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German Pages 304 Year 2023
Eckard Lefèvre Martinus Schoockius: De Miseria Eruditorum – Über das Elend der Gelehrten (1650)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Joachim Hamm, Martin Mulsow, Bernd Roling und Friedrich Vollhardt
Band 252
Eckard Lefèvre
Martinus Schoockius: De Miseria Eruditorum – Über das Elend der Gelehrten (1650) Einführung, Text, Übersetzung, Kommentar
ISBN 978-3-11-120777-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-120876-3 ISSN 0934-5531
Library of Congress Control Number: 2023940483 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort 1650 veröffentlichte Marten Schoock / Martinus Schoockius in Deventer einen Sammelband mit 20 eigenen Arbeiten: Orationum et Dissertationum Variarum, Diversis locis ac temporibus scriptarum atque habitarum Decades Duæ. Es handelt sich um 15 Vorträge, die er an den drei Universitäten, an denen er bisher tätig war, Utrecht, Deventer und Groningen, gehalten hatte, sowie um das Paradoxenkomium Fumi laudes prædicans und eine Rede auf die Hochzeit eines hochgestellten Herrn. Wenn man unterstellt, daß Schoock die launige Betrachtung des Rauches, wie es naheliegt, einem empfänglichen Gremium vorgetragen hat – er spricht die fumosi patres direkt an –, handelt es sich um 17 Vorträge, die allgemeinen Themen gewidmet sind. Am Ende stehen drei Arbeiten, welche rein formal auch die Vortragsform haben, aber offensichtlich Abhandlungen darstellen, die vor allem persönliche Probleme betreffen und einer Allgemeinheit bekannt gemacht werden. An die letzte Stelle setzte der streitbare Humanist, der ein paar Jahre zuvor in die Auseinandersetzungen der katholischen und reformierten Theologen eingegriffen hatte, ein Bekenntnis zu Christus (De margarita), an die vorletzte Stelle das ihn auch selbst betreffende Paradoxenkomium Encomium surditatis und an die drittletzte Stelle die an die staatlichen Vorgesetzten gerichtete Klageschrift De miseria eruditorum. Der Leser wird bei der Lektüre derselben sehr schnell feststellen, daß Schoock nicht sine ira et studio, sondern überwiegend cum ira et studio argumentiert. Das legt die Vermutung nahe, daß es sich bei den letzten drei Beiträgen um ein besonderes Schlußtrio handelt, gewissermaßen um eine σφραγίς, die über den Verfasser Auskunft gibt. De miseria eruditorum ist der bei weitem umfangreichste Beitrag der Sammlung (statt im Schnitt 20 sind es nahezu 120 Seiten). Daß Schoock selbst von der dargelegten Problematik betroffen war, legt überdies der Umstand nahe, daß er die Abhandlung bereits ein Jahr zuvor in Groningen separat veröffentlicht und direkt an seine Vorgesetzten in der Stadt Groningen und in der Provinz Ommelandia gerichtet hatte – gewissermaßen einen Hilferuf, in dem wohl nicht zufällig elfmal das Bekenntnis fateor begegnet – davon achtmal am Satzanfang. Hier erwartete den Leser eine überwiegend subjektive Problematik in weitgehend objektiver Form. Es ist vorweg zu bemerken, daß manche grundsätzlichen Aspekte, die Schoock darstellt, auch in der zeitgenössischen Literatur Widerhall gefunden haben, etwa die Kritik an den Frauen oder an dem linkischen Erscheinungsbild der Gelehrten in der Öffentlichkeit oder gar an der Abwegigkeit der von ihnen behandelten Gebiete. Doch ist bei der Behandlung dieser Themen ein wesentlicher Unterschied zu beachten: Während die Kritik vieler Intellektueller, Schriftsteller wie Wissenschaftler, oft ihrem satirischen Übermut entspringt – etwa bei der Karikatur des Pedanten –, ist https://doi.org/10.1515/9783111208763-001
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Vorwort
bei Schoock die persönliche Betroffenheit von der Problematik die Triebfeder der zuweilen spitzen Betrachtung. Um zwei Beispiele zu nennen: Ihm geht es nicht um satirische Kritik an den Frauen an sich, sondern nur um solche Frauen, die den Gelehrten übel mitspielen. Sokrates konnte ein Lied davon singen. Schoock geht es ferner nicht um abwegige Forschungsgebiete seiner Kollegen an sich, sondern nur darum, daß sie mit der lallans eruditio (‚geschwätzigen Gelehrsamkeit‘), wie er sagt, die Gelehrten in Verruf bringen. Didymos war das Muster. Insofern liegt ein bedeutender Unterschied zu verbreiteten Betrachtungen der Zeit vor. Die Schrift übt nicht allgemein Kritik, sondern führt die miseria vor, in der die Gelehrten immer wieder zu leben gezwungen sind. Mit der Widmung an die Vorgesetzten der Universität verfolgt Schoock zudem ein ganz bestimmtes subjektives Ziel. Was Schoocks Gelehrsamkeit betrifft, ist zu bedenken, daß er fast anderthalb Jahrhunderte nach Erasmus geboren wurde und somit auf eine lange Tradition humanistischer Bildung und Forschung zurückblickte, also nicht nur wie die ersten Gelehrten der Renaissance die (inzwischen erstaunlich gut erschlossene) antike Literatur berücksichtigen und deren Kenntnis bei den Lesern voraussetzen konnte, sondern auch das täglich wachsende Schrifttum seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Während es gewissermaßen Ehrensache war, die antiken Gewährsmänner zu zitieren, ja sich mit ihnen zu schmücken, war das bei dem neueren Schrifttum nicht der Fall. Hier nahm man die Informationen, woher man sie bekommen konnte, ohne in der Regel die Quellen anzugeben. Das ist nicht per se verwerflich oder unredlich. Daraus ergibt sich für den Kommentator humanistischer Abhandlungen die Sachlage, daß er zwar die Quellen der den antiken Literaturen entnommenen Zitate und Fakten feststellen kann, aber bei den neuzeitlichen Quellen weniger erfolgreich ist. Einen Glücksfall stellen zuweilen die von den Humanisten kompilierten Kataloge bestimmter Verfahrensweisen bzw. Sachverhalte dar: Hier ist eine Quellenbenutzung öfter einleuchtend nachweisbar (▸ S. 74–85). Leser dieser Untersuchung mögen es aber hinnehmen, wenn ihnen bei manchen Bezugnahmen Schoocks auf Ereignisse der Neuzeit nicht exakte Quellen, sondern Parallelen geboten werden, die immerhin deutlich machen, daß es sich um Allgemeingut handelt. Hier sind besonders das Werk De republica libri sex et viginti des französischen Juristen und Philosophen Pierre Grégoire (1596) und die Censura Celebriorum Authorum des englischen Politikers Thomas-Pope Blount (1690 / 1710) zu nennen. Eine wichtige Abkürzung sei vorweg erklärt: p. (‚pagina‘) meint die Seiten der Schoock-Edition von 1650 (gelegentlich auch der Vorgängerin von 1649) sowie die hier vorgelegten Erläuterungen zu diesen Seiten in den Anmerkungen. In einer Reihe von Fällen hat es kundige Wegweiser gegeben, denen an dieser Stelle aufrichtig gedankt sei. Hier werden nur die Namen genannt, vor Ort kommen sie
Vorwort
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mit ihren in der Regel elektronisch übermittelten Auskünften zu Wort. Sie werden dort ohne Quellenangabe, aber mit ausgeschriebenem Vornamen zitiert. (Bekannte moderne Übersetzer antiker Texte werden zuweilen ebenfalls mit Vornamen ohne Beleg angegeben.) Zu nennen sind: Prof. Jochen Althoff (Mainz); Prof. Andreas Bagordo (Freiburg); Prof. Anton Bierl (Basel); Prof. Jürgen Blänsdorf (Mainz); Prof. Jan Bloemendal (Amsterdam); Prof. Thorsten Burkard (Kiel); Prof. Klaus Döring (Bamberg / Freiburg); Prof. Michael Erler (Würzburg); Dr. Stefan Faller (Freiburg); Prof. Wolfgang Hübner (Münster); Prof. Heinz Gerd Ingenkamp (Bonn); Prof. Daniel Jacob (Freiburg); Prof. Dr. Robert Jütte (Stuttgart); Dr. Bernhard Knorn S. J. (Frankfurt/Main); Prof. Peter von Möllendorff (Giessen); Prof. Heinz-Günther N esselrath (Göttingen); Prof. Peter Oestmann / Dr. Konstantin Liebrand (Münster); Prof. Eckart Olshausen (Stuttgart); Doz. Christian Orth (Freiburg); Prof. Dennis Pausch (Dresden); Prof. Michael Rathmann (Eichstätt); Dr. Vera Sauer (Stuttgart); Dr. Ingo Schaaf (Freiburg i. Ü.); Prof. Ulrich Schmitzer (Berlin); Prof. Gustav Adolf Seeck (Frankfurt / Kiel); Prof. Karin Westerwelle (Münster); Prof. Georg Wöhrle / Dr. Theofanis Tsiampokalos (Trier). Erneut ist vielfacher Dank auszusprechen: den Herausgebern der ‚Frühen Neuzeit‘ (vor allem Prof. Dr. Achim Aurnhammer und Prof. Dr. Bernd Roling) für die Aufnahme der Abhandlung in die angesehene Reihe sowie wertvolle Hinweise, der Stiftung ‚Humanismus heute‘ des Landes Baden-Württemberg, besonders ihrem Vorstandsmitglied Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Zimmermann, für einen willkommenen Zuschuß zu den Druckkosten, dem Lektor Robert Forke (mit tatkräftiger Unterstützung durch Dr. Dominika Herbst) für die umsichtige Betreuung des Bandes im Verlag und dem Editor Book Production Florian Ruppenstein für die vorzügliche Erstellung des in diesem Fall besonders komplizierten Satzes, die es möglich machte, daß die zahlreichen zum Verständnis des schwierigen Textes unerläßlichen Anmerkungen nicht an das Ende des Bandes verbannt werden mußten.
Inhalt Vorwort V A. Einführung I. Zu Schoocks Vita 1 II. Das literarische Genus 5 1. miseria im allgemeinen 6 2. miseria der Gelehrten 7 3. Johann van der Wowern – ein Vorgänger 8 4. Giovanni Pierio Valeriano – ein Vorbild 10 III. Die Widmung der ersten Auflage von 1649 17 IV. Die Widmung der Orationes et Dissertationes von 1650 23 V. Aufbau 24 1. Abgrenzung der einzelnen miseriae 24 2. Formale Kriterien 27 a) Form der Rede 27 b) Antike und Neuzeit 28 c) Gliederung nach Berufen 28 d) duumviri 30 VI. Gehalt 30 1. Charakteristik der einzelnen miseriae 31 a) Seelische Leiden 31 b) Körperliche Leiden 37 c) Geringschätzung im eigenen Land 39 d) Polemik gegen die Schriften 40 e) Gelehrsamkeit und Macht 44 f) Tod 47 g) Epilog: Ermahnungen (Gelehrtenspiegel) 51 2. Übergreifende Kriterien 53 a) Lob der Philosophie 53 b) Wer sind die Gelehrten? 54 c) Soziale Stellung der Gelehrten 54 d) Fehlverhalten der Gelehrten 55 e) Frauenbild 57 f) Persönliche Grundierung 59 g) Rückgang adäquater Rezeption der Bücher in der Gegenwart 60 h) Religiöse Basis 61 VII. Stil 62 1. Gelehrtheit 62
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Inhalt
2. Fülle der Elogien 65 3. Aversion gegen Grammatici 66 4. Satire 68 VIII. Quellen 70 1. Allgemeines 70 2. Johannes Meurs 71 3. Gian Vittorio Rossi 73 4. Genannte Kataloge 74 a) Spartianus 75 b) Celio Rodigino 75 5. Ungenannte Kataloge 76 a) Cicero 76 b) Sextus Empiricus 77 c) Lilio Gregorio Giraldi 77 d) Michel de Montaigne 78 e) Louis de Cresolles 79 f) Laurentius Beyerlinck 79 g) Pierre Grégoire 80 IX. Zu dieser Ausgabe 85 1. Text 85 2. Übersetzung 86 3. Anmerkungen 86 B. Original und Übersetzung 87 C. Literaturverzeichnis 289
A. Einführung I. Zu Schoocks Vita 2021 wurde versucht, aufgrund verschiedener, teilweise älterer Überblicksartikel eine Vita und ein wissenschaftliches Profil von Marten Schoock / Martinus Schoockius (1614–1669) zu erstellen.1 Nunmehr kann eine ungewöhnlich detailreiche, bis heute nicht übertroffene Quelle herangezogen werden, der, wie sich herausstellt, ältere Kurzviten (ohne sie zu nennen) überwiegend ihre Informationen verdanken: Traiectum Eruditum, Virorum Doctrina Inlustrium qui in urbe Traiecto et regione Trajectensi nati sunt, sive ibi habitarunt, Vitas, Fata et Scripta exhibens, auctore Casparo Burmanno Trajectino. Trajecti ad Rhenum 1738.2 Der Verfasser, Kaspar Burman (1696–1755), war ein Sohn von Pieter Burman dem Älteren (1668–1741) und Bürgermeister von Utrecht. Als solcher hatte er für die Viri Doctrina Inlustres seiner Stadt Interesse. Auf diese Darstellung, die die Fakten meistens durch präzise Literaturangaben stützt, wird verwiesen. In Utrecht, wo Schoock 1636 als erster Absolvent im Fach Philosophie an der neuerrichteten Universität promoviert worden war, erhielt er 1638, 24jährig, extra ordinem eine professio Humaniorum literarum und noch in demselben Jahr einen Ruf nach Deventer ad professionem Historiarum & Eloquentiae. In Bleibeverhandlungen suchte Schoock bei den magistratus in Utrecht um dasselbe Gehalt nach, das man ihm in Deventer in Aussicht gestellt hatte, was aus allgemeinen Gründen (ne multitudo Professorum onerosa esset) abgelehnt wurde. Bezüglich der Streitigkeiten um eine gerechte Besoldung äußerte Schoock wörtlich, er sei in seinem Vaterland mehrere Jahre lang ohne seine Schuld besonders geringgeschätzt worden (se in patria per plures annos sine sua culpa negligentissimum).3 Mit diesen Vorgängen hängt sicher das Urteil von Isaac Vossius (1618–1689) zusammen, Schoock sei, weil er den Utrechtern wegen seiner hündischen Bissigkeit verhaßt gewesen sei, nach Deventer gegangen4 (canina sua mordacitate invisum Trajectinis Daventriam migrasse). Burman berichtet ferner, daß man Schoock nach Deventer berufen habe, weil er für seinen Utrechter Doktorvater, den (reformierten) Theologen Gisbertus Voetius / Gijsbert Voet (1589–1676), mit einer Schrift gegen den französischen (katholischen) Philosophen
1 Lefèvre 2021, S. 1–9. Diese Darstellung wird durch die folgenden Ausführungen nicht ersetzt, sondern erweitert. Wiederholungen werden nach Möglichkeit vermieden. 2 Hier bes. S. 324–342. 3 Burmannus 1738, S. 325. 4 Schoocks Antrittsvorlesung ist in dem Sammelband von 1650 (p. 111–138) enthalten: (Oratio) Habita in Academica Schola Daventriensi, cum Professionem Eloquentiæ et Historiarum auspicaretur. https://doi.org/10.1515/9783111208763-002
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A. Einführung
René Descartes (1596–1650) eingetreten war. Zu der Zeit sei er Voets hyperaspistes gewesen, doch bald danach zum acerrimus inimicus geworden.5 Als Schoock zwei Jahre später einen Ruf nach Groningen erhielt, führte er auch in Deventer Bleibeverhandlungen, doch ohne Erfolg. Diese mit Nachweisen belegten Auseinandersetzungen, bei denen aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen ist, auf welcher Seite jeweils die (größere) Schuld liegt, werden hier erwähnt, weil sie deutlich machen, daß Schoock die in der Schrift De miseria eruditorum beklagten Umstände schon in jüngeren Jahren – bevor er nach Groningen kam – selbst erlebt hatte. In Groningen, wohin Schoock mit 26 Jahren als ordentlicher Professor für Logik und Physik, Logicae et Physicae Professor Ordinarius,6 berufen wurde, blieb er 25 Jahre (1640–1665). Zweimal wurde er Rektor der Universität (1643 / 1644 und 1654 / 1655). Genoß er somit Reputation und Vertrauen bei seinen Kollegen (und Vorgesetzten), scheint es dennoch auch hier zu Spannungen gekommen zu sein. Jedenfalls konnte 2021 neu gezeigt werden, daß sich Schoock in der Groninger Zeit bemühte, einen Ortswechsel vorzunehmen: Er widmete die zweite Auflage des Tractatus de Butyro von 1664 Otto Graf von Schwerin (1645–1705), der Kurbrandenburgischer Geheimer Rat und Sohn des gleichnamigen Otto Graf von Schwerin (1616–1679) war, des ersten Ministers und Oberpräsidenten des Wirklichen Geheimen Rates der Kurmark Brandenburg. Grundlage für die Verbindung war der Umstand, daß der Sohn 1663 in Groningen studiert hatte.7 Nunmehr ist nachzutragen, daß Schoock offenbar zweigleisig verfahren ist. Die Schrift Respublicæ Achæorum et Veientium Juxta sua Fata in usum Præsentis Seculi deliniatæ (Trajecti ad Rhenum 1664)8 trägt folgende Widmung im Stil der Zeit:9 Illustri et generosissimo Dn. Rabano de Canstein, Serenissimi Electoris Brandenburgici Consiliario intimo, Supremo Aulæ Mareschallo, &c. Hæreditario in Canstein, Lindenberg, Schönenberg, Mollenichen, &c. Viro vere incomparabili atque bono hujus seculi nato nec minus literatissimo quam literarum, eorumque qui literas profitentur fautori summo incultum hoc opusculum ex antiqua historia in usum præsentis
5 Einzelheiten bei Lefèvre 2021, S. 3. 6 Beide Begriffe sind antik, jeweils zu ergänzen: ars. Kirschius 1774 gibt sie so wieder: Logica: ‚Vernunftlehre, Disputierkunst, Logic, welche lehret, wie man richtig denken, urtheilen, und schliessen soll‘ (Sp. 1677). Physica: ‚die Wissenschaft der natürlichen Dinge, Physic, Naturforschung‘ (Sp. 2160). Cicero, De orat. 1, 49 und Varro, Rer. rust. 1, 1, 8 nennen Demokrit einen physicus (OLD: ‘A natural scientist’; Georges: ‚Naturphilosoph‘). 7 Einzelheiten bei Lefèvre 2021, S. 4–5. 8 Sie ist später im fünften Band von Jakob Gronovs Thesaurus Graecarum Antiquitatum abgedruckt worden (1699, Sp. 2141–2208). 9 Durchgängig in Majuskeln bzw. Kapitälchen.
I. Zu Schoocks Vita
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æ v i 10 collectum L. M. Q. Offert & Inscribit Martinus Schoockius. Raban Freiherr von Canstein (1617–1680) war ein mächtiger Brandenburgischer Staatsmann, Kurfürstlicher Rat in Diensten des Großen Kurfürsten, seit 1657 Obermarschall. 1674 (also in der Zeit nach Schoocks Tod) wurde er entlassen, weil er Veruntreuungen nachgeordneter Ämter geduldet habe. Bei diesem Vorgang erfreute er sich, wie berichtet wird, der Fürsprache des „einflußreichen Oberpräsidenten Otto von Schwerin“.11 Diesem hatte Schoock in dem selben J a h r 1664 die zweite Auflage des Tractatus de Butyro gewidmet. Man darf feststellen, daß er intensiv versuchte, sich zwei mächtige einander gewogene Politiker Brandenburgs in der Hoffnung zu verpflichten, dorthin berufen zu werden – ein Ausdruck der miseria eruditi? In der Tat wurde er nicht enttäuscht, denn 1665 erreichte ihn der Ruf, den er annahm. Schoock war bestrebt, Groningen zu verlassen und zugleich eine ehrenvolle Fortsetzung seiner Laufbahn zu erlangen. Auch der zweite Punkt ging in Erfüllung: Schoock bekleidete an der Universität Frankfurt / Oder als Kurfürstlicher Rat eine besondere Professur mit dem Recht, an allen Fakultäten lesen zu dürfen und bei öffentlichen Anlässen den Vorrang vor anderen Professoren beanspruchen zu können.12 Die neue ‚Bewerbungsschrift‘, wie man sie zugespitzt nennen könnte, behandelt zwei Themen, den Staat der Achaeer (S. 3–186) und den Staat der Vejenter (S. 187–224). Damit wird eine griechische und eine römische Region in den Blick genommen. Achaea war der nördliche Teil der Peloponnes, Veji eine alte Etruskerstadt 18 km nordwestlich von Rom. Schoock behandelt Achaea bis zur Zerstörung von Korinth durch die Römer 146 v. Chr. und Veji bis zur Eroberung durch die Römer 396 v. Chr. Beide Staaten haben nichts miteinander zu tun – sowenig in der Geschichte wie in Schoocks Darstellung. Weder am Anfang noch am Ende der Abhandlung werden die Themen sachlich miteinander verknüpft. Es heißt ja auch, daß das Geschick der beiden Staaten exemplarisch vorgeführt werde (fatum […] in exemplum propositum). Wohl aber gibt es eine Art Vorwort von sechs Seiten, einen Gruß an den Leser (Lectori Salutem), in dem allgemein dargelegt wird, daß sich Geschichte wiederhole. Am Anfang steht als wörtliches Zitat Tacitus’ Erwägung, daß es in der Welt für alles gleichsam einen Kreislauf gebe,13 sowie Senecas Erkenntnis, daß keine Sache ein Ende habe, sondern alles in einem Kreislauf verknüpft sei – (zugleich) fliehe und verfolge.14 Weiterhin werden Suetons Worte über
10 Sperrung ad hoc. 11 Saring 1957, S. 126–127. 12 Lefèvre 2021, S. 4. 13 nisi forte rebus cunctis inest quidam velut o r b i s (Ann. 3, 55, 5). 14 nullius rei finis est: sed in o r b e m nexa sunt omnia, fugiunt ac sequuntur (Epist. 24, 26). Schoock zitiert Senecas Gedanken noch weiter.
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A. Einführung
Augustus’ Gepflogenheiten angeführt, daß er beim Studium der Autoren in beiden Sprachen auf nichts so geachtet habe wie auf Anweisungen und Beispiele, die für das öffentliche und private Leben heilsam waren, sie wörtlich exzerpierte und an die Vertrauten oder an die Leiter der Heere und der Provinzen oder an die Magistrate der Stadt zu schicken pflegte.15 Hierauf wird die geballte verbürgte Theorie unterbrochen und dem möglichen Einwand des Lesers (und des Widmungsempfängers!) vorgebeugt, daß man eigentlich alles schon wisse und der Belehrung gar nicht bedürfe. Das versucht der Hinweis auf das paraphrasierte wunderbare Räsonnement des alten Demea in Terenz’ Adelphoe (160 v. Chr.) zu entkräften, daß niemand seine Lebensrechnung machen könne, ohne daß ständig etwas Neues geschehe.16 Es sei allein, fährt Schoock fort, dem Leser von Geschichtswerken und zwar dem v erstä ndigen u nd u m sic h tig e n (soli historiarum lectori, sed sa p i e n t i & c i rcums pecto )17 gegeben, Entwicklungen zu sehen; er nehme nicht nur die Geschehnisse eines einzigen Zeitalters, sondern der gesamten (ewigen) Zeit wahr (nec unius seculi […] sed omnis ævi res gestas agnoscit). Das wird weiter ausgeführt, bis Schoock als Krönung seiner Argumentation die Praefatio zu Livius’ Geschichtswerk Ab urbe condita ausführlich zitiert, die in dem Gedanken gipfelt, daß man aus der Geschichte lernen könne.18 In diesem Sinn seien die Staaten der Achaeer und Vejenter umrissen, damit sie anderen als Beispiel dienen können (quo aliis in exemplum servire queant). Schoock greift sehr hoch. Mit den wörtlichen Zitaten aus Sallust, Livius und Tacitus werden die drei höchsten römischen Autoritäten auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung sowie mit Sueton der vielgeschätzte Gewährsmann für die Überlieferung persönlicher Äußerungen des Augustus zugunsten der These, daß man aus der Geschichte lernen könne, signalartig angeführt. Wer wollte dem im Jahr 1664 widersprechen?
15 in evolvendis utriusque linguae auctoribus nihil aeque sectabatur, quam praecepta et exempla publice vel privatim salubria, eaque ad verbum excerpta aut ad domesticos aut ad exercituum provinciarumque rectores aut ad urbis magistratus plerumque mittebat: prout quique monitione indigerent (Aug. 89, 2). 16 nunquam ita quisquam bene subducta ratione ad vitam fuit | quin res aetas usus semper aliquid adportet novi, | aliquid moneat: ut illa quae te scisse credas nescias, | et quae tibi putaris prima, in experiundo ut repudies (Ad. 855–858). 17 Die letzten drei Wörter sind durch Kursivdruck hervorgehoben: Canstein sollte sie nicht überlesen. 18 hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in illustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae, quod imitere, capias, inde foedum inceptu, foedum exitu, quod vites (11).
II. Das literarische Genus
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Das Vorwort an den Leser ist somit eine Huldigung an den Widmungsempfänger, der natürlich der ausgezeichnete Leser, der sapiens & circumspectus lector ist, der aus der Geschichte zu lernen vermag. Nach diesem Elogium dürfte sich Canstein besonders verpflichtet gefühlt haben, für Schoocks Berufung an die Universität Frankfurt nach Kräften einzutreten. Eine Erwägung sei noch angeführt, daß nämlich Schoock die beiden unterschiedlich umfangreichen Untersuchungen über Achaea und Veji in Umrissen in der Schublade hatte und sie nunmehr für den aktuellen Gebrauch, ohne sie aufeinander abzustimmen, fertigstellte, aber mit einem ausgefeilten gelehrten Vorwort zusammenband. Für die Möglichkeit dieses Vorgehens spricht der Umstand, daß Schoock bei dem erwähnten parallelen Verfahren, Otto Graf von Schwerin ebenfalls im Jahr 1664 eine Schrift aus demselben Anlaß zu widmen, kein neues Werk verfaßte, sondern ihm eine zw eite Au fla ge des bereits 1661 erschienenen Tractatus de Butyro widmete. Die Zeit drängte! Schließlich sind zwei Einzelheiten zu Schoocks Vita nachzutragen. 1. Der Name der zweiten Ehefrau,19 die er am 7. Januar 1665 in Groningen heiratete, ist Sophia van der Leck, Witwe des ehemaligen Bürgermeisters Arent Schoock aus Zaltbommel. 2. Eine Lesefrucht zu Schoocks Unterricht in Frankfurt / Oder lautet: „Bei der philosophischen Fakultät mangelte es zwar nicht an gelehrten Leuten, öfters aber an derselben Fleißigkeit. Diese Herren waren: der berühmte Philolog und Historikus Herr Martinus Schoockius aus Holland, mit dem es jedoch nicht recht fort wollte; deßgleichen sein Sohn, dem namentlich das Disputieren von den Studenten oft sauer gemacht ward […]“.20
II. Das literarische Genus Schoock dürfte den Titel seiner Abhandlung mit Bedacht gewählt haben. Allgemeine Klageschriften waren nicht an bestimmte Formen der Überschrift gebunden, sie konnten beliebige Themen behandeln. Hingegen ist eine beachtliche Tradition von Klageschriften zu konstatieren, die die miseria bestimmter grundsätzlicher
19 ► van Slee 1891, S. 324–325; Lefèvre 2021, S. 6. 20 Lucä 1854, S. 147. Der Sohn ist Isaacus Schoockius / Isaak Schoock, dessen Geburtsdatum öfter mit 1650 bzw. 1651 angegeben wird. Das richtige nennt wohl die Genealogische website van de familie Tjoelker-Schuurin: 8. September 1642. Er war in Frankfurt Philosophiae Practicae Professor Ordinarius, 1676 Rektor der Universität und starb 1681 (► auch Lefèvre 2021, S. 5).
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A. Einführung
Kalamitäten vorstellten, die nahezu wesenhaft mit verschiedenen Menschen verbunden waren.
1. miseria im allgemeinen Die miseria–Literatur hat eine lange Tradition, die sich im kirchlichen Bereich ausbildete. Zu ihren Anfängen gehören etwa die Schriften Soliloquiorum seu Synonymorum de angustia et miseria hominis libri duo des Erzbischofs Isidor von Sevilla (ca. 560–636) sowie im Mittelalter De miseria hominis von Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109) oder De miseria condicionis humanae des Kardinals Lotario dei Segni, des nachmaligen Papstes Innozenz III. (1161–1216, seit 1196 Papst), welche unter leicht variierenden Titeln einen großen Einfluß ausgeübt hat.21 Enea Silvio Piccolomini, der nachmalige Papst Pius II. (1405–1464, seit 1458 Papst), veröffentlichte die ‚hofkritische Briefsatire‘ De curialium miseriis epistola.22 Etwa 1475 wurde in Burgdorf (Kanton Bern) der Bernhard von Clairvaux (1090–1153) zugeschriebene Sermo de humana miseria gedruckt.23 Ein sehr verbreitetes Zeugnis, das ebenfalls in den kirchlichen Bereich gehört, ist die knappe Epistola De miseria curatorum seu plebanorum,24 die immer wieder neu gedruckt wurde (so u. a. in Leipzig, Augsburg und Straßburg 1489, Magdeburg 1490, Nürnberg um 1490, Paris 1493 / 1495, Speyer um 1495 usw.); Luther gab sie mit einer kämpferischen Vorrede 1540 in Wittenberg heraus.25 Aber auch andere Berufe wurden als ‚elend‘ angesehen. Allmählich entdeckte der Humanismus das Genus. Der Bischof und Frühhumanist Giovanni Antonio Campano (1429–1477) schrieb eine Klage in Sapphischen Strophen De miseria poetarum Sapphicum. Philipp Melanchthon (1497–1560) verfaßte 1533 eine satirische Klagerede De miseriis paedagogorum.26 Der österreichische Jurist im Dienst der Fugger in Augsburg Lucas Geizkofler von Reiffenegg (1550–1620) war
21 Sie traf aber auch auf Widerspruch, so 1452 in dem Traktat De dignitate et excellentia hominis des italienischen Humanisten Giannozzo Manetti (1396–1469). 22 ► Helmrath 2001, S. 492–494. 23 Ein Exemplar befindet sich in der Universitätsbibliothek Bern. 24 plebani = ‚Pfarrer‘. 25 ► Gesamtkatalog der Wiegendrucke (s. v. Epistola / Epistolae). 26 In ihr geht es hauptsächlich um die Undankbarkeit und Widerspenstigkeit der Schüler. Insofern ist sie keine enge Parallele zu Schoocks Klage, der sich über die Studenten nicht äußert. Auch steht Melanchthons Schrift der Satire näher als die Miseria eruditorum.
II. Das literarische Genus
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Autor einer De miseriis studiosorum declamatio, die die beklagenswerte Lage der Studenten behandelte. So ging es weiter.27 Daneben gab es ein reiches Schrifttum mit derselben Tendenz, aber ohne den Terminus miseria. Auch der Titel der Erstausgabe von Schoocks hier behandelter Schrift De Eruditorum calamitatibus remedijsque adversus illas (1649)28 steht in einer beachtlichen Tradition. So schrieb etwa der italienische Karmeliter spanischer Herkunft Battista Mantovano (1447–1516) das öfter unter variierenden Titeln gedruckte Werk De suorum temporum calamitatibus (Deventer 1497).
2. miseria der Gelehrten Die publikationsfreudigen Humanisten hatten zu Schoocks Zeit schon seit über zweihundert Jahren literarische Genera ausgebildet, in denen sie sich vertraut bewegten und die sie weiter auszubauen bestrebt waren. Über das Elend der Gelehrten zu klagen war manchen von ihnen, die selbst die Gelehrten repräsentierten, ein Bedürfnis. Sie empfanden, daß ihr Leben in der Gesellschaft – und untereinander! – oft ein Jammertal war. Dementsprechend steht Schoocks Titel in einer Tradition, die es verdiente, aufgearbeitet zu werden. Zwei Beispiele aus dem sechzehnten und dem frühen achtzehnten Jahrhundert seien genannt. Der Artium Liberalium et Philosophiae Magister zu Leipzig Virgil Wellendor29 fer schrieb 1526 einen Tractatus de miseria doctorum scholasticorum in cathedris philosophantium et in vita desipientium (!). Der Professor der Philosophie, Poesie und Physik Johann Friedrich Menz (1673– 1749), Inhaber höchster Ämter und zweimal Rektor der Universität Leipzig, hatte lange Zeit keine gehobene Position und stellte die bescheidene Lage der Gelehrten
27 Es sei angemerkt, daß Karl Marx (1818–1883) 1847 in Brüssel eine ‹Misère de la philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon› veröffentlichte. 28 ► S. 17. 29 Wellendorfer ist schwer zu fassen. Kobolt 1795, S. 738 hat nur einen kurzen Eintrag, dafür aber ein 11 Titel umfassendes Werkverzeichnis, nicht ohne zu bemerken, diese Schriften seien alle sehr rar. Über Wellendorfer berichtet Titius 1763, S. 13: „Es hat auch M. Virgil. Wellendorfer, ein Salzburger von Geburt, damals dialect. Prof. zu Leipzig, um diese Zeit (nämlich im Jahr 1526), eine Schrift dieses Titels abgefasset: Annotatio peregrina ad Dei cultum exiguamque nonnullorum Scholasticorum commemorationem, in qua vitae XXIV Assessorum et Professorum Facultatis philosophicae A. 1516 Lipsiae commorantium breviter delineantur et recensentur.“ Der Benediktiner Thaddaeus Anselm Rixner (1766–1838) nennt Wellendorfer „einen nicht unberühmten Vielschreiber“ und gibt ein bemerkenswertes Schriftenverzeichnis (1835, S. 8–9). Weiter teilt Zillner 1871, S. 174 mit: „[…] ging Virgil Wellendorfer aus Salzburg nach Leipzig, wurde dort Lehrer an der Artistenfakultät und schrieb (1507) das seltene Buch über die Witterung (de metheorologicis [sic] impressionibus).“
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A. Einführung
in einem Programm De eruditorum miseriis, eorumque causis (Leipzig 1725) dar.30 Titel und Inhalt stehen Schoocks Schrift nahe. Das mag genügen.
3. Johann van der Wowern – ein Vorgänger Ein Vorgänger Schoocks war in gewisser Weise Johann van der Wowern / Joannes a Wower / Joannes Voverius (1574–1612), dessen Vorfahren väterlicherseits aus den Niederlanden stammten. Nach einem bewegten Leben in verschiedenen Ländern, in denen er mit bedeutenden Humanisten persönlich bekannt geworden war, wurde er 1608 Geheimer Kammerrat in Gottorf.31 Das Hauptwerk De polymathia tractatio: integri operis de studiis veterum ἀποσπασμάτιον erschien 1603 in Hamburg und wurde nach seinem Tod 1665 in Leipzig mit einer sehr instruktiven Praefatio des Rektors der Thomasschule Jakob Thomasius (1622–1684) neu gedruckt. In dieser Schrift geht es um die verschiedenen Zweige der Artes liberales: Grammatica, Dialectica, Rhetorica, Arithmetica, Musica, Geometria – ‚Finis et Princeps‘: Philosophia.32
30 Die Umstände werden ausführlich von Hirsching 1800, S. 253 berichtet: „Menz hatte bereits 27 Jahre auf der Universität Leipzig zugebracht, ohne zu einer Profession gelangen zu können. Endlich erhielt er 1725 ein ordentliches Lehramt der Philosophie, jedoch ohne Sitz und Stimme in der Philosophischen Facultät zu haben, und trat solches mit einer Rede de contemtu Philosophiae an, wozu er mit einer Schrift de eruditorum miseriis, eorumque causis, einlud. In diesem Posten blieb er 5 Jahre, bis er nach dem Tod des Prof. Ernesti im Jahre 1730 ordentlicher Professor der Poesie, und 1739 von dieser zur physischen Profession befördert ward. Nachher erhielt er auch obige Aemter [► daselbst], bis er endlich am 29. Sept. durch einen Schlagfluß in ein besseres Leben befördert wurde.“ Es folgt daselbst eine ausführliche anerkennende Würdigung der weiteren Tätigkeit. 31 Er gab Briefe von Justus Lipsius in dessen Auftrag postum heraus (► Jan Papy. In: Sarah Knight, Stefan Tilg 2015, S. 176). 32 Aufschlußreich ist die Würdigung, die August Boeckh von dem Autor gegeben hat (in: Bratuscheck 1886, S. 37, Sperrungen nicht wiedergegeben): „Den ersten Versuch einer encyklopädischen Darstellung der Philologie kann man finden in einer Schrift von Johann van der Woweren (Wower oder Wouwer, Wowerius) von Hamburg: De polymathia tractatio, integri operis de studiis veterum ἀποσπασμάτιον, zuerst herausgegeben Hamburg 1604 [richtig 1603], zuletzt von Jacob Thomasius 1665 und in Gronov: Thes. Gr. antt. T. X. Wower war ein Mann, der auch in Staatsgeschäften gross war und ausser seiner Erudition durch seine liberalen Ansichten ausgezeichnet ist. Die Schrift ist ursprünglich zur Vertheidigung der Polymathie geschrieben, weil man Wower einen Grammaticus schalt. Wiewohl nun dieses Werk keine wirklich umfassende Darstellung der Philologie giebt, so verdient es doch noch jetzt Erwähnung. Es ist freilich so angelegt, dass es als System keine Kritik verträgt; es enthält zwar durchweg feste Begriffe und einen grossen Schatz von Gelehrsamkeit, aber es fehlt darin der systematische Geist, welcher jener Zeit nicht eigen war,
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Wowern legt seine Wissenschaftslehre akribisch dar und greift, ohne das im einzelnen zu vermerken, in lebhafte Diskussionen ein. Caput I beginnt mit einer Abhandlung gegen die Neider und Verleumder (Dissertatio adversus invidos, & calumniatores)33 und schließt mit der Erklärung, es werde dem Neid und der Dummheit derer, die keine Ahnung hätten (invidia & stupor imperitorum),34 entgegengetreten. Es folgt die hochgelehrte Tractatio, deren Caput XXXI in den folgenden Satz mündet: Depugnatum est pro Musis adversus ineruditos, qui malignè declinant crimen ruditatis, & imperitiæ, dum confugiunt ad vituperia illorum, quæ ignorant [Gekämpft wurde für die Musen gegen die Ungebildeten, die den Vorwurf der Unwissenheit und Unerfahrenheit arg abweisen, dieweil sie Zuflucht nehmen zum Tadeln dessen, was sie nicht verstehen]. Dasselbe wirft Schoock den Kritikern vor.35 Ein zweiter Gesichtspunkt verdient Beachtung. Das Vorwort des Neudrucks von Jacobus Thomasius berichtet, daß Wowern über Vorwürfe klagte, er habe mit seiner Polymathia ein unediertes Werk von Casaubonus (1549–1614) bearbeitet!36 Er war also von Beschuldigungen der invidi und calumniatores, die er allgemein behandelt, selbst betroffen.37 Wenn Schoock das Werk kannte, könnte es ihn in zweierlei Hinsicht angeregt haben – darin, die Wissenschaften nach Sachgebieten zu behandeln, und darin, die Kalamitäten, denen die Wissenschaftler ausgesetzt sind, anzuprangern. Jedenfalls werden hier verwandte Bestrebungen sichtbar. Ein direkter Hinweis, daß Schoock Wowern benutzt hat, ist möglicherweise dessen Nachricht, daß Zenon, der Gründer der Stoa, einen Commentarius de trullarum usu in fundendo vino geschrieben habe (► p. 428). Die Frage, woher sie ursprünglich stammt, ist nicht zu beantworten (► z. St.), wohl aber ist klar, daß Schoock sie sowie die weitere Nachricht, daß Zenon eine Liebeskunst verfaßt habe, bei Wowern finden konnte. Bei diesem heißt es im 19. Kapitel: Et quod mireris
wiewohl Wower noch zu den am meisten systematischen Köpfen derselben gehört. Manches findet man indess bei ihm, was man später nicht hätte vernachlässigen sollen, z. B. die Art, in welcher er die Rhetorik in seine Polymathie hineinzieht.“ 33 1665, S. 1–16. 34 1665, S. 16. 35 ► S. 41. 36 Thomasius druckt einen Brief von Casaubonus an Joannes à Witten anläßlich Wowerns Tod ab, der sicher anders ausgefallen wäre, wenn die Vorwürfe berechtigt gewesen wären. 37 Thomasius berichtet überdies, daß Wowern auch auf Kritik eingegangen sei, die seine früheren Arbeiten gefunden hätten.
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Zenonis illud Stoicum supercilium eò se dimittere potuit, ut conscriberet τέχνην ἐρωτικὴν & Διατριβὴν de usu trullarum in fundendo vino.38
4. Giovanni Pierio Valeriano – ein Vorbild Zwei Jahre vor Schoocks Dissertatio oratoria de eruditorum calamitatibus remedijsque adversus illas von 1649 erschien der Neudruck einer verwandten Abhandlung: Johannis Pierii Valeriani Bellunensis De literatorum infelicitate libri duo,39 Amstelodami 164740 – gewissermaßen vor Schoocks Haustür. In diesem Werk entsprechen die literati den eruditi Schoocks, der selbst öfter ohne Bedeutungsunterschied von literati spricht. Autor der Schrift war der unter variierenden Namen bekanntgewordene italienische Humanist und Theologe Giovanni Pierio Valeriano Bolzanio aus Belluno (1477–155841), der in Rom die cattedra d’eloquenza am Collegio Romano bekleidet und lateinische Dichtungen sowie als Hauptwerk die öfter neugedruckten Hieroglyphica sive de sacris Aegyptiorum aliarumque gentium litteris commentariorum libri LVIII (Basel 1556) verfaßt hat. De literatorum infelicitate wurde zuerst postum im 17. Jahrhundert auf Initiative des Bischofs von Belluno Luigi Lollino (1552–1625, seit 1596 Bischof) gedruckt: Joannis Pierii Valeriani […] De Litteratorum infelicitate libri duo, ejusdem Bellunensia, nunc primum e bibliotheca Lolliniana in lucem edita, Venetiis 1620. Wenn man eine etwas kühne Vermutung wagen darf, könnte man aus diesem Umstand auf einen nicht unerheblichen Anteil persönlichen Empfindens des sein Werk nicht publizierenden Autors schließen. Von welchem Pessimismus die Betrachtungen durchzogen sind, macht das Vorgespräch zwischen den wie in Athenaios’ Deipnosophistai zusammengekommenen Freunden deutlich. Dort heißt es, nachdem die Verhältnisse in Rom geschildert sind: Longè igitur miseriùs, atque flebiliùs est, per universam etiam Europam ætate nostra bonas literas ita fatorum inclementiâ vexatas, ut nulla jam provincia sit, civitas nulla, nullum oppidum, in quo quadragesimo abhinc anno non aliqua insignis calamitas in hoc hominum genus incubuerit. Ita nostro sæculo tempestas hæc in optimos quosque effusa est, atque
38 1665, S. 213. Es ist zu bemerken, daß Schoock nur die Ausgabe von 1603 benutzt haben kann. Eine gemeinsame Quelle ist nicht auszuschließen. 39 Die beiden Bücher sind durchpaginiert. 40 Dieses Werk ist 1999 von Julia Haig Gaisser neu ediert worden (► Literaturverzeichnis). 41 Das Sterbedatum 1558 oder 1560 wird bei WorldCat angegeben, https://id.oclc.org/worldcat/ entity/E39PBJjhCQV3pgtcVRPpWgw6Kd, letzter Zugriff: 20.03.2023.
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adeò non nostras tantùm regiones, sed & universum terrarum orbem, omnifariæ doctrinæ luminibus orbavit. Videtis enim, auditisque passim bonos omnes indignissimis ærumnarum omnium casibus afflictos, paucissimósque admodum enu- | merare possumus, qui felici usi vel vitâ, vel senio, leniori mortis genere occubuerint; &, ut vera vobis fatear, quoniam hæc iniquioris fortunæ tela literatos præcipuè conficere videntur, quamvis ego horum hominum industriam, & virtutes unicè amem, observémque, eorum tamen offensus damnis, ærumnosissimam42 rerum omnium arbitror scire literas. Ætate autem nostrâ boni omnes perpetuâ quadam calamitate exagitati, aut vitam, aut mortem sortiti sunt infelicissimam. Nam eos tantùm ante oculos mihi propono, quorum, dum viverent, virtus nobis in conspectu clara, celebrisque fuit; quorum si vitam, aut exitum memoriâ repetamus, omnes ferè vel insuaviter vixisse aut vitâ miserabiliter decessisse comperiemus. [Es ist also bei weitem elender und beweinenswerter, daß sogar durch das gesamte Europa hin in unserer Zeit die angesehenen Wissenschaften so von der Härte des Schicksals geplagt worden sind, daß es keine Gegend mehr, keine Bürgerschaft, keine Stadt gibt, in der nicht in den letzten 40 Jahren ein bedeutendes Unglück dieses Menschengeschlecht heimgesucht hat. So ist in unserer Zeit dieses Unwetter gerade über die Besten hereingebrochen und hat allzumal nicht nur unsere Gegenden, sondern auch den ganzen Erdkreis der Lichter der vielfältigen Gelehrsamkeit beraubt. Denn ihr seht und hört allenthalben, daß alle Guten von den unwürdigsten Ereignissen aller Plagen betroffen sind, und wir können nur ganz wenige aufzählen, | die ein glückliches Leben oder Alter gehabt haben und auf eine sanftere Todesart gestorben sind; und, damit ich euch die Wahrheit sage: Da ja diese Geschosse der allzu ungerechten Fortuna die Wissenschaftler besonders zugrundezurichten scheinen, halte ich, obwohl ich den Fleiß und die Fähigkeiten dieser Menschen außerordentlich liebe und schätze, doch durch deren Niederlagen aufgebracht, für die plagevollste aller Begebenheiten, die Wissenschaften zu beherrschen. In unserem Zeitalter haben alle Tüchtigen, von einem dauernden Unheil verfolgt, ein sehr unglückliches Leben oder Ende erlost. Ich stelle mir nämlich nur die vor Augen, deren Vorzüglichkeit, solange sie lebten, uns klar vor dem Angesicht und gefeiert war; wenn wir deren Leben oder Tod in der Erinnerung wiederholen, werden wir dessen innewerden, daß fast alle entweder nicht angenehm gelebt haben oder elendiglich aus dem Leben geschieden sind.]
Das war eine von geballtem Pessimismus bestimmte Einführung zu der Darstellung der literatorum infelicitas, die Schoock, man ist versucht zu sagen: zu seiner Darstellung der eruditorum calamitates43 inspirieren, wenn nicht gar anstacheln mußte. Sicher gibt es unter den literati bzw. eruditi im allgemeinen viele infelices bzw. miseri. Daher fällt in besonderem Maß auf, daß Valeriano eine Reihe von Intellektuellen (wie hier verallgemeinert gesagt sein mag) ausführlich behandelt, die
42 1647 / 1821 (Neudruck Genf) ærumnosissimum. Lef. ærumnosissimam. 43 Die calamitates werden im Titel der Fassung von 1649 hervorgehoben.
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wenig später auch bei Schoock aufscheinen (z. T. in anderen Zusammenhängen). Genannt seien: Angelus Caesius (S. 146–147 / p. 450), Angelus Politianus (S. 115–116 / p. 397 / 398 / 450), Gabriele Zerbi (S. 63–67 / p. 458–459), Georgius Valla (S. 42–47 / p. 397–398), Hercules Stroza (S. 32–33 / p. 450), Hermolaus Barbarus (S. 12–13 / p. 90), Josiphon Samuelis filius (S. 30–32 / p. 479), Theodorus Gaza (S. 134–135 / p. 386–387) – soweit sie im Inhaltsverzeichnis als eigene Porträts ausgewiesen sind. In der fortlaufenden Behandlung treten weitere hinzu. Valeriano hat nur Vertreter der Neuzeit im Blick. Schoocks Schema, Antike und Neuzeit gleichwertig – die erste die zweite inspirierend – nebeneinanderzustellen, ist nicht vorgezeichnet. Wie ähnlich der Duktus beider Darstellungen ist, möge zunächst die Erzählung von Ermolao Barbaro zeigen, die Schoock p. 390 bietet.44 Sie lautet bei Valeriano folgendermaßen (S. 12–13):45 Et ut ab optimis incipiam, Hermolaus Barbarus Orator, Senatorque vester optimus, Contarene, vir, quod omnes fatentur, ætate suâ litteratissimus, eo ipso tempore, quo aliquam studiis suis quietem se adsecutum arbitra- | batur, dum Romæ apud Alexandrum Sextum, Pontificem Maximum, Venetæ nobilitatis nomine Oratorem agit, summisque vigiliis intermortuam bonarum literarum, neque non & disciplinarum gloriam suscitat, ob susceptum inconsulto Senatu suo Aquilegiense sacerdotium, exsul factus, & de possessione ejectus, vitam inopem aliquandiu traxit, Alexandri pontificis summi sportulâ quodammodo sustentatus, paucis verò post mensibus pestilentiâ contactus, desertus ab omnibus, infelicissimo mortis genere oppressus est: quique laudatione, & eloquentiâ suâ innumeros ætatis suæ homines illustraverat, & funere, & honore sepulchri ita defraudatus est, ut ubi sepultus, quòve hominis cadaver conjectum fuerit, ignoretur. [Und damit ich mit den Besten beginne: Ermolao Barbaro, Euer bester Redner und Senator, Contareno, der in seinem Zeitalter, was alle bekennen, gelehrteste Mann, wurde gerade zu der Zeit, in der er glaubte, etwas Ruhe für seine Studien erreicht zu haben, während er in Rom bei Alexander VI., dem so großen Papst, im Auftrag des venezianischen Adels als Gesandter tätig war und in äußersten Nachtwachen den hinsterbenden Ruhm der Wissenschaften und Bildungsdisziplinen zum Leben erweckte, wegen der Übernahme des Priesteramtes in Aquileia (ohne seinen Senat zu konsultieren) verbannt und aus seinem Besitz geworfen und führte eine ziemliche Weile ein mittelloses Leben, durch eine Spende des so hohen Papstes Alexander einigermaßen unterstützt. Aber nach einigen Monaten wurde er mit der Pest infiziert und, von allen verlassen, auf die unseligste Art des Todes zur Strecke gebracht. Der mit seiner Lobrede und Beredsamkeit unzählige Menschen seiner Zeit verherrlicht hatte, wurde so um das Leichenbegängnis und die Ehre eines Grabes gebracht, daß man nicht weiß, wo er bestattet ist oder wohin der Leichnam des Mannes geworfen wurde.]
44 Zu den Einzelheiten des Hintergrundes ► die Erläuterungen zur Stelle. 45 Es handelt sich um einen einzigen Satz! Die unterstrichenen Phrasen kehren bei Schoock wieder.
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Eine dramatisch reihende Erzählung, doch mit Anteilnahme verfaßt. Ermolaos Fehler, daß er das Patriarchat von Aquileia antrat, ohne den Senat von Venedig zu konsultieren, wirkt als Tatsache. Ebenso verhält es sich bei Schoock, der die Geschichte noch knapper darbietet. Es ist nicht auszuschließen, daß Valerianos Version Schoock bekannt war und ihn angeregt hat. Ein zweiter Fall läßt dasselbe Verhältnis zwischen Valeriano und Schoock vermuten. Über die calamitosissima Gabrielis Zerbi Veronensis Medici mors, das schlimme Ende des Veroneser Arztes Gabriele Zerbi, berichtet Valeriano wiederum ausführlicher als Schoock (S. 63–65): Fuit is in Patavino Gymnasio professor valde celebris, cujus promptissimum ingenium, & intrepida ob doctrinam confidentia Romanis etiam vestris tunc innotuit, cùm in frequentissimo Philosophorum, Theologorumque conventu, ubi de re valde seria agebatur, ausus est Pontifici Max. disputanti imperitiam objectare, quâ ille offensus intemperantiâ, quòd majestatem suam ita contemptui habuisset, erat in hominem graviter animadversurus. Sed enim Pontificis cognito consilio clam statim urbe aufugit, Pataviique mox per annos multos professus est. Accidit autem, ut Scander Turcarum Regis Primipilaris vir gravissima disenteria laboraret, quæsieritque percognitissimum sibi hominem Andream Gritteum,46 qui nunc Princeps noster est, ut Medicus ex Italia ad se quam primùm mitteretur, ingentia itineris, laborum, | & curæ præmia reportaturus. Suscepit provinciam Zerbus, et immensum auri pondus spe vorans, ad Scanderum proficiscitur, secumque filiolum adhuc impubem adducit. Curat principem hunc Zerbus diligenter, & pristinae reddidit incolumitati, donatur mox multo auro, vestibus & gemmis, & argenteis pateris, & carchæsiis,47 aliâque suppellectili locupletatur, ut si domum ea omnia asportare licuisset, unumquemque Europæ Regem instrumento fuerit provocaturus. Benè autem res acta erat, fatebatúrque Princeps & vitam, et salutem sibi hominis hujus curatione partam, acceptísque ab eo de reliquæ vitæ ratione præceptis, commeatum dederat. Ille jumentis oneratis ad finitimum quoddam Turcarum castellum, unde in Dalmatiam diverteret, se recipit, pauculósque ibi dies moratur, dum præsidium itineris ex Christiani nominis hominibus accersitur, quæ omnia pacatissimè, & fide utrinque datâ acceptâ transigebantur. Accidit autem, | ut Scander præceptorum immemor, & naturâ ipsâ minimè continens, dum libidinem suam explere pergit, in majorem recideret ægrotationem, qua brevissimo temporis spaciolo consumptus interiit. Filii, ut in preciosa illa munera, quæ pater Zerbo dederat, invaderent, temporarium venenum à Medico patri datum calumniantes, percussores expeditissimos immiserunt, qui fugientem, ut ajebant, è fuga retraherent. Illi captum Zerbum, & unà filium adolescentem indicta causa eo supplicii genere affecerunt, ut primum immeritissimum filium ante patris oculos inter duas ex ligno tabulas inclusum, serrâ medium dissecarent, mox ipsum quoque tormento eodem atrocissimo trucidarent. [Dieser war an Paduas Hochschule ein hochberühmter Professor, dessen sehr schneller Verstand und wegen seiner Gelehrsamkeit unerschrockenes Selbstvertrauen damals sogar Euren Römern bekannt geworden ist, als er in einer sehr gut besuchten Versammlung von Philoso-
46 Andrea Gritti (1455–1538, Doge von Venedig (1523–1538). 47 1647: carohæsiis. 1821: carohæsijs. Lef. carchæsiis.
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A. Einführung phen und Theologen, wo über eine sehr ernste Sache verhandelt wurde, wagte, dem disputierenden Papst Unkenntnis vorzuwerfen; von dieser Maßlosigkeit beleidigt, war dieser, weil seine Majestät so verachtet worden war, im Begriff, gegen den Mann heftig vorzugehen. Als allerdings die Absicht des Papstes bekannt geworden war, floh er sofort heimlich aus Rom und übte seinen Beruf bald darauf viele Jahre in Padua aus. Es begab sich aber, daß Scander, der Erste Minister des Türkenkönigs, an einer sehr heftigen Dysenterie litt und Andrea Gritti, einen ihm sehr gut bekannten Mann, der jetzt unser Erster ist, ersuchte, daß ihm so bald wie möglich ein Arzt aus Italien geschickt würde, der einen außerordentlichen Lohn für die Reise, die Mühen | und die Heilung nach Hause bringen werde. Den Auftrag übernahm Zerbi und, eine gewaltige Menge Goldes in der Hoffnung (in Gedanken) gierig einsaugend, bricht er zu Scander auf und führt seinen noch nicht erwachsenen Sohn mit sich. Zerbi heilt diesen Fürsten umsichtig und gibt ihn seiner früheren Wohlbehaltenheit zurück; bald darauf wird er mit viel Gold beschenkt, mit Gewändern und Perlen und mit silbernen Schalen und Trinkgefäßen, und mit anderen Schätzen wird er ausgestattet, so daß er, wenn es erlaubt gewesen wäre, das alles nach Hause zu bringen, jeden einzelnen König Europas mit dem Zierrat herausgefordert hätte. Gut war die Angelegenheit erledigt, und der Fürst bekannte, Leben und Gesundheit sei ihm durch die Behandlung dieses Mannes (neu)geboren; und nach Empfang von Vorschriften von diesem über die Art und Weise des ferneren Lebens hatte er ihm die Erlaubnis gegeben zu gehen. Der begab sich mit den beladenen Lasttieren zu einem benachbarten Kastell der Türken, von wo er nach Dalmatien abreisen wollte, und blieb dort einige Tage, bis ein Reiseschutz von christlichen Männern herbeigeholt worden war – was alles sehr friedlich und unter gegenseitiger Gewährleistung auf beiden Seiten durchgeführt wurde. Es geschah aber, daß Scander, der Vorschriften nicht eingedenk und nach seiner Natur ganz und gar nicht enthaltsam, während er darin fortfuhr, seine Begierde zu erfüllen, in eine größere Erkrankung zurückfiel, durch die er innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums aufgerieben wurde und starb. Seine Söhne klagten, um Zugang zu jenen Geschenken, die der Vater Zerbi gegeben hatte, zu gewinnen, fälschlich an, ein nur eine Zeitlang wirkendes Gift48 sei von dem Arzt dem Vater gegeben worden, und schickten schlagfertigste Mörder los, die den, wie sie sagten, Fliehenden von der Flucht zurückholen sollten. Sie machten dem gefangenen Zerbi und mit ihm dem jungen Sohn den Prozeß und bestraften sie derart, daß sie zuerst den völlig unschuldigen Sohn vor den Augen des Vaters zwischen zwei Holzbretter einschlossen und mit einer Säge mittendurch sägten, hierauf auch ihn selbst mit derselben gräßlichsten Marter hinmetzelten.]
