Exponenten seiner Strömung bestand, verschärfte die interne Polarisierung. Innerhalb weniger Monate verwandelten sich die größeren Faktionen in streng organisierte Strömungen, die jeweils über feste Verbindungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie und über eine stabile Struktur in den regionalen Föderationen verfügten. Vecchietti begab sich persönlich nach Moskau, um die notwendige Unterstützung zu erlangen, und löste damit einen heftigen Briefwechsel mit Nenni aus.82 So äußerte sich Pieraccini wenige Tage später, am 25. Juni 1959, in einer Sitzung der Parteileitung wie folgt: „Es stellt sich das Problem der Organisation der Parteifraktion mit nicht nur zentralen, sondern auch peripheren Büros, Inspektoren usw.“, aber auch, fügte er sofort hinzu, „das Problem der Finanzierung der Fraktion“.83 Die ersten Schritte waren schwer. In Washington blieb man misstrauisch.84 Zugleich verlor die Labour-Partei im Oktober 1959 die Wahlen und hatte nun mit internen Problemen zu kämpfen.85 Schließlich hatte die Gründung der Fünften Republik in Frankreich auch die SFIO erheblich geschwächt.86 Nach Überwindung der größten Schwierigkeiten machte sich aber rasch ein anderes Klima breit. In der Endphase der Regierung Eisenhower begannen die amerikanischen Diplomaten in den Sozialisten nicht mehr perfide Doppelagenten zu sehen, sondern Funktionäre, die sich um die Lösung der internen Probleme bemüh-

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FT, APS, Amministrazione, b. 47, f. 6, „Primo bilancio per l’anno 1958“. NARA, RG 59, b. 3609, f. 765.00/1–2159, from London to Secretary of State, 21. Januar 1959. FT, APS, Organizzazione, b. 50, f. 85, „Risultati dei congressi provinciali“, Dezember 1958. FN, APN SC, b. 42, f. 1959, Nenni an Vecchietti, 16. Juli 1959, Vecchietti an Nenni, 23. Juli 1959, Nenni an Vecchietti, 24. Juli 1959; über die Unterstützungsleistungen aus Moskau: Bettanin, L’Italia (wie Fn. 76), S. 132–133. FN, APN, SP, b. 92, f. 2228, Direzione Psi, 25. Juni 1959. NARA, RG 84, b. 8, f. 350.1, From Embassy of Rome to Department of State, 16. November 1959. Über die britischen Wahlen von 1959: Richard Lamb, The MacMillan Years, 1957–1963, London 1995. Michel Winock, 13 mai 1958. L’agonie del IV Republique, Paris 2006; Bastien François, Naissance d’une Constitution. La V Republique, Paris 1999.

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ten und denen auf ihrem Weg in die Autonomie geholfen werden konnte.87 Die Geschehnisse vom Juli 1960, als Tambroni mit seinem Versuch scheiterte, die Achse der Regierungsmehrheit nach rechts zu verschieben, überzeugten am Ende die Amerikaner von der Notwendigkeit, die Karte der Öffnung nach links auszuspielen.88 So war 1961, als Kennedy die Wahlen gewann, das Feld schon bestellt, auf dem sich die neue Strategie optimieren ließ: dank des Einflusses von Beratern wie Schlesinger begannen nun langsam und schwerfällig die Unterstützungsleistungen auch aus den Vereinigten Staaten zu fließen.89 Zwischenzeitlich war es Nenni nach einer Londonreise im Jahr 1960 gelungen, das Verhältnis zur Labour-Partei nachhaltig zu festigen90 und die Grundlagen für eine engere Beziehung zur Internationale zu legen.91 Die linkszentristische politische Orientierung verband sich mit der wachsenden organisatorischen Stabilität der autonomistischen Strömung, die nun über weniger diskontinuierlich-fragmentarische Finanzierungsleistungen verfügte. Alle Variablen der Gleichung waren damit gelöst. Jetzt konnte Nenni eine schnellere Gangart einschlagen und sich linkszentristischen Regierungsbündnissen zuwenden. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ACS, MI, DGPS, CA, GAB, PP: Archivio centrale dello Stato, Ministero dell’Interno, Direzione Generale di Pubblica Sicurezza, Categorie Annuali; Gabinetto del Ministro, Partiti Politici FT, APS, Fondazione Turati, Archivio partito Socialista FN, APN, SC, SP: Fondazione Nenni, Archivio Pietro Nenni, Serie Carteggio, Serie Partito. IG, APC, Dir, RP: Istituto Gramsci, Archivio Partito Comunista, Direzione, Fondo Regioni e Provincie IISH, ASI: International Institute of Social History, Archive of Socialist International ILGWU, LA: International Ladies Garments’ Workers Union, Luigi Antonini Records ISRT, AFL: Istituto Storico della Resistenza in Toscana, Archivio Foscolo Lombardi LA, NEC, Labour Party Archive, National Executive Committee NARA, RG: National Archives Record Administration Washington, Record Group. OURS, PS-SFIO: Office Universitaire de Recherche Socialiste, Parti Socialiste-Section Française de l’Internationale Ouvrière b., busta, f., fascicolo, mf., microfilm 87 88 89 90 91

Nuti, Gli Stati Uniti (wie Fn. 43), S. 264–265. Ibid., S. 293–297.o NARA, RG, 84, b. 8, f. 350.1, Psi memo of conversations, 5. Oktober 1962. Über die Rolle Schlesingers vgl. Nuti (wie Fn. 43), S. 372–392. LPA, Italy Correspondence, f. 1960–1963, Brief Vittorellis an das Exekutivkomitee der Labour-Partei, 8. März 1960; Pietro Nenni, Gli anni del Centro-Sinistra, Diari/Milano 1981, S. 119–120. IISH, ASI, b. 678, f. Italy docs, Meeting Nenni-Carthy, 11. Mai 1960.

VON DER KANZLERPARTEI ZUR „MODERNEN VOLKSPARTEI“ Neuorientierung und Konflikt in der CDU nach 1969 Daniel Schmidt Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Christliche Demokratie als bahnbrechendes neues politisches Konzept, das die antagonistischen Strukturen des bürgerlichen Lagers innerhalb des deutschen Parteiensystems überbrückte, indem es den Politischen Katholizismus, den Konservatismus und den Nationalliberalismus vereinte.1 Aber obwohl sie die Milieugebundenheit der Weimarer Parteien hinter sich ließ, blieb die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) ihrer Struktur nach eine Honoratiorenpartei, die sich nicht auf eine Massenbasis, sondern auf ein breites Netz von Vorfeldorganisationen und Verbänden stützte.2 In diesem Sinne war sie in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten ihres Bestehens weniger Volkspartei als „interkonfessionelle Sammlungspartei“.3 Tatsächlich verdankte die CDU ihren beträchtlichen politischen Erfolg vor allem der Überwindung der traditionellen Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten. Als die CDU im Verlauf der 1950er Jahre verschiedene kleinere konservative Parteien absorbierte und sich auf diese Weise das interne Übergewicht des Politischen Katholizismus tendenziell ausglich, konnte sie sich im deutschen Parteiensystem als dominante Mitte-Rechts-Kraft konsolidieren.4 Die Zusammenarbeit der heterogenen Strömungen war durch ein ausgeklügeltes innerparteiliches Proporzsystem, das vor allem die protestantischen Konservativen vor katholischer Überwältigung schützen sollte,5 abgesichert sowie durch einen bemerkenswerten machtpolitischen Pragmatismus geprägt. Vor allem basierte sie auf drei wichtigen politischen Projekten: Antikommunismus, Soziale Marktwirtschaft, Westbindung.6 Diese Trias ermöglichte der CDU politische Erfolge, 1 2 3 4 5 6

Vgl. Geoffrey Pridham, Christian Democracy in Western Germany. The CDU/CSU in Government and Opposition, 1945–1976, London 1977, S. 21 f.; Kees van Kersbergen, Social Capitalism. A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London/New York 1995, S. 1. Vgl. Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart 2001, S. 283 f.; Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2001, S. 48 ff. Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 14. Dazu auch van Kersbergen, Social Capitalism (wie Fn. 1), S. 63 f. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 32 ff.; Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 7 f. Vgl, Bösch, Adenauer-CDU, S. 55–58. Vgl. v. a. Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 20 ff.; Udo Zolleis, Die CDU. Das politische Leitbild im Wandel der Zeit, Wiesbaden 2008, S. 96.

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wie es sie zuvor in Deutschland nicht gegeben hatte. Allerdings limitierten stark ausgeprägte regionale Differenzierungen die Kohäsion der Partei.7 Die CDU blieb eine fragile Konstruktion, deren Zusammenhalt vor allem von Wahlerfolgen und Regierungsmacht abhing. Die Führungsspitze der CDU war sich dieser Gefahren bewusst. So stellte Altkanzler Konrad Adenauer 1966 fest: Ich fürchte, unsere Partei wäre als Oppositionspartei nicht lebensfähig. Wir sind nur lebensfähig, wenn wir unsere weltanschauliche Basis beibehalten und wenn unsere Erfolge die Verschiedenartigkeit der Interessen der einzelnen Gruppen, die bei uns sind, überspielen.8

Tatsächlich hatte der durchschlagende Erfolg der „Ära Adenauer“, in der sich die CDU als Kanzlerpartei profilieren konnte, die Partei nicht nur äußerst selbstbewusst, sondern auch selbstzufrieden werden lassen. Nach dem triumphalen Wahlerfolg von 1957 verspielte die Union nach und nach ihre Anschlussfähigkeit an den sich wandelnden Zeitgeist. Die Partei, die sich eigentlich als natürliche Regierungspartei der Bundesrepublik verstand, geriet zunehmend unter Druck. Die Probleme waren einerseits hausgemacht, denn die CDU verschliss ihre Kräfte spätestens seit Beginn der 1960er Jahre in einem langen und schmerzvollen Prozess der Emanzipation von ihrem dominanten Übervater Adenauer.9 Andererseits sah sich die Union in diesem Zeitraum durch die sozialen und politischen Wandlungsprozesse grundsätzlich herausgefordert, vor allem durch die ersten Anzeichen einer ökonomischen Rezession und die zunehmende Politisierung der jungen Generation. Die CDU, programmatisch der unmittelbaren Nachkriegszeit stärker verbunden als der dynamischen Gegenwart, schien plötzlich wie aus der Zeit gefallen zu sein. Ihr Mythos als Partei des Wirtschaftswunders verblasste, die Partei erwies sich zunächst als unfähig, sich den veränderten Bedingungen anzupassen.10 Hinzu kam, dass auch die bislang unangefochtene Position der CDU im bundesdeutschen Parteiensystem ins Wanken geriet, da ihr erstens in der durch das Godesberger Programm als Volkspartei erneuerten Sozialdemokratie ein ernsthafter politischer Konkurrent erwachsen war, zweitens der Koalitionspartner FDP mehr und mehr auf Distanz ging und drittens in Gestalt der NPD ein neuer Akteur am rechten Rand auftauchte, der der Union Wählerstimmen abspenstig zu machen drohte.11 Als die FDP Ende 1966 ihre Allianz mit der CDU auf Bundesebene und im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen aufkündigte, wurde die Lage der Union prekär. An Rhein und Ruhr fand sie sich in der Opposition wieder, im Bund sah sie sich gezwungen, eine Große Koalition mit der ungeliebten SPD zu bilden – eine Entwicklung, die schwere interne Konflikte zwischen dem sozialka7 8 9 10 11

Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 56; Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 69. Protokoll Nr. 3, 16.2.1966, in: Günter Buchstab (Bearb.), Kiesinger: „Wir leben in einer veränderten Welt“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1965–1969, Düsseldorf 2005, S. 71. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 113 f.; Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 355–368. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 144 f. Ebenda, S. 114 f.; van Kersbergen, Social Capitalism (wie Fn. 1), S. 119 f.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 26.

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tholischen und dem konservativen Flügel zur Folge hatte.12 Da sich SPD und FDP in den folgenden Jahren weiter annäherten, blieb der CDU im Vorfeld der Bundestagswahl von 1969 nur noch eine Chance, auch weiterhin an der Bundesregierung beteiligt zu sein: Sie musste die absolute Mehrheit erringen. Bundeskanzler Kiesinger scheiterte aber knapp und die Union musste erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland das ihr auf Bundesebene unbekannte Terrain der Opposition betreten.13 Der machtgewohnten Partei fiel es schwer, die Niederlage und die neue Rolle zu akzeptieren. Die in der frustrierten CDU verbreitete Legende vom gestohlenen Sieg verstellte bei vielen Protagonisten der Partei den Blick darauf, dass es sich keineswegs nur um einen Betriebsunfall handelte:14 Die sozialliberale Koalition war vielmehr das Ergebnis einer fundamentalen Verschiebung der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse. Dies bestätigte sich im Jahr 1972, als die CDU eine erneute, dieses Mal als „demütigendes Desaster“15 empfundene Wahlniederlage hinnehmen musste, die die einschneidendste Zäsur der bisherigen Parteigeschichte markierte.16 Hatte zuvor Rainer Barzel, Nachfolger von Kiesinger im Amt des Parteivorsitzenden, interne Konflikte noch halbwegs moderieren können, eskalierten diese nun, da die Aussicht auf einen baldigen Machtwechsel zu verfliegen schien. Diese Kontroversen, die sowohl zwischen den verschiedenen Flügeln der CDU als auch mit der bayerischen Schwesterpartei CSU ausgetragen wurden, berührten grundsätzliche strategische und programmatische Fragen danach, wie es der Partei unter den veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen gelingen konnte, erneut und dauerhaft politische Führungsfähigkeit zurückzuerlangen.17 Letztlich standen sich hier zwei antagonistische Konzepte gegenüber: Versprach ein intransigenter Kurs radikaler Opposition, der das konservative Profil der Partei zuspitzte und auf die Erringung der absoluten Mehrheit zielte, die besseren Aussichten, möglichst rasch wieder in Regierungsverantwortung zu gelangen? Oder sollte sich die Partei grundlegend reformieren und sich ein progressives Image geben, das Perspektiven auf eine zukünftige Kooperation mit der FDP eröffnete?18 Während der 1970er Jahre gelang es der Partei nicht, eine kohärente Antwort zu finden. Strategische Fragen verbanden sich mit parteiinternen Machtfragen und 12 13 14 15 16

17 18

Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 164 ff. Ebenda, S. 182. Ebenda, S. 189. Helmut Kohl, Erinnerungen. Band 1: 1930–1982, München 2004, S. 300. Vgl. Dorothee Buchhaas, Die Volkspartei. Programmatische Entwicklung der CDU 1950– 1973, Düsseldorf 1981, S. 328 f.; Daniela Forkmann, Rainer Barzel. Der tragische Held, in: dies. / Saskia Richter (Hg.), Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schuhmacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2006, S. 141–173. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 197 f.; Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 291. Vgl. Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 44 (2004), S. 463 f.

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die Konflikte zwischen den konkurrierenden Parteiflügeln blieben stets virulent – mit wechselndem Schlachtenglück auf beiden Seiten. Die Auseinandersetzungen führten jedoch nicht zu einer Paralysierung der Partei, vielmehr modernisierte sich die CDU im Konflikt. Diese Modernisierung war das explizite Ziel einer sehr heterogenen Richtung innerhalb von Partei und Parteiführung, die die Oppositionsrolle als Gelegenheit verstand, die die CDU nutzen könne, um sich von ihrer programmatischen und organisatorischen Auszehrung zu erholen. Verfechter dieser Auffassung, zu denen Vertreter der Jungen Union, der katholisch geprägten Sozialausschüsse wie Norbert Blüm, aber auch wirtschaftsnahe protestantische Liberale wie Walther Leisler Kiep oder Richard von Weizsäcker zählten, waren durchaus bereit, einige Jahre in der Opposition zu akzeptieren. Diese Zeit sollte aber sinnvoll genutzt werden: zum einen, um der CDU durch eine konsequente Organisationsreform die notwendige politische Schlagkraft zurück zu geben, zum anderen, um der Partei ein neues programmatisches Profil zu verleihen, mit dem sie ihre Fähigkeit zur Lösung der Probleme moderner Gesellschaften demonstriere. Diese Gruppe einte die Überzeugung, dass ein prononciert konservativer Kurs den Zusammenhalt der Union ebenso wie den politischen Erfolg gefährde. Blüm beispielsweise war überzeugt, dass nur ein sozialer Kurs in die politische Mitte führe, in der Wahlen gewonnen werden. Ein Rechtsruck aber bedeute, die Mitte preiszugeben.19 In ihren Reformbemühungen konnte sie an erste zaghafte Ansätze aus den späten 1960er Jahren anknüpfen, als sich die Union vor dem Hintergrund der Großen Koalition, des neuen Parteiengesetzes von 1967 und des parteiinternen Generationswechsels erstmals ernsthaft um den organisatorischen und programmatischen Umbau der Partei bemüht hatte.20 So hatte eine von Helmut Kohl 1969/70 geleitete Kommission zur Parteireform für die CDU explizit das Ziel ausgegeben, „moderne Volkspartei“ zu werden.21 Konkrete Schritte in diese Richtung hatte bereits der eher glücklose Parteivorsitzende Rainer Barzel unternommen, dessen Bundesgeschäftsführer Rüdiger Göb ab 1970 begann, die Bundesgeschäftsstelle der CDU zu einer modernen Parteizentrale umzubauen: Sozialwissenschaftlich inspirierte Konzepte politischer Planung hielten ebenso Einzug bei der CDU wie moderne Informationstechnologie.22 Aber erst unter Helmut Kohl selbst, der Barzel 1973 beerbte, nahm die Erneuerung der CDU zu einer „modernen Volkspartei“ tatsächlich Fahrt auf. Kohl pflegte zwar das Image des jugendlichen Reformers, war aber alles 19 20 21 22

Protokoll Nr. 32a, Klausurtagung 27./28.1.1973, 2. Tag, in: Günter Buchstab (Bearb.), Barzel: „Unsere Alternativen für die Zeit der Opposition“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1969–1973, Düsseldorf 2009, S. 1211 f. Vgl. Hans-Jürgen Lange, Responsivität und Organisation. Eine Studie über die Modernisierung der CDU von 1973–1989, Marburg 1994, S. 123 ff.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 29 f. u. 95 f. Klaus Dreher, Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998, S. 147; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 31 f.; zur besonderen Bedeutung Kohls für den Wandel der CDU vgl. Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 410 f. Vgl. Lange, Responsivität und Organisation (wie Fn. 20), S. 129 ff.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 101 f.

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andere als ein blauäugiger Idealist, sondern vielmehr ein nüchterner und pragmatischer Machtpolitiker, der überzeugt war, dass es für zukünftige Wahlerfolge entscheidend sein würde, die Partei fundamental neu aufzustellen.23 Er setzte darauf, dass eine realistische Perspektive auf einen Machtwechsel die innerparteilichen Differenzen überbrücken würde und stellte sich keineswegs klar auf die Seite der Reformer, sondern inszenierte sich als ausgleichende Kraft. So war er auch in der Lage, Unterstützung aus dem konservativen Lager zu gewinnen. Sein Hauptanliegen, so Kohl, sei die Integration der Partei.24 Es kam Kohl aber durchaus entgegen, dass die verheerende Niederlage von 1972 das beträchtliche Beharrungsvermögen innerhalb der heterogenen Partei zumindest zeitweise aufgeweicht hatte und den weitreichenden Bemühungen um eine Neuausrichtung der CDU nun Gestaltungsspielräume und Realisierungschancen gegeben waren.25 Mit Kurt Biedenkopf hatte Kohl zudem einen ambitionierten neuen Generalsekretär auserkoren, der der CDU nicht nur durch seinen Ruf als Wissenschaftler neue intellektuelle Strahlkraft verlieh, sondern der sich auch als tatkräftiger Politmanager erwies.26 So baute er die Bundesgeschäftsstelle zu einem regelrechten „Think Tank“ aus,27 in dem Vertreter der „68er RCDS-Generation“28 wie Warnfried Dettling, Peter Radunski, Wulf Schönbohm oder Horst Teltschik daran arbeiteten, einen umfangreichen inhaltlichen und strukturellen Wandel der CDU herbeizuführen und dabei durchaus bemerkenswerte Erfolge erzielten. Die CDU erneuerte sich in den 1970er Jahren vor allem auf drei Ebenen:29 Erstens baute die CDU ihren Parteiapparat massiv aus und etablierte die Bundesgeschäftsstelle als unumstrittene Parteizentrale. Effiziente Organisation, moderne Personalplanung und zeitgemäße Wahlkampfführung sollten die CDU zurück an die Macht führen.30 Mit diesen Maßnahmen überwand die CDU sowohl auf 23 24 25 26 27

28

29 30

Vgl. Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 108–112. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 215. Wulf Schönbohm, Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat, Stuttgart 1985, S. 301. Vgl. Silke Yeomans, Das Amt des Generalsekretärs in der Christlich-Demokratischen Union (CDU) auf Bundesebene 1967–1989, Augsburg 1995, S. 165 ff. Vgl. Günther E. Braun, Theoretische und praktische Planungsansätze in Regierung, Verwaltung und Parteien, in: ders. / Wulf Schönbohm (Hg.), CDU-Programmatik. Grundlagen und Herausforderungen. München 1981, S. 235 ff.; Claus Leggewie, Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987, S. 114 ff. Peter J. Grafe, Schwarze Visionen. Die Modernisierung der CDU, Reinbek b. Hamburg 1986, S. 14. Dazu auch Anna von der Goltz, Eine Gegen-Generation von 1968? Politische Polarisierung und konservative Mobilisierung an westdeutschen Universitäten, in: Massimiliano Livi / Daniel Schmidt / Michael Sturm (Hg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 73–89; Daniel Schmidt, „Die geistige Führung verloren“. Antworten der CDU auf die Herausforderung „1968“, in: Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / HansUlrich Thamer (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 87–94. Dazu vor allem Bösch, Krise als Chance (wie Fn. 17), S. 288–301. Vgl. Schönbohm, Die CDU (wie Fn. 25), S. 132 ff.; Lange, Responsivität und Organisation (wie Fn. 20), S. 147–160; Zolleis, CDU (wie Fn. 6), S. 182.

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Bundes- als auch auf Landesebene ihre organisatorischen Defizite, die bis in die 1960er Jahre zum einen aufgrund machttaktischer Präferenzen der Parteispitze bewusst in Kauf genommen worden waren, zum anderen in dem verbreiteten Konkurrenzdenken der Landesverbände wurzelten.31 Zweitens erhöhte sich die Mitgliederzahl binnen weniger Jahre beträchtlich. Allein zwischen 1972 und 1976 verdoppelte sie sich von 300.000 auf 600.000.32 Die gezielt betriebene Expansion der Partei ging einher mit einer angestrebten Aktivierung der Parteibasis: neue innerparteiliche Partizipationsmöglichkeiten sollten vor allem auf Neumitglieder aus Bevölkerungsgruppen attraktiv wirken, die der CDU bislang eher fern standen.33 Drittens setzte die CDU explizit auf eine programmatische Erneuerung, die ihr neue Wählergruppen, beispielsweise Arbeiter oder junge Frauen, erschließen sollte: So warf der spätere Generalsekretär Heiner Geißler 1975 – sehr zur Beunruhigung des konservativen Flügels und der CSU – die „Neue soziale Frage“ auf, um das sozialpolitische Profil der CDU zu schärfen.34 Schon zuvor hatte eine Grundsatzprogrammkommission unter Leitung Weizsäckers die Arbeit aufgenommen, die schließlich 1978 in der Verabschiedung eines ersten Grundsatzprogrammes mündete, das die Grundwerte der Sozialdemokratie „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“ adaptierte und im christdemokratischen Sinne besetzte.35 So konnte sich die CDU in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als effizient organisierte und professionell geführte Volkspartei präsentieren, die sich programmatisch mit den drängenden Fragen der Gegenwart auseinandersetzte. Aber diese Erneuerung des Auftritts blieb parteiintern nicht unwidersprochen, denn der Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft innerhalb der Union waren durchaus Grenzen gesetzt. Widerstand formierte sich insbesondere in den Reihen des konservativen Flügels, dessen Bedeutung seit den 1960er Jahren stetig zunahm.36 Der Aufstieg der Konservativen in der Union war eng verknüpft mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der bayerischen Schwesterpartei CSU, das seinen Ausdruck in regelmäßigen Auseinandersetzungen um den politischen Kurs der beiden Parteien fand. Die zukünftigen Konflikte hatte Kiesinger bereits 1969 klar identifiziert: 31 32 33 34 35

36

Vgl. Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 237 f. u. 268 f. Vgl. Peter Haungs, Die CDU. Prototyp einer Volkspartei, in: Alf Mintzel / Heinrich Oberreuther (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik, Bonn 1992, S. 191 f.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 213. Schönbohm, Die CDU (wie Fn. 25), S. 149 ff. Vgl. Heiner Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976; Yeomans, Amt des Generalsekretärs (wie Fn. 26), S. 327 ff.; Bösch, Krise als Chance (wie Fn. 17), S. 296 f. „Das Grundsatzprogramm der CDU“ (1978), in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Christliche Demokratie in Deutschland. Analysen und Dokumente zur Geschichte und Programmatik der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und der Jungen Union Deutschlands, Melle 1978, S. 991–1031; Haungs, CDU (wie Fn. 32), S. 183 f.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 37–44. Vgl. Leggewie, Geist (wie Fn. 27), S. 12 f.; Bösch, Krise als Chance (wie Fn. 17), S. 289 f.

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Es bahnt sich ein kritisches Verhältnis zwischen CDU und CSU an. […] Die CSU bezeichnet sich offiziell als konservative Partei. Die CDU könnte sich nicht als konservative Partei bezeichnen. Eine Partei, die das Land Nordrhein-Westfalen umschließt, kann sich nicht einfach das Etikett `konservativ´ umhängen. In unserer Partei sind konservative Elemente, aber auch liberale, natürlich auch soziale. Da paßt kein Etikett. Das ist gefährlich. […] Den Streit zwischen den beiden verschiedenen Auffassungen des Vorsitzenden der CDU und des Vorsitzenden der CSU will ich jetzt nicht darlegen. Er versucht, rechts zu überholen. Ich halte das für eine vielleicht in Bayern erfolgreiche Methode, aber ich halte sie nicht für erfolgreich in der Bundesrepublik.37

Kiesinger hatte Recht: Analysen von Parteiseite ergaben, dass die massiven Stimmverluste der CDU auf Bundesebene bei den Wahlen von 1969 und 1972 insbesondere auf ihr konservatives und altmodisches Image zurückzuführen waren.38 Allerdings machte die CSU in Bayern vollkommen gegensätzliche Erfahrungen, denn ihr konservativ-nationaler Kurs führte sie zu Wahlergebnissen, die sie in dieser Höhe noch nicht erreicht hatte – selbst bei der für die Christdemokraten katastrophalen Bundestagswahl von 1972 holte die CSU in Bayern noch 55 Prozent der Stimmen.39 Ursprünglich hatten die CSU und ihr Vorsitzender Franz Josef Strauß mit ihrer scharfen konservativen Zuspitzung vor allem auf die Herausforderung durch die NPD reagiert, die bei den bayerischen Landtagswahlen von 1966 beachtliche 7,4 Prozent erzielt hatte. Aber auch nachdem der Rivale von rechts faktisch eliminiert war, behielt die CSU diesen Kurs bei. Auch innerhalb der CDU fühlten sich vor allem konservative Kreise durch die NPD dazu aufgefordert, ihre politischen Positionen klarer zu formulieren. Dabei ließen sie es bisweilen auch an der nötigen Distanz fehlen.40 So stellte Bundeskanzler Kiesinger im September 1968 im Bundesvorstand der CDU fest: Die Lage in Niedersachsen ist merkwürdig. Ich erinnere mich an einen Ausspruch im Fraktionsvorstand, wo bei der Beurteilung der NPD einer unserer Freunde sagte: Das sind meine Schulkameraden, die kenne ich alle ganz genau. Es sind anständige Leute. Was heißt hier rechts? Rechts von mir gibt’s nichts mehr. [Protokoll vermerkt Heiterkeit]41

Einer der wichtigsten Verbündeten von Strauß innerhalb der CDU war Alfred Dregger, der Vorsitzende des hessischen Landesverbandes.42 Der frühere Wehrmachtsoffizier und promovierte Jurist, schneidig und gutaussehend, schien das konservative Ideal des deutschen Mannes zu verkörpern. Er führte in Hessen Wahlkämpfe, die durch scharfe Polarisierung und unerbittliche Härte gekennzeichnet waren. Sein Auftreten führte auf dem liberalen Flügel der Union zu Irritationen. So kommen-

37 38 39 40 41 42

Protokoll Nr. 24, 16.1.1969, in: Buchstab (Bearb.), Kiesinger (wie Fn. 8), S. 1317. Vgl. u. a. Protokoll Nr. 4, 12.12.1969, Protokoll Nr. 6, 13.3.1970, sowie Protokoll Nr. 32, Klausurtagung 27./28.1.1973, 1. Tag, in: Buchstab (Bearb.), Barzel (wie Fn. 19), S. 87 f., 183 ff. u. 1094 ff. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 208 f. Vgl. Bösch, Adenauer-CDU (wie Fn. 2), S. 397–402. Protokoll Nr. 20, 2.9.1968, in: Buchstab (Bearb.), Kiesinger (wie Fn. 8), S. 1042. Zur besonderen Bedeutung des hessischen Landesverbandes in den 1970er Jahren vgl. Schönbohm, CDU wird moderne Volkspartei (wie Fn. 25), S. 250; Haungs, CDU (wie Fn. 32), S. 214.

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tierte sein hessischer Rivale Walther Leisler Kiep einen Auftritt Dreggers im CDUBundesvorstand im September 1975 durchaus spitz: Im Vorstand spricht Sturmführer Dregger vom Erfolgsrezept der Union, mutig statt feige, nein statt ja, Konfrontation statt Alternative, hie Kommunismus, Sozialismus, Terrorismus, von Ulrike Meinhof bis zu Willy Brandt, dort die Union als Retterin vor dem Untergang.43

Aber die Erfolge der hessischen CDU, die ihre Wahlergebnisse bei Landtagswahlen in den 1970er Jahren von 30 auf 46 Prozent steigern konnte, bestätigten Dregger. Er präsentierte sich als konservatives Gegenmodell zur SPD, war dabei aber durchaus offen für innovative und moderne Methoden.44 Von ihren Erfolgen beflügelt, war es namentlich die hessische CDU, die in der scharfen Konfrontation die Chance erblickte, auch auf Bundesebene die absolute Mehrheit für die Union zu gewinnen, denn, so Dregger, „Wahlkampf hat nun mal etwas mit Kampf zu tun“.45 Gemeinsam mit der CSU, die ebenso wie sein Landesverband eine betont konservative Programmatik mit moderner Parteiorganisation und Wahlkampfführung verband, sprach sich Dregger gegen die Notwendigkeit einer Regenerationsphase in der Opposition aus und setzte darauf, Wähler durch Polarisierung zu mobilisieren: Die CDU sollte eben nicht, wie von Kohl und Biedenkopf befürwortet, die FDP durch Zugeständnisse als zukünftigen Koalitionspartner umwerben, sondern vielmehr zu einer klaren Alternative für nationalliberal orientierte Menschen werden. Um diesem Ansatz Durchschlagskraft zu verleihen, wurde in den 1970er Jahren der Plan einer „Vierten Partei“ offen diskutiert: Eine konservative Partei nach dem Vorbild der CSU sollte als bundesweite Alternative zur CDU antreten und Wähler aus der Erbmasse der NPD ebenso anziehen wie vom rechten Flügel der FDP. Sie sollte den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen und so eine Mehrheit jenseits der FDP ermöglichen. Tatsächlich sammelten sich in verschiedenen Initiativen wie den CSU-Freundeskreisen, dem Bund Freies Deutschland, der Deutschen Union oder der Aktionsgemeinschaft Vierte Partei rechtsextreme Aktivisten ebenso wie enttäuschte Parteigänger der Christ- und Freidemokraten, die in Strauß einen charismatischen Führer zu erkennen glaubten und ihre Hoffnungen auf dessen potenzielle Kanzlerkandidatur setzten.46 Helmut Kohl charakterisierte diese eigentümliche Klientel als eine Reihe von Leuten, die einfach ganz wirre, um nicht zu sagen ganz irre politische Vorstellungen entwickeln, […] wo man eigentlich froh sein kann, daß die nie Mitglied der CDU werden […] Es ist auch für meine Begriffe eine Katastrophe für unsere Freunde in der CSU, […] 43 44 45 46

Walther Leisler Kiep, Was bleibt ist große Zuversicht. Erfahrungen eines Unabhängigen. Politisches Tagebuch, Berlin 1999, S. 115. Vgl. u. a. Protokoll Nr. 30, 20.11.1972, in: Buchstab (Bearb.), Barzel (wie Fn. 19), S. 1010; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 216. Protokoll Nr. 32, 17.5.1976, in: Günter Buchstab (Bearb.), Kohl: „Wir haben alle Chancen“. Die Protokolle des CDU Bundesvorstands 1973–1976, Düsseldorf 2015, S. 2015. Vgl. auch Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 310 f. Vgl. v. a. Stöss, Richard: Die Aktionsgemeinschaft Vierte Partei, in: ders. (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 1, Opladen 1986, S. 336– 366; Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 313.