Vergleicht man die beiden Erzählungen von Valeriano und Schoock, vermittelt sich spontan der Eindruck, daß Schoock eine abgekürzte Version von Valerianos Gestaltung verfaßt. Das ist zwar nicht beweisbar, aber die Annahme, daß beide eine gemeinsame Quelle wiedergeben, stellt angesichts ihrer zeitlichen Nähe sicher die schwierigere Hypothese dar. Schließlich sei eine dritte Erzählung aus Valeriano angefügt, über die sonst nichts zu finden ist, was zu der Vermutung Anlaß geben könnte, daß Schoock von ihr angeregt worden ist – sie freilich wiederum stark verkürzend (S. 30–32):
48 D. h. später nicht nachzuweisendes Gift.
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Addam his Josiphonta Samuelis, quo Iulius Secundus Pont. Max. assiduè usus est Medico, filium, qui Philosophiæ, & Mathematicis impensissimam operam navaverat, literis Hebraicis sub ipso patre mirificè profecerat, neque patriâ eâ contentus eruditione, Græcas etiam affectaverat, Latinas autem ita didicerat, ut et vorsæ, & prosæ orationis candore, & elegantiâ, æquales omnes Romæ provocaret, æquumque cum universa juventute pedem ferret. Moribus ad hæc integerrimis præditus erat, ut nihil in juvene præter Christianæ pietatis cognitionem desiderares. Is autem iniq̀uissimis, atque acerbissimis incommodis, multisque jacturis, & bonorum suorum direptionibus, afflictus. Nam statim post patris obitum fortunas suas eò dissipari sensit, quo paternus servus arcâ ejus nummariâ perfractâ multis nummorum aureorum millibus surreptis, Byzantium usque profugit. | Eum subsecutus Iosiphon non modo exclusus est à portu, profugioque omni, sed etiam injuriæ vulnere confossus, quod à mendacissimo eodem furaci49 servo pro Pontificis Romani exploratore delatus, ægrè vitam à Turcarum crudelitate defendit. Re demum infectâ, fortunâque modis omnibus eâ peregrinatione miserabiliter afflictâ, Romam se receperat, cùm ecce haud multos post annos calamitosissima Romæ tempora accidere. Ita ille sceleratissimo latrocinio expoliatus, captus, excruciatus, quæ temporis illius fuere miserrima quæque perpessus est, cùmque à latronibus quatuor die noctuque custodiretur, qui magnam ab eo pecuniarum vim efflagitabant, intempestâ nocte custodiis somno, vinoque sepultis, unam interiorem lini indutus tunicam, nudis pedibus incedens fefellerat, & Tybur versus arrepto itinere in Varronis vicum aufugerat. Ibi sæviente pestilentiâ cùm statim contactus esset, oppido ejicitur, & in agrum relegatus, ubi tugu- | riolo angustissimo contectus, cùm neminem haberet, qui vel aquæ haustum subministraret, miserrima fame, sitique potiùs, quàm morbi truculentiâ50 superatus interiit.
[Diesen will ich Josiphon anfügen, Samuels, den Papst Julius II. beständig als Arzt gebraucht hat, Sohn, der der Philosophie und den mathematischen Wissenschaften aufwendigste Mühe gewidmet hatte, in den hebräischen Wissenschaften direkt unter dem Vater in bewundernswerter Weise fortgeschritten war und, mit dieser väterlichen Unterweisung nicht zufrieden, sogar die griechischen in Angriff genommen, die lateinischen aber so gelernt hatte, daß er durch den Glanz und die Eleganz gebundener und ungebundener Rede alle Altersgenossen in Rom herausforderte und mit der gesamten Jugend gleichen Schritt hielt. Dazu hatte er integerste Sitten, so daß man bei dem jungen Mann nichts außer der christlichen Barmherzigkeit vermißte. Er wurde aber von übelsten und bittersten Schäden und vielen Verlusten und Diebstählen seiner Güter heimgesucht. Denn gleich nach dem Tod des Vaters bemerkte er, daß sein Vermögen dadurch verschleudert wurde, daß ein Sklave des Vaters dessen Geldkasten aufgebrochen und viele tausend Goldmünzen gestohlen hatte und bis nach Byzanz geflohen war. | Iosiphon, der ihn verfolgt hatte, wurde nicht nur vom Hafen und von jeder Flucht ausgeschlossen, sondern sogar von einer Wunde des Unrechts tief getroffen, weil er von demselben so lügenhaften diebischen Sklaven als ein Kundschafter des römischen Papstes angeklagt wurde und nur mit Mühe sein Leben vor der Grausamkeit der Türken verteidigte. Weil die Sache schließlich offenblieb und das Vermögen bei dieser Reise auf jede Weise elendiglich zerrüttet worden war, war er nach Rom zurückgekehrt, als wenige Jahre später unvermutet in
49 Die Form furari (1647 / 1821) ist klassisch nicht belegt, hingegen bietet Cic. De orat. 2, 248 furaci servo. 50 Druck: turculentiâ.
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A. Einführung Rom unheilbringende Zeiten eintraten. So wurde er bei einer verbrecherischen Straßenräuberei ausgeplündert, gefangengenommen, gefoltert und erlitt gerade die elendesten Dinge, die zu jener Zeit geschahen; und obwohl er von vier Räubern, die eine große Menge Geld von ihm forderten, Tag und Nacht bewacht wurde, hatte er in tiefer Nacht, als die Wachen von Schlaf und Wein überwältigt waren, nur mit einem Unterhemd aus Leinen bekleidet und barfuß gehend, (sie) getäuscht und war Richtung Tiber eilends zum vicus Varronis geflohen. Als er von der dort wütenden Pest angesteckt worden war, wurde er aus der Stadt geworfen und aufs Land verbannt, wo er, von einer sehr dürftigen Hütte geschützt, starb, weil er niemanden hatte, der ihm einen Schluck Wasser darbot, von elendigstem Hunger und Durst mehr als von der Grimmigkeit der Krankheit überwunden.]
Schoock erzählt die Geschichten von Zerbi und Josiphon unmittelbar nacheinander. Man könnte zu der Annahme gelangen, daß er in Valerianos Buch geblättert habe. In diesem folgt die Erzählung von Ercole Strozzi, die ebenfalls bei Schoock begegnet. Schoock hat das von Valeriano ausführlich und mit Pathos geschilderte Schicksal Josiphons in knappen Zügen dargestellt. Das einzige Faktum, das nur bei ihm, nicht aber direkt bei Valeriano begegnet, ist der Hinweis auf die Plünderung Roms während des Sacco di Roma, womit die Begebenheit historisch eingeordnet wird. Aber gerade diesen Umstand hat Valeriano im letzten Satz der vorhergehenden Episode erwähnt! Zum Bekanntwerden der Schrift De literatorum infelicitate in Holland hat sicher beigetragen, daß der Amsterdamer Verleger / Drucker Cornelius Joannis51 das Buch dem Amstelodamensis Reipublicæ Consul Guilielmus Bacckerus52 persönlich widmete und ihn bat, es nördlich der Alpen zum erstenmal bekanntzumachen: Das, was 1620 der Bischof von Belluno für das Werk in Italien getan habe, möchten seine virtus und seine auctoritas hierzulande bewirken. Es bedarf keiner großen Phantasie für die Annahme, daß ein Exemplar des Neudrucks 1647 oder 164853 von Amsterdam nach Groningen gelangt ist.
51 Bibliopola prope novum Templum ad Scholas Latinas. 52 Nach Jan Bloemendal handelt es sich vermutlich um den Bürgermeister (Consul) Willem Backer (1595–1652), der in den Jahren 1638, 1642, 1645, 1647 und 1651 Bürgermeister von Amsterdam gewesen ist. Er war somit ein hochangesehener Mann (zudem ‚Scholarch‘ der Lateinschulen). 53 Schoocks Vorwort nennt als Datum d. x. Ianuarij, die erste Auflage seiner Schrift ist also 1648 verfaßt.
III. Die Widmung der ersten Auflage von 1649
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III. Die Widmung der ersten Auflage von 1649 Schoock hat die in dem Sammelband von 1650 enthaltene Rede schon ein Jahr früher in Groningen separat veröffentlicht: Martini Schoockij Ultrajectini In Acad. Gron. & Ommelandiæ Profess. Ord. Dissertatio oratoria de Eruditorum calamitatibus remedijsque adversus illas. Gedruckt wurde sie von dem bekannten Groninger Drucker Ioannes Sassius / Johannes Sas (seit 1614 Typographus Ordinarius in Groningen). Die Widmung ist aufschlußreich:54 NOBILISSIMIS, AMPLISSIMIS, CONSVLTISSIMISQVE VIRIS
D. HENRICO ab HEECK Consuli inclytæ reip. Groninganæ gravissimo.55
D. OTTONI FARMPSUM In eadem repub. Senatori.
D. JODOCO HENSIO Syndico & consiliario Ommelandiæ meritissimo.
Academiæ Groningæ & Ommelandiæ Curatoribus vigilantissimis, patronis & Mecenatibus plurimum observandis. Ita fere usu venit, Nobilissimi, Amplissimi viri, qui alijs sapientia præstare deberent, à populari judicio vix abeunt, rerumque pretium æstimant à felicitate, qua suos possessores beare solent: hinc plurimi præstantium virorum similitudinem haut affectandam existimant, quod deterreantur calamitatibus, quibuscum conflictati fuere. Alia vero sententia eis semper sedit, qui non nisi ex sapientiæ præscripto judicij calculum ferunt. Vti enim amantes ipsa amicarum balbutie atque pallore afficiuntur, & Araspem lacryma quoque ac mæror afflictæ Pantheæ incendebant, uti testis est Xenophon; ita hi virtutis ac doctrinæ incommoda, utramque ut plurimum comitantia, spernunt; nec Socratis paupertate, Anaxagoræ carcere, Phocionis damnatione, exilio Aristidis deterrentur à cupiditate, sublimes eorum virtutes æmulandi. Quid mirum? Quod corporis humani vitia sentimus & patimur, (verba sunt Minutij Felicis) non est pœna: militia est. Fortitudo enim infirmitatibus roboratur, & calamitas sæpius disciplina virtutis est. Vires denique & mentis & corporis sine laboris exercitatione torpescunt: omnes adeo viri fortes, quos in exemplum prædicatis, ærumnis suis inclyti floruerunt. Ignem Pyrites lapis habet, sed attritu solò explicandum; nec odorem aromata, nisi pressa diffundunt: pari ratione magna indoles nisi in cursu malorum dispergit virtutem famamque; nec ijs inclinatur, sed stabilitur, haud aliter ac columna imposito onere firmatur, dummodo recta sit. Quæ cum nuper attentius inter varias solicitudines animo perpenderem, sub manum nata est hæc Dissertatio, cui ut splendoris quid
54 Kursiv- und recte-Druck nach dem Original. 55 Lef. Punkt.
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A. Einführung accedere possit, ei nomina vestra præscribere audeo; obnixus rogans, ut hunc ingenij abortivum fœtum solita vestra comitate excipere dignemini, tanquam quendam addictissimæ erga vos observantiæ arrhabonem; tantisper dum Opt. Max. Deus, qui supremus conatuum nostrorum arbiter, occasionem dederit, majora ac maturiora vobis offerendi. Groningæ d. x. Ianuarij, anno ultimæ patientiæ m. d. c. xlix. quem ut vobis ac reip. felicem velit esse Iehova, ex animo precatur NN. A A . V V. devotissimus cliens MA RT. SCH O O CK I US .
[DEN HOCHEDLEN, RECHTSKUNDIGEN UND HOCHERFAHRENEN MÄNNERN HERRN HENRICUS VAN HEECK dem sehr bedeutenden Bürgermeister der weitbekannten Republik Groningen.
HERRN JODOCUS HENSIUS dem Syndikus und sehr verdienten Rat von Ommelandia.
HERRN OTTO FARMPSUM Senator in derselben Republik. Den sehr fürsorgenden Vorstehern, den sehr hoch zu schätzenden Schirmherren und Mäzenen der Universität von Groningen und Ommelandia.
So etwa pflegt es zu geschehen, Ihr sehr edlen und hochangesehenen Herren: Die, welche andere an Weisheit übertreffen müßten, sind kaum vom Urteil des Volkes entfernt und schätzen den Wert der Dinge nach dem glücklichen Erfolg, durch den sie ihre Besitzer zu erfreuen pflegen: Daher glauben die meisten hervorragenden Männer, daß eine (ihrem Können) adäquate Entsprechung nicht zu erreichen sei, weil sie durch Unglücksfälle abgeschreckt werden, von denen sie heimgesucht wurden. Aber bei denjenigen sitzt immer eine andere Meinung fest, welche die Entscheidung eines Urteils nur nach der Vorschrift der Weisheit treffen. Denn wie Liebende gerade vom Stottern und Erbleichen der Freundinnen angetan werden und Araspes auch die Träne und die Trauer der niedergeschlagenen Panthea – wie Xenophon bezeugt – entzündeten, so verachten diese die Nachteile der Tugend und Gelehrsamkeit, die meistens diese beiden begleiten; und sie werden durch Sokrates’ Armut, Anaxagoras’ Kerker, Phokions Verurteilung, Aristeides’ Exil nicht von dem Verlangen abgeschreckt, mit deren hohen Tugenden zu wetteifern. Was Wunder? Daß wir Fehler des menschlichen Körpers spüren und erleiden (das sind Worte des Minucius Felix), ist keine Strafe: Es ist Kriegsdienst. Denn die Tapferkeit wird durch Schwächen gestärkt, und Unglück ist öfter eine Schule der Tugend. Die Kräfte des Geistes und des Körpers erschlaffen am Ende ohne Übung durch Anstrengung: Im Grunde glänzten alle tapferen Männer, die ihr als Beispiel preist, ruhmvoll durch ihre Leiden. Der Pyritesstein hat Feuer, das aber allein durch Reiben zu entzünden ist; Gewürzpflanzen streuen ihren Duft nur aus, wenn sie gepreßt werden: Auf die gleiche Weise verbreitet eine große Begabung Tugend und Ruhm nur im Lauf von Übeln; und sie wird durch diese nicht gebeugt, sondern gestärkt – nicht anders als eine Säule durch die aufgelegte Last gefestigt wird, wenn sie nur gerade aufgestellt ist. Als ich kürzlich zwischen verschiedenen Beschwernissen diese Dinge im Geist aufmerksamer erwog, entstand unter der Hand die vorliegende Untersuchung, der ich Eure Namen voranzuschreiben wage, damit ihr ein bißchen Glanz zuteil werden kann – nachdrücklich bittend, daß Ihr diesen zu früh geborenen Sprößling gemäß Eurer gewohnten Leutseligkeit gleichsam als
III. Die Widmung der ersten Auflage von 1649
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ein Unterpfand meiner Euch gegenüber tief erwiesenen Ehrerbietung anzunehmen für würdig erachtet – solange bis der größte beste Gott, der der höchste Schiedsrichter unserer Unternehmungen ist, die Gelegenheit geben wird, Euch Größeres und Reiferes darzubringen. Groningen, am 10. Januar des Jahres des letzten Erleidens 1649. Daß Jehova wolle, daß dieses für Euch und für den Staat glücklich sei, erbittet von Herzen der den genannten sehr edlen und hochangesehenen Herren sehr ergebene Untertan MARTINUS SCHOOCKIUS.]
Da Schoock die erste Auflage der Rede direkt an seine politischen Vorgesetzten richtet, ist sie ein indirekter, wenn nicht direkter Hilferuf in seiner Situation als Gelehrter, genauer: als Professor an der Universität Groningen. Es kann kein Zweifel sein, daß er die Situation, in die er durch verschiedene ‚Kalamitäten‘ geraten war, gewissermaßen objektiv, als ‚Gelehrtenschicksal‘ zu erklären beabsichtigt. Drängt sich dem Leser der 1650 veröffentlichten Rede De miseria eruditorum der Verdacht auf, daß Schoock in eigenem Namen spricht, bestärkt schon die Separatveröffentlichung von 1649 diesen Eindruck. Sind 1650 alle 20 Abhandlungen Schoocks den staatlichen Vorgesetzten gewidmet, wurden diese 1649 ausschließlich mit Bezug auf das außergewöhnliche Thema angesprochen. Ja, sie wurden mit Namen aufgeführt, so daß sie gewissermaßen gezwungen waren, die spezielle Thematik zur Kenntnis zu nehmen. Sie wurden patroni und Mæcenates genannt, an die sich der cliens wendet. Dieser war nicht irgendwer, sondern einer der angesehensten Gelehrten ihrer Universität, deren Rektor er 1643 / 1644 gewesen war. Aber auch die patroni waren nicht irgendwelche. Aus der persönlichen Situation der Betrachtung erklärt sich, daß die beiden Veröffentlichungen unterschiedliche Titel haben. Heißt die Abhandlung 1650 allgemein De miseria eruditorum, so wurde 1649 im Titel einerseits schärfer von calamitates statt von miseria gesprochen, andererseits remedia gegen diese angekündigt. Es wurde deutlich, daß der Verfasser nicht nur Klage erhebt, sondern auch Bemühungen um Heilung ankündigt, was angemessener in eigenem Namen geschieht, aber die Vorgesetzten im Blick hat. Der Leser, der die Rede bis zum Ende gelesen hatte, mußte jedoch feststellen, daß remedia nicht direkt gegeben werden. Um so größeres Gewicht hat der allgemein formulierte, von hohem Ethos bestimmte Gelehrtenspiegel, der das Werk beschließt (p. 486–493). Es ist klar, daß der Verfasser die Grundsätze ethischen Verhaltens nicht nur selbst zu befolgen willens ist, sondern sie darüberhinaus als Grundlage des Umgangs der Humanisten untereinander, den er mit ausführlichster Genauigkeit kritisiert hat, betrachtet. Die Universität Groningen ist eine der ältesten der Niederlande. Sie wurde 1614 gegründet. Ihr erster Rektor war der reformierte Theologe und Historiker Ubbo
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A. Einführung
Emmius (1547–1625). Bis 1876 war die Unterrichtssprache Latein. Es fällt auf, daß Schoock die Stadt- und Provinzverwaltung, die für die Universität zuständig war, um Hilfe anruft.56 Sie hatte offenbar die Macht, nicht nur, wie das aus moderner Sicht üblich ist, die Universität mit ihren immensen Erfordernissen zu unterhalten und gegebenenfalls Berufungen zu prüfen, sondern auch, die Lehrenden und Forschenden zu schützen und, wenn nötig, in Schranken zu weisen. Die letzte Befugnis hatte Schoock in der Tat am eigenen Leib in Groningen gespürt. Durch seinen Utrechter Lehrer, den renommierten reformierten Theologen Gijsbert Voet (1589– 1676) wurde er in dessen Streit mit dem angesehenen französischen Philosophen René Descartes (1596–1650) hineingezogen. In der während seiner Groninger Zeit verfaßten Schrift Philosophia Cartesiana, sive admiranda methodus novæ philosophiæ Renati Des Cartes (Utrecht 1643), zu der Voet eine Vorrede schrieb, bezichtigte Schoock Descartes geradezu des Atheismus.57 Der Angegriffene beschwerte sich daraufhin bei Schoocks Vorgesetzten in Groningen, die gegen ihn entschieden.58 Das war nun Vergangenheit. Dieses Mal aber wandte sich Schoock an dieselbe Instanz mit der Bitte um Schutz. Ein aktueller Anlaß ist nicht bekannt, doch dürfte es nicht nur eine aus Höflichkeit vorgenommene Widmung gewesen sein. Die Verhältnisse scheinen sich danach insofern geordnet zu haben, als Schoock 1654 / 1655 zum zweiten Mal Rector magnificus der Universität wurde. Da er natürlich bei seiner weit ausholenden Anklage nicht nur Groninger Verhältnisse im Auge hatte, war es konsequent, daß er sie ein Jahr später an besonderer Stelle in dem Sammelband eigener Schriften erneut veröffentlichte. Eingelegt ist in das Vorwort von 1649 ein gewichtiges wörtliches Zitat aus dem wohl in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts entstandenen Octavius des Minucius Felix, einer Verteidigung des Christentums.59 In der Mitte des Passus steht der entscheidende Satz, der an Schoocks Titel anklingt und als Motto für die ganze Schrift
56 Die drei Repräsentanten waren hohen Ranges: Consul, Senator bzw. Syndicus. Henricus van Heeck war Bürgermeister in Groningen, Otto van Farmpsum Senator daselbst, Jodocus Heinsius (ca. 1599–1665) aus Lippe in Nordrhein-Westfalen Advokat in Groningen, seit 1640 Syndicus der Ommelanden. 57 ► Lefèvre 2021, S. 2–3 (mit Nachweisen). 58 Über diese Streitigkeit berichtet van Slee 1891, S. 325: „Cartesius reichte dawider eine Klage auf Ehrenerklärung bei der Groninger Stadtregierung ein. Ob S. wirklich infolge dessen zu Utrecht einige Tage verhaftet wurde, ist allerdings sehr zweifelhaft; jedenfalls aber wurde er zum Widerruf seiner Anklage gezwungen.“ 59 Oct. 36, 8. Die Wiedergabe ist genau. vestri nach viri fortes, das auf die Gesprächssituation des Octavius Rücksicht nimmt, ist absichtlich ausgelassen. Der Passus über den Feuerstein beruht auf Plin. Nat. 37, 189 pyritis nigra quidem est, sed attritu digitos adurit.
III. Die Widmung der ersten Auflage von 1649
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stehen könnte: calamitas sæpius disciplina virtutis est. Es ist die calamitas, ja es sind die calamitates, die die eruditi zur virtus führen! Gemeint sind die calamitates, die der eruditus überwindet, denen er aber auch allzu leicht unterliegen kann. Genau um dieses Problem geht das ganze Werk. So gesehen, ist die Abhandlung von 1649 ein Hilferuf des hochangesehenen Philosophieprofessors an seine Vorgesetzten, der Hilferuf eines Mannes, der als ehemaliger Rektor zu den Spitzen der Universität zählte. Hat die Veröffentlichung von 1649 gewissermaßen einen ‚privaten‘ Charakter, jedenfalls einen in die Augen springenden persönlichen Hintergrund, so bekommt die Neuauflage im Rahmen von 19 weiteren Abhandlungen einen eher offiziellen Charakter. Sie wird, wenn man so sagen darf, ein wenig neutralisiert. Dazu gehört, daß die calamitates zu der allgemeineren miseria abgeschwächt werden. Aber auch 1650 behält die Abhandlung ihr Gewicht: Sie ist mit 117 Seiten nicht nur der bei weitem umfangreichste Beitrag der ganzen Sammlung, sondern bildet auch zusammen mit zwei weiteren Bekenntnissen nach antikem Muster eine σφραγίς, in der Persönliches zur Sprache kommt.60 Die Annahme liegt nahe, daß Schoock bereits 1649, als die erste Version erschien, das weitere Vorgehen plante, um seine Apologie auch innerhalb der Universität und womöglich außerhalb Groningens bekannt zu machen.61 Deshalb sind in der umfangreichen Ausführung nicht mehr die staatlichen Vorgesetzten angesprochen, sondern allgemein ‚Hörer‘ (Auditores). Die Vorrede ist sorgfältig gearbeitet. Zu dem gehobenen Ton trägt das Gleichnis von Araspas und Pantheia bei, das Schoock aus der Kyrupaidia des griechischen Historikers und Sokratikers Xenophon gewinnt.62 Die Widmung setzt einige Kenntnisse bei den Angesprochenen voraus. Zwar waren vor allem Sokrates, aber auch Anaxagoras, Phokion und Aristeides63 Schulbeispiele, doch sollte der Passus aus Minucius Felix in der Mitte, der wie ein Edelstein funkelt, zur Sicherheit mit der Nennung des Autors, besondere Wirkung erzielen. Er bereitet gewissermaßen das
60 ► Lefèvre 2021, S. 47–49 und o. S. V. 61 Dafür spricht auch der Umstand, daß die zweite Fassung keine Anzeichen einer Verbesserung oder Umarbeitung aufweist. 62 Araspas, der Vertraute des Großkönigs Kyros II. (6. Jahrhundert), des Begründers des persischen Weltreichs, beschreibt die Tränen und die Trauer der gefangenen edlen Pantheia am Anfang des fünften Buches (5, 1, 4–5). 63 Der Philosoph Sokrates (5. Jahrhundert), der nach Platons Darstellung die Mitmenschen in extremer Weise in ethische Diskussionen zu verwickeln pflegte, brachte es nur zu einer bescheidenen Lebensweise; dem Philosophen Anaxagoras wurde als Gottesleugner etwa 431 ein Asebieprozeß gemacht; der Stratege Phokion wurde 317 zum Tod verurteilt, weil er sein gegebenes Wort hielt; der Politiker Aristeides, Gegenspieler des Themistokles, wurde 482–480 verbannt, erhielt aber im 4. Jahrhundert den Beinamen ‚der Gerechte‘.
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A. Einführung
Finale der Abhandlung vor, das mit hohen ethischen Forderungen und der Anerkennung der von Gott gegebenen Ordnung einen einzigartigen Aufruf an die eruditi darstellt.64 Von dieser Ordnung ist das Kampfbild überhöht: Tu quoque Christi miles es: ei sacramentum dixisti, quod quantum sit, defæcata mente expende.65
IV. Die Widmung der Orationes et Dissertationes von 1650 Dem Sammelband von 1650 ist eine mehrseitige Widmung an die Autoritäten vorangestellt. In ihr zeigt sich, daß Schoock wie in der Widmung von 1649 vor allem in eigenem Namen spricht und somit seine Bitte an die hohen Herren verstärkt. Besonders ist der Schluß zu beachten: Vbicunque vixi, laboravi plura facere, quam pro me dicere. quomodo vero me ipsum Academiæ Ill. & PP. DD. VV. & juventuti, quæ eam exornat, hactenus impenderim, norunt illi, quibus placuit oculis irretortis conatus meos intueri. Alij aliter si judicent, ferendum est. Ego interim quam diu tales Censores ex angulis suis non procedunt, Ill. & PP. DD. VV. præcepta sarta tecta servabo, omnesque meas cogitationes componam ad ea præstanda, quæ nomine Ill. ac PP. DD. VV. injungentur; atque securus perpetuo artis Gnathonicæ (ad quam non sum factus) mea me virtute involvam, præsentemque ætatem cum superioribus temporibus comparando, haut quaquam seculo irascar, si Æmilio dabitur quantum petit, cum melius nos Egimus.66 Scruta contra auream imaginem veneunt, si scrutario, quando ea laudat, frons perierit, aut aretalogus suo amico fiduciariam operam exhibeat. Quod reliquum, rogo Ill. & PP. DD. VV. ut levidense hoc munusculum, tanquam majoris operis & obsequij, in posterum exhibendi, pignus admittant, patianturque esse addictissimæ promptitudinis arrhabonem, usquedum limatiora ex paupertini ingenij narthecio depromam: Deum vero immortalem supplex veneror, ut Ill. ac PP. DD. VV. è cælo respiciat, Spiritu suo gubernet, vestrisque consilijs ad nominis sui gloriam, & Ecclesiæ, Patriæque emolumentum initis, prolixe omni tempore benedicat. Valete Ill. ac PP. DD. VV. &, si mereatur, favore Vestro adeste ei, cui hoc in votis, ut possit esse Ill. ac PP. DD. Vestrarum devotissimus cultor Martinus Schoockius.
64 p. 486–493. 65 p. 488. 66 Iuv. 7, 124–125.
IV. Die Widmung der Orationes et Dissertationes von 1650
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[Wo ich auch lebte, bemühte ich mich, mehr zu tun als für meine Person zu sprechen. Wie ich wahrlich mich selbst für die Universität, Ihr erlauchten und mächtigen Herren, und für die Jugend, die diese ziert, bisher eingesetzt habe, wissen diejenigen, denen es beliebt hat, meine Anstrengungen mit unverdrehten Augen zu betrachten. Wenn andere anders urteilen sollten, ist das hinzunehmen. Indes werde ich, solange solche Richter aus ihren Winkeln nicht offen hervorkommen, (Eure) Anordnungen, Ihr erlauchten und mächigen Herren, in Ehren halten67 und alle meine Überlegungen darauf richten, das zu leisten, was in Eurem Namen, erlauchte und mächtige Herren, verfügt werden wird, und mich, durchweg unbekümmert um die Kunst eines Gnatho68 (für die ich nicht geschaffen bin), in den Mantel meiner Virtus hüllen69 und, das gegenwärtige Zeitalter mit früheren Zeiten vergleichend, keineswegs dem Saeculum70 zürnen, wenn einem Emil gegeben wird, soviel er fordert, obwohl wir besser plädiert haben.71 Trödel wird gegen ein goldenes Bild verkauft, wenn dem Trödelhändler die Stirn (das Ehrgefühl) abhanden gekommen ist oder ein Tugendschwätzer für seinen Freund auf Treu und Glauben Mühe walten läßt. Was noch übrig ist: Ich bitte die erlauchten und mächtigen Herren, daß sie diese geringwertige Gabe gleichsam als Unterpfand eines größeren in der Zukunft zu leistenden Werks und Gehorsams billigen und erlauben, daß es ein Pfand der ergebensten Bereitwilligkeit sei, bis ich Ausgefeilteres aus der heilsamen Apotheke72 meines armen Geistes hervorholen werde: Ich flehe wirklich den ewigen Gott demütig an, daß er auf Euch, Ihr erlauchten und mächtigen Herren, vom Himmel niederblicke und Euch mit seinem heiligen Geist lenke und Eure Beschlußfassungen, die zum Ruhm seines Namens und der Kirche und zum Nutzen des Vaterlandes gefaßt sind, in reichem Maß zu jeder Zeit segne. Habt Kraft, Ihr erlauchten und mächtigen Herren, und leistet mit Eurer Gunst demjenigen, wenn er es verdienen sollte, Hilfe, der das wünscht,73 daß er sein kann Euer, der sehr erlauchten und mächtigen Herren, ergebenster Verehrer Marten Schoock.]
Das ist wieder ein Hilferuf: In der Bitte favore Vestro adeste (helft mit / in Eurer Gunst) gipfelt die Vorrede. Dieser Schluß ist nicht einfach dahingesagt, sondern literarisch überhöht. Neben der eindrücklichen Sentenz Juvenals, die Schoock auf seine Person bezieht, stehen zwei ebenso eindrückliche Horaz-Zitate, die dadurch
67 sarta tecta servare: ‚in Ehren halten‘: Pl. Trin. 317 sarta tecta tua praecepta usque habui; ► Brix 1888, S. 62. 68 Einer der wendigsten Parasiten der antiken Komödie, der mit schmeichlerischen Reden in Terenz’ Adelphoe seinem Gewerbe nachgeht. 69 ► Hor. Carm. 3, 29, 54–55 mea | virtute me involvo. 70 Der Übersetzer glaubte, mit Schiller den Terminus beibehalten zu dürfen. 71 Schoock folgt einer Ausgabe, die wie noch Plautus cum in konzessivem Sinn mit dem Indikativ konstruiert. Allgemein wird et gelesen. 72 Übertragene Bedeutung von narthecium = ‚Salbenbüchse‘, wohl nach Cic. De fin. 2, 22. 73 ► Hor. Sat. 2, 6, 1 hoc erat in votis.
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A. Einführung
eine besondere Funktion haben, daß sie in Zusammenhang mit dem Förderer Maecenas stehen: Die Satire 2, 6 hat den Dank des Dichters für das Geschenk des Gutes in den Sabinerbergen zum Inhalt; und das zweite Zitat stammt aus der großen Maecenas-Ode 3, 29, in der Horaz den eigenen Lebensbereich neben den des Gönners rückt. So spricht Schoock gewiß nicht ganz bescheiden, seines inneren Wertes wohlbewußt – aber auch die angesprochenen hohen Herren durften sich erhöht fühlen. 1649 hatte Schoock die Vorgesetzten namentlich angesprochen, doch eher indirekt um Beistand ersucht. Nunmehr wird er sehr direkt. Betrachtet man beide Veröffentlichungen zusammen, ergibt sich zweifelsfrei, daß sich die erbetene Hilfe auch 1650 auf die im drittletzten Beitrag geschilderte miseria des eruditus Schoockius bezieht. Dieser mochte befürchten, daß die kleine den direkt angesprochenen Autoritäten gewidmete Schrift von 1649 in deren Schreibtischschublade verschwinden könnte, so daß er noch in demselben Jahr74 beschloß, seinem Hilferuf eine größere Resonanz zu verschaffen und ihm in einem weitausgreifenden wissenschaftlichen Rahmen zu gehöriger Aufmerksamkeit zu verhelfen – und dieses Mal sein Anliegen unverhüllter darzulegen. Es war Schoock ernst.
V. Aufbau 1. Abgrenzung der einzelnen miseriae Der Versuch, eine genauere Gliederung zu erstellen, führt nur zu einem Hilfsgerüst, das dem Leser eine rasche Orientierung ermöglicht und auf das er bei der Lektüre zurückgreifen kann. Das ist nicht in Schoocks Sinn, da er gerade bemüht ist, die Gliederung zu verdecken und den Leser von einem Punkt zum anderen zuweilen assoziativ, zuweilen kontrastiv zu geleiten (es handelt sich ja formal um eine Rede) und zudem mit einer Fülle von Beispielen zu beeindrucken und zu überzeugen. Es wäre unzutreffend zu sagen, es gelte Lebendigkeit statt Logik, aber eine handbuchartige Darstellung strebte Schoock nirgends an. Hierin ist es begründet, daß in der vorgeschlagenen Gliederung in einzelnen Fällen auch andere Grenzlinien gezogen werden können.
74 Das Vorwort von 1650 trägt als Datum den 1. Februar. Der Band dürfte noch 1649 zusammengestellt worden sein.
V. Aufbau
a) animo laborare75 publicus contemptus personae Philosophi Rhetores Poetae Medici Iurisconsulti Theologi libri paupertas Philosophi Poetae Rhetores Theologi Medici Iurisconsulti Résumé odium76 invidia Poetae Philosophi Rhetores / Grammatici Iurisconsulti Medici Résumé Theologi
p. 378–403 p. 378–387 p. 378–385 p. 378–380 p. 380–382 p. 382–383 p. 383–384 p. 384–385 p. 385 p. 385–387 p. 387–392 p. 387–388 p. 388–389 p. 389–390 p. 390 p. 390–391 p. 391 p. 391–392 p. 392–394 p. 394–403 p. 395–396 p. 396 p. 396–399 p. 399–400 p. 400 p. 400–401 p. 401–403
b) corpore laborare77 podagra calculus ventriculi imbecillitas
p. 403–407 p. 404–406 p. 406-407 p. 407
75 Der Terminus p. 403. 76 Der Terminus p. 392. 77 Der Terminus p. 403.
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A. Einführung
c) patria78 contemnere aut odisse domestica crux liberi degeneres
p. 407–413 p. 407–408 p. 408–410 p. 410-413
d) libri79 singuli (sc. eruditi) reprehendere novitas furta familiae (sc. eruditorum)
p. 413–430 p. 413–426 p. 413–422 p. 422–423 p. 423–426 p. 426–430
e) purpura80 eruditio cum purpura conjungere Cœlius Rhodiginus lallans eruditio serio studia tractare conjunctio potestatis & sapientiæ
p. 430–448 p. 430–432 p. 432–433 p. 433–440 p. 440–445 p. 445–448
f) mors81 præpropera mors Poetae Iurisconsulti Medici Philosophi omnium iactura82 Rhetores / Grammatici Philosophi Iurisconsulti Theologi turba83 Philosophi (Antike)
p. 448–486 p. 448–461 p. 449–451 p. 452–456 p. 456–458 p. 458–461 p. 461–465 p. 461–462 p. 462–463 p. 463–464 p. 464–465 p. 465–470 p. 466–467
78 Der Terminus p. 407. 79 Der Terminus p. 413. 80 Der Terminus p. 430. 81 Der Terminus p. 448. 82 Der Terminus p. 461. 83 Der Terminus p. 465.
V. Aufbau
Iurisconsulti Poetae Philosophi (Neuzeit) uxor84 ipsa mors85 Theosophi86 Iurisconsulti Medici Philosophi Rhetores Poetae
p. 467–468 p. 468–469 p. 469–470 p. 470–472 p. 472–486 p. 472–473 p. 473–478 p. 478–481 p. 481–483 p. 483–484 p. 484–486
g) monita87
p. 486–493
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2. Formale Kriterien a) Form der Rede Die Schrift hat die Form einer Rede. Das wird dadurch deutlich, daß die Zuhörer am Anfang und am Ende, öfter auch zwischendurch mit AA. (Auditores) angesprochen werden. Sie ist in der schriftlichen Fassung somit zur fortlaufenden Lektüre bestimmt, nicht zum Nachschlagen einzelner Punkte. Insofern ist sie der antiken Diatribe verwandt. Während etwa Horaz in den popularphilosophischen Satiren und Briefen, die er ausdrücklich Sermones (‚Gespräche‘) nennt, die Übergänge von einem Punkt zum nächsten zu verbergen sucht,88 weist Schoock öfter darauf hin, daß er zu einem anderen Punkt übergeht, etwa p. 403 ut ad alia orationis vela convertam oder p. 430 sed comprimo me, atque ad alia progredior, aber er sagt nicht, daß er‚ nachdem er die Redner behandelt habe, sich den Ärzten zuwende. Eine in die Augen fallende Gliederung wäre nicht in seinem Sinn. Sie paßte nicht zu dem Charakter der Rede, zwar nicht: ridentem dicere verum, aber: deplorantem dicere verum. Die Form der Rede hat den Vorteil, daß in einer Darlegung, die nicht zum Vortrag bestimmt ist, keine Belege gegeben zu werden brauchen, sondern ein erheb-
84 Der Terminus p. 470. 85 Der Terminus p. 472. 86 Der Terminus p. 472. 87 Der Terminus p. 486. 88 ► Knoche 1935.
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A. Einführung
liches Wissen der Zuhörer vorausgesetzt werden kann. In ihr spricht ein humanistisch gebildeter Autor zu humanistisch gebildeten Rezipienten, denen Größen wie Platon, Cicero, Erasmus oder Thomas Morus bekannt sind und die darauf vertrauen können, daß die ihnen weniger geläufigen Personen und Begebenheiten in gleicher Weise verbürgt sind. Wegweisend ist auch in dieser Hinsicht Erasmus’ Moriae encomium (1509), das ebenso eine Rede (der Stultitia) darstellt wie bald darauf Willibald Pirckheimers von diesem inspirierte Apologia seu Podagrae laus (1522), die eine Rede der Podagra wiedergibt. Durch eine lange Tradition waren die Rezipienten an diese Form gewöhnt. Kleinliche Gliederungshinweise oder Erläuterungen hätten ihren Genuß gestört. b) Antike und Neuzeit Es werden zwei Epochen betrachtet: die vorbildliche Antike und die Renaissance derselben in der Frühen Neuzeit. Das entspricht dem Denken der Humanisten, die sich vornehmlich an der Antike orientierten. Das Mittelalter und die Scholastik kommen in dieser Rede nur selten in den Blick, ebenso die außereuropäischen Kulturen89 und europäische Randvölker außerhalb der Niederlande, Englands, Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Spaniens. Schoock geht es im Grunde um die Gegenwart. Dennoch bezieht er die Antike ausgiebig mit ein. Der Hintergrund dieser Argumentation ist das Bestreben, deutlich werden zu lassen, daß es dieselben Übelstände, die er aus eigener Perspektive beklagt, schon in der ‚vorbildhaften‘ Antike gegeben hat. Keineswegs hat er die Absicht, die Niederlande speziell anzuklagen. Er bemüht sich durchgehend um einen (mittel)europäischen Blickwinkel. Es ist in Schoocks Sicht gewissermaßen eine miseria, die die eruditi we se nh a ft trifft. c) Gliederung nach Berufen Schoock betrachtet in der absatzlos gedruckten Rede die miseria eruditorum im großen und ganzen unter sechs Aspekten, die er malorum classes nennt (p. 378). Sie führen jeweils, soweit möglich, sechs Gruppen Betroffener in wechselnder Reihenfolge vor: Philosophi (und Mathematici),90 Rhetores / Oratores (und Grammatici),91
89 Einmal heißt es, die Musulmanni liebten nicht die Rhetorik (p. 381); sie kannte man z. B. aus Spanien. 90 Die Mathematiker umgreifen ihrerseits die Astronomen. 91 Rhetoren, Rednern und Grammatikern ist der Umgang mit der Sprache gemeinsam. Daß sie e ine Kategorie bilden, hatte Sueton in der (nur unvollständig erhaltenen) Schrift De viris illustri-
V. Aufbau
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Poetae, Medici, Iurisconsulti, Theologi. Diese Gruppen werden jedoch nicht abgezirkelt in den Blick genommen. Sowohl kann die Abfolge variieren als auch die eine oder andere Gruppe ausgelassen werden. Eine pedantische Struktur ist nicht angestrebt. Wo möglich, sind die beiden Zeiträume Antike und Neuzeit nacheinander behandelt. Ein Beispiel für diese Betrachtungsweise aus der Antike ist Se x tus Empi ri c u s , dessen sechs Bücher der Schrift Πρὸς μαθηματικούς den Humanisten bekannt waren und die wohl auch Schoock eingesehen hat.92 Die Bücher haben folgende Titel (in wörtlicher deutscher Übersetzung): ‚Gegen die Grammatiker‘; ‚Gegen die Rhetoren‘; ‚Gegen die Geometriker‘; ‚Gegen die Arithmetiker‘; ‚Gegen die Astrologen‘; ‚Gegen die Musiker‘. Das könnte inspirierend auf die Humanisten gewirkt haben. Ein wegweisendes Vorbild in der Neuzeit ist Erasmus’ Paradoxenkomium Moriae encomium von 1509 gewesen, in dem die Toren in bestimmte Gruppen eingeteilt werden, weltliche wie kirchliche, mächtige wie durchschnittliche. Eine Reihung, bei der wie bei Schoock die Intellektuellen in den Blick genommen werden, bietet etwa der Passus, in dem diejenigen genannt werden, die unter den Sterblichen das Ansehen der Weisheit innehaben und auf jenen goldenen Zweig,93 wie sie sagen, Jagd machen (qui sapientiæ speciem inter mortales tenent et aureum illum ramum, ut aiunt, aucupantur).94 Es sind nacheinander die Grammatiker, Dichter, Redner, Rechtsgelehrten, Philosophen und Theologen. Das gibt gewissermaßen Schoocks Gliederungsprinzip vor. Man denkt an die Fakultäten der Universitäten, die ihm natürlich sehr vertraut waren. Auch J o ha n n va n der Wo w ern hat in seiner Schrift De polymathia tractatio von 1605, die Schoock gekannt haben kann, eine vergleichbare Einteilung gewählt,95 und zwar nach den verschiedenen Zweigen der Artes liberales. Diese sind: Grammatica, Dialectica, Rhetorica, Arithmetica, Musica, Geometria – ‚Finis et Princeps‘: Philosophia.
bus vorgegeben, die eine Abteilung De grammaticis et rhetoribus enthielt, von der etwa die Hälfte überliefert ist. Sueton begründet in der Einleitung die Verbindung beider Gruppen unter Hinweis darauf, daß die alten Grammatiker (Philologen) ebenfalls die Redekunst gelehrt hätten und es auch in der Folgezeit Gemeinsamkeiten gab. Schoock dürfte diese Schrift bekannt gewesen sein (► p. 382 und 461). 92 ► S. 77. 93 Anspielung auf das sechste Buch der Aeneis Vergils, in dem Aeneas mit Hilfe eines Goldenen Zweigs den schwierigen Weg in die Unterwelt findet. 94 1979, S. 457–471. 95 ► S. 8.
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d) duumviri Ein Gliederungsprinzip, das dazu dient, eine monotone Aufzählung zu vermeiden, ist es, daß öfter zwei Gelehrte, die unmittelbar nichts miteinander zu tun haben,96 denen aber ein vergleichbares Schicksal widerfährt, nebenandergestellt werden. Schoock nennt sie duumviri wie die beiden hohen Magistratspersonen mit jeweils gleichen Aufgaben im römischen Reich. Man könnte übertragen von ‚Zweigespann‘ sprechen. Es handelt sich um folgende Paare: – Varius und Tucca (p. 449) – Lodovico Pontano und Gregor Haloander (p. 452–454)97 – Senetio und Thrasyllus (p. 466–467) – Sappho und Gallus (p. 469) – Adam Trasiger und Georg Sigismund Seld (p. 475). Der Terminus war in der Neuzeit verbreitet. Eine vergleichbare Metonymie begeg net etwa bei Scaliger und Goethe (Römische Elegien, 5. Elegie), die von triumviri amoris bzw. Amors Triumvirn (Catull, Tibull und Properz) sprechen.
VI. Gehalt Im folgenden werden die einzelnen Themenbereiche gemäß der gegebenen Übersicht98 genauer untersucht und nach Möglichkeit in einen größeren Zusammenhang eingeordnet.99 Wenn im einzelnen Gliederungen vorgenommen werden, so ist das sicher nicht in Schoocks Sinn, der mit seiner voranstürmenden Oratio die zeitgenössischen Rezipienten nach Möglichkeit zu jeder Widerrede unfähig machen wollte. Da aber die modernen Rezipienten einen anderen Bildungshorizont haben, dürfte es für diese von Nutzen sein, wenn die einzelnen Argumente geordnet und in größere Zusammenhänge gestellt werden.
96 Ausnahme: Varius und Tucca. 97 p. 454 werden auch António de Gouveia und François Duaren als Zweigespann behandelt, aber nicht als solches bezeichnet. 98 ► S. 25–27. 99 Sach- und Einzelerklärungen werden nur in den Anmerkungen zu der Übersetzung gegeben.
VI. Gehalt
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1. Charakteristik der einzelnen miseriae Schoock gliedert die miseria, der die eruditi ausgesetzt sind, in sechs einzelne miseriae, die sich jeweils in verschiedenen Bereichen auswirken. So kann sich nur äußern, für den gilt: expertus dicit und der in seiner Betroffenheit zu Verallgemeinerungen neigt. a) Seelische Leiden Die Anfangsposition der seelischen Leiden der Gelehrten unter den calamitates zeigt einerseits, wie ernst das Thema der Schrift dem Autor ist, und andererseits, daß die folgenden Kapitel nicht so sehr Steigerungen als vielmehr Begründungen darstellen. Den seelischen Leiden kommt schon wegen der Länge ihrer Schilderung eine besondere Bedeutung zu (p. 378–403). Eine Warnung aus der Einleitung der Schrift verdient Aufmerksamkeit: Die Aufzählung der einzelnen incommoda habe den Zweck, daß vom Kreis der Gelehrten unbedeutende und des Joches unwillige Begabungen künftig ferngehalten werden (quo ab eruditorum subsellijs levia inposterum ingenia, jugique impatientia, submoveantur)! Eine Unzufriedenheit auch mit den Gelehrten, die später noch deutlicher wird, deutet sich an. Überblickt man die im folgenden behandelten Stichwörter, zeigt sich ein erschreckendes Bild. Der Abschnitt gliedert sich in vier Sektionen: 1. publicus contemptus (p. 378–387), 2. paupertas (p. 387–392), 3. odium (p. 392–394), 4. invidia (p. 394–403). 1. Öffentliche Geringschätzung / Verachtung (publicus contemptus, p. 378–387): Die mangelnde Anerkennung in der Öffentlichkeit steht nicht nur am Anfang des Abschnitts, sondern auch am Anfang der ganzen Schrift! Sie wird auf zehn Seiten ausgebreitet und begründet. Auf ihr liegt besonderes Gewicht. Nachgewiesen wird sie, wie eingangs betont wird, bei allen sechs Gruppen der Gelehrten, die in der Rede berücksichtigt werden, Philosophen, Redner, Dichter, Ärzte, Rechtsgelehrte, Theologen. Den Anfang machen die Griechen, deren beklagenswertesten Fall, Sokrates, jeder Gebildete präsent hatte. Ikkos von Tarent, Herodikos von Selymbria, Pythokleides von Keos und Damon von Athen werden weiterhin genannt; immer, heißt es schließlich, seien den Athenern die Philosophen und die Philosophie verhaßt gewesen. Nicht anders, wird fortgefahren, sei es bei den Römern. Hier erscheinen vor allem Personen, die gegen die Philosophie eingestellt waren, etwa Vespasian und Domitian, die Philosophen aus Rom vertrieben haben, oder Agrippina und Hortensius. Der Blick auf die Antike schließt mit einem emphati-
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schen Bekenntnis zur Philosophie100 (p. 378–380). Nach den Philosophen kommen die Redner und Rhetoren an die Reihe. Unter diesen werden nicht einzelne Personen vorgeführt, sondern negative Urteile über die Redekunst bei den Griechen und Römern – zum Teil wörtlich – zitiert (p. 380–382). Auch bei den Dichtern bleibt der Blick auf die Antike beschränkt sowie auf negative Urteile über ihre Kunst. Es ist eine eher magere Betrachtung, die nur Platons Stellung zu den Dichtern sowie Aischylos’ und Euripides’ zeitweilige Aufenthalte an auswärtigen Herrscherhöfen in Sizilien bzw. Makedonien erwähnt (p. 382–383). Für kritische Bemerkungen gegen die Ärzte werden Platon, Cato und Hadrian bemüht, ehe zum erstenmal in diesem Abschnitt die Neuzeit berücksichtigt wird, nämlich mit dem bekannten Ärzteskeptiker Montaigne. Soweit geht es um den Ruf der Ärzte; sodann wird es ernst, wenn von der Kunst der Ärzte enttäuschte Höfe diese zu Tode befördern – wie die Perser Manes oder die Medici Petro Leonio (p. 383–384). Die Rechtsgelehrten werden knapper behandelt; an konkreten Beispielen wird nur erwähnt, daß Caligula ihnen extrem feindich begegnete und sogar der berühmte oströmische unter Justinian tätige Tribonian von harter Kritik nicht verschont wurde (p. 384–385). Für die Theologen gehört es wesenmäßig dazu, verachtet zu werden, und zwar von denjenigen, die ihren Geist gegen die göttliche Lehre verschlossen haben (qui animum adversus doctrinam cœlestem obfirmarunt). Daher leben sie oft in Armut. Beispiele werden nicht gegeben (p. 385). Von der Verachtung werden keine Wissenschaftler verschont, heißt zum Schluß, diese hänge aber nicht nur den Personen, sondern auch direkt ihren Schriften an. Es werden als Zeugnisse in abwechslungsreicher Folge, die an die römische Satire erinnert, die feindlichen Einstellungen Caligulas gegen Homer und Caracallas gegen Aristoteles sowie das Wüten der Soldaten während des Sacco di Roma gegen kostbare Bücher genannt. Zur Vermeidung der Eintönigkeit sind zwei positive Beispiele dazwischengeschoben – Caracalla gegenüber Oppian und die Venezianer gegenüber Sannazaro –, ehe zwei negative Fälle den pointierten Abschluß bilden: die schäbigen Verhaltensweisen des Papstes Sixtus II. gegenüber Theodor von Gaza und des Statthalters Moritz von Oranien gegenüber dem Historiker Bockenberg (Tragoras) – insgesamt eine geistvolle Attacke, die sowohl die Antike als auch die Neuzeit berücksichtigt und die Rezipienten mühelos auf ihre Seite zieht (p. 385–387). 2. Mäßiges Auskommen (paupertas, p. 387–392): Es folgt die Armut, von der es heißt, sie werde von allen Klassen der Gelehrten als Hausgenossin und allgemein als Schwester der guten Gesinnung und Mutter der Künste angesehen (quæ omnibus
100 ► S. 53–54.
VI. Gehalt
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eruditorum ordinibus vernacula, vulgo bonæ mentis soror, & artium mater habetur). Am Anfang stehen die Philosophen, deren brotlose Kunst in beeindruckender Fülle vorgeführt wird, zunächst in der Antike: Homer,101 Bias, Sokrates, Platon, Kleanthes, Anaxagoras, Krates von Theben und schließlich Prohairesios. Was im Résumé trocken klingt, ist im Original mit teils bekannten, teils weniger bekannten Anekdoten sowie einem poetischen Bild geschmückt: Der Philosoph werde veranlaßt, in der Bibliothek neben der Statue der Minerva (der Göttin der Weisheit) unfreiwillig eine Statue der Göttin Armut aufzustellen (qui in Bibliotheca prope Minervam, invitus etiam, Divæ Peniæ signum statuere cogis): Minerva und Paupertas gehen Hand in Hand (p. 387–388). Die Dichter repräsentieren der Grieche Archestratos und die Römer Codrus, Plautus und Martial (p. 388–389). Bei den Rednern bewegt sich Schoock zunächst ausführlich im Bereich der römischen Antike: Orbilius, Hygin, Quintilian,102 Firmian und Cicero103 (!) – um mit dem letzten Beispiel, Stefano Negri, in die Neuzeit überzuwechseln, die somit nur in knapper Weise berücksichtigt wird. Die Theologen haben Ermolao Barbaro, die Ärzte Melchior Wieland (an dessen Hungerdasein assoziativ das des Universalgelehrten Glarean angeschlossen wird) und die Rechtsgelehrten Antonio Petolio aufzuweisen (p. 389–391). Nach dieser Fülle von Namen ruft sich Schoock zur Ordnung (sed cur exemplis inhæreo?) und gibt ein eindeutiges ausführliches Résumé der Sektion (p. 391–392): Die Liebe zum Geist habe niemals jemanden reich gemacht und der petronische Eumolp sei aus keinem anderen Grund zerlumpt gewesen, als weil er ein Dichter war. Das Vermögen der Guten sei die Armut (patrimonium bonorum paupertas est). Daß diese Aussage in dem intensiven Appell an seine Vorgesetzten Schoock selbst betrifft, ist ein naheliegender Schluß. Er hatte sich schon in Utrecht um eine gerechte Besoldung bemüht.104 Es ist nur wenig über seine privaten Verhältnisse bekannt. Aber zwei Nachrichten verdienen in diesem Zusammenhang Beachtung. „Nach dem Tode seiner ersten Gattin, Angelica van Merck, von welcher er sieben Söhne und eine Tochter hatte, gerieth er in Geldnöte. Er ging jetzt eine zweite Ehe ein mit einer Wittwe, welche er, wie sie ihn, für reich gehalten hatte, worin sich beide betrogen.“105 Und über den Weggang von Groningen hat man geurteilt: “plagued
101 Homer fungiert an dieser Stelle gewissermaßen als Weltweiser, als primus doctrinarum & antiquitatis fons, den selbst Justinian omnis virtutis pater genannt habe. 102 Nicht der bekannte Rhetoriklehrer, sondern ein unbekannter Advokat ist gemeint. ► p. 399. 103 Schoock spielt auf die peinliche Nachricht an, daß Cicero im November 46 aus finanziellen Gründen sein etwa 15jähriges Mündel Popilia heiratete. ► auch p. 390. 104 ► S. 1. 105 Van Slee 1891, S. 325. ► Lefèvre 2021, S. 6.