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wenn also hier der Name von Strauß oder der Name der CSU in Zusammenhang mit Leuten gebracht wird, auf die keine Partei stolz sein kann, wenn sie plötzlich auftreten – notorische Querulanten, zu kurz Gekommene in jeder Form oder sonst irgendwas.47

Tatsächlich hütete sich die CSU vor einer offenen Zusammenarbeit, sie entmutigte die Initiativen aber auch nicht und instrumentalisierte sie so im Konflikt mit der CDU, der die beiden Schwesterparteien an den Rand der Spaltung führte. Letztlich zuckte die CSU vor dem finanziellen und strategischen Risiko zurück, das ein bundesweites Antreten bei gleichzeitiger Expansion der CDU nach Bayern bedeutet hätte.48 Angesichts der Vehemenz, mit der die inhaltlichen und strategischen Konflikte zwischen den Schwesterparteien und zwischen den antagonistischen Flügeln der CDU, beispielweise im Bundesvorstand,49 ausgetragen wurden, überraschte es, dass es der Union im Vorfeld der Bundestagswahl 1976 gelang, sich geschlossen und als echte Alternative zur sozialliberalen Koalition zu präsentieren. Ausschlaggebend dafür war es zum einen, dass die Organisationsreformen mittlerweile erste Erfolge zeitigten und Konturen des Profils einer Volkspartei sichtbar wurden. Zum anderen setzte die ökonomische Krise die Bundesregierung unter Druck und versorgte die Union mit Aufwind. In ihrem berühmten – und im Vorfeld in der Partei kontrovers diskutierten50 – Wahlkampfslogan „Freiheit statt Sozialismus“ – die CSU plakatierte die schärfere Variante „Freiheit oder Sozialismus“ – spiegelte sich wider, dass es gelungen war, die internen Meinungsverschiedenheiten auszubalancieren. So konnte die Union mit ihrer Wahlkampagne einerseits durch die Betonung der „Freiheit“ die Arbeit der Grundsatzprogrammkommission abbilden und wechselwillige FDP-Wähler anziehen, die in der CDU die neue Hüterin liberaler Werte erkennen sollten. Andererseits signalisierte der Slogan eine scharfe antisozialistische Haltung, die insbesondere auf konservative Wähler zielte. Eine klare Mobilisierung gegen die SPD, die als die Verkörperung des Sozialismus dargestellt und für die Bürokratisierung der Gesellschaft verantwortlich gemacht wurde, erwies sich als Erfolgsfaktor.51 Aber obwohl die Union eine so breite Wählerschaft ansprach wie selten zuvor und bei der Wahl letztlich ihr bestes Ergebnis seit 1957 erzielte, verfehlte sie knapp die absolute Mehrheit. Angesichts des verpassten Machtwechsels brachen die virulenten Konflikte erneut auf, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einer zwischenzeitlichen Spaltung der Bundestagsfraktion im November 1976 fanden.52 Kohl schien dennoch zunächst seinen Kurs unbeirrt fortzusetzen. Ein Jahr nach der verlorenen Wahl machte er Heiner Geißler zum Generalsekretär, der vor allem für eine Schärfung des sozialen 47 48 49 50 51 52

Protokoll Nr. 6, 13.3.1970 in: Buchstab (Bearb.), Barzel (wie Fn. 19), S. 179. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 312; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 114. Vgl. u. a. Protokoll Nr. 4, 5.10.1973, Protokoll Nr. 4a, 6.10.1973, Protokoll Nr. 19, 7.4.1975, sowie Nr. 21, 12.5.1975, in: Buchstab (Bearb.), Kohl (wie Fn. 45), S. 301, 409, 1215, 1256. Vgl. Protokoll Nr. 32, 17.5.1976, in: Ebenda, S. 2007–2015. Vgl. Pridham, Christian Democracy (wie Fn. 1), S. 342 ff.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 214 ff. Vgl. Schildt, „Kräfte der Gegenreform“ (wie Fn. 18), S. 466.

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Profils stand und die programmatische Arbeit in der Partei weiter forcierte.53 Diese gipfelte 1978 in der Vorstellung des ersten CDU-Grundsatzprogrammes, das eine Herzensangelegenheit des sozialen und des liberalen Parteiflügels gewesen war. Dieses Programm, das die CDU als Volkspartei definierte, die den Grundwerten „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ verpflichtet war, geriet jedoch rasch zur Makulatur. Der zwischenzeitlich geschwächte Helmut Kohl, dessen Rückhalt in der Partei angesichts sinkender Umfragewerte erodierte, vermochte es nicht, sich selbst bzw. den von ihm unterstützten niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht als Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1980 durchzusetzen. Stattdessen nominierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Strauß.54 In Strauß’ polarisierendem Wahlkampf, dessen Leitlinien die Konservativen bestimmten, die an programmatischer Arbeit nie Interesse gezeigt hatten, spielte das Grundsatzprogramm, dieses Kernstück der Parteireform, das die CDU als „moderne Volkspartei“ ausweisen sollte, kaum eine Rolle.55 Letztlich sollte sich Strauß’ Kandidatur als Pyrrhus-Sieg für die Konservativen in der Union erweisen. Zwar konnten sie sich einige Monate an dem Gefühl berauschen, die innerparteiliche Definitionsmacht errungen zu haben, mussten aber bald nach Strauß’ Niederlage gegen den amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt feststellen, dass sie sich einer Illusion hingegeben hatten und es keine andere Alternative gab, als mit Helmut Kohl in die 1980er Jahre aufzubrechen. Im Angesicht der erneuten Niederlage zeigte sich die CDU in der Lage, sich auf ihre traditionelle Fähigkeit zu besinnen, ideologische Konflikte zu Gunsten eines nüchtern-pragmatischen Kurses ruhen zu lassen. So fand sich in den Konturen der „Kohl-CDU“, die sich nun immer deutlicher herausbildeten, auch ein gewichtiges Erbteil der „Adenauer-CDU“ wieder. Nachdem die CDU Ende 1982 erfolgreich in die Exekutive zurückgekehrt war, zeigte sich, dass die Konfliktlinien der Oppositionspartei auch in der Regierungspartei virulent blieben:56 Während die Parteireformer den Weg der CDU zur „modernen Volkspartei“ keineswegs als beendet betrachteten, sondern darauf setzten, die programmatische Modernisierung fortzuschreiben, und sich beispielsweise offen für die Anliegen der neuen sozialen Bewegungen zeigten, erhofften sich die konservativen Kräfte Gestaltungsspielräume, um die aus ihrer Perspektive schädlichen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die sie mit der Chiffre „1968“ verbanden, aufzuhalten.57 Kohls Kanzlerschaft sollte beide Seiten enttäuschen.

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Vgl. Yeomans, Amt des Generalsekretärs (wie Fn. 26), S. 294 ff.; Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 116. Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 116–119. Vgl. auch Saskia Richter, Franz Josef Strauß. Das Scheitern eines Siegers, in: Daniela Forkmann / Saskia Richter (Hg.), Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schuhmacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2006, S. 202–235. Bösch, Macht und Machtverlust (wie Fn. 6), S. 42 f. Vgl. Haungs, CDU (wie Fn. 32), S. 209. Vgl. Schildt, „Kräfte der Gegenreform“ (wie Fn. 18), S. 478.

„WER IST DENN EIGENTLICH BÜRGER?“ Der Wandel der SPD zur Volkspartei nach 1945 Rüdiger Schmidt 1. NEUBEGINN NACH 1945: DEMOKRATIE – SOZIALISMUS – NATION „Nach Hitler [kommen] wir“, soll der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Breitscheid 1932 auf einer Wahlversammlung in Bielefeld ausgerufen haben.1 Doch die Mehrzahl von Hitlers Gegnern hat das Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt. Andere kehrten aus dem Exil, dem Widerstand, aus Konzentrationslagern und Zuchthäusern oder der inneren Emigration zurück.2 „Größer noch als das Trümmerfeld der Wirtschaft, als das Elend und die Trauer um die sinnlos Gestorbenen“, klagte Kurt Schumacher, „ist das geistige und moralische Trümmerfeld, das die Nazis hinterlassen haben.“3 Der Konstituierungsprozess der Sozialdemokratischen Partei in den Westzonen fand unter den Bedingungen der „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Kleßmann), der Besatzungsherrschaft und der regionalen Zersplitterung statt.4 Rasch war der ehemalige Reichstagsabgeordente Kurt Schumacher, den die Nazis für seine ebenso unnachgiebige wie militante Gegnerschaft zum Regime mit einer zehn Jahre währenden Haft im Konzentrationslager hatten büßen lassen, nach der „Konferenz von Wennigsen“ im Herbst 1945 zum unbestrittenen politischen Kopf der SPD in den Westzonen aufgestiegen. Zwar blieb seine „Konzeption der Einheit von Reich, Nation und Klasse, von Ethos, Demokratie und Sozialismus“ nicht unwidersprochen.5 Aber in einer zeitgenössisch merkwürdig diffusen Stimmungslage, die ebenso von antifaschistischen Tendenzen und einem begriffslosen Antikapitalismus wie auch nach wie vor von volksgemeinschaftlichen und obrigkeitsstaatlichen Aspirationen geprägt war, bot sein gedanklicher Entwurf doch immerhin einen Orientierungsrahmen. Die Nation in der Gestalt des Nationalstaats, die Demokratie in der Form einer pluralistischen, freiheitssichernden und rechtsstaatlichen Republik und der Sozialismus in Gestalt einer humanen und ebenso sozialstaatlich wie umfassend partizi1 2 3 4 5

Theo Pirker, Die SPD nach Hitler. Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, München 1965, S. 15. Der Beitrag beschränkt sich hier und folgend auf die Sozialdemokratie in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik. Kurt Schumacher, Reden und Schriften, Berlin 1962, S. 25. Vgl. Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848– 1983, Frankfurt a. M. 1983, S. 164–167. Pirker, SPD nach Hitler (wie Fn. 1), S. 37.

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pativ geprägten Ordnung „bildeten für Schumacher eine – dialektische – Einheit“.6 Demokratie und Sozialismus gehörten zusammen, nicht zuletzt müssten die Mittelschichten für ein Bündnis mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gewonnen werden, zumal der Sozialismus zu einer „Angelegenheit des ganzen Volkes“ geworden sei.7 „Es ist gleichgültig“, erklärte Kurt Schumacher, „ob jemand durch die Methoden marxistischer Wirtschaftsanalyse, ob er aus philosophischen oder ethischen Gründen oder ob er aus dem Geist der Bergpredigt Sozialdemokrat geworden ist“.8 Ohne dass der Begriff der Volkspartei gefallen wäre, zielte Schumachers Konzeption – zumindestens vage – in diese Richtung, ein Zusammengehen mit den Kommunisten war für ihn dabei allerdings ohne Wenn und Aber ausgeschlossen.9 Tatsächlich hatte die SPD schon in der Weimarer Republik eine gewisse Notwendigkeit erkannt, sich von einer Arbeiter- zur Volkspartei entwickeln zu müssen, da die Arbeiterschaft, aus der die Partei ganz überwiegend ihre Mitglieder und Wähler rekrutiert hatte, nicht mehr die Mehrheit unter den Erwerbstätigen stellten.10 So hatten die Sozialdemokraten bereits im Görlitzer Programm von 1921 Ansätze erkennen lassen, die SPD von einer überwiegend auf die Arbeiterschaft fixierten Klassenpartei zur Volkspartei zu transformieren.11 Die von Erhard Auer 1925 formulierte Frage „Volkspartei oder nur Handarbeiterpartei?“ ließ erkennen, dass die SPD, die mit Friedrich Ebert bereits einen Präsidenten gestellt hatte, aus der Jahrzehnte alten politischen Kultur der closed shop policy herauswachsen musste.12 Es ging, wie beispielsweise auch Erik Nölting auf dem Leipziger Parteitag (1931) hervorgehoben hatte, innerhalb der Partei darum, „soziale Weiträumigkeit“ zu schaffen, ja es müsse mit Blick auf die Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratischen Partei „eine Fronterweiterung […] vollzogen werden“.13 Die Errichtung der deutschen Diktatur und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus tauchte diese Perspektive dann allerdings in ein neues Licht, wenn in einem Aufruf des sozialdemokratischen Exilvorstandes vom 28. Januar 1934 im Kampf gegen den „totalitären Staat“ zur Bildung „eine[r] Front aller antifaschistischen 6 7 8 9 10

11 12 13

Vgl. Dieter Groh / Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, S. 234–235. Kurt Schumacher, Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm, in: Ders., Programmatische Erklärung auf der Konferenz in Hannover am 5.10.1945, o. O. [1945], S. 21. Zitiert nach Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei (wie Fn. 4), S. 169. Vgl. Pirker, SPD nach Hitler (wie Fn. 1), S. 39–42. Im Jahr 1907 betrug der Anteil der Arbeiterschaft unter den Erwerbstätigen 56 %, im Jahr 1925 nurmehr 45,6 %, wenngleich die absolute Zahl der Industriearbeiter in diesem Zeitraum um 12 % gestiegen war. Vgl. Klaus Günther, Sozialdemokratie und Demokratie 1946–1966. Die SPD und das Problem der Verschränkung innerparteilicher und bundesrepublikanischer Demokratie, Bonn 1979, S. 32. Vgl. Heinrich August Winkler, Klassenbewegung oder Volkspartei? Zur Programmdiskussion in der Weimarer Sozialdemokratie 1920–1925, in: Geschichte und Gesellschaft, 8 (1982), S. 9. Nach Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1985, S. 322. Günther, Sozialdemokratie und Demokratie (wie Fn. 10), S. 32.

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Schichten“ aufgerufen wurde. Erforderlich sei nicht nur die Einheit der Arbeiterklasse, sondern darüber hinaus müssten zum gemeinsamen Kampf „die Bauern, die Kleingewerbetreibenden, die Kaufleute, […] die Intellektuellen“ gewonnen werden.14 Nach dem Zeiten Weltkrieg wurde in vielerlei Hinsicht nur ein abgebrochenes Projekt wieder aufgenommen, als die neu entstehende SPD auch versuchte, sich als Volkspartei zu profilieren. Denn schon die Weimarer SPD hatte sich mit Blick auf ihre Wählerstruktur einem „arbeitnehmerorientierten Volksparteitypus“ angenähert und so gesehen gewisse Öffnungstendenzen zur Mitte hin erkennen lassen.15 Letzteres richtete sich eher auf die Wähler, zunächst weniger auf die Mitglieder der Partei, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre bei über 600.000 Mitgliedern noch überwiegend aus Arbeitern (45 %) und Angestellten (17 %) zusammensetzte, wenngleich die SPD im Vergleich zu Weimar ihren ‚Höhepunkt‘ als Arbeiterpartei schon überschritten hatte (1930: 59 % Arbeiter- sowie 10 % Angestelltenanteil bei über eine Million Mitgliedern).16 Bedeutsam war jedenfalls, dass sich die Sozialdemokratische Partei zunächst auf der programmatischen, sodann auf der Wähler- und schließlich auf der Mitgliederebene allmählich zur Volkspartei zu öffnen versuchte.17 Wie zäh diese Entwicklung dann anfangs doch verlief, zeigt der Umstand, dass sich die Partei, jedenfalls bis Mitte der fünfziger Jahre, noch nicht der Aufgabe gewachsen zeigte, ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten. Die allmähliche Öffnung zur Mitte erfolgte behutsam und korrespondierte mit einem vorsichtigen Abrücken von allzu radikalen Sozialisierungsvorstellungen zugunsten eines im Grunde nur wenig präzisierten Gemeinwirtschaftsbegriffs. Die nach der Bundestagswahl von 1949 in Bad Dürkheim beschlossenen „16 Punkte“ zielten zwar noch auf die „politische und wirtschaftliche Entmachtung des großen Eigentums […] durch Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien“,18 betonten aber ebenso die „Sicherung der freien Entfaltung des gewerblichen und bäuerlichen Mittelstandes“.19 Die Aktionsprogramme der Jahre 1952 und 1954 konzipierten den Katalog sozial- bzw. wirtschaftspolitischer Forderungen ausdrücklich als „Programm der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der geistigen Berufe und des Mittelstandes, der Bauern und aller Menschen, die von dem Ertrag 14 15

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Prager Manifest des Parteivorstandes v. 28.1.1934 („Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“). Zitiert nach ebenda. Dies nicht zuletzt, um Stimmenverluste zugunsten der KPD in den Arbeiterhochburgen zu kompensieren. Detlef Lehnert, Zur historischen Soziographie der „Volkspartei“. Wählerstruktur und Regionalisierung im deutschen Parteiensystem seit der Reichsgründung, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. 21. Vgl. Tabelle 26: Mitgliederentwicklung und soziale Zusammensetzung der SPD (1905–1976), in: Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M. 1984, S. 183. Vgl. allerdings zur starken Wählerrepräsentation im protestantischen Arbeitermilieu Franz Urban Pappi, Parteiensystem und Sozialstruktur in der Bundesrepublik, in: Politische Vierteljahrschrift, 14 (1975), S. 199. Erich Ott, Die Wirtschaftskonzeption der SPD nach 1945, Marburg 1978, S. 238. Kursive Hervorhebung im Zitat vom Verfasser/Schmidt. Günther, Sozialdemokratie und Demokratie (wie Fn. 10), S. 33.

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ihrer eigenen Arbeit leben“.20 Hinzu kam, dass die Sozialdemokraten seit Ende der fünfziger Jahre eine Entkrampfung des Verhältnisses zur katholischen Kirche und zur katholischen Arbeitnehmerschaft suchten.21 Die von Karl Schiller geprägte Formel „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig“, verschleierte indes im Grunde nur, dass die SPD das Entwicklungspotential der sozialen Marktwirtschaft erheblich unterschätzt hatte, darüber politisch gegenüber der CDU in die Defensive geraten und letztlich darum gezwungen war, einem längst pragmatisch gewordenen Politikansatz endlich auch einen prägnanten Ausdruck zu geben.22 2. NACHHOLENDE MODERNISIERUNG: DAS GODESBERGER PROGRAMM Der Godesberger Parteitag von 1959 bildete insofern die maßgebliche Zäsur in der Geschichte der bundesdeutschen Sozialdemokratie, als hier zehn Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik nicht nur die gesellschafts- bzw. wirtschafts- und sozialpolitischen Grundentscheidungen der Regierung Adenauer von ‚links‘ sanktioniert, sondern mit der Zustimmung zur Bundeswehr bzw. zum westdeutschen Verteidigungsbeitrag und zur NATO auch die außen- und sicherheitspolitischen Verpflichtungen der Bundesrepublik akzeptiert wurden.23 Zweifellos galt „Godesberg“ innerhalb der SPD als Voraussetzung auf dem Weg zur Eroberung der Macht, d. h. für eine künftige sozialdemokratisch geführte Bundesregierung. Doch verband sich mit dem Godesberger Programm, wie Peter Glotz betont, „weit mehr […] als eine taktische Anpassung an bestehende Zustände mit dem Ziel des Machterwerbs; es war auch mehr als die abrupte Aufwallung der Gefühle von Sozialdemokraten, die den Konservatismus des Adenauer-Regimes satt hatten“, sondern „in Godesberg zog die SPD die Konsequenz aus einer fünfzigjährigen Diskussion; sie beendete den Widerspruch zwischen wortradikaler Theorie und reformistischer Praxis“.24 Zudem – urteilte Peter Glotz eineinhalb Jahrzehnte nach dem Godesberger Parteitag – „reagierte die Sozialdemokratie auf drei große Herausforderungen: 20

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Ebenda. Dass diese Neuorientierung der SPD keinesfalls widerspruchsfrei verlief, machte beispielsweise Willi Eichler, der seit 1952 als besoldetes Mitglied des Parteivorstandes fungierte, dadurch deutlich, dass er den Begriff der Volkspartei für unglücklich hielt, sich aber dessen ungeachtet dazu bekannte, „daß die Sozialdemokraten sich nicht nur auf die Interessenartikulation der Arbeiterschaft beschränken können“. Prinzipiell bedeutsamer blieb für ihn jedoch, „dass die Arbeiter „auch heute den Kern und den Stamm sozialdemokratischer Wähler und Kämpfer bilden“. Ebenda, S. 36. Vgl. Kurt Klotzbach, SPD und Katholische Kirche nach 1945. Belastungen, Mißverständnisse und Neuanfänge, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. XLI. Nach Ott, Wirtschaftskonzeption der SPD nach 1945 (wie Fn. 18), S. 261. Vgl. Groh/Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“ (wie Fn. 6), S. 11. Peter Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie. Der historische Auftrag des Reformismus, Wien/ München/Zürich 1975, S. 172. Mit anderslautendem Urteil Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei (wie Fn. 4), S. 191.

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auf das Scheitern eines humanen Sozialismus in den kommunistischen Staaten des Ostblocks, auf die überraschende Elastizität und Widerstandskraft von staatlich beeinflußten Marktwirtschaften und auf die Veränderung der Sozialstruktur der Gesellschaft in der Bundesrepublik seit der Währungsreform“.25 Zumal mit Blick auf die Transformation der Sozialstruktur der Bundesrepublik konnte „die Instanz ‚Arbeiterbewegung‘“ nicht mehr alleiniger „Bezugspunkt und Legitimationsgrundlage für [die] SPD“ sein.26 Wollte die Partei, die hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitglieder und Wähler nach wie vor zu über 60 % eine Arbeiterpartei war und insofern „also die Weimarer Grenzen der sozialen Integration und Mobilisierung von Wählern nicht wesentlich [hatte] überwinden können“, auch einmal Regierungsverantwortung übernehmen, musste sie sich zur bürgerlichen Mitte öffnen.27 Kurz: Mit Godesberg verband sich in vielerlei Hinsicht eine zäsurstiftende und entkrampfende Funktion, indem sich die SPD de facto nicht zuletzt auch von einer sozialistischen Perspektive verabschiedet hatte, die die Politik der Partei im vorangegangenen Jahrhundert während des Sozialistengesetzes leitbildhaft geformt, nach der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg noch maßgeblich beeinflusst, aber im Zeichen der Übernahme politischer Verantwortung während der Weimarer Republik schon nicht mehr zum Nennwert geprägt hatte. Das Für und Wider einer reformistischen Strategie war in der SPD bereits ein halbes Jahrhundert lang immer und immer wieder verhandelt worden, bevor man sich – übrigens nicht zuletzt auch im Zeichen eines fälligen Generationenwechsels – schließlich auch programmatisch zu einem Kurs bekannt hatte, der sich als Distanzierung vom Kapitalismus im Zeichen der Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft beschreiben lässt. „Auseinandersetzungen über Ziele der Sozialdemokratischen Partei“, formulierte der Berichterstatter Willi Eichler während der Debatten des Godesberger Parteitags, „wünschen wir in Zukunft konzentriert zu sehen auf das Programm der Partei und nicht auf Äußerungen, die 50, 60 oder 100 Jahre zurückliegen. Das halten wir für eine faire Auseinandersetzung“.28 Der à la longue dann doch wieder drängenden Frage nach dem ‚what’s left‘ hatte sich die Partei erst im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung und – sehr viel später – seit den achtziger Jahren vor dem Hintergrund von Thatcherismus und Reagonomics bzw. der neoliberalen Herausforderung in einer sich globalisierenden Welt zu stellen. Tatsächlich hatte sich die SPD seit Godesberg, wenngleich mit gewisser Verspätung, aus dem mit der ersten Hälfte des Jahrhunderts konnotierten „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) herausgelöst, also aus jener von Diktaturen dominierten 25 26 27 28

Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie (wie Fn. 24), S. 173. Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 267. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland (wie Fn. 16), S. 209. Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dem außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959 vorgelegt vom Vorstand der SPD, in: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg, Bonn/Bad-Godesberg 1972, S. 121.

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Phase, in der die Partei gegen die Ideologen rechter und linker Provenienz ebenso unablässig wie mutig für Demokratie und Pluralismus eingetreten war. Sofern man den Blick auf die „zwei Physiognomien des Jahrhunderts“ richtet, hatte die Partei allerdings auch erst um 1960 herum den geschichtsphilosophischen Endmoränen des Marxismus entsagt, der über einen Zeitraum von fast hundert Jahren zwar das weltanschauliche Rückgrat der Sozialdemokratie gebildet, aber doch längst an auratischer Kraft eingebüßt hatte.29 Wer – wie die Kommunisten noch an der Wende zu den fünfziger Jahren – die Distanz zum Bürgertum betonte und weiter an der „Spirale der Entfremdung“ drehte, musste damit rechnen, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.30 Rund eineinhalb Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hatte eine neokeynesianische Wirtschafts- und Finanzpolitik, die wachstumssichernd wirkte, Vollbeschäftigung garantierte und Verteilungskonflikte eindämmte, in der Praxis längst das öde Geklapper mit den leergewordenen Hülsen des Klassenkampfs verdrängt, wenngleich gegen Ende der sechziger Jahre in den systematischen Sozialwissenschaften die Frage nach dem Verhältnis von Industriegesellschaft und Spätkapitalismus sowie nach den Unkosten der kapitalistischen Modernisierung noch einmal kritisch resümiert wurde.31 Der nach 1945 einsetzende Wechsel des kulturellen Klimas verlief gewiss zäh und schien sich im mentalitätsprägenden Treibhaus des „nachtotalitäre[n] Biedermeier“ der Adenauer-Ära in der Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Stimmungslagen immer wieder neu bewähren zu müssen.32 Doch der quasi klassische und für die junge Bundesrepublik identitätsbildende Status der ‚langen‘ fünfziger Jahre war dessen ungeachtet ebenso von einer herausfordernden Dynamik geprägt, die vor dem Hintergrund einer sich rasch etablierenden sozialen Marktwirtschaft und daraus resultierenden sozialen Spannungsverlusten, ja einer überhaupt beeindruckend erfolgreich verlaufenden gesellschaftlichen Pazifizierung die Konsensdemokratie der Bundesrepublik erst begründete;33 und zwar einer Demokratie, in der an der Wende zu den sechziger Jahren der Modernitätsvorsprung der CDU/CSU mit Händen zu greifen war. Die CDU war eine konservative Partei, die zeitgenössisch quasi den Normalfall des Politischen repräsentierte, dabei zwar schonungslos die gewohnten konservativen Etikettierungen bemühte, z. B. die nationalistische Klaviatur bediente, aber er29 30 31 32 33

Jürgen Habermas, Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf das kurze 20. Jahrhundert, in: Ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a. M. 1998, S. 71. Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik (wie Fn. 26), S. 34. Vgl. hier nur Theodor W. Adorno (Hg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentags, Stuttgart 1969. Wolf-Dieter Narr, CDU-SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart/Berlin/Köln 1966, S. 154. Vgl. Rüdiger Schmidt, Kein Zeitalter der Extreme. Die Mitte als gesellschaftliches Leitbild in der Bundesrepublik, in: Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M. 2016, S. 90.

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folgreich den Anschluss an den Westen gesucht und gefunden hatte. Einem Konservatismus, der also längst zentrale Elemente seines traditionellen Weltbildes hinter sich gelassen und so erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte, sich als Volkspartei gewissermaßen zu ‚entgrenzen‘. Für die diskursfeindliche Polemik von Staatsrechtlern und Philosophen wie Arnold Gehlen, Ernst Forsthoff oder Carl Schmitt, die einst den Horizont konservativen Denkens geprägt hatten, war die CDU in vielerlei Hinsicht nicht mehr anschlussfähig. Längst hatte der Konservatismus auch seine aus dem 19. Jahrhundert herrührenden anti-industriellen, ja auch kapitalismuskritischen Affekte aufgegeben.34 Schon lange galt auch die Romantik nicht mehr uneingeschränkt als jener authentizitätsverbürgende Fluchtpunkt, zu dem Konservative in ihrem Unbehagen an der Moderne Zuflucht suchten. Ganz im Gegenteil: Die noch in den zwanziger Jahren von „Agrarromantik und Großstadtfeindschaft“ geprägten Debatten und die denunzierenden Affekte, die sich gegen den Dschungel der Metropolen und eine „falsche Sittlichkeit“ gerichtet hatten, waren einer aufgeschlossenen und Moderne-affinen Perspektive gewichen.35 Alles in allem hatte die CDU also eine ganze Reihe von Barrieren dekonstruieren müssen, die sie bis dahin von dem trennten, was eine Volkspartei auch ausmacht: die einst verfochtenen entschiedenen Positionen zugunsten eines Sowohl-als-auch aufzugeben, in dem Motive der Tradition und des Bewahrens immer noch Platz hatten, ohne deswegen gleich aufdringlich zu werden. Auf diesen Modernitätsvorsprung der CDU hatten die Sozialdemokraten bis Godesberg jedenfalls keine Antwort gefunden, ja auch noch nicht finden können, weil sie sich, anders als die Union, von ihren inzwischen profan gewordenen Überlieferungen – Sozialismus, Nation und in kultureller Hinsicht: traditionell geprägten Solidaritätsempfindungen – nicht gelöst hatten. Im Grunde ging es für die Partei darum, den Anschluss an das Bürgertum zu suchen, also um die Öffnung der SPD zur bürgerlichen Mitte. Letzteres musste übrigens nicht bedeuten, dass sich die Sozialdemokratie inopportun zu ihrer Tradition, die in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wurzelte, zu verhalten hatte, denn soweit es deren geistesgeschichtlichen Ursprünge betraf, führten diese bis in die Aufklärung zurück, deren soziale Trägerschicht das Bürgertum war. Und schließlich: Ein Beharren auf eine sozialistische Perspektive musste nicht zuletzt auch deswegen auf Grenzen stoßen, weil der Sozialismus zur DDR hin „gleichsam exterritorialisiert“ worden war, wobei dort die normativen Geltungsansprüche eines humanen Sozialismus nicht erst seit dem Mauerbau derart radikal dementiert worden waren, dass jede Selbstreflexion über die Chancen und den Stellenwert einer postkapitalistischen Gesellschaft die Wähler verschreckt hätte.36 Dass sich die Sozialdemokratie in ihrem Programm nicht vom Gedanken des „de-

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Vgl. Paul Nolte, Konservatismus in Deutschland. Geschichte – und Zukunft?, in: Ders., Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn 2004, S. 211. Nach Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970. Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 165.

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mokratischen Sozialismus“ lösen mochte und bis heute daran festgehalten hat,37 muss man sich dann wohl als eine Art Ausfallbürgschaft für schlechte Zeiten denken.38 Eine stärkere Hinwendung zu den Bedürfnissen der ‚Mitte‘ schien seitens der SPD auch deswegen geboten, weil die Bonner Republik ihre sozialpolitischen Initiativen tatsächlich auf eine Begünstigung der Mittelschichten gerichtet hatte, die – hier nur in Schlagzeilen – beispielsweise von der Rentenreform 1957, dem mittelschichtorientierten Familienlastenausgleich sowie kinderbezogenen Leistungen, der staatlichen Wohnungs- und Eigentumsförderung oder grundsätzlich auch vom Ausbau des Dienstleistungssektors in besonderer Weise profitierten.39 Ansätze zur betrieblichen Partizipation waren übrigens schon zu Beginn der fünfziger Jahre mit der Montanmitbestimmung (1951) und dem Betriebsverfassungsgesetz (1952) realisiert worden und hatten zur Entideologisierung im Umgang der Sozialpartner miteinander beigetragen. Längst hatte auch der überwiegende Teil der Arbeiterschaft seit den Einkommenszuwächsen in den fünfziger Jahren die gewohnte „Enge einer Lebensführung verlassen“ können, „in der die unmittelbare Reproduktion den größten Teil der Ausgaben verschlang“.40 Seit Beginn der sechziger Jahre konnte sich auch ein Arbeiter Zug um Zug ein Fernsehgerät und einen Kühlschrank sowie eine Waschmaschine leisten. Im Jahr 1962 besaßen 22 % der Arbeitnehmerhaushalte ein Auto, das seit etwa Mitte der sechziger Jahre seinen Status als typisch mittelständisches Wohlstandssymbol verloren hatte.41 Nicht zuletzt hatten auch die in den sechziger Jahren angekurbelten Bildungsreformen à la longue dazu beigetragen, die Mobilitätsbarrieren zu senken und jedenfalls der nächsten Generation den Aufstieg in die Mittelschicht zu ermöglichen.42 Die Mehrheit der Arbeiter orientierte sich – durchaus aufstiegsorientiert – an den bürgerlichen Kategorien der Ehrbarkeit und Selbstkontrolle. Hinzu kam, dass die Un37

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Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dem außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959 vorgelegt vom Vorstand der SPD, in: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg, Bonn/Bad-Godesberg 1972, S. 525. Vgl. jetzt Stefan Berger, Wege und Irrwege des demokratischen Sozialismus. Das Verhältnis von Labour Party und SPD zum Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, 53 (2013), S. 411–422. Vgl. ausführlich die Kapitel I.4, II und III bei Dagmar Hilpert, Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1975), Göttingen 2012. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland (wie Fn. 16), S. 80. Bis 1950 mussten mehr als drei Viertel des Einkommens für Nahrung, Kleidung und Wohnung ausgegeben werden, 1973 waren es nurmehr 60 %. Vgl. ebenda. Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 156.

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terschiede zwischen Arbeitern und Angestellten im Selbstverständnis beider Erwerbsgruppen etwas zurückgetreten waren; seit den sechziger Jahren unterschieden sich Arbeiter und Angestellte immer weniger hinsichtlich ihrer Neigung, der SPD ihre Stimme zu geben.43 Ludwig Erhard sprach 1960 sogar von der Existenz einer „klassenlosen Gesellschaft“, die auf eine bis dahin einzigartige Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen sei.44 Dabei beruhte das Konzept der sozialen Marktwirtschaft auf einer Ordnungsvorstellung, die Wachstum und Wohlstand in einer funktionierenden Wettbewerbswirtschaft voraussetzte und in vielerlei Hinsicht – wie Tim Schanetzky richtig urteilt – „ohne eine verbindliche Vorstellung von der gesellschaftlichen Ordnung als Bezugspunkt der Wirtschaftspolitik gar nicht denkbar war“.45 Zwar blieb die ‚klassenlose Bürgergesellschaft‘ auch zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Utopie,46 doch ganz unbestritten hatte die bundesdeutsche Gesellschaft – und zwar politisch und sozial – ihre Extreme verloren, was nicht zuletzt dem von Ulrich Beck diagnostizierten „Fahrstuhleffekt“ zu verdanken war, demzufolge alle soziale Schichten, wenngleich in unterschiedlicher Reichweite und Intensität, an der Aufstiegsmobilität partizipierten.47 Von der noch für die Zeit des Kaiserreichs behaupteten „negative[n] Integration“ der Arbeiterschaft in die Gesellschaft, ja von einer Unentrinnbarkeit aus dem „vierten Stand“, konnte nach dem Abräumen einer Vielzahl von Mobilitätshindernissen samt der sozialökonomischen Pfadabhängigkeit proletarischer Existenz längst keine Rede mehr sein.48 Insofern war der von Jürgen Kocka konstatierte Zusammenhang von „Lohnarbeit und Klassenbildung“, der sich auch noch in die Weimarer Republik verlängern ließe, vor dem Hintergrund der „Entklassung“ der bundesdeutschen Gesellschaft obsolet geworden, ja hatte die Herkunftsprojektionen kollektiver Identität zum Verblassen gebracht.49 „Wer ist denn eigentlich Bürger?“, hatte Herbert Wehner 1961 mit gewohnter Schärfe gefragt. „Wir alle sind Mitbürger dieser Bundesrepublik; die müssen schon einen besonderen Begriff des Bürgerlichen konstruieren, um uns auszuschließen […] Wehe der Arbeiterschaft, die sich von der Entwicklung des Volkes isolieren 43

44 45 46 47 48 49

Vgl. Jürgen Kocka / Michael Prinz, Vom „neuen Mittelstand“ zum angestellten Arbeitnehmer. Kontinuität und Wandel der deutschen Angestellten seit der Weimarer Republik, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 252. Ludwig Erhard, Wirtschaftspolitik als Teil der Gesellschaftspolitik. Rede vor dem Bundesparteitag der CDU am 28.4.1960 in Karlsruhe, in: Ders., Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf/Frankfurt a. M. 1962, S. 479–481. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S. 24. Vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 351. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 122. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 1973. Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung, Bonn 1983.