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by financial problems […] he fled to Frankfurt on the Oder to become professor of history”.106 Für jetzt ruft er den Wissenschaftlern zu: Bono vero animo estote! 3. Abneigung / Haß (odium, p. 392–394): Der erste Punkt ist die Abneigung, ja der Haß gegen die Gelehrten als Lehrer, der zunächst an den extremen Fällen, daß Schüler ihre Lehrer zu Tode befördern, demonstriert wird. Dieses Schicksal haben in der Spätantike und im Frühmittelalter Arsenius, Johannes Scotus, Cassian und Johannes von Damaskus (der jedoch nur verstümmelt wurde) erlitten, im Mythos Linus durch Hercules, in Rom Seneca durch Nero. Keineswegs handelt es sich um eine bloße Aufzählung, sondern um eine Ausmalung der schrecklichen Einzelschicksale. Der zweite Punkt ist die mangelnde Anerkennung, die Gelehrte zu erdulden haben. Zwar sind Vergil von Maecenas, Fronto von Antoninus Pius gefördert und später die Griechen nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken von den Medici aufgenommen worden und stellen somit insgesamt positive Fälle dar, doch geht es vor allem um die verächtliche Behandlung der Gelehrten bei den Hofleuten und Großen (in ordine purpuratorum ac Megistanum). Dort rangieren sie, heißt es, unterhalb der Tafeldiener und Pferdeknechte, werden sie als Gesprächspartner nicht ernstgenommen und erhalten nur eine dürftige Anerkennung (tenuis gratia), von der sich kaum etwas auf ihre Kinder auswirkt. Selbst der bedeutende Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., der als großer Förderer der Wissenschaften und Wissenschaftler gelten wollte, habe es unterlassen, den Sohn Xenophon seines Freundes Francesco Filelfo zu fördern. Immer wieder werden Einzelschicksale wie dieses in Erinnerung gerufen und ausgemalt. Den Abschluß aus dem, wie Schoock sagt, immensen Haufen von Beispielen aus der Antike und der Neuzeit bildet der eindringlich dargestellte Fall des von seinem Fürsten in bemitleidenswerter Weise ausgenutzten Archita Epistamenus, der zu der Reflexion Anlaß gibt: Wenn solches einem hochgelehrten Wissenschaftler widerfährt, was haben dann weniger angesehene Gelehrte zu erwarten? Diese rhetorische Frage spiegelt das ernste Problem der ganzen Schrift. 4. Neid / Eifersucht (invidia, p. 394–403): Es folgt eine überraschende Steigerung: Es wäre zu ertragen, wenn der Name der Gelehrten an den Höfen verhaßt wäre, wenn sie sich nur selbst untereinander vertrügen! Doch das sei nicht der Fall: Diejenigen, die der Mißgunst und der Nebenbuhlerschaft am abgeneigtesten sein sollten, seien offenbar zur Gänze aus Böswilligkeit, Haß und Verleumdung zusammengesetzt (quos ab invidia, ac æmulatione alienissimos esse oportuit, toti ex malevolentia, odio, & calumnia videntur esse compositi). Das ist harter Tobak: ‚Gegner‘ der Gelehrten
106 Verbeeck 2015, S. 668. ► Lefèvre 2021, S. 4.
VI. Gehalt
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sind nicht nur die Höfe, sondern auch die Gelehrten selbst, und zwar so sehr, daß das Leben der meisten von Widersprechen, Streiten und Lästern eingenommen zu werden scheine (adeo ut plerorumque eruditorum vita in contradicendo, rixando, & convitiando occupati videatur, p. 395)! Das wird ausführlich belegt. Das Thema der Sektion ist so wichtig, daß alle sechs Klassen der Gelehrten zu Zeugen aufgerufen werden. Am Anfang stehen die Dichter, zunächst die griechischen. Wiederum wird Homer bemüht, der kleinliche Nebenbuhler hatte, Syagros und Zoilos. Streitigkeiten hatten Hesiod mit Kerkops, Pindar mit Amphimanes, Simonides mit Timokreon. In Rom waren es ein gewisser Paro, Maevius, Bavius und Suffenus, die sich an Vergil und Horaz vergriffen. Sie alle wollten, wird festgestellt, durch mißgünstiges Verhalten (obtrectando) erlangen, was sie von ihrem Ingenium nicht erreichen konnten (p. 395–396). Die Philosophen kommen nur knapp mit der Konkurrenz zwischen den Sokrates-Schülern Platon und Xenophon in den Blick (p. 396), während bei den Rhetoren / Grammatikern wiederum die beiden Epochen Antike und Neuzeit getrennt besprochen werden. Demosthenes erfuhr Aischines und Cicero Hortensius und Sallust als feindlich; den großen Varro nannte Remmius Palaemon ein Schwein, und Sallust wurde von Lenaeus in einer bissigen Satire zerrissen – der Rezipient kommt kaum zum Atemholen. In der Neuzeit geht es auf diese Weise fort, während sich der Blick weitet und die Humanisten allgemein bedacht werden. Zunächst wird das Licht ausführlich auf Erasmus, den Erwecker der lateinischen Wissenschaft (literas Latinas […] restituentem) gelenkt, dessen Stil Lee, Stunica, Caranza, Latomus, Sutor und dessen Ausgabe des Neuen Testamentes die Theologen heftig kritisierten. Dann geht es weiter: Filelfo gegen Bernhard von Siena, Giorgio Merula gegen Calderini, Galeotto und Poliziano, Poggio gegen Georg von Trapezunt und Lorenzo Valla (der aber zurückschlug), ferner Valla gegen Antonio da Rho, Bartolomeo Facio und Antonio Panormita. Sogar Pontano und Poliziano wurden scharfe Kritiken von Kollegen zuteil, doch nicht nur diesen, sondern selbst Thomas Morus (quantus vir) und Scaliger (incomparabilis & divinus heros) wurden nicht verschont. Keineswegs handelt es sich um bloße Aufzählungen, sondern um kenntnisreiche, teils satirische Darlegungen, die zeigen, daß Schoock und seine Rezipienten in dieser Epoche zu Hause waren. Mit einer bedenkenswerten Überlegung schließt die Reihe, daß nämlich Scaliger in seiner Poetik sehr viele Dichter tadelte und damit die Mißgunst offensichtlich selbst herausforderte (ipse lacessere visus est invidiam). Auch sein Sohn Justus Scaliger habe sich gegen viele mit Belfern / Gezänk (multorum latratus) geäußert (p. 396–399). Mit den Rechtsgelehrten geht es weiter, bei denen zunächst die Auseinandersetzungen zwischen de Cujas und Jean Robert sowie zwischen Zabarella und Francesco Piccolomini charakterisiert werden, gefolgt von Öchslins Angriff auf Cesalpino. Wieder beschließt ein bedenkenswerter Satz die Reihe: Der an letzter Stelle genannte Francesco Patrizi, den verschiedene zu widerlegen versuchten, habe mit seiner Polemik gegen den großen
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Aristoteles vielen ein Beispiel des Sichabtobens wider Verdienste (anderer) gegeben (plurimis exemplum fecit debacchandi præter merita) (p. 399–400). Die nächste Gruppe sind die Ärzte, aber es wird nur der Streit zwischen Melchior Wieland und Pietro Andrea Mattioli, die zugleich Ärzte und Botaniker waren, dargestellt (p. 400). Geht es hier um ein pointiertes Schimpfwort (nebulonum omnium princeps), wird wenig später gegen die Ordnung assoziativ darauf angespielt, daß der unvergleichliche Historiker (incomparabilis historicus) Jacque de Thou von jemandem, der Müller oder Bäcker heiße (Pistor), öfter Prügel bezogen habe, noch dazu in dessen ‚beschissenen‘ Geschichtsbüchern! 107 Die beiden pointierten Fälle leiten zu einem eindeutigen Résumé über, das statt des Verweilens bei einzelnen Beispielen angekündigt wird. Was Seneca über die Philosophen in seinem Jahrhundert gesagt habe, passe auf alle Gelehrte: Leichter könne es unter den Uhren als unter ihnen zu einer Übereinstimmung kommen. Mit Verdächtigung, Wetteifer, Mißgunst und Haß tobten sie dann am meisten, wenn sie sich den Anschein geben wollten, alles aus sich selbst ‚gesaugt‘ zu haben. Ein Gedicht oder ein Schreiben, das würdig sei, Beifall zu erlangen, werde von dreihundert (d. h. ganz vielen) Kritikern zur Strecke gebracht, damit es nicht das erlange, was es verdiene. Nichts sei so weise ausgedacht, so beredt gesagt, so abgerundet geschrieben, gegen das sich nicht Kritiker erheben. Das ist aus tiefster Seele gesprochen. Der Rezipient, der die Argumentation aufmerksam verfolgt hat, wird in diesem Fall von den sechs Berufsgruppen, die immer wieder paradieren, die Theologen vermissen. Gibt es bei ihnen nicht Mißgunst und Neid, wie man annehmen könnte? Im Gegenteil, sie bilden den krönenden Abschluß, nach dem Résumé! Auf drei Druckseiten werden ihre Zänkereien und Streitigkeiten untereinander ausgebreitet (p. 401–403). Das wird nicht wie bisher an einzelnen Beispielen erläutert, sondern gewissermaßen theoretisch als Wesensmerkmal der Theologen abgehandelt. Schoock erscheint als ihr unerbittlicher Zensor. Er führt gegen sie sogar das Jesus-Wort Nescitis cujus spiritus sitis und ein Wort des magnus Apostolus Paulus ins Feld.108 Fragt man nach dem Grund für diese auffällige Haltung, drängt sich der Schluß auf, daß hier mehr als sonst gilt: expertus dicit. Schoock war selbst ein streitbarer Mann, der in zahlreiche Auseinandersetzungen – gerade auch mit Theologen – verstrickt war. Es war darauf hinzuweisen, daß er durch seinen Doktorvater und Lehrer an der Universität Utrecht, den niederländischen reformierten Theologen
107 Volusianis Annalibus (► daselbst). 108 ► p. 402.
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Gijsbert Voet, in dessen langjährigen heftigen Streit mit dem französischen Philosophen René Descartes hineingezogen wurde, bei dem er Voet beistand und in Schriften, kompromißlos wie er war, dessen Position verteidigte – sosehr, daß Descartes sich bei Schoocks staatlichen Vorgesetzten in Groningen beschwerte.109 Insofern stellt dieser ungewöhnliche Passus auch eine Verteidigung gegenüber eben diesen Vorgesetzten dar, die die Empfänger der ganzen Schrift sind. b) Körperliche Leiden Nach den seelischen kommen die körperlichen Leiden der Gelehrten in den Blick (p. 403–407). Da von Krankheiten kaum jemand verschont wird, hat eine solche Betrachtung nur Sinn, wenn es um Krankheiten geht, die typisch für Gelehrte sind. In der Tat galt das Podagra und damit verbunden auch der Stein als Gelehrtenkrankheit. Dafür bürgten allein schon Erasmus’ knappe, aber eindringliche Ausführungen Podagræ et calculi ex comparatione utriusque encomium, die zumal durch den Abdruck in Dornavius’ Amphitheatrum große Verbreitung gefunden hatten.110 Der Abschnitt gliedert sich in drei Sektionen: 1. Podagra (podagra, p. 404–406), 2. Stein (calculus, p. 406–407), 3. Magenleiden (ventriculi imbecillitas, p. 407). 1. Podagra (podagra, p. 404–406): An der Spitze der sich bezüglich des Podagra entwickelnden Laudes-Literatur stand Willibald Pirckheimers Apologia seu Podagrae laus von 1522, die eine ganze Gattung anstoßen sollte – bis hin zu Jakob Baldes Solatium podagricorum von 1661. Pirckheimer gab die Richtung vor, wenn er die (personifizierte) Podagra sagen läßt, sie lehre die Kenntnis der Wissenschaften und schönen Künste, und viele seien durch ihr Zutun zur Beherrschung von Sprachen gelangt und zum Gipfel der Gelehrsamkeit aufgestiegen.111 Das waren merkwürdige Töne, die natürlich cum grano salis zu verstehen sind. Von diesen Elogien setzt sich Schoock ab. Für eine geistig überhöhte Betrachtung der Krankheit hatte er nicht viel Verständnis. Er sagt nüchtern: Das Podagra bekommen unter den Gelehrten fast alle, die über den nächtlich beschriebenen Papieren bleich werden und bei der Öllampe den Augen den Schlaf entziehen. Über die spezielle Ursache wird weiter nichts ausgeführt, sondern vorausgesetzt, daß der Schlafmangel den Körper schwächt und damit dem Podagra leichten Zugang gewährt. Die gedankliche Ver-
109 ► o. S. 20 sowie Lefèvre 2021, S. 2–3. 110 1619, II, S. 202. 111 Etenim nulli vestrum dubium est litterarum ac bonarum artium scientiam longe honoribus et multis antestare divitiis. atqui ego illas egregie doceo ac plurimos enumerare possem, qui meo beneficio ad linguarum cognitionem et doctrinam pervenerunt summam (zitiert nach der Edition von Kirsch 1988, S. 61).
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bindung von Podagra und nächtlicher Arbeit hat auch Balde in dem Gedicht 2, 68 des Solatium podagricorum verfolgt und sich zu dem kühnen Satz verstanden: Aufer | e Mundo Podagram; simul & clarissima Mundi | ingenia abstuleris („Nimm aus der Welt das Podagra, und zugleich wirst du der Welt berühmteste Ingenien fortnehmen“, 3–5)!112 Schoock sagt: ‚Fast allen‘ Gelehrten, die nächtlich bei der Lampe, die sie wachhält, arbeiten, geht es so. Das klingt, als habe er selbst an Podagra gelitten. Man beachte, daß bei seinem Weggang aus Groningen auch das Alkoholproblem (eine der Hauptursachen für das Entstehen dieser Krankheit) eine Rolle gespielt haben soll.113 Zudem weist das bekannte Amsterdamer Porträt114 sein Übergewicht aus (das nicht minder podagrafördernd zu sein pflegt). Besonders fällt der ‚bekennende‘ Satz auf, er bekenne seinesteils, daß die Schmerzen zuweilen sehr schlimm seien, durch die jedes Glied ausgedehnt werde (Fateor equidem115 acerbos interim dolores esse, quibus quodque membrum extenditur). Hier spricht Schoock persönlich. Doch ist das Podagra noch hinnehmbar. Wie Erasmus meinte, daß es durch Gespräche, Scherze und Lachen erleichtert werden könne (fabulis leuari solet, semperque iocos ac risum ducit comites), sagt Schoock p. 405, daß das, was den Händen und Füßen abgehe, dem Geist zugute komme (quod manibus pedibusque decedit, Palladis arci accedit). 2. Stein (calculus, p. 406–407): Im Vergleich zum Podagra ist der Stein das schlimmere Übel. Seine Grausamkeit ist über alle Martern einzuschätzen, die ein Perillus hätte ausdenken können. Auch hierin ist Schoock Erasmus’ Meinung, der sagte, der Stein sei, sooft er komme, der Tod selbst oder etwas, das noch härter als der Tod ist (calculus non morbus est; sed ipsa mors, quoties oboritur, aut si quid est morte durius). Wie das Podagra ist der Stein, stellt Schoock p. 406 fest, ein Sproß der sitzenden Lebensweise (vitæ sedentariæ germen), also ebenfalls eine Gelehrtenkrankheit. 3. Schwäche des Magens (ventriculi imbecillitas, p. 407): Als Appendix wird der ‚schwache‘ Magen angehängt. Das fällt auf. Nur Podagra und Stein haben, wie dargelegt, in Bezug auf Geistesarbeiter Tradition. Daß Schoock gewissermaßen gegen die Tradition das Magenleiden hinzufügt, zumal unter Hinweis auf einen einzigen Betroffenen, wenn es auch der große Aristoteles ist (Claudius dient lediglich der
112 Zur Interpretation ► Lefèvre 2020, S. 477–478. 113 ► Verbeek 2015, S. 668; Lefèvre 2021, S. 4 Anm. 33. 114 Lefèvre 2021, S. VII. 115 equidem heißt hier ‚meinerseits‘, ‚meinesteils‘.
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Bekräftigung dieses Beispiels), könnte wiederum auf eigene Beschwerden hindeuten, aber auch nur eine gelehrte Reminiszenz sein. c) Geringschätzung im eigenen Land Ein überraschendes Thema ist die Geringschätzung der Gelehrten im eigenen Land (p. 407–413), zumal sie völlig verschiedene Gesichtspunkte umfaßt: Die Eruditi haben es hinzunehmen, daß das eigene Land sie nicht schätzt, sie ablehnt, ja verachtet. Der Satz erinnert wohl bewußt an das Jesus-Wort, daß ein Prophet nirgends weniger gilt denn im Vaterland und daheim bei den Seinen:116 non est propheta sine honore nisi in patria sua, et in domo sua, et in cognatione sua (Mk 6, 4). Das dürfte Schoock nur deswegen so allgemein und so gültig ausgesprochen haben, weil er dahinter stand und auch die eigene Person im Blick hatte. Der Abschnitt gliedert sich in drei Sektionen: 1. Verachtung bzw. Geringschätzung (contemnere aut odisse, p. 407–408), 2. Hauskreuz (domestica crux, p. 408–410), 3. degenerierte Kinder (liberi degeneres, p. 410–413). 1. Verachtung bzw. Geringschätzung (contemnere aut odisse, p. 407–408): Diese Sektion ist sicher auf Schoock selbst zu beziehen. Daß das eigene Vaterland den Gelehrten nicht wohl gesonnen ist, hat er am eigenen Leib gespürt. Diese Erfahrung veranlaßt ja wesentlich die Schrift. Er greift hoch. Es hagelt geradezu von leuchtenden Beispielen: Anacharsis, Sokrates, Stilpo und Hermodoros in der Antike, Paulo Giovio und Jacques de Cujas in der Neuzeit. Niemand konnte über die Verallgemeinerung hinweglesen, dasselbe geschehe noch immer täglich, doch müsse es der gelehrte Mann ertragen, der wisse, daß sein Vaterland dieser (ganze) Erdkreis ist und daß die Tugend, die, obwohl unschuldig, alle verwünschen, einst, wenn sie den Augen entrückt sein wird, als Belohnung die hinfälligen Wünsche derer, die sie erstrebt haben, vergelten werde (idem quotidie adhuc accidit: ferendum tamen viro docto, qui novit patriam suam hunc orbem esse, virtutemque, quam incolumen omnes execrantur, aliquando, cum ex oculis sublata fuerit, præmij vice, caduca desiderantium vota relaturum esse, p. 408). Das ist nicht einfach dahingesagt. 2. Hauskreuz (domestica crux, p. 408–410): Diese Sektion gehört zum privaten Bereich, dem auch die dritte Sektion über die liberi degeneres zuzurechnen ist. Was Schoock über die Ehefrauen der Gelehrten und über ihre ‚degenerierten‘ Kinder schreibt, ist ausführlich und intensiv, und dürfte vor allem der Vollständigkeit der miseria-Aspekte wegen ausgemalt werden. Der Ausdruck ‚Hauskreuz‘ (domestica
116 Wiedergegeben nach Luther.
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crux), über dessen Bedeutungsradius das Grimmsche Wörterbuch Auskunft gibt – „doch tritt man aus der Flitterwoche, so kommt das Hauskreuz nach und nach“ (Ludwig Tieck) – spricht eine deutliche Sprache.117 Es ist ein verbreitetes Frauenbild der Zeit. Der Mythos um Xanthippe war allgemein bekannt, gewissermaßen sprichwörtlich. Er wird in diesem Zusammenhang wie im Encomium surditatis118 in überlegen-gelehrter Weise bemüht. Es ist jedoch zu betonen, daß es Schoock nicht um eine allgemeine Abwertung der Frau ging, sondern nur um den Punkt, daß Gelehrte immer wieder entsprechende Frauen haben (können).119 3. Degenerierte Kinder (liberi degeneres, p. 410–413): Auch was diese Sektion betrifft, wird man nicht ohne weiteres von eigenen Erfahrungen Schoocks sprechen können. Darin mag auch der Grund liegen, daß er großenteils einen Gewährsmann, Aelius Spartianus, dieses Thema behandeln läßt, der nach der Gepflogenheit der Zeit eine bedeutende Autorität darstellte. Schoock heiratete seine erste Frau, Angelica van Merck, am 17. März 1639. Wenn alle Kinder ehelich geboren waren, konnte das älteste zur Zeit der Entstehung der Schrift 1649 höchstens 9 Jahre alt sein – zu jung, um nach seinen Anlagen beurteilt zu werden. d) Polemik gegen die Schriften Auf die leiblichen folgen die geistigen Kinder – auf die liberi die libri, wie es mit einem wohl beabsichtigten Wortspiel heißt (p. 413–430). Schoock hat nahezu durchgehend die Antike im Blick (obgleich er die Gegenwart meint). Nur p. 421–422 und wiederum p. 425 scheinen die recentiora secula vergleichsweise kurz auf, wiewohl es, wie er sagt, integra exemplorum agmina gibt (p. 421). Ein Grund für den Abbruch dieser Thematik dürfte darin zu sehen sein, daß er bei ausführlicher Betrachtung der Gegenwart vielen Kollegen hätte nahetreten müssen. Auch drohte die Gefahr, die eigene Person zu sehr in den Blick zu nehmen. Sie ist natürlich durchweg inbegriffen, insofern das ganze System angeklagt wird. Der Abschnitt gliedert sich in vier Sektionen: 1. Kritik aus Prinzip (in antecessum dentes exacuere, p. 413–422), 2. Mangelnde Neuheit (novitas, p. 422–423), 3. Plagiat (furta, p. 423–426), 4. Gruppenpolemik (in mutuum exitium conspirare, p. 426–430).
117 In diesen Zusammenhang gehört auch die Aussage am Ende der Schrift p. 492–493, daß Fortuna Ehen bisweilen nicht nur Glanz verleihe, sondern es ihr auch beliebe, sie meistens / zuweilen (beide Bedeutungen hat plerumque) umzustürzen. 118 ► Lefèvre 2021, S. 44. 119 ► dazu das Kapitel ‚Frauenbild‘ S. 57–58.
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1. Kritik aus Prinzip (in antecessum dentes exacuere, p. 413–422): Mit einer Fanfare wird die erste Sektion eingeleitet: Es sei ein härteres Schicksal (durius vero fatum), das der Gelehrte bezüglich seiner Bücher als was er hinsichtlich seiner Kinder erleidet. Das ist somit ein besonderer Punkt in der Argumentation der Schrift, der die kritisierten Autoren entlastet bzw. entlasten soll. Sogar der große Hieronymus habe verschiedentlich in seinen Briefen über mißgünstige Anfeindungen, Verleumdungen und Herabsetzungen, mit denen er ohne Unterlaß zu kämpfen pflegte, geklagt (magnus ille Hieronymus […] passim in suis Epistolis conqueritur de obtrectationibus, calumnijs, & detractionibus, quibuscum sine ulla missione luctabatur, p. 421). Es ist ein Rundumschlag: Kritiker zermalmen lustvoll Bücher, die sie oft weder gesehen noch gelesen, geschweige verstanden haben (libros, sæpe neque visos, neque lectos, nedum intellectos, p. 413). Das ist das Schicksal, heißt es, nicht nur dieses oder jenes Buches oder Autors, sondern aller, soviele in Büchersammlungen und Bibliotheken bekannt sind (fatum hoc non hujus illiusve solum libri, aut Scriptoris, sed omnium, quotquot in librarijs & bibliothecis noti sunt). Schoock gibt eine eingehende Betrachtung der Kritik, die Autoren – auch von höchstem Rang – vor allem in der Antike, aber auch in der Neuzeit erfahren haben: Platon, Aristoteles, Seneca, Vergil, Livius, Tacitus, Valerius Maximus, Herodot, Thukydides, Caesar, Velleius Paterculus, Dionys von Halikarnaß, Diodorus Siculus, Plutarch, Dio Cassius, Cicero, Hieronymus und Xenophon. Es handelt sich wiederum nicht um eine mechanische Aufzählung, sondern um eine Betrachtung, die Verbindungslinien zieht und Begründungen gibt. Öfter führt eine Assoziation zum nächsten Opfer. Möglicherweise folgt Schoock (teilweise) einer Quelle. Sein Engagement ist deutlich spürbar. Am Ende dieser beeindruckenden Phalanx von, modern gesprochen: geisteswissenschaftlichen Autoren kommen die Rechtsgelehrten, Mediziner und Theologen nur mit je einem Beispiel in den Blick: Tribonian, Galen und Hieronymus – Zeugen ersten Ranges (p. 420–421). Aus den recentiora secula werden wenigstens der Dichter Niccolò Perotto und die Rechtsgelehrten Azo, Baldo und Bartolus als Opfer genannt (p. 421–422). Dann bricht Schoock ab, er habe lediglich einzelne Sandkörner aufzählen können, und stellt eine umfassende rigorose These auf: Niemals sei bisher irgendeiner Schrift, möge sie auch ausgefeilt und fehlerfreier als alle Statuen sein, das zuteil geworden, was der Athene des Phidias zuteil geworden war, die für würdig gehalten wurde, außerhalb der Herrschaft von Mißgunst und Herabsetzung auf der Akropolis aufgestellt (und damit allgemein anerkannt) zu werden (nunquam ulli adhuc scripto, ad unguem licet facto, omnibusque statuis emendatiori hoc contigit, quod Phidiæ Minervæ, quæ digna habita fuit, ut extra invidiæ atque obtrectationis regnum in arce collocaretur). 2. Mangelnde Neuheit (novitas, p. 422–423): Schoocks zitierte Feststellung, mit der die erste Sektion schließt, wird weitergeführt mit einer Bloßstellung derjenigen
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Kritik, der nichts weiter einfällt, als den kritisierten Werken mangelnde Neuheit vorzuwerfen: Wenn selbst Momus erröte und nichts finden könne, was er tadelt, seien alsbald Unzählige bereit, der Vollkommenheit eines Autors und eines Buches Beeinträchtigung zu wünschen, weil alles zwar ohne Anstoß und klar sei, aber kein Lob von der Neuheit her erlangen könne (si Momus ipse in ruborem detur, nihilque quod reprehendat, inveniat, sexcenti mox parati sunt, qui perfectioni scriptoris & libri detractum cupiunt, quod omnia plana atque perspicua sint, nihilque commendationis à novitate impetrare possint, p. 422). Dieser Vorwurf wird keiner Diskussion für würdig erachtet und mit einem grotesken Zitat aus Plautus’ Pseudolus in brillanter Weise ad absurdum geführt.120 Selbstverständlich ist nicht gemeint, daß eine Schrift nichts Neues zu bieten brauche;121 vielmehr werden diejenigen bloßgestellt, die – wie der plautinische Koch – durch (zweifelhafte) Neuheit um jeden Preis, sei sie auch noch so absurd, Lob erstreben. 3. Plagiat (furta, p. 423–426): Ein weiteres Übel wird ebenfalls ausführlich diskutiert: das Plagiat, das auch der Zeitgenosse Jakob Balde an den Pranger stellt.122 Schon Erasmus hatte es auf die Plagiatoren abgesehen. Im Moriae encomium fand er deutliche Worte: Mehr noch seien die gewitzt, die Fremdes als Ihres herausgäben und den von anderer großer Mühe erworbenen Ruhm mit Worten auf sich lenkten, natürlich darauf bauend, daß sie annähmen, es werde (so) kommen, daß sie sogar, wenn sie ganz und gar des Plagiats überführt würden, doch vorderhand den Nutzen für einige Zeit ernteten (magis etiam sapiunt, qui aliena pro suis edunt, et alieno magnoque partam labore gloriam, verbis in se transmovent, hoc videlicet freti, quod arbitrentur futurum, ut etiam si maxime coarguantur plagii, tamen aliquanti temporis usuram sint interim lucrifacturi).123 Während Erasmus das Phänomen gewissermaßen theoretisch abhandelt, gibt Schoock, seiner Art des Argumentierens entsprechend, zahlreiche Beispiele. Erneut paradieren illustre Namen in so großer Zahl, daß der Hörer bzw. Leser kaum zur Besinnung, geschweige zum Nachdenken kommt: Platon, Aristoteles, Terenz, Vergil, Cicero, Theopomp, Ephoros, Chrysipp, Menander, Sophokles. Auf die antiken Beispiele folgen vier neuzeitliche Juristen, die Deutschen Gail und Mynsinger und die Franzosen Chasseneuz und Tiraqueau, schließlich der berühmte niederländische Philologe Lipsius.
120 Zu diesem Zitat ► auch unten S. 73–74. 121 Angemessene Neuheit wird von Schoocks Zeitgenossen Jakob Balde gefordert: Expeditio Praef. (dazu Lefèvre 2017, S. 14: „Neuheit, novitas, sei es, die die Neulateiner (neoterici) dringend vonnöten hätten“) und Sol. Pod. Occ. & Arg. (dazu Lefèvre 2020, S. 116: „Kernpunkt der Poetik Baldes“). 122 ► Lefèvre 2017, S. 42. 123 1979, S. 460.
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Wiederum handelt es sich nicht um eine seelenlose Aufzählung, sondern um eine gegliederte Reihung, die in nahezu jedem Fall Begründungen gibt. Das Prinzip der Aufnahme früherer Autoren wird von Schoock nicht abgelehnt, doch fordert er eine Nennung derselben (p. 425). Schließlich werden die Väter der Antike als Beispiel einer bewußten Weiterführung ihrer Vorgänger genannt, Tertullian, Minucius Felix und Cyprian – doch nicht ohne die Bemerkung, daß ihnen das Plagiat nicht gänzlich fremd gewesen sei. Schoock äußert sich p. 425 in der 1. Person. Er könnte der Ansicht gewesen sein, von Kollegen plagiiert zu werden. Die Ausführlichkeit und Intensität der Behandlung dieses Punktes legt den Schluß nahe, daß die Argumentation aus dem Inneren kommt. Daß diese Vermutung zutrifft, erweist sich am Anfang der folgenden Sektion, wenn sich Schoock zur Ordnung ruft: Sed ad lineas! Aber zur Sache! Denn er habe kein Apologeticum schreiben wollen (neque enim Apologeticum scribere decrevimus, p. 426). Er hatte also eine ‚Verteidigungsschrift‘ zu verfassen begonnen – nicht im ganzen, wie er auch sagen könnte, sondern in dem verhandelten Punkt, dem Plagiat: Er hat sich verteidigt. 4. Gruppenpolemik (in mutuum exitium conspirare, p. 426–430): Angehängt an die Behandlung der Polemik gegen einzelne Autoren ist eine Betrachtung über das Verfahren, gegen ganze Gruppen (familiae / factiones) von Gelehrten zu polemisieren. Die Gedankenfolge entspringt nicht so sehr logischem Fortschreiten als vielmehr emotional gesteuerter Attacke. Zunächst fungiert der römische Grammatiker Remmius Palaemon als Beispiel eines einzelnen Gelehrten, der sich allen anderen Vertretern seiner Wissenschaft überlegen fühlt (p. 427). Mit ihm werden diejenigen assoziiert, die sich in verbohrter Weise in eine einzige Disziplin verlieren, die den Humanitatis cultus und die humaniorum disciplinarum cultura verachten und einzig nach Gewinn streben. Aber Schoock verweist darauf, er habe bereits dargelegt, daß die Armut die Schwester der Gelehrsamkeit ist (paupertas eruditionis soror est, p. 387). Hierauf weitet sich der Blick: Es geht um die Polemik von Gruppen gegen Gruppen (integræ familiæ in mutuum exitium conspirare): Epikureer versus Kyniker, ja selbst Stoiker versus Stoiker.124 Ausführlich dient aus der Neuzeit die vielfätige, von Konkurrenzdenken nicht freie Polemik unter den Juristen und unter den Ärzten als Beleg für die Thematik (p. 428–429). Diese wird sodann in ganz anderer Weise durch eine Anekdote weitergeführt, nach der Bion von Borysthenes einst den Hochmut seiner Rhetorikschüler mit Hilfe von einfachen Seeleuten zu brechen unternahm (p. 429–430). Eine zweite Nachricht aus der Antike richtet
124 Als lässiges Sonderbeispiel unter den Stoikern wird der Gründer Zenon von Kition hervorgehoben, der außer den streng philosophischen Werken auch eine Liebeskunst sowie eine Schrift über die Schöpfkellen beim Gießen des Weins veröffentlicht habe.
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sich gegen die Gruppe der Lehrer und Schulleiter, nach der Julian Apostata gegen die Einwohner von Alexandria und Caesarea vorging, weil sie Lehrer eingestellt hatten, die nur auf Gewinn zielten. Sie beschließt diese in der Tendenz eindeutige, in der Struktur locker gefügte Sektion, die zwar ein wichtiges Thema behandelt, aber Schoock kaum selbst betrifft. e) Gelehrsamkeit und Macht Der eindringliche Abschnitt behandelt das Thema, es sei am beklagenswertesten, daß allgemein angenommen werde, die Gelehrsamkeit könne nicht mit Purpur (Machtausübung)125 verbunden werden (p. 430–448). Er gliedert sich in fünf Sektionen: 1. Verbindung von Gelehrsamkeit und Macht (eruditio cum purpura conjungere, p. 430–432), 2. Celio Rodigino (Cœlius Rhodiginus, p. 432–433), 3. Geschwätzige Gelehrsamkeit (lallans eruditio, p. 433–440), 4. Seriöse Gelehrsamkeit (serio studia tractare, p. 440–445), 5. Verbindung von Macht und Weisheit (conjunctio potestatis & sapientiæ, p. 445–448). 1. Verbindung von Gelehrsamkeit und Macht (eruditio cum purpura conjungere, p. 430–432): Der Meinung, daß Gelehrsamkeit und Macht unvereinbar seien, ist nicht nur das einfache Volk; die Vertreter der weltlichen Macht handeln entsprechend. Daher werden Grammatiker, Rhetoren, Rechtsgelehrte, Theologen, Dichter, Philosophen und Mathematiker an der Machtausübung nicht in dem ihnen zustehenden Maß beteiligt. Die allgemein geltende Überzeugung könnte noch hingenommen werden, wenn sie nicht auch von Gelehrten selbst gestützt würde. 2. Celio Rodigino (Cœlius Rhodiginus, p. 432–433): Schoock zitiert einen längeren Passus aus den Antiquae Lectiones des italienischen Humanisten Ludovico Celio Ricchieri (1469–1525) wörtlich, um zu demonstrieren, wie falsch selbst die klügsten Männer über die Herrschaftsfähigkeit der Wissenschaftler geurteilt haben. In ihm bemüht sich Celio, unter Anführung von Beispielen zu beweisen, daß der Staat nicht denen überlassen werden dürfe, die sich in die Wissenschaften zurückgezogen haben. Es werden Männer vorgeführt, die in bekannten Philosophenschulen gewesen und dennoch Tyrannen geworden seien: Ariston, Kritias, Pythagoras, Athenion und Lysias von Tarsos.
125 purpura steht metonym. für Obrigkeit und Würdenträger (deren Gewand in Rom mit Purpur verbrämt war) und ihre Machtausübung.
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3. Geschwätzige Gelehrsamkeit (lallans eruditio, p. 433–440): Ehe Schoock es unternimmt, Celio Punkt für Punkt zu widerlegen, äußert er sich in eingehender Diskussion kritisch über diejenigen Gelehrten, die oft durch ihr Verhalten und die Quisquilien ihrer Forschungen Platons bekanntem Wunsch entgegenhandeln, daß entweder die Philosophen herrschen oder die Herrschenden philosophieren sollen. Das ist eindeutig formuliert und wird durch ein drastisches Bild untermalt: Wenn sie immer das Nützliche vom Unnützen getrennt und nicht zugelassen hätten, daß neben einem erhabenen Palast der Gelehrsamkeit Latrinen (foricas) von allerlei Quisquilien plaziert würden, wären die Wissenschaften angesehener. Das wird mit eindeutigen, teilweise grotesken Beispielen aus der Antike (wie Didymos mit den ehernen Eingeweiden, der 4000 Bücher geschrieben haben soll, die hier ‚Gerümpel‘, supellex, genannt werden) und aus der Neuzeit (wie jenem Erzbischof aus Padua, der statt theologische lieber logische und naturphilosophische Probleme behandelte) belegt. Es werden Grammatiker, Philosophen und Theologen genannt. p. 436 geht die Argumentation von den Werken der Gelehrten zu ihrem sozialen, besser: oft unsozialen Verhalten über, wenn sie in der Öffentlichkeit und bei geselligen Anlässen Morosität und inakzeptables Benehmen an den Tag legen – wiederum mit grotesken Beispielen eindrücklich illustriert. Schoock geht schlimm mit seinen Kollegen ins Gericht: Selbst bei alltäglichen Dingen seien Gelehrte oft nicht Menschen, sondern Klötze (stipites) zu nennen. Es sei daher angemessen, diese vom Kreis der Gelehrten fernzuhalten. Das unsinnige Betragen (insania) einiger dürfe nicht den Wissenschaften insgesamt angerechnet werden. Freilich kämen auch die Kleinigkeitskrämer zu gewissen Ergebnissen, doch sei nur bei wenigen die ‚geschwätzige Gelehrsamkeit‘ (lallans eruditio) erträglich. 4. Seriöse Gelehrsamkeit (serio studia tractare, p. 440–445): Die brillante Attacke der dritten Sektion leitet über zu einem positiven Gelehrtenbild, das mit Nachdruck gezeichnet wird und – nicht zufällig in der Mitte der Schrift? – mit dem Gelehrtenspiegel, der ihren krönenden Abschluß bildet (p. 486–493), gewissermaßen korrespondiert. Die beiden Partien sind jedoch formal verschieden: Während die erste den wahren Gelehrten beschreibt, wie er ist, stellt die zweite einen Aufruf an den Gelehrten dar, wie er sein soll. Über den wahren Gelehrten wird einleitend gesagt, daß er, der mehr gelehrt zu sein als gelehrt zu gelten wünscht, bemüht sei, sich ganz allein durch Klugheit, Bescheidenheit und ein wohlgeordnetes Leben zu erweisen (qui doctus esse magis quam haberi desiderat, prudentia, modestia, vitaque composita solummodo se approbare laborat). Hierauf paradiert eine Reihe von Staatsmännern und Feldherren, die – in je unterschiedlicher Weise – eine philosophische Ausbildung genossen und sich später in herausragender praktischer Arbeit im Leben bewährt haben, wie teils ausführlich, teils andeutend dargelegt wird: Xenophon, Perikles, Dion von
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Syrakus, Timotheos von Athen, Philolaos von Kroton, Agesilaos von Sparta. Die stoische Philosophie wird als kriegerisch gepriesen, und auch die Dichter erhalten hier ihren Platz, was zahlreiche Beispiele belegen sollen. Wenn in verschiedener Hinsicht Vergil, Horaz, Ennius, Stesichoros und Archilochos als Zeugen genannt werden, ist sich Schoock natürlich der Ambiguität mancher antiker Nachricht bewußt, aber er weist als Humanist unausgesprochen die Verantwortung dafür souverän der Antike zu und folgert unbeirrt, die Wissenschaften führten nicht von der Ausführung von Taten ab, wenn sie mit Klugheit verbunden werden. In ihnen würden Taten und Planung von Taten gelernt (non abducunt à rebus gerendis literæ, si cum prudentia copu- | lentur. In ijs & acta & agenda discuntur, p. 442– 443). Doch damit nicht genug. Es folgen der ‚Stoiker‘ Cato, Scipio Africanus, welcher Umgang mit Polybios (der auch Philosoph gewesen sei) hatte, natürlich auch der von Aristoteles beeinflußte Alexander, dessen von Plutarch überlieferte diesbezügliche Worte an den Lehrer zitiert werden. Da der große Feldherr aber auch Homer hoch schätzte, kommen wieder die Dichter in den Blick, die zugleich die Musen und den Mars verehrten (eodemque tempore Musarum Martisque cultores), Tyrtaios und Alkaios, bis es schließlich abermals römische Kaiser sind, die als literati den Abschluß bilden, Severus, Pertinax, Antoninus, Tacitus und Gordian. Nach dieser Überfülle an Autoritäten, die bei dem Hörer bzw. Leser jeden Zweifel ersticken (sollen), kommt Schoock zu dem Kernsatz der ganzen Schrift: We r im m e r d e n Wert der Wissensc h a fte n ke nne , könne di e se ni cht w e n ig e r p r iv a t a ls ö ffentlic h na c h der Beschaf f e nhe i t de r Umstände a n j e d e m O r t u nd zu j eder Zeit nu tzen; und durch se i n Be i spi e l be k rä ft ig e e r da s, w a s der E rste a n Geist und Ge le hrsamke i t, P laton, g e s a g t h a b e , ‚da ß die Verbindu ng vo n M acht und We i she i t de n S t a a t e n im m e r zu m Heil gew esen sei‘ (quisquis literarum pretium novit, ijs non minus privatim, quam publice pro re nata omni loco atque tempore uti potest, exemploque suo confirmat illud, quod princeps ingenij & doctrinæ Plato dixit: ‚Conjunctionem potestatis & sapientiæ saluti semper civitatibus fuisse‘, p. 445). 5. Verbindung von Macht und Weisheit (conjunctio potestatis & sapientiæ, p. 445– 448). Natürlich ist mit diesen Ausführungen die zuvor ausführlich zitierte provozierende Ansicht von Celio Rodigino implizit erledigt. Trotzdem läßt es sich Schoock angelegen sein, die von diesem gegebenen Beispiele explizit zu widerlegen.126 Zudem geht er auf die von Celio nur pauschal getadelten septem sapientes ein und erklärt vier von ihnen in diesem Zusammenhang für diskussionswürdig, die er entsprechend positiv charakterisiert: Solon von Athen, Periander von Korinth, Pit-
126 Freilich wird das letzte, Lysias von Tarsos – ein eindeutiger Fall (► p. 432) –, übergangen.
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takos von Mytilene und Bias von Priene. Schoock hat sich die Absicherung seiner zentralen These nicht leichtgemacht. Der Schlußsatz der ganzen engagiert vorgetragenen Erörterung spricht für sich: Daß zu Unrecht und durch unhaltbare Verdächtigungen den Gelehrten von gewissen Leuten, die sich mit unnützen Dingen abgeben, hohe Ehrenstellen vorenthalten würden, erhelle aus dem, was er bis jetzt erörtert habe (per iniuriam, levesque suspiciones eruditis fasces, à male feriatis quibusdam adimi, claret ex ijs, quæ hactenus disseruimus). Nirgends in diesem Abschnitt spricht Schoock von sich selbst. Aber unausgesprochen teilt sich dem Rezipienten die Auffassung mit, daß er, der alle Quisquilien und Nebensächlichkeiten in seinen Forschungen vermeidet und immer wieder große Themen behandelt, wohl einer der Kandidaten in Platons Sinn ist. Es ist zu bedenken, daß die Schrift an die staatlichen Autoritäten der Universität Groningen gerichtet ist. f) Tod Folgerichtig und doch überraschend steht am Ende der Facetten der miseria eine Betrachtung des Todes der Gelehrten (p. 448–486). Es ist der mit Abstand längste Abschnitt, der dementsprechend den düsteren Ton, der schon vorher immer wieder durchklingt, verstärkt. Die Ausführung gliedert sich in fünf Sektionen: 1. Vorzeitigkeit (præpropera mors, p. 448–461), 2. Gedächtnisverlust (omnium iactura, p. 461–465), 3. Geistige Verwirrung (turba, p. 465–470), 4. Ehefrau (uxor, p. 470–472), 5. Der Tod selbst (ipsa mors, p. 472–486). 1. Vorzeitigkeit (præpropera mors, p. 448–461): Die Sektion beginnt mit der Feststellung, daß das Leben des Gelehrten meistens zu kurz ist. Was überraschend klingt, hat einen verständlichen Grund. Es geht einerseits darum, daß man von ihm erwartet, er möge möglichst lange das Amt des Lehrens (docendi partes) ausüben, und andererseits darum, daß er selbst aufgrund seiner Forschungen und Schriften nach dem Tod etwas zu hinterlassen wünscht, in dem er weiterlebt. Recht verstanden, bedeutet das, der Gelehrte verdiene, länger als die anderen Menschen zu leben! Andererseits erleiden ganze Gruppen tatsächlich einen zu frühen Tod, wie zunächst an den Dichtern demonstriert wird (p. 449–451), zu Beginn an römischen: Vergil, Tibull, Persius, Lukrez, Lukan – was wahrlich ein naturwidriges Ereignis sei (monstro verò hoc simile)! –, sodann an Dichtern der recentior ætas: Angelo Poliziano, Ercole Strozzi, Johannes Secundus, Johannes Wilhelms, Janus Palmier, Lucas Fruytiers, Jan und Joris van der Does (Janus und Georgius Dousa) und Peter Lotich dem Jüngeren (Lotichius Secundus). Es handelt sich sowohl bei den römischen als
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auch bei den neueren Dichtern nicht um eine mechanische Aufzählung, sondern in jedem Fall um eine kurze individuelle Charakteristik. Nach den Dichtern kommen die Rechtsgelehrten in den Blick (p. 452–456). Obwohl Schoock sagt, daß er nur eine Kostprobe von Beispielen (exemplorum gustulum) geben wolle, bietet er eine reiche Auswahl, Guilielmo Duranti, Bartolo da Sassoferrato, Lodovico Pontano,127 Gregor Haloander, Baldo degli Ubaldi, Bartolomeo Saliceto, Andrea Alciato, Guillaume Budé, Jacques Cujas, Hugo Doneau, Antonio Goveano, François Duaren und Jacob Raewaerd. Diese stattliche Phalanx von juristischen Autoritäten wird überwiegend angemessen vorgestellt.128 Schoock mochte den Eindruck haben, daß die Rechtsgelehrten manchen Rezipienten nicht in demselben Maß vertraut waren wie die zuvor behandelten Dichter.129 Die Benutzung einer Quelle für Einzelheiten ist nicht auszuschließen. Es folgen die Ärzte (p. 456–458). Gerade diese werden, heißt es, aufgrund ihres hohen Alters geschätzt, doch sterben viele zu früh. Nicht ohne offensichtliche Ironie ist Paracelsus’ Porträt ausführlich ausgestaltet, womit Schoocks satirische Ader zu ihrem Recht kommt. Paracelsus werden als wahre Autoritäten Valerius Cordus, der Sohn des Euricius Cordus (Heinrich Ritze) und Conrad Gessner gegenübergestellt, doch steht am Ende noch einmal ein Pfeilschuß auf Paracelsus. Auch die Philosophen, die als nächste an die Reihe kommen, sterben vielfach zu früh, obwohl sie nach Weisheit streben (p. 458–461). An der Spitze steht der Niederländer Rudolf Agricola, dem ein wahres Elogium zuteil wird und über den es heißt, daß er bei längerer Lebenszeit jenen großen Erasmus übertroffen hätte! Sicher verdient er eine solche Auszeichnung, wenn auch ein wenig der Umstand mitspielen dürfte, daß er in Baflo, einem Dorf in der Provinz Groningen, geboren wurde; Schoock nennt ihn illud terræ Frisiæ decus. Weiter wird Pico della Mirandola eingehend gewürdigt. Angeschlossen ist ein knappes Porträt des Astronomen Ludovico Prato, der hier seinen Platz hat, da die Mathematiker und Astronomen zu den Philosophen gerechnet werden können. Insofern werden ferner die beiden deutschen Mathematiker und Astronomen Johannes Müller und Erasmus Reinhold an dieser Stelle gewürdigt, die beide jung sterben mußten, als hätte der Tod gehofft, mit ihnen die Astronomie in Schweigen und Dunkel zu vernichten. Das ist ein bitteres Urteil, das zu einer bitteren Reflexion überleitet, die nur scheinbar einen Trost bedeutet: Den Gelehrten scheine nichts Besseres als allgemein ein zeitiger Tod
127 Anläßlich des gerühmten Gedächtnisses von Pontano ist ein Exkurs mit Autoritäten aus der Antike eingeschoben, deren memoria herausragend war: Simonides, Theodektes, Kineas, Karneades, Metrodorus, Hortensius, Seneca Philosophus. Die Rezipienten werden geradezu mit Namen und Fakten überschüttet. 128 Sie endet mit einem düsteren Ausblick auf die Gegenwart (p. 455). 129 Andererseits könnte Schoock 1649 bei der juristischen Thematik mit besonderem Interesse der Widmungsempfänger gerechnet haben.
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gewünscht werden zu können, da ja die meisten von ihnen offenbar für ein Alter aufgehoben würden, daß sie wie Spielbälle Fortunas von Unglücksfällen jeglicher Art heimgesucht werden (ut […] velut quæ fortunæ pilæ, omnis generis calamitatibus exerceantur, p. 460 / 461). Das wird in den folgenden Sektionen ausgeführt. 2. Gedächtnisverlust (omnium iactura, p. 461–465): Natürlich ist es gerade für Gelehrte schlimm, im Alter vom Gedächtnis im Stich gelassen zu werden und der Jugend zum Spott zu gereichen. In besonderem Maß trifft das auf die Redner / Rhetoren und Grammatiker zu, zumal wenn sie im Unterricht tätig sind (p. 461–462). Hier werden Messalla Corvinus, Orbilius sowie in eindringlicher Weise Hermogenes von Tarsos genannt, den Redekunst und Weisheit schon im 25. Lebensjahr verlassen haben sollen. Ihm wird nicht weniger eindringlich Georg von Trapezunt als Philosoph an die Seite gestellt, der im Alter ein jämmerliches Leben fristete (p. 462– 463). Die Schilderung geht sodann auf die Rechtsgelehrten über (p. 463–464), auf die Italiener Francesco Barbaro, Andrea Siculo, Baldo degli Ubaldi und Filippo Decio, deren Schicksal individuell in bemitleidenswerter Weise ausgemalt ist. Schließlich wird der offenbar als Theologe gerechnete Guillaume Postel, der sogar das Wissen um seine Person verlor, in fast grotesker Weise vorgestellt (p. 464–465). 3. Geistige Verwirrung (turba, p. 465–470): Vom Gedächtnisverlust ist es nur ein Schritt zur geistigen Verwirrung, die viele Gelehrte heimsucht. Natürlich ist Schoock nicht der Meinung, daß die Gelehrten im Alter mehr als andere den Einschränkungen des Gedächtnisses oder der Demenz ausgeliefert seien. Es ist vielmehr zu verstehen, daß diese Alterscharakteristika gerade bei ihnen besonders bemerkenswert sind. Die Demenz wird als bei weitem härter (longe durius) als die Vergeßlichkeit bezeichnet und von dem Ausruf begleitet, wer sähe nicht, daß Gottes Urteile furchtbar sind (Dei tremenda judicia quis non suspiciat!). Aus der Antike sind als Philosophen Demokrit, Empedokles, Kleomenes, Senetio130 und Thrasyllos (die beiden letzten mit einiger Ironie) angeführt (p. 466–467). Aus der Neuzeit werden zunächst zwei Rechtsgelehrte porträtiert, Joannes Tulenus und in bemitleidenswerter Weise Baldo degli Ubaldi (p. 467–468), ehe Tasso, Sappho und Gallus die Dichter beider Epochen (p. 468–469) und der Philosoph Agostino Nifo in einem eindringlichen Porträt die Neuzeit repräsentieren (p. 469–470). 4. Ehefrau (uxor, p. 470–472): Sind die bisherigen Sektionen bereits voller schlimmer Widerfahrnisse, so wird die folgende noch düsterer. Schon die Einleitung, daß der späte Abend immer irgendein Übel mit sich bringe (mali quid semper serus vesper
130 Senetio: ► die Erklärung z. St.
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vehit, mit doppelter Alliteration), läßt nichts Gutes ahnen. Es geht um das Elend, das Verwandte, Frau und Kinder den Gelehrten im Alter bescheren. Das zeigt das Schicksal des berühmten Arztes und Humanisten Gerolamo Cardano, dem die Söhne tiefsten Kummer bereiteten und die Ehefrau in schlimmster Weise mitspielte – ein eindrücklich geschildertes Beispiel. Das Thema wird weitergeführt, insofern die beiden Ärzte Antonius Niger und Johann Georg Turmair (Ioannes Aventinus) in gleicher Weise als Leidtragende infolge ihrer unleidlichen Ehefrauen porträtiert werden, deren erste die Erinnerung an Xanthippe und Tanaquil wachruft und deren zweite als häßlich, streitsüchtig und schwierig (deformis, rixosa, difficilis) geschildert wird, die ihrem Mann nur noch die Möglichkeit läßt, zu sterben. Es fällt schwer, nicht das Gefühl zu haben, daß hier jemand spricht, dem solche Erfahrungen im allgemeinen nicht fremd sind. So ist man vorbereitet, nicht über die ganz am Ende der Schrift formulierte frostige Behauptung hinwegzulesen, daß Fortuna zuweilen den Ehen Glanz bringe, sie jedoch sehr oft / meistens umstürze (p. 495). 5. Der Tod selbst (ipsa mors, p. 472–486): Es ist die längste Sektion in diesem Abschnitt. Auch sie hat, wie die vorhergehende, eine tiefgründige Einleitung, die auf Schlimmes vorbereitet: Der Christ hat als Gotteskrieger dem zu folgen, der alles gibt – ein Bild, das am Ende der Schrift eindringlich aufgenommen wird. Hieß es zuvor, daß den Gelehrten offenbar nichts Besseres gewünscht werden könne als allgemein ein zeitiger Tod, da die meisten für ein Alter voller Unglücksfälle aufgehoben würden (p. 460 / 461), so wird jetzt noch verschärfend gesagt, der Tod beendete ihr Unglück, wenn nicht seine Art meistens an öffentlicher Schmach litte (nisi genus illius publica ut plurimum infamia laboraret). Hier werden an erster Stelle die Märtyrer genannt, deren gottgeweihter Tod jedoch selbstgewählt ist (p. 472–473). Sehr ausführlich kommen die Rechtsgelehrten zu Wort, deren aufrechtes Wirken sowohl in der Antike bei Mucius Scaevola, Cocceius Nerva, Cassius Longinus, Salvius Iulianus, schließlich Papinian und Ulpian zum Tod geführt hat als auch in der Neuzeit bei Adam Trasiger, Georg Sigismund Seld, Ulrich Zasius, Pier della Vigne, Angelo Cesio, Jean de Coras, Barnabé Brisson und Angelus Saxus. Es handelt sich keineswegs um leblose Aufzählungen, vielmehr um mitfühlende Schilderungen ihrer (unverdienten) Schicksale. Schoock mögen hier Kenntnisse aus seiner Studienzeit zugute gekommen sein (p. 473–478). In nicht weniger schrecklicher Weise werden die Ärzte ins Visier genommen. Zunächst wird – nicht ohne Unterton – festgestellt, daß sie zu den Reichsten zählen, aber gerade dieser Umstand oft zu ihrem gewaltsamen Tod führt. Das wird durch das Schicksal des antiken Arztes Alcon unter Claudius und Nero veranschaulicht, vor allem aber durch die qualvollen mit Empathie geschilderten Todesarten der beiden neuzeitlichen italienischen Ärzte Gabriele Zerbi (samt seinem Sohn) und Josiphon (Giuseppe Gallo), worauf noch einmal ein Exkurs über den Reichtum der Ärzte folgt (p. 478–481). Bei den
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schändlichen Todesarten der Philosophen steht sinnvollerweise Sokrates an der Spitze, doch ging es anderen nicht besser: Anaxarchos und Kallisthenes in Griechenland, Seneca, Paetus Thrasea und Boethius bei den Römern; auch das Mittelalter ist mit Johannes Scotus Eriugena, die Neuzeit mit den wie auch sonst zu den Philosophen gerechneten italienischen Astrologen Luca Gaurico und Bartolomeo Cocles vertreten. Als Krönung steht am Ende der bedeutende Aristoteliker Pierre de la Ramée, der in der Bartholomäusnacht ein gräßliches Ende fand (p. 481–483). Für die Redner werden nur zwei der größten, Demosthenes und Cicero, mitfühlend und detailreich gewürdigt, damit nicht neben den Koryphäen einfachere Vertreter dieses Fach repräsentieren (p. 483–484). Am Schluß stehen die Dichter. Während Griechenland Orpheus, Euripides, Ibykos, den Komödiendichter Platon, Sotades, Theokrit und Lykophron zu bieten hat, werden für Rom lediglich der unbedeutende Maevius genannt und für die Neuzeit immerhin Thomas Morus (mit dem man nicht in erster Linie das Dichtertum verbindet), Ercole Strozzi und Fabio Latino (p. 484–486). Das ist im ganzen eine beachtliche Phalanx herausragender Vertreter aller Sparten, die grausam zu Tode gekommen sind. Und doch wird gleich zu Anfang deutlich gesagt: Der Tod beendet die elenden Zustände der Gelehrten nicht, sondern ist meistens mit öffentlicher Schmach (publica ut plurimum infamia) verbunden (p. 472). Diese erschütternde Feststellung wird im letzten Satz der Sektion – im Sinn einer Ringargumentation – wiederaufgenommen, wenn es heißt, der Tod verschaffe dem weiterlebenden Namen der Gelehrten bei Unkundigen und in der Wissenschaft Fremden manche stillschweigende Annahme eines üblen Rufes (nisi pariter victuro eorum nomini apud ignaros, & peregrinos in literis, tacitam aliquam infamiæ opinionem procuraverit, p. 486) – eine miseria also, die über den Tod hinaus andauert. g) Epilog: Ermahnungen (Gelehrtenspiegel) Die Rede schließt nicht, wie nach der Widmung erwartet werden könnte, mit einem Appell an die staatlichen Vorgesetzten, den Gelehrten einen besonderen Schutz zu gewähren, sondern überraschenderweise mit einem eindringlichen Appell an die Gelehrten selbst, sich der göttlichen Ordnung, in der sie stehen, bewußt zu sein und ethische Normen zu befolgen (p. 486–493). Dem Gelehrtenspiegel131 ist ein herausragender Platz zugewiesen. In der Tat wurde in der Schrift über weite Strecken die Ursache der miseria auch auf seiten der Gelehrten selbst gesehen: Neid, Polemik,
131 So wie ein Fürstenspiegel darlegt, wie der Fürst sein soll, legt der Gelehrtenspiegel, von dem hier gesprochen wird, dar, wie der Gelehrte sein soll.
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Plagiat und dergleichen bestimmen, wie es heißt, immer wieder ihr Verhalten untereinander – wie schon in der Antike, so auch in der Neuzeit. Diese Einschränkung schwächt nicht das Gewicht des Appells an die staatlichen Behörden, sondern stärkt ihn, richtig verstanden, erheblich. Denn ihnen wird vorgeführt, daß es neben würdigen Gelehrten auch unwürdige gibt, so daß sehr wohl zu unterscheiden ist, wem Schutz und Mittel zu gewähren sind – und wem nicht. Es geht nicht um eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip, sondern um eine Förderung nach Verdienst und Würdigkeit. Zwei Komponenten sichern dem Appell an die Gelehrten ein besonders hohes Niveau: die religiöse und die ethische Grundierung. So heißt es gleich am Anfang: Zuerst und vor allem soll der Gelehrte alle nur möglichen rechten Taten nicht auf Zurschaustellung und Ruhm, sondern auf das Gewissen und auf Gott als dessen Zeugen beziehen (primo, & ante omnia, quæcunque recte facta, non ad ostentationem & gloriam, sed conscientiam, ejusque testem Deum, referto, p. 486). Wenig später wird unterstrichen, alles solle er mit Gott und, nach Gott, doch wenigstens mit sich selbst als Zeugen tun (omnia Deo, & post Deum, tamen ipso conscio, facito, p. 487). Die Darlegung hat in eindrucksvoller Weise über weite Strecken den Charakter christlich fundierter Ermahnungen (monita). Der Gelehrte wird daran erinnert, daß er Christus’ Soldat ist und nach dessen Beispiel gegen die Sünde zu kämpfen hat, daß Christus aber keine Anweisungen gibt, sondern (nach Matthaeus) gewinnend zu ihm spricht: „Lerne von mir, daß ich milde bin und im Herzen sanft“ (discito à me, quod lenis sim, & summissus corde, p. 488). Es ist geradezu eine Predigt, die die Klageschrift beschließt, eine Predigt, die ruhig dahinfließt und nur ab und zu einen Blick auf die Antike wirft, wenn etwa kurz an Kleobulos, Simonides, Sokrates, Platon, Herostratos oder Livius Drusus erinnert wird. Es geht nicht um Bildung, schon gar nicht um provozierende Thesen, sondern um Ethik – um Ethik auf einem religiösen Fundament, das den staatlichen Vorgesetzten nicht nur die Gelehrten im allgemeinen, sondern, unausgesprochen, auch den Autor im besonderen empfiehlt. Auf der anderen Seite wird deutlich gesagt, daß Purpur und Hof für den gelehrten Mann, der seine Rechnungen gehörig gemacht hat, im Vergleich zu Palast und Ausstattung, die er in sich verborgen hat, ohne Reiz sind (p. 491). Diese Aussage steht nicht im Widerspruch zu der früheren Widerlegung der These von Celio Rodigino, daß der Staat nicht den Wissenschaftlern überlassen werden dürfe (p. 432), sondern stellt eine Ergänzung dar: Der Gelehrte ist durchaus für höchste Ämter geeignet, aber er erstrebt sie nicht um ihrer selbst willen. Er ist für die Allgemeinheit tätig und beschreitet immer den königlichen Weg der Tugend und richtet seine Wünsche dahin, daß er, nachdem er sich ganz für die Verwandten, die Bürger und schließlich für alle Menschen eingesetzt hat, der Nachwelt im Gedächtnis bleibt (p. 492). Eben dieses Ziel können die in der Schrift besprochenen Gruppen haben (und erreichen), die
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Philosophen, Redner, Ärzte, Theologen, Rechtsgelehrten und auch die Dichter (wie etwa an Homer demonstriert wird).132 Selbstverständlich gehören auch Hochschullehrer – wie Schoock – hierher. Der Gelehrtenspiegel klingt geradezu mit einem Hymnus auf den Gelehrten, der die monita beherzigt, aus (p. 493).