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lässt“.50 Das einst dichotomische Schema der sozialen Ordnung war (jedenfalls der Tendenz nach) dem Muster einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ gewichen,51 was nicht zuletzt auch die an der Wende zu den sechziger Jahren von Renate Mayntz angefertigte mikrosoziologische Euskirchen-Studie zu bestätigen schien.52 Das bedeutete übrigens nicht, dass die inzwischen einigermaßen ausbalancierte Gesellschaft der Bundesrepublik ausschließlich inklusiv geprägt war. Denn zeitgenössisch zu beobachtende Phänomene der Desintegration bzw. auch die Grenzmarkierungen des Wohlfahrtsstaats waren jetzt an anderer Stelle zu beobachten, nämlich im Zuge einer neuen Unterschichtung der bundesdeutschen Gesellschaft durch die angeworbenen Gastarbeiter, die die arbeitsgesellschaftlichen und lebensweltlichen Strukturen gleichsam erneut proletarisch „unterwanderten“. So gesehen ergaben sich vor dem Hintergrund erweiterter Milieubildungen auch neue kulturelle Spannungslinien. Doch für jene Problemhorizonte, die sich aus dem zeitgenössisch neuen Entwicklungspotential der Arbeitsgesellschaft ergeben sollten, hatte die SPD – das galt aber auch auch für die anderen Parteien des politischen Spektrums – noch keine Antworten gefunden. Der seinerzeit vielzitierte Satz aus dem Godesberger Programm „Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden“, hatte jedenfalls die Gastarbeiter nicht mitgedacht.53 Mit Blick auf das Vordringen in neue Milieus zielten – wie Detlef Lehnert urteilt – demgegenüber „die marktwirtschaftlichen Überzeugungen von SPD-Politikern wie Deist und Schiller sowie die von Erler und Schmidt führend repräsentierten Bekenntnisse zur militärischen Landesverteidigung innerhalb der NATO auf die neuen Mittelschichten, während die ethischen Sozialisten um Eichler und v. Knoerringen mehr eine geistig kulturelle Erneuerung mit Blick auf Intelligenzberufe förderten, und ein Exponent der Organisationstradition wie Wehner sah insbesondere katholische Arbeiter als Ansprechpartner einer stärker pragmatisch als ideologisch motivierten Volkspartei“.54 Jedenfalls ließ die SPD nichts unversucht, um mit und nach Godesberg endlich den Anschluss an die „westdeutsche[n] Mentalitäten am Ende des Gründungsjahrzehnts“ zu finden.55 Das bei der Bundestagswahl 1961 erzielte Wahlergebnis von 36,2 % erfüllte zwar nicht die Erwartungen der Sozialdemokratischen Partei, doch hatte man ge50 51 52 53 54 55

Zitiert nach Habbo Knoch, „Mündige Bürger“ oder: Der kurze Frühling einer partizipatorischen Vision, in: Habbo Knoch (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 30. Vgl. Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft (1953), in: Ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/ Köln 1965, S. 331–336. Vgl. Renate Mayntz, Soziale Schichtung und sozialer Wandel in einer Industriegemeinde. Eine soziologische Untersuchung der Stadt Euskirchen, Stuttgart 1958. Zitiert nach Susanne Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 130. Lehnert, Zur historischen Soziographie der „Volkspartei“ (wie Fn. 15), S. 31. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 181.

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genüber der vorangegangenen Bundestagwahl einen Zuwachs von 4,4 % erzielen und den Abstand zur CDU gegenüber 1957 halbieren können.56 Davon abgesehen hatte die SPD bei der Bundestagswahl 1961 unter den Angestellten und Beamten gegenüber der Wahl von 1953 um – allerdings zunächst nur bescheidene – 3 % auf einen Stimmenanteil von 30 % zulegen können. Bei der Wahl 1965 wählten indes bereits 34 % der Wähler aus den Dienstleistungsbereichen die Sozialdemokratische Partei;57 und bei der Bundestagswahl 1969, die schließlich zum Machtwechsel führte, waren es 46 %.58 Ein Einbruch in die katholische Arbeitnehmerschaft war bereits 1965 zu beobachten gewesen und bildete in mancherlei Hinsicht die Voraussetzung für den triumphalen Wahlsieg, den die SPD 1966 im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen erringen konnte.59 Im selben Jahr konnten die Sozialdemokraten als Juniorpartner in einer großen Koalition auch auf Bundesebene ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen.60 Die Christlich Demokratische Union und die Sozialdemokratische Partei – beide Volksparteien zeigten sich seit den sechziger Jahren unter günstigen äußeren Rahmenbedingungen in der Lage, das Problem von Einheit und Differenz mit einer gewachsenen Fähigkeit zur Inklusion auflösen zu können, und diese Entwicklung dann auch zu repräsentieren. Das war nicht zuletzt zu beobachten, als zentrale Entwicklungsmechanismen der Nachkriegszeit schließlich auf die Repräsentation des Parteiensystems zurückwirkten und sich nach der Bundestagswahl von 1961 das sogenannte klassische Drei-Parteien-System etablierte. Im deutschen Bundestag waren für den darauffolgenden Zeitraum von gut zwei Jahrzehnten die Christdemokraten, die Sozialdemokraten und die FDP als seinerzeit nationalliberal ausgerichtete Partei vertreten. Der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, der als organisatorisches Sammelbecken der Flüchtlinge und Vertriebenen fungierte und die Deutsche Partei, eine konservative, ihrem Ursprung nach tendenziell sezessionistische Partei mit hannoverschen Wurzeln waren aus dem deutschen Bundestag ausgeschieden. Die Reduktion auf ein Drei-Parteien-System war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es den beiden großen Volksparteien, insbesondere der CDU bis zum Beginn der sechziger Jahre gelungen war, die beiden Konfessionen – Katholiken und Protestanten – zu integrieren, dass die traditionell scharf ausge56 57 58

59 60

Vgl. Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei (wie Fn. 4), S. 192. Vgl. Michael Prinz, Wandel durch Beharrung. Sozialdemokratie und „neue Mittelschichten“ in historischer Perspektive, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 35. Damit war die CDU 1969 in diesem Wählersegment von der SPD erstmals knapp überrundet worden. Der Vorsprung sollte sich 1972 weiter ausdehnen, erst bei der Bundestagswahl 1980 verteilten sich die Wählerstimmen der Angestellten und Beamten wieder einigermaßen ausgeglichen auf die beiden großen Parteien. Vgl. Klotzbach, SPD und Katholische Kirche nach 1945 (wie Fn. 21), S. XLV. Während der großen Koalition richteten sich die Überlegungen übrigens auch darauf, die Bedingungen für eine strukturelle Mehrheitsfähigkeit der SPD auf Bundesebene zu verbessern, so dass seitens der Sozialdemokraten eine Wahlrechtsreform mit dem Ziel der Ablösung des Verhältniswahlrechts durch ein Mehrheitswahlrecht in Erwägung gezogen wurde. Vgl. Wilhelm Hennis, Große Koalition ohne Ende? Die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems und die Hinauszögerung der Wahlrechtsreform, München 1968.

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prägte Erfahrung sozialer Ungleichheitsdimensionen mehr und mehr wohlfahrtsstaatlich gedämpft wurde und überhaupt bestehende Partikularismen durch Konsumversprechen und sozialstaatliche Verheißungen gezähmt wurden. 3. REFORMÄRA, „SOZIALDEMOKRATISCHES JAHRZEHNT“ UND „NEUE UNÜBERSICHTLICHKEIT“ Die sogenannte Konsensdemokratie der Bundesrepublik führte zu einer Konstellation, in der der demokratische Prozess im wesentlichen eine überzeugende, das heißt auch akzeptierte institutionelle Gestalt annehmen konnte. Der zu beobachtende Prozess der sozialen Ent- oder Neustrukturierung führte eher zur Homogenisierung und gerade deswegen auch dazu, dass Problemkomplexe von beiden Volksparteien absorbiert werden konnten. Der sozialstaatliche Kompromiss zügelte unter den Bedingungen von Vollbeschäftigung und Wachstum „in den anormalen Jahren des Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 1970“ die Unkosten der Modernisierung,61 musste zu seiner Aufrechterhaltung aber spätestens seit den siebziger Jahren mit keynesianischen Reflexen reagieren, um die seitdem allmählich wachsende Arbeitslosigkeit und drohende Verteilungskonflikte einzudämmen.62 Doch mit der schließlich von beiden großen Volksparteien favorisierten Mittelstandsideologie ließ sich auch politisch-strategisch eine Lücke füllen, indem man sich von der sozialen Segmentierung der Gesellschaft entfernte und dies durch das Versprechen einer sozialen Privilegierung aller substituierte. Nicht zuletzt die Arbeiter fühlten sich zunehmend mehr der Mittelschicht zugehörig. Traditionelle Momente der Klassenzugehörigkeit waren vor dem Hintergrund der Angleichung des Lebensstandards ‚nach oben‘ erodiert, was in vielerlei Hinsicht auf das Selbstverständnis der SPD zurückwirkte.63 Hinzu kam, dass die Sozialdemokratische Partei seit Mitte der sechziger Jahre bis etwa ins letzte Drittel der siebziger Jahre einen erheblichen Zustrom von Mitgliedern zu verzeichnen hatte, so dass die Partei, in der 1964 ca. 650.000 Mitglieder organisiert waren, im Jahr 1973 etwa eine Million Mitglieder zählte.64 Davon waren zwei Drittel der Mitglieder (ca. 670.000) erst in der knappen Dekade zwischen Mitte der sechziger und Anfang/Mitte der siebziger Jahre beigetreten.65

61 62 63 64 65

Vgl. Mooser, Abschied von der „Proletarität“ (wie Fn. 42), S. 160. Vgl. zu den Grenzen staatsinterventionistischer Politik Hartmut Kaelble, Abmilderung der sozialen Ungleichheit? Das westliche Europa während des Wirtschaftsbooms der 1950er bis 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft, 40 (2014), S. 591–609. Vgl. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland (wie Fn. 16), S. 227. Vgl. Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 276. Von den 650.000 Migliedern von 1964 waren bis dahin rd. 350.000 durch Tod oder Austritt ausgeschieden.

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Unübersehbar besaß die SPD, die inzwischen den Kanzler in einer sozial-liberalen Koalition stellte, eine starke Anziehungskraft auf die junge Generation. Denn zwischen 1969 und 1973, also der durch eine beträchtliche Reformeuphorie geprägten Phase der ersten Kanzlerschaft Willy Brandts, waren 300.000 Neumitglieder der SPD beigetreten, von denen zwei Drittel jünger als 35 Jahre alt waren.66 Selbst nach dem Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt und der Mitte der siebziger Jahre einsetzenden ‚Tendenzwende‘ hielt der jährliche Zustrom zur SPD – wenngleich abgeschwächt – kontinuierlich an. Waren es in den siebziger Jahren durchschnittlich jährlich 41.500 junge Frauen und Männer, die der Sozialdemokratischen Partei beitraten, so waren es in den achtziger Jahren noch rund 19.000. Indes wirkte sich der erhebliche Zustrom gravierend auf die Funktionen und den Wandel der Funktionärsebene in der Partei aus, wovon übrigens nicht die Frauen profitierten.67 Waren 1962 unter den Neumitgliedern 55 % Arbeiter, so waren es 1972 nur noch 28 %. In etwa derselben Größenordnung bewegte sich die Zahl der Angestellten, die in die SPD eingetreten waren, immerhin 16 % waren Studenten oder Schüler. Kurz: Die Sozialdemokratische Partei war keine Arbeiter-, schon gar keine Klassenpartei mehr, sondern eher zu einer Partei der Studienräte und anderer akademischer Berufe mutiert – ein Prozess, der von Willy Brandt seinerzeit als „Wachstumsproblem“ wegmoderiert wurde.68 Mehr und mehr schienen jene Mitglieder die Partei zu dominieren, die bereits im öffentlichen Dienst beschäftigt waren oder eine Beschäftigung in diesem Sektor anstrebten. In mancherlei Hinsicht schien die SPD ihren Charakter als Volkspartei sogar wieder aufs Spiel zu setzen, wenn die Neumitglieder als Angehörige der gebildeten Mittelschichten die Arbeiter in der Partei (und übrigens nicht zuletzt auch die Gewerkschafter unter ihnen) an den Rand drängten, indem ganze Ortsvereine „gekapert“ wurden.69 Spätestens nach der Bundestagswahl 1976, die die Kanzlerpartei unter dem Slogan „Modell Deutschland“ gewonnen hatte, schien es der SPD indes zunehmend mehr an der gewohnten Integrationskraft zu mangeln, ein gesellschaftliches Bündnis mit sozialen Bewegungen und Interessengruppen einzugehen. Das war zuletzt noch gelungen, als sich die Partei recht erfolgreich in die Bürgerinitiativbewegungen einbringen und hier integrierend wirken konnte. Doch an der Wende zu den achtziger Jahren – urteilt Helga Grebing – „wurde die Situation der SPD äußerst prekär: Man sieht es als unmöglich an, zugleich sozial-liberale Wähler in der Mitte im Grenzbereich zur CDU und FDP und postmaterialistisch orientierte Wähler im Grenzbereich zu den Grünen politisch auf einen Nenner zu bringen und dabei die eher sozialkonservativ eingestellte Ursprungsklientel nicht zu verprellen“.70 66 67 68 69 70

Vgl. hier und folgend ebd., S. 276–280. So waren beispielsweise 1971 unter den Delegierten auf dem außerordentlichen Bundesparteitag in Bonn lediglich 5 % Frauen. Ebd., S. 275. Vgl. Peter Lösche / Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei-Volkspartei-Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 336. Vgl. Helga Grebing, Gesellschaftlicher Wertewandel und die Suche nach einer neuen Parteiidentität in den Sozialdemokratien Europas seit den 70er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 29 (1989), S. 292.

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Die Grünen, die 1980 aus der Ökologie- sowie der Friedensbewegung und verschiedener Fraktionen der neuen Linken hervorgegangen und bereits 1983 in den Deutschen Bundestag eingezogen waren, hatten nicht zuletzt auch die Klientel der sozialen Bewegungen wahlarithmetisch dauerhaft absorbiert und in der Konsequenz die SPD auf jene Ergebnisse reduziert, die die Partei bei den Bundestagswahlen zwischen 1949 und 1965 erzielt hatte. Seit Godesberg, formulierte Willly Brandt 1981, „habe sich die SPD aus einer Gewissheit entlassen, nämlich aus ihrer selbstverständlichen Identität mit der Arbeiterklasse“.71 Zwanzig Jahre nach Godesberg, so war gemeint, handelte es sich bei der Sozialdemokratischen Partei darum weder um eine Partei der Arbeiterklasse noch um eine Partei der sozialen Bewegungen. Das lässt sich als Beleg dafür lesen, dass die Integrationskraft beider Volksparteien in der Bundesrepublik nachgelassen hatte und das neue Problemfelder – seinerzeit die Nachrüstung und die ökologische Frage – nicht mehr erfolgreich absorbiert werden konnten. Dies war durchaus folgenreich. Denn unterschiedliche Probleme mobilisieren unterschiedliche Öffentlichkeiten, wobei für die Volksparteien gewissermaßen hinzukam, dass zugleich institutionalisiert geregelte Formen der Teilhabe nicht mehr vorbehaltlos auf Akzeptanz stießen und Partizipationsbedürfnisse in die neuen sozialen Bewegungen abwanderten. Hinzu kamen Debatten über die „neue Armut“ und eine „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, entgegengesetzt aber auch über die Erwartung einer postmateriellen Gesellschaft – Phänomene, die alles in allem eine signifikant veränderte Problem-Matrix markierten und von Jürgen Habermas seinerzeit unter dem Stichwort der „neuen Unübersichtlichkeit“ reflektiert wurden.72 Alles in allem hatte die SPD die Meinungsführerschaft eingebüßt, die sie sich in den sechziger Jahren mühsam erkämpft und in den siebziger Jahren weitgehend behauptet hatte.73 Etwa zeitgleich waren die Anfänge einer Erosion der jeweiligen sozialen Milieus zu beobachten, was zu einem allmählichen Verblassen der Deutungsmacht der Volksparteien im vorpolitischen Raum führte. Dabei bildete die Entwicklung in der SPD in vielerlei Hinsicht nur einen Trend ab, der seit Ende der siebziger Jahre nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in den meisten westlichen Gesellschaften zu beobachten war. Gemeint ist die „Verflüssigung“ des Sozialen oder dessen Entstrukturierung in einem „Zeitalter der Nebenfolgen“.74 Das meint die nicht nur unter postmodernen Vorzeichen diagnostizierte Betonung einer Pluralisierung der Lebensstile, der Heterogenisierung einer inzwischen Maßstäben der Vorläufigkeit gehorchenden und in Jobs zerfließenden Berufswelt: damit also auch den Zerfall von Lebensentwürfen und Biographien, eventuell auch verbunden mit Orientierungsverlust. Kurz: Die 71 72 73 74

Ebenda, S. 293. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985. Vgl. Bernd Faulenbach, Zur Bedeutung der Umwälzung 1989/90 für die deutsche Sozialdemokratie im europäischen Kontext, in: Archiv für Sozialgeschichte, 53 (2013), S. 392. Ulrich Beck, Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: Ulrich Beck / Anthony Giddens / Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a. M. 1996, S. 19.

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Lebenswelt verlor gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Determinationskraft und büßte damit ein Stück weit ihre sozial rahmenbildende Funktion für individuelle Lebensentwürfe ein. Das erstreckte sich nicht zuletzt auch auf den traditionell komplementären Zusammenhang von Berufs- und Familienrollen. Vieles hatte auch damit zu tun, dass die Mobilitätserwartungen gestiegen sind, und zwar – im weitesten Sinn – wiederum mit negativen Konsequenzen für die individuellen Spielräume der Vergesellschaftung. Diese Subjektivierungs- oder Individualisierungsthese geht von einer zunehmend verblassenden Konturiertheit „objektiver“ sozialer Strukturen aus. Das lässt sich – negativ – als Phänomen der Entwurzelung mit dem Verlust von identitätsstiftenden Orientierungsmustern, von sozialen Zugehörigkeiten oder sogar solidarstiftenden Zusammenhängen in Verbindung bringen. Das ließe sich aber auch positiv – und das wäre etwa die prominente Perspektive, die der Soziologe Ulrich Beck mit diesem Prozess konnotiert – unter dem Aspekt des ‚Freiheitsgewinns‘ thematisieren: beispielsweise als Zuwachs an Spielräumen für expressive Aktivitäten, als Freisetzung aus blockierenden Strukturen, als öffnende Mechanismen, die sich für das Individuum aus der Flexibilisierung ergeben können. In dem Maße, wie die soziale Ordnung als etwas hochgradig Dynamisiertes erfahren wird, gewinnt sie im Bewusstsein der Zeitgenossen einen eher ephemeren Charakter, etwas Flüchtiges, das gerade dieser Veränderungsdynamik geschuldet ist. Was heißt das aber für die normative Integration von Gesellschaften nicht zuletzt unter parteipolitischen Gesichtspunkten, wenn in beweglichen und gewissermaßen verschwimmenden Strukturen auch deren Sinngrenzen immer neu verhandelt werden müssen, wenn auch die unterschiedlichen Orte ihrer Selbstreflexivität zuweilen nicht mehr recht erkennbar sind, jedenfalls immer wieder neu identifiziert werden müssen? Man könnte, wie es die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher getan hat, sogar diese Frage als unzulässig verwerfen. Denn die Problematik, um die es hier geht, hatte die Premierministerin in verblüffender Radikalität antizipiert und zugespitzt. Als sie nämlich die britischen Mine-worker nach einem monatelangen Streik in die Knie gezwungen hatte und auf die Frage eines Reporters antworten sollte, was das denn für die Gesellschaft bedeuten würde, entgegnete Thatcher: „So etwas wie Gesellschaft gibt es doch gar nicht“.75 Aber man muss die Antwort der Premierministerin auch nicht ganz ernstnehmen. Denn Gesellschaft ist ein System der Machtverteilung, auch der Bedürfnisbefriedigung und die Ordnung der Teilhabe an diesem System hatte Frau Thatcher ja tiefgreifend verändert. Wie aber haben die beiden großen Volksparteien in der Bundesrepublik auf die oben thematisierten sozialen Segmentierungen und auf das Phänomen einer sich abschleifenden Sozialordung bzw. auf die Modernisierung der Moderne reagiert? Was bedeutet das für die Möglichkeiten einer politischen Widerspruchsbearbeitung von Konflikten, wenn sich sozialer Wandel mit politischer Votalität verbindet, ja mit der Infragestellung von Parteibindungen und klassisch organisierten Mechanis75

„There is noch such thing as society“. Nach Martin Hartmann, Das Unbehagen an der Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 34–35 (2005), S. 31–37.

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men politischer Interessenartikulation, wobei man – jedenfalls in der Bundesrepublik der achtziger Jahre – auch auf die konkurrierende Vorstellung einer Gesellschaft von sozialen Bewegungen reagieren musste? Volksparteien schienen ganz gut zu funktionieren und hatten ihre Hochzeit in einer Phase, als das klassische Produktionsparadigma noch ungebrochen funktionierte – also in einer Zeit, als der interventionistische Staat erfolgreich in das Wirtschaftssystem eingreifen konnte, um Wachstumsimpulse zu generieren, so die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern, damit Zuwächse entstanden, aus denen umverteilt werden konnte, ohne die privaten Investoren zu entmutigen.76 In einer Phase der Schwächung des sozialstaatlichen Kompromisses, in der das erwirtschaftete Produkt nicht mehr ausreicht, eine als gerecht empfundene Verteilung zu garantieren, verteilen sich mit der Entwertung dieser exemplarischen Vergangenheit dann eben die Wähler um. Wenn die Kohäsionskraft der beiden großen Parteien in der Bundesrepublik indes nach wie vor ausreicht, unter Abzug einer sinkenden Wahlbeteiligung etwa 65 bis 70 Prozent der Wähler zu binden, dann beruht das bei abnehmenden Stammwählerschaften eher auf einer Fähigkeit, die sich als negative Integration bezeichnen ließe, in der sich multiple Entitäten in einer Öffentlichkeit, die sich uns als etwas ständig neu Zusammengesetztes mitteilt, noch einmal für Wahlerfolge bündeln lassen. Der Begriff der Volkspartei wäre dann in vielerlei Hinsicht allerdings unbrauchbar, denn er unterstellt historisch, dass das Volk in den Parteien, die sich dieser Selbstbeschreibung bedienen, noch als handlungsfähiges Subjekt auftritt, während die politischen Spitzen einer Massenpartei – thesenhaft zugespitzt – ihre Mitglieder und die Gesellschaft eher als eine Art verwaltbare Umwelt wahrnehmen.

76

Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: Ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a. M. 1998, S. 141 und 148.

DIE FRAGE DER VOLKSPARTEI 1945–1963* Paolo Pombeni Möglicherweise war die Zäsur von 1945 noch einschneidender, als es eine ereignisgeschichtliche Interpretation nahelegt: Man kann nämlich das Demokratiemodell, das sich mit dem Sieg der „Vereinten Nationen“ über den Nationalfaschismus herausbildete, als charakteristisches Paradigma in der liberalen westlichen Verfassungsgeschichte betrachten, ein Modell, das sich immer wieder behauptete und in seinen Grundstrukturen bis heute Bestand hat (ein „gemischtes“ und „ausgewogenes“ System in der Aufteilung der Macht und der Kontrolle sowie Grundpfeiler beim Aufbau der Staatssouveränität). Zugleich ist für dieses Modell charakteristisch, dass es sich erweitern lässt und es ermöglicht, die sozio-ökonomische Ebene in seinen institutionellen Rahmen zu integrieren. Diese Tatsache wurde dadurch überschattet, dass diejenigen, die aus diesen historischen Wahlen in Großbritannien siegreich hervorgegangen waren, auf die genau entgegengesetzte Linie gesetzt hatten: die Labour-Politiker, die sich nicht als Gruppe von „Persönlichkeiten“ präsentierten, sondern als Partei, mehr noch, als Partei im klassischen Sinne, also als Teil, parte, der Familie der Sozialisten, noch dazu mit einem „Niemand“ wie Clement Attlee als Vorsitzendem, der wahrlich nicht als ein charismatischer Leader galt. Wie man weiß, gewann die Labourpartei die Wahl, weil die Menschen in „normalen“ Zeiten einer politischen Dialektik den Vorrang gaben, die auf im Land längst verwurzelte Kräfte zurückgreifen konnte und damit den Bezug aufrecht erhielt zu großen symbolgeladenen (wenn nicht gar mythischen) Figuren, die der Politik des Wiederaufbaus fern standen. Dabei hatte die kurze Ära des „Neuen Jerusalem“ der Labourpolitiker ihre Wurzeln eben gerade in der Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit: keine hohe Politik der großen Entscheidungen, keine high politics, dafür viel Regierungsarbeit, die bis 1950 „welfare“ und anschließend „Wirtschaftswachstum“ genannt werden sollte und auf die allgemeine Verteilung der ersten Früchte des wirtschaftlichen Wohlstands zielte.1 Brauchte es, um diese heikle und meiner Meinung nach in der Geschichte Europas weitgehend neue Phase handhaben zu können, eine auf der „Formel Partei“ gründende Verfassung? Auf diese für die Phase 1945–1951 außerordentlich wichtige Frage darf es keine aus der Rückschau vereinfachende Antwort geben, sozusagen die Bestätigung, dass sich die europäischen Verfassungen der Nachkriegszeit mehr oder weniger erfolgreich auf die „Formel Partei“ als Vehikel zur Konsensbildung bezogen hätten und damit, unterschwellig, zur Sicherung staatsbürgerlicher * 1

Übersetzung Bettina Dürr. Kenneth Owen Morgan, Labour in power 1945–1951, Oxford 1984.

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Rechte tendierten. Es soll hier also untersucht werden, wie und in welchem Umfang die liberal-repräsentative Verfassung mit ihrer Absicherung durch die Wahlen in Zeiten des allgemeinen Wahlrechts unvermeidlich zur Rückkehr zum Parteiensystem als politischem Stabilisator führen musste. Hier kommt die Frage der kommunistischen Partei ins Spiel. So seltsam das klingen mag, war sie es, die zu einem guten Teil dem – wie ich es der Einfachheit halber nennen möchte – westlichen System2 das Grundmodell der neuen Parteiformation vorzugeben schien. Mir scheint (obschon es dazu noch einiges zu erforschen gäbe), als sei die klassische „Massenpartei“ – in ihrer sozialistischen beziehungsweise katholischen Organisation das typische Erbe des 19. Jahrhunderts – von anderer Natur gewesen als die neue Form, die sich in der Nachkriegszeit herauszubilden begann. Beispielsweise war deren Organisation nicht auf einer eindeutigen und umfassenden Übereinstimmung zwischen sozialer Bewegung und Vertretung im parlamentarischen System (oder, allgemeiner, auf institutioneller Ebene) aufgebaut. Man kennt die Belastungen, denen die Beziehungen zwischen parlamentarischer Gruppe und Parteiführung (man kann wohl noch kaum von „Parteispitze“ im heutigen Sinne sprechen)3 gemeinhin ausgesetzt waren. Tatsächlich hatte es die Verschmelzung zwischen den „Männern an der Regierung“ und den „Männern der Partei“ schon im Faschismus mit der Einrichtung des Faschistischen Großrates4 gegeben. Es ist aber auch wahr, dass diese Beziehung in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit nicht mehr auf Zustimmung stieß, während die sowjetische Variante damals politically correct war und zudem ihre Bewährungsprobe in der Praxis bestand, auf internationaler Ebene mit der Entwicklung der Sowjetunion zu einer Großmacht sowie landesintern mit der Erkenntnis, wie stark und erfolgreich der kommunistische Apparat bei der Machtergreifung und als treibende Kraft bei der wirtschaftlichen Entwicklung war. Das beeindruckte die damaligen Beobachter außerordentlich. Überzeugt von diesem Modell nahmen die alten Milieuparteien, ob sozialistischer oder christlicher Ausrichtung, auch formal die Struktur autonomer, sich selbst reflektierender Zentren an, die nicht nur politische Entscheidungen und Weltinterpretationen generierten, sondern auch die Strukturierung des decision making als Form der Partizipation an der „demokratischen“ Regierung übernahmen. Dieser Wandel hing meiner Meinung nach zu einem großen Teil mit der damals üblichen Überzeugung zusammen, die Zukunft liege in der „Planbarkeit“: Das be2 3

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Aus der britischen Perspektive, die aber auch die wirtschaftliche Kultur des hier betrachteten Zeitraums behandelt: Glen O’Hara, From Dreams to Disillusionment: Economic and Social Planning in 1960 s Britain, Basingstoke 2006. Duverger erklärt in seinem klassischen Werk, Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris 1951, genau diese Verschmelzung zwischen politisch-sozialer Bewegung und parlamentarischer Gruppe als Gründungselement der „modernen“ Partei um die Jahrhundertwende. Tatsächlich handelt es sich hier aber um eine zu starke historische Verallgemeinerung. Vgl. Paolo Pombeni, Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma partito del fascismo, Bologna 1984. Eine Zusammenfassung: Paolo Pombeni, Die besondere Form der Partei von Faschismus und Nationalsozialismus, in: Karl Dietrich Bracher / Leo Valiani (Hg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, S. 161–194.

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herrschende und maßgebliche Thema in den politischen Systemen Europas war die Verteilung und Organisierung des „Wirtschaftswachstums“ und das blieb es wenigstens bis zur ersten Ölkrise 1973.5 Natürlich ging es hier nicht nur um Probleme der „sozialen Gerechtigkeit“ oder des „Welfare“, auch wenn diese Themen allein schon von grundlegender Bedeutung gewesen wären. Hinzu kamen all die Aspekte, die den Wandel der Lebensformen, der politischen Landschaft, der Balance zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren und ihre jeweilige Gewichtung anbetrafen: Man denke nur, um an dieser Stelle ein paar Beispiele zu nennen, an das Aufkommen neuer Formen des Massenkonsums, an die Veränderung sozialer Beziehungen, an die Verstädterung, an Krise und Wandel in der Landwirtschaft. Alles sehr komplexe Themen, die in der Zwischenkriegszeit mehr als nur ein Problem der „Stabilisierung“ des politischen Systems verursacht hatten: Als Beispiel erinnere ich an die Bedeutung der Bauernfrage beim Erfolg des Nationalsozialismus, oder an den langwierigen Konflikt zwischen Stadt und Bauerntum im italienischen Faschismus. Das waren alles Phänomene, die die Herstellung von Konsens erforderlich machten, die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, die Kontrolle der Ängste in der Bevölkerung (denn jeder Wandel generiert soziale Ängste) sowie, zwischen den verschiedenen Komponenten auszugleichen, um das herrschende Gleichgewicht zu bewahren. Keine Gesellschaft in Europa hatte den hohen Preis vergessen, den man für die Unterschätzung dieser Aspekte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren gezahlt hatte. Das Phänomen der Angleichung aller Bevölkerungsschichten auf einem mittleren Niveau, was einige Beobachter von einer paradoxen Herausbildung der „klassenlosen“ Gesellschaft, wie Marx sie prophezeit hatte, hat sprechen lassen, wäre ohne die aktive Rolle des modernen Parteitypus nicht denkbar gewesen, mit seinen Wesensmerkmalen einer catch-all party, einer Volkspartei, einer Ghettopartei, aber darauf ausgerichtet, ihren Mitgliedern den Zugang weniger zur „sozialen Gerechtigkeit“ (wie das im Grunde noch im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war) als vielmehr zum individuellen Wohlstand zu ermöglichen. Dafür mussten aber die wirtschaftliche Produktion und das nationale Einkommen so stark wachsen, dass es zur Umverteilung reichte: Dieser „Planwirtschaft“ stimmten alle zu, sie war aber auch etwas ganz Anderes als das, was Hayek unter Versklavung verstand.6 Hierbei ging es nämlich nicht mehr darum, über festgelegte Planziele zu entscheiden, was produziert werden sollte und mit welchem Kostenaufwand, wie es in Zeiten der Kriegswirtschaft geschehen war. Jetzt war das Ziel, und hierin lag die keynesianische Revolution begründet, die Steuerungsmaßnahmen in Bezug auf den ökonomischen Kreislauf zu koordinieren, so dass dieser nicht nur zu produzieren in der Lage war, sondern den Wohlstand in Umlauf brachte: Was produziert wurde, 5 6

Aus der britischen Perspektive, die aber auch die wirtschaftliche Kultur des hier behandelten Zeitraums behandelt: Glen O’Hara, From Dreams to Disillusionment: Economic and Social Planning in 1960 s Britain, Basingstoke 2006. Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 2003. (Original: The Road to Serfdom, Chicago 1944)

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war relativ unwichtig, Hauptsache es gelang, die Produktion in den Kreislauf zu integrieren, der Konsum schuf und dadurch neuen Wohlstand.7 Das erklärt, weshalb die politischen Parteien, wenn auch jede mit ihren nationalen Besonderheiten, für die Regierungen das wesentliche Instrument für den entscheidenden Übergang zum Wachstum bildeten. Unter diesem Gesichtspunkt sollte meines Erachtens auf einige Fakten stärker eingegangen werden. Besonders gut lässt sich diese Dynamik in Großbritannien nachvollziehen, wo die Labourpolitiker die erste Stabilisierungsphase nach dem Krieg bestimmten, bei der Dirigismus, Ausgleich der Belastungen und eine Neudefinition des Sozialsystems unter dem Gesichtspunkt „welfare“ (1945–51) in Einklang gebracht werden mussten.8 Sie wurden von den Konservativen abgelöst, als der Moment gekommen schien, die rigiden Planvorgaben zu lockern, um das System für den allgemeinen Zugang zu Wohlstand und Konsum nutzen zu können (1951–1963).9 Bald sollten die Konservativen ihrerseits von einem neuen Labourismus überholt werden, der gegen die stagnant society10 vorgehen und England in den Entwicklungswettlauf auf Augenhöhe mit Deutschland und Italien eingliedern wollte, indem man erneut auf das Primat von Wissenschaft und Technologie baute (1964–1969).11 Das zentrale Thema blieb dabei immer, die Wachstumsentwicklung zu sichern und vor allem den hohen Konsumstandard, den die Bevölkerung mittlerweile als Teil der eigenen „Kultur“ bzw. „Zivilisation“ wahrnahm: Auto, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher, das waren keine Überflussgüter, sondern Statussymbole im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich die Paradigmen des „Bürgerverständnisses“ als volle Eingliederung in den Kreislauf. Auf dieser Ebene genügte es nicht mehr, dass sich der rechte Flügel der Labour Party in der Theorie auf die „revisionistische“ Gesinnung berief, um problemlos die traditionelle intellektuelle Hege-

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Vgl. Paolo Pombeni, La legittimazione del benessere: nuovi parametri di legittimazione in Europa dopo la Seconda Guerra Mondiale, in: Paolo Pombeni (Hg.), Crisi, legittimazione, consenso, Bologna 2003, S. 357–417. Zur Gleichheit der Belastungen und zur Verteilungslogik der Austeritätspolitik verweise ich auf Ina Zweiniger-Bargielowska, Austerity in Britain, Oxford 2000; zur Kommunikationsstrategie der Regierung Attlee siehe Richard. C. Whiting, Income Tax, the Working Class and Party Politics 1948–52, 20th Century British History, 8 (1997), S. 194–291; zu Planpolitik und Sozialismus siehe Jim Tomlinson, Democratic socialism and economic policy. The Attlee years 1945– 1951, Cambridge 1997. Kevin Jefferys, Retreat from New Jerusalem. British Politics, 1951–64, London,1997. Zur Frage der Beziehung der Konservativen zum welfare state siehe Harriet Jones, The welfare Game: Conservative Politics and the Welfare State 1942–1957, Oxford 1997; Michael Pinto-Duschinsky, Bread and circuses? The Conservatives in Office 1951–1964, in: Vernon Bogdanor / Robert Jacob Alexander Skidelsky (Hg.): The Age of Affluence 1951–1964, London 1970, S. 5–77; Mark Jarvis, Conservative Governments, Morality and Social Change in Affluent Britain, 1957–1964, Manchester 2005. Michael Shanks, The Stagnant Society, Harmondsworth 1960. Vgl. Richard Coopey u. a. (Hg.): The Wilson Government 1964–1970, London 1993; David Marquand, Britain since 1918, London 2008, S. 192–203; Thomas Hennesey, Optimist in a Raincoat: Harold Wilson 1964–1970, London 2012.

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monie der Linken aufrechterhalten zu können.12 Ganz im Gegenteil, denn dieser neue Wohlstand stellte genau das dar, was Anthony Crosland in seinem wegweisenden Buch als The Future of Socialism beschrieb.13 Auch wenn es ihr nicht leicht gefallen war, hatte die Labour Party das Terrain der Austerity und den Traum von einem neuen sozialistischen Jerusalem aufgegeben, um stattdessen auf eine Perspektive zu setzen, die ihren Dienst am Land neu definieren würde, nämlich gerade Garant einer Entwicklung zu sein, die versprach – indem sie auf Wissenschaft und Technik setzte – soziale Chancengleichheit und die Verallgemeinerung hoher Standards bei Lebensqualität und Konsum in Einklang zu bringen.14 Vergleichbares lässt sich für Deutschland feststellen. Auch hier verdankte Adenauer seine lange Machtphase seiner Fähigkeit, eine Fortschrittsentwicklung anzuführen, die alle abgesichert hätte (der erfolgreiche Slogan von der sozialen Marktwirtschaft15), und das gegen eine sozialdemokratische Opposition, die zumindest anfänglich noch sehr den alten Glaubenssätzen einer sozialistischen Austeritätspolitik als alleinigem Weg zum sozialen Ausgleich verpflichtet war16. Mit dem Wandel der deutschen Sozialdemokraten hin zur Verteidigung der Wohlstandsgesellschaft als vorrangiger Aufgabe einer sozialistischen Partei (was das eigentliche Thema des Parteitags von Bad Godesberg war, weniger die Absage an den Marxismus)17 schuf die von nun an von Willy Brandt geführte Partei die Grundlagen für ihre Eroberung der Macht. Dabei half die schwierige wirtschaftliche Konjunkturphase (1964–67), die bei den Deutschen eine Vertrauenskrise auslöste, ob man die Früchte des Fortschritts ohne einen radikalen Wechsel der Führungselite und der politischen Strategien weiterhin werde ernten können.18 Auf dem berühmten, schon erwähnten Parteitag von Bad Godesberg (November 1959) hatte die SPD bezeichnenderweise die Entscheidung getroffen, sich nicht 12

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Vgl. Peter Haseler, The Gaitskellites. Revisionism in the British Labour Party 1951–64, London 1969; Peter Clarke, A question of leadership. From Gladstone to Tatcher, Harmsworth 1992, S. 235–255; Ilaria Favretto, „Wilsonism“ Reconsidered: Labour Party Revisionism 1952–1964, in: Contemporary British History, 14 (2000, 4), S. 54–80 Kevin Jefferys, Anthony Crosland. A new Biography, London 1999; Martin Francis, Mr. Gaitskell’s Ganymede? Re-assessing Crosland’s „the Future of Socialism“, in: Contemporary British History, 11 (1997,2), S. 50–64; Giles Radice, Friends and Rivals: Crosland, Jenkins and Healey, London 2002. Ilaria. Favretto, Alle radici della svolta autonomista. PSI e Labour Party, due vicende parallele (1956–1970), Rom 2003. Vgl. Anthony J. Nicholls, Freedom with responsibility. The social market economy in Germany 1918–1963, Oxford 1994, S. 238; Volker Hentschel, Ludwig Erhard, München/Lech 1996. Axel Schildt, Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in der 50er Jahren, in: Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau: Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahren, Bonn 1993. Beatrix Bouvier, Zwischen Godesberg und großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung, Bonn 1990; Christoph Nonn, Das Godesberger Programm und die Krise des Ruhrbergbaus. Zum Wandel der deutschen Sozialdemokratie von Ollenhauer zu Brandt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50 (2002), S. 71–97. Klaus Schönhoven, Wendejahre: Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition¸ Bonn 2004.

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mehr „Klassenpartei“, sondern „Volkspartei“ zu nennen. Die Formel des Wirtschaftsexperten aus Hamburg, des späteren sozialdemokratischen „Superministers“ Karl Schiller, „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig“ veranschaulichte den Grundsatz des neuen Selbstverständnisses. Das war nicht nur die Kapitulation der Sozialdemokratie vor dem Kapitalismus, wie die Kritik der extremen Linken es ihr vorwarf, sondern viel eher das Angebot der Sozialdemokratie, sich in den Dienst dieses neuen, auf der Produktion von allgemeinem Wohlstand basierenden Wirtschaftssystems zu stellen, mit ihrer Fähigkeit, es durch die „Volksbeteiligung“ mit auftretenden Härten des wirtschaftlichen Wettbewerbs aufzunehmen, dank einer Politik, die diese entschärfen und abfedern konnte. Dieses Angebot war letztlich eng verknüpft mit der Einschätzung, dass nur die Wettbewerbswirtschaft die Steigerung des Wohlstands, den die Bevölkerung erreicht hatte, garantieren konnte.19 Auch der Erfolg der CDU war lange Zeit – über die Fähigkeit Adenauers hinaus, mittels seines außerordentlichen außenpolitischen Geschicks für die Sicherheit Deutschlands zu sorgen – mit der Fähigkeit Erhards verbunden, die Erfolge seiner Wirtschaftspolitik geltend zu machen, die die neue D-Mark zum Symbol des allgemeinen Wohlstands gemacht hatte. Den Wirtschaftspolitiker als „Wahllokomotive“ zu bezeichnen offenbart, wie stark der Konsens mittlerweile von der wirtschaftlichen Solidität abhing. Als weiteren Beweis für diese populistische Linie sei erwähnt, dass es Erhard sich nicht nehmen ließ, sich, sobald er die Nachfolge Adenauers angetreten hatte, als „Volkskanzler“ zu präsentieren, was die kritischen Stimmen bei den ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise in Schach halten sollte.20 In Italien waren es ähnliche Phänomene, die bei der DC – der Partei, die als Grundpfeiler des politischen Systems aus mehreren, hier nicht weiter auszuführenden Gründen unersetzbar schien – immer wieder zum Wechsel ihrer Bündnispartner geführt hatten. Nach der kurzen Phase, in der die Stabilisierung nach der Diktatur den mehr oder weniger solidarischen Konsens aller drei großen Volksparteien erforderlich gemacht hatte (1946–47), gründete die relativ lange Periode des Zentrismus (1947–1961) auf der Gestaltung einer Wirtschaftsentwicklung, die zunächst einmal das Wachstum des Konsums und allgemein der Wirtschaft sichern sollte, aber im Rahmen einer grundsätzlichen Aufrechterhaltung des Wertesystems und des sozialen Gleichgewichts eines traditionellen Italien.21 Allerdings stand hinter dieser Entwicklung ein Parteiensystem, das seine vorläufige Daseinsberechtigung noch aus der Zeit der Resistenza bezog beziehungs-

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Francesco Traldi, Verso Bad Godesberg. La socialdemocrazia e le scienze sociali di fronte alla nuova società tedesca (1945–1963), Bologna 2010. Manfred Görtemaker hat zu Recht hervorgehoben, wie Erhard nach einem Werdegang als christlicher, liberaler und gemäßigter Politiker an diesen Punkt gelangt war: Geschichte der Bundesrepublik. von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 391–395. Siehe dazu auch Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben¸ München 1996; Alfred C. Mierzejewski, Ludwig Erhard: a biography, Chapel Hill, London 2004. Vgl. Francesco Malgeri, La stagione del centrismo. Politica e società nell’Italia del secondo dopoguerra (1945–1960), Soveria Mannelli 2002.

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weise aus der Auflösung des monarchisch-faschistischen Systems, und das seinen Platz in der neuen Verfassung noch finden musste.22 Wie man weiß, war Italien kein wirklich entwickeltes Land, zumindest was den Massenkonsum und den allgemeinen Entwicklungsstand betraf (natürlich gab es auch Inseln starken Wachstums). Die Phase des Wiederaufbaus war schwierig und zum sogenannten Wirtschaftsboom kam es erst Mitte der Fünfzigerjahre. Da verwundert es nicht, dass sich ausgerechnet im Jahr 1956 der Diskurs auf eindeutige Weise zu öffnen begann, noch dazu in Verbindung mit der sogenannten „Öffnung nach links“.23 Auf der Direktionsversammlung der Sozialistischen Partei Italiens vom 19. bis zum 22. März 1956 kommentierte Nenni die Enthüllungen des XX. Parteitags der KPdSU, indem er bezeichnenderweise festhielt, dass „der demokratische Weg der einzig geeignete und einzig mögliche ist in Ländern mit liberaler und demokratischer Tradition und höherem Lebensstandard“. Wie man sieht, wurde der „Lebensstandard“ ein konstitutives typisches Element im politischen System und bestimmte die Ausrichtung des verfassungspolitischen Modells.24 Das Klima in jenen Jahren war geprägt von der sozialen Frage und die Aufforderung an die Parteien, sich mit dem auseinanderzusetzen, was bald affluent society genannt werden sollte. Es stimmt, dass es in Italien noch weite unterentwickelte Gebiete gab, weshalb die unbestreitbare Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und der Beginn des Wohlstands durch Massengüter nicht gleich als unverkennbare Anzeichen eines Wandels des traditionellen Sozialgefüges wahrgenommen wurden.25 Auch wenn einige junge Intellektuellenkreise, wie die Gruppe um die Zeitschrift Il Mulino aus Bologna, begannen, von der „industriellen Demokratie“ und der Vorherrschaft dieses Modells zu sprechen, drehte sich der politische Diskurs in unserem Land immer noch um die beiden Stereotype „Arbeiterklasse“ (derer sich natürlich die Kommunisten und die Sozialisten annahmen) und „Mittelschichten“, womit man im weitesten Sinne die breite Beamtenschaft meinte (die die Democrazia Cristiana als ihre Klientel betrachtete). Doch lassen sich auch im damaligen Italien viele Anzeichen eines Wandels ausmachen: Da ist etwa die forcierte Entwicklung der Staatsindustrie, die zur Bildung einer eher „politischen“ Manager22 23

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Paolo Pombeni, Die politische Stabilisierung in Italien und Deutschland (1945–1958), in: Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945–2000, Berlin 2006, S. 261–289. Paolo Pombeni, I partiti e la politica dal 1948 al 1963, in: Giovanni Sabbatucci / Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Rom/Bari 1997, S. 127–251; Agostino Giovagnoli, Il partito italiano: la DC dal 1942 al 1994, Rom/Bari 1996; Piero Craveri, La Repubblica dal 1958 al 1992, Turin 1995; Salvatore Lupo, Partito e antipartito. Una storia politica della prima repubblica, Rom 2003. Gianluca Scroccu, Il partito al bivio. Il Psi dall’opposizione al governo (1953–1963), Rom 2011. Vera Zamagni, Dalla periferia al centro: la seconda rinascita economica dell’Italia, 1861–1990, Bologna 2003; Emanuela Scarpellini, L’Italia dei consumi dalla Belle Époque al nuovo millennio, Rom/Bari 2008; Stefano Cavazza, Emanuela Scarpellini (Hg.), La rivoluzione dei consumi. Società di massa e benessere in Europa 1945–2000, Bologna 2010.

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klasse führte, die den industriellen Fortschritt als Modell von „sozialem Wert“ verstand und nicht nur als Quelle ökonomischen Gewinns; da ist die Entstehung des Flügels innerhalb der Mehrheitspartei Democrazia Cristiana, der sich eine „neue Entwicklungspolitik“ für das Land auf die Fahnen schrieb (Fanfani und seine Leute, die zum Teil im neuen Sektor der Staatsindustrie beschäftigt waren).26 Darüber hinaus waren die Wohlstandsdefizite in Italien noch lange nicht beseitigt. Kurz, die Austeritätspolitik mit ihren großen Opfern in der Phase des Wiederaufbaus war endgültig zu Ende, und der Einsatz für Wohlstand als unabdingbare Zielsetzung war das beherrschende Thema in der Politik geworden.27 Es war ein italienisches Thema, doch perfekt eingebunden in den europäischen Kontext der damaligen Zeit.28 Im Fall Italien sollte noch ein besonderer Faktor berücksichtigt werden, der eine Rolle spielte bei der Krise des modernen Parteitypus, wie er sich im italienischen System etabliert hatte: die Tatsache, dass die Parteien – schleichend, aber stetig – den Rückhalt in der Zivilgesellschaft verlor. Vergleichbare Phänomene lassen sich in keiner der anderen großen Gesellschaften Europas finden. Wie bereits beschrieben, hatte man in Großbritannien die Vorstellung von politischer Repräsentation entlang an Partikularinteressen, als sectional party, nach der Krise von 1931 überwinden müssen; in Frankreich war die politische Segmentierung in organisierte Gruppierungen, die kaum miteinander kommunizierten, als ein Grund für den Zusammenbruch der Dritten Republik interpretiert worden, und ihr erneutes Auftauchen betrachtete man als die Wurzel des Scheiterns der Vierten Republik (worauf De Gaulle seine „Revolution“ aufbaute);29 selbst in Deutschland, wo die „Milieupartei“ als eine in einem bestimmten sozialen Umfeld verankerte Partei, und in gewisser Weise auch die „Ghettopartei“, ihren konsolidierten Platz in der politikwissenschaftlichen Analyse erlangt hatten, waren ihre Spuren im Zuge des Wiederaufbaus nach der Katastrophe von 1945 verloren gegangen.30 Die italienischen Parteien, kleine wie große, waren fast alle Ausdruck von Enklaven und Subkulturen, die sich durch die neuere Geschichte der nationalen Einheit hindurch hatten erhalten können – trotz der Bemühungen zur kulturellen Nati26 27 28 29 30

Zum sozialen und kulturellen Wandel im zeitgenössischen Italien findet sich viel Material bei Guido Crainz, Storia del miracolo italiano, Rom 2005; Ders., Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni Ottanta, Rom 2003. Paolo Pombeni, Citoyens et politiqe en Italie, in: Cathérine Colliot-Thélène / Philippe Portier (Hg.), La métamorphose du prince. Politique et culture dans l’espace occidental, Rennes 2014, S. 145–157. Giovanni Bernardini / Michele Marchi (Hg.), A Cinquant’anni dal primo centrosinistra: un bilancio nel contesto internazionale, in: Ricerche di Storia Politica, N. F., 17 (2014), S. 133–232. Gaetano Quagliariello, De Gaulle e il gollismo, Bologna 2003; Riccardo Brizzi / Michele Marchi, Charles De Gaulle, Bologna 2008. Vgl. Helmut Norpoth, Elections and Political Change: a German Sonderweg?, in: Peter H. Merkl (Hg.), The Federal Republic of Germany at Fifty. The End of a Century of Turmoil, London 1999, S. 87–99. Zu einigen spezifischen Aspekten, aber auch für den allgemeinen Überblick zu diesem Thema siehe Peter Lösche / Franz Walter, Katholiken, Konservative und Liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 26 (2000), S. 471–492.

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onalisierung unter dem Faschismus, der, sieht man einmal von der Diktatur ab, eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit zur sozialen Angleichung offenbart hatte. Ob aufgrund der Natur der Bewegungen der Resistenza oder der wenig glücklichen Erinnerung an die Nationalisierung während des Faschismus, bei der vor allem in der letzten Phase eher die systematische „Leichenfledderei“ vonseiten einer kleinen Politikerclique ans Licht gekommen war – anstelle der heraufbeschworenen Öffnung zum Wettbewerb, der den Besten Zugang zu den Führungspositionen hätte verschaffen sollen –, hatten sich die politisch-kulturellen Subsysteme nach der Resistenza erneut verfestigt. Die katholische Verankerung erwies sich als am besten strukturiert und wurde damit zum Erfolgsmodell (an dem sich in vielerlei Hinsicht mutatis mutandis selbst die Kommunisten orientierten).31 Allerdings geriet die Verknüpfung zwischen katholischem Sozialsystem und christdemokratischer Partei mit dem II. Vatikanischen Konzil in eine schwere Krise.32 Derweil erodierten die kulturellen Unterschiede mit dem Siegeszug des Fernsehens, das die neue „Volkskultur“ lieferte und auf nationaler Ebene zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der konsumorientierten Freizeitgestaltung führte.33 Für eine Parteiform nach dem Modell einer „Ghettopartei“ (um Ernst Fraenkels berühmte Definition der SPD aufzugreifen) wurde es unter diesen Umständen immer schwieriger, was besonders deutlich wurde, als 1968 die sogenannten parlamentini universitari als System der Nachwuchsbildung der nationalen Politikerklasse aufgelöst wurden.34 Von 1948 bis zum 1968 existierte mit der Unione nazionale universitaria rappresentativa italiana eine nationale Studentenvertretung, in die jeder studentische Verein einige Vertreter entsandte. Eine Reihe später wichtiger Politiker (etwa Marco Pannella) profilierte sich hier. Der Fall Frankreich ist, wie teils schon angedeutet, ganz gegensätzlich gelagert, da es – unabhängig von der allgemeinen Krise der „Massenparteien“35 – nicht zu den Ländern gehörte, deren Stabilisierung in der Nachkriegszeit auf ein „Parteiensystem“36 zurückzuführen war. Tatsächlich muss man hier das wenig glorreiche Ende der Parteien in der großen Krise von 195837 weniger einer Auflösung von Stabilität, als vielmehr, ganz im Gegenteil, einer ausgebliebenen Stabili31 32 33

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Salvatore Lupo. Partito e antipartito. Una storia politica della Prima Repubblica (1946–1978), Rom 2004. Paolo Pombeni (im Dialog mit M. Marchi), La politica dei cattolici dal Risorgimento ai giorni nostri, Rom 2015. Vgl. Giulia Guazzaloca, La fabbrica del consenso: la televisione italiana fra mito americano e tradizioni nazionali, in: L’Occidente come forma di costruzione, Soveria Mannelli 2006, S. 141–164; Dies. (Hg.), Governare la televisione? Politica e Tv in Europa negli anni Cinquanta-Sessanta, Reggio Emilia 2007; Dies., Una e divisibile. La RAI e i partiti negli anni del monopolio pubblico (1954–1975)¸ Florenz 2011. Vgl. Giovanni Orsina / Gaetano Quagliariello (Hg.), La formazione della classe politica in Europa (1945–1956), Manduria 2000. Ebenda. Michele Marchi, Alla ricerca del cattolicesimo politico. Politica e religione in Francia da Pétain a De Gaulle, Soveria Manelli 2012. Vgl. Jean.-F. Sirinelli, La France de 1914 à nos jours, Paris 42000; Charles Sowerwine, France since 1870: Culture, Politics and Society, London 2001.

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sierung zuschreiben – ausgeblieben, weil es gerade ihre Schwäche war, die die Parteien in der französischen Gesellschaft daran gehindert hatte bei der Schaffung und Integration von Konsens mitzuwirken. In Frankreich waren die Parteien, die sich nicht einmal so nannten, sondern bezeichnenderweise Begriffe wie „mouvement“, „rassemblement“, Bewegung, Versammlung oder Ähnliches vorzogen, nur begrenzt sozial eingebunden. Vielmehr waren sie in einem Kontext verankert, der selbst eine starke nationale Integration bot, die direkt aus der Staatsidentität erwuchs, der République, die seit 1870 ihre Missionare hatte: in den Volksschullehrern sowie in den Stipendien, die Vertretern aller sozialen Klassen den Zugang zu den Pariser Ecoles Normales Supérieures ermöglichten. Aus diesem Grund sah man die größte Gefahr im Verlust dieser Integrationsfähigkeit, ob man diese nun in der Reichsidee, in der grandeur oder anderweitig verortete, doch um sie zu festigen, schienen die Parteien nicht das geeignete Mittel. Man muss diese besondere Situation, die in der Figur De Gaulle zum Ausdruck kam, verstehen. Seit dem Scheitern des Experiments von Mendès France 1954 fühlte sich Frankreich mit dem Albtraum der „Dekadenz“ konfrontiert, der nach den Euphorien zu Beginn des Jahrhunderts und der Zwanzigerjahre wieder zu erwachen schien. Da es am Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Siegermächte gestanden hatte, hatte das Land geglaubt, seinen Status als „Großmacht“ für immer wiedererlangt zu haben, was allerdings nun von internen und externen Konstellationen in Frage gestellt wurde: Die Algerienkrise wurde zum nationalen Sinnbild für die Krise der zivilisatorischen Mission Frankreichs (denn hier ging es bekanntermaßen um mehr als um das Problem der „Kolonisierung“), und kaum weniger schwer wog die wachsende Wirtschaftskrise.38 De Gaulle gewann erneut, aber diesmal gegen die Parteien. Er war der Mann, der Frankreich schon einmal vor dem Abgrund gerettet hatte, aber 1946 wegen der Parteien hatte gehen müssen. In Wirklichkeit kam es zu einem Wechselspiel, denn ein Großteil der Parteien stellte sich auf die Seite De Gaulles, um einen Ausweg aus der Krise im Mai 1958 zu ermöglichen, auch wenn es in der öffentlichen Meinung einen anderen Anschein hatte.39 Einen weiteren Aspekt halte ich für interessant: Kaum war es De Gaulle mit seinem Führungscharisma gelungen, das System wieder zu stabilisieren, tauchten die keineswegs verschwundenen Parteien wieder auf und entwickelten sich sogar zum Vehikel der Herausbildung einer Alternative zum System. Mitterand als Nachfolger De Gaulles wäre undenkbar gewesen ohne die neue Stärkung des Parteien-

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Hierzu siehe vor allem Jean-Marie Thiveaud, Les réformes économiques et financières au début de la Véme République, in: Armand Colin, L’avénement de la Véme République, Paris 1999, S. 172–183. Zu diesem Thema grundlegend: Gaetano Quagliariello, De Gaulle, Soveria Mannelli 2012. Zur wahrlich nicht nebensächlichen Rolle des MRP vgl. Michele Marchi, Le MRP et les élections légilsatives de 1958, in: Bernard Lachaise / Gilles Le Béguec (Hg.), Les élections législatives de novembre 1958, Bordeaux 2009; zur allgemeinen Entwicklung siehe Gilles Richard / Jaqueline Sainclivier (Hg.), Les partis et la République: la recomposition du système partisan, Rennes 2008.

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systems zur Mobilisierung von politischem Konsens,40 dasselbe kann man wohl, mit ein paar Einschränkungen, für Valéry Giscard D’Estaing behaupten.41 Ab 1963 wurde deutlich, dass der Sieg De Gaulles auch eine Neuorganisierung der Politik nach sich zog, was aber nicht das Ende des politischen Universums bedeutete, wie es aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war. Schon damals begann die lange Wahlkampagne, die in De Gaulles Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1965 gipfelte.42 Damals errang er ein durchaus beachtliches Ergebnis: 44,65 % im ersten Durchgang (5. Dezember: Sein Gegner François Mitterand erhielt 32 %); 55,2 % im zweiten Durchgang (19. Dezember: Mitterand 44,8 %). Frankreich blieb dem repräsentativen und wettbewerbsorientierten System verhaftet, wie es sich mit dem Sieg der Demokratien über die großen totalitären Diktaturen herausgebildet hatte, doch sah sich das Land mit den Herausforderungen der Modernisierung konfrontiert, was das beherrschende Thema sowohl bei der Herausbildung des Systems De Gaulle wurde als auch in der Opposition der Clubs und der Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen.43 Abschließend meine ich feststellen zu können, dass der außerordentliche Erfolg der Form „Partei“ nach dem Zweiten Weltkrieg in besonderer Beziehung zu dem steht, was ich die „Wohlstandsdemokratie“ nennen würde: eine besondere Phase des liberal-demokratischen Systems, deren Hauptmerkmal das Aufkommen erheblicher, nicht nur ökonomischer Ressourcen war, die es aufzuteilen galt zu Gunsten – aber nicht nur – der Mittel-, Kleinbürger- und Arbeiterschichten. Das Bedürfnis, diese Dynamik zu kontrollieren und allen sozialen Komponenten – unabhängig von ihrer ideologischen Bindung oder subkulturellen Zugehörigkeit – Zusicherungen zu machen, förderte die Hinlenkung auf eine Mitte, vergleichbar der politischen Organisation, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte: zum einen als „Maschinerie“, um die Wahlsysteme, die auf Wählermassen und auf die Auswahl von Führungseliten ausgerichtet waren, in Gang zu halten, und zum anderen zur Wahrung der verschiedenen sozio-kulturellen Identitäten. Das richtete sich gegen die Forderung nach Anpassung auf eine einzige Form kultureller Bürgeridentität als Ergebnis des „modernen Staates“. Längst war die Identifizierung des Bürgers als „Mittelschichten“-Produkt allgemein akzeptiert, und die Parteien galten als die geeigneten Strukturen für die „politische Staatsbürgerschaft“ (als System des Zugangs zum Rechtssystem, zu den verfassungsrechtlichen Garantien, zur sozialen Absicherung). Das alles wog mittlerweile stärker als die Beteiligung der Parteien an politischen Entscheidungsprozessen, wie es noch in der Zeit zwischen dem klassischen Konstitutionalismus und der Herausbildung des demokratischen, auf umfassender sozialer Partizipation basierenden Systems gewesen war. 40 41 42 43

Marco Gervasoni, François Mitterand, Turin 2007. Georges Valance, VGE, une vie, Paris 2011. Zur Bedeutung des Jahres 1965 als „année tournante“ siehe Jean-F. Sirinelli, Les Vingt décisives. Le passé proche de notre avenir 1965–1985, Paris 2007, S. 54–89. Claire Andrieu, Pour l’amour de la République: le Club Jean Moulin 1958–1970, Paris 2002; Jean Garrigues / Sylvie Guillaume / Jean-F. Sirinelli (Hg.), Comprendre la Vème République, Paris 2010.

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Natürlich unterscheiden sich die Parteitypen, die diese letzte Phase bestimmten, in vielerlei Hinsicht: in den verschiedenen Nationalstaatsbildungen, mit denen sie verwoben sind, in den politischen Kulturen, aus denen sich ihre Ideologien formen, in den politischen Systemen, mit denen sie zu tun haben, in den freien sozialen Organisationen, zu denen sie in Beziehung treten müssen, und vieles mehr. Der wichtigste Parteitypus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war zweifellos der, den der deutsche Politologe Otto Kirchheimer treffend als catch-all party oder auch „Allerweltspartei“ definiert hatte44. Diese Bezeichnung wurde durch sein Mitte der Sechzigerjahre auf Englisch erschienenes Essay über den Wandel der Parteien in Westeuropa allgemein bekannt.45 Ein Jahrzehnt später führten wieder hauptsächlich deutsche Politologen den Begriff der Volkspartei ein.46 Der Ansatz von Kirchheimer hat seine Wurzeln aber sehr viel früher: Weit über seinen Weimarer Hintergrund und seine Beziehung zu Carl Schmitt47 hinaus begann sich der Politikwissenschaftler zunächst vor allem im französischen und anschließend im amerikanischen Exil eingehend mit den Veränderungen der „Demokratie“ zu befassen. Bei seinen Forschungen zu Nachkriegsdeutschland erkannte er in aller Klarheit das seiner Ansicht nach Neue an den Parteiformen, die sich herausgebildet hatten. Schon bei seiner Analyse des politischen Szenariums in Deutschland von 1954 hatte Kirchheimer den Schlüssel für diesen Wandel ausfindig gemacht48. Nachdem er herausgefunden hatte, dass das „Fehlen jeder realen Alternative in der Außenpolitik ein wichtiger Faktor für die innere Stabilität Deutschlands ist“, was die SPD letztendlich in die Rolle der „loyalen Opposition“ gedrängt hatte, erklärte sich Kirchheimer die „Zurückhaltung“ der damaligen Parteien im Hinblick auf die deutsche Politik folgendermaßen: „Keine ist einen Weg gegangen, den man als charakteristischen Modus deutscher Vorgehensweise deuten könnte, das heißt die Herausbildung eines umfassenden, auf den spezifischen Interessen basierenden politischen Systems. Im Gegenteil, sie gaben sich damit zufrieden, ihre Ziele über die normalen Kanäle des Lobbyismus und der Interessengruppen zu verfolgen“. Das schien ihm ein „nicht-deutscher Ansatz“ und eher eine „nahezu angelsächsische Manier“. Ein letzter Aspekt – wichtig, wenn auch nicht neu – betrifft die Personenfixierung der politischen Führung,49 was sich mit dem Fernsehen als vorrangigem 44 45 46 47

48 49

Paolo Pombeni, La ragione e la passione, Bologna 2010, vgl. S. 526–532. Vgl. Otto Kirchheimer, The Transformation of the Western European Party Systems, in: Joseph La Palombara / Myron Wiener (Hg.), Princeton Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 177–200 Vgl. Hermann Kaste / Joachim Raschke, Zur Politik der Volkspartei, in: Wolf-D. Narr (Hg.), Auf dem Wege zum Einparteienstaat, Opladen 1977, S. 260–71. Vgl. Otto Kirchheimer, Costituzione senza sovrano. Saggi di teoria politica e costituzionale, Bari 1982. Zu diesem Autor siehe: Wolfgang Luthardt / Alfons Söllner (Hg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989; Frank Schale, Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2006. Vgl. Otto Kirchheimer, Notes on the political scene in Western Germany, in: World Politics, 6 (1954), S. 306–321. Vgl. das Themenheft „Le leadership politiche“, in: Ricerche di Storia Politica, n. F., 5 (2002), S. 331–440.