2. Übergreifende Kriterien Im folgenden werden einige Punkte besprochen, die in den vorhergehenden Erläuterungen der Hauptthesen Schoocks nicht per se in den Blick gekommen sind. a) Lob der Philosophie Schoock hatte, wie seine Schriften ausweisen, eine sehr gute Kenntnis der antiken Philosophen. Er war in Groningen Ordinarius für Philosophie.133 Entsprechend hieß seine Antrittsvorlesung daselbst: Quomodo quis ad culmen Philosophiæ pervenire possit, ad quod soli antiqui Philosophi pervenerunt. Habita in Academia Groningo-Omlandica, cum Philosophiæ professionem auspicaretur.134 Drei weitere diesbezügliche Groninger Vorträge sind erhalten: (Oratio) Expendens caussas, ob quas Philosophia vulgo contemnitur;135 (Oratio) Quæ ut Philosophiam Philologia copulat, ita Philosophanti viam ostendit, quæ ad edita Philosophiæ culmina ducit (gehalten bei der Niederlegung des Rektorats am 23. August 1645);136 Nuptiæ Metaphysicæ, sive primæ Philosophiæ ad statum Conjugalem applicatio.137 Schoock war ausgewiesen. Demgemäß steht schon am Anfang der Schrift ein Hymnus auf die Philosophie: Die menschliche Weisheit, die Philosophie genannt wird, überrage nach der göttlichen Weisheit alles, so wie unter den Sinnen der Gesichtssinn, in der Lebenskraft der Verstand, unter den Gestirnen die Sonne – und werde immer das Auge und der Antrieb der Natur sein (sapientia humana, quæ Philosophia dicitur, post divinam præcellet omnia, sicut in sensibus visus, in anima mens, in sideribus sol, manebitque perpetuo oculus atque animus naturæ universæ, p. 380). Der Leser wird darauf
132 Über Homer wird gesagt, er sei die erste Quelle der Wissenschaften und des Altertums, und ihn habe Kaiser Justinian den Vater jeder Tugend genannt (► p. 387). 133 ► S. 2 mit Anm. 6. 134 1650, p. 238–268. 135 1650, p. 291–304. 136 1650, p. 327–347. 137 1650, p. 348–376 (der Titel spielt auf Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii an).
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eingestimmt, daß ihn eine kritische Reflexion erwartet und der Autor selbst, wenn er auf die einzelnen Berufsgruppen unter den Gelehrten zu sprechen kommt, vor allem unter den Philosophen rangiert. Deren miseria ist seine miseria. b) Wer sind die Gelehrten? Die Gelehrten werden, soweit es möglich war, in Theologen, Philosophen, Redner, Dichter, Rechtsgelehrte und Mediziner gegliedert.138 Das erinnert an die klassischen Fakultäten der Universitäten, die Theologische, Philosophische, Juristische und Medizinische Fakultät. Schoock war Universitätslehrer und als solcher mit den meisten dieser Disziplinen vertraut. Er behandelte zudem die Dichter.139 Bleiben die Redner (Oratores). Das ist in der Regel keine bestimmte Berufsbezeichnung. Aischines und Demosthenes waren Redner und Politiker, Cicero und Seneca Redner, Politiker und Philosophen, Cicero dazu Jurist, Seneca Dichter. Im übrigen werden auch die Grammatiker als Redelehrer zu den Rednern gezählt. Die sind an der Universität in den einzelnen philologischen Disziplinen zu Hause. Was hat die Auffächerung der Gelehrten mit Schoocks Argumentation zu tun? Auch dieser Umstand dient der Überzeugungskraft der Schrift. Den Widmungsempfängern wird klargemacht, daß es sich um ein verbreitetes Schicksal der Gelehrten handelt. In der Regel geht es um die Spitzen, indem es heißt: Selbst die angesehensten Forscher der Theologen, Rechtsgelehrten, Rhetoren usw. polemisierten gegeneinander und neideten den Kollegen den Erfolg, selbst die klügsten Philosophen hatten eine zänkische Ehefrau, selbst die angesehensten Politiker hatten Söhne, die nicht reussierten, usw. c) Soziale Stellung der Gelehrten Ein wesentlicher Punkt der Schrift ist Schoocks Klage über die mangelnde soziale Anerkennung der Gelehrten. Mit geradezu satirischen Tönen führt er vor, daß diejenigen, die den Wissenschaften und Wissenschaftlern etwas zu gewähren scheinen, sie doch meistens unterhalb der Tafeldiener einschätzen und sie kaum anständiger und ansehnlicher als irgendeinen Haussklaven halten. Es sei nachdrücklich zu wünschen, daß die von der Gelehrsamkeit ausgebildeten Männer bei denen, die sie sich als Patrone ausgesucht haben, auf derselben Stufe der Ehre gehalten würden wie diejenigen, die für die Herren die Pferde oder die Hunde füttern. Denn jene würden öfter von den Gebietern geholt und zu einem Gespräch gerufen, aber
138 ► S. 28–29. 139 „Auch die Schriftsteller und Dichter galten als Gelehrte. Ein gelehrter Dichter ist insbesondere der poeta laureatus“ (Grimm 1998, S. 3).
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diese, gleichsam als ob sie der tiefste Abgrund aller Dinge, der Orkus, verschluckt hätte, niemals zu einem Gespräch oder irgendeiner anderen Angelegenheit zugelassen, wenn nicht eine Notwendigkeit dazu zwinge.140 Diese Klage, die sich auf die Tätigkeit der Gelehrten an den Höfen bezieht, ist ihrer Lage an den Universitäten in mancher Hinsicht vergleichbar.141 „Einen schweren Rückschlag für die gesellschaftliche Reputation der Gelehrten brachte der Dre i ßi gjähri ge Kri e g mit sich. Insbesondere die an den Universitäten eingerissene Verwilderung […] hat dem Gelehrtenstand […] sehr geschadet. […] Indiz für die gesunkene soziale Stellung ist das berüchtigte Hessen-Kasselsche Rangreglement von 1762, in dem die Doktoren in einer Klasse mit den Kammerdienern, Büchsenspannern, Hauskonditoren und Küchenschreibern rangieren.“142 Man fühlt sich an Schoocks Tafeldiener, Haussklaven, Pferde- und Hundefütterer erinnert. Die Gründung der Universität Groningen (1614) fällt in eine Zeit, in der sich eine Tendenz der Landesherren beobachten läßt, „die korporativen Freiheiten und Vorrechte der Universitäten zu beschneiden“.143 Es ist klar, daß die Abhängigkeiten von Universität zu Universität verschieden waren. Was Groningen betrifft, fällt der devote Ton auf, in dem Schoock sein neues Werk den Vorgesetzten der Universität als deren devotissimus cultor widmet.144 Hinter Schoocks satirischen Partien klingt immer wieder die eigene Betroffenheit durch. d) Fehlverhalten der Gelehrten Die Gelehrten sind jedoch keineswegs nur Opfer, sondern auch Täter, die Kritik herausfordern,145 sofern man diese Kategorien auf ihr Verhalten anwenden darf. Schoock betont, daß sie selbst schuld an allfälligem Mißgeschick sind. Schon die Themen des Neids und des Plagiats, die eindrücklich geschildert werden (p. 392– 403), sprechen eine deutliche Sprache: Es neidet und kämpft in solchen Fällen
140 Qui literis & literatis aliquid tribuere videntur, plerumque tamen infra gulæ magistros eos censent, & vix honestius & nitidius habent quam mediastinum quem servum. Atque optandum summopere foret, ut eruditione expoliti viri, eodem apud illos, quos patronos sibi delegerunt, honoris loco haberentur, quo illi, qui equos ipsis aut canes alunt. Nam isti sæpius à dominis accersuntur, & in colloquium evocantur: at illi, tanquam si eos altissimus rerum omnium gurges Orcus exsorbuerit, nunquam ad colloquium, aut rem aliam aliquam, nisi necessitas cogat, admittuntur (p. 393). 141 Zum Konflikt ‚Stadt und Universität‘ ► Füssel 2006, S. 278–322. 142 Grimm 1998, S. 6 (Sperrung ad hoc). 143 Füssel 2006, S. 320. 144 ► S. 22. 145 ► zu dem Thema Füssel 2006, S. 352–357, der von dem alten Sprichwort ausgeht ‚Die Gelehrten die Verkehrten‘ (zu den Gelehrten im Sprichwort ► Röhrich 1991, S. 531–532) .
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Gleich gegen Gleich. Scaligers Poetices libri septem waren akklamiert, aber er selbst weckte durch scharfe Urteile Kritik an seinem Werk (p. 398–399). Didymos und Apion waren hochgelehrt, aber sie brachten durch die Spitzfindigkeit ihrer Forschungen die Gelehrten in Verruf (p. 434). Denn die Gelehrsamkeit, zu Stäubchen und Splittern der Feinheit reduziert, schadet, sagt Schoock, und breitet nicht so sehr den Augen als vielmehr dem Verstand dichten Nebel entgegen (p. 433).146 Guillaume Postel war ein bedeutender Gelehrter, aber er selbst forderte im Alter durch die Liebe zu einer ältlichen Virgo in Venedig Spott heraus (p. 464–465). So ist die Klage, daß Eruditio und Purpur, Gelehrsamkeit und weltliche Macht, nicht Hand in Hand gehen (p. 430–448), zwiespältig. Sie gibt zu einem wesentlichen Teil den Gelehrten selbst die Schuld. Gelehrte erscheinen überdies oft – wer hätte das gedacht? – in ihrem sozialen Umgang gestört, wenn gefragt wird, ob nicht zuzugeben sei, daß mit Recht vielen Gelehrten hohe Ämter verwehrt würden, weil sie meistens mit den Unwissendsten Dinge nicht wüßten, die in diesem Leben täglich begegnen und allein durch die Gewöhnung sogar von der Sippe der Knechte ohne jede Schwierigkeit ausgeführt werden? In der Tat, wie wenige von denen, die sich ganz tief in die Wissenschaften vergraben, seien angenehme Gäste; die meisten von ihnen jagten, auch dann, wenn sie üppig aufgenommen würden, entweder durch trübes Schweigen oder lästige Fragen der Göttin der Festesfreude und dem Symposiarchen, der es nicht über sich bringe, bei ihrer Art und Weise finsteren Ernst zu vertreiben, Röte ins Gesicht.147 Auch wenn die Freude an pointierter Satire Schoock übertreibende Formulierungen eingegeben hat, ist die Aussage deutlich. Das Verhalten der Kollegen, die hier gemeint sind, ist nicht immer geeignet, Sympathien und Vertrauen zu wecken – einer der Aspekte, bei denen der Gelehrte nicht der Leidende ist, der aber auch daran denken läßt, daß Beurteilungen oft subjektiv sind. Solche Ausstellungen, die immer wieder die Darstellung der Klagen und Anklagen durchbrechen, zeigen, daß der Gelehrtenspiegel am Ende148 seine Berechtigung hat. Neben den staatlichen Widmungsempfängern sind auch die Gelehrten selbst Adressaten der Schrift.
146 eruditio ad pulvisculos atque ramentas subtilitatis redacta, nocet, nec tam oculis quam menti densam caliginem offundit. 147 […] an non fatendum cum ratione eruditis multis fasces negari, quod ut plurimum ea cum ignarissimis ignorent, quæ in hac vita tamen quotidie occurrunt, & per solam assuefactionem expeditissime ab ipsis calonum filijs expediuntur? Enimvero, quam pauci ex ijs, qui in literas penitissime se abdiderunt, commodi convivæ sunt; plerique illorum, quando dapsiliter quoque excipiuntur, aut tristi silentio, aut molestis quæstiunculis, Lubentiæ, magistroque convivij, qui ad leges eorum supercilium exigere non sustinet, ruborem incutiunt (p. 437). 148 ► S. 51–53.
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Schoocks Kritik ist in der Satire der Zeit verbreitet, etwa hinsichtlich der Frage, wieviele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten oder mit welchem Fuß Aeneas zuerst italischen Boden betreten habe.149 Didymi sind auch in der Frühen Neuzeit anzutreffen. „Sterilität des Wissens, Leerlauf der Methode, ‚Kleben an der Form‘ (Schopenhauer) – das sind die Ursachen und Folgen der soz i ale n Defizite des Gelehrten, die in den Pedantensatiren auf vielfache Weise aufgezeigt werden.“150 Der verbohrte Wissenschaftler ist zeitlos. Ein ernsthafter Gelehrter wie Schoock ist 1649 / 1650 einer der Wegbereiter der frühaufklärerischen Kritik an den weltfremden ‚Pedanten‘, wie sie etwa der Philosoph und Staatsrechtler Martin Schmeitzel formuliert hat.151 e) Frauenbild Es geht in der Schrift nur um Eruditi, nicht um Eruditae. Die einzige Frau, die neben den Eruditi steht, ist nur scheinbar eine Ausnahme: Mascula illa Sappho (p. 469), die eben keine ‚normale‘ Frau ist.152 Das entspricht im großen und ganzen dem Frauenbild der Zeit. Auch die anerkennenswerten Märtyrerinnen, denen ein unverdientes Schicksal (gewiß eine miseria) zuteil wurde, sind in der Regel keine Eruditae gewesen (wenn auch die Heilige Katharina von Alexandria eine respektable Erscheinung war).153 Natürlich kreuzt die unvermeidliche Xanthippe auf,154 die aber keine miseria erlitt, sondern miseriae zu bereiten pflegte (wenn auch nicht nach des weisen Sokrates’, so doch nach Alkibiades’ und allgemeiner Ansicht). Die berüchtigte Tanaquil erscheint nur im Gleichnis (p. 408 und 470). Doch ist die Neuzeit reich vertre-
149 Dietrich 2003, S. 81 spricht bei diesen Fällen von einer ‚leerlaufenden Gedankenmaschinerie‘, die sich gegenüber einer stärkeren Praxisrelevanz negativ abhebt. 150 Dietrich 2003, S. 78 (Sperrung ad hoc). 151 „Es bestehet aber die Pedanterey darinnen, wenn einer sich um nichtswürdige Grillen bekümmert, damit niemanden doch gedienet ist, wenn einer dergleichen Dienge noch dazu mit grosser Hefftigkeit defendiret, und sich vieles darauf einbildet, wenn einer in der Kleidung und äusserlichen Sitten sich also aufführet, daß er sich bey allen vernünfftigen Menschen ridicul und verächtlich machet“ (1728, S. 191). Dazu Grimm 1998, S. 184–185 (S. 183–193: ‚Der weltfremde Pedant‘). 152 Zu der Tradition des bekannten Attributs ► daselbst. 153 In diesem Zusammenhang verdienen bemerkenswerte Altdorfer Dissertationen Erwähnung: 1. De Eruditis Germaniae Mulieribus von Daniel Omeis (Praeses) und Friedrich Paul Händel, 1688. 2. De Foeminis ex Hebraea gente Eruditis von Gustav Georg Zeltner (Praeses) und Johann Konrad Zeltner, 1708. Ferner ist von Gustav Georg Zeltner zu nennen: Dissertatio philologica de Erudita Virgine Iudaea per transennam docente, cum commentatiuncula ad modium in Sinear deportatum, Zach. V 7, Altdorf 1717. 154 ► p. 387, 408–409.
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ten. Sie hat etwa in Venedig eine ältere Virgo zu bieten, der Guillaume Postel in sehr zweifelhafter Weise verfällt (p. 464), oder drei Draufgängerinnen, die ihren angesehenen Ehemännern übel mitspielen: die Ehefrau dem reifen Alter des gelehrten Cardano mit artibus femineis, die mehr als Xanthippe schwierige und unleidliche Ehefrau (die der Tanaquil verglichen wird) dem schon ausgetrockneten Antonius Niger sowie die ärmliche, häßliche, überdies streitsüchtige und schwierige Jungfrau dem an der Schwelle zum Greisenalter stehenden Johannes Aventinus (alle p. 471). Sehr pointiert ist schließlich die Aussage, daß gerade die Theologen, die Gottgelehrten (Theosophi), oft ein Weibsbild aus der Hefe des Romulus geschändet habe (quos sæpe prostituit muliercula è fæce Romuli, p. 472–473)! Das alles ist in satirischen Farben gezeichnet. Keineswegs steht Schoock mit diesem Frauenbild allein. Ein sehr frühes Beispiel ist der sogenannte Weiberjambus des griechischen Jambographen Semonides von Amorgos aus dem siebten Jahrhundert, der zu Schoocks Zeit sehr bekannt war155 und auf den er schon im Encomium surditatis ausführlich eingegangen ist.156 Das entsprechende Frauenbild war verbreitet. In einer neuen Untersuchung über Frauensatiren in der Frühen Neuzeit wird gezeigt, daß ‚herrschsüchtige Ehefrauen‘, ‚wollüstige Jungfern‘ und ‚häßliche Vetteln‘ in diesem Genus paradieren.157 Es ist aber ein entscheidender Unterschied zwischen den beliebten Frauensatiren und Schoocks Ausführungen festzustellen. Während üblicherweise ganz allgemein die Frauen mit Spott übergossen werden, beschränkt sich Schoock auf die Frauen, die Gelehrten in unguter Weise begegnet sind. Die schlimme Xanthippe wird erwähnt, weil sie einem exzeptionellen Eruditus, nämlich Sokrates, in bemitleidenswerter Weise übel mitgespielt hat. Und dieses Thema kommt auch nur deshalb in den Blick, weil sich Schoock bemüht, möglichst viele, wenn nicht alle miseriae darzustellen, die den Gelehrten widerfahren. Zugespitzt gesagt: Es geht ihm bei diesem Thema nicht um die Frauen, sondern um die Gelehrten. Schoock distanziert sich ausdrücklich von der die Frau erniedrigenden Ideologie des Islam und betont, daß sie dem Mann gleichwertig (aequalis) sei (p. 409–410). Er ist der Auffassung, daß die Frau ein schwaches Gefäß ist und der Gatte ihr als Regent gegeben wird (debile vas est mulier; maritus ei tanquam princeps datur). Dieser lädt sie mit Achtung und Rücksicht zur Hingabe ein, ja bewegt sie stillschweigend zu dieser Haltung (pudore atque reverentia […] ad obsequium invitat, imo tacite impellit).
155 ► Brucklacher 2019, S. 244–265. 156 ► Lefèvre 2021, S. 102. 157 ► Brucklacher 2023.
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f) Persönliche Grundierung Die Anordnung der 20 Orationes und Dissertationes in der Ausgabe von 1650 legt die Annahme nahe, daß die letzten drei Reden persönliches Empfinden und Denken widerspiegeln.158 Ein wichtiger Grund dürfte darin zu sehen sein, daß das Inhaltsverzeichnis des Bandes bei diesen Abhandlungen – im Gegensatz zu den 17 Vorgängerinnen – nicht mitteilt, daß sie einst einen öffentlichen Anlaß hatten. Es ist festzustellen, daß ein pessimistischer Grundzug die Argumentation der ganzen Rede De miseria eruditorum bestimmt und sich zu dem Leben fügt, das Schoock zwar zu hohen Ehren im universitären Bereich geführt, aber nicht vor ernsten Streitigkeiten sowohl mit Wissenschaftlern als auch mit den staatlichen Vorgesetzten bewahrt hat. Als er die Schrift 1649 das erste Mal veröffentlichte, war er bereits ein angesehener Gelehrter, der mit 26 Jahren als ordentlicher Professor an die Universität Groningen berufen wurde (1640) und mit 29 Jahren das erste Mal deren Rektor (1643) war. Hier wurde er in den langjährigen heftigen Streit seines Lehrers Gijsbert Voet mit dem französischen Philosophen René Descartes hineingezogen.159 Er wußte aus eigener Erfahrung, was Kritik bedeutet. Bei der Interpretation jedes der sechs großen Abschnitte der Schrift (VI 1 a–f: p. 378–486) wurde darauf eingegangen, wieweit auch Schoock selbst von den Mißständen betroffen war. Darauf wird verwiesen. Besonders groß ist Schoocks persönliche Anteilnahme in den Schilderungen schlimmer Schicksale vom Alter heimgesuchter Gelehrter. Wenn er über diejenigen spricht, die verwirrt wurden, ruft er aus, wer sähe nicht, daß Gottes Urteile furchtbar seien (Dei tremenda judicia quis non suspiciat!, p. 465)? Das ist nicht Spott, sondern Erschütterung. Solche klingt immer wieder aus den Charakterisierungen des unwürdigen Alters, wenn er bei dem Philosophen Agostino Nifo sagt, er gestehe gern, daß er keinen geeigneten Ton finde, mit dem er einerseits der Schande, andererseits dem Wahnsinn desselben zu Hilfe kommen könne (lubens fateor, nullum me colorem invenire, quo tum turpitudini, tum insaniæ ejusdem succurram, p. 469), oder wenn er allgemein ausruft: „Wohin geraten nicht die Gelehrten?“ (quo non deveniunt eruditi?, p. 470). Bei der Schilderung des Schicksals des bedeutenden italienischen Forschers Cardano bricht der Schmerz offen durch: Sooft er die Autobiographie des so hohen Mannes in die Hände nehme, sei er unwillig, daß dieser wegen des plötzlichen Todes nicht die Schriften vollenden konnte, die er schon in Angriff genommen habe. Wenn er vollends die unendlichen Unglücksfälle bedenke, mit denen dieser beständig gekämpft habe, empfinde er fürwahr Schmerz,
158 ► Lefèvre 2021, S. 47–49 sowie oben S. V. 159 ► Lefèvre 2021, S, 2–3.
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daß der nicht schon viele Lustren früher dem neidischen Licht entzogen worden sei (Quotiescunque in manus sumo summi viri Hieronymi Cardani vitam, ringor quod per mortem præcipitem conficere non potuerit ea scripta, quæ jam affecta habebat. Si vero calamitates sexcentas cogitem, quibuscum assiduo luctatus est, d o l e o e q u i d e m , quod non multis lustris ante invisæ luci subtractus fuerit, p. 470). In diesen Zusamenhang gehört eine besonders pessimistische Reflexion über das Alter der Gelehrten, bei der Schoock sich fragt, wozu er die Kürze des Gelehrtenlebens beklage, die doch nur für das Nachleben schlimm sei? Wenn man die Nachwelt beiseite lasse, scheine den Gelehrten selbst nichts Besseres als allgemein ein zeitiger Tod gewünscht werden zu können – da ja die meisten von ihnen offenbar für ein Alter aufgehoben würden, daß sie […] wie Spielbälle Fortunas von Unglücksfällen jeglicher Art heimgesucht werden (Sed quorsum breve ævum eruditorum, soli posteritati grave, deploro? Posteros si seponas, ijs ipsis nihil melius tempestiva morte voveri publicè posse videtur: quandoquidem plerique eorum ad senium reservari videntur, ut […] velut quæ fortunæ pilæ, omnis generis calamitatibus exerceantur (p. 460–461). Schoocks Engagement bewegt noch heute, wenn er immer wieder bestrebt ist, die Rezipienten von seinen keineswegs alltäglichen Argumentationen zu überzeugen. In eindringlicher Weise spricht er von der menschlichen Schwachheit, von der die Tugend, als die sonst nichts für beständiger gehalten werde, nicht allein entwaffnet, sondern auch besiegt werde! (O humanam imbecillitatem, à te virtus, qua alias nihil stabilius censetur, non solum exarmatur, sed & vincitur!, p. 476). g) Rückgang adäquater Rezeption der Bücher in der Gegenwart Ein einzelner, aber charakteristischer Punkt sei noch erwähnt. Soviel den Gelehrten selbst in ihrem Verhalten vorzuwerfen ist, soviel ist nach Schoock auch der veränderten literarischen Umwelt anzulasten. Angesichts des Beifalls, den der belgische Gelehrte Jacob Raevaerd im 16. Jahrhundert für seine gelehrten Bücher in angemessener Weise bekommen hatte, bricht Schoock in eine Klage über die verflachte Gewährung von Beifall in der Gegenwart aus. Er werde heute – o Ze i te n! – fast allein denen bereitet, die, während sie nach Maß weder essen noch trinken wollten, nichtsdestoweniger nach Maß schrieben und sich als Könige fühlten, wenn in einem dreiellenlangen Buch außer ihren Titeln auch ein Bild erblickt werden könne, das brandneu und eleganter als das ganze Buch sei. Aber wohin gebe er dem Ärger nach? (qui hodie (ô tempora!) ijs solis fere paratur, qui cum ad mensuram neque edere neque bibere velint; ad mensuram nihilominus scribunt, seque reges existimant, si in tricubitali libro præter titulos suos pexa quoque, & toto libro elegantior conspiciatur imago. Sed quorsum stomacho indulgeo?, p. 455).
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Auch solche Umstände (die natürlich sehr subjektiv empfunden werden) sind zu berücksichtigen. Es versteht sich von selbst, daß Schoock nicht ausführlich auf sie eingehen mochte. h) Religiöse Basis Keineswegs spricht nur aus dem an den Schluß gestellten Gelehrtenspiegel eine starke religiöse Haltung.160 Schoock war Schüler des angesehenen Reformierten Theologen Gisbert Voet (1589–1676), von dem er an der Universität Utrecht promoviert worden war.161 Es ist zu bedenken, daß De eruditorum calamitatibus im Jahr der Beendigung des Dreißigjährigen Kriegs verfaßt ist,162 der von religiös begründeten Auseinandersetzungen bestimmt war. So sagt Schoock, wenn er in der neuen Schrift zum erstenmal die Theologen behandelt, über ihre wissenschaftliche Beschäftigung, sie werde, wenngleich alle murrten, um soviel erhabener als jede andere Art des Lebens bleiben, um wieviel würdiger das Göttliche und Ewige als das Irdische und Vergängliche seien (quod, fremant licet omnes, tanto omni alio vitæ genere manebit augustius, quanto divina & eterna, terrenis atque caducis his digniora sunt, p. 385). Wenig später bespricht er die hartnäckigen (wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen der Theologen untereinander, betont jedoch zugleich, er spreche nicht über die unschuldigen, die durch Gottes Gnade viele seien, und diejenigen, die (wie er selbst!), ob sie wollen oder nicht, von gewichtigeren Studien zu diesen Streitigkeiten hingezerrt werden (de innocentibus (qui multi per Dei gratiam) ijsque qui volentes nolentes à gravioribus studijs ad hæc certamina pertrahentur, non loquor, p. 401). Die Schrift handelt von den Gelehrten, von ihrer Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit. Doch wem verdanken sie diese Eigenschaften? Das klärt ein hohes Wort: Wenn Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit erblich wären, werde der außer acht gelassen, der beides vom Himmel her dem, der es nicht verdient (d. h. der keinen Anspruch darauf hat), allein aus Gnade gewähre (Virtus & eruditio, si hereditaria essent, negligeretur qui utrumque de cælo immerenti ex sola gratia concedit, p. 412). Durchgehend schlägt ein Bekenntnis zur christlichen Religion und Ordnung durch, keineswegs nur im Gelehrtenspiegel am Ende. Von zahlreichen Stellen sei nur eine genannt. Nach der Darlegung der schlimmen Übel, die die Gelehrten, besonders im Alter, treffen können, heißt es programmatisch: Es müsse jedoch
160 Dessen Gedanken werden hier nicht wiederholt. Auf die Interpretation S. 51–53 wird ver wiesen. 161 ► Lefèvre 2021, S. 2–3 sowie oben S. 1–2. 162 ► S. 16 Anm. 53.
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ertragen werden, was Gott gegeben habe (Ferendum tamen est, quod Deus dederit, p. 472). Aus dem Encomium surditatis spricht die nämliche Haltung Schoocks, wie sie hier zu charakterisieren versucht wurde. Dessen Schluß kann mit folgendem Satz überschrieben werden: „Je weniger Glanz, desto mehr Ruhe – desto größer die Fähigkeit, des Schöpfers Stimme zu hören“.163 In dem Sammelband von 1650 folgt auf De miseria eruditorum das Encomium surditatis und auf dieses als letzte Schrift De Margaritis [Über Perlen], die ein historisches Thema behandelt, doch in einem religiösen Bekenntnis gipfelt:164 Es gibt e i n e Perle, die ich schätze und mit mir jeder Christ. Sie ist nicht nur einer Expedition nach Britannien würdig, sondern der ganzen Welt. Wer und wie sie ist, lehrt Ambrosius: ‚Eine Perle‘, sagt er, ‚ist Christus, der Herr, die jener reiche Kaufmann im Evangelium nach dem Verkauf aller seiner Habe zu kaufen eilte und (deretwegen) er lieber alle Perlen der Zeit, die er hatte, verlieren wollte, nur damit er die eine Perle Christi kaufte.‘ Daß wir sie doch alle entweder in der innersten Scheuer des Herzens verbürgt haben oder, damit wir sie finden, alles andere für Fehler halten!
Dieses hohe Wort beschließt nicht nur die letzte Rede, sondern den ganzen Band von 1650, dessen letzte drei Reden gewiß auch Schoocks religiöse Haltung widerspiegeln.
VII. Stil Schoocks Stil165 ist der eines scriptor doctus, der lectores docti voraussetzt. Dennoch geht es ihm nicht darum, Gelehrsamkeit zu demonstrieren, sondern dem Hörer bzw. Leser keine anderen Schlüsse, als er sie nahelegt, zu erlauben.
1. Gelehrtheit Schoock argumentiert immer wieder mit einer Kette von Beispielen. Der Leser mag sich wundern, warum ihm eine übergroße Fülle an Namen, an historischen
163 Lefèvre 2021, S. 81–83. 164 Lefèvre 2021, S. 48 (dort auch der lateinische Text sowie eine Erklärung). 165 Es sei darauf verwiesen, daß Schoock p. 422–426 (► S. 41–43) zwei Stilphänomene, Neuheit (novitas) und Plagiat (furta) behandelt, die Ausdruck der inneren Haltung des Schreibenden sind.
VII. Stil
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(nicht mythischen!) Personen begegnet. Diese Eigenart ist schon den Lesern vor fast 400 Jahren aufgefallen. Auf eine gute Charakteristik seines gelehrtem und von Abschweifungen geprägten Stils hat Kaspar Burman aufmerksam gemacht, von der der Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts immer noch angesprochen wird: «Schookius se plaisoit a traiter des sujets singuliers & c’est ce qu’il est facile de voir par la plupart de ses ouvrages; mais il seroit a souhaiter, qu’il n’eût pas affecté une si grande erudition, & qu’il eut sçu se renfermer dans son sujet, sans donner dans des digressions, qui l’absorbent souvent, & qui le font perdre de vue.»166 Ja, Schoock macht es seinen Lesern nicht leicht. Man darf wohl sagen, daß es seine Absicht war, mit einer imponierenden Fülle von Beispielen die Gültigkeit der vorgetragenen Thesen zu unterstreichen, in diesem Fall: die Beeinträchtigungen, Ungerechtigkeiten, Angriffe, kurz die calamitates der Gelehrten, wie es 1649, bzw. die miseria, wie es 1650 im Titel heißt, zu demonstrieren und die Rezipienten zu überzeugen. Ihnen wird der Eindruck vermittelt, daß es in der gelehrten Welt gar nicht anders als in der geschilderten Weise zugeht: Die vorgeführte Fülle dient der Überzeugungskraft der Argumentation. Daß es Schoock nicht auf äußeren Glanz ankommt, hat er in der Widmung der Orationes und Dissertationes von 1650 dargelegt: Perpetuo hoc mihi propositum fuit, sic scribere & dicere, ut intelligi possem: stylum intricatum & cum cura sollicitum nunquam amavi: satis mihi est loqui cum antiquis, eaque, quæ mente concepi, similitudinibus, & historiis, potius illustrare, quam fractis amentatisque sententiis (quæ uti pro seculi Genio sacco feruntur, ita non minus aptæ sunt torrentem dicendi sufflaminare quam Auditoribus lectoribusque nebulas offundere). Propter particulam, aut unam alteramve vocem, quod sciam veteres non fuisse adeo morosos, cogitationum senatum nunquam coëgi. In- | terim videor aspicere crispatos nasos, multosque audire, non solum traducentes stylum, quo utor, tanquam abjectum, humilem, & varium instar meræ farraginis; sed etiam arguentes cum inventione materiam, velut trivialem, atque è fæce haustam. Cothurnos non invideo Gigantibus hujus seculi, qui montibus, quos suis ipsi manibus coacervarunt, impositi, astris se inferunt, ereptoque è Superum mensis nectare madent. Mihi non licet esse tam beato: libenter soccis induor, & incedo; nec molestum est à talibus Censoribus humilitatis argui, cum ijs, ipse parens eloquentiæ Cicero humilis ac summissus Orator videatur. In stylo varietatem aliquam occurrere ultro do, sed quæ obtigit aut propter materiam, cujus anquisite semper rationem habere laboro, aut quod modo ab hoc, modo ab illo antiquo authore recens essem. hoc si peccatum censeri debeat, profiteor me post hac simili modo peccaturum. Antiquitas hac in parte à partibus meis stat. Sublimes167 oratores, quibus Ambrosia sordet, dum poliunt orationem, tanquam equos inscendant, & quasi classicum canant; immo ingenio non nisi ad | sublimia tendenti, alas addant, atque in sublime, quantum possunt, attollant: ego
166 Burman 1738, S. 328, der Jean-Pierre Nicéron (► Literaturverzeichnis), Band XII, S. 374 zitiert. 167 Druck: Sublimes, Oratores. Lef. Sublimes oratores.
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nunquam à me impetrabo, ut Oratio mea non solum ingenii, cujus tarditatem deploro quotidie, verum etiam acutissimorum hominum aciem effugiat. [Durchgehend war es mein Vorsatz, so zu schreiben und zu sprechen, daß ich verstanden werden kann: Einen komplizierten und mit Fleiß unruhigen Stil habe ich niemals geliebt: Es ist mir genug, mit den Alten zu sprechen und das, was ich im Inneren konzipiert habe, eher mit Gleichnissen und historischen Fakten zu erhellen als mit gebrochenen168 und geschleuderten169 Sätzen (die, wie sie als geistvoller Einfall170 des Jahrhunderts durchscheinen,171 nicht weniger geeignet sind, den Redefluß zu hemmen, als vor den Hörern und Lesern Nebelschwaden zu verbreiten). Bezüglich einer Partikel, des einen oder anderen Wortes sind die Alten, soviel ich weiß, nicht so sehr pedantisch gewesen; einen Senat von Überlegungen habe ich niemals einberufen.172 Bisweilen scheint mir, daß ich gerümpfte Nasen sehe und viele höre, die nicht allein den Stil, den ich pflege, als gleichsam nachlässig, niedrig und beliebig wie einen reinen Mischmasch173 verspotten, sondern auch die Stoffindung als trivial und aus der Hefe / dem Bodensatz geschöpft. Den Kothurn (den hohen Stil) neide ich den Giganten dieses Jahrhunderts nicht, die, auf den Bergen, die sie mit den eigenen Händen aufgeschichtet haben, postiert, zu den Sternen vordringen und von Nektar, den sie von den Tischen der Überirdischen geraubt haben, triefen.174 Mir ist es nicht vergönnt, auf diese Weise glücklich zu sein: Gern ziehe ich mir Sandalen175 an und schreite (in ihnen) einher; und nicht ist es mir lästig, von solchen Zensoren der Niedrigkeit beschuldigt zu werden, weil ihnen selbst der Vater der Beredsamkeit Cicero ein gewöhnlicher und niederer Redner zu sein scheint. Daß im Stil eine gewisse Abwechslung begegnet, gebe ich aus freien Stücken zu, aber eine, die sich entweder wegen der Materie (von selbst) ergibt, die ich immer sorgfältig zu beachten strebe, oder weil ich noch unter dem Eindruck bald dieses, bald jenes antiken Autors stand. Wenn das für einen Fehler gehalten werden muß, bekenne ich, daß ich fürderhin auf ähnliche Weise fehlen werde. Die Antike steht in dieser Beziehung auf meiner Seite. Erhabene Redner, für die Ambrosia (natürliche Anmut) den Reiz verloren hat, mögen, wenn sie an einer Rede feilen, Pferde besteigen und gleichsam die Kriegstrompete blasen, ja, ihrem nur zu hohen Dingen strebendem Geist Flügel verleihen und ihn, soviel sie können, in die Höhe führen: Ich werde es niemals über mich bringen, daß meine Rede nicht nur die Schärfe (meiner) Begabung,
168 Eine gewählte Metapher nach Quintilian, der Seneca ein omnibus vitiis f ra c t u m dicendi genus vorwarf (Inst. 10, 1, 125). 169 Eine gewählte Metapher nach Cic. De orat. 1, 242 und Brut. 272 sowie nach Tert. Adv. Marcionem 4, 33, 2. 170 Genius: wie Mart. 6, 61 (60), 10 victurus genium debet habere liber (Georges: „muß einen Genius haben = es muß in ihm Anmut, geistvoller Witz (gleichs. als Genius) walten“. 171 sacco feruntur: wörtl. sie werden durch einen Filter vorgeführt. Säcke wurden zum Durchseien von (dickeren) Flüssigkeiten benutzt (Georges: ‚Filter‘). Die Kritisierten lassen also in ihren Ausführungen gewählte Bilder durchscheinen. Schoock widerlegt den Gebrauch gewählter Wendungen mit gewählten Wendungen. 172 D. h., ich habe nie lange abgewogen (um exquisite Wendungen zu finden). 173 Eine gewählte Metapher nach Iuv. 1, 86. 174 Pointierte Anspielung auf den mythischen Kampf der Giganten gegen die olympischen Götter. 175 cothurnus [Stiefel] und soccus [Sandale] stehen bei Hor. Ars 80 für den hohen Stil der Tragödie bzw. den niederen der Komödie.
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deren Schwerfälligkeit ich täglich beklage, sondern auch die der scharfsinnigsten Menschen übersteigt.]176
Das ist ein blitzender Text, der in hochgestochener Formulierung übermäßiges Blitzen künstlich hochgestochener Texte ablehnt, der sich bescheiden und anspruchsvoll gibt, der in zitatgeschmückter Rede lautes Prunken abweist – ein geistreiches Stück Literatur über literarische Produktion, das dem Leser kein anderes Urteil zuläßt als stillschweigendes oder gar vernehmliches Akklamieren. Man darf aus dieser angreifenden Verteidigung, die auf hoher Ebene vorgetragen wird, schließen, daß Schoock wegen des Stils seiner Schriften öfter kritisiert wurde. Kritik spitzt zu, ja übertreibt. Das mag ihn getroffen haben. Bezüglich der ungewöhnlich geistreichen Verlebendigung antiker Begebenheiten und literarischer Darstellungen mögen Kritiker nicht unrecht gehabt haben. Nicérons Urteil ist nicht tout à fait abzutun. Es ist jedenfalls festzustellen, daß Schoocks Abhandlungen den gebildeten wissenden, besonders in der Antike heimischen Leser erfordert. Wer das nicht war, sah, wie es üblich ist, die Ursache nicht bei sich, sondern bei dem Autor… Die Schrift De miseria eruditorum stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Es geht ja auch um einen eruditus.
2. Fülle der Elogien Ausführlich werden die calamitates, die antike Autoren erfahren haben, von Schoock referiert. Neuere Autoren werden bei dieser Thematik vernachlässigt, damit keine Empfindlichkeiten provoziert werden. Es paradieren gerade die bedeutendsten Autoren als Zeugen, die entsprechend mit einem großen Lob versehen werden. In diesem auf Eindrücklichkeit der Argumentation zielenden Sinn sind die laufenden Elogien zu verstehen. Einige Beispiele mögen genannt werden. H o m e r : primus doctrinarum & antiquitatis fons Homerus (p. 387). omnis veritatis certissimus auctor, Homerus (p. 395). A risto phane s: socci princeps, nasique & leporis Attici exemplar (p. 410). D em o sth enes: Græcorum rhetorum alpha (p. 410). P l a t o n : Plato, quem non dubitant quidam Philosophorum Homerum, aut potius Deum quem salutare (p. 383). duo illi Socraticæ amœnitatis soles Plato atque Xenophon, non solum visi fuerunt sese æmulari, sed occultis quoque odij stimulis fodicare (p. 396). Plato cui ipsa Invidia testimonium hoc perhibere cogitur, quod fuerit omnium, quicunque scripserunt, aut locuti sunt, & copia dicendi & gravitate princeps
176 Die Apologie setzt sich noch weiter fort.
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(p. 413–414). princeps ingenij & doctrinæ Plato (p. 445). Ari stote le s: Philosophus ad unguem factus (p. 414). ter maximus Aristoteles (p. 481). Luki an: sannionum princeps (p. 384). sannionum alpha (p. 420). Nicht minder gilt diese Argumentation für die Römer: Cic ero : Disertissimus Romuli Nepotum M. Tullius Cicero (p. 411). oratoriæ dignitatis exemplar M. Tullius Cicero (p. 419). M. Tullius Cicero Latinæ linguæ illustrator optimus maximus (p. 423). Vergi l: Maximus Latini eloquij author, qui cum divina poësi universam Philosophiam conjunxit, Virgilius Maro scil. cujus gloriam neque ullius laudibus crescere, neque minui posse, cum ratione existimavit Macrobius (p. 416). compendium perfectæ poësios Maro (p. 449). incomparabilis Maro (p. 485). S enec a : Quis, & quantus sit Seneca, nulli, nisi qui Musas & Gratias ignorat, ignotum esse potest. Bonæ mentis advocatus magnus inter magnos vir, & sapientiæ fons (p. 415). Ta c itu s: Tacitus, in quo laudando modum invenire non potuit Lipsius (p. 417). Hiero ny m u s: eruditissimus & supra omnes Ecclesiæ Doctores eloquentissimus (p. 421). Diese Superlative haben das Ziel, daß sie die Zeugnisse der zitierten Autoren unangreifbar machen bzw. umgekehrt der jeweils vorgebrachten Kritik an ihnen von vornherein den Boden entziehen.
3. Aversion gegen Grammatici Schoock liegt nichts so fern wie eine minutiöse kleinteilige Darstellung, die jeden Punkt kleinlich auszirkelt. Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, daß an einer Reihe von Stellen der Begriff Grammatici einen negativen Beiklang hat. So wird über den italienischen Humanisten Lorenzo Valla gesagt, er sei Grammatico suo felle turgidus (p. 398), und nach der Nennung von Didymos und seinem Schüler Apion p. 434 festgestellt, daß die Grammatiker Torheiten treiben (ineptire), oder p. 450 abwertend von dem Volk der Grammatiker (Grammaticorum gens) gesprochen. Auf derselben Ebene liegt Schoocks Reserve gegenüber Textkritikern.177 Schoock ist bei dieser Wertung in guter Gesellschaft mit den Humanisten. Schon Erasmus hat sich im Moriae encomium eine längere Ausführung in dieser Richtung erlaubt, wenn er Stultitia über die Grammatiker als Schulmeister sagen läßt:178 Ad eos accingar, qui sapientiæ speciem inter mortales tenent, et aureum illum ramum, ut aiunt, aucupantur. Inter quos Grammatici primas tenent, genus hominum profecto, quo nihil
177 ► Lefèvre 2021, S. 110 mit Anm. 370 und 371. 178 1979, S. 457.
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calamitosius, nihil afflictius, nihil æque diis invisum foret nisi ego miserrimæ professionis incommoda dulci quodam insaniæ genere mitigarem. Neque enim πέντε κατάραις, id est, quinque tantum diris obnoxii sunt isti, quemadmodum indicat epigramma Græcum, verum sexcentis, ut qui semper famelici, sordidique in ludis illis suis – in ludis dixi? imo in φρον τιστηρίοις vel pistrinis potius, ac carnificinis – inter puerorum greges, consenescant laboribus, obsurdescant clamoribus, fœtore pædoreque contabescant; tamen meo beneficio fit, ut sibi primi mortalium esse videantur. Adeo sibi placent, dum pavidam turbam, minaci vultu voceque territant: dum ferulis, virgis, lorisque conscindunt miseros, dumque modis omnibus suo arbitratu sæviunt, asinum illum Cumanum imitantes. [Denen will ich mich nun zuwenden, die das Ideal der Weisheit gepachtet haben und auf jenen Goldenen Zweig,179 wie sie sagen, Jagd machen, unter denen die Grammatiker an der Spitze stehen, ein Menschengeschlecht in der Tat, als das nichts jämmerlicher, nichts elender, nichts den Göttern ebenso verhaßt wäre, wenn ich nicht das Unglück ihrer erbärmlichen Profession mit einer süßen Art Wahn milderte. Denn sie sind nicht πέντε κατάραις, d. h. nur fünf Rachegöttinnen verfallen, wie es das griechische Epigramm aussagt,180 sondern unzähligen, da sie ja immer hungerleidend und schäbig in jenen ihren Schulen – sagte ich: in ihren Schulen? Vielmehr: in ihren Grübelbuden181 oder eher Lernmühlen und Marterstuben – unter Herden von Knaben über der Arbeit altern, vom Geschrei ertauben, von Gestank und Unrat dahinsiechen; dennoch geschieht es aufgrund meiner Wohltat, daß sie sich die ersten der Sterblichen dünken. So sehr gefallen sie sich, wenn sie die ängstliche Schar mit drohender Miene und Stimme in Schrecken setzen, wenn sie die Armen mit Gerten, Ruten und Riemen zerbläuen und wenn sie auf jede Art und Weise nach ihrem Gutdünken wüten, jenen Kumanischen Esel182 nachahmend.]
Das war harter Tobak. Diese sehr satirischen Anwürfe waren in humanistischen Kreisen wegweisend. Auch der Jesuit Jakob Balde, Schoocks Zeitgenosse, zieht gegen die Kleinlichkeit der Grammatiker zu Felde, sowohl in der Dissertatio de studio poëtico183 als auch in der Expeditio polemico-poëtica184 und selbst im Solatium podagricorum.185 Trotzdem bilden die Grammatiker bei Schoock nicht eine eigene Kategorie wie die Dichter oder Philosophen. Sie sind letztlich zu unbedeutend. Die Humani-
179 ► oben S. 29 Anm. 93. 180 Anspielung auf ein in der Anthologia Palatina erhaltenes Epigramm des griechischen Epigrammatikers Palladas (4. Jahrhundert n. Chr.), das unter Bezug auf die ersten fünf Verse der Ilias die Grammatiker verspottet. 181 Von Aristophanes Neph. 94 und 128 geprägter Ausdruck für Sokrates’ ‚Speculatorium‘ (Theodor Kock). 182 Kumanischer Esel: ► p. 422. 183 ► Burkard 2004, S. 78, 84–85. 184 ► Lefèvre 2017, S. 41–42. 185 ► Lefèvre 2020, S. 50.
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sten liebten es, vor allem ins Große zu denken. Dieser Haltung ist die Neuzeit nicht wenig verpflichtet.
4. Satire Auf das Ganze gesehen, ist Schoock ein ernsthaft, ja eindringlich diskutierender Autor, der seine Argumentation so streng verfolgt, daß er den Hörern bzw. Lesern kaum die Möglichkeit eines Widerspruchs, ja nur eines Bedenkens läßt. Diese Haltung resultiert daraus, daß er über weite Strecken seine eigene Position im Auge hat, von der er die Rezipienten unter allen Umständen überzeugen möchte. Dennoch läßt Schoock immer wieder eine satirische Ader erkennen. Es hängt mit dem Ziel seiner Argumentation zusammen, daß satirische Partien vor allem bei Kritik und Polemik begegnen. Doch selbst, wenn er sine ira et studio argumentiert, bricht die Satire öfter durch. Das hatte vor allem Horaz in seinen plaudernden Sermones vorgemacht (die zuweilen durchaus hart zur Sache gehen konnten). Die Humanisten wußten sich in reichem Maß dem Genus der Satire verpflichtet. Bezeichnend sind die frühen ‚Dunkelmännerbriefe‘ (Epistolae obscurorum virorum) von 1515 und 1517, die die Spätscholastik und ihren Einfluß drastisch auf das Korn nahmen. Satire war zu einem wesentlichen Teil die Paradoxenkomiastik, die in der Neuzeit Erasmus mit dem Moriae encomium (Laus stultitiae) 1509 begründet hatte, das ein ganzes Genus ins Leben rief, in dem sich auszuzeichnen selbst die bedeutendsten Humanisten bestrebt waren.186 Auch Schoock war mit zwei geistreichen von satirischer Argumentation bestimmten Beiträgen in dieser Gattung ausgewiesen, den Fumi laudes und dem Encomium surditatis, die in demselben Band wie die Schrift über die miseria der Gelehrten erschienen.187 Für die Demonstration der satirischen Töne dieses Genus mag als Beispiel der zuvor zitierte188 Passus aus Erasmus’ Laus stultitiae genügen. Es kann im folgenden nicht darum gehen, einzelne treffende Aussagen und Charakterisierungen satirischen Charakters aufzuzählen. Sinnvoller ist es, die Gelehrten selbst in den Blick zu nehmen, auf die Schoock sein satirisches Rohr richtet. Die Grammatiker sind schon genannt. Noch vor ihnen sind – überraschenderweise – die Theologen zu nennen, auf die er es besonders abgesehen hat, was mit seiner Parteinahme in dem Streit seines Lehrers Voetius mit Descartes und
186 ► Miller 1956, S. 145–178; Lefèvre 2021, S. 12–13. 187 Fumi laudes: 1650, p. 305–326. Interpretation: Lefèvre 2021, S. 16–28. Encomium surditatis: 1650, p. 602–625. Interpretation: Lefèvre 2021. 188 ► S. 66–67.
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seiner eigenen Rolle in demselben zusammenhängen dürfte. Es genügt, auf die satirische Breitseite zu verweisen, die p. 401 / 402 auf die Theologen abgefeuert wird und in der Aufzählung von grotesken Büchertiteln und in ihnen begegnenden Metaphern gipfelt, die ihren polemischen Eifer und zugleich ihre Verschrobenheit widerspiegeln. Was wie eine Parodie klingt, ist die Wiedergabe tatsächlich verwendeter Begriffe:189 Geist des Schwindels; Brille; Falke, zum Fangen, Rupfen und Zerfleischen des Kuckucks ausgeschickt; Bock, einen Theologen spielend; Demonstration von Tücken und Betrügereien; Kuckuck; Vogel-Esel; Fledermaus; Enthäuteter (Geschundener) Wolf; Getaufter Jude und Mohammedaner; Fleischgewordener Teufel; Pharisäertum; Krokodilstränen (Spiritum vertiginis, Conspicilium, Falconem emissum ad capiendum, deplumandum & dilacerandum, Cuculum, Arietem theologizantem, Demonstrationem imposturarum & fraudum, Cuculum, Asinum avem, Vespertilionem, Lupum excoriatum, Baptizatum Iudæum & Mahometanum, Diabolum incarnatum, Pharisæismum, Lacrymas Crocodili). Aber Schoock holt weiter aus, wenn er auch die Gelehrten, die er zwar insgesamt verteidigt, nicht mit seiner spitzen Feder verschont. Sie sind es, die, wie er sagt, durch unziemliche Verhaltensweisen an ihrem Geschick selbst Schuld tragen. Das Thema wird p. 433 mit der Feststellung eingeleitet, daß Gelehrte durch Abwegigkeit ihrer Forschungen sich selbst um die Möglichkeit brächten, hohe Stellen im Staat zu bekleiden: Wenn sie selbst in gelehrter Untersuchung immer das Nützliche vom Unnützen getrennt und nicht zugelassen hätten, daß neben einem erhabenen Palast der Gelehrsamkeit (das sind utilia) Latrinen von allerlei Kehricht (das sind inutilia) plaziert werden, stünden die Wissenschaften im Wert und herrschten nach Platons Wunsch entweder die Philosophen oder philosophierten die Herrschenden (si ipsi utilia ab inutilibus erudito examine semper divisissent, nec passi fuissent prope augustum eruditionis palatium omnigenarum quisquiliarum foricas statui, in pretio forent literæ, Philosophique ex Platonis voto aut imperarent, aut imperantes philosopharentur) – das Bild sagt alles. Aber es geht nicht nur um die Forschungen, sondern auch um das Betragen der Gelehrten in der Öffentlichkeit – und das lasse sehr zu wünschen übrig, wie p. 436 gesagt wird: Diejenigen, die der griechische Mantel und der Bart über das Los der Träger der (gewöhnlichen) römischen Tunica soviel zu erhöhen schienen, wie sie selbst herauszuragen wünschten, seien oft nicht nur töricht, sondern so lächerlich, daß diejenigen, die von dem einen oder anderen her über das ganze Geschlecht der Gelehrten zu urteilen pflegten, ernsthaft glaubten, alle, die sich auf die Wissenschaften geworfen haben, stammten von dem Geschlecht der Toren ab (Quos pallium atque barba supra tunicatorum sortem tantum sublevare videntur, quantum ipsi eminere cupiunt, sæpe non solum
189 Die Titel werden unten zu p. 402, soweit möglich, auf konkrete Fälle zurückgeführt.
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ineptiunt, sed adeo sunt ridiculi, ut illi, qui ex uno atque altero de tota eruditorum natione judicare solent, serio existiment, omnes qui literis incubuerunt, ex Menenia gente originem ducere). Die Satire auf das Benehmen der Gelehrten geht weiter und schließt p. 438 mit der Feststellung: Kurz und gut, wenn etwas zu kaufen, wenn etwas vertraglich abzuschließen oder von den Dingen, ohne die dieses tägliche Leben nicht geführt werden könne, zu tun sei, möge man Gelehrte nicht Menschen, sondern Klötze nennen (In summa, si quid emendum, si quid contrahendum, aut si quid agendum eorum, sine quibus vita hæc quotidiana transigi non potest, eruditos non homines, sed stipites dicas). Es genügt, aus der Fülle der Beispiele noch eines anzuführen. p. 438 wird die Pikanterie der französischen Mode auf das Korn genommen, die Vorschriften dermaßen nicht zu ertragen vermöge, daß sie lieber wolle, der modisch auszustattende Körper werde in die Norm der Körper aller Nationen umgeformt, als daß er von einem für alle Nationen geltenden Gewand eingeschränkt sei (Ne quid de Gallico acumine in vestiaria arte dicam? legum illud sic est impatiens, ut malit in omnium nationum formam transformari corpus, quod moderatur, quam uno amictu perpetuo circumscriptum illud esse) – lieber sollen alle Körper als alle Kleider gleich sein!
VIII. Quellen 1. Allgemeines Es ist selbstverständlich, daß sich Schoock bei der Fülle der Beispiele, die er für nahezu jeden von ihm behandelten Punkt anführt, nicht nur auf sein bewundernswertes Wissen stützt, sondern auch vorliegende Darstellungen zu Rate zieht. Insofern sind Fehler, die ihm unterlaufen, nicht immer ihm selbst anzulasten, sondern seinen Quellen. Ein moderner Kommentator stützt sich bei Erklärungen nicht weniger auf Handbücher, ohne eigene Forschungen zu betreiben. Nicht anders verfuhren bereits antike Autoren, wie ein beliebiges Beispiel zeigen möge: „Die meisten Fragmente des Simonides werden in der Zeit der ‚Zweiten Sophistik‘ von Autoren wie Plutarch, Athenaios, Aristeides und Himerios überliefert, die sie wahrscheinlich eher aus Anthologien als aus direkter Lektüre zitierten: Dies gilt in gleicher Weise für die christlichen Schriftsteller wie Klemens und Theophilos und auch für einen Zitatträger wie Stobaios“.190 Es kann kein Zweifel sein, daß Schoock – entsprechend – in vielen Fällen antiken und zeitgenössischen Autoren
190 Andreas Bagordo, In: HGL 1 (2011), S. 221.
VIII. Quellen
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und Handbüchern folgt. An einer Reihe von Stellen läßt sich dieses Verfahren sogar nachweisen. Ganz besonders ist in diesem Zusammenhang, wie schon dargelegt,191 die Schrift De literatorum infelicitate von Giovanni Pierio Valeriano (1477–1558) zu nennen (Neudruck Amsterdam 1647), die sehr wahrscheinlich Schoock zu De miseria eruditorum angeregt hat. Schoock ist gegenüber Quellen zuweilen durchaus kritisch. So sagt er beim direkten Referieren antiker Nachrichten: si Tullio fidem adhibere volumus (p. 410); si Hebræis magistris credimus (p. 412); si Athenæo credimus (p. 414); Iosepho Scaligero Criticorum principi si credimus (p. 417); si Quintiliano credimus (p. 420); si Hieronymo fidem adhibere volumus (p. 423); si Cæcilio credimus (p. 425), usw. Bei der Anführung jüngerer Nachrichten unterläßt Schoock diese Einschränkungen, wohl um nicht neuzeitlichen Gewährsmännern zu nahe zu treten.
2. Johannes van Meurs Johannes van Meurs (Ioannes Meursius) war ein niederländischer Humanist (1579– 1636), der 1610 Professor für Geschichte und Griechische Sprache in Leiden wurde, 1611 Historiograph von Holland, 1625 königlich dänischer Historiograph und Professor für Geschichte und Politik an der Sorø Akademi in Dänemark. Von seinen zahlreichen Schriften hat Schoock mindestens die folgende benutzt: Ioannis Meursi De Gloria Liber Unus. Cum Auctario Philologico (Ludguni Batavorum 1601), eine Abhandlung über den Ruhm, wie sie auch Cicero verfaßt hatte (nicht erhalten). Über dem Werk steht nach Sitte der Zeit folgender geistreicher Vierzeiler von Bonaventura Vulcanius aus Brügge (1538–1614) – zunächst in Griechisch, sodann in Latein:
Carmen
Tempus edax nobis Librum Ciceronis ademit Cui Virtus titulum & Gloria vera dedit; Quis doleat? Marco dum suppar Mevrsivs exit, Explens amissi damna sitimq́ ue libri.