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Kommunikationsmittel verstärkt hat, aber der einzige Grund ist das nicht, man denke nur an De Gaulle.50 Gewiss ist die personality show, wie sie sich seit den Sechzigerjahren mit dem Mythos John F. Kennedy immer stärker durchsetzte, ein Phänomen, das seinen Einfluss hatte, allerdings weniger auf die Entwicklung als vielmehr auf die Krise der klassischen Parteiform. Dem sollte man aber hinzufügen, dass es dadurch nicht selten zu einer Rückkehr des „Populismus“ als Technik, politischen Konsens zu schaffen, kam, wobei dem Populismus seinerseits bestimmte Formen der Aggregation keineswegs fremd sind.51 Vielleicht ist auch deshalb die Demokratie nunmehr in ein „age of spectatorship“, eine Ära des Zuschauens, geraten, wie in letzter Zeit festgestellt wurde.52 Die Liste ließe sich – in einem anderen Rahmen – noch verlängern. Mein Anliegen war es, die Vollendung eines Zyklus aufzuzeigen, der das politische System Europas dahin geführt hat, dass sich die Impulskraft dieser Parteiform erschöpft hat, letztlich ähnlich – zumindest auf idealtypischer Ebene – wie in den Vereinigten Staaten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Und zwar in einer Gesellschaft, die einerseits befriedigende Formen der Harmonisierung und der allgemeinen politischen Integration erreicht hatte (zumindest für ihre ursprünglichen Staatsangehörigen, ungewiss bliebt hingegen, was mit den derzeitigen großen Einwanderungen passieren wird) und die andererseits die wachsende Sorge um den Erhalt von Wohlstand als gesellschaftlichem Standard umtrieb, was den Raum für diese Parteiform, die die Jahre von 1945 bis 1973 geprägt hatte, immer enger werden ließ beziehungsweise zum Verschwinden bringen musste.

50 51 52

Riccardo Brizzi, L’uomo dello schermo. De Gaulle e i media, Bologna 2010. Paolo Pombeni, Das Problem des Populismus im Rahmen der Europäischen Geschichte, in: Totalitarismus und Demokratie, 8 (2011), S. 221–236. Jeffrey E. Green, The Eyes of the people. Democracy in an age of spectatorship, New York 2010.

DAS POLITISCHE SYSTEM ITALIENS SEIT DEN 1970ER JAHREN Legitimationskrise oder Formwandel der Demokratie? Massimiliano Livi 1. DIE REPUBLIK DER PARTEIEN Bereits vor der Gründung der Italienischen Republik, während des Widerstandes 1943–1945, waren sich alle Akteure des antifaschistischen Risorgimento darin einig, dass die Neugründung der Demokratie in Italien nur durch ein System pluraler politischer Teilhabe zu realisieren sei. So waren auch die Comitati di Liberazione Nazionale aus all den neu- oder wiedergegründeten Parteien zusammengesetzt, die später, nach der Befreiung, den Kern der Italienischen Republik bildeten. Sie waren sich ebenfalls darüber einig, dass zu diesem Zweck nur die „Partei“ als mögliche Organisationsform des Politischen in Frage käme, um die vom Faschismus geschaffenen sozialen Massen zu durchdringen und sie in einer demokratischen Gesellschaft zu organisieren. Nur Volksparteien könnten die Italiener vom faschistischen Regime und seinem Erbe erlösen und gleichzeitig alle Facetten der Gesellschaft integrieren und repräsentieren.1 Diese Auffassung bestimmten die Mütter und Väter der Verfassung von 1948. Trotz einer sehr vagen Definition der Partei als politische Organisationsform,2 wurden damit während der sogenannten „Ersten Republik“ Volks- und Massenparteien zur einzigen denkbaren Möglichkeit der Vertretung aller politischen, sozialen und sogar konfessionellen Strömungen der Gesellschaft im Parlament.3 Sogar die Republik selbst wurde – nach einer sehr treffenden Formel von Pietro Scoppola – zu einer Repubblica dei Partiti, in der die Parteien bis in die 1990er Jahre hinein exklusiv das politische Lebens bestimmten. Das traf vor allem für die Democrazia Cristiana (DC) zu, die bis 1981 alle 38 Regierungen der Republik führte und somit einen „polarisierten Pluralismus“4 prägte, in dem die zweitgrößte Partei, die 1 2 3 4

Für eine exhaustive Darstellung vgl. Pietro Scoppola, La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico 1945–1996, Bologna 1997. § 49 der italienischen Verfassung: Alle Staatsbürger haben das Recht, sich frei in Parteien zusammenzuschließen, um in demokratischer Form an der Ausrichtung der Staatspolitik mitzuwirken. Diese Möglichkeit wurde durch das Proportionalsystem gesichert und erst 1993 wieder in Frage gestellt. Siehe auch Mariuccia Salvati, Sulla nascita della „repubblica dei partiti“, in: Parolechiave, 47 (2012), S. 57–70. Giovanni Sartori, Pluralismo polarizzato e interpretazioni imperfette, in: Il Mulino, 4 (1984), S. 674–680.

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Kommunisten (PCI) und die Neofaschisten (MSI) permanent in die Opposition verbannt blieben.5 Zumindest bis in die 1970er Jahre war die hierarchisch strukturierte Partei mit einer internen Bürokratie, die wie ein fordistisch organisierter Betrieb funktionierte, der Idealtyp aller politischen Kulturen Italiens. In der Tat orientierte sich dieser Idealtyp – sowohl in Anlehnung als auch in Abgrenzung davon – an den Strukturen des PCI und der Sozialistischen Partei. Dies geschah nicht ohne einen Seitenblick auf die SPD der Weimarer Republik, die Roberto Michels vor dem Krieg mit seiner These vom „ehernen Gesetz der Oligarchie in der Demokratie (La democrazia e la legge ferrea dell’oligarchia) in Italien bekannt gemacht hatte.6 Alle Parteien des Arco Costituzionale hatten also eine strukturierte Organisationsform, waren zentralisiert und bürokratisiert und daher in der Lage, eine politische langfristige Planung zu entwickeln und diese gegebenenfalls durch eine eigene, in viele unterschiedliche Felder ausgedehnte Struktur (Verlage, Zeitungen, Sicherheitsdienst usw.) zu implementieren.7 Auf diese Weise wollten vor allem die größten Integrationsparteien, DC und PCI, unmittelbar nach der Gründung der Republik dem demokratischen Defizit der Italiener entgegentreten, welches die Republik nicht nur vom Faschismus, sondern auch vom liberalen Staat geerbt hatte. Das Wahlverhalten der Italiener blieb innerhalb vorgegebener Pfade und in den jeweiligen politischen Subkulturen befangen.8 Auch die kleineren Parteien wie die Republikaner oder die Liberalen besaßen in der Regel eine engmaschige territoriale Verbreitung9 und waren dadurch zum Beispiel auf lokaler Ebene in der Lage, als Bezugspunkt für Bildung, Welfare, Freizeit und Arbeit zu fungieren. Die größeren hatten bis zu ihrer Auflösung Mitgliederzahlen in Millionenhöhe. In dem Kontext des zentralisierten italienischen Staates und seiner Dominanz des Parlamentes über die Regierung waren die Parteien auch sehr wichtige Verbindungsglieder zwischen Zentrum und Peripherie, zum Beispiel für die lokale Wirtschaft oder in der Beziehung mit kleinen und großen Interessengruppen wie der Kirche, den Berufsverbänden, Lobbys usw. Die enge Verflechtung zwischen Staat, Parteien, Interessengruppen und Territorium in allen seinen Facetten sowie zwischen Parteien und gesellschaftlichen Strukturen hatte sich bereits in der Zeit der Centro-Sinistra-Regierungen (1962–1976) und dann in den 1980er Jahren durch

5 6 7 8 9

Siehe auch Mark Donovan, The invention of bipolar politics in Italy, in: The Italianist 1 (2011), S. 62–78. Paolo Pombeni, La teoria del partito politico nell’età di Michels, in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, 46 (2012), S. 85–119. Siehe Francesco Leoni, Storia dei partiti politici italiani, Napoli 2001; Donatella della Porta, I partiti politici, Bologna 2001; „Politica e partiti“, in: Parolechiave, 47 (2012). Für eine kulturhistorische Perspektive auf die kollektive Vorstellungswelt dieser politischen Kulturen siehe Maurizio Ridolfi, Italia a colori. Storia delle passioni politiche dalla caduta del fascismo ad oggi, Firenze 2015. Ilvo Diamanti, Mappe dell’Italia politica. Bianco, rosso, verde, azzurro e tricolore, Bologna 2009.

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eine bedeutende Steigerung der finanziellen Mittel der Parteien verfestigt.10 Dies brachte mit sich eine weitere Schwächung der Funktion der zentralen Institutionen und die Entwicklung des Phänomens des Stimmenhandels (voto di scambio), welches wiederum auch als Folge der Erosion der politischen Identitäten anzusehen ist.11 Obwohl die Vorherrschaft der Parteien erst mit dem Wahlgang 1992 endgültig in Frage gestellt wurde, wurde aber die immanente Krise des politischen Systems bereits während der 1980er Jahren greifbar, als die Legitimation für ihre zentrale Rolle im italienischen öffentlichen Leben zu wanken anfing. Denn während der vorangegangenen Dekade hatten es die größten Regierungsparteien (DC und PSI) nicht geschafft, eine Antwort auf die Krise des fordistischen Kapitalismus und auf das Zerbröckeln jenes fundamentalen Gleichgewichts der Nachkriegszeit zwischen Welfare, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu finden.12 Somit gelang es ihnen nicht, die Strukturen des italienischen Staates neu zu definieren und die immer tiefere Kluft zwischen Politik und Gesellschaft zu verkleinern. Die Parteien, bereits Drehpunkt des politischen Systems, wurden zum Angelpunkt des Staates selbst. Durch die lottizzazione, d. h. durch die politische Kontrolle und Besetzung aller Schlüsselpositionen in der staatlichen Wirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung, besetzten sie den gesamten öffentlichen und politischen Raum mit dem Ziel, die eigenen Klientelen zu bedienen.13 Beispiel dafür seien sowohl die Reform des Gesundheitssystems (1978) als auch die der Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI.14 Im ersten Fall verhinderte die politische Aufteilung der ca. elftausend Leitungsfunktionen alle Bemühungen um eine Rationalisierung der Verwaltungen. Dasselbe geschah bei der Reform von RAI im Jahr 1975, die die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Sender von der Regierung auf das Parlament übertrug. Der Pluralismus dreier sehr unterschiedlicher Sender war erkauft mit ihrer politischen Aufteilung unter DC (Rai 1), PSI (Rai 2) und PCI (Rai 3).15 Die lottizzazione della Rai bleibt bis heute ein Paradebeispiel der Modi, wie die Parteien alle Lebensnerven der Gesellschaft kontrollierten sowie ein Inbegriff des statischen, korrupten und ineffizienten Systems der „Ersten Republik“. Trotz eines erneuten wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1980er Jahren, erhöhten Korruption und Inneffizienz die Distanz Italiens von jenen anderen europäischen Länder, von denen es sowohl wirtschaftlich als auch finanziell abhängig 10 11 12 13 14 15

Angefangen wurde diese Verflechtung allerdings bereits mit den Regierungen Fanfani der 1950er, als die DC sich für den Weg der Besetzung der Schaltstelle des staatlichen Apparates als Ersatz für die unerreichbare absolute Mehrheit im Parlament entschied. Vgl. Carlo Guarnieri, Il sistema politico italiano, Bologna 2006, S. 41–43 u. 56–57. Siehe Andrea Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana. (1948–2008), Mailand 2008, S. 267– 338. Siehe u. a. Guido Crainz, Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni Ottanta, Rom 2005, S. 135–151. Guarnieri, Il sistema politico (wie Fn. 11), S. 58–59. Zur politischen Relevanz des Fernsehens in Italien in Bezug auf die Parteien siehe unten im Text. Zur (politischen) Geschichte von Rai siehe Giulia Guazzaloca, Una e divisibile. La Rai e i partiti negli anni del monopolio pubblico, 1954–1975, Florenz 2011.

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war.16 Als erster hob Enrico Berlinguer, Sekretär des PCI, in einem viel zitierten Interview 1981 die Notwendigtkeit hervor, über die questione morale (moralische Frage) der Auswirkungen der Durchdringung der Gesellschaft durch die Parteien zu reflektieren. Im Gegensatz zu den aktuellen parteifeindlichen populistischen Akzenten richtete sich die öffentliche Aufforderung von Berlinguer an alle Parteien, auch den PCI. Diese beinhaltete eine strenge Beobachtung der wachsenden Kluft zwischen Politik und Gesellschaft. Die Parteien seien „vor allem Macht- und Klientelfabriken […] ohne Bezug auf die Bedürfnisse und die eigentlichen Probleme der Menschen“ geworden, die auf die Verfolgung des Gemeinwohls verzichtet hätten. Er ermahnte das gesamte politische System zu „handeln, so dass der gerechte Zorn der Bürger für solche Degenerationen, nicht eine zur Abneigung gegen die demokratische Bewegung der Parteien“ werde.17 Gerade die Reaktion der Parteileitung des PCI zeigte, dass das italienische politische System nicht in der Lage war, sich selber zu erneuern. Ein Monat nach dem Interview von Berlinguer erwiderte Giorgio Napolitano (Mitglieder der Parteidirektion und 2006–2015 Präsident der Republik) auf den Seiten des Parteiorgans „L’Unità“ mit der harschen Anmerkung, dass nicht die questione morale Priorität haben müsse, sondern vielmehr die angestrebte (und nie erreichte) Eintracht mit dem PSI, um mit diesem die notwendigen Reformen erreichen zu können. Zwei Jahre später, im August 1983, trat die erste vom PSI geführte Regierung in der republikanischen Geschichte an. Diese entstand auf der Basis eines Reformpaktes mit der DC, der aber den lähmenden divergierenden Interessen zwischen PSI und DC zum Opfer fiel. Tatsächlich verlagerten sich somit bis 1987 und darüber hinaus bis 1992 mit den Regierungen des pentapartito (Fünf-Parteien-Koalition), die Grenzen eines polarisierten Pluralismus vom Parlament in die Regierungskoalition. Nicht zuletzt, weil durch eine Fünf-Parteien-Koalition (unter Ausschluss des PCI) die Bedeutung und die Funktion der Wahlkämpfe entleert wurde. Trotz aller Versuche sowohl von Bettino Craxi (Ministerpräsident 1983–87) als auch von Ciriaco De Mita (Ministerpräsident 1988–89)18 blieben die notwendigen Reformen der öffentlichen Verwaltung, der staatlichen Institutionen sowie die Kontrolle der Staatsverschuldung vor allem wegen der Uneinigkeit zwischen DC und PSI sowie wegen Konflikte innerhalb der Christdemokratischen Partei während der 16 17 18

Alfio Mastropaolo, La repubblica dei destini incrociati. Saggio su cinquant’anni di democrazia in Italia, Scandicci, Florenz 1996, S. 32. Interview von Eugenio Scalfari an Enrico Berlinguer, in: La Repubblica vom 28. Juli 1981. Während das Projekt von Craxi (die sogenannte Grande Riforma) für eine Einführung eines Präsidialsystems plädierte, war das Projekt von De Mita eher neo-liberaler Natur und hatte die zweifache Absicht, auf einer Seite die Kosten der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft zu drosseln, auf der andere die DC wieder im Mittelpunkt des politischen Systems Italiens zu bringen. Siehe Luigi Musella, Craxi, Rom 2007; Gennaro Acquaviva / Luigi Covatta, La grande riforma di Craxi, Venezia 2010; Agostino Giovagnoli, La crisi della centralità democristiana, in: Simona Colarizi / Piero Craveri / Silvio Pons (Hg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli (Catanzaro) 2004, S. 65–102 e più in generale Ennio Di Nolfo, La Repubblica delle speranze e degli inganni. L’Italia dalla caduta del fascismo al crollo della Democrazia cristiana, Firenze 1996; Giovanni Di Capua / Paolo Messa, DC. Il partito che fece l’Italia, Venedig 2011.

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1980er Jahre aus.19 Diese Immobilität wurde spätestens nach dem europäischen Umbruch von 1989 zum Sinnbild einer politischen Elite,20 die für die Erhaltung von partikularen und korporativen Interessen, sprich für die Erhaltung des Wahlkonsens, jegliche Modernisierungsbestrebungen eingestellt hatte. Die Schwäche der italienischen Parteien und des gesamten politischen Systems war also bereits vor der Aufdeckung der Korruptionsskandale Tangentopoli offensichtlich und zeigte sich danach bei der Parlamentswahl 1992 als unumkehrbar. Während alle etablierten Parteien einen Zusammenbruch der Wählerstimmen erlitten, gewannen ehemaligen Outsider und neue Parteien an Sichtbarkeit (und viele Sitze im Parlament). So konnte z. B. der noch neo-faschistische MSI so viele Sitze wie die aus der Auflösung des PCI hervorgegangene Rifondazione Comunista ergattern, die Anti-Mafia-Bewegung La Rete 12 Mandate in der Camera dei deputati gewinnen und La Lega mit 55 Abgeordneten zur viertgrößten Partei werden. Alle diese Formationen bewegten sich zwischen System-, Politik- und Parteienfeindschaft.21 Die Diskontinuitäten der Jahre 1992–94 sind auch als Resultat der unzureichenden Antworten der Regierungen der 1980er Jahre auf eine Reihe nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher Herausforderungen anzusehen, die trotz einer Art ephemeren „zweiter Boom“, die Zerbrechlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung enthüllten. Die kurzfristige Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens beruhte in hohem Maße auf staatlicher Subventionierung des italienischen Kapitalismus. Dies führte aber mittelfristig zu einen endgültigen Verzicht der Regierungsparteien auf jegliches Modernisierungsprojekt für das Land sowie, langfristig, zur Destabilisierung des Wirtschaftssystems und im Endeffekt zur weiteren Erosion der politischen Fundamenten der sogenannten „Ersten Republik“.22 Seit den 1980er Jahren wuchs wie in den meisten europäischen Ländern die Staatsverschuldung stark. In Italien verschärften sowohl eine immer verbreitetere Steuerflucht und daher sinkende Steuereinnahmen als auch der Beitritt zum EWS (März 1979) und die darauffolgende monetaristische Wende der Banca d’Italia die Staatsverschuldung.23 Die nicht

19 20

21 22

23

Siehe Di Michele, Storia dell’Italia (wie Fn. 12), S. 267–338. Ebenfalls symbolisch durch den Akronym CAF identifiziert. CAF stand für Craxi (PSI), Andreotti und Forlani (rechte Strömung der DC), die bereits 1981 einen Pakt für die Größen Koalition des „Pentapartito“ abschlossen und somit die Grundlage für die Immobilität des gesamten Jahrzehnts legten. Salvatore Lupo, Antipartiti. Il mito della nuova politica nella storia della Repubblica (prima, seconda e terza), Rom 2013; Daniela Saresella, Tra politica a antipolitica. La nuova „società civile“ e il movimento della Rete (1985–1994), Florenz 2016. Roberto Gualtieri, L’impatto di Reagan. Politica ed economia nella crisi della prima repubblica (1978–1992), in: Simona Colarizi / Piero Craveri / Silvio Pons (Hg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli (Catanzaro) 2004, S. 185–214, Zitat hier: S. 186; Alberto de Bernardi, Un paese in bilico: L’Italia degli ultimi trent’anni 2014. Siehe Nino Andreatta et. al., L’autonomia della politica monetaria. Il divorzio Tesoro-Banca d’Italia trent’anni dopo, Bologna 2011.

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mehr vorhandene Möglichkeit, durch die Inflation die Währung zu entwerten,24 „zwang“ die Regierungsparteien den restriktiven antiinflationistischen Maßnahmen der Zentralbank mit kompensatorischen Ausgaben entgegenzuwirken, deren einziges Ziel die Aufrechterhaltung der Wahlklientel und die Verteidigung von Partikularinteressen war. Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht brach das von den Parteien kontrollierte Machtsystems zusammen. Die durch die EU eingeschränkten Möglichkeiten mittels der staatlichen Holding IRI öffentliche Aufträge und staatliche Subventionen an die Industrie zu verteilen, brachte eine radikale Wende in der bis dato eher passiven politischen Rolle des italienischen Kapitalismus. Eine neue aufstiegsorientierte Generation von Unternehmern wurde nach der Krise 1992–1994 von der italienischen Gesellschaft aufgerufen bzw. fühlte sich aufgerufen, die Politik durch ihre Professionalität und Kompetenz zu erneuern. In diesem Sinne repräsentiert Silvio Berlusconi unter den vielen neuen Akteuren sicherlich die größte Neuheit. In der Zeit seiner mythisierten discesa in campo (der Einzug in die politische Arena) personifizierte er nicht nur die Ablehnung des alten Parteisystems, sondern auch jene aufstrebenden Generation von Unternehmern, die sich nicht mehr durch die Parteien kontrollieren lassen, sondern selber durch ihre Wirtschafts- und Finanzkraft (und eine eigene Partei) die Politik gestalten wollte.25 Abgesehen von nur wenigen Ausnahmen26 wird Tangentopoli von Politologen und Historikern wie eine „große Lawine“ und als Beginn der sogenannten Zweiten Republik betrachtet. Diese treffende Formel von Gianfranco Pasquino für die Veränderungen im politischen System bezieht sich aber vor allem auf die neue politische Landschaft nach den Wahlen vom April 1994. Diese war vor allem das Ergebnis des neuen Wahlgesetzes, durch das das Proportionalsystem aufgegeben wurde.27 Nach dieser Narration konstituierte sich die sogenannten Zweite Republik zwischen dem 18. April (die acht Volksabstimmungen des Mario Segni) und dem 4. August 1993 (Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes). Sie charakterisierte der Bipolarismus der Mitte-Links bzw. Mitte-Rechts-Bündnisse und bis 2011 durch Silvio Berlusconi. Sie endete am 19. April 2013 mit der in der Geschichte Italiens einmaligen Wiederwahl von Giorgio Napolitano als Präsident der Republik bzw. 24

25 26 27

Die Inflation nahm in Italien zwischen der ersten und der zweiten Ölkrise mit Werten um die 20 % dramatisch zu, während in Deutschland blieb sie in dem selben Zeitraum bei rund 5 % konstant, vgl. und , verifiziert am 19.09.2016. Siehe u. a. das Sonderheft: Penelope Morris / Mark Seymour (Hg.), Special Issue: Berlusconi’s Impact and Legacy 2015, in: Modern Italy, 1 (2015), insb. Mark Donovan, Berlusconi’s impact and legacy: political parties and the party system, in: Ebenda, S. 11–24. Siehe z. B. Gualtieri, L’impatto di Reagan (wie Fn. 22), e più ampiamente de Bernardi, Un paese (wie Fn. 22); sowie Marco Gervasoni, Tangentopoli in prospettiva storica, in: Rivista di politica, 3 (2015), S. 5–8. Gianfranco Pasquino, The Birth of the „Second Republic“, in: Journal of Democracy, 3 (1994), S. 107–113, Zitat hier: S. 107; siehe auch Carol Mershon / Gianfranco Pasquino, Italian politics. Ending the First Republic, Boulder 1995.

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mit der Etablierung eines „Tripolarismus“ durch den Einzug des Movimento 5 Stelle (M5S) ins Parlament im selben Jahr.28 Ohne den revolutionären (im Sinne eines Systemumsturzes) und epochalen Charakter der Ereignisse von 1992–94 abstreiten zu wollen, erscheinen die Veränderungen jener Jahre als Selbstzerstörerung des Parteiensystems, dessen Veränderung bereits in den zwei Jahrzehnten zuvor in Gang gesetzt worden waren.29 Diese hatten ihre Wurzel sowohl in der Krise des stark staatlich beeinflussten italienischen Kapitalismus der Nachkriegszeit als auch in den Eindämmungsversuchen eben jener Krise durch die Staatsverschuldung, sowie in der Globalisierung der Märkte, die neben anderen Faktoren auch in Italien ab den siebziger Jahren einen Strukturwandel bedingt haben. Es handelt sich um eine lang andauernde Spannung zwischen den Rahmenbedingungen der Politik und der Transformation der Formen des Politischen bzw. um die bis heute noch andauernde Transformation der italienischen Demokratie. Diese Kontinuitätslinien werden evidenter bei einer Umkehrung der in der italienischen Geschichtsschreibung bisher geläufigen analytischem Perspektive, welche die veränderten und sich weiter ändernden systemischen Beziehungen zwischen den Formen der Organisation, der Strukturierung und der Legitimierung der Politik und einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Ich schlage in diesem Beitrag hingegen vor, den Legitimationsverlust der Volks- und Massenparteien sowie die Entstehung neuer Organisationsformen des Politischen aus der Perspektive der Veränderung der Wahrnehmung des Politischen in der italienischen Gesellschaft der letzten 40 Jahren zu betrachten. Denn – so meine zentrale These – jenseits der andauernden Krisennaration in Bezug auf die Parteien in Italien und Europa ist der Transformationsprozess des Politischen und seine Konzeptualisierung in der Gesellschaft sowie der Formwandel der Demokratie und der Partizipation zu fokussieren. Neue Subjekte und neue Formen des Politischen Zwischen den 1970er und den 1990er Jahren lösten sich die Bedürfnisse der italienischen Gesellschaft von traditionellen sozialen Kategorien wie Klasse, Bildung, Konfession, was direkte Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Individuen und Politik hatte. In mehreren Phasen – panpolitische Expansion in den 1970ern, gefolgt von einem Rückzug ins Private – wurde die politische Partizipation direkter, individueller und letzten Endes post-ideologisch. Die Untergrabung der traditionellen Organisationsformen des Politischen fing bereits im Umfeld und im Kontext der sozialen Bewegungen um und nach Sessantotto an.30 28 29

30

Siehe u. a. Claudia Mariotti, Verso la terza repubblica? Il sistema dei partiti in italia: tra legittimità e rappresentanza, in: Eurispes (Hg.), 25. rapporto Italia. RI 2013/percorsi di ricerca nella società italiana, Rom 2013, S. 51–72. Siehe für eine erste Betrachtung in diesem Sinne: Francesco Malgeri / Leonardo Paggi (Hg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni settanta: III Partiti e organizzazioni di massa, Soveria Mannelli 2003 e Simona Colarizi / Piero Craveri / Silvio Pons (Hg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli 2004. In diesem Sinne siehe Marica Tolomelli, L’Italia dei movimenti. Politica e società nella prima Repubblica, Rom 2015.

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In den Jahren 1968–1977 begann in den Gruppen der neuen Linken (u. a. Lotta Continua, Partito di Unità Proletaria, Avanguardia Operaia, aber auch die Associazioni cristiane lavoratori italiani, Cristiani per il Socialismo, Movimento Politico dei Lavoratori usw.) eine zunächst eher generationelle Neuausrichtung der Politik,31 welche mit der starren bürokratischen Hierarchisierung in den Parteien des 20. Jahrhunderts brechen wollte. Tastsächlich verloren die traditionellen Massenpartei in der Praxis dieser Gruppen stark an Bedeutung, zugunsten von neuen, spontanen, teilweise parodistischen Formen der Teilhabe, wie die a-hierarchische und offene kollektive Diskussion, die Praxis der direkten Demokratie sowie die Ent-Formalisierung der Leadership. Die politische Militanz sollte ihrer Erfassung nach nicht länger ein „Transmissionsriemen zwischen Spitze und Basis“ sein, sondern einen neuen Einklang zwischen der Handlung und den Zielen von Bewegung(en) und Parteien erreichen.32 In diesem Spagat zwischen der Schwierigkeit der Parteien des Arco Costituzionale, den kommunikativen Code dieser Instanzen zu entschlüsseln,33 und den neuen Formen der politische Partizipation entstand u. a. der Partito Radicale, welcher bis in die 1990er mit teilweise für die republikanische Politik völlig neuen Formen der „transideologischen“ (eigene Definition) politischen Kommunikation und Mobilisierung experimentierte, darunter z. B. Hungerstreiks, Boykotte oder politischer TV-Podiumdiskussionen. Das Ziel der Radicali war eine „Praktik der permanenten [kommunikativen] Subversion“. In diesem Sinne sollte auch die im Jahr 1987 erfolgreiche Kandidatur der Pornodarstellerin Ilona Staller für das Parlament verstanden werden. Ebenfalls destrukturierend, obwohl in der Verfassung verankert, sollte auch die konsequente Nutzung des Referendums als Instrument der basisdemokratischen politischen Partizipation und als konkrete politische Alternative zu den Formen der etablierten Parteienpolitik wirken. Anders als die übrige linke außerparlamentarische Opposition, verfolgten die Radikalen in ihren Anfängen das Ziel, die Mechanismen der institutionalisierten Politik durch zivilen Ungehorsam und themenzentrierte Kampagnen zu demaskieren und in Frage zu stellen, um für ihre Anliegen (z. B. ein neues Gesetz oder eine Gesetzesänderung) Unterstützung zu gewinnen. Dafür sprach der Partito Radicale parteiübergreifend Bürger an, die er nicht in ihrer Eigenschaft als Wähler, sondern als Subjekte von spezifischen Unterdrückungslagen zu mobilisieren versuchte. Die Neuausrichtung der Politik in den 1970er Jahren konkretisierte sich aber vor allem in einer Vielfalt an Netzwerken, informellen Gruppen, und Kollektiven. Dank der technologischen Entwicklung in der Drucktechnik (Mimeographie und Xerographie), aber auch in der Funkkommunikation (Freie Radios) konnten sich 31 32 33

So auch der Titel einer zeitgenössischen Reflexion von Carlo Dònolo in einer der Bezugszeitschriften der jungen italienischen Linke, Quaderni Piacentini: Carlo Dònolo, La politica ridefinita. Note sul movimento studentesco, in: Quaderni Piacentini, 35 (1968), S. 93–125. Ebenda, S. 95. Siehe hierzu Massimiliano Livi, Die Stämme der Sehnsucht: Individualisierung und politische Krise im Italien der 1970er Jahre, in: Thomas Großbölting / Massimiliano Livi / Carlo Spagnolo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 215–248.

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neue autonome Formen der sozialen Kommunikation und der Inhaltsverbreitung („Gegeninformation“) etablieren, die die Network Society sowohl konzeptionell als auch in der Praxis antizipierten.34 In der Tat wird ab diesem Moment die rhizomatische (nach Gilles Deleuze / Félix Guattari) bzw. netzwerkartige Organisationsform des Politischen außerhalb der Parteien das Leitbild jener Gruppierungen und Bewegungen, die in den folgenden Jahrzehnten ihr Engagement auf bestimmte Themenfelder (wie Umwelt, Frauenrechte, sexuelle Identität, Menschenrechte, Antirassismus, Nord-Süd-Beziehungen, Pazifismus und nicht zuletzt neue Religiosität)35 konzentrierten und sich mehr als Pressure Groups statt als traditionelle Massenbewegungen verstanden haben. Durch die politische Aufwertung subjektiver Bedürfnisse und Wünsche wurde das Individuum das Referenzzentrum des Politischen. Aber Individualisierung und Pluralisierung bedeutete nicht die Atomisierung des Individuums in der Gesellschaft, ebenso wie die Entnormativierung nicht nur eine Deregulierung oder Reduktion der traditionellen Werte bedeutet, sondern spätestens seit den 1980er Jahren deren Verflüssigung (im Sinne Baumans).36 Denn der Individualismus stellt nur eine Übergangsphase im Individualisierungsprozess dar, in dessen Vollendung „a reverse movement of a desperate search for the social link“ wieder zum Vorschein kommt, die die Entstehung einer Vielfalt neuer Gemeinschaften auslöst.37 Insgesamt bildete das Rechts-Links-Kontinuum seit der Gründung der Republik die grundlegende Dimension der italienischen Politik. Die Auflockerung und Differenzierung der traditionellen Vergemeinschaftungsdynamiken zusammen mit der zunehmende Bedeutung der Medien und infolgedessen die Entwicklung einer informierteren Wählerschaft, die immer unabhängiger von den Parteien ist, also die Individualisierung der politischen Verortung und die daraus folgende Volatilität des Wahlverhaltens sowie die Transversalität der neuen politischen Kräfte scheinen in den letzten drei Jahrzehnte, wie im Folgenden skizziert wird, die räumliche Konzeption politischer Unterschiede, die sich auf einer von rechts bis links reichenden Achse anordnen lassen, überwunden zu haben.38

34 35

36 37 38

Manuel Castells, The rise of the network society, Malden, MA [u. a.] 2010. Manche Politologen wie Roberto Biorcio betrachten dieses Phänomen nicht wie eine plurale Neuausrichtung, sondern als eine Verengung des politischen Feldes durch eine Pragmatisierung sowohl der Inhalte als auch der Handlung, vgl. Roberto Biorcio, Trasformazioni della democrazia e declino delle forme tradizionali di legittimazione politica, in: Loredana Sciolla (Hg.), Processi e trasformazioni sociali. La società europea dagli anni Sessanta a oggi, Rom/Bari 2009, S. 161–187, Zitat hier: S. 173. Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Hoboken 2013. Bernard Cova, Community and Consumption. Towards a Definition of the „Linking Value“ of Product or Services, in: European Journal of Marketing, 3/4 (1997), S. 297–316, Zitat hier: S. 300. Giacomo Sani / Paolo Segatti, Mutamento culturale e politica di massa, in: Vincenzo Cesareo (Hg.), La Cultura dell’Italia contemporanea. Trasformazione dei modelli di comportamento e identità sociale, Torino 1990, S. 143–184, Zitat hier: S. 144–146.

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2. EIN POST-IDEOLOGISCHES ENGAGEMENT? Im Kontext der Überwindung des Rechts-Links Kontinuums entstanden in den 1980er Jahren eine Vielfalt an post-ideologischen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Zu den sozialen Phänomenen, die sowohl eine linke als auch eine rechte Vereinnahmung ablehnten, gehörten beispielsweise die Schüler- und Studentenproteste des Jahres 1985, die ursprünglich als Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren durch die Regierung Craxis entstanden. Sie weiteten sich jedoch aus und entwickelten sich zu einer Bewegung, die ihre pragmatischen Forderungen nach der Verbesserung von Bildungsstrukturen wie Mensen, Bibliotheken und Labors gar nicht mehr ideologisch, sondern eher durch konsumgeprägte Argumente begründeten.39 Eine Überlegung wert ist es sicherlich, dass einige dieser Bewegungen im Kontext der Transformationen innerhalb des politischen Katholizismus (im Sinne einer Rekonfessionalisierung der Politik) entstanden sind. Seit Mitte der 1980er Jahre ging die Erosion der Kirchlichkeit durch Säkularisierung und Konformismus mit einer Revitalisierung der katholischen Kultur durch eine Reihe neuer Möglichkeiten der Teilhabe von Katholiken am politischen Leben Italiens einher.40 Diese waren die Auswirkung sowohl des neuen Konkordates mit der Katholischen Kirche (1984) als auch des mit dem Nuovo progetto culturale (1985) von Papst Johannes Paul II. angeregten neuen Kurs des politischen Katholizismus in Italien.41 Dieser bestand in einer unmittelbaren „Präsenz“ (d. h. Einschaltung) der Katholiken in das politische und gesellschaftliche Leben Italiens durch ein direktes Engagement in den neuen ekklesialen Bewegungen und in allen Parteien (alten wie neuen).42 Die wichtigste neue ekklesiale Bewegung war Comunione e Liberazione (CL), die in den 1990er Jahren eine prominente Rolle in der italienischen Politik, sowohl als 39

40

41 42

Nicola Siciliani de Cumis / Annamaria Fersini, Lettere dagli studenti d’Italia: parlano i protagonisti dell’85, Bari 1986, ins. S. 129. Ähnliche Schlussfolgerung sind auch im Fall der Bewegungen La pantera (1990) und vor allem L’onda (2008) möglich: Pietro Di Gennaro, La mobilitazione delle RdB/CUB per l’università sociale, Proteo, 3 (2008), S. 13–15; Carmelo Albanese, C’era un’onda chiamata Pantera, 2010. Trotz eines erhöhten Säkularisierungsniveaus der Gesellschaft (siehe Detlef Pollack, Religion in der Moderne, Frankfurt a. M. 2014 und M. Marzano, The ‚sectarian‘ Church. Catholicism in Italy since John Paul II, in: Social Compass, 3 (2013), S. 302–314) und trotz der radikalen Veränderungen im politischen System nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, blieb in Italien die Beziehung zwischen Katholizismus und Politik offensichtlich und sehr intensiv; obwohl sie sich im Vergleich zum traditionellen Modell der Nachkriegszeit tief verändert hatte (siehe hierzu Franco Garelli, From Catholic Hegemony to Pluralism: The Transformation of Religion and Public Life in Italy since 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte, 51 (2011), S. 141–162). Discorso di Giovanni Paolo II al convegno della Chiesa italiana 1985, Palazzetto dello Sport, Loreto (AN). http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/1985/april/documents/ hf_jp-ii_spe_19850411_convegno-loreto_it.html (9. Mai 2014). Alessandro Santagata, La Cei e la svolta postconcordataria, in: Alberto Melloni (Hg.), Cristiani d’Italia. Chiese, societa, Stato, 1861–2011, Rom 2011, S. 345–355; Massimiliano Livi, The Ruini system and ‚Berlusconismo‘. Synergy and transformation between the Catholic Church and Italian politics in the ‚Second Republic‘, in: Journal of Modern Italian Studies, 3 (2016), S. 399–418.

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Vertreter des Subsidiaritätsprinzip als auch (und vor allem) als katholischer Unterstützer von Berlusconis Forza Italia.43 Der große Erfolg des Nuovo progetto culturale und von Bewegungen wie CL während der ganzen „Zweiten Republik“ zeigte, dass katholische Werte in der Gesellschaft immer noch tief verankert waren. Angetrieben durch die Ablehnung des Hedonismus der Konsumgesellschaft erlebten sie am Anfang der 1990er Jahren in vielen Bereichen der sozialen Partizipation eine positive Konjunktur, wie in den sehr heterogenen Formen kollektiven postmaterialistischen Engagements im Tertiären Sektor. Auf dem politischen Feld im engeren Sinne entstand 1989 im Zusammenhang dieses neuen katholisch inspirierten Engagements die Anti-Mafia-Bewegung La Rete (das Netz).44 La Rete ist ein Paradebeispiel für jene neue Form der politischen Partizipation der Katholiken seit den 1990er Jahren, sowohl jenseits der traditionellen politischen „Besetzung der Mitte“, als auch (vor allem nach dem Ende der DC 1995) jenseits der Parteien. Die Bewegung bestand aus heterogenen Kräften aus dem katholischen Vereinswesen, der Wohlfahrt und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Sie hatten sich mit dem erklärten Ziel zusammengefunden, den politischen Einfluss der Mafia in Sizilien und deren enge Verflechtung mit der politischen Klasse, insb. mit den Parteien der sogenannten „Ersten Republik“, allen voran der DC, anzuklagen und dadurch ein politisches Erneuerungsprojekt zu starten.45 Dies gelang vor allem durch eine breite Mobilisierung der Zivilgesellschaft dank der Überwindung des klassischen Rechts-Links-Schemas möglich war. Die konstitutiven Dichotomien der „Ersten Republik“ zwischen Faschismus und Antifaschismus, zwischen Christdemokratie und Kommunismus und im Endeffekt zwischen Rechts und Links waren für „nicht mehr tolerierbare Schranken“, die die Schwäche sowie die Krise des politischen Systems verewigten.46 Die moralischen Fragen in Bezug auf die Mafia und die Korruption bildete die Grundlage der Bewegung. Bedeutend in dieser Hinsicht ist der so genannte „Frühling von Palermo“, d. h. der Versuch der dortigen Zivilgesellschaft, das Territorium „aus der Armut, der Unterentwicklung und vor allem aus dem Gesindel der Mafia zu erlösen“.47 Auch im allgemeinen stand die Frage der Gesetzlichkeit und der politischen Ethik im Mittelpunkt der partizipatorischen Identitätskonstruktion in der Zivilgesellschaft der achtziger Jahre, die sich sowohl im Süden als auch in Norditalien in eine bemerkenswerte Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegen die „Verschwendungen einer ineffizienten, teuren, schmutzigen und zynischen Politik“

43 44 45 46 47

Alberta Giorgi / Emanuele Polizzi, Communion and liberation: a Catholic movement in a multilevel governance perspective, Religion, State and Society, 2 (2015), S. 133–149. Der komplette Name der Bewegung war Movimento per la Democrazia – La Rete. Die Gründung der Bewegung auf nationale Ebene fand 1991 in Rom statt. Vgl. die Abschrift der Satzung von La Rete in Davide Camarrone, La Rete. Un movimento per la democrazia, Rom 1992. Donatella della Porta, Bewegungen und Protest in Italien. Mögliche Szenarien für die 90er Jahre, in: Neue soziale Bewegungen, 1 (1993), S. 59–68, Zitat hier: S. 60. Daniela Saresella, Tra politica (wie Fn. 21), S. 3.

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mündete.48 Wenn auch die Wahlen von 1992 La Rete keinen großen Erfolg bescherten,49 war ihr Einzug ins Parlament dennoch bedeutsam. Dadurch setzte die Bewegung von Leoluca Orlando und Nando Dalla Chiesa den Mangel der traditionellen Parteien an politische Vision und die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des gesamten politischen Systems auf die Tagesordnung. Tatsächlich umfasste das politische Programms von La Rete ab 1991 nicht nur das zentrale Anliegen der Durchsetzung der geltenden Gesetze, sondern setzte auch heute wieder aktuelle Akzente auf die partizipative und direkte Demokratie, wie die Direktwahl des Bürgermeisters, die Begrenzung der Wahlämter auf vier Jahre sowie eine grundsätzliche Dezentralisierung der politischen Macht. Wie im Fall von mehreren anderen politischen Bewegungen mit einem zivilgesellschaftlichen Hintergrund aus der Zeit (die Leghe, Verdi, Alleanza Democratica, die Bewegung für Volksabstimmungen von Segni und vor allem Forza Italia), waren die Vorschläge von La Rete keinen Ausdruck eines antipolitischen Ressentiments, sondern sollten vielmehr in einer anti-parteiischen und dem gegenwärtigen System gegenüber kritischen Perspektive gelesen werden. Ein weiteres gemeinsames Charakteristikum war eine technokratische Komponente, die sich gegen die professionalisierte Politik und für mehr „Manager“ und Experte („tecnici“) einsetzte. Seinerseits betonte Orlando, der seine politische Karriere bis dahin der DC verdankte, stets seine Distanz zum Parteiensystems und seinen Unwillen, eine politische Partei zu gründen. La Rete formulierte einen der nachdrücklichsten Aufrufe – so Salvatore Lupo – für die Wiederentdeckung des „Primats der Zivilgesellschaft“ und für die Suche nach neuen Formen politischer Partizipation und politischen Entscheidungsmechanismen jenseits der Parteien als Organisationsform. Diese war für Orlando notwendig, um eine Verbindung zwischen allen Reform- und Erneuerungskräfte zu ermöglichen.50 Die Entscheidung der wichigsten neuen politischen Subjekte der 1990er Jahre (u. a. Federazione dei Verdi, Alleanza Democratica, Forza Italia, Italia dei valori), sich als Bewegung und nicht als Partei zu strukturieren, reflektierte die schlechte Reputation der Parteien, sollte aber gleichzeitig das politische System herausfordern. Dabei wird die Idee der Zivilgesellschaft sowie der Gesetzestreue als bindendes Element von allen neuen Kräften weitgehend mythisiert, teilweise strapaziert. 1998 gründete zum Beispiel der frühere ermittelnde Staatsanwalt im Mailänder Richterpool Mani pulite Antonio di Pietro die sozialliberale Wahlliste Italia dei valori. Diese hatte das erklärte Ziel, „die Rolle des Rächers der gesunden Zivilgesellschaft gegen die korrupten Bewohner der Paläste der Macht“51 einzunehmen. Damit war auch und vor allem Silvio Berlusconi gemeint, als dessen Gegenspieler Di Pietro auftrat. Dieser Antagonismus war auch der Hauptgrund für seine Positionierung im damaligen Mitte-Links Bündnis, obwohl seine Liste – ganz zeitgemäß – 48 49 50 51

Ebenda. Mit 1,8 % und 12 Sitze. Im Vergleich bekam die Lega Nord mit 8,65 % 55 Sitze. Salvatore Lupo, Il mito della società civile. Retoriche antipolitiche nella crisi della democrazia italiana, in: Meridiana, 38–39 (2000), S. 17–43, Zitat hier: S. 28. Marco Tarchi, Italia populista. Dal qualunquismo a Beppe Grillo, Bologna 2014, S. 312.

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jede Ideologie ablehnte und nur alle anständigen Menschen ansprechen wollte.52 Im Lauf der Jahre hat jedoch die Entwicklung von Italia dei Valori gezeigt, dass die Alternativen der 1990er zu den traditionellen Parteien eine idealistische Vorstellung von Zivilgesellschaft und vor allem von der Möglichkeit einer post-ideologischen politischen Verortung hatten. Diese basierte auf der Gegenüberstellung von „Ehrlichen“ und „Unehrlichen“53 und lebt fort in einer vereinfachenden (populistischen) Formel eines Kampfes des Guten gegen das Böse, die von aktuellen Kräften wie M5S und der neuen Lega von Matteo Salvini verbreitet wird. Diese Beispiele zeigen, dass sich in Italien der öffentliche und zivilgesellschaftliche Diskurs vor allem auf die politische Korruption, auf die organisierte Kriminalität und auf die (materiellen) Sorgen um die Zukunft fokussierte. Dabei blieben Themen, wie die Entwicklung des globalen Südens und Umwelt deutlich im Hintergrund, die in anderen (west)europäischen Ländern für die Bewegungen der 1990er und deren Suche nach alternativen Formen der Partizipation und des sozialen Engagements viel wichtiger waren. Anders als in Deutschland blieb z. B. die Umweltbewegung in Italien der 1980er und 1990er Jahren ein schwacher politischer Akteur, der sich weder auf zivilgesellschaftlicher noch auf parteipolitischer Ebene etablieren könnte.54 Die Grüne Liste erreichte in den Wahlen 1987 (ein Jahr nach Tschernobyl) und 1992 jeweils circa 2,5 % der Stimmen. Erst seit der Verbindung mit der globalisierungskritischen Bewegung No-Global der 2000er Jahre erreichte die Umweltbewegung größere Sichtbarkeit. Exemplarisch steht hierfür die Protestbewegung No-TAV, die sich seit den 1990er gegen den Ausbau des Hochgeschwindigkeitsverkehrs einsetzt und spätestens seit 2005 sich von einem lokalen Protest in der Gemeinde Val Susa zu einer nationalen Protestbewegung ausgeweitet hat.55 Ähnlich wie Stuttgart 21 in Deutschland verbindet sich der post-ideologische Protest der No-TAV-Bewegung mit einer Hinwendung zur lokalen Gemeinschaft und ihrer Problemen, die wiederum aber zu einer grundsätzlichen Herausforderung für die Demokratie des Landes geworden sind. Wie bereits im Fall der Unruhen in Reggio Calabria, Avola und Pescara während der 1970er etablierte sich in Italien das Territorium als zentrales Element in der Stiftung der kollektiven Identität jener neuen politischen Gemeinschaften, die jenseits formalisierter organisatorischer Strukturen seit den 1980er entstanden.56 Das 52 53 54 55 56

Pino Pisicchio, L’Italia dei valori. Il post-partito, Soveria Mannelli 2008; Carlo Baccetti, Der aufhaltsame Abstieg der Partei Italia dei Valori (2008–2013). Die Regionalwahlen 2010 als Wendepunkt, in: Occasional Papers, 18 (2014), S. 5–59. Lupo, Antipartiti. (wie Fn. 21), S. 6–7. Mario Diani, Isole nell’arcipelago. Il movimento ecologista in Italia, Bologna 1988. Livio Pepino / Marco Revelli, Non solo un treno. La democrazia alla prova della Val Susa, Torino 2012; Adriano Chiarelli, I ribelli della montagna. Una storia del movimento No Tav, Bologna 2015. Vgl. Guido Crainz, La „stagione dei movimenti“: quando i conti non tornano, in: Meridiana 38–39 (2000), S. 127–149; und Oliver Schmidtke, Kollektive Identität in der politischen Mobilisierung territorialer Bewegungen: Eine analytische Perspektive, in: Neue soziale Bewegungen, 1 (1995), S. 24–31; sowie Paolo Segatti, Una nazione di paesani. Localismo e sentimento

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wichtigste Beispiel heirfür ist die breite regionalistische Bewegung der Leghe, die am Anfang der 1980er im Norden Italiens entstand und unter die Führung von Umberto Bossi die „territoriale Frage“ als zugehörigkeitsstiftende Element einer Gemeinschaft stark machte, deren Unzufriedenheit sich gegen den Zentralismus der etablierten römischen Parteien richtete.57 Die Erfolge der Lega Nord zwischen 1985 und 199258 fielen in eine Phase des Wohlstandes und der internationalen Sichtbarkeit Italiens und vor allem seiner produktiven Hauptstadt Mailand, in der „Italien und die Italiener – vor allem im Norden – sich als im Zentrum der entwickelten Welt angekommen“59 und gleichzeitig von den traditionellen Parteien und der römischen Bürokratie gehemmt fühlten. Das Territorium bzw. die regionalistische Rhetorik von einer autonomen und reichen Padania wurde daher für Millionen von Norditalienern zugleich Objekt und Instrument der politischen Teilhabe. Sie fasste sowohl die Spannungen zwischen der großen Mehrheit der Bürger und den traditionellen Parteien als auch das Ressentiments angesichts der politischen Einflusslosigkeit der wirtschaftlich stärksten Regionen Italiens zusammen. Seit 1994 deutete die Lega dies in einen regionalistischen Populismus um, der sich immer mehr an den ethno-nationalistischen Bewegungen Nordeuropas orientierte.60 Dies kann auch als Folge der aktuellen Phase der Globalisierung angesehen werden, welche die Definition von „Zentrum“ und „Peripherie“ und daher auch die Relevanz des Territorium drastisch modifiziert (quasi radikalisiert) hat. Indem das Programm der Lega Nord die strukturellen und identitären Transformationen der (nord)italienischen Gesellschaft aufgriff, bekam es immer mehr xenophobe Akzente. Durch seinen populistischen Appell – so fasste es Roberto Biorcio treffend zusammen – konnte Umberto Bossi das italienische Volk gleichzeitig sowohl als Demos als auch als Ethnos ansprechen und somit wirkungsvoll populären und identitären Protest verbinden.61

57 58 59 60 61

nazionale, in: Arturo Mario Luigi Parisi / Hans M. A Schadee (Hg.), Sulla soglia del cambiamento. Elettori e partiti alla fine della prima Repubblica, Bologna 1995, S. 105–138; und Frank Bösch, Kommunikative Netzwerke: zur glokalen Formierung sozialer Bewegungen am Beispiel der Anti-Atomkraftproteste, in: Jürgen Mittag / Helke Stadtland (Hg.), Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in den Geschichtswissenschaften, Essen 2011, S. 149–166. Siehe den Sammelband von Anna Curcio / Lorenza Perini (Hg.), Attraverso la Lega. La costruzione del consenso sul territorio e le trasformazioni della società italiana, Bologna 2014. Die Lega Nord entstand als unitäre Bewegung 1989 aus der Fusion von sechs regionalistischen Bewegungen, die dann unter der Leitung von Umberto Bossi ab 1992 (als sie vierte Kraft im Lande wurde) das politische Leben Italiens prägte. Ilvo Diamanti, Prefazione, in: Anna Curcio / Lorenza Perini (Hg.), Attraverso la Lega. La costruzione del consenso sul territorio e le trasformazioni della società italiana, Bologna 2014, S. 7–11, hier S. 11. Roberto Biorcio, La parabola della Lega Nord, in: Anna Curcio / Lorenza Perini (Hg.), Attraverso la Lega. La costruzione del consenso sul territorio e le trasformazioni della società italiana, Bologna 2014, S. 27–40, hier S. 27. Ebenda, S. 28.

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3. NACH DEM ENDE DER IDEOLOGIEN, IM ZWEIFEL, NACH RECHTS? Lega Nord und die anderen erwähnten Bewegungen und Organisationen zeigen, dass durch die Fokussierung auf Themen wie Sicherheit, Rechtschaffenheit, Territorium, Gemeinschaft usw. die neuen Formen der politischen Mobilisierung und Partizipation eine Verlagerung der klassischen Dialektik zwischen Rechts und Links auf eine nur äußerlich ideologiefreie und klassenübergreifende Ebene aufweisen. Denn beim Verblassen der klassischen ideologischen Bezüge lässt sich auch eine gleichzeitige neue Prägung des Rechts-Links-Kontinuums beobachten. Dies geschieht vor allem durch einen allgegenwärtigen und sicherlich vereinfachenden Dualismus zum Beispiel gegenüber der Globalisierung, aber auch der Umweltpolitik, der kulturellen Pluralisierung sowie aktuell gegenüber den Migrationsströmungen und sogar der Demokratie schlechthin. Dabei zeigt sich auch, dass sowohl die subjektive als auch die kollektive politische Auseinandersetzung mit solchen Themen weder ganz jenseits des Rechts-Links Kontinuums, noch ganz jenseits der „klassischen“ Schichten- und Klassezugehörigkeit geschieht. Denn gerade die Diskussion um solche Themen zeigen eine tiefgreifende und nun lang andauernde Dichotomie zwischen der gebildeten urbanen Welt und den (auch kulturellen) Peripherien dieser Welt. Auch wenn sie aus den Köpfen der meisten von uns verschwunden seien, existieren die sozialen Klassen auch in der Zeit der vielen „Post-“ weiterhin.62 Desgleichen bleiben auch Rechts und Linkswichtige Kategorien und Koordinaten des Politischen und der individuellen Verortung. Trotz einer Dynamik der sukzessiven und scheinbaren (da häufig nur verbalen) Überwindung des klassischen Rechts-Links-Schemas durch die neuen politischen Subjekte, sind diese Kategorien aus den Köpfen der Italiener nicht verschwunden. Vielmehr erfuhren sie (wie auch andere Kategorien und Begriffe) in den letzten Jahrzehnten eine ReKonzeptualisierung. 1994 beobachtete der Turiner Philosoph Norberto Bobbio sehr scharfsinnig in seinem umstrittensten Werk Destra e Sinistra, dass auch in der Krise der Moderne, die tiefsten Wurzeln der Kategorien Rechts und Links – nämlich die Positionierung zum Prinzip der Gleichheit bzw. Ungleichheit – unverändert geblieben seien.63 Was sich aber seit den 1980er Jahren radikal geändert hat (und Bobbio nur in den Anfängen beobachten konnte), ist zum Einen der Anwendungsbereich solcher Prinzipien wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, der immer mehr durch neue Formen der Gestaltung sozialer Beziehungen und die daraus entstehenden neuen Cleavages beeinflusst wird. Das heißt, dass der Anwendungsbereich der eigenen politischen Positionierung sich seit einigen Jahrzehnten immer weniger mit einer inklusiven Auffassung der (nationalen, globalen, internationalen usw.) Gesellschaft, 62 63

Luciano Gallino / Paola Borgna, La lotta di classe dopo la lotta di classe, Rom/Bari 2012. Norberto Bobbio, Destra e sinistra. Ragioni e significati di una distinzione politica, Rom 2004, hierzu S. 145–148. Für eine schematische dennoch einführende Zusammenfassung der Debatte siehe Gianluca Galotta, Vent’anni fa „Destra e sinistra“. Rileggiamo oggi la discussione. http:// www.reset.it/articolo/eredita-di-destra-e-sinistra-a-ventanni-dalla-pubblicazione (10. Januar 2017)

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bzw. mit einer bestimmten sozialen Klasse oder mit den traditionellen kollektiven Akteuren (Arbeiter, Beamten, Schüler usw.) deckt. Hingegen bezieht sich die subjektive politische Positionierung immer häufiger auf die Interesse von exklusiven, meist post-traditionalen und emotionalen Gemeinschaften.64 Die angeführten Beispiele Lega, No-TAV, aber auch M5S und AfD in Deutschland zeigen diese Transformation sehr deutlich. Aus der Distanz von fast 25 Jahren bestätigen die politischen und sozialen Entwicklungen der sog. „Zweiten Republik“, dass es in Italien tatsächlich immer noch „zwei Wege gibt, weder Linker noch Rechter zu sein, und zwar einen linken und einen rechten Weg“.65 Die politischen Erfahrungen der letzten 20–30 Jahren zeigen, zum Anderen, auch, dass die äußerliche Überwindung der Kategorien Rechts und Links als Koordinaten der politischen Verortung der Italiener, im Kern vor allem ihre Umdeutung bedeutet: Von differenzierten identitäts- und zugehörigkeitsstiftenden Kategorien zu basalen und vereinfachenden dualistischen Orientierungsformeln. Darüber hinaus spielt auch die Neubesetzung der politischen Kategorie „Mitte“ eine sehr wichtige Rolle. Die Umdeutung von Rechts und Links wurde in Italien seit Mitte der 1990er vor allem durch drei Faktoren angetrieben: 1) die Verwandlung der Nachfolgeparteien des kommunistischen PCI und des neofaschistischen MSI zu regierungsfähigen Parteien (Democratici di Sinistra/PdS bzw. Alleanza Nazionale/AN); 2) die bipolaren Prägung des politischen Systems durch das Wahlgesetz von 1994 und 3) – last but not least – das Ende der Besetzung der Mitte durch die DC und damit das Ende einer Besonderheit des politischen Systems und der politischen Kultur Italiens. Während der 50 Jahre der „Ersten Republik“ dominierte die DC die Politik als vorherrschende Partei der Mitte. Ihre ständige Herausforderung bei Wahlen war die Mobilisierung einer nominell katholischen Wählerschaft, die zum nicht geringen Teil linker oder rechter war als die Partei selbst. Die Auflösung und Zersplitterung der größten Integrationsparteien Italiens brachte bereits mit der Einführung des neuen Wahlgesetzes eine Umkehrung dieser Lage mit sich, in dem nach 1994 die nun verwaiste Mitte zum umkämpften Feld für beide konkurrierenden Parteienbündnisse wurde. Bereits die Bezeichnung als Mitte-Links- bzw. Mitte-RechtsBündnis weist auf einen Framing-Effekt hin, der während der Zweiten Republik die Verlagerung des linken Parteienspektrums in die Mitte (und damit nach rechts) bewirkt hat: z. B. durch die Öffnung zum Neo-Liberalismus, zur Flexibilisierung der Arbeit und einer immer stärker wirtschaftsorientierten Bildungsstruktur. Gleichzeitig bewirkte der Kampf um die Mitte eine neue Sichtbarkeit im Zentrum der politischen Debatte für Themen, die bis in die 1990er am rechten Rand des Parteispektrums verbannt waren: darunter die nationale Identität jenseits der republikanischen 64

65

Siehe hierzu Massimiliano Livi, Über die Neo-Tribalisierung als Modell für das Verständnis Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte, 57 (2017), S. 365–383. Serge Quadruppani, Notes pour servir à la constitution d’un dictionnaire permanent de la langmol, Lignes, 3 (2013), S. 165–170.

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Gründungsmythen, die Legitimität eines Anti-Antifaschismus, Religion als identitäres Element oder die innere Sicherheit. Dieser Kontext wird prägnant von Carmine Donzelli in dem Vorwort der vierten Ausgabe des bereits erwähntes Werkes Bobbios wiedergegeben. Die demokratische politische Kultur Italiens der 1990er „entdeckte, urplötzlich und nicht ohne Traumata, das Sich-Materialisieren der Rechten: eine Idee, ein Vorhandensein, eine politische Option, die machtvoll verdrängt wurde“.66 Dabei irrte sich (so formuliert im Jahr 2000 Salvatore Lupo), wer Anfang der 1990er dachte, die Zivilgesellschaft mit ihren neuen Bewegungen und Parteien sei ein wirksamer Schutzwall gegen einen Rechtsruck, da sich diese „in einer linearen linken Perspektive bewege“.67 Stattdessen wiesen die neuen Bewegungen der 1990er einen hohen Grad an Transversalität auf, sowohl im fortschrittlichen Katholizismus von La Rete, im Linksliberalismus von Italia dei Valori als auch im Antikommunismus, Neo-Liberalismus und Populismus von Lega Nord und Forza Italia. Selbst als Silvio Berlusconi im Januar 1994 die Politische Bewegung Forza Italia (so die offizielle Bezeichnung) gründete, wurde dies als Rückeroberung der Politik durch die Zivilgesellschaft gefeiert, da Forza Italia anders als die in mehrere Parteien zerfallenen Christdemokraten oder die Post-Kommunisten des PdS, den lauten Wunsch nach einer neuen Führungsschicht, post-ideologischen Bezügen und nicht zuletzt nach neuen Organisationsformen des Politischen erfülle. Neben einem neuen „Wirtschaftswunder“ versprach Forza Italia eine neuartige Beziehung zwischen Regierenden und Regierten, die sich durch einen Bruch mit dem bzw. eine Umkehrung des traditionellen italienischen Prinzips des pädagogischen Staates substantiieren sollte. Nicht der Staat sollte das Volk, sondern das Volk durch den Abbau staatlicher Macht den Staat disziplinieren. Nicht irrelevant ist es in dieser Hinsicht auch zu erwähnen, dass auch das Konzept „Bewegung“ vor 1968 eine reine anti-systemische Bedeutung hatte und dass dieses von jener Rechten besetzt war, deren Erbe AN antrat. Gerade die Gründung von AN 1995 und ihre Beteiligung in allen Regierungen von Silvio Berlusconi schufen die Bedingungen für das Sichtbarwerden eines rechten Spektrums, das während der gesamten „Ersten Republik“ in der DC zwar politisch, aber keineswegs kulturell repräsentiert war und das nun neue Akteure wie Umberto Bossi, Silvio Berlusconi oder der Postfaschist Gianfranco Fini bedienten.68 Diese Öffnung nach rechts verband sich mit einer verzögerten Rezeption der politischen Ansätzen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan in der italienischen Mittelschicht, die zum Auslöser einer neo-konservativen Welle wurde – vor allem unter diejenigen, die sich in den Prinzipien der individuellen Selbstverwirklichung und der antistaatlichen Haltung von Silvio Berlusconi und Forza Italia (FI) wiedererkennen 66 67 68

Dieci anni di Destra e Sinistra, Vorwort von Carmine Donzelli in Norberto Bobbio, Destra e sinistra., S. XII. Lupo, Il mito della società (wie Fn. 50), S. 28. Simona Colarizi / Marco Gervasoni, La tela di Penelope. Storia della seconda Repubblica, Soveria Mannelli (Catanzaro), 1989–2011, Rom 2012, S. 9; siehe auch Piero Ignazi, Il polo escluso. Profilo storico del Movimento sociale italiano, Bologna 1998.

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konnten.69 Tatsächlich sprachen sie immer (nur) den Teil der Mittelschicht an, der politisch und kulturell nicht zum sogenannten „ceto medio riflessivo“, d. h. zur „reflektierten Mittelschicht“ gehörte. Wenn auch dieses bestimmt ein journalistisches Konstrukt ist, lassen sich darin qualifizierte Angestellten, Beamten, Studenten sowie den vielen prekären Spezialisten der cognitive-economy verorten, die – nach der Definition von Paul Ginsborg – einen hohen Grad an Bewusstsein von sich selbst als soziale Gruppe sowie ein beträchtliches staatsbürgerliches Potential besaßen.70 Die Klientel des Berlusconismo war hingegen der ebenso idealisierte „ceto medio produttivo“ (die produktive Mittelschicht), die traditionelle Mittelschicht, kleine und kleinste Unternehmer, Kauf- und Geschäftsmänner sowie Handwerker und nicht wenige Hausfrauen. Oft weniger gebildet als die „reflektierte Mittelschicht“ und noch öfter durch nostalgische Sympathien geprägt, verband die produktive Mittelschicht mit dem Einzug Berlusconis in die politische Arena die Möglichkeit, nach all den Jahren der gefühlten Marginalisierung als „schweigende Mehrheit“, die res publica von rechts erobern zu können und davon materiell zu profitieren. Diese Erwartungen erfüllte Berlusconi durch Steuererleichterungen, Amnestien für Bausünder und die Straffreiheit für Bilanzfälschung.71 Dadurch spaltete er nicht nur unwiderruflich die Mittelschicht, sondern verfestigte auch die langjährig unterschwelligen demokratischen Defizite der Italiener, indem er ihnen erklärte, dass sie genauso wie sie seien, gut seien.72 Selbstverständlich ist Silvio Berlusconi aber nicht allein die Ursache des Rechtsrucks in Italien bzw. der Legitimierung der Rechten in den letzten 30 Jahren. Vielmehr zeigt sich darin ein Symptom der beschriebenen Transformation, die die Rechte – trotz ihrer Vulgarität –salonfähig machte. In jenem politischen System der Nachkriegszeit, in dem sich die Linke und die christdemokratische Mitte gegenüber standen, wurden bis in die 1990er Jahre die Argumentationsmuster der Rechten entweder ausgeblendet oder an den Rand des Sagbaren verbannt.73 Trotzdem war die Rechte 50 Jahre lang durchaus präsent in unterschiedlichen Facetten: als MSI, als christdemokratische Rechte, als Liberalen (PLI) und Monarchisten (PNM).74 Nicht zu vergessen ist auch die konservative Involution der Politik der Siebziger Jahren, als unterschiedliche Kräfte auf den Druck des Roten Terrors mit der Destabilisierung des demokratischen Systems durch Geheimdienste und andere konspi69

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Obwohl – so Paul Ginsborg – gerade dieser institutionskritischen Antistatalismus von Berlusconi, den größten Unterschied mit Margaret Thatcher markiert, die Institutionen und Praktiken der britischen Demokratie nie in Frage gestellt hat, Paul Ginsborg, La scomparsa del ceto medio, in: La Repubblica, 16.10.2010. Ginsborg, La scomparsa (wie Fn. 69). Vgl. Giovanni Orsina, Il berlusconismo nella storia d’Italia, Venezia 2013, S. 97. Cfr. Ginsborg, La scomparsa (wie Fn. 69); Paul Ginsborg, I ceti medi: cambiamenti, culture e divisioni politiche, in: Paul Ginsborg / Enrica Asquer (Hg.), Berlusconismo. Analisi di un sistema di potere, Rom 2011, S. 48–56; Orsina, Il berlusconismo (Wie Fn.71); Morris/Seymour (Hg.), Special Issue (wie Fn. 25). Scoppola, La repubblica (wie Fn. 1), S. 517 f. Für einen Überblick siehe Giovanni Orsina (Hg.), Storia delle destre nell’Italia Repubblicana 2014.

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rative Apparate, geplante und gescheiterte Putschversuche und konkrete autoritäre Maßnahmen reagierten.75 Nun präsentierte sich am Anfang der 1990er Jahre die politische Rechte um Gianfranco Fini mehr präsidentiell als autoritär, mehr populistisch als sozial und vor allem, sie wurde salon- und – noch wichtiger – talkshowfähig. Aber vor allem durch die erwähnte Spaltung der politischen und kulturellen Mittelschicht entfiel in der Zeit der Berlusconi-Regierungen in der italienischen Gesellschaft die (eher schwache) damnatio memoriae des Faschismus. Mit dem Ende der politischen Mitte verschwanden auch zwei fundamentale Tugenden dieses politischen Lagers: sozialer Anstand und politische Scham, z. B. sich als Nostalgiker des Faschismus, fremden- und institutionenfeindlich öffentlich zu bekennen.76 Durch eine Welle des politischen Revisionismus77 fiel mit dem Enttabuisierung der faschistischen Vergangenheit sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch im Alltagsgespräch jedes Bedenken weg, Sympathien für den Faschismus zu bekennen und auch der xenophoben Argumentation der Lega Nord öffentlich zuzustimmen. Vielmehr als von der neo- bzw. post-faschistischen Rechten ging dieser kulturelle Bruch von der Lega Nord heraus. Während Alleanza Nazionale nach der Wende von Fiuggi im Januar 1995 mit der Auflösung des MSI und der Neugründung als AN sowie der Distanzierung vom historischen Faschismus durch Fini immer mehr in einer Dichotomie radikale Basis/moderate Spitze verfangen war, stellte die Lega Nord ihrer rüpelhaften staatsfeindlichen Haltung einen xenophoben Rassismus zur Seite. In der Interpretation von Nadia Urbinati stellt deren extreme Sichtbarkeit und politische Durchsetzung nicht eine Folge, sondern eher eine parallele Erscheinung zur Zunahme der Migrationsströme nach Italien seit der Krise Albaniens 1991 dar. Vielmehr war die lang andauernde Wirtschaftskrise Italiens und ihre Verschärfung durch die globale Finanzkrise die wichtigere Ursache für das territoriale und „ethnische“ Bonding, die als Beschleuniger für die Ausbreitung einer selektiven, gemeinschaftlichen Solidarität in großen Teilen der Gesellschaft wirkten.78 25 Jahre später übernahmen die neue Lega von Matteo Salvini und das Movimento 5 Stelle von Beppe Grillo das Erbe der Rechten der „Zweiten Republik“. Indem sie nun die traditionellen cleavages zwischen den sozialen Schichten und zwischen Zentrum und Peripherie unter die Dichotomie Elite-Volk bzw. in die Spannung mit den europäischen Institutionen und internationale Organismen subsumieren, verschieben sie 75 76

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Über all diese Themen ist die politologische und journalistische Literatur sehr groß. Unter den jüngsten Studien siehe die Werke von Guido Panvini und ins. Guido Panvini, La destra eversiva, in: Giovanni Orsina (Hg.), Storia delle destre (wie Fn. 74), S. 207–238. Das graduelle Verschwinden in der italienischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren eines Gefühl „dass uns eine Verwirrung oder ein Gefühl der Unwürdigkeit angesichts der Auswirkungen eines Satzes oder einer Handlung soufflierte“ wird geschildert in: Marco Belpoliti, Senza vergogna, Parma 2010, S.27. Unter anderem durch die Polemik über die Schulbücher, siehe Luca Baldissara, Di come espellere la storia dai manuali di storia. Cronaca di una polemica autunnale, in: Il mestiere di storico, 2 (2001), S. 62–86. Nadia Urbinati, Introduzione, all’edizione 2009 di Norberto Bobbio, Destra e sinistra (wie Fn. 63), S. 10.