Es dürfte kein Zweifel sein, daß Schoock die Schrift kannte. Das vorletzte Kapitel (XXVI. Cur viri plerique præstantissimi violentâ morte occubuerint, S. 101–103) mag ihn inspiriert haben, dieses Thema ebenfalls zu behandeln, und zwar ebenso an
191 ► S. 10–16.
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vorletzter Stelle (p. 472–486).192 Waren es bei Meursius die præstantissimi viri, die einem gewaltsamen Tod erliegen, sind es bei Schoock die eruditi, deren Tod meistens mit publica infamia verbunden ist (p. 472). Vor allem aber regten ihn mehrere Passus aus Meursius’ letztem Kapitel (XXVII. Epilogus Operis, & ad veram æternamque exhortatio: item votum, S. 103–106) zu wörtlicher Nachfolge an – im Epilog (p. 486–493). Schon der Anfang der neuen Argumentation, die sich dem religiösen Aspekt zuwendet, hat Schoock inspiriert. Meursius beginnt: Epilogus Operis, & ad veram æternamque exhortatio: item votum. AT satis jam, satis Terrenam Gloriam ingessi: nunc averte mentem, &, ad Cælestem istam erectus seriò, æternitatem mihi cogita. Huic uni pareat omnia illa cupiditas, huc se referat, in hoc tranquillo portu anchoram ligat. Cleobulus sublime aliquid, & illustre sapiendum esse ajebat. hîc applicabis: nulla sapientia sublimior, aut illustrior. Expende dona tua. Corpus Deus dedit, sed & animam: in mundo posuit, sed & cælum proposuit. Fruere corpore, animæ fac satis. quàm amplissimam mundo gloriam relinque, ad cælum quoque adspira. Deus invitat: da blandienti, quod non posses recusare jubenti.
Den Passus hat Schoock, mit Cleobulus beginnend, aufgenommen (p. 487):193 Magnus ille Cleobolus, quem Græcia inter Sapientes, quos paucos admodum habebat, censere voluit, sublime aliquid & illustre sapiendum esse ajebat. Applica tibi ipsi: nulla sapientia sublimior hac cogitari potest. Corpus cum belluis commune, animam ex ipso cælo Deus dedit; atque mundo hospitem solum esse voluit, proposito cælo, tibi non ut portu solum, sed, maxime ut patria. Vah! si tu qui ad majora es genitus, mancipium corporis fias. Vinculum solum est libertati tuæ circumdatum, rumpere omnibus modis illud oportet. Invitat eo is, qui in ipsos reges imperium exercet. Da quæso blandienti, quod citra piaculum jubenti recusare non potes.
Man glaubt, eine Nacherzählung zu lesen. Es genüge, einen zweiten Abschnitt zum Vergleich heranzuziehen. In ihm geht es um den Gedanken, daß Gott durch Christus auch den Adressaten der Schrift von der Erbsünde erlöst hat und dieser verpflichtet ist, als Christus’ Soldat mit der Sünde zu kämpfen (S. 105): […] per Christum justificatum memineris. Demersum est tartaro grave istud pondus, quod in tartarum te deprimebat; & quem morti primi parentis addixerat reatus, secundi gratia à pœna revocavit ad vitam. Conflige itaque cum peccato, ut cadat in triumphum tui victoris, ac gloriam: & doleat tandem à servo aliquando suo securè calcari. Egregius animi miles non vult pugnæ præmium, sine pugnâ, quippe quod non meruerit; atque cùm meruerit, multò splen-
192 Beide Darstellungen beginnen mit einem Bezug auf das alte Wort mors ultima rerum. 193 Die übernommenen Wendungen sind unterstrichen.
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didius putat. Et tu miles es sub Christi signo: ei sacramento dixisti, quod quantum sit, sedulò tecum reputa; curatoq́ ue ne vel infrequens sis, vel ordinem deseras.
Wiederum mutet Schoocks entsprechender Gedankengang wie eine Variation an (p. 487–488): ejusque [sc. Christi] morte demersum est, Tartaro, grave istud peccatorum pondus, quod in Tartarum te deprimebat. Quid cunctaris confligere cum peccato, ut in tui victoris cadat triumphum, doleatque aliquando secure calcari, ab eo, cui quondam imperabat ut servo? Strenuus animi miles non vult pugnae præmium, sine pugna. Tu quoque Christi miles es: ei sacramentum dixisti, quod quantum sit, defæcata mente expende. O infelicem te, si aut transfuga fueris factus, aut dicto tanti Imperatoris obsequi renueris!
Das mag genügen, um dessen innezuwerden, daß Schoock sich an der Vorlage über größere Gedankengänge hinweg bis in einzelne Formulierungen hinein orientiert hat. Diese Feststellung hat um so größeres Gewicht, als es sich bei dem Schluß seiner Schrift um ihren Höhepunkt handelt.
3. Gian Vittorio Rossi Auf die Spur von Gian Vittorio Rossi / Giano Nicio Eritreo (1577–1647), einem italienischen Dichter und Historiker, führt ein exquisites Zitat aus Plautus, das bei diesem und bei Schoock in einem bestimmten Zusammenhang und in einer bestimmten Form begegnet. 1645 erschien die zweite Auflage von Rossis Eudemia in 10 Büchern bei Iodocus Kalkovius in Amsterdam (!)194 – drei Jahre, bevor die erste Auflage von Schoocks Schrift verfaßt wurde.195 Wenn auch nicht auszuschließen ist, daß beide Autoren eine gemeinsame Quelle hatten, spricht die zeitliche und geographische Nähe dafür, daß Schoock Rossi gefolgt bzw. durch ihn angeregt worden ist. Es geht um das seltene Plautus-Zitat, das p. 422 aufscheint, und seine Funktion. Rossi lobt in der Epistola dedicatoria den offenen und klaren Stil des Adressaten, des Humanisten und Kardinals Girolamo Aleandro (1480–1542): sunt enim omnia in tuis scriptis aperta, dilucida ac tuis moribus omnino similia. Von diesem Ideal hebt er diejenigen Autoren ab, die den Gebrauch klarer und angemessener Wörter ablehnen und verba […] abdita, abstrusa, recondita e tenebris evocant. Sodann heißt es:
194 Das Werk ist 2021 von Jennifer K. Nelson neu ediert worden (zu beiden Ausgaben ► Literaturverzeichnis). 195 Die Widmung trägt das Datum Januar 1649 (► o. S. 18).
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A. Einführung Verum his artibus sese imperitis adolescentibus venditant, qui ea quae non intellegunt admirantur et obstupescunt. In quo Plautino illi coquo similes inveniuntur qui, ut se lenoni cui coctum ibat commendaret, culpabat condimenta omnia quibus alii coqui cœnas condiebant ac nova et portentosa condimentorum genera afferebat: cicilendrum, polindrum, macidem, cicimandrum, happalopsidem, cataractriam: quæ omnia non rerum certarum sed nugarum inanissimarum sunt vocabula. [Aber mit diesen Kunstgriffen empfehlen sie sich den unerfahrenen jungen Leuten, die das, was sie nicht verstehen, bewundern und bestaunen. Darin erweisen sie sich jenem plautinischen Koch ähnlich, der – um sich bei dem Kuppler, für den er kochen sollte, zu empfehlen – alle Gewürze, mit denen andere Köche ihre Gerichte zu würzen pflegten, tadelte und neue abenteuerliche Gewürze vorbrachte: cicilendrum, polindrum, macidem, cicimandrum, happalopsidem, cataractriam – was alles nicht Bezeichnungen bestimmter Dinge, sondern nichtigster Blödsinnigkeiten sind.]
Bei Schoock lautet der entsprechende Passus (p. 422): Plautino coquo similes dicere soleo hos homines, qui, ut se lenoni, cui coctum ibat, commendaret, omnia condimenta culpabat, quibus alij coqui cœnas, Saliares quoque, condire solent; ac nova atque portentosa condimentorum genera adferebat, cicilendrum, polindrum, macidem, cicimandrum, happalopsidem, cataractiam, & id genus alia, quæ omnia non rerum certarum, sed inanissimarum nugarum vocabula sunt.
Polemisiert Rossi gegen gewollte Dunkelheit des Stils, geht es Schoock um angestrebte Neuigkeit des Stils, gegen die er zu Felde zieht. Beiden Tendenzen mit derselben Argumentation und demselben Plautus-Zitat entgegenzutreten kann nicht Zufall gewesen sein, zumal der völlig unsicher überlieferte plautinische Wortlaut bei beiden Autoren in genau derselben Form (!) erscheint.196 Man ist versucht, zu sagen, daß Schoock, um seine Eigenständigkeit zu betonen, (vielleicht zutreffend) sagt, er p fl e g e diesen Vergleich anzuwenden (Plautino coquo similes dicere soleo hos homines). Auch an anderer Stelle könnte Schoock ein Werk Rossis konsultiert haben.197
4. Genannte Kataloge Schoock liebt es, für seine Thesen nach Möglichkeit jeweils eine Fülle von Beispielen vorzuführen. Daher lag es für ihn nahe, daß er bei reihenartig vorgetragenen Belegen zuweilen zusammenhängende Darstellungen – gewissermaßen Kata-
196 Natürlich ist nicht auszuschließen, daß beide dieselbe Plautus-Ausgabe benutzt haben. 197 ► p. 394.
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loge – zu Rat gezogen hat. Das zeigen zwei Beispiele, bei denen er den jeweiligen Gewährsmann wörtlich zitiert. a) Spartianus p. 411–412 wird ein ziemlich langer Passus von Spartianus, einem Autor der Historia Augusta, wörtlich angeführt. Wie bei den zuvor behandelten Komplexen handelt es sich um ein übergeordnetes Thema, für das Beispiele in reihender Darstellung gegeben werden: das Thema, es sei für die gebildetsten Männer im römischen Staat fatal gewesen, den durch ihre Leistung erworbenen Ruhm in der eigenen degenerierten Nachkommenschaft zu verlieren.198 Natürlich hätte Schoock auch die Reihung so formulieren können, als habe er sie selbst zusammengestellt – wie möglicherweise in anderen Passagen. Doch hielt er es bei dem heiklen Thema für besser, hinter einem Gewährsmann zurückzutreten. Auf keinen Fall ist zu schließen, daß Schoock sich von Spartianus’ Ausführungen distanziert. b) Celio Rodigino Das zweite Beispiel eines wörtlich übernommenen Katalogs stammt aus den Antiquae Lectiones von Celio Rodigino.199 Der habe behauptet, daß der Staat nicht denen überlassen werden dürfe, die sich in die Wissenschaften zurückgezogen haben.200 Es geht um das imperium doctorum, um die Herrschaft der wissenschaftlich Gebildeten. Es wird eine ausführliche Aufzählung von Herrschenden geboten, die trotz ihrer philosophischen Ausbildung Tyrannen wurden bzw. tyrannische Züge annahmen. Auch diesen Katalog zitiert Schoock – gegen seine Gewohnheit (præter morem), wie er sagt – wörtlich (p. 432–433).201 Der Grund für dieses Vorgehen ist ein anderer als in Spartianus’ Fall. Es ist die bekannte, dennoch ungewöhnliche Methode, daß eine These ausführlich referiert wird, um sie sodann Punkt für Punkt zu widerlegen (p. 445–448). Denn Rodiginos Beispiele sind, wie Schoock p. 445 vorausschickt, bei diesem sonst in jeder Hinsicht vollkommenen Autor schwach (infirma). Eingelegt ist diese Demonstration in das Kapitel, daß eruditio angeblich nicht mit purpura zusammenpasse (p. 430–448).202
198 Fatale scilicet fuit eruditissimis quibusque in Romana repub. viris, gloriam sua virtute partam in sobole degenere perdere. 199 Zu diesem ► zu p. 411. 200 remp. committendam non esse ijs, qui in literas sese abdiderunt. 201 Einzelne Punkte sind nicht in jedem Fall klar zu verifizieren. Durch das direkte Zitieren fühlte sich Schoock der Notwendigkeit überhoben, die genannten Beispiele zu belegen. 202 ► S. 44–47.
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A. Einführung
In diesen beiden Fällen hat Schoock die Übernahme der Kataloge durch Kursivdruck angezeigt und die Verfasser genannt. Man könnte verstehen, daß er das nicht zu oft machen wollte, um nicht den Eindruck eines bloßen Zusammenstellens fremder Texte zu erwecken. Deshalb griff er stattdessen öfter zu dem Mittel der Paraphrase.
5. Ungenannte Kataloge In einigen Fällen kann es als sicher gelten, daß Schoock direkt einem vorliegenden Katalog folgt, ohne diesen zu nennen. Sechs kleinere Fundgruben sind Texte von Cicero, Sextus Empiricus, Lilio Gregorio Giraldi, Michel de Montaigne, Louis de Cresolles und Laurentius Beyerlinck, eine große Fundgrube ist Pierre Grégoire.203 Es ist nicht auszuschließen, daß Schoock in dem einen oder anderen Fall einer Zwischenquelle folgt, zumal er nur Montaigne namentlich anführt. a) Cicero Schoock legt p. 442 dar, daß bedeutende Staatsmänner von Philosophen gebildet worden seien: Perikles von Anaxagoras, Dion von Platon, Timotheos von Isokrates, Philolaos von Archytas,204 Agesilaos von Xenophon. Die Partie folgt einem Passus in Ciceros Schrift De oratore, wo es heißt (3, 138–139):205 quid Pericles? de cuius vi dicendi sic accepimus: […]. at hunc non declamator aliqui ad clepsydram latrare docuerat, sed ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras, vir summus in maximarum rerum scientia. […] quis Dionem Syracosium doctrinis omnibus expolivit? non Plato? […] aliisne igitur artibus hunc Dionem instituit Plato, aliis Isocrates clarissimum virum Timotheum, Cononis praestantissimi imperatoris filium, summumque ipsum imperatorem hominemque doctissimum? […] aut Xenophon Agesilaum? aut Philolaus Archytam Tarentinum? [Und Perikles? Über die Wirkung seiner Rede hört man folgendes: […]. Ihn hatte freilich kein Schulredner darin unterwiesen, nach der Wasseruhr zu toben, sondern dem Vernehmen nach der Klazomenier Anaxagoras, ein führender Vertreter der Wissenschaft auf den bedeutendsten Gebieten. […] Wer war es, der Dion von Syrakus in jeder Wissenschaft ausbildete? Nicht Platon? […] Waren die Fächer, in denen Platon diesen Dion unterwies, nun andere als jene, in die Isokrates den so berühmten Timotheos einführte, den Sohn Konons, des überragenden Feldherrn, selbst einen großen Feldherrn und Gelehrten? […] Oder Xenophon den Agesilaos? Oder Philolaos den Tarentiner Archytas?]
203 Die Autoren werden nach ihren Geburtsdaten angeordnet. 204 Das ist ein Fehler: Das Verhältnis war umgekehrt: Philolaos hat Archytas unterrichtet. 205 Übersetzung: Harald Merklin.
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Schoock hat Ciceros Text leicht gekürzt und das Verhältnis zwischen Philolaos und Archytas irrtümlich vertauscht.206 b) Sextus Empiricus Schoock führt p. 381 einen Katalog von Stellungnahmen gegen die Rhetorik an. Dieser könnte (zumindest hinsichtlich der griechischen Beispiele) dem Arzt und Philosophen (Pyrrhoniker) Sextus Empiricus (2. Jahrhundert n. Chr.) folgen, der in der Schrift Πρὸς μαθηματικούς das zweite Buch mit dem Titel πρὸς ῥήτορας diesem Thema gewidmet hat. In ihm begegnen einige der von Schoock genannten Ereignisse. Platons Gorgias steht auch dort am Anfang; im weiteren Verlauf begegnen wie bei Schoock Thales, Plutarch, Kephisophon, Aristoteles und Isokrates. c) Lilio Gregorio Giraldi Die Schrift Historiæ poetarum tam græcorum quam latinorum dialogi decem, quibus scripta & vitæ eorum sic exprimuntur, ut ea perdiscere cupientibus, minimum iam laboris esse queat (Basel 1545) von Lilio Gregorio Giraldi (1479–1552) hatte eine bedeutende Wirkung. Es kann kein Zweifel sein, daß folgender Passus über Hesiods obtrectatores direkt oder indirekt207 Schoock bekannt gewesen ist:208 Sed tametsi excellentis ac propè diuini ingenij fuerit Hesiodus, non tamen ideo obtrectatoribus illum caruisse accepimus: siquidem iniquas aduersus eum controuersias exercuisse Cercopem legimus: in tantum excellentissimus quisque aliquo est detractatore uexatus. Homerus quidem, ut Zoilum mittam, à Siagro poëta lacessitus, Pindarus ab Amphimane Coo, Simonides à Timocreonte. Nec Vergilio Horatioque nostris, defuere Parones, Mævij, Bauij atque Suffeni, alijq́ ue.
Bei Schoock heißt es: Homerum, iterum consideretis velim, is præter Siagrum poëtam, maximum æmulum expertus est Zoilum […] Cum Hesiodo controversias exercuisse Cercopem legimus. Pindarus ab Amphimane Coo, Simonides à Timocreonte lacessitus fuit. nec Virgilio, Horatioque defuere Parones, (396) Mævij, Bavij, atque mortalium arrogantissimi Suffeni.
206 Zu den genannten Personen ► im einzelnen zu p. 442. 207 Für seine Bekanntheit spricht, daß er mehrfach im 17. und 18. Jahrhundert in Ausgaben Hesiods (der im Mittelpunkt steht) abgedruckt wurde. 208 1545, S. 234.
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Alle 15 Namen, die Schoock aufführt,209 sind bereits in demselben Zusammenhang von Giraldi genannt worden und zwar großenteils innerhalb derselben syntaktischen Strukturen. Besonders interessant ist Parones (‚Männer wie Paro‘). Während alle Namen in den charakterisierten Abhängigkeiten identifizierbar sind, ist das bei Paro nicht der Fall. Ein solcher Dichter ist nicht nachweisbar. Schoock hat den Fehler übernommen. d) Michel de Montaigne Ein weiteres Beispiel für die Annahme, daß Schoock Katalogen folgt, ist p. 383–384 die Aufzählung von Gewährsmännern, die sich gegen die Ärzte und gegen die Medizin ausgesprochen haben. Hier werden nacheinander angeführt: Platon, Cato Censorius, Kaiser Hadrian, Montaignes Bewohner der convalles Agronensium und ein ‚lakonischer‘ Kommentator. Montaigne (1532–1592) ist ein Stichwort. Seine Abneigung gegen die Ärzte war bekannt. Tatsächlich erfolgte eine Abrechnung mit ihnen in dem langen Essai 2, 37, der den Schluß des zweiten Buches der Essais bildet. Hier erscheinen nacheinander Platon, Cato, Hadrian, der ‚lakonische‘ Kommenator und später eine Gegend «au pied de nos montaignes, qui se nomme Lahontan. Il est des habitans de ce coin, ce qu’on dit de ceux de la valée d’Angrougne».210 Es kann kein Zweifel sein, daß zwischen Montaigne und Schoock ein Zusammenhang besteht. Das wird schon daraus ersichtlich, daß die Platon unterstellte negative Sicht auf die Ärzte aus dessen Schriften nicht zu belegen ist. Auch die Zwischenbemerkung Romani […] ad Plinij usque ætatem sic à medicina abhorruerunt dürfte auf Montaigne zurückgehen, bei dem es heißt: «Iusques au temps de Pline, aucun Romain n’auoit encore daigné exercer la medicine». Die Abweichungen in den auf Platon folgenden Beispielen weisen vielleicht auf eine Zwischenquelle zwischen Montaigne und Schoock hin. Dafür könnten die verdrehten convallium Agronensium inquilini sprechen. Bei Montaigne steht ein identifizierbarer Name für die in völliger Abgeschiedenheit lebenden Bewohner, über die es nach der Einnahme einer Medizin heißt: «dépuis l’vsage de cette medicine, ils se trouuent accablez d’vne legion de maladies inaccoustumées, & qu’ils apperçoiuent vn general deschet en leur ancienne vigueur». Nach allem, was über Schoocks Arbeitsweise zu erkennen ist, ist die Annahme nicht notwendig, daß er Montaigne selbst nachgeschlagen und ohne ersichtlichen Grund verändert hat.
209 Einzelerklärungen werden jeweils z. St. gegeben. 210 Es handelt sich um Montaignes abgeschiedene Heimat, über die er sich auch in Essai 2, 17 ironisch äußert. Lahontan hatte übrigens auch 2018 nicht mehr als 510 Einwohner.
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e) Louis de Cresolles Des weiteren ist direkt oder indirekt eine Quelle das 1620 in Paris erschienene Theatrum veterum rhetorum, oratorum, declamatorum, quos in Græcia nominabant Σοφισταὶ, expositum libris quinque des Jesuiten Ludovicus Cresollius / Louis de Cresolles (1568–1634). Zumindest folgender Passus, der auf Platon Prot. 316d–e zurückgeht, zeigt eine unabweisbare Ähnlichkeit mit einer längeren Passage bei Schoock p. 378 (S. 7): nam quidam, vt monuit Plato in Protagora, obtendebant poësim; alij sacrorum & oraculorum appellationem. Iccus etiam Tarentinus & Selybrianus Herodicus cùm perfecti absolutíque forent Sophistæ, artem suam appellarunt Gymnasticam. Pythodes etiam Chius Sophista doctissimus aliíque multi sub Musicæ artis velamine Sophisticam facultatem occuluerunt. hi omnes, ait Plato, ob devitandam inuidiam, ταῖς τέχναις παραπετάσμασιν ἐχρήσαντο. Id fecisse quoque Damonem […] ait Plutarchus,211 virum sanè de summis vnum, qui Pericli dux fuit ad politiorem humanitatem.212
Dieser Text gibt den Platon-Text ziemlich genau wieder, nur daß es Selybrianus statt Selymbrianus heißt und (der nicht identifizierbare) Pythodes Chius eine Entstellung des von Platon genannten Pythokleides von Keos ist. Die Übernahme dieser Fehler beweist, daß Schoock Cresollius folgt.213 f) Laurentius Beyerlinck In Schoocks Abschnitt, der darlegt, daß die eruditi auch körperlich leiden (corpore laborare), wird am ausführlichsten das Podagra als Ursache behandelt (p. 404–406). So verbreitet diese Krankheit war – Jakob Balde widmete ihr 1661 das umfangreiche Solatium podagricorum –, gab es schlimmere Leiden. Der Umstand, daß katalogartige Darstellungen bekannter podagrici vorlagen, mochte Schoock angeregt haben, auch dieses Thema aufzugreifen. Hier seien zwei Enzyklopädien214 genannt, das Theatrum Vitae Humanae von dem Basler Theodor Zwinger (1533–1588), das in dritter Auflage 1586 in neun Bänden erschien, sowie das sich auf Zwinger stützende
211 Perikles-Vita 4. 212 Emergente vixdum Philosophia, publice adeo male audiverunt P h i l o s o p h i , ut, quo securi forent à lapidibus, studio s e no men s u u m occu ltare deb u e r i n t , q u i bus d a m p o ë s i n , a l i j s s a c ror um atque oracu lo r u m appellationem o b ten d e n t i bu s . Ic c us Ta re n t i n u s , & Sel ybr ianus H e rodicu s cu m P hilos o phi ad u ng u em f a c t i e s s e n t , a r t e m s ua m Gy m na stic am appe llar u nt. P y thodes C hiu s s u b Mu s icæ a r t i s v e l a m i n e P h i l o s o p h i c a m f a cultate m occ ultavit. I dem fecit D amo n v ir u nu s d e s um m i s , q u i q ue m a g n o i l l i Per icli ad politiorem hu manitatem du x fu it (p. 378). 213 Wie immer, ist eine Zwischenquelle nicht auszuschließen. 214 Ausführlicher: Lefèvre 2020, S. 35–36.
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Magnum Theatrum Vitae Humanae von Laurentius Beyerlinck (1578–1627), dessen erste Auflage in sieben Bänden (1631) Schoock ebenfalls zu Rate ziehen konnte. Beide Enzyklopädien führen unter dem Stichwort Podagra eine Reihe von Männern aus dem Altertum und aus der Neuzeit auf, die an dieser Krankheit gelitten haben. Schoock nennt zehn Podagristen,215 von denen fünf (die im folgenden unterstrichen sind) auch bei Beyerlinck aufscheinen: Herodes Atticus, Publilius Syrus,216 Arkesilaos, Lykon aus Tarsos, Ennius, Polemon, Matthæus Aquilanus, Alexander Fortecia, Wesenbecius und Erasmus. Das wird kaum Zufall sein, sei es, daß Schoock direkt Beyerlinck, sei es, daß er eine mit ihm verwandte Quelle benutzt hat. Es genügt in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß es solche Kataloge gegeben hat. Zugleich erklärt sich dadurch der Umstand, daß in ihnen Ungenauigkeiten, ja Fehler anzutreffen sind (die zuweilen von den Benutzern – auch von Jakob Balde – weitertradiert wurden). g) Pierre Grégoire Eine große Fundgrube ist die Quelle, die hinter Schoocks Katalog von Plagiaten selbst bedeutender Autoren steht; p. 423–425 heißt es: (1) Platon sei vorgeworfen worden, daß er Dialoge von Antisthenes und Bryson als eigene untergeschoben habe. (2) Aristoteles sei der Umwandlung verschiedener Werke der älteren Philosophie bezichtigt worden und habe gehofft, daß seine Diebstähle und Betrügereien vor der Nachwelt verborgen blieben. (3) Luscius Lanuvinus habe Terenz beschuldigt, als wenn er die heilige Staatskasse ausgeraubt hätte. (4) Dasselbe sei von seinen Nebenbuhlern Vergil widerfahren, der wegen einiger sehr passend übertragener homerischer Verse sich einen Plünderer der Alten habe nennen hören müssen. (5) Wenn man Hieronymus Glauben schenken wolle, hätten viele Griechen Cicero auf Schadensersatz verklagt. (6) Theopomp von Chios sei Asinius Pollio so feindlich gesonnen gewesen, daß dieser sechs Bücher über dessen Diebstähle geschrieben habe. Flavius Josephus und Lukian hätten ihn dagegen nur als Schmäher und Lästerer gescholten. (7) Lysimachos habe es unternommen, zwei Büchern des Ephoros verborgene Beutestücke herauszureißen. Seneca Vater dagegen habe sich begnügt, ihn nur einen Historiker ‚von nicht gewissenhafter Zuverlässigkeit‘ zu nennen, und Dion Chrysostomos habe seine Art der Rede nur als ‚gleichsam lässig und schlaff‘ getadelt. (8) Apollodor von Athen habe behauptet, wertloses Wachs wären so viele Bände Chrysipps, wenn diejenigen aufstünden, die behaupten könnten, ihre Lehrsätze seien unter fremdem Titel und Namen der gläubigen
215 ► p. 404–405. 216 Zu der Schreibung dieses Namens ► zu p. 404.
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Jugend geweiht gewesen. (9) Selbst Menander sei, wenn wir Caecilius glaubten, ein so großer Dieb fremder Schriften gewesen, daß die Diebstähle kaum in sechs Bänden durch einen Richter hätten aufgezählt werden können. (10) Desselben Vergehens habe der Alexandriner Philostrat Sophokles verdächtigt und einen Kommentar über dessen Diebstähle geschrieben. Das ist ein beachtlicher Katalog, der den Verdacht nahelegt, daß er streckenweise einer Quelle verpflichtet ist. An Schoocks breiter Kenntnis der antiken Autoren kann kein Zweifel bestehen. Um so auffallender ist es, daß gerade in diesem Katalog klare Fehler auftreten, die sich am ehesten dadurch erklären lassen, daß Schoock nicht selbst recherchiert hat. Die Polemik von Luscius Lanuvinus ist in dieser speziellen Form nicht belegt. Daß Asinius Pollio sechs Bücher über Theopomps Diebstähle geschrieben habe, ist eine absurde Behauptung. Daß Seneca Rhetor Ephoros’ Zuverlässigkeit angezweifelt habe, ist falsch. Falls mit Caecilius der Komödiendichter gemeint ist, läßt sich der präzise formulierte Vorwurf gegenüber Menander nicht belegen. Das mag genügen. Auch wenn man unterstellt, daß Schoocks Zettelkasten durch einen Windstoß ein wenig durcheinander geraten war, ist die Häufung von Beanstandungen so groß, daß die Benutzung einer Vorlage sehr wahrscheinlich ist. Es ist ein Glücksfall, daß die Quelle für die vorgenannten Behauptungen noch faßbar ist – sei es, daß sie direkt, sei es, daß sie indirekt benutzt wurde: Es ist der französische Jurist und Philosoph Petrus Gregorius Tholosanus / Pierre Grégoire aus Toulouse (ca. 1540–1597), seit 1582 Professor in Pont-à-Mousson. Sein Werk De republica libri sex et viginti erschien zuerst 1596 in Lyon. Im folgenden wird nach dem zweiten Band dieser Ausgabe zitiert, und zwar Liber XVI, Caput VIII: Librorum et Authorum reprehensiones (S. 81–85). Dort werden alle zehn oben in Schoocks paraphrasiertem Text (durch Fettdruck hervorgehobenen) Autoren besprochen. Weiterhin nimmt Schoock eine Reihe der Aussagen Grégoires an anderen Stellen seiner Schrift auf. Die Annahme einer Abhängigkeit liegt somit auf der Hand.217 Bei Grégoire heißt es f ortlauf e nd (übereinstimmende Stellen werden unterstrichen):
217 Es versteht sich, daß Grégoire einer Quelle gefolgt sein kann, der auch Schoock folgen konnte, daß ferner zwischen Grégoire und Schoock eine Zwischenquelle existieren kann (der Schoock wie vielleicht im Fall Montaignes folgen konnte). Auf solche möglichen Zusammenhänge kommt es hier nicht an.
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3 Quidam in Platone criminantur confusionem,218 sepiam vocant Aristotelem: infamant Virgilium velut vsurpatorem: ex oratoribus, Ciceroni non placet Demosthenes,219 nec Trogo Liuius, cuius orationes damnat tanquam fictas & imaginarias.220 Lenæus Pompeji magni libertus, scholæ grammaticæ perfectus, tanto amore erga Pompeium extitit patronum, vt Sallustium Historicum, quod eum oris improbi, animo inuerecundum scripsisse, accerbissima Satyra lacerauerit, Lastaurum & lurconem, & nebulonem, popinonémque appellans, & vita scriptísque | monstrosum, præterea priscorum Catonísque verborum, ineruditissimum furem.221 Asinius etiam Salustium affectatorem nuncupat: Senecam, vtpote calcem sine arena, irridet Quintilianus.222 Salustius, Ciceronem vt nouum hominem, peregrinum, Romanum Arpinatem, patronum mercenarium; cum vxore Terentia sacrilega, & Tulliola filia matris pellice.223 Quidam Azonem Agazonem, dicunt,224 Iustinianum Analphabetum, Bartholum Battum, & quod, Bartholus in syluis tendebat retia grillis,225 Baldum Bardium.226 Suetonius ait, Caligulam Cæsarem parum afuisse, quin statuas, & scripta Liuij ab omnibus bibliothecis amoueret, carpens eum vt verbosum & negligentem in historia,227 qui suppressisset triumphos Romuli habitos & partos victoria Thuscorum, quod in historia est genus falsitatis dignum abolitione authoris. Athenæus, Platonem mordet, eúmque notat vt invidum, moribus minime probum; gloriosum: irridet libros eius de republica, & leges ibi descriptas, vtpote scriptas hominibus à se fictis, ita vt qui his vtantur postea perquirere oporteat: neque Timæos, Gorgias, aliósque his similes dialogos, vbi percurrit de mathematicis, naturalibus aliísque compluribus, idcirco admirandos: siquidem & ipsa ex aliis percipere liceat vel melius dicta, vel non deterius certe. Nam enim Theopompus Chius in libro contra Platonis consuetudinem, complures eius dialo-
218 Schoock p. 414: in ejus [sc. Platonis] quoque Dialogis plerique confusionem jam olim notarunt. 219 Schoock p. 420: ipse M. Tullius, cui, si Quintiliano credimus, Demosthenes interdum visus est dormitare. 220 Schoock p. 416: In Trogo Pompejo […] fictas imaginariasque orationes reprehendit Livius (diesen Tatbestand gibt Gregorius richtig, Schoock falsch wieder, ► z. St.). 221 Schoock p. 396: Grammaticorum Latinorum princeps Lenæus, & ipse non incelebris in urbe Romana Grammaticus, Sallustium historicum acerbissima satyra laceravit, lastaurum & lurconem, & nebulonem, popinonemque appellans: & vita scriptisque monstrosum; præterea, priscorum, Catonisque verborum ineruditissimum furem. 222 Schoock p. 415: […] ne quid de Caligula principe dicam, qui maximi hujus Stoici orationem, arenam sine calce vocare solet. Schoock hat hier richtig Caligula statt Quintilian als Autor der Sentenz angegeben. 223 Schoock p. 396: Sallustium infestissimum expertus est Cicero. Schoock mochte offenbar nicht wie Grégoire Sallusts (in ihrer Echtheit umstrittene) schlimme Invektive gegen Cicero resumieren. 224 Schoock p. 422: Azo, at quantus Iurisconsultus! per convitium Agazo vocatur. 225 Schoock p. 422: Bartolus in silvis tendebat retia grillis [als Zitat ebenfalls kursiv]. 226 Schoock p. 422: Baldus […] Bardius […] salutetur (► aber Anm. z. St.). 227 Schoock p. 416: vocatque invidum, verbosum, & negligentem historicum.
VIII. Quellen
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gos inutiles & mendaces esse testatur, multos etiam alienos, nonnullos Antisthenis, aliósque Heracleotici Brysonis.228 Senecam vero damnare, inuisúmque habere, Quintilianus est solitus, ob corruptam & deprauatum dicendo genus,229 vt scribit Angelus Politianus, in præfatione, in M. Fabij Quintiliani institutiones. Narrat & Suetonius, Senecam auertisse Neronem discipulum, à veterum oratorum cognitione, quo eum diutius in admiratione sui detineret.230 Lucilius insectatur Vectium vtentem sermone Tusco Sabino & Prænestino. Quemadmodum Pollio deprehendit in Liuio Patauinitatem, vt refert Quintilian [sic].231 4 Nicolaum Perotum, Sympotinum præsulem, hominem acuto ingenio præditum, & multa lectione exercitatum, qui cornu copiam in Martialem ædidit, exosum habuit Domitius Calderinus, vir & in ea tempestate doctus, æmulatione doctrinæ & morum dissimilitudine, eúmque iurgiis & conuitiis apud suos plerunque sectatores incessebat, sæpiúsque apud studiosos in inuidiam criménque vocabat, vt refert Alexander ab Alexandro. Laurentius Valla in plerosque temere, vt plerunque in elegantiis suis debacchatur.232 5 Terentius Afer, poeta præstantissimus à Lauino vrgebatur, qui eum quasi publici ærarij furem criminabatur. Quod & passus à suis æmulis Virgilius Manthuanus, qui cùm quosdam versus Homeri transtulisset ad verbum, compilator veterum dicebatur, vt scribit Hieronymus in epistola libri de locis & nominibus Hebraicarum quæstionum. Quemadmodum ibidem refertur M. Tulium [sic] Ciceronem, | oratorum facilè principem, & linguæ Latinæ illustratorem, repetundarum accusari à Græcis.233 6 Diuus Hieronymus, (de quo diuus Augustinus dixit, nemo hominum scivit quod Hieronymus ignorauit) sæpe conqueritur de obtrectationibus, calumniis, & detractationibus
228 Schoock p. 423: Platoni, viventi adhuc, objectum fuit, quod Antisthenis atque Brysonis dialogos pro suis supposuerit. 229 Schoock p. 415: Seneca, si Fabium Quintilianum audimus, in Philosophia parum diligens fuit, ususque corrupta in eloquendo oratione. Falls Schoock an dieser Stelle Grégoire direkt folgt, hat er das von jenem nach Angelo Poliziano umschriebene sehr bekannte Urteil Quintilians über Seneca (das er im Kopf hatte) wörtlich(er) wiedergegeben. 230 Schoock p. 416: Neronem discipulum, Senecam à veterum oratorum cognitione avertisse, quo eum diutius in admiratione sui detineret. 231 Schoock p. 416: In ipso autem Livio, cui lacteam ubertatem Fabius Quintilianus tribuit, Asinius Pollio Patavinitatem notavit. Schoock hat das bekannte Urteil Quintilians über Livius’ Stil (das er im Kopf hatte) zusätzlich zitiert. 232 Schoock p. 421: Nicolai Perotti Sipontini præsulis, hominis acuto ingenio præditi, infinitaque lectione exercitati scripta infesto veru iugulare instituit Domitius Calderinus vir sua tempestate imprimis doctus; laboriosamque Cornucopiam apud auditores suos cum cantico & psalterio traduxit. Ad ferulam omnes, qui sua ætate clari habebantur, in Elegantiarum libris Laurentius Valla vocat. 233 Schoock p. 423: L. Lavinius [sic] Terentium Afrum, cui Africanus Magnus similem invenire non potuit, haud aliter criminatur, ac si sanctius ærarium expilasset. Idem ab æmulis suis passus est Virgilius Maro, qui ob quosdam Homeri versus dexterrime translatos, compilator veterum audire debuit. Et, si Hieronymo fidem adhibere volumus, M. Tullium Ciceronem Latinæ linguæ illustratorem optimum maximum, repetundarum multi ex Græcis accusarunt. Wie bei Grégoire sind Terenz, Vergil und Cicero unmittelbar nacheinander charakterisiert. Den Fundort bei Hieronymus übernahm Schoock nicht.
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A. Einführung
quibus eum æmuli persequebantur,234 vt plenè liquet ex epistola eius ad Asellam virginem, quæ incipit, Si tibi putes gratias à me referri posse, &c. & in epistola præposita tractatui de locis & nominibus Hebraicarum quæstionum, & in prologo super Iosue & alibi. 7 Reprehendantur plures qui libros alienos, suis nominibus ediderunt aliquando, signis tantum exigua forma mutatis, aliquando etiam emendicatis ex aliis capitibus tantum nominibus, sícque vt plagiarij & fures incusantur, de quo conqueritur Martialis. Cæcilius, sex libros de Menandri furtis scripsit, vt Philostratus Alexandrinus de Sophoclis furtis, Lysimachus de furtis Ephori diligentis Græci historiographi duos libros.235 Asinius Pollio, iustos libros de furtis Theopompi, quem tamen historiæ patrem Cicero nominat.236 Et Apollodorus Atheniensis, vt ait Diogenes Laertius, cum docere contenderet Epicurum multo plura quàm Chrysippum ingenij viribus, & sine vllo cuiuspiam adminiculo scripsisse, dixisse fertur, si quis tollat de Chrysippi libris omnia quæcunque sunt aliena apposita, vacua illi charta relinquetur.237 […] 8 Omitto similes, & eos quos inuidia lacerauit: neque enim à præstantissimis ea authoribus abstinuit, vt & Varro omnium Romanorum doctissimus à Quinto Rhemio [sic] Palæmone porcus appellatus sit.238
Ob Schoock Grégoire direkt oder indirekt benutzt hat: Es liegt eine extreme Verwandtschaft beider Texte vor. Man darf annehmen, daß Schoock eine entsprechende Ausgabe des gelehrten Juristen neben sich auf dem Schreibtisch liegen hatte – wohl nicht durchgehend, denn seine Bezugnahmen konzentrieren sich auf p. 414–425, auf denen Grégoire 18mal die entscheidende Anregung gegeben zu haben scheint, sowie auf p. 396 (dreimal).
234 Schoock p. 421: Magnus ille Hieronymus (quem si eruditissimum & supra omnes Ecclesiæ Doctores eloquentissimum vocavero, Augustini judicio accedam, qui non dubitat hoc testimonium alicubi ei perhibere: Quod nemo hominum scire potuerit, quæ Hieronymus ignoravit) passim in suis Epistolis conqueritur de obtrectationibus, calumnijs, & detractionibus, quibuscum sine ulla missione luctabatur. Schoock folgt der Vorlage, übergeht aber die genannten Fundorte (wie üblich, wenn solche angegeben sind). 235 Schoock p. 425: Is ipse tamen Menander tantus alienorum scriptorum fur fuit, si Cæcilio credimus, ut vix sex voluminibus per judicem quoque enumerari potuerint. Ejusdem criminis suspectum Sophoclem facere voluit Philostratus Alexandrinus, Commentarium de ejus furtis scribendo. 236 Schoock p. 424: Theopompo Chio, Isocratis discipulo, quem Historiarum patrem Cicero vocat, adeo infestus fuit Asinius Pollio, acer ille Livij censor, ut sex libros de ejus furtis inter reip. curas scripserit. Daß Schoock im Gegensatz zu Grégoire nicht iustos libros, sondern sex libros sagt, geht sicher darauf zurück, daß ihm (oder seiner Zwischenquelle) eine Verwechslung mit den (angeblichen) sex volumina unterlaufen ist, die Caecilius über Menander geschrieben haben soll (► vorherige Anm.). 237 Schoock p. 424: Apollodorus Atheniensis, ex Epicuri familia Philosophus, cum docere vellet, præceptorem suum suspiciendum esse præ Chrysippo, suoque Marte ingenijque auspicijs longe plura scripsisse; non dubitavit in pleno Philosophorum senatu exclamare, vacuam ceram fore tot Chrysippi volumina, si surgerent ij, qui dogmata sua, sub alieno titulo & nomine, credulæ juventuti propinata fuisse cum stomacho contendere possent. Der Schluß ist etwas ausführlicher als bei Grégoire. 238 Schoock p. 396: Marcum Varronem togatorum doctissimum porcum vocavit Palæmon Remmius.
IX. Zu dieser Ausgabe
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Auch sonst wird Schoock Kataloge bzw. katalogartige Darstellungen zu Rat gezogen haben.239 Dabei konnten leicht auch Fehler oder Unklarheiten übernommen werden.
IX. Zu dieser Ausgabe 1. Text Der Text folgt dem des Sammelbandes von 1650 (p. 377–493).240 Die am Ende verzeichneten Corrigenda sind stillschweigend eingearbeitet. Zwei sind fehlerhaft: p. 445 Z. 4 enim zu tilgen (vielleicht ist das in Z. 26 entbehrliche enim gemeint); p. 471 Z. 10 nisi sub zu lesen (richtig: Z. 21 sine sub zu verbessern).241 Es werden auch die Druckfehler angemerkt, damit sich der Leser von der unterschiedlichen Qualität der beiden Drucke ein Bild machen kann. Auf Besonderheiten in der Orthographie wird nicht eingegangen. Schoock hat in der Widmung der Ausgabe von 1650 die Sorglosigkeit der Drucker erwähnt (operarum typographicarum oscitantiam).242 Leider gilt das auch für den Neudruck, den Nathanael Cost(ius) (1611–1656) in Deventer ausgeführt hat: Dieser hat erheblich mehr Druckfehler als der gute von dem bekannten Universitätsdrucker Johannes Sas 1649243 in Groningen erstellte Erstdruck.
239 Das ist sicher in den detailreichen Ausführungen über die Kritik an den Schriften bedeutender Männer p. 413–430 der Fall. Auch mit komplizierteren Fällen ist zu rechnen. Zum Beispiel begegnen p. 396 (unten) bis p. 398 (oben) folgende neuzeitliche Autoren eng aufeinander: Lee, Stunica, Caranza, Latomus, Sutor, Filelfo, Bernhardin von Siena, Calderino, Galeotto & Poliziano, Giorgio Merula, Poggio Bracciolini, Georgio Trapezuntio, Lorenzo Valla, Antonio de Rho & Bartolomeo Facio & Antonio Panormita. So geht es weiter! Beachtenswert ist, daß dreimal mehrere Autoren (ad hoc unterstrichen) ohne jede Erläuterung gereiht oder durch & verbunden werden. Das sieht nicht danach aus, daß Schoock in jedem Fall individuelle Studien betrieben hat. 240 Obwohl Schoock in der Widmung sagt, er habe die bereits veröffentlichten Abhandlungen nih il in iis mutando , sed eo modo, exhibendo, quo pro ætate & tempore concepti fuerunt wieder abgedruckt, hat er einiges geändert. Deswegen ist der Druck von 1650 die Ausgabe letzter Hand. Auf Diskrepanzen zu 1649 wird in den Anmerkungen hingewiesen. 241 Der Druck von 1649 bietet richtig: nisi sub. 242 opera metonym. gebraucht wie Hor. Sat. 2, 7, 118. 243 ► S. 17.
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A. Einführung
2. Übersetzung Es wird nicht eine glatte deutsche Paraphrase des schwierigen lateinischen Texts geboten, vielmehr angestrebt, diesen wörtlich wiederzugeben (auch, soweit möglich, im Satzbau), ohne dem Deutschen Gewalt anzutun. Der Leser, der des Lateinischen nicht besonders mächtig ist, soll so dem originalen Text leichter folgen können. Erfahrene Rezipienten brauchen die Übersetzung ohnehin nicht. Insbesondere werden lateinische Wörter zuweilen in ihrer direkten deutschen Form wiedergegeben (scrupolosus mit ‚skrupulös‘ usw.), da das aufgrund der Sprachentwicklung in etlichen Fällen bei lateinischen Texten des 17. Jahrhunderts sinnvoll sein dürfte. Diesbezüglich wurden keine Studien betrieben.
3. Anmerkungen Es wird versucht, die von Schoock genannten Autoren / Gewährsmänner in den Anmerkungen kurz zu charakterisieren, nicht jedoch ihre allgemeine Bedeutung darzulegen. Wer wollte das bei Sophokles, Platon oder Seneca, bei Erasmus, Lipsius oder Tasso in wenigen Zeilen leisten? Dagegen ist angestrebt, deren Handlungen, Urteile, Schicksale, soweit Schoock auf diese anspielt, nachzuweisen. Das ist angesichts der lockeren Art der Quellenbenutzung der Humanisten nicht einfach, zumal in einer rasanten Rede wie der vorliegenden, die ihre Empfänger überzeugen will. Diese Nachweise sind nicht Selbstzweck. Schoock zitiert eine Unmenge von Fakten und Urteilen, die einerseits die antiken, andererseits die neuzeitlichen Autoren betreffen. Es ist klar, daß die antiken Bausteine direkt oder indirekt auf schriftlichen Quellen beruhen, die neueren dagegen zu einem wesentlichen Teil auch auf mündlicher Tradition wie Unterricht, Allgemeinbildung oder Hörensagen. Wenn in den Erklärungen vor allem hinsichtlich der antiken Autoren wegen ihrer relativ guten Erschließung durch Hilfsmittel wie Kommentare, Speziallexika und Konkordanzen zu einer befriedigenden Erklärung zu gelangen ist, darf aus dem sich ergebenden Umstand, daß Schoock im allgemeinen genau zitiert, geschlossen werden, daß das auch hinsichtlich der neueren Autoren und Begebenheiten der Fall ist – zumal diese den Rezipienten genauer bekannt sein konnten als die antiken. Bei selteneren lateinischen Wörtern und Wendungen wird in der Regel der Herkunftsort angegeben, weil sich daraus erkennen läßt, an welchen Autoren Schoock bzw. die Humanisten sich schulten. Besonders kommen hier Plautus und in überragendem Maß Horaz (vor allem die Satiren und Episteln) zu Wort. Aber auch Cicero, Persius und Tacitus sind mit eindrücklichen Prägungen vertreten.
B. Original und Übersetzung
https://doi.org/10.1515/9783111208763-003
DE MISERIA ERUDITORUM. [377] ITa vulgo comparatum est AA. cum rebus mortalibus, quæ facile acquiri possunt, nec artis præsidium, quo conserventur, efflagitant; contemnuntur, & parum quin inter res rejiculas putentur. Teste Lyricorum apud Græcos principe, aqua nihil melius est, quanquam nullo pretio in Velabro, & Sacra via censetur, quod in proximo aut ex profluente, aut ex fonte ab ipsis tunicatis hauriri possit. Eadem tamen à Xerxe cum in Græcia subigenda occuparetur, thesauri loco habita est, quod procul à Choaspe abesset, ex quo bibere consueverat. Scilicet, pretium rebus addit acquirendi & custodiendi difficultas. Palma si gravioribus oneribus prematur, altius surgere dicitur; pariter illustres animi dotes, si in calamitates multasque molestias incurrant, excitantur, ærumnarumque nobilissima luce, haut aliter atque colores, qui in tenebris mortui videntur, recreantur & animantur. Eruditionis arcem calones occuparent, nisi animum septemplici patientiæ clypeo munitum expeteret; quo quoniam pauci præditi sunt, ut plurimum aureus hic sol male habitat. Eruditus non tantum sibi cum Homerico Achille majus laboris dimensum, alijs divitiis relictis, efflagitat, sed amplius paratus [378] est sexcenta incommoda subire, quæ quamquam ad digitos revocare difficile est, conabor tamen ex parte enumerare, quo ab eruditorum subsellijs levia inposterum ingenia, jugique impatientia, submoveantur. Interim onnes qui non haberi, sed docti esse vultis, lingua &
1 Pindar, Olymp. 1, 1: ἄριστον μὲν ὕδωρ. 2 Velabrum: Gegend unterhalb des Aventin, Via Sacra: Straße im alten Rom, beide auf sumpfigem / feuchtem Grund. 3 tunicatus popellus: Hor. Epist. 1, 7, 65, „kleine Leute, welche alltags keine Toga tragen, sondern in ihrer Bluse ihrem Tagewerk nachgehen“ (Kießling, Heinze 1914, S. 79). 4 Xerxes: Persischer Großkönig (486–465), der 480 bei Salamis von den Griechen besiegt wurde. 5 Choaspes: Fluß in Persien, bekannt wegen seines reinen Wassers. Herodot berichtet 1, 188, daß der persische Großkönig nur aus diesem Fluß trinke und es in abgekochtem Zustand sogar auf Feldzügen mit sich führe. 6 septemplex clypeus: ἑπταβόειον σάκος (aus sieben übereinander gelegten Rinderhäuten gefertigt). Aias trug einen solchen Schild (Il. 7, 220 / 222).
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ÜBER DAS ELEND DER GELEHRTEN [377] So ist es im allgemeinen, ihr Zuhörer, mit den Dingen der Sterblichen bestellt, die leicht erworben werden können und nicht den Schutz einer Fertigkeit, durch die sie erhalten werden, erfordern: Sie werden geringgeschätzt, und es fehlt wenig, daß sie für nutzlos erachtet werden. Nach dem Zeugnis des Fürsten der Lyriker bei den Griechen ist nichts besser als das Wasser,1 obwohl es im Velabrum und auf der Via Sacra2 als wertlos gilt, weil es in nächster Nähe oder aus einem vorbeifließenden Gewässer oder einer Quelle selbst von den einfachen Bürgern3 geschöpft werden kann. Dasselbe wurde jedoch von Xerxes,4 als er bei der Unterwerfung Griechenlands belagert wurde, als ein Schatz angesehen, weil er fern vom Choaspes5 weilte, aus dem er zu trinken gewohnt war. Natürlich mißt die Schwierigkeit des Beschaffens und Bewahrens den Dingen den Preis zu. Man sagt, daß die Palme, wenn sie von größeren Lasten beschwert wird, sich höher erhebt; ebenso werden vorzügliche Geistesgaben, wenn sie in viele Bedrängnisse und Beschwernisse geraten, angespornt und im erhabensten Licht der Mühen – nicht anders als die Farben, die in der Dämmerung tot erscheinen – gekräftigt und belebt. Den Gipfel der Gelehrsamkeit nähmen Troßknechte ein, wenn er nicht eine mit einem siebenfältigen Schild6 bewehrte Energie erforderte. Weil wenige mit ihr begabt sind, geht es meistens dieser goldenen Sonne7 schlecht. Der Gelehrte fordert für sich nicht nur mit dem homerischen Achilleus8 einen größeren zugemessenen Teil der Anstrengung – unter Außerachtlassung des Reichtums –, sondern ist darüber hinaus bereit, [378] unzählige Beschwernisse auf sich zu nehmen, die ich, obwohl es schwierig ist, sie an den Fingern aufzurufen,9 doch teilweise aufzuzählen versuchen werde, damit von dem Kreis der Gelehrten10 für die Folgezeit unzulängliche und des Joches unwillige Begabungen ferngehalten werden. Bei alledem achtet alle, die ihr nicht für gelehrt gehalten werden, sondern gelehrt sein wollt,
7 sol aureus: sol metonym. für die eruditio, wie sol alter für Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (Cic. De nat. deor. 2, 14) oder sol Asiae für Brutus (Hor. Sat. 1, 7, 24); aureus metonym. wie Hor. Carm. 2, 10, 5 aurea mediocritas; ► p. 396 duo illi Socraticæ amœnitatis soles Plato atque Xenophon. ► ferner p. 406 und 445. 8 Anspielung auf Homer, Ilias 1, 165–166: ἀλλὰ τὸ μὲν πλεῖον πολυάικος πολέμοιο | χεῖρες ἐμαὶ διέπουσ᾿. 9 Gemeint: weil es so viele sind. 10 subsellia sind die Bänke der zu Gericht Sitzenden, übertragen die Gerichte (Cicero); dazu ist eruditorum subsellia parallel gebildet, etwa Kreis der Gelehrten (wie p. 409, 438, 465), ebenso literarum subsellia (p. 433).
90 B. Original und Übersetzung animo favete: recreare quidem vos non potest, malorum quæ subitis commemoratio; solatio tamen erit sociorum, quos in calamitatibus habetis, frequentia: quos ut citra confusionem in theatrum producere queam, secundum certas malorum classes consideratum ibo.
[animo laborare]
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Initium vero facio à publico contemptu. Experiuntur eum Philosophi, Rhetores, Poëtæ, Medici, Iurisconsulti, Theologi. Emergente vixdum Philosophia, publice adeo male audiverunt Philosophi, ut, quo securi forent à lapidibus, studiose nomen suum occultare debuerint, quibusdam poësin, alijs sacrorum atque oraculorum appellationem obtendentibus. Iccus Tarentinus, & Selybrianus Herodicus cum Phi- 10 losophi ad unguem facti essent, artem suam Gymnasticam appellarunt. Pythodes Chius sub Musicæ artis velamine Philosophicam facultatem occultavit. Idem fecit Damon vir unus de summis, quique magno illi Pericli ad politiorem humanitatem dux fuit. Vlterius subsequentibus seculis progressum fuit, quibus Philosophis non solum sordidissima quæque convitia in trivijs dicta, sed illi ipsi quoque velut 15 hominum purgamenta, civium circulis submoti fuerunt. Sopho[379]cles Anticladæ filius legem apud Athenienses tulerat, nequis Philosophorum scholis præesset; nisi id Senatus ac plebs decrevissent, qui secus faceret, capitale esset. Philo Aristotelis familiaris, concinna oratione eum traducere quidem laboravit, patronum tamen invenit Democharem. Romæ multis annis ante principum tempora Senatusconsul- 20
1 1649 quamquam vos recreare. 1649 Corr. recreare quidem vos. 1650 Korrektur nicht ausgeführt.
11 Aufnahme einer berühmten Wendung aus Horaz: favete linguis (Carm. 3, 1, 2). Horaz fordert feierlich andächtiges Schweigen, Schoock Vermeiden unqualifizierten Redens. 12 Dieser Passus ist direkt oder indirekt von Cresolles 1620 übernommen, ► S. 79. 13 Die folgenden Namen meinen Ikkos von Tarent, Herodikos von Selymbria, Pythokleides von Keos, über die Platon im Protagoras 316 d / e berichtet, sie hätten teils (die ersten beiden) die Gymnastik, teils die Musik (der letzte) zum Vorwand genommen, sich nicht offen zur sophistischen Kunst zu bekennen. 14 ad unguem: nach dem griechischen εἰς ὄνυχα, ‚bis auf die Nagelprobe‘ (der Steinmetzen, die mit dem Fingernagel die Glätte des behauenen Steins prüften), übertr. bei Hor. Sat. 1, 5, 32–33 ad unguem | factus homo (Wieland: „ein Mann, so abgeschliffen wie ein Bild, woran der Nagel selbst nichts mehr zu glätten findet“). Das Bild von Schoock bevorzugt: p. 399, 414, 422, 430, 438, 440, 455, wohl ebenfalls p. 457, ► auch Lefèvre 2021, S. 143 Anm. 236. 15 Pythodes Chius: Es ist der von Platon genannte pythagoreische Musiker Pythokleides aus Keos gemeint (► Andreas Bagordo. In: HGL 1 (2011), S. 249 Anm. 227), der Lehrer des unmittelbar folgenden Damon.
B. Original und Übersetzung 91
auf eure Zunge11 und eure Handlungsweise. Die Vergegenwärtigung der schlimmen Dinge, die ihr auf euch nehmt, kann euch freilich nicht erquicken; doch wird euch die Menge der Genossen trösten, die ihr in den Unannehmlichkeiten habt. Damit ich diese ohne Vermengung den Schauplatz betreten lassen kann, werde ich sie nach bestimmten Klassen der Übel betrachten.