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noch dezidierter als in den Jahrzehnten zuvor die italienische Rechte in Richtung der europäischen Populismen.79 4. AUSBLICK Gerade die letzte Beispiele und die Fokussierung auf die Rekonzeptualisierung des Politischen in der italienischen Gesellschaft bestätigen, dass die Erosion der Bindekraft der traditionellen Parteien, die Wählervolatilität, die Individualisierung der Wahlpräferenz und der politischen Zugehörigkeit sowie die (allmählich zunehmende) Distanzierung der Bürger von der politischen Teilhabe, vielmehr als die aktuelle politologische Krisennarrative vom Ende der Politik und der Parteien, einen lang andauernden Wandel des Politischen, der Partizipation und der Demokratie bedeuten. Hervorzuheben ist in diesen abschließenden Überlegungen aber auch, dass Italien im europäischen Kontext bei aller Eigenart mehr ein Vorreiter als ein Sonderfall ist. Obwohl die zunehmende Diversifizierung der Parteilandschaft immer wieder als Inbegriff der Aporie des italienischen Systems angesehen wird, lässt sie sich diese in einen transnationalen europäischen Wandel des Politischen und seiner Organisationsformen einbetten. Ähnliche Transformationen wie in Italien, mit ebenso ähnlichen Auswirkungen, lassen sich in der gleichen Zeitspanne, wenn auch mit teilweise erheblichen Nuancierungen, in der Bundesrepublik, in Frankreich und nicht zuletzt in den Niederlanden sowie in weiteren europäischen Ländern erkennen. Trotz der erstaunlichen Stabilität ihres politischen Systems haben z. B. auch in der Bundesrepublik seit den frühen 1970er Jahren über die Wiedervereinigung hinaus und bis heute tiefgreifende politische Transformationen stattgefunden. Diese betreffen vielleicht weniger die Strukturen der Politik als vielmehr die politische Kultur. Man denke z. B. an die Wahlergebnisse der NPD zwischen 1966 und 1969 oder an den Einzug der Grünen 1983 in den Bundestag als Folge der deutschen Neuen Sozialen Bewegungen. Obwohl nach der „Wende“ von 1989/90 weder die Partei des Demokratischen Sozialismus noch ihre Weiterentwicklung Die Linke als genuine Neugründungen bzw. als echte Protestparteien angesehen werden können,80 stellten sie von Anfang an eine Herausforderung für das deutsche politischen System dar. Die neue Volatilität des Parteiensystems belegen auch die Piratenpartei (2008) oder die Alternative für Deutschland (2013). Der Einfluss der neuen politischen Formationen auf die Erosion der beiden Volksparteien SPD und CDU oder gar auf das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag 2013 gilt es – auch angesichts der jüngsten Entwicklungen – noch zu untersuchen. Auch die Wahlen von 2017 in Frankreich bestätigen einen fast überall in Europa zu beobachtenden Bedeutungsverlust der traditionellen Parteien. Trotzdem 79 80

Roberto Biorcio, Trasformazioni della democrazia., S. 180. Siehe v. a. Ulrich von Alemann / Philipp Erbentraut / Jens Walther, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2010.

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beweisen die Entwicklung, die Gründung und die Etablierung von neuen Organisationsformen des Politischen, dass die westeuropäischen Demokratien nicht an politischem Desinteresse oder gar als Politikverdrossenheit im engeren Sinne leiden. Diese Analyse wird durch Überraschungen wie die Wahlbeteiligung von 80,4 % bei den letzten niederländischen Parlamentswahlen im März 2017 bewiesen. Allerdings lässt sich eine immer tiefere Distanzierung von den alten Formen und Methoden der Politik beobachten, welche das tiefgreifende Problem der repräsentativen Legitimation in den Vordergrund rückt. Der Verlust der Legitimation der Parteien ist eine der wichtigsten Konstanten der letzten 30 Jahre. Sie wurzelt wie gezeigt in der Unzufriedenheit der Gesellschaft mit den politischen Institutionen und in ihrer Entfremdung von der Politik.81 In Italien lässt sich seit den frühen 1990er Jahren das Aufkommen neuer politischer Akteure aus der Zivilgesellschaft sowie neuartiger politischer Sichtbarkeit von älteren Institutionen wie der Richterschaft oder der Bischofkonferenz beobachten,82 die auf das verfestigte korrupte und ineffiziente System der politischen Interessenverwaltung reagierten und die traditionellen Parteien weiter delegitimierten. Bereits 1993 hob der Historiker Luciano Cafagna die neuartige politische Rolle einer demokratischen Institution, der Richterschaft, hervor, welche mit dem Pool Mani Pulite eine Art moralische Kontrolle über die Politik ausübte und somit einen Konflikt mit einem hohen Delegitimierungspotential zwischen republikanischen Institutionen auslöste.83 Kritiker und Kommentatoren prägten dafür den Begriff „Partei der Richter“, mit der Absicht sowohl die „politisierten“ Richter als auch die Parteien in ein negatives Licht zu rücken. Sicherlich hatte der Begriff „Partei“ in dieser „historischen Phase“ keine positive Bedeutung und stand in allen Hinsichten immer für etwas wie „ancien-regime, Organisationen im Prozess der Delegitimierung und damit der Auflösung“84. In der Tat spielte die Aktion des Mailänder Richterpools Mani Pulite – für viele der mythische Gründungsmoment der sogenannten „Zweiten Republik“ – und ihre Sprengkraft für das politische System, bei der Transformation und Auflösung der „Ersten Republik“, eine wichtige,

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Für einen Überblick siehe die zahlreichen Tabellen in Pippa Norris, Democratic Deficit: Critical Citizens Revisited, Cambridge 2011. Zu diesem Thema siehe Alessandro Santagata, Ruinismo. The Catholic Church in Italy from ‚mediation culture‘ to the Cultural Project, in: Journal of Modern Italian Studies, 4 (2014), S. 438–452 und Livi, The Ruini system (wie Fn. 42). Siehe Luciano Cafagna, La grande slavina. L’Italia verso la crisi della democrazia, Venezia 2012; Luciano Cafagna, La grande slavina; Alessandro Pizzorno, Il potere dei giudici. Stato democratico e controllo della virtù, Rom/Bari 1998; Silvano Belligni, Magistrati e politici nella crisi italiana. Democrazia dei guardiani e neopopulismo, Alessandria 2000. Zum Thema der politischen Delegitimation in Italien und in Europa siehe die Werke von Cammarano und Cavazza, u. a. Fulvio Cammarano, La delegittimazione dell’avversario politico legittimo nell’Italia post-unitaria, in: Ricerche di storia politica, n. F., 12 (2009), S. 3–28 und Fulvio Cammarano / Stefano Cavazza (Hg.), Il nemico in politica. La delegittimazione dell’avversario nell’Europa contemporanea, Bologna 2010, insb S. 7–12. Lupo, Il mito della società (wie Fn. 50), hier S. 27.

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historisch noch genauer zu klärende Rolle.85 Bei einer genaueren Betrachtung scheinen aber die Aufdeckung und Strafverfolgung der Korruptionsskandale, eher dazu beigetragen zu haben, die politische Führungsschicht zu delegitimieren und fortzureißen als die Parteien selbst.86 Vielmehr waren es die Konflikte in der Führung der größeren Parteien und der politische Stillstand der 1980er Jahre, die de facto im Kontext von „Mauerfall“ und Tangentopoli ihre Auflösung bzw. Neugründung bewirkten – sowohl bei der DC, die 1994 als Partito Popolare Italiano neu entstand, als auch beim PCI, der zwischen 1989 und 1991 seine schmerzhafte Auflösung erlebte und mit dem PdS neugegründet wurde. Aus beiden Neugründungen ging mehrere Splitterparteien hervor, die zusammen mit Lega, Forza Italia, Italia dei Valori und Alleanza Nazionale die bunte politische Landschaft der „Zweiten Republik prägten. Eine weitere Delegitimierung des parteipolitischen Systems kam in dieser Lesart aus der Zivilgesellschaft, in der während der 1980er Jahre einflussreiche soziale und politische (säkulare wie konfessionelle) Bewegungen entstanden waren, die sich als Ausdruck von Anti-Politik präsentierten und nicht als Alternative zu den etablierten Parteien.87 Dazu zählt auch die Bewegung, die 1993 acht Volksabstimmungen initiierte und im Frühjahr 1993 77 % der Italiener mit dem Ziel einer Erneuerung des politischen Systems mobilisieren konnte. Die Referenden vom April 1993 beschlossen unter anderem die Aufhebung der Proportionalwahl für den Senat (82,7 % Ja-Stimmen) und die Abschaffung der staatlichen Parteienfinanzierung (90,3 % Ja-Stimmen). Zwar war dies nach dem republikanischen Gründungsreferendum von 1946 nicht das erste Mal, dass die Italiener zu einer basisdemokratischen Grundsatzentscheidung gerufen wurden.88 Es war bis dato aber das erste Mal, dass sich die Abstimmungen nicht gegen eine Entscheidung der Parteien (als Hauptakteure der italienischen Politik), sondern offen gegen die Parteien selbst richteten. Sie zielten auf eine Erneuerung der politischen Führung und die Delegitimierung der Parteien. Obwohl sie aus einer der Zivilgesellschaft fundamental entgegengesetzten Perspektive kam, darf nicht vergessen werden, dass bereits vor der Wahl im April 1992 ein weiteres tragisches Statement der Delegitimierung des politischen Systems von

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Gervasoni, Tangentopoli in prospettiva (wie Fn. 26). Hier bietet Gervasoni einen Überblick über die unterschiedliche Bewertung der Rolle der „Magistratura“ bei einigen Historikern wie Paul Ginsborg, Guido Crainz und Simona Colarizi. „Negli stessi anni di Mani Pulite, la magistratura francese prese di mira prima i socialisti e poi, tornata al governo dopo il 1993, la destra repubblicana di Chirac. Analoghi fenomeni si diffusero in Spagna, in Belgio e persino in Germania, dove Helmuth Kohl fu eliminato dalla leadership del suo partito in seguito a inchieste“ giudiziarie, Ebenda, S. 7. Siehe außer den bereits zitierten Lupo, Il mito della società (wie Fn. 50). auch Alfio Mastropaolo, Antipolitica. All’origine della crisi italiana, Neapel 2000. Hierzu werden u. a. die Referenden über die Ehescheidung (1974), die staatliche Finanzierung der Parteien (1978), die Abtreibung (1981) und den lokalen Atomausstieg (1987). Für eine komplette Auflistung und die jeweiligen Ergebnisse vgl. die Datenbank .

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der sizilianischen Mafia kam, da sie sich durch den bevorstehenden Kollaps des politischen Systems gefährdet fühlte.89 In den ersten zehn Jahren der Zweiten Republik (1997–2008) hatten noch ca. 15 % der Italiener Vertrauen in die Parteien, während sich dieser Wert 2013 auf ein Drittel reduziert hatte.90 Im Vergleich erhielten 2014 in einer Umfrage von Eurisko erhielten die Polizeikräfte und die Armee mit ca. 66 % bzw. 65 % den ersten und zweiten Platz und die Katholische Kirche mit 54 % den dritten.91 Genau wie am Anfang der 1990er haben die Italiener heute wenig bis kein Vertrauen in den Parteien und sind es neue anti-parteiischen Kräfte, die die Lücke füllen. Da wo in der Zweiten Republik La Rete (1991), Lega Nord (1992) und Italia dei Valori (1998) standen, feiert seit 2012 das Movimento 5 Stelle seine Erfolge.92 Gleichzeitig stieg 2013 genauso wie 1994 wieder auch die Volatilität der Wählerschaft. Während in der Zeit 1992–2013 bewegte sich diese durchschnittlich um die 23,6 %, betrug sie 1994 36,2 % und 2013 41,3 %.93 Seit 1979 schrumpft in Italien auch die Wahlbeteiligung, wenn auch deutlich weniger als im Rest Europas. Vor 1979 stand die Wahlbeteiligung noch über 90 %, diese verringerte sich bis 2013 nach und nach auf nur 89

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Im März 1992 eröffnete die Mafia zunächst durch die Ermordung des Christdemokraten und Europaabgeordneten Salvo Lima, inmitten der schweren institutionellen Krise der vorgezogenen Neuwahl des Republikpräsidenten, durch die Ermordung der Antimafia-Richter Giovanni Falcone (23. Mai 1992) und Paolo Borsellino (19. Juli 1992), eine neue Blutsaison. Diese wurde dann mit einer Reihe von Bombenanschlägen in Florenz, Mailand und Rom bis 1993 weiter geführt. Die Anschläge und Ermordungen der Blutsaison 1992–1993 durch die Mafia sind bereits an sich ein Paradebeispiel, wie tief die Krise des Staates, der Politik und der Institutionen in jenen Jahren war, aber auch welche Bedeutung hatte für die sizilianische Mafia, das Zerbrechen der politischen und kriminellen Machtsgleichegewichte auf der Insel und darüber hinaus. Im Herbst 1993 entschied sich die Mafia die Anschläge zu stoppen, um einen neuen Dialog mit der Politik zu öffnen. Zunächst durch die Gründung einer eigenen Bewegung (Sicilia Libera) und dann durch die Unterstützung bei der politischen Wahl von März 1994 der neuen Partei Forza Italia. Immer noch zu klären sind auch die „Verhandlungen zwischen Staat und Mafia“, in dem – so der Schwurgerichtshof in Florenz und der Antimafia Senatsausschuss – höhere Beamten und Vertreter von Cosa Nostra eine Einigung über den Abbau der restriktiven Haftmaßnahmen gemäß Artikel 41a suchten. Vgl. Commissione Parlamentare d’Inchiesta sul fenomeno della mafia e sulle altre associazioni criminali, anche straniere: 121a seduta: martedi 15 gennaio 2013, Resoconto stenografico n.119, insbesondere S. 162–163 und die unterschiedliche Perspektive und Thesen von Piergiorgio Morosini, Attentato alla giustizia. Magistrati, mafie e impunità, Soveria Mannelli 2011, sowie von Giovanni Fiandaca / Salvatore Lupo, La mafia non ha vinto. Il labirinto della trattativa, Rom 2014 Daten von Demos & Pi zitiert in Maurizio Cerruto / Chiara Facello, Il cambiamento dei partiti tradizionali al tempo dell’antipolitica, in: Quaderni di Sociologia, 65 (2014), S. 75–96, hier S. 75–76. Giuseppe Minola, Politica e discontinuità, in: EURISKO SOCIAL TRENDS. Il cambiamento socioculturale, 120 (2014), S. 1–2. Siehe Roberto Borcio / Paolo Natale, Politica a 5 stelle. Idee, storia e strategie del movimento di Grillo, Milano 2013; Roberto Biorcio / Rossana Sampugnaro, Gli attivisti del Movimento 5 Stelle. Dal web al territorio, Mailand 2015. Über die empirische Erfassung der Wählervolatilität und die Bedeutung des mathematischen Volatilitätsindex siehe Stefano Bartolini, La volatilità elettorale, in: Rivista italiana di scienza politica, 3 (1986), S. 363–400.

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noch 72 %.94 Die bereits thematisierte Verlagerung des politischen Diskurses auf anti-systemische und populistische Argumente spiegelt sich im Wahlerfolg der entsprechenden Formationen, deren Anteil von 11 % im Jahr 1992 auf 32,9 % im Jahr 2013 stieg.95 Dies kann interpretiert werden als Folge der Unfähigkeit der Regierungsparteien Antworten auf die Probleme des neuen Jahrhunderts im Bereich der Felder Arbeit, Familie, Bildung und Sicherheit zu formulieren, sowie zur Reformbedürftigkeit des Staates und seiner Strukturen. Die Populisten profitieren auch vom Scheitern des liberalen Projektes von Silvio Berlusconi, mit dem – so Piero Ignazi – die für Italien historische Chance verpasst wurde, der liberalen Mittelschicht eine laizistische Partei zu geben.96 Ähnliche Dynamiken des Vertrauens- und Legitimationsverlustes lassen sich heute im restlichen Europa beobachten. Überall rücken neue anti-parteiischen und anti-systemischen Organisationen wie Alternative für Deutschland (AfD), Front National (FN), UK Independence Party (UKIP) in den Vordergrund, welche u. a. aus der Entgegenstellung der „neuen“ mit der „alten“ Politik entstehen, d. h. gegen die Strukturen des demokratischen Lebens, gegen die staatlichen Institutionen, die Presse und die Parteien selbst gerichtet sind. In Italien passiert das zum zweiten Mal in 25 Jahren, denn tatsächlich haben in der „Zweiten Republik“ nach der systemischen „Revolution“ von Tangentopoli die neuen Parteien wie Forza Italia, Italia dei Valori, die christdemokratischen Splitterparteien und sogar die Lega Nord, trotz ihrer Wandlungen wieder die Funktionen der alten Parteien übernommen, die sie kritisiert hatten: Ressourcen verteilen, Interessengruppen integrieren, die peripheren Eliten mit dem Zentrum der Macht (Rom) verbinden usw. Die neuen Parteien haben aber keine soziale Funktion mehr wie einst der PCI oder die DC. Nicht nur weil sie nicht in der Lage sind, die neuen Gegensätze in der Gesellschaft zu repräsentieren, sondern auch weil in den letzten Jahren das Konzept von Demokratie selbst sich gewandelt hat. Lange vor den politischen Eliten anderer europäischer Staaten haben sich die italienischen Eliten in sich selbst bzw. in selbstbezogene Kreise eingeschlossen und innerhalb der staatlichen Institutionen zurückgezogen, mit dem Resultat einer drastischen Reduzierung der tatsächlichen Räume der aktiven Teilhabe.97 Jenseits des komplexen wenn nicht fragwürdigen Umgangs der unterschiedlichen Regierungen 1994 bis 2014 mit einer Vielzahl an eher klassischen Bewegungen (No-Global, Studenten, Frauen und Homosexuelle), ist für Italien die lang andauernden Debatte um das Wahlgesetz und die Einführung (1994) bzw. die Verschärfung (2005) des Systems der Sperrlisten (Womit die Führungsspitzen der Jeweiligen Parteien eine 94 95 96 97

Siehe Istat, Annuario statistico italiano 2014. 9 Elezioni e attività politica e sociale, Rom 2014, S. 287–288. Vgl. Tab. 1 in Maurizio Cerruto / Chiara Facello, Il cambiamento dei., S. 80. Cerruto und Facello zählen darunter Formationen wie Lega Nord, MSI und seine nachfolger rechs von AN, M5S. Piero Ignazi auf der Podiumdiskussion der Sisp Il dibattito sul mutamento politico dal 1992 ad oggi: approcci e interpretazioni. (Marco Damilano, Ilvo Diamanti, Piero Ignazi, Giovanni Orsina), XXVIII Convegno SISP – Perugia 11–13 settembre 2014 2014. Siehe Peter Mair, Ruling the void: the hollowing of Western democracy, London 2013.

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bedingungslose Kontrolle über die Nominierungen ausüben können) ein gutes Beispiel dafür. In diesem Kontext verbindet sich, wie gezeigt, der Wandel des Politischen mit der Distanzierung eines Teils der Öffentlichkeit von den alten Formen und Methoden der politischen Praxis. Dabei gewinnen in der italienischen und europäischen Politik viele neue Subjekte wie M5S, Piraten, Podemos oder Syriza systemische Relevanz. Diese lassen sich sowohl in den Kontext der Transformationen der Zivilgesellschaft in eine vernetzte Gesellschaft im Sinne Manuel Castells98 als auch in jene Dynamik der Fragmentierung der Gesellschaft in emotionalen Gemeinschaften einbetten, die bereits Ende der 1970er Jahren einsetzte und von Bauman als Liquid Modernity beschrieben worden ist.99 Zwar ähneln sie den Sozialen Bewegungen der 1980er Jahre, indem sie die traditionellen Muster der repräsentativen Partizipation ablehnen und ihre Handlungspraxis in erster Linie auf einer symbolischen Ebene definieren.100 Anders als bei den strukturierten sozialen Bewegungen der Vergangenheit, ist bei den neuen Formen des sozialen Protestes das ästhetische Moment aber wichtiger als das programmatische, so in Italien bei M5S und seiner V-Day-Kampagne sowie bei den transnationalen Kampagnen der Occupy-Bewegung, deren Mobilisierungskraft sich maßgeblich auf die „Aktivierung von emotionalen Wertbindungen durch die öffentliche Skandalisierung von und [die] Empörung über moralische Verstöße“ stützte101 und weniger auf eine konkrete programmatische Aktion sowie auf schlüssige Konzepte für die Zeit im Anschluss an die Proteste.102 Dieselbe symbolische und ästhetische Charakterisierung lässt sich auch hinsichtlich ihrer inneren Dynamik erkennen, die sich in der Tat meistens nicht durch kodifizierte Mitgliedschaft kanalisieren lässt. Tatsächlich definiert sich die (informelle) Teilnahme mehr über die Adhäsion zu einer kollektiven Identität,103 die immer öfter durch emotionale Elemente geprägt wird.104 Die Occupy-Bewegung in 98 Castells, The rise (wie Fn.34). 99 Bauman, Liquid Modernity (wie Fn. 36). 100 Siehe zum Beispiel in Deutschland die Bewegung „Stuttgart 21“ oder mehr im allgemeinen das Phänomen „Occupy“, vgl. David Bebnowski, Der trügerische Glanz des Neuen: Formierte sich im Protest gegen „Stuttgart 21“ eine soziale Bewegung?, in: Frank Brettschneider / Wolfgang Schuster (Hg.), Stuttgart 21. Ein Grossprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2013, S. 127–148; Fabienne Décieux / Oliver Nachtwey, Occupy. Protest in der Postdemokratie, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 1 (2014), S. 75–89. 101 Thomas Kern / Sang-hui Nam, Werte, kollektive Identität und Protest: Die Mobilisierung der Occupy-Bewegung in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25/26 (2012), S. 29–36, hier S. 36. 102 Stine Marg / Franz Walter, Proteste in der Postdemokratie. Mob, Wutbürger und kosmopolitisches Prekariat, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1 (2012), S. 14–25. 103 Siehe Alberto Melucci, L’invenzione del presente: movimenti, identità, bisogni collettivi 1982; Kai-Uwe Hellmann, Soziale Bewegungen und kollektive Identität, in: Neue soziale Bewegungen 1 (1995), S. 68–81 und Cristina Flesher Fominaya, Collective identity in Social Movements: Central Concepts and Debates, in: Sociology Compass, 4 (2010), S. 393–404. 104 James M. Jasper, The emotions of protest. The affective and reactive emotions in and around social movements, in: Sociological Forum, 3 (1998), S. 397–424.

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den USA mobilisierte 2011 in diesem Sinne all diejenigen, die das Gefühl des „We are the 99 percent“ teilten bzw. die Wahrnehmung, von dem herrschenden 1 % der Gesellschaft hinsichtlich der eigenen Zukunftsperspektiven ökonomisch und politisch betrogen worden zu sein,.105 Die neuen politischen Organisationen wie M5S, die neue Lega von Salvini, aber auch Bewegungen wie die Piraten und Podemos entwickeln sich auch als Reaktion auf die Verbreitung des neoliberalen Privatisierungs- und Präkarisierungskurses, dessen Effekte mit der Finanzkrise seit 2007 vor allem in Südeuropa besonders spürbar geworden sind. Deswegen dienen sie oft für ihre „Mitglieder“ als Instrument ihrer Suche nach einer Ersatzsicherheit. Sie verfolgen damit eine Art selbst-referentielle „Ich-Optimierung“, welche (wie gesehen) nicht zwingend als Synonym für eine verstärkte neue Solidarität oder eine neue Empathie zu interpretieren ist.106 Vor allem nicht wenn, wie im Fall der Lega Nord, eine der Orientierungsachsen ihrer Proteste, die Verteidigung der durch die Globalisierung herausgeforderten territorialen, wirtschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt konfessionelle Grundlagen ist. Mehr im Allgemeinen speisen sich die neuen Organisationsformen des Politischen meistens aus einer identitätsstiftenden Participatory Culture, die ihren Antrieb in den neuen und vereinfachenden Beteiligungsmöglichkeiten der Network Society findet. In den letzten drei Jahrzehnten sind vor allem durch die Abwertung der traditionellen Vermittlungsinstanzen überall in Europa neue Formen öffentlicher Kommunikation, sozialen Engagements und der Partizipation entstanden, welche unter den „Mitgliedern“ ein erhöhtes Bewusstsein entstehen lassen, dass ihr individueller Beitrag (zumindest gefühlt) systemrelevant. In der Tat zeigen überall in Europa und besonders in Italien und Deutschland neue Bewegungen eine erstaunliche Mobilisierungskraft, die vor allem die Daseinsberechtigung und die normative Kraft der gesellschaftlichen Mittelinstanzen wie der etablierten Parteien in Frage stellt und herausfordert. Immer häufiger werden die etablierten Parteien gezwungen, sich mit diesen auf der Ebene der Identitätsstiftung, der Befriedigung von Bedürfnissen und Erwartungen und letzten Endes der Konsenskonstruktion zu konkurrieren. Der Wandel des kommunikativen und motivationalen Systems, das Jahrzehnte lang die Grundlage der relationalen Orientierung in der Gesellschaft war, sowie die Verschärfung der basisdemokratischen Bestrebungen der Zivilgesellschaft in eine Art Hyperdemokratie, die die Kontrolle aller Bürger über alle Entscheidungen der Politik beansprucht, haben eine Abwertung der mittleren Instanzen in allen Parteien sowie eine tiefe Auswirkung auf Modi der Formulierung politischer Inhalte bewirkt. Dies lässt sich auch in Italiens derzeitiger Regierungspartei Partito Democratico beobachten. Dieser bewahrte bis 2011–2013 als einzige Partei in Italien eine

105 Siehe u. a. Nils C. Kumkar, Explodiertes Unbehagen. Die Generation Occupy Wall Street, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 4 (2013), S. 54–58. 106 Kirsten Brühl / Silvan Pollozek, Die neue Wir-Kultur. Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird, Frankfurt a. M. 2015.

Das politische System Italiens seit den 1970er Jahren

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eher traditionelle Struktur, welche mit der Einführung der Primarie und dann durch die Leadership von Matteo Renzi verändert wurde.107 Nicht nur Beppe Grillo, sondern auch Silvio Berlusconi, Antonio di Pietro und Matteo Renzi haben in der jüngsten politischen Vergangenheit eine direkte Beziehung mit ihrer Wählerschaft ohne die Filterung durch den Parteiapparat gepflegt.108 Antonio Di Pietro ließ sich zum Beispiel als erster politischer Auftraggeber von der Casaleggio Associati109 einen Blog erstellen, der schnell zur meistverfolgten Internetseite italienischer Politiker wurde. Im Kontext der individualisierten Kollektivität gewinnt die direkte Beziehung zu den Individuen absolute Zentralität. Nicht mehr Parteistrukturen und Zentralkomitees zählen, sondern Persönlichkeiten und ihre Fähigkeiten, die durch Entschlossenheit, Schnelligkeit und Intuition, die Menschen (la Gente) in ihren Wünschen und Bedürfnissen treffen und beeindrucken können.110

107 Fabio Bordignon, Il partito del capo. Da Berlusconi a Renzi, Santarcangelo di Romagna (RN) 2013; Nicola Martocchia Diodati, Leader, policies e voti. Da Bersani a Renzi la trasformazione dell’offerta politica del PD, XXVIII Convegno SISP, Perugia 11–13 settembre 2014 2014. 108 Wanda Marra, Vendere un’idea. Il consenso e la politica nell’era Renzi, Venedig 2016. 109 Gianroberto Casaleggio war Co-Gründer und sogenannten „Guru“ der Bewegung. Er bis zu seinem Tod als Zentrum der politischen und technologischen Visionen der Bewegung. Siehe u. a. Gianroberto Casaleggio, Web ergo sum, Milano 2004; und Alberto Di Majo, Casaleggio. Il Grillo parlante, Rom 2013. 110 Minola, Politica e discontinuità (wie Fn. 91). Siehe auch C.-H. Wang, Why do people vote? Rationality or emotion, in: International Political Science Review, 5 (2013), S. 483–501.

VON DER „KRISE DER VOLKSPARTEIEN“ ZUM AUFSTIEG DER AFD? Fragen und Hypothesen zur Transformation des politischen Systems in Deutschland Thomas Großbölting Dass die Parteien am Ende seien, ist ein viel gehörter Kassandraruf, der immer ertönt, wenn die Wahlbeteiligung mal wieder gesunken ist, wenn die etablierten Parteien Niederlagen kassieren, ihre Spitzen (wie in Belgien zwischen Juni 2010 und Dezember 2011) sich monatelang nicht auf eine Regierungsbildung einigen können oder ein politischer Skandal die Republik (mehr oder weniger) erschüttert hat. „Krise“ ist dann die gängige und meist laut geäußerte Vokabel, die weniger über die Situation verrät, sondern vor allem über die Wahrnehmung der Rufenden und des beobachtenden Publikums.1 Die Volksparteien in der Bundesrepublik, und damit sind insbesondere Christ- und Sozialdemokraten gemeint, begleitet diese Diagnose verstärkt, in mancher Hinsicht sogar unablässig seit dem Ende der 1970er Jahre. Franz Walter, einer der profiliertesten Parteienforscher in Deutschland, hat zu Recht 2001 davon gesprochen, dass es fast abgeschmackt sei, im Zusammenhang mit den Parteien von „Krise“ zu reden oder zu schreiben. Immerhin wären „allein in den letzten 15 Jahren in der deutschen Politologie mindestens 1384 Aufsätze erschienen“, die genau diese Krise oder gar den Zusammenbruch ausgerufen hätten. So ganz ernst müsse man den routinierten Alarmismus der professionellen Politikdeuter und vor allem das Spiel des „dröhnenden Krisenjournalismus“ nicht nehmen. „Noch hat keine der unzähligen Parteikrisen zum Exitus geführt.“2 Für Deutschland und sein politisches System trifft das bis dato zu, darin unterscheidet sich die politische Kultur vom Vergleichsland Italien. Dennoch gilt es, diesen oberflächlichen Befund nicht absolut zu setzen. Die Entwicklung selbst zeigt eher das Gegenteil: Politik in Deutschland und insbesondere derjenige Part, der aus den Parteien gestaltet wird, hat seit dem Ende der 1970er Jahre seine Façon verändert. Nicht nur Walter selbst, der vor dem Krisengejammer gewarnt hatte, bedient – unisono mit vielen anderen – genau diese Diagnose tatkräftig, wenn er mit großer öffentlicher Resonanz vom „Herbst der Volks-

1 2

Vgl. dazu erhellend Rudolf Schlögl, „Krise“ als historische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. Eine Einleitung, in: ders., Philip Hoffmann-Rehnitz / Eva Wiebel (Hg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2016, S. 9–32. Franz Walter, Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10 (2001), S. 3–6, Zitat S. 3.

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parteien“ spricht.3 Auch verschiedene andere Entwicklungen deuten mindestens auf Veränderungen und eine sinkende Leistungsfähigkeit, wenn nicht sogar auf einen Bruch hin: Die Mitgliederzahlen sinken, die Zahl der Nichtwähler steigt. Das Vertrauen in die Parteien als Organisationen der Interessenvertretung nimmt laut demoskopischen Analysen ab, und zwar nicht nur temporär und partiell, sondern nachhaltig und mit Blick auf Europa relativ flächendeckend.4 „Die Volksparteien alten Typs“, so resümiert beispielsweise Wolfgang Schröder, „sind Geschichte.“5 Der Beitrag nimmt diesen so widersprüchlichen Befund auf und will auf dem Hintergrund des historischen Abrisses zum Entstehen und zur Veränderung der Volksparteien diskutieren, in welchem Verhältnis Stabilität und Veränderung in der deutschen Parteienlandschaft zueinanderstehen. Je näher wir an die Gegenwart heranrücken, umso stärker bewegen wir uns dann auf dem Terrain von Einschätzungen und Prognosen. In diesem Sinne sind insbesondere die abschließenden Überlegungen zum jüngsten Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen wie der AfD zu verstehen. In der Langzeitbetrachtung und aus der Makroperspektive überwiegt die Stabilität. „Weder die westdeutschen Entwicklungen der 80er-Jahre noch die Vereinigung mit dem Parteiensystem der ehemaligen DDR haben die Grundcharakteristika des deutschen Parteiensystems gravierend verändert“, so Oskar Niedermayer.6 Die grundgesetzliche Verankerung der Parteien als ein, aber nicht der ausschließliche Träger der politischen Willensbildung, das Parteiengesetz wie auch die seit 1949 entfaltete politische Kultur bescherten dem politischen System in Deutschland eine bemerkenswerte Stabilität. Diese sticht insbesondere hervor, wenn man Italien als Vergleichsfall heranzieht. Was sich vorher bereits andeutete, brach Anfang und Mitte der 1990er Jahre unter der Wucht von Ermittlungen zu politischer Korruption zusammen. Mit der Democrazia Cristiana und dem Partito Socialista Italiano verschwanden im Zuge von mani pulite und tangentopoli nicht nur die zwei bedeutendsten Regierungsparteien, sondern auch die größte Oppositionspartei Partito Comunista Italiano, die weniger in die Skandale verwickelt war, versuchte sich – auch angesichts des Zusammenbruchs des „realen Sozialismus“ im Ostblock – neu zu erfinden und spaltete sich:7 Auf diese Weise entstanden auch Dutzende neuer politischer Bewegungen, die bis heute das politische Feld prägen. Sie tun dieses auf eine Weise, die das Prinzip der Volksparteien und insbesondere die enge Rückbindung von Parteistrukturen in der Fläche und Parteirepräsentation im Parlament und gegebenenfalls in der Regierung unterlaufen. Nicht mehr dichte 3 4 5 6 7

Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009. Vgl. Emanuel V. Towfigh, Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien, Tübingen 2015, S. 1. Wolfgang Schroeder, Wozu noch Volksparteien? in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 3 (2017), S. 27–30, Zitat S. 28. Oskar Niedermayer, Nach der Vereinigung: Der Trend zum fluiden Fünfparteiensystem, in: Oscar W. Gabriel / Oskar Niedermayer / Richard Stöss (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 2001, S. 107–128, Zitat S. 126. Vgl. den Beitrag von Massimiliano Livi, in diesem Band.

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Kommunikations- und Handlungsstrukturen an der Basis, Milieubildung und Programmdiskussionen prägen das Bild, sondern eher Mobilisierungskampagnen und Bewegungsstrukturen. Nicht nur die Berlusconi-Partei, sondern auch andere politische Bewegungen verändern das Verhältnis von Wählerschaft und Mitgliedern sowie Parteifunktionären grundlegend und kehren gelegentlich zu Formen zurück, die eher an den Typus der Honoratiorenpartei des frühen 20. Jahrhunderts erinnern. Dem Parteiensystem der Bundesrepublik ist ein solcher Prozess dramatischer Veränderung erspart geblieben. Die Konsolidierungsphase der 1950er Jahre, die spätestens mit dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands 1956 ganz der Kultur des Kalten Krieges verhaftet war, mündete in ein System von zweieinhalb Parteien. Dominant war in vielerlei Hinsicht die CDU/CSU, neben der die SPD als zweite große Volkspartei nur durch den programmatischen Wandel der 1960er Jahre aufschließen und zeitweise überholen konnte. Die FDP diente verschiedentlich als Mehrheitsbeschaffer. Zudem war – das ist ein entscheidender Unterschied zu Weimar – das Parteienspektrum nicht segmentiert, sprich: Jede Partei konnte mit jeder anderen koalieren, was auf Landes-, aber auch auf Bundesebene praktiziert wurde. Erst in den 1980er Jahren zeigten sich Erosionen in dieser Grundstruktur, die aber keinen rapiden Wandel, sondern allenfalls „relativ moderate Veränderungen in Form einer Pluralisierung“8 mit sich brachten. Die Mobilisierungsfähigkeit von SPD und CDU/CSU sank, da sich die gesellschaftliche Basis – das rote wie auch das schwarze Milieu – veränderte. Mit der Umweltfrage bildete sich zudem eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie heraus, die mit der Partei Die Grünen seit 1980 ihren organisatorischen Ausdruck fand. In der Perzeption wurde die neue Partei, die erste Landtagswahlerfolge erzielte und 1983 in den Bundestag einzog, rasch links verortet. Damit stieg die Segmentierung des Parteienspektrums insofern, als zunächst von den im Bundestag bereits vertretenen Parteien eine Koalitionsfähigkeit verneint wurde und Die Grünen sich selbst als „Anti-Parteien-Partei“ bezeichneten. Die nächsten Jahre allerdings ergaben schließlich Anderes. Bündnisse mit der Partei Die Grünen wurden nach und nach salonfähig. Nachdem man 1985 in Hessen die erste rot-grüne Koalition beschlossen hatte, schlossen sich auf der Landesebene weitere neun an. Ein Novum war 2011 die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg, wo mit Winfried Kretschmann ein grüner Minister nicht nur die CDU im ‚Ländle‘ ablöste, sondern zudem auch die SPD zum kleinen Koalitionspartner degradierte. Mittlerweile sind auch schwarz-grüne Koalitionen nicht nur denkbar, sondern auch praktiziert worden: Nach einer Reihe von kommunalen Bündnissen seit den 1990er Jahren war die schwarz-grüne Landesregierung in Hamburg 2008 der Auftakt zu veschiedenen schwarz-grünen, gelegentlich plus gelben Koalitionen wie „Saarmaika“ 2009 oder ganz aktuell dem Bündnis auf der Landesebene Schleswig-Holsteins. Auch die Wiedervereinigung brachte mit Blick auf das Parteienwesen keine grundsätzliche Veränderung: Während außer der SPD alle westdeutschen Parteien die ihnen anverwandten Ost-Parteien umstands- bis skrupellos in die eigene Orga8

Niedermayer, nach der Vereinigung (wie Fn.6), S. 108.

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nisation integrierten, entwickelten sich doch keine volksparteiähnlichen Strukturen in den sogenannten Neuen Ländern. Es fehlte an einer breiteren gesellschaftlichen Verankerung, wie sie in Westdeutschland auf den erodierenden, aber dennoch weiterhin prägenden traditionellen Milieus und Schichten basierte. Als stark sichtbarer Faktor blieb allein die PDS/Die Linke, die trotz einer seit der Wiedervereinigung rasanten Entwicklung immer noch von ihrem Erbe als SEDNachfolgepartei geprägt ist. Anders als in anderen osteuropäischen Ländern wie der Tschechoslowakei entwickelte sich die ehemalige Diktaturpartei nicht zur sozialdemokratischen Variante in einem demokratischen Parteiensystem, sondern orientierte sich auf Grund der weitgehenden Übernahme des westdeutschen Parteiensystems links von der Sozialdemokratie. „Die PDS hatte den Spagat auszuhalten, Sammelbecken für DDR-Nostalgiker und Angehörige unterschiedlichster linker bis linksextremer Strömungen zu sein und gleichzeitig zuverlässige demokratische Kraft in den Parlamenten: sich nicht von der DDR zu trennen, aber in der Bundesrepublik anzukommen; in Opposition zum kapitalistischen System verharren und es gleichzeitig mitzugestalten.“9 Diese Spannungslinien haben die PDS entscheiden mitgeprägt und blieben auch nach dem Zusammengehen mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) im Juni 2007 erhalten. Mit der Fusion etablierte sich die PDS beziehungsweise DIE LINKE als eine gesamtdeutsche Partei, wenn auch immer noch mit einem deutlichen Schwerpunkt in den fünf sogenannten neuen Ländern. DIE LINKE heute ist eine ostdeutsche Regionalpartei mit Volksparteicharakter, kann sie doch nicht nur (wenn auch immer weniger) an die Strukturen der ehemaligen SED anknüpfen, sondern ist zugleich in die Rolle einer Vertretung ostdeutscher Interessen hineingewachsen. Insbesondere das Agieren der westdeutschen Parteien, welches vom SPD-Beschluss über die Nichtaufnahme ehemaliger SED-Mitglieder bis hin zur Rote-Socken-Kampagne der CDU/CSU reichte, hat diese Ausrichtung ermöglicht. Mit Blick auf den Westen ist sie zugleich Protestpartei, die in Kampagnen und aus der Opposition heraus zu mobilisieren versteht. In dieser Ausrichtung kann sie gleichzeitig regieren wie auch Protest gegen die „Herrschenden“ mobilisieren.10 Eine Reihe von Wissenschaftlern charakterisieren DIE LINKE vor allem bis zum Ende der Amtszeit von Oskar Lafontaine 2009 als eine linkspopulistische Partei – eine Wertung, die die Partei selbst in Gestalt von Katja Kipping als Parteivize 2011 positiv in ihr Selbstbild aufgenommen hat.11 Mit der nun dauerhaften Integration der Partei DIE LINKE ist das zunächst fluide Fünfparteiensystem zu einer festen Struktur geworden, die die Wahlkämpfe, die Wahlen, aber auch den politischen Alltag in Gesamtdeutschland prägt. 9 10 11

Christian Lannert, „Vorwärts und nicht vergessen“? Die Vergangenheitspolitik der Partei DIE Linke und ihrer Vorgängerin PDS, Göttingen 2012, S. 45. Vgl. Viola Neu, Die Linke: eine Volkspartei?, in: Volker Kronenberg / Tilman Mayer (Hg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenzen und Konstellationen, Freiburg 2009, S. 90–229, Zitat S. 224. Vgl. Frank Decker, Vom Protestphänomen zur politischen Dauererscheinung: Rechts- und Linkspopulismus in Westeuropa, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 27 (2015), S. 57– 92, Zitat S. 59.

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Nicht nur die historische Entwicklung, sondern auch systematische und abstrakte Überlegungen zementieren das Bild von der relativen Stabilität weiter: Trotz Mitglieder- und Wählerschwunds hat die Bedeutung der Parteien für die Rekrutierung des politischen Personals nicht ab-, sondern eher zugenommen, was in neueren Elitenstudien faktenreich belegt wird. Nach wie vor sind es keine gesellschaftlichen Pressure-Groups, neue soziale Bewegungen oder andere Formen der Mobilisierung aus der Zivilgesellschaft heraus, sondern parteiförmig strukturierte Organisationen, die das politische Personal stellen. Wer an die Spitze der Funktionen der repräsentativen Demokratie kommt, das entscheidet sich vor allem aus den Parteien heraus. Der „Quereinsteiger“ oder die „Quereinsteigerin“ ist nach wie vor zwar ein verbal viel gehätscheltes Lieblingskind der Medien, bleibt aber statistisch gesehen ein seltenes Phänomen.12 Zudem scheint auch eine Wählerkonzentration nach wie vor möglich zu sein: Zwar nimmt die Wahlbeteiligung konsequent ab und erreicht insbesondere Tiefststände bei den Urnengängen wie der Europawahl, die als besonders unwichtig angesehen werden. Dennoch sind quantitativ große Wahlsiege immer noch möglich. Bei der vergangenen Bundestagswahl beispielsweise erreichten die deutschen Christdemokraten über 40 % der Stimmen. Die amerikanische Konzeption von Parteiendemokratie zeigt, dass die Bindung durchaus nicht nur über Parteimitglieder hergestellt werden kann: „Democracy is not to be found in the parties but between the parties“.13 Der Gedanke dahinter liegt auf der Hand: Es ist die elektorale Konkurrenz um Wählerstimmen, die eine demokratische Willensbildung ermöglicht, nicht das Parteileben selbst in seinen – so die Argumente der Kritiker – ermüdenden Ortsvereinssitzungen und personellen Ränkeschmieden. Dementsprechend gibt es in den USA auch keine formelle Parteimitgliedschaft, nicht ohne aber dass auch dort die Diskussion um die Notwendigkeit von „echten“ Parteien immer wieder aufflammt. Dass der Prozess eines Verblassens der Volksparteien nicht von sich aus gegeben und zwangsläufig ist, sondern durchaus den jeweiligen historischen, sozialen und politischen Kontexten unterliegt, zeigt auch der Blick nach Süd- und Osteuropa: Die drei jüngeren Demokratien Südeuropas – also Portugal, Spanien und Griechenland – haben mit Blick auf die absoluten Zahlen der Parteimitglieder seit 1980 zugelegt. Dieses Bild bestätigt sich für viele der jungen osteuropäischen Demokratien, die diesem Trend folgen.14 Der Gedanke liegt nahe, dass zumindest ein Teil der Entwicklung von Parteimitgliederzahlen auch in Westeuropa auf einen generellen Trend zurückzuführen ist: In jungen Demokratien werden Parteien erst aufgebaut, so dass zunächst das Interesse an politischer Partizipation in ihnen groß ist. Mit zunehmender Reife der Demokratie setzt dann eine Etablierung oder, negativ ausgedrückt, eine Verkrustung der politischen Strukturen ein, die auch die Partizipation sinken lässt. Mit dieser Interpretation steht das schwindende Interesse als Verweis, wie etabliert die Demokratie und ihre politische Kultur sind. 12 13 14

Vgl. Hans Monath, Die Liste der Gescheiterten ist lang, in: Tagesspiegel, 29.11.2016, S. 7. So der Klassiker Schattschneider 1942, 60. Peter Mair / Ingrid van Biezen, Party Membership in Twenty European Democracies, 1980– 2000, in: Party Politics, 7 (2001), S. 5–21, Zitate S. 9 und 12.

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Dennoch bleibt auch die zweite Beobachtung, nämlich die vom Niedergang der Parteien, gewichtig. Messbar an der Abnahme der Mitgliederzahlen der Parteien, dem Rückgang der Parteiidentifikation und der Zunahme der Volatilität bei Wahlen geht, so ist die gängige Interpretation, die gesellschaftliche Verankerung von Parteien zurück. Auch die institutionellen Verbindungen zu Interessenverbänden und Vorfeldorganisationen sind stark erodiert. Für diese Beschreibung sprechen eine Reihe von Faktoren, allen voran der Mitgliederschwund, den die (ehemaligen) Volksparteien verzeichnen müssen. Ulrich von Alemann und Tim Spier haben dazu relevante Daten für die nationalen Zusammenhänge erhoben: So waren in Italien im Jahr 2000 1.974.040 Personen Mitglied einer Partei, das entspricht etwas mehr als 4 % des Elektorats. Wie stark die Veränderungen waren, zeigt der Vergleich mit 1980: damals waren 4.065.927 Menschen Mitglied einer Partei, also haben sich die Zahlen in zwanzig Jahren halbiert. Vergleichbare Zahlen für Deutschland zeigen zwar einen ähnlichen Abwärtstrend, sind aber weitaus weniger dramatisch: 1980 waren 1.780.000 Menschen Mitglied einer Partei, das entspricht 2,93 % des Elektorats. Im Jahr 2000 waren es circa 160.000 weniger. Der direkte Vergleich der Zahlen hinkt deshalb, weil die erhebenden Politologen keine Angaben über die Effekte der Wiedervereinigung machen, bei der die potenziell stärker von Parteimitgliedschaft geprägten neuen Länder zur Bundesrepublik kamen.15 So sind es vor allem Zahlen zur Entwicklung von jungen Parteimitgliedern und der Mitglieder in den Jugendorganisationen selbst, die die Veränderung zeigen: Zwischen 1969 und 1977 stießen über 400 000 Menschen zwischen 16 und 30 zur SPD, die 1977 mit 1.022.000 Angehörigen ihr mitgliederstärkstes Jahr erreichte. Die CDU/CSU erlebte etwas zeitverzögert einen noch stärkeren Mitgliederboom, wobei aber der Anteil der 16- bis 29jährigen zwischen 1970 und 1980 bei 11 % relativ konstant blieb. Die Abwärtsbewegung setzte am Ende der 1970er Jahre ein. Bis 1997 reduzierte sich die Zahl der Jungmitglieder auf ein Drittel. Legt man eine andere Erhebung zugrunde, dann sank der Anteil der bis 29jährigen zwischen 1980 und 1998 in CDU/CSU und SPD von 229.619 Personen auf 74.796.16 Die Mitgliederentwicklung ist der vielleicht stärkste Indikator für den „Herbst der Parteien“ (Walter) oder zumindest für deren Transformation. Messbar durch die Abnahme der Mitgliederzahlen der Parteien, den Rückgang der Parteiidentifikation und die Zunahme der Volatilität bei Wahlen geht, so ist die gängige Interpretation, die gesellschaftliche Verankerung von Parteien zurück. Auch die institutionellen Verbindungen zu Interessenverbänden und Vorfeldorganisationen sind stark erodiert.17 15 16 17

Ulrich von Alemann / Tim Spier (Hg.), Parteimitglieder nach dem „Ende der Mitgliederpartei“. Ein Überblick über Forschungsergebnisse für Westeuropa seit 1990, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 37 (2008), S. 29–44, hier S. 30–32. Elmar Wiesendahl, Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006, S. 31 und passim. Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von Daniel Schmidt zur CDU und Rüdiger Schmidt zur SPD.

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Dieses Bild fügt sich dann nahtlos ein in eine auch von anderen Gesellschaftswissenschaftlern und Historikern vertretene These: Nach der klassischen Industriemoderne und deren Boom – damit klingt die zu Recht einflussreiche Publikation von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael bereits an18 – sei insgesamt ein anderer Modus der individuellen Verortung zu beobachten, der alle Organisationen und damit diejenigen Zusammenhänge schwäche, die ihren Mitgliedern klare Rollen und Verhaltensweisen abverlangten. Die treibenden Kräfte der Cleavage-Strukturen, die Gegensätze zwischen Stadt-Land, Kapital-Arbeit oder zwischen den Konfessionen, werden schwächer, was sich mitunter negativ auf die Bildung bzw. die Fortentwicklung von Parteien auswirkt. Exemplarisch steht dafür die Auflösung des schwarzen, katholischen und des roten, sozialdemokratisch-arbeiterbewegten Milieus. Hinzu kommt die „Aufhebung des Links-Rechts-Gegensatzes“, wie ihn Anthony Giddens für den Anfang der 1990er Jahre propagiert hat.19 Dieses Strukturelement war lange Zeit die Triebfeder politischer Auseinandersetzungen und manifestierte sich auch in den Wahrnehmungsmustern von Wählerinnen, Wählern und Beobachtern des politischen Geschehens. Eine solche Entwicklung – die Aushöhlung der Parteien durch Mitgliederschwund, wachsendes Misstrauen gegen die politischen Funktionäre und die fehlende Verankerung der Parteien in der Gesellschaft – provoziert auch normative Bedenken. Nicht nur die „allgemeine Öffentlichkeit“, sondern auch das Verfassungsgericht20 und die Politikwissenschaft gehen davon aus, dass Parteien lebendige Bindeglieder zwischen Staat und Gesellschaft sein sollen – nicht ohne im zweiten, empirischen Schritt die Brüchigkeit dieser „Linkage“-Funktion nachzuweisen.21 In der Theorie entwickelt sich über eine innerparteiliche demokratische Willensbildung von unten nach oben eine besondere Verbindung in der Gesellschaft und damit auch zwischen dieser und dem politischen System. In der Praxis muss sich dieser Zustand tatsächlich immer wieder realisieren – automatisch gegeben ist das sicher nicht. Inwieweit sind, so ließe sich beispielsweise angesichts der rasanten Entwicklung in der Medienlandschaft wie auch beim Campaining fragen, Mitglieder tatsächlich noch ein Gewinn für die Partei, wenn sich diese in einer Mediengesellschaft kampagnenförmig viel besser aus einem schlanken Apparat von Professionals heraus organisieren und artikulieren kann? Insbesondere die Komplexität von Entscheidungsprozessen lässt aus Sicht der Funktionäre eine tief gestaffelte Parteimitgliedschaft eher zur Belastung denn als Gewinn erscheinen. Wie stark sich solche Tendenzen durchgesetzt haben, zeigt sich unter anderem an dem triumphalen Durchmarsch der Bewegung des französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron En Marche. Jenseits der etablierten Parteistrukturen gelang es dem 18 19 20 21

Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael (Hg.), Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a. M. 1997. BVerfGE 85, S. 264. Vgl. Richard S. Katz / Thomas Poguntke (Hg.), Parteiorganisation im Wandel. Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2000.

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Kandidaten gerade wegen seiner Unabhängigkeit, zahlreiche Wählergruppen auf sich zu vereinigen. Die ersten Monate seiner Regierung deuten darauf hin, dass es ihm und seiner neuen Bewegung trotz des fehlenden Hintergrunds eines unterstützenden Parteiapparats und Mitgliederreservoirs auch gelingt, die Strukturen der Macht personell und organisatorisch auszufüllen. Für die etablierten Parteien links und rechts ist das ein weiterer Tiefschlag, erweist es doch einmal mehr, dass die französische Republik auf sie nicht angewiesen ist. In der Zusammenschau sind es zwei Tendenzen, die die Entwicklung des Parteiensystems in Deutschland seit dem Ende der 1970er Jahre und damit auch über die Wiedervereinigung hinaus prägen: Auf der einen Seite steht ein hohes Maß an institutioneller und organisatorischer Stabilität, die vor allem auch über das Parteiengesetz wie auch die gewachsene politische Kultur gegeben ist. Auf der anderen Seite verändert sich Vieles und Grundlegendes: Nimmt man Mitgliederzahlen und das Wählerverhalten in den Blick, bleibt das Integrationspotential der Parteien unterhalb dieser Oberfläche fraglich. Momentan ist es der Vormarsch der rechtspopulistischen selbst ernannten Alternative für Deutschland, der skeptisch werden lässt hinsichtlich der Leistungsund vor allem der Integrationsfähigkeit des bisherigen deutschen Parteiensystems. Etabliert sich nun eine Protestpartei innerhalb der angestammten Regeln und Gesetze, da die Volksparteien nicht mehr in der Lage sind, Wählerwillen ausreichend zu integrieren und zu repräsentieren? Insbesondere die Interventionen des CSUParteichefs Horst Seehofer argumentieren immer wieder in diese Richtung, wenn er seine Partei wie auch die Christdemokraten auf einen stärker rechten und nationalistischen Kurs einschwören will. Strengere Flüchtlingspolitik plus mehr Euroskepsis und Germany first – so nimmt sich das Rezept des CSU-Oberen gegen den Aufstieg der AfD aus. Damit zieht er sich zurück auf Franz Josef Strauß und dessen Überzeugung, dass rechts von der CSU nur noch die Wand sein, keinesfalls aber eine konservative Alternative entstehen dürfe. Was Seehofer mit dieser und ähnlichen Analysen aber verkennt, ist eine enorme Binnenentwicklung, die die Partei in den wenigen Jahren ihrer Existenz gemacht hat: Auf dem Essener Parteitag im Juli 2015 schickten die Delegierten ihren Gründungsparteivorsitzenden und Ökonomieprofessor Bernd Lucke inklusive dessen „Weckruf“Initiative in die Wüste – und stellten damit zugleich die Weichen weg vom eurokritischen Wirtschaftsflügel der AfD hin zu einer immer stärker nationalistisch-populistisch agierenden Partei. Seit 2013 schon, so lässt sich rückblickend sagen, neigte die AfD zur Spaltung. Von den Eurogegnern um Bernd Lucke – die momentan vielen schon, horribile dictu, als das kleinere Übel gelten – grenzten sich die Unterstützerkreise um Alexander Gauland wie auch Frauke Petry ab, die sich patriotischer und nationalkonservativer orientierten. Die jüngste Entwicklung 2017, mit der auf dem vorläufig letzten Parteitag die Parteichefin Petry zu Gunsten von Alexander Gauland demontiert wurde, deutet auf einen weiteren Radikalisierungsschub der AfD hin, haben sich die Delegierten damit doch gegen den pragmatischeren Kurs der Parteichefin und für die tendenzielle Fundamentalopposition Gaulands entschieden. Ohne Zweifel geht diese Entwicklung nicht allein auf eine programmatische Entscheidung, gar Arbeit innerhalb der Partei zurück. Die AfD war und ist eine

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„Abstauberpartei“, die von den Zufällen der Entwicklung wie vor allem der Flüchtlingszuwanderung seit dem Jahr 2015 und einen mindestens europa- wenn nicht gar weltweiten Aufschwung nationalpopulistischer Bewegungen ebenso profitiert wie von den Fehlern ihrer Gegner: eine notorische Unterschätzung, die sich unter anderem in einer oberflächlichen Berichterstattung äußert.22 Man kommt der AfD und ihrem Erfolg nicht nahe, wenn man diese lediglich aus einem naiven linksliberalen Überlegenheitsgefühl ridikülisiert und sich von der Idee leiten lässt, hier handele es sich um eine vorübergehende politische Verirrung, die sich im Idealfall von allein erledigen werde. Im Gegenteil: In mancherlei Hinsicht geriert sich die AfD als Volkspartei. Zweifellos erlebt die CDU/CSU mit der Etablierung der AfD, was die SPD mit dem Aufkommen der Grünen wie auch der Linken erlebt hat: Sie verliert einen Teil ihrer Stammwählerschaft, die ihr bislang immer und automatisch gutgeschrieben war. In konservativen Kreisen steht Angela Merkel für die Fundamentalliberalisierung der CDU. Unter anderem dagegen richtet sich die AfD, wenn sie sich als rechtskonservatives Korrektiv ausgibt. Darüber hinaus aber etabliert sie sich auch als eine national-soziale Sammlungsbewegung. Es ist (oder zumindest war) gerade das Fluchtthema, welches ihr diese Popularität beschert. „Nach dem Abgang ihres Gründers Bernd Lucke bereits totgesagt, hat sie sich in der Flüchtlingsfrage neu ‚erfunden‘: Aus der kalten Professorenpartei ist eine angebliche Kümmererpartei geworden.“23 Folgt man den Demoskopen und Wahlauswertern, dann gelingt es der AfD tatsächlich, wie ein Staubsauger Wählerinnen und Wähler aller Volksparteien an sich zu ziehen. Dass sich die Anti-Mindestlohnpartei als „Partei des sozialen Friedens“ geriert, mutet absurd an, scheint aber durchaus erfolgreich zu sein. Im gesamten Bundesgebiet ist es die SPD, die neben der CDU/ CSU erheblich abgibt; im Osten verliert Die Linke massiv an die Rechtspopulisten. Im Landtagswahlkampf NRW 2017 setzt sich die AfD mit einem Plakat in Szene, auf dem sie „Mehr Populismus“ fordert und sich für die Ausweitung der Möglichkeit von Direktplebisziten einsetzt. Die Landtagswahlen in der ersten Jahreshälfte 2016 zeigen, dass diese Entwicklung durchaus das Zeug dazu hat, die bisherige Architektur grundlegend zu verändern. Ein Blick auf die Ergebnisse der Abstimmungen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt demonstriert das. Bislang galt: Wenn gar nichts geht, dann reißt die Große Koalition es raus – zwar ungeliebt, aber als Notnagel hielt dieses Modell immer her. Aber das gehört mit der momentanen Stärke der AfD der Vergangenheit an. In zwei Landtagen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt nämlich, geht nicht einmal mehr das. Was heute als Deutschland-Koalition firmiert – ein schwarz-rot-gelbes Bündnis nämlich – reicht teilweise nicht einmal mehr für 50 % der abgegebenen Wählerstimmen (die steigende Zahl der Nichtwähler gar nicht erst berücksichtigt). Der Rückblick um nur zweieinhalb Jahrzehnte zeigt deutlich, welchen Einschnitt das bedeutet: Bis 1983 bildeten allein diese drei 22 23

Vgl. dazu Melanie Amann, Angst für Deutschland. Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert, München 2017. Albrecht von Lucke, Volksparteien im Visier: Der Angriff der AfD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 60 (2016), H. 4, S. 5–8, Zitat S. 5.

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Thomas Großbölting

Parteien CDU/CSU, SPD und FDP das gesamte Spektrum politischer Wahlmöglichkeiten. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat jüngst zwei mögliche Szenarien aufgemacht, um die Richtung zu skizzieren, in die sich das politische System der Bundesrepublik mit der Herausforderung AfD weiterentwickeln. Szenario 1 kann eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, wenn man vor allem auf das Führungspersonal der Partei schaut: Die AfD zerlegt sich in Führungs- und Flügelkämpfen, wird vielleicht zwar die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl 2017 überwinden, muss sich aber von einer neuen Regierung demokratisch marginalisieren lassen. Damit wäre sie dann, so Leggewie, den „Weg aller Rechtsradikalen seit 1945“ gegangen – nämlich „zurück in die Bedeutungslosigkeit“.24 Eine stärkere Veränderung des Parteiensystems in Deutschland, die den insbesondere von CDU/CSU und SPD noch vertretenen Volkspartei-Anspruch nachhaltig gefährdete, brächte das zweite Szenario mit sich: Die semidiktatoriale Türkei Erdogans öffnet nach dem Referendum ihre Grenzen und lässt die Zahl der Flüchtlinge erneut ansteigen, die Eurokrise verstärkt sich dadurch, die Zeichen stehen auf Desintegration – und die Stabilisierung einer europäischen Rechten mit Gerd Wilders, Marine Le Pen und anderen. Auf diesem Hintergrund gelingt es der AfD, ihre hausgemachten Querelen so erfolgreich zu überspielen, dass sie bei der Bundestagswahl drittstärkste Kraft wird. Da mit der „Alternative“ (vorerst) niemand koaliert, erstarren die Handlungsoptionen und laufen zwangsläufig auf eine Große Koalition von SPD und CDU/CSU hinaus. „Deren Selbstlähmung, auch ein der Rechten entgegenkommender Protektionismus, machen die Ränder stark und hieven die AfD in den Bereich einer Volkspartei.“25 In diesem Szenario erstarkt die AfD soweit, dass Deutschland erstmals seit 1945 wieder eine im Bundestag auf mittlere Sicht vertretene nationalistische Partei hätte. Damit wäre schließlich tatsächlich eingetreten, was seit spätestens Ende der 1970er Jahre immer wieder beschworen wurde: eine Krise des seit 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik etablierten Parteienwesens. Dass die Reflexion zur AfD und damit zu einem Phänomen der vergangenen vier Jahre am Anfang eines historischen Beitrags über die Volksparteien in Deutschland einen so großen Raum einnimmt, hängt eben damit zusammen: Erstmalig könnte sich ein Zustand entwickeln, der eine nachhaltige Veränderung des Parteiensystems signalisiert oder zumindest möglich macht. Auch hier gilt: Wie so oft werden Prognosen vor allem dazu formuliert, damit sie sich selbst widerlegen.

24 25

Claus Leggewie, Man hätte es wissen können, in: Sueddeutsche vom 3. April 2017, http:// www.sueddeutsche.de/kultur/buecher-ueber-die-afd-die-afd-ist-auf-dem-weg-in-den-voelkisch-autoritaeren-nationalismus-1.3419505 (zuletzt abgerufen am 18. April 2017) Ebenda.

AUTORENVERZEICHNIS Aldo Agosti Professor für Neueste Geschichte (em.) an der Universität Turin Stefano Cavazza Professor für Neueste Geschichte an der Universität Bologna, https://www.unibo.it/ sitoweb/stefano.cavazza Loreto Di Nucci Professor für Politische Geschichte der zeitgenössischen Zeit an der Universität Perugia, http://www.unipg.it/pagina-personale?n=loreto.dinucci Chiara Giorgi Forscherin auf Planstelle für Neueste Geschichte an der Universität Pisa, http://unimap.unipi.it/cercapersone/dettaglio.php?ri=127320 Thomas Großbölting Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/ Mitarbeiter/ThomasGrossboelting.html Christian Jansen Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, https://www. uni-trier.de/index.php?id=50383 Detlef Lehnert Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung, http://www.hugo-preuss-stiftung.de/praesident.html Massimiliano Livi Privatdozent am Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, https://www.uni-trier.de/index.php?id=60671 Paolo Mattera Professor für Neueste Geschichte an der Universität Romatre, http://studiumanistici.uniroma3.it/pmattera/ Susanne Meinl, Historikerin, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L3/Forschung/geschichte_ der_nsdap.html

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Autorenverzeichnis

Armin Nolzen Historiker und Redakteur der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, http://www.beitraege-ns.de/html/redaktion-nolzen.html Paolo Pombeni Professor für Geschichte der politischen Systeme (em.) an der Universität Bologna, https://www.unibo.it/sitoweb/paolo.pombeni/ Maurizio Punzo Ehm. Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mailand Daniel Schmidt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Münster, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Mitarbeiter/Wiss/ DanielSchmidt.html Rüdiger Schmidt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Mitarbeiter/Wiss/ RSchmidt.html Antonio Scornajenghi Forscher auf Planstelle für Neueste Geschichte an der Universität Romatre, http://www.filcospe.it/index.php/persone/docenti/20-docenti/263-scornajenghiantonio-ricercatore-m-sto-04 Thomas Welskopp Professor für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte moderner Gesellschaften an der Universität Bielefeld, https://wwwhomes. uni-bielefeld.de/twelskopp/

Gibt es noch „Massenparteien“? Die jüngsten Wahlergebnisse in Deutschland und Italien lassen daran zweifeln, ob der für viele Dekaden des 20. Jahrhunderts prägende Parteitypus heute noch Strahlkraft entfaltet. Angesichts dessen widmen sich die Beiträge dieses Bandes der Entstehung, der Entwicklung und dem Wirken von Massenparteien in Deutschland und Italien. Mit Blick auf das 19., vor allem aber auf das 20. Jahrhundert analysieren sie die bedeutendsten konservativen, liberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Varianten in der

ISBN 978-3-515-11192-8

9 7835 1 5 1 1 1 928

Demokratie, aber – am Beispiel der Partito Nationale Fascista und der NSDAP – auch in Diktaturen. Klassisch parteigeschichtlich fragen die Autorinnen und Autoren nach Organisations- und Finanzierungsformen. In kulturhistorischer Perspektive untersuchen sie, wie die Massenparteien das Konzept einer lebenslangen Mitgliedschaft „von der Wiege bis zur Bahre“ zu realisieren versuchten. Thematisiert wird darüber hinaus, welche möglichen Trends für eine Neukonzeptionalisierung der Politik sich aus den historischen Befunden ableiten lassen.