[Seelische Leiden] Den Anfang mache ich vornehmlich von der öffentlichen Verachtung. Sie erfahren Philosophen, Redner, Dichter, Ärzte, Rechtsgelehrte, Theologen. Als die Philosophie kaum in Erscheinung trat, standen die Philosophen öffentlich in einem so schlechten Ruf, daß sie, damit sie vor Stein(igung)en sicher wären, geflissentlich ihre (Berufs)namen verbergen mußten, wobei die einen die Dichtkunst, andere das Anrufen heiliger Bräuche und Göttersprüche vorschützten.12 Als Ikkos von Tarent13 und Herodikos von Selymbria vollkommene (vollausgebildete)14 Philosophen geworden waren, nannten sie ihre Profession Gymnastik. Pythodes aus Chios15 verbarg die philosophische Befähigung unter dem Schleier der Musik. Dasselbe machte Damon,16 einer der bedeutendsten Männer, der jenem großen Perikles Führer zu einer gebildeteren Humanität war. In den folgenden Jahrhunderten wurde weiter fortgeschritten, in denen den Philosophen nicht nur auf den Straßen schmutzigste Schimpfwörter gesagt, sondern diese auch selbst wie Auswurf der Menschen von den Kreisen der Bürger ferngehalten wurden. Sophokles, [379] der Sohn des Antiklades,17 hatte bei den Athenern ein Gesetz eingebracht, daß Schulen keiner der Philosophen vorstehe, wenn es nicht der Rat der Ältesten18 und das Volk beschlossen hätten – wer anders handele, daß das ein Kapitalverbrechen sei. Philon,19 der Vertraute des Aristoteles, bemühte sich zwar, ihn (Sophokles) in einer wohlgefügten Rede zu verspotten, doch fand er als Patron Demochares.20 In Rom
16 Damon: Sophist des fünften Jahrhunderts, der Perikles’ Ratgeber und Lehrer in der Musik gewesen sein soll. Er wird auch Surd. enc. p. 607 angeführt (► Lefèvre 2021, S. 96). 17 Sophocles: ► im folgenden zu Philon. 18 Senatus = γερουσία. 19 Philo: Philon aus Athen, Schüler des Aristoteles, klagte erfolgreich gegen den Politiker Sophokles von Sunion, den Sohn des Amphikleides (sic), der ein Gesetz durchgebracht hatte, das die Gründung einer Philosophenschule ohne offizielle Genehmigung bei Todesstrafe verbot (Diog. Laert. 5, 38). 20 Demochares: Griechischer Redner und Historiker, Neffe des Demosthenes (ca. 350–271), schrieb Historiai über die Zeit von 322–288, „griff die Philosophenschulen an“ (Hans Volkmann. In: DKP 1 (1975), Sp. 1473).
92 B. Original und Übersetzung to Philosophi omnes urbe prohibiti fuerunt. Mucianus Vespasiano persuasit, ut omnes, qui essent ex familia Stoicorum, Roma expelleret. Itaque statim Philosophos omnes, præter Musonium, urbe ejecit; Demetrium vero & Hostilium in insulas projecit. Patri æmulus calvus Nero, (Domitianum innuo) Philosophos, Mathematicosque omnes Italia exterminavit. Ne quis vero existimet purpuratos solum, Philosophis infestos fuisse, eosque execratos, quod Scholæ infucata sapientia cum Palatij artibus misceri non posset: ipse populus capita eorum devovere, studioque quod profitebantur, dira quæque dicere solet. Illud constat, Philosophiæ & omnium ingenuarum artium sacratissimum domicilium Athenas fuisse; semper tamen invisi fuerunt Athenis Philosophi, atque adeo ipsa Philosophia, etiam tum, quum maxime in illa civitate studium illud floreret. Idem dicere licet de Romanis, inter quos quotquot Philosophiam profitebantur, in cœtu hominum superciliosi, in convivio morosi & tristes, in concione inepti, in consilio importuni cavillatores, vulgo habeban[380]tur. Nequis in posterum miretur Agrippinam Augustam, Neronem filium à Philosophiæ studio sevocasse, quod eam astrueret imperantibus inutilem? Absolvitur ergo à magna criminis parte Antiochia felix quandoque civitas, quam prodiderunt probrosis vocibus Iulianum principem proscindere consuevisse, quod nomen inter Philosophos profiteretur, eorumque more barbam promitteret. Nec illud excidit, Saracenum quendam tyrannum, ingenio vesano barbaroque furore percitum, omnia volumina, quæ Philosophiam continerent, cremare adortum, ni Algazales, cujus inter eruditos illustre nomen est, pio commento, ab
21 Schoock bezieht sich auf die Nachricht bei Gellius Noct. Att. 15, 11, 1 über das senatus consultum de philosophis et rhetoribus von 161 v. Chr. 22 Mucianus: Gaius Licinius Mucianus, römischer Feldherr und Politiker (70 und 72 Suffektkonsul). Die Philosophenvertreibung erfolgte 71 / 72. Von ihr waren die kynischen Philosophen Demetrius und Hostilius betroffen (Dio Cass. 66, 13). 23 Musonius: Gaius Musonius Rufus aus Volsinii, stoischer Philosoph (ca. 30–100), von der Philosophenausweisung 71 / 72 nicht tangiert (Dio Cass. 66, 13). 24 Domitians Kahlköpfigkeit: ► Suet. Dom. 18. 25 ► Suet. Dom. 10, 3; Gell. 15, 11, 4. Die Vertreibung fand im Jahr 93 statt. 26 cavillatores: ► Plaut. Mil. 642 cavillator facetus. 27 Agrippina: Iulia Agrippina minor (15–59, seit 50 Augusta), Mutter Neros (37–68, seit 54 Kaiser). Schoock bezieht sich auf Suet. Nero 52: a philosophia eum mater avertit monens imperaturo contrariam esse. 28 Iulianus princeps: Julian Apostata (331 / 332–363, seit 361 römischer Kaiser). Über seine Abwendung vom Christentum und Hinwendung „zu den mystischen Riten des neuplatonischen Okkultismus und Mysterienwesens, wo der Gläubige in einer erregenden Atmosphäre des Geheimnisvollen und Wunderbaren in innige Berührung mit den Göttern und überhaupt dem Göttlichen trat“, ► Heuß 1960, S. 468. Da die Einwohner von Antiochia den Kaiser wegen seines Philosophenbartes verspotteten, verfaßte er 363 gegen sie die Satire Misopogon, in der er sich selbst als ‚Barthasser‘ darstellte.
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wurden viele Jahre vor den Zeiten der Kaiser aufgrund eines Senatsbeschlusses allen Philosophen der Aufenthalt in der Stadt untersagt.21 Mucian22 überredete Vespasian, daß er alle, die aus der Schule der Stoiker seien, aus Rom vertreibe. Daher warf er sofort alle Philosophen außer Musonius23 aus der Stadt; Demetrius aber und Hostilius verbannte er auf Inseln. Der dem Vater nacheifernde glatzköpfige Nero (ich meine Domitian)24 verjagte alle Philosophen25 und Astrologen aus Italien. Damit aber nicht jemand meint, daß den Philosophen nur Hofleute feindlich gewesen seien und sie verflucht hätten, weil die ungeschminkte Weisheit der Schule nicht mit den Tugenden und Untugenden des Palastes in Übereinstimmung gebracht werden konnte: Sogar das Volk pflegte ihre Häupter zu verfluchen und ihren Beruf, den sie ausübten, zu verwünschen. Das steht fest, daß Athen der ehrwürdigste Wohnsitz der Philosophie und aller Freien Künste gewesen ist; immer waren jedoch die Philosophen den Athenern verhaßt und in eben dem Grad selbst die Philosophie – sogar dann, als dieses Studium in diesem Staat am meisten blühte. Dasselbe läßt sich von den Römern sagen, unter denen allgemein alle, die Philosophie lehrten, in einer Zusammenkunft von Menschen als anmaßend, bei einem Gastmahl als mürrisch und finster, in einer Volksversammlung als töricht, in einem Rat als barsche Stichler26 galten. [380] Kann man sich für die fernere Zeit darüber wundern, daß Agrippina Augusta27 den Sohn Nero vom Studium der Philosophie abberufen hat, weil sie behauptete, daß diese für Herrschende unnütz sei? Freigesprochen wird also von einem großen Teil der Anklage die einst glückliche Stadt Antiochia, die, wie man überliefert, mit vorwurfsvollen Worten Kaiser Julian28 zu lästern pflegte, weil er sich zu den Philosophen bekenne und nach deren Sitte den Bart lang wachsen lasse. Auch das ist nicht vergessen, daß ein Alleinherrscher der Sarazenen, vom wahnsinnigen barbarischen Wüten getrieben, alle Bücher, die Philosophie enthielten, zu verbrennen in Angriff genommen hätte, wenn ihn nicht Algazales,29 dessen Name unter Gebildeten leuchtend ist, mit einer frommen Lüge von dem unsäglichen Beginnen abgehalten hätte. Als dieselben Rasereien Hortensius30 befallen hatten, unternahm er es, die Philosophie zu
29 Algazales: Al Ghassali, persischer islamischer Theologe und Philosoph (1055 / 1056–1111), befaßte sich eingehend mit griechischer Philosophie. 1109 verbrannten Almoraviden in Córdoba seine Bücher. Mit dem Saracenum tyrannus ist der islamische Berber Abu Abdallah Muhammad Ibn Tumart (ca. 1077–1130) gemeint, der Begründer des Almohadenreiches. 30 Hortensius: Quintus Hortensius Hortalus, römischer Politiker (114–50, Konsul 69), neben Cicero der bedeutendste Redner der republikanischen Zeit, von hervorragendem Gedächtnis (Cic. De orat. 3, 230 rühmt seine memoria singularis, ► auch p. 453). In der Frühzeit plädierte er öfter gegen Cicero (► p. 396), doch blieb trotz der Aussöhnung ihr Verhältnis gespannt. Daß Hortensius die Philosophie getadelt habe, berichtet Cicero De fin. 1, 2 (philosophia […] vituperata ab Hortensio).
94 B. Original und Übersetzung infando incepto avertisset. Eædem Furiæ cum subegissent Hortensium, Philosophiam vituperare aggressus est; tantumque tribuit stolido odio orator alias ter maximus Dion Prusæus, ut ex Amaltheæ illo cornu, quod ei ob raram in dicendo ubertatem Philostratus tribuit, quascunque in Philosophos contumelias deprompserit: ut taceam Sillorum opus ruta sine ullo pulegio conspersum, quod Timoni ex 5 Pyrrhonis familia homini Philosophantium irrisio extorsit. Sed rideant antiqui, & eorum exemplo novitij sanniones; (quos dum silentio prætereo, severissime punire videor) sapientia humana, quæ Philosophia dicitur, post divinam præcellet omnia, sicut in sensibus visus, in anima mens, in sideribus sol, manebitque perpetuo oculus atque animus naturæ universæ. Venio ad Oratorum & [381] Rhetorum 10 tribum. Eos non potuisse non publice jam olim invisos fuisse, quivis concedet, si cogitaverit ab ipso Platone in Gorgia sub persona Socratis traduci, artemque oratoriam omni tempore suspectam fuisse ut callidam, ijs ipsis, qui eam visi fuerunt laudare. Quod cum gnarum esset Isocrati viro prudenti, abstinuit à concionibus, non quod voce destitueretur, (quanquam hoc prætexuit) sed invidiæ metu, quæ ut 15 horridus quis Boreas ijs maxime adversabatur, qui reliquis cultius dicebant. Cui opinioni cum accederent Athenienses, aliquando ex Attica edicto Oratores, tanquam planos & magos, proscripserunt, ut scribit Carystius in Historicis Commentariis: quod statutum tantopere placuit Alexidi Comico, ut ejus authoribus omnia
31 Dion Prusæus: Dion Chrysostomos aus Prusa in Bithynien, griechischer Rhetor (ca. 40 bis nach 111), lange in Rom tätig, verfaßte eine (nicht erhaltene) Rede gegen die Philosophen: Κατὰ τῶν φιλοσόφων (► Synesios, Dion Chrysostomos 1, 9). 32 Jupiter wurde als Kleinkind auf Kreta mit der Milch der Ziege Amalthea genährt, die zum Dank dafür unter die Sterne versetzt wurde (Sinnbild des Überflusses). 33 Philostratus: Philostratos aus Athen, griechischer Sophist und Rhetor (ca. 170 bis vor 249), auch in Rom tätig. In den Bioi sophiston (2 B.) werden die Sophisten seit etwa 100 n. Chr. bis auf seine Zeit behandelt. Der Ausspruch über Dion: Bioi sophist. 1, 13. 34 Exquisite Anspielung: ruta = ‚Raute‘, ein bitteres Kraut; puleium / pulegium = ‚Flohkraut‘, eine wohlriechende Pflanze. Hier bildlich nach Cic. Ad Fam. 16, 23, 2: ad cuius rutam puleio mihi tui sermonis utendum est (OLD: ‘of an antidote to something unpleasant’). Schoock umschreibt den kritischen Ton. 35 Timon: Griechischer Dichter und Philosoph (Lebenszeit zwischen 320 und 225), Schüler des Begründers des Skeptizismus Pyrrhon von Elis (ca. 360–271), verlachte in den Silloi (‚Spottgedichten‘) ältere und neuere Philosophen, wie Diog. Laert. 9, 111 berichtet. 36 oculus: übertragen für etwas Vorzügliches wie Cic. De nat. deor. 3, 81 für die beiden vorzüglichen Städte Korinth und Karthago (► Georges), ebenso p. 460. ► auch zu ocellus p. 451 u. 476. 37 tribus: Bezirk, Gau, hier übertragen wie Hor. Epist. 1, 19, 40 grammaticas ambire tribus. Kirschius 1774, Sp. 2877: ‚Zunft‘.
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tadeln; und soviel gestand der übrigens hochberühmte Redner Dion von Prusa31 dem törichten Haß zu, daß er aus jenem Horn der Amalthea,32 das ihm wegen seiner seltenen Fülle im Reden Philostrat33 zugesprochen hat, alle möglichen Schmähungen gegen die Philosophen hervorholte – damit ich von dem Werk ‚Silloi‘, das von der (bitteren) Raute ohne jedes (wohlriechende) Flohkraut benetzt ist,34 schweige, das dem Timon, einem Menschen aus der Sekte des Pyrrhon, der Spott über die, welche der Philosophie obliegen, entwunden hat.35 Aber mögen die antiken und nach ihrem Beispiel die neuzeitlichen Spötter lachen (indem ich sie mit Schweigen übergehe, beliebt es mir, sie sehr hart zu strafen): Die menschliche Weisheit, die Philosophie genannt wird, überragt nach der göttlichen Weisheit alles – so wie unter den Sinnen der Gesichtssinn, im Lebensprinzip der Verstand, unter den Gestirnen die Sonne – und wird immer das Auge36 und der Antrieb der ganzen Natur sein. Ich komme zu der Zunft37 der Redner und [381] Rhetoren.38 Daß diese schon vor Zeiten allgemein verhaßt sein mußten, wird jeder zugeben, wenn er bedenken wird, daß sie in Platons Gorgias39 unter der Person des Sokrates verspottet werden und daß die Redekunst zu jeder Zeit als berechnend verdächtigt gewesen ist – sogar von denen, die sie zu loben schienen. Da das Isokrates,40 dem klugen Mann, bekannt war, hielt er sich von öffentlichen Reden fern – nicht weil er von seiner Stimme im Stich gelassen würde (obwohl er das vorschob), sondern aus Furcht vor der Mißgunst, die wie der schreckliche Boreas am meisten denen entgegenzuwirken pflegte, die gebildeter als die anderen sprachen. Als die Athener dieser Ansicht beitraten, verbannten sie einst durch ein Edikt die Redner aus Attika gleichwie Gaukler und Magier, wie Karystios41 in seinen Historischen Kommentaren schreibt; dieses Edikt gefiel dem Komödiendichter Alexis42 so sehr, daß er für seine Urheber von den Göttern alles Gute erflehte. Dasselbe Empfinden
38 Der folgende Katalog von Stellungnahmen gegen die Rhetorik könnte auf Sextus Empiricus zurückgehen: ► S. 77. 39 Plato: Platon, neben Aristoteles bedeutendster griechischer Philosoph (428 / 427–348 / 347), Begründer der Akademie. Der Dialog Gorgias behandelt in Auseinandersetzung mit den Sophisten die Rhetorik, die von Sokrates kritisch betrachtet wird. 40 Isocrates: Isokrates, griechischer Politiker und Redner (436–338); erhalten Schul-, Gerichtsund politische Reden. Über die Gründe seiner Abneigung gegen öffentliche Reden – u. a. über seine schwache Stimme – berichtet er selbst im Panathenaikos. 41 Carystius: Karystios, Polygraph aus Pergamon (2. Jahrhundert v. Chr.). Hier sind die (verlorenen) Ἱστορικὰ ὑπομνήματα (‚Historische Untersuchungen‘) gemeint. Diese Nachricht und die sich anschließende über Alexis (samt dessen Fragment) sind bei Athenaios Deipnosoph. 13, 610e überliefert. 42 Alexis: Der bedeutendste Dichter der Mittleren Komödie (4. Jahrhundert). Es geht um das Fr. 99 K.-A., in dem Demetrios Poliorketes dafür gelobt wird, daß er diejenigen, die die Redekunst an die jungen Leute weitergeben, aus Athen vertrieben habe.
96 B. Original und Übersetzung bona à Dijs precatus fuerit. Idem sensus fuit Cretensium, apud quos legumlator clarissimus Thales aditu insulæ prohibuit eos, qui in dicendo se jactabant. Aditu quoque Laconiæ, si non fallit Plutarchus, Sirenes hæ prohibitæ fuerunt; ferre quoque eas ob ambitionem, rixas, & importunas cavillationes noluerunt Lacedæmonij; qui & Cephisophontem, professum de quavis re per diem integrum se posse dicere, urbe ejecerunt, addentes con risu; Boni oratoris esse orationem rebus æqualem habere. Qui ferreas has leges condiderunt, extra Barbariæ fines dominati sunt: ut extra censuram per omnia Musulmanni sint, quod ex omnibus liberalibus artibus solam Rhetoricam aversentur. Ipse Ari[382]stoteles, at quantus vir! totum Rhetoricæ facultatis artificium, in bene morata civitate supervacaneum esse judicat, tantumque ob auditoris perversitatem inventum: quod cum statuerent quoque Romani, non inculti illi & inelegantes, ut persuasum vellet M. Cicero, aliquando edictum severum condiderunt, quod repræsentatum hic ibo, quo solatium inveniant, qui ringuntur, quod per Pitho Curules non queant conscendere: Ita ergo Domitius Ænobarbus & L. Licinius Crassus edixerunt: Renunciatum est nobis esse homines, qui novum genus disciplinæ instituerunt, ad quos juventus in ludos conveniat: eos sibi nomen imposuisse Latinos Rhetoras. Ibi homines adolescentulos totos dies desidere. Majores nostri, quæ liberos suos discere, & quos in ludos itare vellent, instituerunt. Hæc nova, quæ præter consuetudinem ac morem majorum sunt, neque placent, neque recta videntur. Quapropter & ijs, qui eos ludos habent, & ijs, qui eo ve-
18 1649 / 1650 qui. Lef. quæ.
43 Thales: Thaletas (auch die Namensform Thales überliefert) aus Gortyn oder Knossos auf Kreta (7. Jahrhundert), Chorlyriker, wirkte als legumlator (selten für legislator) in Kreta (und in Sparta): ► Plut. Lykurg-Vita 4. Seine Verbannung der Redner aus Kreta und ihre Überheblichkeit wörtlich bei Sextus Empiricus, Πρὸς μαθηματικούς 2, 20: εἴρξας ἐπιβαίνειν τῆς νήσου τοὺς ἐν λόγοις ἀλαζονευσαμένους, der fortfährt, daß der Spartaner Lykurg ihm nachgeeifert habe (ὁ δὲ Σπαρτιάτης Λυκοῦργος ὡς ἂν ζηλωτὴς Θάλητος τοῦ Κρητὸς γενόμενος). Was Plutarch betrifft, dürfte Schoock die Lykurg-Vita 9 im Auge haben, wo es heißt, Lykurgos habe verfügt, daß kein σοφιστὴς λόγων Sparta betreten dürfe (Hinweis von Heinz Gerd Ingenkamp). Die im folgenden erzählte Geschichte von Kephisophon berichtet Plutarch, Instituta Laconica 39 (239 C). 44 Laconia / Lacedæmonij: Sparta / Spartaner. 45 In übertragenem Sinn wird Sirenes (die Sirenen verlockten mit verführerischem Gesang an der Südküste Italiens die an ihrem Felsen vorbeifahrenden Seeleute) für verführende Verlockungen gebraucht, wie Hor. Sat. 2, 3, 14–15 vitanda est inproba Siren | desidia. 46 Eine Umfrage bei Islamwissenschaftlern führte nicht zu einer Klärung des Sachverhalts. Vielleicht beruht die Ansicht auf Eindrücken von Spanien-Reisenden, welche die angestrengten (auf Lautstärke im Freien zielenden) Rufe der Muezzins mit der geschulten rhetorischen Praxis der Priester in den christlichen Kirchen verglichen. 47 Aristoteles: Griechischer Philosoph aus Stageira / Chalkidike (384–322), begründete 335 den Peripatos, von überragendem Einfluß. Schoock gibt hier einen Gedanken wieder, den Aristoteles
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hatten die Kreter, bei denen der hochberühmte Gesetzesschaffer Thales43 diejenigen vom Betreten der Insel fernhielt, die sich des (kunstmäßigen) Redens rühmten. Auch am Betreten Lakoniens44 waren, wenn Plutarch nicht irreführt, diese Sirenen45 gehindert; auch wollten sie die Lakedämonier wegen ihres Anspruchs, ihrer Streit- und unverschämten Spottreden nicht ertragen – die auch den Kephisophon, der öffentlich verkündet hatte, er könne über jede beliebige Angelegenheit einen ganzen Tag lang reden, aus der Stadt warfen, indem sie mit Lachen hinzufügten, ‚es sei Sache eines guten Redners, eine Rede passend zu den Angelegenheiten zu halten‘. Diejenigen, die diese eisernen Gesetze abgefaßt haben, herrschten außerhalb der Grenzen des Barbarenlandes – so daß außerhalb einer Rüge in allem wohl die Muselmänner sind, weil sie von allen Freien Künsten allein die Rhetorik nicht anerkennen.46 Selbst [382] Aristoteles47 – allein was für ein bedeutender Mann!48 – urteilt, daß die ganze Kunstfertigkeit des rednerischen Könnens in einem wohleingerichteten Staat überflüssig und nur wegen der Verkehrtheit des Zuhörers erfunden sei. Als das auch die Römer feststellten, nicht ungebildete und geschmacklose,49 wie Marcus Cicero50 überzeugt war,51 erließen sie einst ein strenges Edikt, das ich hier vorstellen will, damit diejenigen einen Trost finden, die grollen, daß sie wegen ihrer Rednergabe die Amtssessel nicht besteigen können: So also verordneten Domitius Ahenobarbus und L. Licinius Crassus:52 ‚Es wurde uns gemeldet, daß es Männer gibt, die eine neue Art des Unterrichts begonnen haben, zu denen die Jugend in die Schule komme; diese hätten sich den Namen „Lateinische Rhetoren“ zugelegt. Dort säßen die jungen Menschen die ganzen Tage müßig herum. Unsere Vorfahren haben festgesetzt, was ihre Kinder lernen und in welche Schulen sie gehen sollen. Diese neuen Dinge, die gegen die Gewohnheit und die Sitte der Vorfahren sind, billigen wir nicht, noch scheinen sie richtig zu sein. Deswegen haben wir (so) zu verfahren beschlossen, daß wir sowohl denen, die diese Schulen besitzen, als auch denen, die dorthin zu am Beginn der Rhetorik entwickelt, daß nämlich Begleitumstände der Rhetorik wie Verleumdung, Mitleid, Zorn besonders in wohlgeordneten Staaten nichts zu sagen haben (1354a 16–21). 48 ► auch p. 389 (über Quintilian). 49 ille ist hier „mehr oder weniger pleonastisch“ (Kühner, Stegmann 1962. § 118 Anm. 11. 50 Marcus Tullius Cicero (106–43), konservativer römischer Politiker, Redner und Autor von größter Bedeutung. 51 Cicero läßt De orat. 3, 93–95 Crassus selbst sein Einschreiten gegen das im folgenden genannte Edikt begründen (► auch Tac. Dial. 35, 1). 52 Gnaeus Domitius Ahenobarbus (Konsul 96) war 92 Zensor zusammen mit Lucius Licinius Crassus (Konsul 95); sie erließen das berühmte Edikt gegen den Rhetorikunterricht in lateinischer Sprache. Der Text ist bei Suet. De gramm. 25, 2 und Gell. Noct. 15, 11, 2 identisch; Schoock wird, wie öfter, nach Sueton zitieren. Neben geringfügigen Abweichungen in Tempus, Pronomengebrauch und Orthographie ist nur wichtig, daß Sueton und Gellius Majores nostri quae (statt qui) bieten, was zweifellos richtig ist.
98 B. Original und Übersetzung nire consueverunt, videtur faciendum, ut ostendamus nostram sententiam nobis non placere. Succedunt poëtæ: qui vulgo tam male audiunt, ut ad convitium sufficiat, quem poëtam nominasse: cumque Plato in reip. suæ commento ijs locum non fecerit, Aborigenes & errones vulgo habentur, palponesque censentur Æschylus ac Simonides, quod Syracusas ad Hieronem profecti fuerint, itemque Euripides, quod in 5 Macedoniam abierit. Non dicam de ebrietate, alijsque vitijs quæ præter rationem illis objiciuntur; hoc super omnem patientiam, quod furere credantur, [383] ipseque Academiæ princeps poësin quandam insaniam esse pronunciet. Quid voveamus ergo vatum generi: fidos medicos an tutos carceres? Contingant ea potius calumniatoribus, meique poëtæ identidem cogitent primum inter Democriti placita 10 olim fuisse; Citra furorem non fieri magnum virum. Haut clementius cum ipsis Medicis egit Plato, quem non dubitant quidam Philosophorum Homerum, aut potius Deum quem salutare. permittit illis mendacia, ut ijs impune sanos circumveniant ac perdant. Platoni utroque pollice Censorius Cato favit: quare & filium suum monuit omnes Medicos per omnem vitam diligenter declinaret, valetudi- 15 nemque suam non committeret ijs, qui postquam famam novitate aliqua aucupati sunt, animas humanas cauponantur. Catonis præcepti memores fuerunt Romani, & ad Plinij usque ætatem sic à medicina abhorruerunt, ut in toto orbe non potuerit inveniri Medicus, idemque civis Romanus. Ferendum vero esset, si ex fæce Romuli
16 1649 aucupati. 1650 ancupati.
53 Aeschylus: Aischylos, erster der bedeutenden griechischen Tragiker (525 / 524–456 / 455), sechs Stücke und der in der Echtheit umstrittene Prometheus Desmotes erhalten. 54 Simonides: Simonides aus Keos, griechischer Chorlyriker (Lebenszeit zwischen 556 und 463), ging 476 auf Einladung Hierons nach Sizilien, wo er starb. ► auch p. 395, 453, 488. 55 Die Aborigines galten als (unkultivierte) Ureinwohner Latiums. 56 palpo: ► Pers. 5, 176. 57 Hiero: Hieron aus Gelas, Tyrann von Syrakus († 466 / 465); an seinem Hof weilten Simonides, Pindar, Bakchylides, Aischylos, Epicharm. 58 Euripides: Dritter und letzter der bedeutenden griechischen Tragiker (480–406), 17 Tragödien und 1 Satyrspiel erhalten, verbrachte die letzten Lebensjahre am Hof des Archelaos in Pella (Makedonien). 59 Von Platon wird öfter gesagt, die Dichtkunst sei eine Art Wahnsinn (μανία), z. B. Phaidr. 245a. 60 Democritus: Demokrit von Abdera, griechischer Philosoph, Hauptvertreter der Atomistik (ca. 460 / 459–ca. 389). 61 Da Schoock Platon und Demokrit zusammen zitiert, dürfte Cicero seine Quelle gewesen sein. De div. 1, 80 heißt es: negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato. Ähnlich De orat. 2, 194: saepe enim audivi poetam bonum neminem (id quod a
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gehen gewohnt sind, unser Urteil kundtun, daß wir das nicht billigen.‘ Es folgen die Dichter: Sie haben einen so schlechten Ruf, daß es für Streit genügt, jemanden Dichter genannt zu haben; und da ihnen Platon in der Schrift über seinen Staat keinen Platz eingeräumt hat, werden Aischylos53 und Simonides54 insgemein für Aborigines55 und Landstreicher gehalten und als Schmeichler56 gewertet, weil sie nach Syrakus zu Hieron57 gegangen sind, und ebenso Euripides,58 weil er nach Makedonien fortgezogen ist. Nicht werde ich über die Trunkenheit sprechen und andere Laster, die ihnen (den Dichtern) gegen die Vernunft vorgeworfen werden; das geht (aber) über alle Geduld hinaus, daß man glaubt, daß sie rasen / verrückt sind, [383] und selbst das Haupt der Akademie verkündet, die Dichtkunst sei eine Art Wahnsinn.59 Was wollen wir also dem Geschlecht der Dichter anwünschen – zuverlässige Ärzte oder sichere Kerker? Mögen diese Dinge lieber den Verleumdern zuteil werden und meine Dichter immer wieder im Sinn haben, daß es einst der erste unter Demokrits60 Lehrsätzen gewesen ist, ‚daß es ohne Wahnsinn keinen großen Mann gibt‘.61 Nicht milder verfuhr mit den Ärzten Platon,62 den als Homer oder vielmehr Gott der Philosophen zu begrüßen einige keine Bedenken tragen. Er gestattete diesen Lügen, damit sie mit ihnen ungestraft Gesunde umgarnen und verderben.63 Cato Censorius64 unterstützte Platon mit beiden Daumen,65 weshalb er auch seinen Sohn ermahnte, daß er alle Ärzte durch das ganze Leben hindurch gründlich meide und seine Gesundheit nicht denen anvertraue, die, nachdem sie durch irgendeine Neuheit66 einen Ruf aufzuschnappen gesucht haben, um Menschenleben schachern. Der Vorschrift Catos waren die Römer eingedenk und schreckten bis zu Plinius’ Zeit vor der Medizin so zurück, daß auf dem ganzen Erdkreis kein Arzt gefunden werden konnte, der zugleich römischer Bürger war. Es wäre in der Tat hinzunehmen gewesen, wenn jemand aus der Hefe des
Democrito et Platone in scriptis relictum esse dicunt) sine inflammatione animorum exsistere posse et sine quodam adflatu quasi furoris. Schoock dürfte aus dem Kopf zitieren, da er Ciceros (für seine Argumentation besser passendes!) poetam durch virum ersetzt. 62 Platon: ► p. 381. 63 Das ist aus Platons Schriften nicht zu belegen. Der ganze folgende Passus mit den negativen Stellungnahmen über die Ärzte geht (vielleicht indirekt) auf Montaigne zurück: ► S. 78. Über Platon heißt es dort: «Platon disoit bien à propos qu’il n’apartenoit qu’aux medecins de m e n t i r e n t o u t e l i b e r t é , puis que nostre salut despend de la vanité et fauceté de leurs promesses» (Sperrung original). 64 Marcus Porcius Cato: Römischer Feldherr, Politiker und Schriftsteller, bes. Historiker (234– 149), für konservative stoische Rigorosität bekannt (► p. 443). Zu seiner Skepsis gegenüber den Ärzten und den entsprechenden Ermahnungen seines Sohnes ► Plut. Cato-Vita 23, 3–4. 65 Sprichwörtlich ist pollicem / pollices premere (Plin. Nat. 28, 25: proverbium), ► Otto 1890, S. 283; utroque pollice: Hor. Epist. 1, 18, 66. 66 Der Terminus novitas könnte negativ besetzt sein wie bei der gesuchten novitas von Publikationen p. 422–423 (► S. 41–42).
100 B. Original und Übersetzung quis medium digitum Medicis ostendisset: ipse Adrianus princeps post honoratos per Octavium Augustum medicos, moriens exclamare non erubuit: Multi medici regem sustulerunt. Idem existimant apud Dn. de Montaigne convallium Agronensium inquilini, qui febres, anginam, pleuritidem, icterum, & similes morbos cognovisse se dicunt post admissos Medicos; inter quos, optimos censebat esse Lacon quidam, qui ægrotos non putrescendo [384] conficerent, sed quam primum sepelirent. Nolo referre convicia; quæ non tantum in trivijs, sed in aulis quoque Medicorum filij audire coguntur, maxime quando excoriandi sunt, quod contigit Maneti, postquam in sanando Persarum regis filio artis imbecillitatem prodiderat, aut cum ad puteum, in eum, scil. præcipitandi ducuntur, ut expertus est Petrus Leonius post excessum Laurentij Medicæi; illud certum, jam olim ingenuum quemque hæc tantopere movisse, ut Medicinæ exercitium solis servis commissum fuerit. Nec animum tamen despondere debetis devoti Æsculapio viri, sed eum, contra seculi vitia & rhonchos fortiter commasculare: siquidem ars vestra, teste ipso Luciano sannionum principe, omnibus alijs artibus honoratior est. Quod vobis contingit, ipsis Iurisconsultis, qui tamen nexu mancipioque honores possidere videntur, accidit. Quicquid vulturijs togatis, forique carcinomatis dici solet, ijs vulgò dicitur: tantumque professioni eorum infestus fuit Cajus princeps, ut jactarit, se omnes jurisconsultos aboliturum esse, ne quis superesset, qui de jure respondere posset. Quantus vir fuerit Tribonianus, posteritatem ignorare noluit Iustinianus princeps,
16 1649 ipsis. 1650 Ipsis.
67 medius digitus: Der ausgestreckte Mittelfinger galt als obszöne Geste: Iuv. 10, 53; ► Kißel 1990, S. 326 zu Pers. 2, 33 infami digito. 68 Augustus’ Leibarzt Antonius Musa, ein griechischer Freigelassener, wurde durch eine Statue neben der des Heilgottes Aesculapius geehrt (Suet. Aug. 59, 1). 69 Überliefert von Dio Cass. 69, 22, 4 πολλοὶ ἰατροὶ βασιλέα ἀπώλεσαν. 70 Dn. de Montaigne: Michel Eyquem de Montaigne, französischer Schriftsteller und Moralist (1533–1592), Hauptwerk: Les Essais (Essays) (zuerst 1580). 71 Lacon: Λάκων, ein Lakonier, Spartaner. Den Spartanern wurde ‚lakonische‘ Kürze nachgesagt (► etwa Plut. Alkibiades-Vita 28, 6). Nach dem Grimmschen Wörterbuch ist ‚lakonisch‘ seit dem 17. Jahrhundert nachweisbar; ein entsprechendes Substantiv existiert im Deutschen nicht. 72 Medicorum filij: ebenso Surd. enc. p. 622 (► Lefèvre 2021, S. 139 Anm. 490). 73 in triviis: Wörtlich ‚an Dreiwegen‘, übertragen ‚auf den Straßen‘ / ‚auf der Straße‘ wie Hor. Sat. 1, 9, 59. 74 Die öfter erzählte Geschichte z. B. bei Foucher 1781, S. 205. 75 Petrus Leonius: Pierleone Leoni aus Spoleto (ca. 1445–1492), italienischer Arzt, Philosoph und Astrologe, wurde zu Unrecht der Vergiftung Lorenzos de Medici verdächtigt, erwürgt und in einen Brunnen geworfen. Sein Schicksal berichtet Giovio 1577, S. 67–68.
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Romulus den Ärzten den Mittelfinger67 gezeigt hätte: Aber selbst Kaiser Hadrian scheute sich nach der Ehrung der Ärzte durch Octavius Augustus68 nicht, sterbend auszurufen: ‚Viele Ärzte haben den König umgebracht.‘69 Dasselbe glauben bei Herrn von Montaigne70 die Bewohner der Agronensischen Talhänge, die sagen, daß sie Fieber, Angina, Rippenfellentzündung, Schlaganfall und ähnliche Krankheiten kennengelernt hätten, nachdem sie Ärzte hätten kommen lassen; unter diesen, urteilte jemand lakonisch,71 seien diejenigen die besten, welche die Kranken nicht durch (langsames) Verfaulen [384] zum Ende brächten, sondern so bald wie möglich ins Grab beförderten. Nicht will ich die Scheltreden berichten, die die Sippe der Ärzte72 nicht nur auf den Straßen,73 sondern auch an den Höfen anzuhören gezwungen wird – am meisten, wenn sie geschunden werden sollen, was dem Manes74 widerfahren ist, nachdem er bei der Heilbehandlung des Sohnes des Perserkönigs eine Schwäche seiner Kunst hatte erkennen lassen, oder wenn sie zum Brunnen geführt werden – und zwar um in ihn hinuntergestürzt zu werden –, wie es Petro Leonio nach dem Tod des Lorenzo Medici erlitten hat.75 Das steht fest, daß das schon längst gerade auf die Frei(geboren)en so sehr Einfluß gehabt hat, daß die Ausübung der Medizin nur Sklaven anvertraut wurde. Dennoch müßt ihr Männer, die ihr Äskulap ergeben seid, euren Mut nicht sinken lassen, sondern ihn unerschrocken gegen die Fehler und Spottreden76 der Zeit stärken;77 denn eure Profession ist, wie selbst Lukian,78 der Erste der Spötter,79 bezeugt, angesehener als alle anderen Professionen. Was euch zuteil wird, passiert selbst den Rechtsgelehrten, die sich jedoch offensichtlich durch Verpflichtung und Verbindlichkeit in den Besitz von Anerkennungen setzen. Was immer den Geiern in der Robe80 und den Krebsgeschwüren81 des Forums gesagt zu werden pflegt, das wird ihnen allgemein gesagt: So feindlich ist ihrem Gewerbe Kaiser Cajus82 gewesen, daß er sich rühmte, er werde alle Rechtsgelehrten vertilgen, auf daß keiner übrig bleibe, der rechtliche Bescheide geben könne. Kaiser Justinian83 wollte nicht, daß die Nachwelt nicht 76 Zu rhonchus in diesem Sinn ► Balde, Sol. pod. 2, 81, 24 (► Lefèvre 2020, S. 528). 77 animum commasculare: ► Apul. Met. 2, 23, 1. 78 Lucianus: Lukian von Samosata, griechischer Sophist und Satiriker (2. Jahrhundert n. Chr.), sehr produktiv, etwa 70 Schriften gelten als echt. Es handelt sich um kein Zitat. Die Aussage könnte eine ‚freie Variation‘ aus dem Abdicatus 23 sein (Vermutung von Theofanis Tsiampokalos). 79 sannio: ► Lefèvre 2020, S. 456 Anm. 505 zu Balde Sol. pod. 2, 60, 32. 80 togati vulturii von Advokaten: ► Apul. Met. 10, 33, 1 (Wilhelm Ehlers: ‚Geier in der Robe‘). 81 Exzellentes Zitat: Nach Suet. Div. Aug. 65, 4 nannte Augustus seinen Enkel Agrippa Postumus und seine beiden Julien, Tochter und Enkelin, tria carcinomata. carcinoma auch p. 387. 82 Cajus: Gaius Iulius Caligula, römischer Kaiser (12–41, seit 37 Kaiser). Der Ausspruch: Suet. Cal. 34, 2: de iuris quoque consultis, quasi scientiae eorum omnem usum aboliturus, saepe iactavit se mehercle effecturum ne quid respondere possint praeter eum. 83 Iustinianus: Flavius Iustinianus I., oströmischer Kaiser (482–565, seit 527 Kaiser), bekannt vor allem durch die Erstellung des einflußreichen Corpus iuris civilis.
102 B. Original und Übersetzung cum hoc ei elogium tribueret: Tribonianus Illustrissimus, nec non prudentissimus Magister, vir & in ipsis rerum experimentis & in eloquentia & in legibus scribendis satis spectatus, & qui nihil unquam nostrarum jussionum contemsit: de eo [385] ipso tamen disputare solent, qui legibus per eum compilatis utuntur, an non imperatorio præconio præferri mereatur Suidæ, hominis Grammatici, testimonium, qui non dubitavit virum tam excelsum traducere, velut impium, à Christiana fide prorsus alienum, adulatorem, & impostorem. Iurisconsultorum antecessori si hæc accidant, inter Academiæ plausus, quid non expectandum in circulis ac semicirculis Doctorum vulgo? Securi tamen estote, quotquot conscientiæ integritatem eruditionis splendori conjunxistis: apud bonos & sapientes perpetuo audietis, quod de Servio Sulpitio M. Cicero dicit, justitiæ consulti, & æquitatis sacerdotes, atque antistites. Supersunt Theologi, quos publice contemni nemo mirabitur, si cogitet, eos adhoc vocatos esse, ut universi orbis odium sustineant, & velut purgamenta conculcentur ab ijs, qui animum adversus doctrinam cœlestem obfirmarunt. Alterius ordinis eruditis fortuitum est contemni, his solis proprium atque necessarium. Quod cum in vulgus quoque constet, verbi divini præcones fere inter sordidæ paupertatis tenebras quærendi sunt, paucique, qui fiduciam familiæ & census habent, filios suos consecrare volunt illi studio, quod, fremant licet omnes, tanto omni alio vitæ genere manebit augustius, quanto divina & æterna, terrenis atque caducis his digniora sunt. Diximus de contemptu, à quo nullos in ordine literatorum immunes esse in aperto est. Adhæret [386] ille non solum personis, sed ipsis quoque scriptis ac monumentis. Quanquam Magnus Alexander pyxidem, quam in supellectile regia pretiosissimam habebat, Homericæ Iliados custodiæ consecravit, plerique tamen Caligulæ Principi similes sunt, qui de abolendis Homeri carminibus serio aliquan-
84 Tribonianus: Hoher oströmischer Jurist, Vertrauter Justinians und einflußreicher Mitarbeiter an dessen Gesetzgebung († 541 / 543). Kritik an seiner Arbeit: ► p. 420–421. Justinians Elogium: ► etwa Corpus Juris civilis quo jus universum Justianeum comprehenditur, I, 1829, Sp. 116 (etwas erweitert); ebenso in Ludovici 1734, S. 14. 85 Suidas: Früher gebrauchter Eigenname für den Verfasser des umfangreichsten erhaltenen byzantinischen Lexikons, der Suda aus dem 10. Jahrhundert. Der hier genannte Vorwurf wird dort unter dem Stichwort Τριβωνιανός genannt. ► auch p. 420. 86 Antecessor primarius ist ein Professor, der das Recht hat, bei festlichen Anlässen vor den anderen Professoren ‚voranzuschreiten‘ (► Lefèvre 2021, S. X); hier gemeint: ein Gelehrter, der die anderen übertrifft. 87 circulis ac semicirculis: ► Surd. enc. p. 628 (► Lefèvre 2021, S. 114 mit Anm. 182). 88 Servius Sulpitius: Servius Sulpicius Rufus, römischer Jurist (106 / 105–43), von Cicero hochgeschätzt. Das Zitat ist bei Cicero offenbar nicht nachzuweisen, findet sich aber unter Hinweis auf Cicero und Servius Sulpicius wörtlich bei Vives 1764, S. 208 (Hinweis von Vera Sauer). Schoock wird kaum Vives’ Originalausgabe von 1531 nachgeschlagen haben (zu Vives ► p. 407). Die Wendung begegnet weiterhin ohne Nennung von Cicero und Sulpicius bei Spiegel 1554, Sp. 99, wo über
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wisse, was für ein (bedeutender) Mann Tribonian84 gewesen sei, als er ihm dieses Elogium zuteil werden ließ: „Tribonian, der Hochangesehene und sehr kluge Lehrmeister, ein Mann sowohl unmittelbar in den Sachkenntnissen als auch in der Beredsamkeit und in der Abfassung von Gesetzen vollauf erprobt und der nichts von unseren Anordnungen jemals mißachtet hat“: Gerade, was ihn betrifft [385], pflegen jedoch diejenigen, welche die von ihm zusammengestellten Gesetze benutzen, zu diskutieren, ob nicht der kaiserlichen Verherrlichung das Zeugnis des Suidas,85 des Grammatikers, vorgezogen zu werden verdiene, der nicht Bedenken trug, den so herausragenden Mann als gottlos, dem christlichen Glauben gänzlich fremd, als Schmeichler und Betrüger bloßzustellen. Wenn das dem Vorrangigen86 der Rechtsgelehrten unter den Beifallsbezeigungen der Universität widerfährt, was ist dann nicht in den Kreisen und Halbkreisen87 für den gewöhnlichen Schlag der Gebildeten zu erwarten? Doch seid sicher, soviel ihr Reinheit des Gewissens mit Glanz der Gelehrsamkeit verbunden habt: Bei Guten und Klugen werdet ihr fortwährend (über euch) hören, was Marcus Cicero über Servius Sulpicius88 sagt: „Rechtsgelehrte (sind) der Gerechtigkeit Priester und Aufseher.“ Es sind die Theologen übrig; daß sie in der Öffentlichkeit geringgeschätzt werden, darüber wird sich niemand wundern, wenn er bedenkt, daß sie dazu herausgefordert sind, die Abneigung des gesamten Erdkreises zu ertragen und wie Auswurf von denjenigen getreten zu werden, die ihren Geist gegen die göttliche Doktrin verhärtet haben. Für die Gelehrten eines anderen Standes geschieht es zufällig verachtet zu werden, allein für diese ist es kennzeichnend und unvermeidlich. Da das auch für das Volk feststeht, sind die Verkünder des göttlichen Wortes fast im Dunkel niedriger Armut zu suchen, und es wollen wenige, die sicheres Vertrauen auf Familie und Vermögen haben, ihre Söhne dieser Beschäftigung übergeben, die, mögen auch alle murren, um soviel erhabener als jede andere Art des Lebens bleiben wird, um wieviel das Göttliche und Ewige würdiger als das Irdische und Vergängliche sind. Wir haben über die Verachtung gesprochen, von der, wie es zutage liegt, niemand im Stand der Wissenschaftler frei ist. Es hängt [386] diese nicht allein den Personen, sondern auch direkt ihren Schriften und Andenken an. Obwohl Alexander der Große ein sehr kostbares Behältnis, das er in seiner königlichen Ausstattung hatte, feierlich für den Schutz der homerischen Ilias bestimmte,89 sind doch die meisten dem Kaiser Caligula ähnlich, der einst ernsthaft an die Vernichtung von die ueteres interpretes Iuris (in der Antike) gesagt wird: illi demum verè erant iurisconsulti & æquitatis sacerdotes atque antistites. Da der Text nicht als Zitat gekennzeichnet ist, aber auf Cicero zugeschriebene Nachrichten folgt, mochte man in diesem oder einem ähnlichen Fall auf Cicero als Autor schließen. Die Wendung war abgegriffen (bei Possevino 1603, S. 135 heißt es z. B., die Iurisconsultos nenne man Divinos, & verè Aequitatis Sacerdotes, atque Antistites) und konnte in beliebigen Zusammenhängen benutzt werden. 89 Quelle: Plut. Alexander-Vita 26. ► zu diesem Komplex auch p. 443.
104 B. Original und Übersetzung do cogitavit: aut Antonino Caracallæ, quem constat Vulcano devovere voluisse omnia Aristotelis monumenta. Milites, qui Borbonio duce Romam expugnarunt, libros præ stramine contempserunt, cum chartacea eorum fragmina, Papæ bullis immixta, equis suis substernerent. Nec horridorum solum militum hic furor fuit, æstuarunt eo, quos præ alijs humaniores esse oportuit. Fateor equidem, Oppianum, inter Poëtas cultiores notissimum, ab Antonino Caracalla singulos aureos nummos pro singulis versibus accepisse, & Senatum Populumque Venetum Iacobo Sannazario in singulos versus centenos aureos honorarij vice decrevisse: sed, quis à potentissimo quoque rege pro opere instar Phidiæ signi consummatissimo tantundem exspectare etiam audeat. Ex ijs, quos purpura vestit, fortunæque dotes votorum inopes fecerunt, vix duos invenire licet, qui non Xysto IV. Romano Pontifici similes sint, cui cum Theodorus Gaza operum suorum elaboratissimam partem obtulisset, adeo gratum & munem se exhibuit, ut maximus vir in has voces proruperit: Effugere hinc lubet, postquam optimæ segetes etiam in olfactu [387] præpinguibus asinis sordescunt. Ne quis miretur hic historicorum carcinoma Tragoram, politissimi Baudij æmulum, cultissimisque ejus versibus præter merita celeberrimum, pro digestis decennali labore Genealogicis fumosæ in Batavia gentis tabulis, typisque exscriptis, à viro in terra illa tum principe, familiæque suæ capite, amplius quam florenum, ut vocant, Imperialem doni nomine non accepisse. Succedit paupertas, quae omnibus eruditorum ordinibus vernacula, vulgo bonæ mentis soror & artium mater habetur. & quoniam dulce est ex littore aliorum videre naufragium,
90 cogitavit etiam de Homeri carminibus abolendis, cur enim sibi non licere dicens, quod Platoni licuisset, qui eum e civitate quam constituebat eiecerit? (Suet. Cal. 34, 2). 91 ► Dio Cass. 77, 7. 92 Gemeint ist der Sacco di Roma 1527 durch die Truppen Karls V. 93 Oppianus: Oppian von Apameia in Syrien, Verfasser von Lehrgedichten, widmete die Kynegetika in 4 B. zwischen 212 und 217 Caracalla. 94 Das berichtet die Suda (► p. 385) s. v. Ὀππιανός. 95 Iacobus Sannazarus: Jacobo Sannazaro, italienischer Dichter (1455–1530). Die Stadt Venedig zahlte ihm für ein (erhaltenes) sechszeiliges Lobgedicht auf Venedig 600 Dukaten. 96 Xystus IV.: Sixtus IV. (1414–1484, seit 1471 Papst). 97 Theodorus Gaza: Theodor Gaza aus Thessalonike (ca. 1398–1475), bekannter Wiedererwecker der altgriechischen Literatur in Italien, tätig in Ferrara, Rom und Neapel. Der Ausspruch wird überliefert von Giovio 1577, S. 38. Zu Gazas Reaktion ► auch Geanakoplos 1989, S. 87: Gaza “[…] under the aegis of Sixtus IV, again took up the task of translating Aristotle’s work into Latin. It is reported that of one occasion, when Sixtus paid him a number of gold pieces (not so much, it seems, for his elegantly rendered Latin version of Aristotle’s De animalibus as for the cost of the expensive gold binding of the manuscript), Gaza angryly cast the money into the Tiber river.” 98 gratum & munem: ironisch. munis: Plaut. Merc. 105. 99 sordescunt: nach Hor. Epist. 1, 20, 11 (Kießling, Heinze 1914, S. 191 z. St.: „sordescere schillert aus der eigentlichen in die übertragene Bedeutung = displicere wie I 11, 4 hinüber“).
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Homers Gedichten dachte90 – oder Antoninus Caracalla, der, wie es feststeht, alle Werke des Aristoteles dem Untergang weihen wollte.91 Die Soldaten, die unter der Führung des Bourbonen Rom eroberten,92 haben Bücher als Streu mißachtet, als sie Papierfetzen von ihnen, mit Bullen des Papstes vermischt, ihren Pferden unterstreuten. Diesen Wahnsinn übten aber nicht allein die rauhen Soldaten aus, es rasten in ihm diejenigen, welche vor anderen hätten menschlicher sein müssen. Ich räume ein, daß Oppian,93 unter den gepflegteren Dichtern sehr bekannt, von Antoninus Caracalla je eine Goldmünze für je einen Vers erhielt94 und daß der Senat und das Volk der Venezianer Jacobo Sannazaro95 für je einen Vers je hundert Goldmünzen als Honorar festsetzten. Aber wer wagte, gerade von den mächtigsten Königen für ein Werk, das ganz vollkommen wie ein Standbild des Phidias ist, auch jetzt ebensoviel zu erwarten? Von denen, welche der Purpur kleidet und die Gaben Fortunas arm an Wünschen gemacht haben, sind kaum zwei zu finden, die nicht dem römischen Papst Sixtus IV.96 ähnlich sind; als diesem Theodor Gaza97 einen sehr ausgearbeiteten Teil seiner Werke dargebracht hatte, zeigte er sich so dankbar und gefällig,98 daß der so große Mann (Gaza) in diese Worte ausbrach: ‚Ich möchte von hier entfliehen, nachdem die besten Saaten bereits im Geruch [387] feistesten Eseln mißfallen.‘99 Es wundere sich niemand, daß das Krebsgeschwür100 der Historiker, Bockenberg,101 der Konkurrent des hochkultivierten Baudier102 und durch dessen sehr gepflegte Verse über seine Verdienste hochberühmt, für die in zehnjähriger Arbeit in gehöriger Ordnung abgefaßten und gedruckten Genealogischen Verzeichnisse des alten103 Volkes in Batavien104 von dem Mann, der damals in diesem Land Herrscher und Haupt seiner Familie war,105 nicht mehr als einen sogenannten Reichsgulden als Geschenk erhielt. Es folgt die Armut, die von allen Klassen der Gelehrten als Hausgenossin, allgemein als Schwester der guten Gesinnung und Mutter der Künste angesehen wird. Und da es ja angenehm ist, vom Gestade aus den Schiffbruch anderer, die an allen Gaben Fortunas Überfluß haben, 100 carcinoma: ► p. 384. 101 Tragoras: Pieter Corneliusz Bockenberg, niederländischer Historiker (1548–1617), griech. / lat. Tragoras, Tragomontanus, Hircimontanus, wurde 1591 durch die Staaten Holland und Seeland zum offiziellen Geschichtsschreiber der Niederlande ernannt. Konkurrent (► æmulus) war Baudier (► folg. Anm.), der erst 1611 zum Zuge kam. Es entstand ein heftiger literarischer Streit zwischen Janus Dousa, der Baudier protegiert hatte, und Bockenberg. 102 Baudius: Dominique Baudier / Baude, niederländischer Jurist, Historiker und Dichter (1561– 1613). 103 fumosus: ‚rauchig‘, hier übertragen: ‚alt‘. Voller Rauch waren bei den Römern die alten Ahnenbilder im Atrium: ► Balde, Sol. pod. 2, 45, 7 (dazu Lefèvre 2020, S. 406); Schoock, Laus fumi p. 627 (dazu Lefèvre 2021, S. 22). 104 Gemeint: Catalogus, Genealogia, et brevis historia, regulorum Hollandiæ, Zelandiæ et Frisiæ. Lugd. Bat. 1584. 105 Moritz von Oranien (1567–1625), seit 1585 Statthalter von Holland und Zeeland.
106 B. Original und Übersetzung qui omnibus fortunæ dotibus luxuriant, præcipere non dubitant philosophanti divitiarum contemptum, quod qui animo vacare vult, aut pauper sit oportet, aut pauperi similis. Ita facile est cum bene valeas, consilium ægroto dare! Acquiesce vero tu, qui in Bibliotheca prope Minervam, invitus etiam, Divæ Peniæ signum statuere cogeris. Pauperes fuerunt plerique, qui inter literatos nomen decusque tulerunt. Vtque incipiam à primo doctrinarum & antiquitatis fonte Homero, quem ipse Iustinianus princeps omnis virtutis patrem vocat; constat eum apud figulos mendicasse, oblatoque poëmate fami subsidium rogasse. Omnia sua secum portabat Bias, ipse arca & servo destitutus. Pallium cum Xantippe sua commune habebat Socrates. In omni sua supellectile præter inaures, nihil ex auro Plato possidebat. Cleanthes ne esuriret, [388] noctu ad irrigandos hortos aquam hauriebat. Ne de ijs jam dicam, qui abjectis opibus in pauperiei profundum sese præcipitarunt: ingenue enim fateor, me nondum ad illud sapientiæ fastigium pervenisse, ut intelligam, quam recte Anaxagoras patrimonium reliquerit, quam sapienter Crates Thebanus rem familiarem abjecerit, quam provide dolium Diogenes intraverit. Quotquot unquam fuerunt Philosophi, dure & parce vixerunt, quia probari ijs debuit Cratetis, modo ad partes vocati, ephemeris, quæ ita habebat: Pone coquo minas decem, medico drachmam, adulatori talenta decem, consiliario fumum: scorto talentum, Philosopho triobulum. Quis Gratias novit, & Proæresium ignorat? Statuam is Romæ habuit cum superba hac inscriptione: Regina rerum Roma, regi eloquentiæ. Is ipse tamen Proæresius, quam diu Athenis cum familiari suo Hephæstione vixit, præter unam penulam, & tria quatuorve stragula, quæ domestica sordidata tinctura crassitiem facile testabantur, nihil possedit. quodque monstro simile non sine ratione alicui videatur, Proæresius & Hephæstion bini simul &
106 ► die Vorrede zu der Ausgabe der Pandekten / Digesten von 533. 107 Diesen Zug der Homer-Legende bietet die sog. Vita Herodotea. 108 Bias: Staatsmann und Richter in Priene (6. Jahrhundert v. Chr.), galt als einer der Sieben Weisen, dem später viele Aussprüche zugeschrieben wurden. Das Bekenntnis omnia mea mecum porto wird von Cicero ihm, von Seneca Stilpon zugeschrieben (Otto 1890, S. 255). 109 Xantippe: Xanthippe, berühmt-berüchtigte Ehefrau des Sokrates. Die hier gemachte Aussage könnte auf Diog. Laert. 2, 37 zurückgehen. 110 inaures: ‚Ohrringe‘ (Plaut. Men. 561). Nach dem bei Diog. Laert. 3, 42 überlieferten Testament hinterließ Platon einen goldenen Fingerring und einen goldenen Ohrring. 111 Cleanthes: Kleanthes aus Assos (ca. 331 / 330–232 / 231), Schüler und Nachfolger des Gründers der Stoa, Zenon (ca. 333 / 332–262). Daß er nachts Gärten wässerte, berichtet Diog. Laert. 7, 168. 112 Anaxagoras von Klazomenai, griechischer Naturphilosoph (ca. 500–428), Freund des Perikles, soll auf sein väterliches Erbe verzichtet haben, um sich ganz der Betrachtung der Natur zu widmen (Diog. Laert. 2, 6). 113 Crates Thebanus: Krates von Theben, griechischer kynischer Philosoph (ca. 365–285). Als Schüler des Diogenes trat er für Vermögensverzicht ein. Der folgende Ausspruch ist bei Diog. Laert. 6, 86 überliefert; der Verzicht auf das Vermögen dort 6, 87.
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zu beobachten, tragen sie keine Bedenken, demjenigen, welcher sich der Philosophie widmet, Verachtung des Reichtums anzuraten, weil es sich gehört, daß der, der dem Geist obliegen will, entweder arm oder dem Armen ähnlich sein muß. So ist es leicht, wenn es dir gut geht, dem Kranken einen Rat zu geben! Sei du aber ruhig, der du in der Bibliothek neben Minerva, auch gegen deinen Willen, ein Standbild der Armut aufzustellen veranlaßt bist. Arm waren die meisten, die unter den Gelehrten Namen und Ansehen davongetragen haben. Und damit ich mit der ersten Quelle der Wissenschaften und des Altertums, Homer, beginne, den selbst Kaiser Justinian den Vater jeder Tugend nennt:106 Es steht fest, daß er bei den Töpfern gebettelt und unter Anbieten eines Gedichts um Hilfe gegen den Hunger gebeten habe.107 Alles Seine trug Bias108 mit sich, selbst von Sklave und Kasse im Stich gelassen. Den Mantel hatte Sokrates mit seiner Xanthippe gemeinsam.109 In seinem ganzen Hausrat besaß Platon außer Ohrringen nichts aus Gold.110 Kleanthes111 trank, damit er den Hunger nicht spüre, [388] nachts Wasser, das für die Bewässerung der Gärten bestimmt war. Daß ich nunmehr nicht über die spreche, die unter Fortwerfen ihres Vermögens sich in den Abgrund der Armut gestürzt haben: Ich bekenne jedenfalls offen, daß ich noch nicht zu diesem Gipfel der Weisheit gelangt bin, daß ich einsehe, wie richtig Anaxagoras112 sein Erbe hat fahrenlassen, wie einsichtsvoll Krates, der Thebaner,113 das Familienvermögen fortgeworfen hat, wie weise Diogenes in das Faß gezogen ist. Soviele Philosophen jemals gewesen sind: Sie lebten hart und sparsam, weil von ihnen die Ephemeris114 des soeben zu Hilfe gerufenen Krates anerkannt werden mußte, die so lautet: ‚Gib dem Koch zehn Minen, dem Arzt eine Drachme, dem Schmeichler zehn Talente, dem Ratgeber Rauch, der Dirne ein Talent, dem Philosophen drei Obolen.‘115 Wer kennt die Grazien und kennt Prohairesios116 nicht? Der hatte eine Statue in Rom mit dieser stolzen Inschrift: ‚Die Königin der Welt, Rom, dem König der Beredsamkeit.‘ Doch gerade dieser Prohairesios besaß, solange er in Athen mit seinem Vertrauten Hephaistion117 lebte, nichts außer einem einfachen Oberkleid118 und drei oder vier Decken, welche, durch häusliches (Ent)färben fleckig geworden, leicht ihre grobe Art an den Tag legten. Und was einem nicht ohne Grund einem Wunder ähnlich
114 ephemeris: Tagebuch(notiz), Notiz. 115 triobolus: drei Obolen = eine halbe Drachme, d. h. eine Kleinigkeit (Plaut. Ba. 260). 116 Proaeresius: Prohairesios, aus Armenien stammender Sophist und Rhetor (ca. 276–367), gewann das Wohlwollen des römischen Kaisers Flavius Iulius Constans (337–350), hatte eine Ehrenstatue in Rom. Diese trug folgende Inschrift, die Eunapios, Βίοι φιλοσοφῶν καὶ σοφιστῶν 10, 75 überliefert: Ἡ βασιλεύουσα Ῥώμη τὸν βασιλεύοντα τῶν λόγων. Zu der Schilderung der ärmlichen Kleidung ► daselbst 22. 117 Hephaestion: Hephaistion, griechischer Rhetor († Mitte 4. Jahrhundert), Freund des Prohairesios. Das folgende Verhalten des Prohairesios und Hephaistion ist nach Eunap. 24 wiedergegeben. 118 paenula ► p. 416.
108 B. Original und Übersetzung unus fuerunt: quomodo enim tricorporem fabulæ Geryonem loquuntur, ita & illi duo erant pariter & unus; nam Proæresio in publicum prodeunte, Hephæstion domi delitescebat stragulis involutus, seque in dicendo exercebat: idem autem Proæresio usu veniebat, porticus & fora perambulante Hephæstione. Inter antiquos [389] poëtas, quorum nomina solum per temporum injuriam possidemus, 5 haut infimi subsellij fuit Archestratus, constans & ipse sacræ Paupertatis atque Esuriei cultor; cujus pannos & lippientes præ fame fauces cum quis ex familiaribus videret, atque cum rotundis per omnia versibus componeret, non dubitavit dicere: Tu vero Archestrate si cum Alexandro fuisses, tui cujusque carminis præmium Cyprum aut Phænicem tulisses. Codrus inter Latinos poëta, tam pauper fuit, ut locum 10 proverbio fecerit. Musarum & Gratiarum hortus Plautus, jam olim cognomentum tulit Asinii, quod rumor constans sit, eum ad participandum victum, ob egestatem sese ad molam, quam veteres Asinum vocare solent, vendidisse. Sub tegulis habitavit Martialis, qui unus tamen Epigrammatis genium possedit, judicioque ipsius Plinij homo fuit ingeniosus, acutus, & qui plurimum in scribendo & salis habebat & 15 fellis, nec candoris minus. Orbilius Pupillus Grammaticorum Latinorum alpha,
119 Geryon: dreileibiger Riese am Westende der Erde, dem Herakles seine Rinderherde entführte. 120 Wörtlich: „nicht vom untersten Platz an der Tafel“, d. h. nicht von unterstem Rang. Verwandt: Plaut. Capt. 471 Lacones unisubselli viros. 121 Archestratus: Archestratos von Gela, schrieb um 330 v. Chr. ein gastronomisches Gedicht in Hexametern (Hedypatheia). Der Witz liegt darin, daß er selbst ein Hungerkünstler war bzw. sich selbst als solchen gab. Das Zitat über Archestratos konnte Schoock finden bei: Giraldi 1596, col. 148 D / E: […] qui egregius habitus poëta, sed qui misera inopia & egestate compressus, sic, ut cum illum nescio quis tam male habitum vidisset, ei hæc verba diceret: Tu verò Archestrate si cum Alexandro fuisses, tui cuiusque carminis præmium Cyprum aut Phœnicen tulisses: quibus verbis facile colligimus, bonum quidem illum poëtam fuisse, ignobilem verò propter egestatem: hæc Plutarchus. Der Ausspruch des nescio quis ist bei Giraldi und Schoock gleichlautend. Deswegen könnte Giraldi die direkte Quelle gewesen sein. Die Anekdote geht zurück auf den Anfang von Plutarchs 2. Rede De Alexandri Magni fortuna atque virtute in den Moralia. 122 Nach Plaut. Curc. 318 lippiunt fauces fame (Peter Rau: „es trieft vor Hunger mir der Schlund“). 123 rotundis versibus: nach Hor. Ars 323–324 Grais dedit ore rotundo | Musa loqui. 124 Wohl hyperbolische Anspielung darauf, daß Alexander seinen Gefolgsleuten beträchtliche Provinzen zuwies. 125 Codrus (bzw. Cordus): Bei Juvenal Name eines armen Poeten (1, 2; 3, 203. 208), wurde sprichwörtlich. ► Balde Med. glor. 9, 15; 21, 2; Sol. pod. 2, 32, 21 (dazu Lefèvre 2020, S. 317 Anm. 218). 126 hortus: ‚Garten‘; nachantike Metapher: ‚Hort‘. 127 Gell. Noct. Att. 3, 3, 14 überliefert, Varro und andere hätten gesagt, Plautus habe in einer
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scheinen könnte: Prohairesios und Hephaistion waren zugleich zwei und einer: Denn wie die Fabeln vom dreileibigen Geryon119 sprechen, so waren auch sie zugleich zwei und einer; denn wenn Prohairesios in die Öffentlichkeit hinausging, verbarg sich Hephaistion zu Hause, in die Decken eingehüllt, und übte sich im Reden. Dasselbe traf andererseits auf Prohairesios zu, während Hephaistion Portiken und Märkte durchwandelte. Unter den antiken [389] Dichtern, von denen wir durch die Unbill der Zeiten nur die Namen besitzen, war nicht von unterstem Rang120 Archestratos,121 standhaft und selbst Verehrer des heiligen Mangels und Hungers. Wenn einer von den Vertrauten dessen Lumpen und vor Hunger triefenden Schlund122 sah und, wenn er in Versen, die in jeder Hinsicht abgerundet waren,123 dichtete, trug er keine Bedenken zu sagen: „Wahrlich, Archestratos, wenn du mit Alexander zusammengewesen wärest, hättest du als Prämie jedes deiner Gedichte Zypern oder Phönizien davongetragen.“124 Unter den Lateinern war der Dichter Codrus so arm, daß er einem Sprichwort Platz gegeben hat.125 Der Hort126 der Musen und Grazien, Plautus, trug schon vor Zeiten den Beinamen Asinius, weil sich die Nachricht hält, daß er, um des Lebensunterhaltes teilhaftig zu werden, sich wegen seiner Bedürftigkeit an eine Mühle, die die Alten Asinus zu nennen pflegten, verkauft habe.127 Unter Ziegeln wohnte Martial,128 der doch als einziger die natürliche Begabung129 für das Epigramm besaß und nach dem Urteil selbst von Plinius „ein genialer Mensch war, scharfsinnig und der beim Schreiben sehr viel Salz und Galle hatte und nicht weniger Aufrichtigkeit.“ Orbilius Pupillus,130 das Alpha131 der lateinischen Grammatiker und Jugendgeleiter vieler unter den Mühle gearbeitet, um Geld zu verdienen („eine knechtische und fast viehische Arbeit“, wie Lessing in der Abhandlung von dem Leben und den Werken des Marcus Accius Plautus sagt). Nach Ritschl 1845, S. 4 wurden die Mühlräder ursprünglich von Eseln angetrieben, später von Menschen, die man dann Asini (‚Esel‘) nannte. Daher habe man Plautus das Cognomen Asinus beigelegt, was schließlich in der Überlieferung zu Asinius geworden sei. Asinus = ‚Mühle‘ ist nicht antik belegt. 128 Martialis: Marcus Valerius Martialis, bedeutendster römischer Epigrammatiker (2. Hälfte 1. Jahrhundert n. Chr.). sub tegulis: Wohl Anspielung auf das Epigramm 7, 36, in dem Martial, bei dem es durchregnete, seinem Gönner Arruntius Stella für eine Sendung Ziegel dankt. Plinius’ Urteil: Epist. 3, 21, 1 (Schoock läßt die Qualifikation acer aus, sicher weil er aus dem Kopf zitiert). Zu dem Satz ► Lefèvre 2009, S. 157. Plinius’ Brief setzt Martials Bedürftigkeit voraus; Schanz, Hosius. Bd. 2 (1935), S. 546 sprechen von seiner „wenig gesicherten Lage“. 129 genius: = ingenium wie Iuv. 6, 562; Balde Sylv. 1, 14, 1 (► Lefèvre 2011, S. 113). 130 Orbilius Pupillus: Lucius Orbilius Pupillus, römischer Grammatiker (1. Jahrhundert v. Chr.), bekannt vor allem durch Horaz’ Erinnerung an den plagosus Orbilius (► p. 434); über ihn ausführlich Suet. De gramm. 9, wonach er fast hundert Jahre alt wurde (Quelle für die beiden von Schoock herausgestellten Komplexe Armut [► im folgenden] und Verlust des Gedächtnisses im Alter [► p. 461 u. 462]). Er wird hier als Lehrmeister zu den Redelehrern gezählt. 131 alpha: sprichwörtlich ‚der erste seiner Art‘: Mart. 2, 57, 5; 5, 26, 1. „Doch ist der Ausdruck anscheinend nur witzig“ (Otto 1890, S. 15). Bei Schoock mehrfach (► p. 410, 420, 454, 461), sicher nicht witzig.
110 B. Original und Übersetzung multorumque inter Romanos juventutis ductor, senex & jam prope ostio admotus, pauper admodum, atque sub tegulis columbarum & passerum vicinus fuit. C. Iulius Higinus plurimos quidem docuit, & admodum familiaris fuit Ovidio ac C. Licinio Consulari Historico, pauper tamen decessit. Quintilianum, at quantum virum! exiguum possedisse testatur Plinius, ut etiam filiæ, quam elocabat, necessaria addere non posset. Ideoque offert ei dono nuptiale mu[390]nus, sic ad eum scribens; (lubet enim, præter morem, verba ab ipsa Humanitate dictata adferre, ut erubescant nostri Eucliones.) Te porro animo beatissimum, modicum facultatibus scio: itaque partem oneris tui vindico, & tanquam parens alter, puellæ confero quinquaginta millia nummum. L. Cælius Lactantius Firmianus, Arnobij discipulus, rivus quidam fuit Tullianæ eloquentiæ, suoque tempore omnium eloquentissimus; sed adeo in hac vita pauper, ut plerumque etiam necessarijs indiguerit, nedum delitijs. Et quod quis forte miretur, ipse M. Tullius Cicero consularis, æri alieno immersus fuit, adeo ut sexagenarius coactus fuerit Popilliam virginem uxorem ducere, quo illius facultatibus se ære alieno liberaret. Vt vero propius ad nostra tempora accedamus, Stephanus Niger Philostrato in Latinam linguam translato clarus per temporum, in quæ incidit calamitatem, ad tam remotas paupertatis lineas redactus fuit, ut necessario quoque dimenso destitutus, in lacrymis atque sordibus infelicissime defecerit. Omnium scientiarum alumnus, idemque parens Hermolaus Barbarus, ob susceptum Aquilegiense sacerdotium, Venetis suis invisus, omnibusque possessioni-
132 ostium: Eingangs- / Ausgangstür eines Hauses, öfter von der Unterwelt gesagt (Plaut. Trin. 525; Verg. Georg. 4, 467; Aen. 8, 667). 133 Suet. De gramm. 9 sub tegulis habitare (von Orbilius). 134 Hyginus: Gaius Iulius Hyginus, Freigelassener des Augustus, Präfekt der Palatinischen Bibliothek. Schoocks Nachrichten nach Suet. De gramm. 20. 135 C. Licinius Consularis: Gaius Clodius Licinius, Suffektkonsul 4 n. Chr., soll nach Sueton De gramm. 20 Hygin zeitlebens unterstützt haben. 136 ► p. 382. 137 Epist. 6, 32, 2; der nachfolgende Text ist wörtliches Zitat (nur heißt es bei Plinius m i h i vindico). Irrtum Schoocks: Der angesprochene Quintilianus ist nicht der berühmte Redelehrer (zum Adressaten ► Sherwin-White 1966, S. 398). ► auch S. 33 Anm. 104. 138 Euclio: geizige Hauptfigur in Plautus’ Aulularia, sprichwörtlich für einen Geizhals. 139 Lucius Caelius Lactantius Firmianus: Christlicher Schriftsteller aus Nordafrika (Lebenszeit zwischen 250 und 320), auch als Redner tätig, wurde wegen seines glänzenden Stils von den Humanisten Cicero Christianus genannt, Hauptwerk: Divinae institutiones, 7 B. Seine Armut wörtlich nach Hieronymus’ Chronik zum Jahr 317 geschildert: adeo in hac vita pauper, ut plerumque etiam necessariis indiguerit (► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 414). 140 Arnobius: Christlicher Rhetor in Nordafrika († um 330), Lehrer des Laktanz, Hauptwerk ist die umfangreiche apologetische Schrift Adversus Nationes, 7 B. (ca. 297–303). p. 426 wird die amplitudo des Werks hervorgehoben.
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Römern, war, ein Greis und schon fast dem Ausgang132 nahe, sehr arm und unter den Dachziegeln133 der Tauben und Spatzen Nachbar. Gaius Iulius Hyginus134 hat zwar sehr viele unterrichtet und war Ovid und dem Konsular C. Licinius, dem Historiker,135 eng verbunden, doch starb er als Armer. Daß Quintilian – allein was für ein bedeutender Mann!136 – wenig besessen habe, bezeugt Plinius,137 so daß er sogar der Tochter, die er verheiratete, nicht das Notwendige geben konnte. Deshalb bot er (Plinius) ihm als Geschenk eine Hochzeitsgabe [390] und schrieb folgendermaßen an ihn (ich möchte nämlich, gegen die Gepflogenheit, die Worte, die von der Humanitas selbst diktiert sind, anführen, damit unsere Euklionen138 erröten): ‚Ich weiß ferner, daß du an Geist sehr reich, an Mitteln beschränkt bist. Daher übernehme ich einen Teil deiner Last und gebe gleichsam wie ein zweiter Vater dem Mädchen 50 000 Sesterzen.‘ Lucius Caelius Lactantius Firmianus,139 der Schüler des Arnobius,140 war wahrhaft ein Strom Tullianischer Beredsamkeit und zu seiner Zeit der Beredteste aller, aber in diesem Leben so arm, daß er meistens sogar notwendiger, geschweige ergötzlicher Dinge entbehrte. Und worüber sich jemand vielleicht wundern könnte, selbst der Konsular Marcus Tullius Cicero war so sehr in Schulden versunken, daß er als Sechzigjähiger gezwungen war, die Jungfrau Popillia141 zu heiraten, damit er sich durch ihre Mittel von seinen Schulden befreite. Damit wir aber näher an unsere Zeiten herankommen: Stefano Negri, berühmt durch die Übersetzung des Philostrat in die lateinische Sprache,142 wurde durch die Ungunst der Zeiten, in welche er geriet, zu so entfernten (äußersten) Grenzen der Armut geführt, daß er – auch der notwendigen (täglich) zugemessenen Ration143 entblößt (entbehrend) – in Tränen und Schmutz sehr unglücklich gestorben ist. Aller Wissenschaften Zögling und zugleich Vater, Ermolao Barbaro,144 seinen Venezianern wegen der Übernahme des Priesteramtes in
141 Popillia: Cicero heiratete im November 46 aus finanziellen Gründen sein etwa 15jähriges Mündel. Die Ehe wurde bald wieder geschieden. 142 Stephanus Niger: Stephanus de Nigris / Stefano Negri (1475–1540), Professor der griechischen Sprache in Mailand. Die Übersetzung Philostrats (zu diesem ► p. 380) wurde mehrfach in einem Sammelband zusammen mit anderen Übersetzungen gedruckt, so in Mailand 1521 und Basel 1532. Der letzte hat den Titel: Quæ quidem præstare sui nominis ac studiosis utilia noverimus monimenta: nempe translationes: Iconum Philostrati: Aureorum carminum Pythagoræ […]. Basileæ 1532. 143 dimensum: Gemeint ist die täglich abgemessene notwendige Portion / Ration des Essens, wie bei Balde, Sol. Pod. 2, 70, 17–18. 144 Hermolaus Barbarus: Ermolao Barbaro, italienischer Humanist aus Venedig (ca. 1453–1493), vielseitig gebildet, von Kaiser Friedrich III. zum poeta laureatus gekrönt, Studium der Rechte, in Venedig politisch tätig, sollte 1491 Patriarch von Aquileia werden und sagte zu, ehe der offizielle Bescheid kam, wurde daraufhin gezwungen, auf das Amt zu verzichten, und verbannt. Hier als Theologe gezählt (er schrieb ein Buch über den Zölibat: De cœlibatu) Schoock könnte bei dieser Erzählung Giovanni Pierio folgen (► S. 12–13).
112 B. Original und Übersetzung bus dejectus, cum nullum præsidium in Pontificis gratia inveniret, profundo inopiæ sexcentarumque aliarum calamitatum immersus, obscure & misere supremum vitæ diem clausit. Inter eos, qui scriptis artem medicam illustrarunt, haud obscurum no[391]men consecutus fuit Melchior Guilandinus horti Patavini præfectus, is tamen tanta aliquandiu rerum omnium penuria, non tantum in Sicilia, sed Romæ quoque laboravit, ut aliunde sibi victum comparare nequiverit, quam ex allatis è proximis montibus radicibus. Celebre inter eruditos Henrici Glareani nomen est, multumque ei debent historia atque politior literatura, ne quid dicam de pulvere erudito, haud infeliciter ab eo concitato. Frequenter is amicis dicere solet, se instar principum vivere, quod præter cibi potusque modicum dimensum nihil acciperet, æri alieno autem immersus esset, & parum quin animam deberet. Ante annos non ita multos inter doctos, qui Romæ vivebant, haud ultimus habitus fuit Antonius Petolius Iurisconsultus, quem cum innocentia & vitæ integritas foro arcerent, ad paupertatis non solum, sed mendicitatis quoque profunda pervenit, adeo ut aliquoties amicis sancte affirmaverit, totis sex annis continuis nihil cocti obsonij in suum ventrem immigrasse, sed in se asperam Anachoretarum vivendi rationem revocasse, atque ex ultimis laboriosæ Thebaidis regionibus in medias Vrbis delitias transtulisse, hoc est, cum pane solum atque oleribus, absque aceto & unguento ullo, cœnasse. Sed cur exemplis inhæreo? illud constat, amorem ingenij nunquam quem divitem fecisse, & Petronianum Eumolpum nullam aliam ob caussam pannosum fuisse, quam quod Poëta esset. [392] Bono vero animo estote, quot-
5 1649 tanta. 1650 tantu. | 13 1649 / 1650 Perolius. Lef. Petolius.
145 Wohl so zu verstehen. Bei Pierio heißt es, daß Ermolao durch eine Spende des Papstes Alexander eine ziemliche Weile einigermaßen unterstützt wurde. 146 Melchior Guilandinus: Melchior Wieland aus Königsberg, deutscher Arzt und Botaniker (ca. 1520–1589), von dem paduanischen Anatomen Gabriele Falloppio gefördert, 1561 Direktor des Botanischen Gartens in Padua, 1567 Professor für Botanik. In seiner Frühzeit zog er u. a. in Kalabrien „als vagabundierender Kräuterhändler mit einem Esel von Dorf zu Dorf“, um Medizinalpflanzen zu verkaufen (► Herrmann 2015, S. 2). 147 Henricus Glareanus: Heinrich Loriti Glarean, schweizerischer Musiktheoretiker, Dichter, Mathematiker und Humanist (1488–1563), 1512 für einen Hymnus auf Kaiser Maximilian I. zum Poeta laureatus gekrönt, trat durch originelle musiktheoretische Schriften hervor, lebte 1529–1563 in Freiburg (bis 1560 als Professor für Poetik). Er wird hier unabhängig von seinem Beruf bzw. seinen Berufen als Beispiel eines armen Gelehrten genannt. Zu seiner Armut ► Fritzsche 1890, S. 32. 148 pulvis eruditus = der ‚gelehrte‘ Staub, in den die Mathematiker mit einem Stäbchen ihre gelehrten Figuren zeichneten. Schoock spielt auf Glarean als Mathematiker an.
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Aquileia verhaßt und aus allen Besitztümern vertrieben, beschloß, weil er keinen (dauernden)145 Schutz in der Gnade des Papstes fand, im Abgrund des Mangels und unzähliger anderer Unglücke versunken, dunkel und elend den letzten Tag seines Lebens. Unter denen, die mit Schriften die Medizinische Wissenschaft aufgehellt haben, hat einen nicht unberühmten [391] Namen Melchior Wieland erlangt,146 der Vorsteher des paduanischen Gartens, doch litt er eine Zeitlang einen solchen Mangel an allen Dingen – nicht allein in Sizilien, sondern auch in Rom –, daß er sich nicht anderswoher Nahrung beschaffen konnte als aus Wurzeln, die von den nächsten Bergen geholt wurden. Berühmt unter den Gebildeten ist der Name von Heinrich Glarean,147 und viel schulden ihm die Geschichtswissenschaft und die gepflegtere Literatur – damit ich nicht etwas über den gelehrten Staub sage, der von ihm nicht unglücklich bewegt worden war.148 Häufig pflegte er den Freunden zu sagen, er lebe wie Fürsten,149 weil er außer einer bescheidenen Ration an Essen und Trinken nichts zu sich nehme, andererseits in Schulden versunken und beinahe150 das Leben schuldig sei.151 Vor nicht so vielen Jahren galt unter den Gelehrten, die in Rom lebten, als nicht letzter Jurist Antonio Petolio,152 der, als ihn Rechtschaffenheit und Lauterkeit des Lebens vom Forum fernhielten, zu den Tiefen nicht nur der Armut, sondern auch des Bettlertums gelangte – bis zu dem Punkt, daß er einige Male Freunden feierlich versicherte, es sei in sechs ganzen aufeinanderfolgenden Jahren keine gekochte (warme) Speise in seinen Magen gelangt; er habe vielmehr die rauhe Lebensweise der Anachoreten bei sich erneuert und sie aus den so weit entfernten Regionen der plagevollen Thebais153 mitten in Roms Üppigkeiten überführt, das heißt, nur mit Brot und Gemüse ohne Essig und jegliches Öl Tafel gehalten. Aber warum hänge ich an Beispielen fest? Das ist gewiß, daß die Liebe zum Geist niemals jemanden reich gemacht hat und der petronische Eumolp154 aus keinem anderen Grund zerlumpt gewesen ist, als weil er ein Dichter war. [392] Seid aber guten Mutes, soviel ihr euch in diese Wissenschaften versenkt
149 Gemeint: wunschlos. 150 parum quin = ‚beinahe‘, auch p. 392, 397, 416, 484. 151 animam debere: sprichwörtlich (Otto 1892, S. 25: „Leib und Seele verpfänden“), ► Ter. Phorm. 661. 152 Antonius Perolius: Wohl gemeint: Petolius, Antonio Petolio. „Petolio (Marco Antonio) ein italiänischer JCtus, von Monte Corvino, lebte zur Zeit Papsts Urban VIII. [1568–1644, seit 1623 Papst], war ein Mann von grossen Gaben, mußte aber doch durch Corrigiren in der Druckerey seinen Unterhalt suchen“ (Jöcher Bd. 3 (1751), Sp. 1431). 153 Thebais: Gebiet um die altägyptische Stadt Theben, seit dem 3. Jahrhundert zunehmend von Eremiten bewohnt. laboriosæ: Das Leben in der Felswüste war beschwerlich. 154 Der ärmlich gekleidete (cultu non speciosus) souveräne ältere Dichter Eumolpus, eine eindrucksvolle Figur in Petrons Satyrica, sagt 83, 9 selbst, daß die Liebe zum Geist niemanden jemals reich gemacht habe (amor ingenii neminem umquam divitem fecit) – was Schoock wörtlich zitiert.
114 B. Original und Übersetzung quot in has literas vos abdidistis, nec Crœso purpuram, thesauros Crasso, aut hortos suos Lucullo invidete. Patrimonium bonorum paupertas est. Vt illi enim qui pecuniam suam alicubi deponere volunt, innocentium atque proborum hominum fidem eligunt, sic paupertas semet ipsam tanquam pignus depositura, nullis alijs credit, quam quos vitæ integros, & ab omni vitiorum labe defæcatos esse novit. Cum vero pauperes publicum vulgo ludibrium esse soleant, & contemnantur ab ijs ipsis, à quibus quam maxime æstimari deberent, fieri non potest, quin eruditi, qui aut sunt pauperes, aut tales habentur, odio sint ijs ipsis, à quibus præ alijs honorari deberent. Multi patientiæ suæ vim facere sciunt, in Pantomimi aut Gnathonis scommatibus & injurijs ferendis: ferre autem non possunt aut seriam Philosophi admonitionem, aut necessariam increpationem, prima etiam ætate sibi factam ab ijs, quibus plurimum præ ipsis parentibus debent. Indignor & parum quin femur ferio, quando audio, eruditos, & quidem præceptores, injuria non à vulgo, sed ab ipsis suis discipulis affici; ut plurimum tamen ita fieri amat. An non ipse princeps Arcadius percussorem in præceptorem suum Arsenium subornavit; virumque sanctissimum ad eremum usque persecutus fuit? Iohannem Scotum Ludovici Pij seculo, enarranten libellum de hierarchia, ut loquuntur, & reprehendentem [393] opinionem tunc invalescentem de oblatione cænæ Dominicæ pro vivis & mortuis, discipuli graphijs confoderunt. Eadem gratia à discipulis constantissimo Martyri Cassiano relata fuit. Persicus ille discipulus Ioannem Damascenum præceptorem in summum vitæ discrimen adduxit, utque à Theodosio dextra manus ei amputa-
9 1649 / 1650 Gnatonis. Lef. Gnathonis. | 21 1649 descrimen. Corr. discrimen. 1650 Korrektur nicht ausgeführt.
155 Croesus: Kroisos, der letzte König von Lydien (Mitte 6. Jahrhundert), sprichwörtlich reich. 156 Crassus: Marcus Licinius Crassus Dives, der Triumvir, römischer Politiker (115–53), Konsul 70, fiel im Kampf gegen die Parther, galt neben Lucullus als reichster Römer seiner Zeit. 157 Lucullus: Lucius Licinius Lucullus, römischer Politiker (117–56), Konsul 74, kämpfte gegen Mithridates, besiegte ihn aber nicht (► p. 442), galt neben Crassus als der reichste Römer seiner Zeit, berühmt wegen der Villen mit prachtvollen Gärten. Über seine hohe Bildung berichtet Plutarch am Anfang der Lucullus-Vita. 158 Gnatho: Schmeichlerischer Parasit in Terenz’ Komödie Eunuchus (161 v. Chr.). 159 femur ferio: Geste des Unwillens, auch p. 483. 160 Arcadius: Flavius Arcadius, oströmischer Kaiser (ca. 377–408, oström. Kaiser seit 395). 161 Arsenius: Heiliger (354–445), erzog in Theodosius’ Auftrag dessen Söhne Arcadius und Honorius in Konstantinopel. 162 Iohannes Scotus: Johannes Scot(t)us Eriugena, Gelehrter irischer Herkunft im Westfrankenreich (9. Jahrhundert). Schoock bezieht sich auf die Schriften De caelesti hierarchia (nach Ps.Dionysios Areopagita) und über die Eucharistie (nicht erhalten). Seine legendäre Todesart ist nicht be-
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habt und neidet nicht Krösus155 den Purpur, Crassus156 die Schätze oder Lucullus157 die Gärten. Das Vermögen der Guten ist die Armut. Wie jene nämlich, die ihr Geld irgendwo deponieren wollen, die Unbescholtenheit und Zuverlässigkeit rechtschaffener Menschen auswählen, so vertraut die Armut, wenn sie im Begriff ist, sich selbst als Pfand zu setzen, keinen anderen, als von denen sie weiß, daß sie im Lebenswandel untadelig und von jedem Makel eines Lasters rein (frei) sind. Da aber die Armen dem Volk Gegenstand öffentlichen Spottes zu sein pflegen und selbst von denen verachtet werden, von denen sie möglichst hoch geschätzt werden sollten, kann es nicht geschehen, daß die Gelehrten, die entweder Arme sind oder für solche gehalten werden, nicht selbst denen Gegenstand der Abneigung sind, von denen sie vor anderen geehrt werden sollten. Viele wissen ihrer Geduld beim Ertragen von Spöttereien und Beleidigungen eines Pantomimen oder Gnathos158 Gewalt anzutun, aber sie können weder die ernsthafte Ermahnung eines Philosophen ertragen noch das notwendige Schelten, das ihnen bereits im frühesten Alter von denen zuteil wird, denen sie das meiste, selbst im Vergleich mit den Eltern, verdanken. Ich bin unwillig und schlage mir beinahe auf den Schenkel,159 wenn ich höre, daß den Gelehrten, und zwar den Lehrern, Unrecht nicht vom Volk, sondern direkt von ihren Schülern angetan wird; sehr oft pflegt es sich doch so zu ereignen. Hat etwa nicht selbst Kaiser Arcadius160 den Mörder gegen seinen Lehrer Arsenius161 bestellt und den hochheiligen Mann bis zur Wüste hin verfolgt? Im Zeitalter Ludwig des Frommen haben Johannes Scotus,162 der, wie man erzählt, ein Buch über die (himmlische) Hierarchie geschrieben und [393] die damals herrschende Ansicht über die Darbringung des sonntäglichen Abendmahls für die Lebenden und Toten getadelt hat, die Schüler mit ihren Griffeln durchbohrt. Derselbe Dank wurde von Schülern dem so standhaften Märtyrer Kassian163 erwiesen. Jener (wohlbekannte) Schüler Persicus führte den Lehrer Johannes von Damaskus164 in die höchste Lebensgefahr und bewirkte, daß ihm von Theodosius die rechte Hand abgehauen wurde. Daß ich nicht noch Hercules, des Linus,165 und
weisbar, vielleicht von Kassian auf ihn übertragen (► Ökomenisches Heiligenlexikon s. v. Johannes Scottus Eriugena). 163 Cassianus: Kassian von Forum Cornelii (Imola), christlicher Märtyrer und Heiliger (4. Jahrhundert), weigerte sich, im Unterricht die römischen Götter zu verehren, und wurde von seinen Schülern mit Griffeln erstochen. 164 Johannes Damascenus: Johannes von Damaskus, christlicher Mönch, Priester und Apologet (675 / 676–749). An seine Gestalt rankt sich die in verschiedenen Versionen überlieferte Legende, daß Theodosius III. (byzantinischer Kaiser 715–717) befahl, ihm die rechte Hand abzuhacken, die die Gottesmutter aber wieder anwachsen ließ. Schoock folgt einer Version, die den Schüler Persicus hineinbringt. 165 Linos war der Musiklehrer des Herakles; er wurde von diesem in einem Wutanfall erschlagen.
116 B. Original und Übersetzung retur, effecit. Ne jam Herculem Lini, atque Neronem Senecæ præceptoris sui percussorem insecter. Fateor à Mæcenatibus magni factos fuisse Marones, Frontones suos habuisse Antoninos, floremque Græcorum exulum præsidium invenisse apud Medicæos, sed, quam paucos invenire est in ordine purpuratorum ac Megistanum, quos idem sidus moderetur. Qui literis & literatis aliquid tribuere videntur, plerumque tamen infra gulæ magistros eos censent, & vix honestius & nitidius habent quam mediastinum quem servum. Atque optandum summopere foret, ut eruditione expoliti viri, eodem apud illos, quos patronos sibi delegerunt, honoris loco haberentur, quo illi, qui equos ipsis aut canes alunt. Nam isti sæpius à dominis accersuntur, & in colloquium evocantur: at illi, tanquam si eos altissimus rerum omnium gurges Orcus exsorbuerit, nunquam ad colloquium, aut rem aliam aliquam, nisi necessitas cogat, admittuntur. Ne jam dicam, quod tenuis hæc gratia, quæ præter modicum dimensum à patrono ter maximo (talis enim vult haberi) viro erudito nihil impetrat, cum eo [394] extinguatur, raroque ad ejus filios, licet haut degeneres, derivetur. Æneas Sylvius, qui postea Pontificatum indeptus Pius secundus vocari voluit, sua ætate primus & maximus literarum ac literatorum patronus videri voluit: is ipse tamen recusavit Francisci Philelphi, longe ejus ætatis doctissimi Philosophi, Oratoris & Poëtæ, veterisque amici filium Xenophontem, optimum, uti ipse fatetur, adolescentem, paternisque disciplinis imbutum, in familiam suam suscipere. Multa observantur exempla, quæ tum antiqua tum præsens ætas suppeditat, ex immenso tamen acervo unum solum propositum eo. Ante annos non ita multos vir doctissimus sub nomine Architæ Epistameni orbi erudito notissimus, à principe Italiæ, quo aulæ suæ ornamento esset, maximis pollicitatio-
166 ► p. 415. 167 Fronto: Marcus Cornelius Fronto, römischer Redner und Anwalt aus Numidien (2. Jahrhundert, 142 Suffektkonsul), wurde von Antoninus Pius zum Erzieher der Söhne, der späteren Kaiser Mark Aurel und Lucius Verus, bestellt. Bedeutend seine (unvollständig erhaltenen) Briefsammlungen. 168 Gemeint: Byzantiner, die vor den Türken flohen. 169 Megistanum (Nom. Megistanes): exklusiver Terminus, ► Tac. Ann. 15, 27, 3 megistanas Armenios, von den Großen der Armenier. Dazu Koestermann 1968, S. 214: „Die orientalischen Fürsten werden 2, 2, 1 als primores, 2, 58, 1 als proceres gentium bezeichnet. Die spätgriechische Bezeichnung megistanas (auch Sen. epist. 21, 4. Suet. Cal. 5) ist aequivalent mit persischem mehestàn, das von der gleichen Wurzel wie μέγας, magnus etc. gebildet ist.“ 170 D. h., die auch Förderer wie Maecenas, Mark Aurel und die Medici sind. 171 Ein gulae magister sorgt für Essen und Trinken. 172 mediastinus: Schoock wohl aus Hor. Epist. 1, 14, 14 bekannt, „bezeichnet den Sklaven, der für keine besondere Verrichtung geschult und bestimmt, für jede Art von Dienstleistung im Haus wie auf dem Felde bereit stand und somit in der Rangordnung der Sklaven eine ziemlich niedrige Stufe einnahm“ (Kießling, Heinze 1914, S. 120). 173 Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), als Pius II. Papst 1458–1464. 174 Franciscus Philelphus: Francesco Filelfo, italienischer Humanist, Gräzist und Dichter (1398–
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Nero, seines Lehrers Seneca166 Mörder, verfolge! Ich räume ein, daß Männer wie Maro von Mäzenen hoch geschätzt wurden, daß Männer wie Fronto167 ihre Antoninen hatten und die Blüte der vertriebenen Griechen168 Schutz bei den Medici gefunden hat; aber wie wenige sind im Stand der Hofleute und Großen169 zu finden, die dasselbe Gestirn leitet.170 Diejenigen, die den Wissenschaften und Wissenschaftlern etwas zu gewähren scheinen, schätzen sie doch meistens unterhalb der Tafeldiener171 ein und halten sie kaum anständiger und ansehnlicher als irgendeinen Haussklaven.172 Und es wäre nachdrücklich zu wünschen, daß die von der Gelehrsamkeit ausgebildeten Männer bei denen, die sie sich als Patrone ausgesucht haben, auf derselben Stufe der Ehre gehalten würden wie diejenigen, die für die Herren die Pferde oder die Hunde füttern. Denn jene werden öfter von den Gebietern geholt und zu einem Gespräch gerufen. Aber diese werden, gleichsam als ob sie der tiefste Abgrund aller Dinge, der Orkus, verschluckt hätte, niemals zu einem Gespräch oder irgendeiner anderen Angelegenheit zugelassen, wenn nicht eine Notwendigkeit dazu zwingt. Daß ich ferner nicht sage, daß diese dürftige Erkenntlichkeit, die außer einer mäßigen Ration (zum Leben) vom dreimal größten Patron (denn für einen solchen will er gehalten werden) für den gelehrten Mann nichts bewirkt, mit ihm [394] erlischt und selten an seine Kinder, mögen sie auch keineswegs entartet sein, weitergeleitet wird. Aeneas Sylvius, der später den Pontifikat erlangte und Pius II. genannt zu werden wünschte,173 wollte in seiner Zeit für den ersten und größten Förderer der Wissenschaften und der Wissenschaftler gehalten werden: Doch selbst dieser lehnte es ab, des Francesco Filelfo,174 des zu dieser Zeit bei weitem gelehrtesten Philosophen, Redners und Dichters und alten Freundes, Sohn Xenophon – einen, wie er selbst bekennt, gar trefflichen und durch die väterlichen Unterweisungen ausgebildeten Jüngling – in sein Gefolge aufzunehmen. Viele Beispiele werden beobachtet, die einerseits die Antike, andererseits die Gegenwart zur Verfügung stellt; doch mache ich mich daran, aus dem immensen Haufen nur eines vorzustellen. Vor nicht so vielen Jahren wurde ein hochgelehrter Mann, unter dem Namen Archita Epistamenus175 der gebildeten Welt sehr bekannt, von einem Fürsten Italiens, damit er seinem Hof zur Zierde gereiche, mit größten Versprechungen aus seiner vornehmen und reichen Familie,
1481), brachte viele griechische Handschriften von Konstantinopel nach Italien, vielseitig gelehrt, doch eitel und schmähsüchtig (► Sapegno I, 1963, S. 305–306), mit einer Griechin verheiratet (weswegen der zweite Sohn, der Lieblingssohn, einen griechischen Namen, Xenophon, erhielt), übersetzte Xenophons Kyrupaideia, 1460–1470 Kanzler von Ragusa. 175 Archita Epistamenus: Dessen Schicksal wird ebenso genau wie bei Schoock von Ernsten 1694, S. 1137–1139 erzählt. Der ‚Fürst in Welschland‘ ist dort gleichfalls nicht genannt. Als Quelle wird angegeben: Janus Nicius Erythræus, Pinacotheca P[ars]. II. Cap. 42. pag. 136 (gemeint: Gian Vittorio Rossi 1643). Dieses Werk könnte Schoock oder seine Quelle benutzt haben (zu Schoocks möglicher Kenntnis eines anderen Werks von Rossi ► S. 73–74).
118 B. Original und Übersetzung nibus ex familia nobili, & locuplete, in qua cum laude vivebat, est pertractus. Sed cum princeps ille, quod voluit, assecutus est, ingenium suum fecit, nec fere majorem homini honorem habuit, quam si infimi ordinis servulus fuisset. nam viro vere eximio, œnophorum vini, bini singulis diebus panes, & totidem Iulij, cum spira quam ex jure vel vino voraret, desertæ condicionis, longique suscepti itineris merces ac pretium erant. Si viro undiquaque doctissimo & in universo literarum circulo versatissimo hæc acciderunt, quid non exspectabunt literiones ex summa cavea? Ferendum esset, si in aulis invisum foret eruditorum [395] nomen, ac apud illos, ad quos cæcus & perniciosus ille Plutus diverti solet: si modo inter ipsos doctos conveniret, serioque ad asserendam mutuam existimationem conspirarent. Sed, quod deplorandum, quos ab invidia, ac æmulatione alienissimos esse oportuit, toti ex malevolentia, odio, & calumnia videntur esse compositi, & sæpe pro syllaba haut aliter certant, atque pro mœnibus suis Trojani. adeo ut plerorumque eruditorum vita in contradicendo, rixando, & convitiando occupari videatur. Nolo commemorare Athenas, divisasque Philosophorum familias, velut quas Circenses factiones, ad nomen citare: omnis veritatis certissimum auctorem, Homerum, iterum consideretis velim, is præter Siagrum poëtam, maximum æmulum expertus est Zoilum; qui cum Ptolemæo Philadelpho scripta sua contra Iliadem & Odysseam recitasset, ad hoc Homeri statuam virgis flagellasset, aut in crucem fixus est, aut lapidibus obrutus, aut Smyrnæ vivus in pyram conjectus, aut in Olympia ad Scironias petras impulsus, (variant enim sententijs antiqui Scriptores) quorum quodvis etiam ei acciderit, merenti digna, ut ait Pollio Vitruvius, constitit pœna. Nec aliud fatum fuit reliquorum, illustrissimorum licet, poëtarum. Cum Hesiodo
176 ingenium: ‚allerhand Betrug, künstliche Ränke‘ (Kirschius 1774, Sp. 1499). 177 Iuli: ‚die ersten Sprößchen, oder Blätter‘ (Kirschius 1774, Sp. 1593), hier wohl Grünzeug. 178 literio: litterio, ‚Halbgelehrter‘ (Augustin. Epist. 118, 26). ► auch p. 399 und 459. summa cavea: Die im Theater ganz oben befindlichen Plätze waren die schlechtesten (neuzeitl. vergleichbar ‚Olymp‘). 179 Plutus: Plutos, griechischer Gott des Reichtums. 180 Bei den römischen Zirkusspielen gab es vier durch Farben unterschiedene Parteien (factiones), die die Wettkämpfer, etwa beim Wagenrennen, unterstützten. 181 Siagrus: Syagros und die weiter unten erwähnten Kerkops und Amphimanes nennt Diog. Laert. 2, 46 (dem Schoock folgt) Rivalen Homers, Hesiods und Pindars. Zoilos ist der Gott des Neids. Hier ist der Sophist und Rhetor Zoilos von Amphipolis (4. Jahrhundert) gemeint.
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in der er mit Anerkennung lebte, herausgerissen. Aber als dieser Fürst erreichte, was er wollte, handelte er nach seiner (ränkevollen) Anlage176 und hatte für den Menschen fast keine größere Achtung, als wenn er ein Sklave unterster Ordnung gewesen wäre. Denn dem wahrhaft vorzüglichen Mann waren ein Kännchen Wein, an den einzelnen Tagen je zwei Stück Brot und ebensoviele grüne Blätter177 mit einer Brezel, die er aus Brühe oder Wein verschlang, Sold und Belohnung der verlassenen Stellung und der langen Reise, die er unternommen hatte. Wenn das dem auf jedem möglichen Gebiet hochgelehrten und im ganzen Kreis der Wissenschaft hochversierten Mann widerfahren ist, was werden nicht weniger Gelehrte von der Galerie178 erwarten? Es wäre zu ertragen, wenn (nur) an den Höfen der Name der Gelehrten verhaßt wäre [395] und auch bei denjenigen, bei welchen jener blinde und verderbliche Plutus179 einzukehren pflegt, wenn nur unter ihnen selbst Übereinstimmung bestünde und sie ernsthaft zusammenwirkten, um wechselseitiges Ansehen zu behaupten. Aber, was beklagenswert ist: Diejenigen, die der Mißgunst und der Nebenbuhlerschaft am abgeneigtesten sein sollten, scheinen zur Gänze aus Böswilligkeit, Haß und Verleumdung zusammengesetzt zu sein; und oft streiten sie um eine Silbe nicht anders als die Trojaner um ihre Mauern – so sehr, daß das Leben der meisten Gelehrten von Widersprechen, Streiten und Lästern eingenommen zu werden scheint. Nicht will ich Athen anführen und die voneinander abgesonderten Schulen der Philosophen – wie irgendwelche Zirkusparteien180 – beim Namen aufrufen. Ich will, daß ihr den bezüglich der Wahrheit zuverlässigsten Autor, Homer, wiederum betrachtet; der hat außer dem Dichter Syagros181 als größten Nebenbuhler den Zoilos erfahren:182 Als dieser dem Ptolemaios Philadelphos seine Schriften gegen die Ilias und die Odyssee vorgetragen, dazu die Statue Homers mit Ruten gepeitscht hatte, wurde er entweder an das Kreuz geschlagen oder gesteinigt oder in Smyrna lebend auf einen Scheiterhaufen geworfen oder in Olympia an die Skironischen Felsen geschlagen (es variieren nämlich die antiken Schriftsteller in ihren Meinungen) – was ihm davon auch wirklich widerfuhr, war, wie Pollio Vitruvius sagt, eine gerechte Strafe.183 Nicht anders war das Schicksal der anderen, wenngleich hochberühmten Dichter. Wir lesen,184 daß mit Hesiod Kerkops Streitigkeiten in Gang gehalten hatte.185 Pindar wurde von
182 Die folgende Geschichte findet sich bei dem frühaugusteischen Verfasser des Werkes De architectura (10 B.) Vitruvius (das Cognomen Pollio nur in einer unsicheren Nebenüberlieferung belegt) im 7. Buch (8–9). Obwohl Schoock Vitruv nennt, benutzt er wohl (noch) eine andere (auf Vitruv zurückgehende?) Quelle, da seine Version in einigen Punkten abweicht. Die Skironischen Felsen waren nicht in Olympia, sondern bei Megara in Attika. 183 Vitruv. 7, 9 merenti digna constitit poena. 184 Der folgende Passus geht nahezu wörtlich auf Giraldi 1545 zurück (► im einzelnen S. 77–78). 185 Das (verlorene) Epos Aigimios wurde sowohl Hesiod als auch Kerkops von Milet zugeschrieben (► Erich Bethe, RE. Bd. I, 1 (1893), Sp. 963).
120 B. Original und Übersetzung controversias exercuisse Cercopem legimus. Pindarus ab Amphimane Coo, Simonides à Timocreonte lacessitus fuit. nec Virgilio, Horatioque defuere Parones, [396] Mævij, Bavij, atque mortalium arrogantissimi Suffeni: Quos si quis magnorum poëtarum non tam æmulos, quam obtrectatores fuisse existimet, & obtrectando voluisse consequi, quod ab ingenio impetrare non poterant, haud experietur 5 me adversarium. Interim duo illi Socraticæ amœnitatis soles Plato atque Xenophon, non solum visi fuerunt sese æmulari, sed occultis quoque odij stimulis fodicare. Cum Demosthene contendit Æschines; Hortensium, &, si Grammaticis quibusdam credimus, Sallustium infestissimum expertus est Cicero. Marcum Varronem togatorum doctissimum porcum vocavit Palæmon Remmius, Grammatico- 10 rum Latinorum princeps; Lenæus, & ipse non incelebris in urbe Romana Grammaticus, Sallustium historicum acerbissima satyra laceravit, lastaurum & lurconem, & nebulonem, popinonemque appellans: & vita scriptisque monstrosum; præterea, priscorum, Catonisque verborum ineruditissimum furem. &, ne semper circa secula à memoria nostra remotissima hæream, contra Erasmum literas Latinas postlimi- 15 nio Germaniæ restituentem non solum insurrexerunt, sed stylum peracriter strin-
11 1649 / 1650 kein Satzzeichen. Lef. Semikolon.
186 Amphimanes aus Kos: Nach Diogenes Laertios Widersacher Pindars. Für diese und die vorhergehende Nachricht ist Diog. Laert. 2, 46 Quelle. 187 Simonides: ► p. 382. 188 Timocreon: Timokreon von Rhodos, griechischer Lyriker (1. Hälfte 5. Jahrhundert), machte „sich über Simonides lustig (falls Anth. Pal. 13. 31 mit 13. 30 authentisch sind)“ (Emmet Robbins. In: DNP 12, 1 (2002), Sp. 587). 189 Die genannten Dichter, die Vergil und Horaz angegriffen hätten, sind schwer zu fassen. Vergil Buc. 3, 90 nennt Mevius und Bavius, Horaz Epod. 10, 2 Mevius. Zu diesen ► Schanz, Hosius. Bd. 2 (1935), S. 98. M(a)evius wird auch p. 485 erwähnt (► dort). Mit Suffenus könnte der von Catull 14, 19 und 22, 1 genannte Suffenus gemeint sein, den er Gift (venenum) und Witzling (dicax) nennt. Wenn er Vergil und Horaz angegriffen hatte, müßte er Catull um einiges überlebt haben. Ein Dichter Paro ist unbekannt. Parones: Vielleicht schrieb Giraldi (den sein Drucker ‚verbesserte‘) barones (‚Klötze‘, ‚Tölpel‘, ‚einfältige Menschen‘ wie Pers. 5, 138, wo baro nach Kißel 1990, S. 706 für den ‚geistig unterentwickelten Kraftmeier‘ steht), bezogen auf die folgenden abgewerteten Dichter. Die Charakterisierung wäre jedenfalls sehr treffend. 190 Xenophon: Xenophon von Athen, griechischer Historiker und Sokratiker (ca. 430– ca. 354). 191 Quelle: Diog. Laert. 3, 34 (Hinweis von Gustav Adolf Seeck). 192 Demosthenes: Griechischer Redner und Politiker (384–322). 193 Aeschines: Aischines, griechischer Redner und Politiker (4. Jahrhundert). Über die Rivalität mit Demosthenes ► Evangelos Alexiou. In: HGL 2 (2014), S. 827.
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Amphimanes aus Kos,186 Simonides187 von Timokreon188 herausgefordert. Noch fehlten Vergil und Horaz Männer (Kritiker) wie Paro,189 [396] Maevius, Bavius und der anmaßendste der Sterblichen, Suffenus. Wenn einer bedenkt, daß diese nicht so sehr Konkurrenten der großen Dichter gewesen sind als vielmehr Nacheiferer und durch mißgünstiges Verhalten das erreichen wollten, was sie von ihrem Ingenium nicht erlangen konnten, wird er mich nicht als Gegner erfahren. Indes schienen jene beiden Sonnen sokratischer Anmut, Platon und Xenophon,190 einander nicht allein nachzueifern, sondern auch mit verborgenen Stacheln der Abneigung zu stechen.191 Mit Demosthenes192 kämpfte Aischines;193 Hortensius194 und, wenn wir einigen Grammatikern glauben, Sallust195 erfuhr Cicero als sehr feindlich. Marcus Varro, den gelehrtesten der Togaträger,196 nannte Remmius Palaemon, ein Erster der römischen Grammatiker, ein Schwein;197 Lenaeus, ebenfalls ein nicht unbekannter Grammatiker in Rom,198 zerriß den Historiker Sallust mit einer äußerst bissigen Satire, indem er ihn ‚einen unzüchtigen Menschen und Fresser199 und Windbeutel und Schlemmer200‘ nannte und ‚abenteuerlich in Leben und Schriften‘, außerdem ‚einen äußerst ungebildeten Dieb alter und Catonischer Wörter‘. Und damit ich nicht immer in dem Bereich der von unserer Geschichte sehr weit entfernten Jahrhunderte festhänge: Gegen Erasmus, der die lateinische Wissenschaft201 nach langer Zeit202 in Germanien203 wiederherstellte, erhoben sich nicht nur, sondern tadel-
194 ► p. 380. 195 Sallustius: Gaius Sallustius Crispus, römischer Politiker und Historiker (86–34). Hauptwerke: De coniuratione Catilinae, De bello Iugurtino und Historiae. Die Echtheit der Invektive In M. Tullium Ciceronem Oratio ist umstritten. 196 togatorum: d. h. der Römer. 197 Remmius Palaemon: Römischer Grammatiker (1. Jahrhundert n. Ch.). Schoock bezieht sich auf Suet. De gramm. 23: arrogantia fuit tanta, ut M. Varronem porcum appellaret. ► zu Grégoire S. 84. In der Rede Quomodo quis ad culmen Philosophiæ pervenire possit, ad quod soli antiqui Philosophi pervenerunt nennt Schoock Remmius wegen dieses Urteils bipedum arrogantissimus (1650, p. 259). 198 Lenaeus: Pompeius Lenaeus, Freigelassener des Pompeius (1. Jahrhundert v. Chr.), verfaßte eine Satire gegen Sallusts Historiae, in der er für Pompeius eintrat. Schoock bezieht sich auf Suet. De gramm. 15, 2: tanto amore erga patroni memoriam extitit, ut Sallustium historicum, quod eum ‚oris probi animo inverecundo‘ scripsisset, acerbissima satura laceravit, lastaurum et lurconem et nebulonem popinonemque appellans, et vita scriptisque monstrosum, praeterea priscorum Catonis verborum ineruditissimum furem. ► zu Grégorio S. 92. 199 lurco edax: Plaut. Pers. 412. 200 popino: Hor. Sat. 2, 7, 39. 201 Gemeint: die (neue) Wissenschaft in lateinischer Sprache. 202 postliminio: ‚nach langer Zeit‘ (Kirschius 1774, Sp. 2212). 203 Germania umfaßt bei Schoock außer Deutschland auch (wie hier und p. 458) die Niederlande sowie die deutschsprachige Schweiz (p. 397).
122 B. Original und Übersetzung xerunt Leus, Stunica, Caranza, Latomus, Sutor, & qui non? ut taceam certamina, quæ post editum Novum Testamentum, ab omnibus prope Monachorum Ordinibus ei creata sunt. Licet vero ipsa invidia teste optime de re literaria sit meritus, maximumque rei literariæ fuerit decus, [397] vivus tamen ferre debuit, ut quidam Doctor Constantiensis imaginem suam chartæ impressam, ostio musei affigeret, 5 tantum, ut quoties inambulando præteriret eam, conspueret: mortuus vero, ab ijs ipsis, quibus præ alijs semper placere studuit, Lucianus Batavus salutatur. Philelphum universus Fratrum Minorum ordo ob revocatas humaniores literas, dictumque aculeatum in Bernardinum Senensem jactatum, insectatus fuit, & parum quin perdiderit. Calderinus, Galeottus, & Politianus, viri omnes summi, non solum 10 inimicitias, dum viverent, inter se coluerunt acerbissimas; sed, omnes post excessum debuerunt subjici ferulæ Georgij Merulæ, qui publicatis in scripta eorum aculeatis Annotationum libellis, magnam apud stupentes Grammaticos famam acquisivit. Mirum vero quam in omnes æquales Poggius, cætera non indoctus, debacchatus fuerit. Cum Georgio Trapezontio in Theatro Pompeij, celebri quodam 15 die male diceret, gemino colapho ab eo fuit percussus. Alias, amarulento libello in 204 Das ist eine stattliche Reihe. Gail 1974, S. 76 hebt die „wohlberechneten Angriffe etwa des Engländers Edward Lee, des Niederländers Jakob Latomus und des Spaniers Jakob Lopis Stunica“ hervor. Zu Lee ► Huizinga 1958, S. 120, zu Latomus dens. S. 133, zu Stunica dens. S. 140. Caranza: Sancho Carranza de Miranda, Theologe an der Universität von Alcalá ca. 1510–1518, veröffentlichte 1522 in Rom Opusculum in quasdam Erasmi annotationes. Sutor: Petrus Sutor, französischer Theologe, Kartäuser, veröffentlichte 1515 in Paris De tralatione Bibliae, et novarum reprobatione interpretationum. Dieses Buch führte noch in demselben Jahr zu einer heftigen Korrespondenz mit Erasmus. 205 Die Kritik der Kirche war in der Tat umfassend (► die vorhergehende Anm.). 1559 wurden auf dem Konzil von Trient Erasmus’ Schriften (darunter auch die Ausgabe des Neuen Testaments) indiziert. Von den in der vorhergehenden Anm. genannten Widersachern waren Lee, Latomus und Stunica keine monachi, wohl aber Caranza (Dominikaner) und Sutor (Kartäuser). Scharf und erbittert war Erasmus’ Streit mit einer Gruppe spanischer Mönche, die die Inquisition gegen ihn in Bewegung brachten (► Huizinga 1958, S. 141). 206 museum: Ort, der den Musen geweiht ist, z. B. Studierstube, Biblothek u. ä. (► Lefèvre 2020, S. 134 Anm. 471). 207 Erasmus schrieb am 28. März 1531 an Nicolaus Mallarius: Est quidam canonicus Constantiensis qui mei effigiem in charta impressam habet in conclaui suo, non ob aliud nisi vt, quum inambulat, quoties eam praeterit, conspuat: percontantibus odii causam, respondet se mihi acceptum ferre hoc calamitosum seculum. Exulat enim illius collegium Constantia, vixque dimidium redditur ex decimis. Hinc illae lachrymae (Epist. 2466, in: Erasmus 1938, S. 226, Hinweis von Ingo Schaaf). 208 Starke Abwertung des Erasmus: Lukian wird p. 384 sanniorum princeps (‚Erster der Hanswurste‘) genannt. 209 Philelphus: ► p. 394. 210 Fratres Minores: Franziskaner. 211 Bernadinus Senensis: Bernhardin von Siena, italienischer Franziskaner (1380–1444), 1450 heiliggesprochen, aufgrund seiner konsequenten Schriften und Predigten vielfach bekämpft.
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ten auch sehr heftig seinen Stil Lee, Stunica, Caranza, Latomus, Sutor204 und wer nicht? – damit ich von den Streitereien schweige, die ihm nach der Herausgabe des Neuen Testaments von fast allen Mönchsorden bereitet worden sind.205 Obwohl er sich wahrlich – selbst nach dem Zeugnis der Mißgunst – in vortrefflichster Weise um die Wissenschaft verdient gemacht hat und die größte Zierde der Wissenschaft gewesen ist, [397] hat er doch zu Lebzeiten ertragen müssen, daß ein Doktor aus Konstanz sein Bild auf Papier druckte und es an den Eingang der Studierstube206 heftete – nur damit er, sooft er beim Hin- und Hergehen an ihm vorbeikam, es anspuckte.207 Nach dem Tod aber wurde er selbst von denen, denen er vor anderen immer zu gefallen sich bemühte, als Niederländischer Lukian begrüßt.208 Den Filelfo209 hat der ganze Orden der Fratres Minores210 wegen des Widerrufs der höheren Wissenschaften und eines mit Stacheln versehenen Wortes, das er gegen Bernhardin von Siena211 geschleudert hatte, verfolgt und beinahe zugrundegerichtet. Calderini,212 Galeotto213 und Poliziano,214 alles bedeutendste Männer, pflegten nicht nur, solange sie lebten, schärfste Feindschaften untereinander, sondern mußten sich alle nach dem Tod der Knute215 des Giorgio Merula216 unterwerfen, der durch die Veröffentlichung geharnischter Bücher mit Bemerkungen gegen ihre Schriften großen Ruhm bei den verblüfften Philologen erwarb. Es ist wirklich verwunderlich, wie Poggio,217 der doch nicht ungebildet war, gegen alle Zeitgenossen ausrastete. Als er Georg von Trapezunt218 im Theater von Pompeji an einem belebten Tag schmähte, wurde er mit einem doppelten Faustschlag von diesem getroffen. Weil er ein andermal Lorenzo Valla219 mit einem bitteren Buch 212 Calderinus: Domizio Calderini, italienischer Humanist in päpstlichen Diensten (1446–1478), edierte Statius’ Silvae (von Poliziano scharf kritisiert) und kommentierte mehrere lateinische Autoren. 213 Galeottus: Galeotto Marzio, italienischer Humanist, Arzt und Astronom (ca. 1427–1497). 214 Politianus: Angelo Poliziano, italienischer Humanist und Dichter (1454–1494), galt als einer der bedeutendsten Vertreter des neuen Typs des höfischen Humanisten (Hardt 1996, S. 238). 215 ferula: Gertenkraut, dessen Stengel als Strafrute diente: Mart. 10, 62, 10 ferulaeque tristes, sceptra paedagogorum. 216 Georgius Merula: Giorgio Merula, italienischer Humanist (ca. 1430–1494), lehrte u. a. an der Scuola di San Marco in Venedig, bekannt als Polemiker, etwa gegenüber den zuvor genannten Galeotto Marzio und Domizio Calderini (post excessum ist ungenau: Merula überlebte Galeotto nicht und starb im selben Jahr wie Poliziano). 217 Poggius: Gian Francesco Poggio Bracciolini, italienischer Humanist (1380–1459), einer der bedeutendsten Entdecker von Handschriften antiker Werke. Im folgenden sind die fünf Invektiven gegen Valla (1452–1453) gemeint. 218 Georgius Trapezuntius: ► p. 462. 219 Laurentius Valla: Lorenzo Valla, italienischer Humanist (1407–1457), war für sein Grammaticum fel bekannt; «è la mente critica più robusta, il polemista più arguto e più ardito del Quattrocento» (Sapegno I, 1963, S. 294). p. 421 werden seine Elegantiarum linguae Latinae libri VI erwähnt, in denen es um die Eleganz der lateinischen Sprache geht.
124 B. Original und Übersetzung Laurentium Vallam invectus, ab eodem male audiendo, pœnas maledicentiæ cumulatas luit, coactusque est audire, quod nihil boni fecerit, quam quod Fabij Quintiliani libros in salsamentaria taberna repertos in lucem protulerit, Ciceronisque libros de Finibus & de Legibus à se in Germania descriptos, primus attulerit in Italiam. Idem Valla, alias, non modo Antonium Raudensem, sed & Bar[398]tholo- 5 mæum Facium Ligurem, & Antonium Panormitam Siculum, viros omnes summos, Grammatico suo felle turgidus, jugulare laboravit. Ioannes Iovianus Pontanus vixdum cedro dignissima monumenta orbis eruditi censuræ subjecerat, & ex seculi illius viris eruditissimis, quis scribere non dubitavit, eum quædam Ciceronis volumina in Casinatis montis, non incelebri bibliotheca reperisse: quæ mox, paullum, 10 sed (quod necesse fuit) in deteriorem partem commutata, ut abs se composita, ediderit. Sic, cum Angelus Politianus Herodianum cultissime à se in Latinam linguam translatum evulgasset, æmuli, viri & ipsi docti, sparserunt, laborem eum fuisse Gregorij Tiphernatis. Quantus vir fuerit Thomas Morus, quotquot Musis Gratijsque litarunt, exploratissimum habent. A Iulio Scaligero parco admodum 15 aliorum præcone, vocatur vir doctus omnique tyrannide major: à Gyraldo Socrates Anglicus, à Scævola Sammarthano Britannorum doctissimus: exortus tamen inter
220 ► p. 396. 221 Poggio hat anläßlich des Konzils von Konstanz 1416 in St. Gallen in 53 Tagen die Institutio oratoria abgeschrieben und sodann nach Italien gebracht (► Rahn. Bd. 1 (1988), S. XII). Des weiteren hat er bei Reisen von Konstanz aus u. a. mehrere bis dahin unbekannte Schriften Ciceros entdeckt, nicht jedoch die beiden von Schoock genannten. Sie kopierte er nach bekannten Manuskripten in Italien wie andere in der von ihm entwickelten beispielgebenden Schrift. 222 Antonius Raudensis: Antonio da Rho, italienischer Humanist (ca. 1398 bis nach 1450), Franziskaner, schrieb zwischen 1430 und 1443 De imitatione eloquentiae, von Valla kritisiert: Elegantiarum libri sex […], item Adnotationes eiusdem in Antonium Raudensem. Apologus seu actus scenicus in Poggium Florentinum (Argentorati 1517). 223 Bartholomæus Facius: Bartolomeo Facio, italienischer Humanist und Historiker aus La Spezia (vor 1410–1457). Valla veröffentlichte gegen ihn eine Invektive Antidotum in Facium (neu herausgegeben von Mariangela Regoliosi, Padova 1981). 224 Antonius Panormita: Antonio Beccadelli, italienischer neulateinischer Dichter, nach seinem Geburtsort Palermo Panormita genannt (1394–1471), schrieb in der Nachfolge Catulls und Martials scharf pointierte Epigramme: Hermaphroditus (1424). ► auch p. 406 vir summus idemque calculosus. 225 Ioannes Iovianus Pontanus: Giovanni Pontano, italienischer Dichter und Humanist (1426– 1503), leitete die nach ihm benannte Accademia Pontaniana in Neapel, verfaßte lateinische Traktate und Dialoge philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalts (zum Dialog Charon ► p. 428), ferner das Hirtengedicht Lepidina und Epigramme (De amore coniugali). Zum angeblichen CiceroPlagiat ► im folgenden zu Poliziano. 226 cedrus: ‚Zedernöl‘, mit Zedernöl bestrichene Bücher galten als der Unvergänglichkeit würdig, horazische Prägung: carmina […] linenda cedro (Ars 331–332), danach Pers. 1, 42 cedro digna locutus.
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angegriffen hatte, erlitt er, indem er von demselben Lästerungen hörte, reichliche Strafen für die Schmähungen und wurde gezwungen anzuhören, daß er nichts Gutes geleistet habe, als (außer) daß er die in einem Salzfischladen entdeckten Bücher des Fabius Quintilianus ans Licht geholt und Ciceros von ihm in Germanien220 abgeschriebene Bücher De finibus und De legibus als erster nach Italien gebracht habe.221 Derselbe Valla bemühte sich ein anderes Mal, nicht allein Antonio da Rho,222 sondern auch Bartolomeo [398] Facio,223 den Ligurer, und Antonio Panormita,224 den Sizilier – alle vorzüglichste Männer –, strotzend von seiner Grammatikergalle, zu vernichten. Giovanni Pontano225 hatte noch kaum der Unsterblichkeit226 besonders würdige Werke der Zensur der gelehrten Welt unterbreitet, als227 einer von den gelehrtesten Männern jener Zeit nicht zu schreiben zögerte, er habe bestimmte Bücher Ciceros in der hochberühmten Bibliothek von Monte Cassino gefunden, die er bald darauf – ein wenig, aber (was unvermeidlich war) zur schlechteren Seite hin geändert – herausgegeben habe, als seien sie von ihm verfaßt. So verbreiteten, als Angelo Poliziano228 den von ihm sehr gepflegt in die lateinische Sprache übersetzten Herodian veröffentlicht hatte, Konkurrenten – auch selbst gelehrte Männer –, das sei die Arbeit von Gregorio da Tiferno gewesen.229 Ein wie großer Mann Thomas More230 gewesen ist, halten alle, die den Musen und Grazien geopfert haben, für höchst ausgemacht. Von Julius Scaliger231 – nur sehr wenig ein Lobredner anderer – wird er ein Mann genannt, der gelehrt und größer als jede Tyrannenherrschaft ist, von Giraldi232 englischer Sokrates, von Scévole de Sainte-Marthe233 der gelehrteste der Briten:234 Es erstand jedoch unter 227 vixdum &: Zur Konstruktion ► Hofmann, Szantyr 1965, S. 481–482. 228 Politianus: ► p. 397. Zu den (unzutreffenden) Vorwürfen, Pontano habe in Monte Cassino gefundene Werke Ciceros als eigene herausgegeben und Polizianos Übersetzung des Herodian Herodiani historiae de imperio post Marcum vel de suis temporibus (Bologna 1493) stamme von Gregorio da Tiferno, ► Kivisto 2014, S. 130. 229 Gregorius Tiphernas: Gregorio da Tiferno, italienischer Gräzist und Humanist (1414–1462), übersetzte Aristoteles, Theophrast, Strabon, Dion Chrysostomos und andere antike Autoren. 230 Thomas Morus: Thomas More, englischer Staatsmann und Humanist (ca. 1478–1535), von Heinrich VIII. zum Tode verurteilt (tyrannis spielt darauf im folgenden an), 1935 heiliggesprochen, einer der herausragenden Gelehrten und Latinisten seiner Zeit. 231 Iulius Scaliger: Giulio Cesare Scaligero, italienischer Humanist und Dichter (1484–1558), sehr einflußreich die Poetices libri septem (postum Lyon 1561). 232 Gyraldus: Lilio Gregorio Giraldi aus Ferrara, italienischer Gelehrter, Mythograph und Dichter (1479–1552). 233 Scaevola Sammarthanus: Scévole de Sainte-Marthe, französischer neulateinischer Dichter (1536–1623), publizierte in (Neu)latein und Französisch. 234 Die drei Charakterisierungen von Thomas Morus sind in der humanistischen Literatur verbreitet und werden nicht immer denselben Verfassern zugewiesen. So hat Scaliger Thomas Morus in einem Brief Socrates Anglicus genannt (Blount (1690) 1710, S. 562). Andererseits wurde Morus auch von anderen als omni tyrannide major gepriesen.
126 B. Original und Übersetzung Gallos quis Germanus Brixius, qui non dubitavit Antimorum scribere, quo probet virum toto orbe celeberrimum vix Latine scire. Quid dicam vero de incomparabili & divino heröe Iulio Cæsare Scaligero, quem cum Xenophonte non dubitat componere Thuanus, cum ipso Aristotele, qui utriusque monumenta diligenter ruspati fuerunt. Ei ut fuerunt æmuli sine numero, ita ipse lacessere visus est invidiam, 5 cum in opere, alias [399] ad unguem facto, quod de Re Poëtica scripsit, censura notare instituit tot qua antiquos, qua recentiores ex Orchestra & Quatuordecim poëtas. Nescio vero an non Scaliger in Scaligerum magis, quam in Cardanum injurius fuerit, cum Mathematicum & Medicum magni nominis, qui in quibusdam, (fremat licet invidia) plus homine sapit, haut aliter quam scholasticum quem lite- 10 rionem aut philosophastrum excipit. Patre remissior, haut quaquam tamen minor Iosephus Scaliger, obtinere non potuit Dictaturam illam in re literaria citra multorum latratus; contra quos dum insurgit, quædam obliviscitur docere, quæ scire nos summopere referret. Haut magis probare possum Cujacij & Annæi Roberti velitationes. Enimvero magnus ille Iurisconsultorum Plato, in gradu mansisset, si 15 alios quoque, ut Iurisconsultos saltem, agnovisset, pauloque lenius cum ijs egisset, qui juris majestatem contra criticam pruriginem serio defendere instituerunt. Sibi invicem molestias exhibuerunt Zabarella & Piccolominæus, ambo subactissimi ingenij, judicijque summi Philosophi, ad hoc, ejusdem cathedræ sidera, & Acade-
1 1649 Brixjus. 1650 Brixius.
235 Germanus Brixius: Germain de Brie, französischer Humanist und Dichter (1490–1538), 1512 Sekretär der Königin Anne de Bretagne, zwischen 1517 und 1520 literarische Fehde mit Thomas Morus, 1519 erschien die lateinische Verssatire Antimorus in Paris. 236 ► p. 396. 237 Thuanus: Jacques-Auguste de Thou, französischer Historiker und Staatsmann (1553–1617), Katholik, wurde, da er an der Ausarbeitung des Edikts von Nantes (1598) beteiligt war, als parteiisch für die Hugenotten angegriffen, zumal hinsichtlich seines vielbändigen in mehreren Auflagen 1604–1614 erschienenen Hauptwerks Historia mei temporis (► auch p. 400 und p. 477). 238 ad unguem facto: ► p. 378. 239 Orchestra: der für die Senatoren bestimmte Teil des Theaters im alten Rom. Quatuordecim: die für die Ritter bestimmten 14 Bänke daselbst (► auch p. 431). 240 Cardanus: Gerolamo Cardano, italienischer Arzt, Philosoph und Mathematiker (1501–1576), 1544 Professor der Medizin in Pavia, 1563 in Bologna, weithin angesehen. 241 literio: ► p. 394. 242 Scaliger kritisierte in den Exercitationes exotericae de subtilitate (Paris 1557) Cardanos Werk De subtilitate (Nürnberg 1550). 243 Iosephus Scaliger: Joseph Justus Scaliger, französischer Klassischer Philologe italienischer Abkunft (1540–1609), Sohn von Julius Caesar Scaliger, Nachfolger von Justus Lipsius an der Universität Leiden. 244 Cujacius: Jacques (de) Cujas, französischer Jurist (1522–1590), lehrte an der Universität Bour-
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den Franzosen ein Germain de Brie,235 der keine Bedenken trug, einen Antimorus zu schreiben, um nachzuweisen, daß der auf dem ganzen Erdkreis hochberühmte Mann kaum Latein könne. Was soll ich aber über den unvergleichlichen und göttlichen Heros Julius Caesar Scaliger sagen, den mit Xenophon236 zu vergleichen de Thou237 keinen Zweifel hegt, selbst mit Aristoteles diejenigen nicht, die beider Werke sorgfältig erforscht haben. Wie er Konkurrenten ohne Zahl hatte, so schien er selbst die Mißgunst herauszufordern, wenn er in dem – im übrigen [399] ausgefeilten238 – Werk, das er über die Poetik geschrieben hat, unternahm, so viele Dichter, antike wie neuere, aus der Orchestra und aus dem Bereich der Vierzehn239 mit einem Tadel zu belegen. Ich weiß wirklich nicht, ob nicht Scaliger ungerechter gegen Scaliger als gegen Cardano240 gewesen ist, wenn er den Mathematiker und Arzt mit einem großen Namen, der auf manchen Gebieten (mag auch der Neid schnauben!) mehr als ein Mensch Verstand hat, nicht anders als einen scholastischen Halbgelehrten241 oder Scheinphilosophen242 aufnimmt / auslegt. Entspannter als der Vater, doch keineswegs unbedeutender, konnte Joseph Scaliger243 nicht jene Diktatur in der literarischen Welt innehaben, ohne viele anzubelfern; während er gegen diese aufstand, vergaß er bestimmte Dinge zu lehren, die zu wissen uns äußerst zuträglich wäre. Ebensowenig kann ich die Plänkeleien von Cujas244 und Jean Robert245 gutheißen. In der Tat wäre jener große Platon der Rechtsgelehrten im Schritt246 geblieben, wenn er auch andere, wenigstens als Rechtsgelehrte, anerkannt hätte und ein wenig sanfter mit denen umgegangen wäre, die die Majestät des Rechts gegen das kritische Jucken247 ernsthaft zu verteidigen unternahmen. Sich selbst schufen Zabarella248 und Piccolomini249 gegenseitig Belästigungen, beide von einem sehr durchgebildeten Verstand und Philosophen von höchster Urteilskraft, dazu Gestirne desselben Lehrstuhls und Zierden der Univer-
ges, nicht aber an der Universität seiner Heimatstadt Toulouse (► p. 408), „kann im Kreise der europäischen, v. a. französischen Juristen als die überragende Gestalt angesehen werden“ (Jochen Otto in Stolleis 1995, S. 147). 245 Annaeus Robertus: Jean Robert, französischer Jurist (1559–1618). Zu den heftigen Streitigkeiten zwischen Cujas und Robert ► Spangenberg 1822, S. 179–183: „Erläuterungen über die Zwistigkeiten, welche Cujas mit Robert hatte, über die bei Gelegenheit derselben vorgekommenen Beschuldigungen und über die Anekdote von der Augustiner-Nonne“. 246 in gradu: Bild aus der Fechtersprache, ‚im Schritt / im Stand bleiben‘. 247 critica prurigo: das Jucken, Kritik zu üben. Balde spricht El. 14 vom pruritus scribendi libros / ‚Jucken, Bücher zu schreiben‘ (► Lefèvre 2017, S. 94). 248 Zabarella: Jacopo Zabarella aus Padua, italienischer Philosoph (1533–1589), Vertreter des italienischen Renaissance-Aristotelismus, Professor in Padua. ► auch die folgende Anm. 249 Piccolominaeus: Francesco Piccolomini aus Siena, italienischer Philosoph (1520–1604), Vertreter des averroistischen Aristotelismus, Professor an verschiedenen italienischen Universitäten, zuletzt in Padua, verfaßte 1583 die Universa philosophia de moribus gegen Zabarella (mehrfach aufgelegt). 1584 antwortete Zabarella mit der Schrift De doctrinae ordine apologia.
128 B. Original und Übersetzung miæ ornamenta. Cæsalpinum, vere magnum, parum clementer excepit Nicolaus Taurellus. Patricium virum ingeniosum, novarumque sententiarum eruditum architectum, minus benivole varij redarguere studuerunt. Ipse vero nimium quam infestus viro supra viros Aristoteli, plurimis exemplum [400] fecit debacchandi præter merita, in illum qui est atque erit, summus rerum omnium judex, vernaculaque sapientiæ proles & alumnus. Maximus inter medicos maximo suo merito censetur Matthiolus, ei autem nihil cedit, quod ad plantarum scientiam, Guilandinus. incredibile vero, quo ardore atque vehementia, lectum hoc inter devotos Æsculapio viros par, se mutuo verberarit, concusseritque. Matthiolus cætera vir modestus, præfectusque Medicorum Cæsareorum adeo sui obliviscitur, ut non dubitet ob nomenclaturam unius plantæ, in libro typis exscripto Guilandinum vocare nebulonum omnium principem. Incomparabilis temporis nostri Historicus Iacobus Thuanus, sæpe cuidam, qui nomen à Pistore fert, in Volusianis Annalibus vapulat. Sed quorsum privis exemplis immoror? Quod de Philosophis suo seculo dixit Seneca, in omnes eruditos quadrat: Facilius inter horologia, quam inter eos conveniat. Suspicione, æmulatione, invidia, odioque tum maxime æstuant, quando videri volunt hæc omnia exsuxisse. Carmen, aut epistola, quæ plausum impetrare digna, à trecentis veru jugulatur, ne, quod meretur, consequatur. nihil est tam sapienter excogitatum, tam argute dictum, tam rotunde scriptum, contra quod mox Aristarchi & Theones non surgant. quod vero maxime deplorandum, qui præ alijs
17 1649 / 1650 exsuisse. Lef. exsuxisse. | 18 1649 jugulatur. 1650 jugalatur.
250 Caesalpinus: Andrea Cesalpino, italienischer Philosoph, Mediziner, Naturwissenschaftler (ca. 1520–1603). ► auch die folgende Anm. 251 Nicolaus Taurellus: Nikolaus Öchslin, deutscher Mediziner, Philosoph, luth. Theologe (1547– 1606), Professor in Basel und Altdorf, wandte sich in mehreren Schriften gegen Cesalpino, etwa in den Alpes caesae (Frankfurt 1597). Zu dem Streit ► Muratori 2014, S. 41–66. 252 Patricius: Francesco Patrizi / Patrizzi, italienischer (aus Dalmatien stammender) Philosoph (1529–1597), Professor für Platonische Philosophie in Ferrara, Hauptwerk: Nova de universis philosophia, 4 Teile (Ferrara 1591), einer der profiliertesten Gegner des Aristotelismus, vor allem in: Discussiones Peripateticae (I–IV, Basel 1581). 253 vernaculus: ein im Haus geborener Sklave, der dem Haus direkt zugehört. 254 Matthiolus: Pietro Andrea Gregorio Mattioli, italienischer Arzt und Botaniker (1500 / 1501– 1577), Leibarzt von Erzherzog Ferdinand II. von Österreich und Kaiser Maximilian II. Zur Fehde mit Wieland ► Herrmann 2015, S. 3–4, ferner Findlen 2017, S. 176. 255 ► p. 391. 256 Der Streit samt dem Zitat wird nachgewiesen in: de Grebner 1702 (Tractatus IV, S. 15). 257 ► p. 398. 258 Wohl verächtlich für Pistorius (Pistor = ‚Müller‘, ‚Bäcker‘).
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sität. Cesalpino,250 den wahrhaft Großen, griff Nikolaus Öchslin251 heftig an. Patrizi,252 den hochbegabten Mann und gelehrten Architekten neuer Lehrsätze, versuchten verschiedene zu wenig wohlwollend zu widerlegen. Er selbst aber, mehr als feindlich dem Mann über die Männer hin, Aristoteles, gesonnen, gab recht vielen ein Beispiel [400] des Sichabtobens wider die Verdienste gegen den, der der höchste Richter über alle Dinge ist und sein wird, der Weisheit direkter253 Nachkomme und Zögling. Als größter unter den Ärzten wird aufgrund seines größten Verdienstes Mattioli254 geschätzt; ihm aber weicht in nichts, was die Wissenschaft von den Pflanzen angeht, Wieland.255 Es ist wahrlich unglaublich, mit welcher Hitze und Heftigkeit sich dieses auserwählte Paar unter denen, die sich Äskulap geweiht haben, gegenseitig geplagt und zerrüttet hat. Mattioli, ein im übrigen bescheidener Mann und Vorsteher der Kaiserlichen Ärzte, vergaß seiner so sehr, daß er nicht Bedenken trug, Wieland wegen der Benennung einer einzigen Pflanze in einer gedruckten Schrift den ‚Ersten aller Windbeutel‘ zu nennen.256 Der unvergleichliche Historiker unserer Zeit Jacques de Thou257 bezieht oft bei jemandem, der den Namen vom Pistor (Müller / Bäcker)258 führt, in seinen Volusianischen Annalen259 Prügel. Aber wozu verweile ich bei einzelnen Beispielen? Was Seneca über die Philosophen in seinem Jahrhundert gesagt hat, paßt auf alle Gelehrten: Leichter kann es unter den Uhren260 als unter jenen zu einer Übereinstimmung kommen.261 Mit Verdächtigung, Wetteifer, Mißgunst und Haß toben sie dann am meisten, wenn sie sich den Anschein geben wollen, alles das (aus sich) herausgesaugt zu haben.262 Ein Gedicht oder ein Schreiben, das würdig ist, Beifall zu erlangen, wird von dreihundert (Kritikern) mit dem Spieß263 zur Strecke gebracht, damit es nicht das erlangt, was es verdient. Nichts ist so weise ausgedacht, so beredt gesagt, so abgerundet264 geschrieben, gegen das sich nicht bald Leute wie Aristarch265 und Theon266 erheben. Was aber am meisten beklagenswert: Wer vor
259 Catull läßt sich zweimal drastisch spottend über das Geschichtswerk (Annales) eines Volusius aus (cacata carta: 36, 1 u. 20). 260 Sonnen- bzw. Wasseruhren. 261 Seneca: ► p. 415, Anspielung auf Apocol. 2, 2: facilius inter philosophos quam inter horologia conveniet. 262 Es ist wohl exsuxisse zu lesen (► das zu p. 426 zitierte Tertullian-Zitat). 263 veru: der kritische Spieß am Rand einer Schrift, der bedeutet, daß ein Wort unecht sei, ► Hieronymus Epist. 135, 10. p. 421 wird das Bild in pointierter Weise wörtlich verwendet: infesto veru iugulare. 264 rotundo: indirektes Horaz-Zitat: Grais dedit ore rotundo | Musa loqui (Ars 323–324). 265 Aristarchus: Aristarchos aus Samothrake, bedeutender alexandrinischer Grammatiker (1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.), galt sprichwörtlich als Kritiker, ► Horaz Ars 450. 266 Horaz spricht Epist. 1, 18, 82 vom dente Theonino, dem (Gift)zahn eines nicht weiter bekannten Theon (Ps.Acro nennt einen Luthienus Theon libertinus und betont seine amaritudo dicacitatis); er wird auch p. 413 und 455 erwähnt.
130 B. Original und Übersetzung oblitus est humanitatis, adversariumque, quem sine judicio ut plurimum deligit, sale quam ni[401]gerrimo defricuisse, frigidaque perfudisse videtur, quasi piscatores in Ellopis piscis captura, gaudio exultat, magnumque & per secula memorabile nomen promeritum se credit. De Theologorum filijs nihil adhuc dixi. Inter eos sine missione non solum de necessarijs fidei dogmatibus, sed de re plane nihili ut plurimum ad convitia usque, Ecclesiæque schisma, litigatur. Ferendum vero esset, si talia certamina intercederent inter eos, quos cum Spiritu Antichristi spiritus confusionis intravit, Fratresque Cordigeri disputarent de explicatione regulæ Francisci. Illi ipsi, qui Reformatæ religioni mores similes copulare deberent, voluntque videri rigidissimi honesti exactores, plerumque modestiæ, tolerantiæ, & quod deplorandum maxime, charitatis, sic obliviscuntur, ut cœlum terræ miscere malint, quam leviculum quid ex ijs, quæ ipsa Scriptura Adiaphora censet, pacis concordiæque gratia concedere. De innocentibus (qui multi per Dei gratiam) ijsque qui volentes nolentes à gravioribus studijs ad hæc certamina pertrahuntur, non loquor, sed de ijs, quos Genius, consuetudo, audacia, & triumphi potius spes, quam conscientia ad hæc vocat; quibus nisi barba & pallium pietatis quam speciem conciliarent, diceres non Circes quidem, sed Eridis poculo fascinatos, ad hoc vivere, ut alijs molestias creent, & Ecclesiam non minus, quam Remp. inquietent. Aliunde si nobis non constaret, ex so[402]lis tamen librorum titulis (pro quibus hoc hominum genus vadimonium quoque deserere paratum est) constare posset. Gustulum tantum dabo. quivis ex vobis AA. homini minus memorioso succurrere poterit. Ergo Genius Theologicus hos, in paucos duraturos annos, fœtus peperit: Spiritum
267 sale nigerrimo: Zum schwarzen Salz der Satire bei Horaz und Balde ► Lefèvre 2020, S. 292 Anm. 431. 268 el(l)ops: ‚Sterlet‘ / ‚Stör‘; ‚Gattung eines köstlichen Meerfisches‘ (Kirschius 1774, Sp. 1011). Das Einreiben eines Fisches mit Salz ist unter Anglern bei Fischen ohne Schuppen (wie Stör oder Aale) üblich, um die Schleimhaut abzuwaschen und so zu einem besseren Geschmack beizutragen. Heute wird es in der Regel bei toten Fischen gemacht. Schoocks Bild setzt voraus, daß die gefangenen Fische noch leben: Es werden ja Lebende verspottet. 269 Theologorum filij: ► p. 384. 270 Fratres Cordigeri: Franziskaner. regula Francisci: 1223 bestätigte Papst Honorius III. die endgültige Regel des Heiligen Franciscus, die durch Konstitutionen und Statuten für die Herausforderungen der jeweiligen Zeit aktualisiert wird. 271 leviculum quid: ‚etwas Leichtes / Unbedeutendes‘. 272 Begriff aus der Stoischen Philosophie (ἀδιάφορα). 273 Die witzige Antithese Circe / Eris spielt auf zwei berühmte Szenen aus der griechischen Mythologie an: Kirke verzauberte die Gefährten des Odysseus in Schweine, Eris säte bei der Hochzeit von Thetis und Peleus Streit zwischen Hera, Athene und Aphrodite (unter Zuhilfenahme des bekannten Goldenen Apfels). Die Kursivierung deutet auf das Redensartliche hin. 274 Schoock dürfte sich selbst für ungenaues bzw. mißverständliches Zitieren entschuldigen. 275 Im folgenden wird einerseits auf (nachweisbare) Büchertitel angespielt, andererseits auf Me-
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anderen die Humanität vergessen hat und offensichtlich den Gegner, den er meistens ohne Urteil auswählt, mit so schwarzem Salz267 wie möglich [401] abgerieben und mit kaltem Wasser – wie die Fischer beim Fangen des Störs268 – übergossen hat, jauchzt vor Freude und glaubt, daß er einen großen und durch Jahrhunderte hin erinnerungswürdigen Namen verdient habe. Über die Sippe269 der Theologen habe ich bisher nichts gesagt. Unter ihnen wird ohne Unterlaß nicht allein über die notwendigen Dogmen des Glaubens, sondern über eine Sache, die ganz und gar nichts wert ist, meistens bis zu Zänkereien und Spaltung der Kirche hin gestritten. Das wäre wirklich zu ertragen, wenn solche Kämpfe (nur) unter denen, in die mit dem Geist des Antichristen der Geist der Verwirrung gefahren ist, stattfänden und die Herztragenden Brüder270 über die Erklärung der Regel des Franciscus disputierten. Gerade (aber) die, welche mit der Reformierten Religion ähnliche Sitten verbinden müßten und als strengste Einforderer des Ehrenhaften erscheinen wollen, vergessen insgemein der Bescheidenheit, der Toleranz und, was am meisten zu beklagen ist, der Caritas so sehr, daß sie lieber Himmel und Erde mischen wollen als ein bißchen271 von dem, was sogar die (Heilige) Schrift als Gleichgültiges272 wertet, um des Friedens und der Eintracht willen zugestehen. Von den Unschuldigen (die durch Gottes Gnade zahlreiche sind) und denjenigen, die, ob sie wollen oder nicht, von gewichtigeren Studien zu diesen Streitigkeiten hingezerrt werden, spreche ich nicht, sondern von denen, die ihre Anlage, Gewohnheit, Dreistigkeit und Hoffnung auf einen Triumph mehr als ihr Gewissen dazu ruft; wenn denen nicht Bart und Obergewand einen gewissen Anschein der Frömmigkeit gäben, würde man sagen,273 daß sie, „zwar“ nicht durch Circes, „sondern durch Eris’ Giftbecher verhext, dazu leben, um“ anderen Belästigungen zu schaffen und die Kirche nicht weniger als den Staat in Unruhe zu versetzen. Wenn es uns nicht anderswoher feststünde, könnte es allein [402] aufgrund der Büchertitel (für die diese Art Menschen auch eine Bürgschaft zu unterlassen entschlossen ist) feststehen. Nur eine kleine Probe werde ich geben. Jeder beliebige von euch, ihr Zuhörer, wird dem weniger gedächtnisstarken Menschen274 zu Hilfe kommen können. Der Theologische Genius also hat diese Sprößlinge hervorgebracht, die nur für wenige Jahre dauern werden:275 ‚Geist des Schwindels‘,276 ‚Brille‘,277 ‚Falke, zum Fangen,
taphern / Bilder, die in Titeln theologischer Streitschriften begegneten. Zu diesem Passus ► auch oben S. 69. 276 ► Casparus Heldelinus: Spiritus vertiginis accidentariorum theologorum. 1572 (WorldCat: Erscheinungsort nicht ermittelt). Heldelin (Deutsche Biographie: Wirkungsdaten 1570–1575) war luth. Theologe. 277 conspicilium (conspicillum): Pl. Cist. 91 (‚Ausschauort‘, ‚Warte‘), in der Neuzeit auch ‚Brille‘ (Kirschius 1774, Sp. 686); die letzte Bedeutung wurde in polemischen Büchertiteln gegen jemanden verwendet, der nicht richtig ‚gelesen‘ habe, etwa bei der Streitschrift: Eucharius Cygnaeus, Conspicilium notitiae, inserviens oculis aegris, qui lumen veritatis ratione subiecti, obiecti, medij [&]
132 B. Original und Übersetzung vertiginis, Conspicilium, Falconem emissum ad capiendum, deplumandum & dilacerandum Cuculum, Arietem theologizantem, Demonstrationem imposturarum & fraudum, Cuculum, Asinum avem, Vespertilionem, Lupum excoriatum, Baptizatum Iudæum & Mahometanum, Diabolum incarnatum, Pharisæismum, Lacrymas Crocodili, & quæ sunt hujus farinæ amplius. ut falsus fuerit, qui vatum irritabile genus 5 dixit; Theologos quippe pro ijs substituere oportuit. Quando furere incipiunt, nihil moderati in illis vel ipse Argus viderit. Quod vero alicui risum, si non stomachum moveat, quando Bacchis bacchantibus se similes reddiderunt, ejusdemque fidei consortes, & regni heredes, verbis, à quibus ipsum lenonum genus abhorreret, depexuerunt, pro se omnis tolerantiæ, humanitatis, & charitatis exemplar, æterni scil. 10 Dei æternum filium, ejusque magnum Apostolum, Paulum innuo, laudare susti-
2 1649 TheologiZantem. 1650 Theologi Zantem. Lef. theologizantem. | 9 1649 / 1650 á. Lef. à.
finis ferre recusant, oppositum admonitioni futili Henrici Neuhusii de fratribus R. C. […], 1619 (das Buch gehört in den religiösen Bereich: Die Fratres R. C. sind die Rosenkreuzer: Fraternitas Rotae Coelestis). Ein bekanntes Beispiel ist Reuchlins Streitschrift ‚Augenspiegel‘ von 1511, die unter dem Titel eine Brille zeigt (die zu jener Zeit ‚Augenspiegel‘ genannt wurde). 278 ► Falco a Marco Beumlero Tigurino emissus, Ad capiendum, deplumandum et dilacerandum audaciorem illum Cuculum Ubiquitarium, qui nuper ex Iacobi Andreæ, mali corvi, malo ovo ab Holdero […] exclusus […] impetum in Philomelas innocentes facere cœperat […]. Neostadi Palatinorum (Neustadt a. d. Weinstraße) 1585. ► Ersch / Gruber 1821, S. 213: „Der heftige Ton und der schiefe Witz […] sind Seitenstücke zu den literarischen Kämpfen vieler damaliger Theologen, Philologen und selbst gekrönter Häupter“. Markus Beumler, auch Bäumler / Bömler (1555–1611) war schweizerischer reform. Theologe, Jakob Andreae (1528–1590) und Wilhelm Holder (1542–1609) waren luth. Theologen. „Als eifriger Schüler und Anhänger des Concordienmannes Jakob Andreä betheiligte er sich mit großem Eifer an der Polemik gegen Katholicismus und Calvinismus“ (Wagenmann 1880, S. 727). Zu Holder ► auch im folgenden. 279 ► Petrus Warenburg: Hamelmannia seu Aries Theologizans. Dialogus oppositus duabus narrationibus historicis Herrmanni Hamelmanni. Neapoli Nemetum (Neustadt a. d. Weinstraße) 1582. Zu Warenburg (Pseudonym für Pezel) ► folg. Anm. Pezel (1539–1604) war reform., Hamelmann (1526–1595) luth. Theologe. – theologizare (mittellat.): ‚sich als Theologe betätigen‘. 280 ► Christophorus Pezelius: Demonstratio imposturarum et fraudum: quibus Egidius Hun. D. in libro, recens ab ipso edito, de sacramentis veteris & novi testamenti, pro defensione dogmatis ubiquitarij contra veritatem orthodoxam pugnat. Bremae 1591. Pezel (1539–1604) war reform., Hunn (1550–1603) luth. Theologe. 281 Gemeint sind Titel, in denen der Begriff des cuculus in negativer Weise verwendet wird wie in dem weiter oben genannten Titel von Beumler. 282 ► Wilhelmus Holderus: Asinus avis, hoc est metamorphosis nova, qua novitius quidam Sacramentarius, Marcus Bömlerus, dum temerè in avem falconem transire voluit, ridiculo errore in asinum commutatus est. Tubingae 1587. Zu Holder ► weiter oben. 283 ► Vespertilio exenteratus [‚Ausgeweidete Fledermaus‘], Hoc est, Diatribe Theologica de Imaginibus, […] das ist / newes christliches Gespräch von den Bildern Gottes / vnd Christi vnsers Herrn /
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Rupfen und Zerfleischen des Kuckucks ausgeschickt‘,278 ‚Bock, einen Theologen spielend‘,279 ‚Demonstration von Tücken und Betrügereien‘,280 ‚Kuckuck‘,281 ‚VogelEsel‘,282 ‚Fledermaus‘,283 ‚Enthäuteter (Geschundener) Wolf‘,284 ‚Getaufter Jude und Mohammedaner‘,285 ‚Fleischgewordener Teufel‘,286 ‚Pharisäertum‘,287 ‚Krokodilstränen‘288 und was mehr von dieser Art289 ist. Wie dürfte der im Irrtum gewesen sein, der das Geschlecht der Dichter reizbar genannt hat;290 es hätte sich ja doch gehört, für diese die Theologen einzusetzen. Sooft291 sie zu rasen beginnen, könnte selbst Argus nichts Gemäßigtes bei ihnen erblicken. Was aber jemandem Lachen, wenn nicht Ärger erregen möchte: Sooft sie sich rasenden Bakchantinnen ähnlich gezeigt und Genossen desselben Glaubens und Erben des (christlichen) Reiches mit Worten, vor denen sogar das Geschlecht der Kuppler zurückschrecken würde, abgebürstet haben,292 vermögen sie zu ihren Gunsten das Muster jeder Toleranz, Humanität und christlichen Liebe – natürlich meine ich Gottes ewigen Sohn und seinen großen Apostel Paulus – zu loben. Als ob nicht auch ihnen gesagt worden
vnd von der Abgötterey / zwischen Nathaniel einem Catholischen vnd Daniel einem Evangelischen / beyden Augspurgischen Bürgern abgehandelt. Lipsiae 1631. 284 ► Zacharias Rivander (Bachmann): Lupus excoriatus Oder Der öffentlichen vnd heimlichen Caluinisten vnd aller Sacramentierer Wölffner Schaffspeltz. Wittemberg 1582. Rivander (1553– 1594) war luth. Theologe; er stritt gegen die Kalvinisten und Sakramentarier. Der Titel meint: Entlarvung eines Wolfs im Schafspelz. 285 Zur ersten Hälfte ► Georgius Albrecht: Judæus Conversus, et Baptizatus. Ein Geborner und Geistlicher Israelit: Das ist / Eine Christliche Predigt / Bei der Tauff eines gebornen / vnd durch Gottes wunderbare Erleuchtung / bekehrten Juden […] allen verstockten Juden zur seligen Erleuchtung […]. Schwäbisch Hall 1641. Georg Albrecht (1601–1647) war luth. Theologe. Zur zweiten Hälfte: Nach Mischa von Perger 1999, S. 473 ist ‚Mohammedaner‘ ein ‚Schimpfwort für die Katholiken‘ gewesen, „weil sie angeblich wie die Mohammedaner ein eigenes Gesetz über das Gesetz Christi stellen“ (Hinweis von Ingo Schaaf). 286 Luther nannte 1534 in einem Brief an den Theologen Nikolaus von Amsdorff Erasmus (im Blick auf die Übersetzung des Neuen Testaments) einen diabolus incarnatus (Ribhegge 2014), Herzog Georg von Sachsen ebenso (Ebeling 1997, S. 211). Überhaupt wurde dieser Terminus im Streit zwischen Protestanten und Katholiken verwendet (Frank 1865, S. 58–59); auch wurde von Mahometus diabolus incarnatus gesprochen. In diesem Sinn sind Büchertitel gemeint. 287 Polemik gegen die Pharisäer gab es seit dem Neuen Testament. Hier wird auf sie zwischen Juden, Mohammedaner und dem Teufel Bezug genommen. 288 An die letzte Stelle, sozusagen als Gipfel, setzt Schoock die Erstlingsschrift (und zugleich Streitschrift) von 1627 seines Lehrers, des reformierten Theologen Gisbert Voet (1589–1676), von dem er sich später distanzierte (► Lefèvre 2021, S. 2–3): Lachrymæ Crocodili Abstersæ, Hoc est, Notæ & Castigationes in Threnum Sabbaticum. Zu dieser Schrift teilt Jan Bloemendal mit: „Es sieht so aus, dass Voetius nur das Vorwort geschrieben hat.“ 289 farina: ► Lefèvre 2017, S. 161 Anm. 12 zu Balde Exp. Praef. 290 Gemeint ist Horaz: multa fero, ut placem genus irritabile vatum (Epist. 2, 2, 102). 291 quando iterativ mit Ind. (► Kühner, Stegmann 1962. § 208 Abs. 11). 292 depectere: ‚(herab)kämmen‘, ‚striegeln‘; verwandt im Deutschen das Bild ‚jemanden abbürsten‘.
134 B. Original und Übersetzung nent. Quasi vero non ijs quoque dictum fuerit, Nescitis cujus spiritus sitis: & ipse Apostolus rerum licitarum ratione habita, de se ipso non pronunciarit: Omnia mihi licent, sed non omnia ædificant. Certandum si Theologo sit, certet cum [403] veritatis revelatæ & necessariæ adversarijs: cognato sanguini, ipsarum ferarum exemplo monitus, parcat. fateor non omnes idem scribere & sapere posse, & ut in Musicis 5 concentus quidam discors probatur, sic in studijs nec liberum dissensum improbari. Interim citra convitium, aut litem, maxime citra publicæ pacis jacturam, cum monent locus & occasio, (non illa quæ à vitilitigatore captatur, sed ultro sese offert) libere animi sententia ab eo, qui cum ratione in alia omnia discedere videtur, promatur. Levium hominum, aut verius prostitutæ famæ muliercularum est, convitijs 10 certare. Viros doctos, alia vita, alij mores decent. Occurrit vero hac occasione mihi, quod aliquando dictum fuit ab Ambrosio Camaldunensi in Apennini jugis monacho, viro Græce Latineque doctissimo, conversoque in Latinam linguam Diogene Laërtio celebri: qui quum frustra Poggium Vallæ reconciliare conatus esset, stomachabundus ad præsentes dixit: Eos neque plane literatos, nedum Christianos videri, 15 qui inducta simultate, sacrosanctum literarum decus probrosis libellis importune defædarent. Utinam ad animum revocarent, qui inter eruditos censeri cupiunt, & miserias, cum quibus jugiter luctantur, ipsi non aggravarent!
[corpore laborare] Sed tempus monet, ut ad alia orationis vela convertam. Superest autem malorum 20 Ilias. neque enim animo solum laborant eruditi, sed ut plurimum quoque corpore. Duo vero potissimum tyranni [404] sunt, qui sine missione illud exercent, & quocunque Phalaride crudelius noctes atque dies divexant. De podagra ac calculo me loqui existimate, AA. quæ eum, qui literis impalluit, modo conjunctim, modo divi-
2 pronunciarit:] 1649 Doppelpunkt. 1650 Punkt.
293 Das Jesus-Wort: Lukas 9, 55. 294 Paulus, Ad Cor. 1, 6, 12. ædificant: Kirschius 1774, 76: ædificare = ‚wohl bestellen‘. Luther: ‚Ich habe es alles Macht; es frommt aber nicht alles‘. 295 Ambrosius Camaldunensis: Ambrogio Traversari, italienischer Theologe und Humanist, Kamaldunenser (1386–1439), übersetzte Diogenes Laertios in Latein und überreichte 1433 die Übersetzung dem Auftraggeber Cosimo de’ Medici. Der Ausspruch wird berichtet in: Pauli Iovii Novocomensis Episcopi Nucerini Elogia virorum bellica virtute illustrium. Basel 1596 (CAMENA-Text im Internet ohne Paginierung). 296 ► p. 397. 297 malorum Ilias: griechisch Ἰλιὰς κακῶν, nach dem homerischen Kampfepos, sprichwörtl. (Otto 1890, S. 171), ► Surd. enc. p. 610 (Lefèvre 2021, S. 104 Anm. 342).
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wäre „Ihr wißt nicht, welchen Geistes ihr seid“293 und selbst der Apostel nicht, nachdem er sich über die erlaubten Dinge Rechenschaft gegeben hat, über sich selbst gesagt hätte: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist wohl bestellt“.294 Wenn der Theologe streiten muß, streite er mit [403] den Gegnern der offenbarten und notwendigen Wahrheit: Verwandtes Blut, durch das Beispiel gerade der wilden Tiere ermahnt, schone er. Ich räume ein, daß nicht alle dasselbe schreiben und wissen können und daß, wie bei Musikern eine gewisse dissonante Harmonie gebilligt wird, so bei Studien freier Dissens nicht mißbilligt wird. Indes werde ohne Zank und Streit, ganz besonders ohne Verlust des öffentlichen Friedens, wenn der Ort und die Gelegenheit es raten (nicht die, auf die von dem Zänker gelauert wird, sondern die, die sich von selbst anbietet), frei die persönliche Meinung von dem vorgebracht, der offensichtlich mit Überlegung auf alles andere eingeht. Es ist die Art unbedeutender Menschen oder wahrer von Frauen öffentlich preisgegebenen Rufes, mit Zänkereien zu streiten. Gelehrten Männern ziemen ein anderes Leben, andere Sitten. Es fällt mir aber bei dieser Gelegenheit ein, was einst in den Bergen des Apennins von dem Camaldunenser Ambrosius295 gesagt wurde, einem Mann, im Griechischen und Lateinischen hochgebildet und berühmt durch den in die lateinische Sprache übersetzten Diogenes Laertius. Als der vergebens Poggio mit Valla zu versöhnen versucht hatte,296 sagte er unwillig zu den Anwesenden: „daß diejenigen ganz und gar nicht Wissenschaftler, geschweige Christen zu sein scheinen, die dadurch, daß sie Feindseligkeit hineinbringen, die heilige Zierde der Wissenschaft mit schändlichen Schriften rücksichtslos verunstalten.“ Daß das doch die, welche unter die Gelehrten gerechnet zu werden wünschen, beherzigten und die elenden Situationen, mit denen sie beständig kämpfen, nicht selbst verschlimmerten!
[Körperliche Leiden] Allein die Zeit mahnt, daß ich die Segel zu anderen Punkten der Rede setze. Übrig ist aber eine Ilias von Übeln.297 Denn die Gelehrten leiden nicht allein am Geist, sondern meistens auch am Körper. Es sind wahrlich hauptsächlich zwei Tyrannen, [404] die ohne Unterlaß das bewirken und grausamer als jeder Phalaris298 Nächte und Tage hin und her zerren. Daß ich über das Podagra und den Stein spreche, nehmt, ihr Zuhörer, zur Kenntnis, die denjenigen, der über der Wissenschaft bleich geworden ist, bald zusammen, bald getrennt befallen und anfechten. Und damit
298 Phalaris war 570–554 Tyrann von Akragas, sprichwörtl. bekannt für seine Foltermethoden (► Otto 1890, S. 277).
136 B. Original und Übersetzung sim invadunt atque oppugnant. Et ut de podagra, cujus germana soror chiragra esse solet, priori loco dicam; quos ea exercet, non solum pedum usu mulctat, sed doloribus quoque acerbissimis excruciat. Vt non sine ratione Herodes Atticus, vir summus, cum ex manibus non minus quam ex pedibus laboraret, dixerit: Edere si debeam, manibus careo; ambulandum si fuerit, pedum ministerio destituor; dolorem 5 autem tum manus, tum pedes possident. quanquam vero otio podagrici abundent, otium tamen eorum molestissimum est, ut scite Publilius Mimus respondit. Exercet autem hæc carnificina non hos & illos modo in eruditorum tribu, sed omnes ferme, qui nocturnis chartis impallescere, atque ad pervigilem lucernam oculis somnum subducere amant. Qui omnes si ad nomen citandi essent, nomenclatorum 10 delectum habere deberem. aliquos solum nominasse suffecerit. Ex Philosophis subegit Arcesilaum, & Lyconem Tharsensem; ex Poëtis, bonum patrem Ennium, qui quanquam articulari morbo extinctus perhibetur, non tamen credo Sereno ita de causis illius canenti: 15 Ennius ipse Pater dum pocula siccat iniqua Hoc vitio tales fertur meruisse dolores.
7 1649 / 1650 Publius. Lef. Publilius.
299 Podagra und Chiragra sind im Lateinischen und Griechischen feminina, im Deutschen neutra. 300 mulctat = multat. 301 Herodes Atticus: L. Vibullius Hipparchus Ti. Claudius Atticus Herodes, griechischer Sophist (ca. 101/103–177), mit Polemon (► p. 405) befreundet. Hier dürfte ein Irrtum Schoocks oder seiner Quelle vorliegen. Der Ausspruch wird von Philostrat Bioi sophist. 1, 79 (an derselben Stelle, die p. 405 zitiert ist) überliefert. Dort heißt es nach heutiger Lesart, Polemon habe den Ausspruch dem Herodes (durch einen Boten oder Brief) zukommen lassen (Ἡρώδῃ […] ἐπέστειλε). In dieser Form wird die Geschichte auch von Beyerlinck 1656, 370 erzählt, ► Lefèvre 2020, S. 545. (Es ist freilich möglich, daß die Ausgabe, die Schoock oder seine Quelle benutzten, Ἡρώδης bot: Dann hätte Herodes selbst gesagt: δεῖ ἐσθίειν, χεῖρας οὐκ ἔχω· δεῖ βαδίζειν, πόδες οὐκ εἰσί μοι· δεῖ ἀλγεῖν, τότε καὶ πόδες εἰσί μοι καὶ χεῖρες.) 302 Zu diesem Motiv in einem Gedicht von Bauhusius ► Lefèvre 2020, S. 203 u. 288. 303 Publius: Publilius Syrus, römischer Mimendichter, aus Syrien stammend (1. Jahrhundert v. Chr.), ehemaliger Sklave, erhalten seine Lebensweisheit vermittelnden Sententiae, einst Schul-
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ich über das Podagra, dessen Bruder299 das Chiragra zu sein pflegt, an erster Stelle spreche: Die es heimsucht, straft300 es nicht nur mit dem (eingeschränkten) Gebrauch der Füße, sondern martert sie auch mit heftigsten Schmerzen – so daß nicht ohne Grund Herodes Atticus,301 der so bedeutende Mann, gesagt hat, als er an den Händen nicht weniger als an den Füßen litt: „Wenn ich essen muß, entbehre ich der Hände; wenn es zu laufen gilt, werde ich vom Dienst der Füße verlassen; Schmerz dagegen haben bald die Hände, bald die Füße.“302 Obwohl aber die Podagriker an Muße Überfluß haben, ist ihre Muße dennoch äußerst lästig, wie Publilius,303 der Mime(ndichter), gescheit versicherte. Es quält jedoch diese Marter nicht nur diese und jene in der Zunft der Gelehrten, sondern nahezu alle, die über den nächtlichen Papieren bleich zu werden und bei der immer wachsamen Öllampe den Augen Schlaf zu entziehen pflegen. Wenn die alle mit Namen zu zitieren wären, müßte ich eine Aushebung von Nomenklatoren304 abhalten. Es genüge, einige nur mit Namen zu nennen. Von den Philosophen unterjochte sie (die Marter) Arkesilaos305 und Lykon aus Tarsos,306 von den Dichtern den guten Vater Ennius;307 obwohl der, wie überliefert ist, an der Gelenkkrankheit starb, glaube ich doch nicht Serenus, der so über seine Ursachen sang: „Selbst Vater Ennius soll, indem er unmäßige Becher leert(e), durch dieses Laster solche Schmerzen verschuldet haben.“
lektüre. Im 16. und 17. Jahrhundert existierten zahlreiche Ausgaben mit viel unechtem Gut. In den seit dem 19. Jahrhundert vorliegenden wissenschaftlichen Ausgaben ist eine entsprechende Sentenz nicht enthalten. otium ist ein durchaus ambivalentes Gut, wie schon Catull wußte (51, 13–15). Einen Hinweis auf den Mimendichter konnte Schoock zum Beispiel bei Beyerlinck 1631 (► S. 99) finden: „Publicus Cyrus, cùm esset orta jocosa quæstio, quodnam esset molestum otium [Prägung Catulls a. O.] & alius aliud opinaretur, respondit, podagra. Otium ut rem suavissimam expetunt omnes, sed otium podagrici cum summo cruciatu conjunctum est. Pontanus, & Erasm. lib. 6 apoph.“ (zitiert nach der Ausgabe 1656, S. 370). Beim Abschreiben unterliefen den Autoren häufig Ungenauigkeiten, wie hier Publius / Publicus / Publilius und Cyrus / Syrus. Schoock meint jedenfalls den Mimendichter, wie er durch den Zusatz Mimus deutlich macht. 304 Ein nomenclator war ein Sklave, der seinem Herrn die Namen von entgegenkommenden Personen nannte. 305 Arcesilaus: Arkesilaos von Pitane, griechischer Philosoph (316 / 315–241 / 240), Begründer der Mittleren Akademie. Daß er an Podagra litt ([…] cum arderet podagrae doloribus), erwähnt Cic. De fin. 5, 94. 306 Lyco Tharsensis: Wohl Lykon aus der Troas gemeint, der 44 Jahre lang als zweiter Nachfolger Theophrasts dem Peripatos vorstand (272 / 268–228 / 224); daß er im 74. Lebensjahr an Podagra gestorben sei, überliefert Diog. Laert. 5, 68. 307 Quintus Ennius, frührömischer Dichter (239–169), besonders durch das Epos Annales hervorgetreten (Horaz nennt ihn Ennius ipse pater, Epist. 1, 19, 7); sein Podagra bezeugt er selbst: numquam poetor nisi podager (Sat. Fr. 64 Vahlen / 20 Blänsdorf). Jakob Balde hat diesem Thema das Gedicht Sol. Pod. 2, 61 gewidmet (► Lefèvre 2020, S. 457–462). Zu den Versen des Serenus ► Lefèvre daselbst S. 462 Anm. 530. Zu Ennius ► auch unten p. 442.
138 B. Original und Übersetzung [405] Inter Sophistas celebris admodum fuit Polemo; ab articulari autem morbo tantopere exarmatus, ut cum medici ad articulos lapidis instar induratos obstupescerent, ipse illos monuit, Polemonis lapicidinas fodere atque incidere. Matthæus Aquilanus Theologus scholasticus, itemque Philosophus subactissimus in Schola Neapolitana, sellæ insidens, ad cathedram per duodecim annos deportatus fuit, manibus non minus quam pedibus imperante hoc tyranno. Quomodo Alexandrum Forteciam sella vehi videre Patavini ad tribunal, judicique, fremente podagra, multa reorum nomina gloriosæ vocis munimine eripere. Nostis omnes, quantus I. C. fuerit Matthæus Wesenbecius, is ipse tamen semetipsum per jocum Mathæum de Afflictis vocavit, cum per arthritidis dolores domi desidere, & consulentibus, qui sine numero quotidie accedebant, respondere cogeretur. Subsisto hic, ne tot alios recentioris ævi viros doctos laudando, patientissimis inter Auditores fastidiosum illud OHE exprimam. Bono vero animo estote, quotquot in Podagricorum tribum recepti estis. Quod manibus pedibusque decedit, Palladis arci accedit, mensque tum defæcatissima existit, quando in quovis articulo stabulantur calculi. Patrum ætate podagricus fuit Erasınus, è lectulo tamen, in quo una delitescebat podagra, monumenta illa, quæ nulla delebit vetustas, protrusit. Fateor equidem acerbos interim dolores esse, [406] quibus quodque membrum extenditur; sed leniores illi reddentur per colloquia Platonica, jucundasque amicorum eruditorum de literis confabulationes, quomodo Iosephus Scaliger alicubi scripsit, Iulium pa-
308 Polemo: Polemon aus Laodikeia, griechischer Sophist (ca. 90–145). Er wird von Philostrat Bioi Soph. 1, 69–81 dargestellt. Daraus (1, 79) zitiert Schoock zweimal (direkt oder indirekt), p. 404 (zu Herodes, ► dort) und hier; p. 428 dürfte ein anderer Polemon gemeint sein (► dort). (Wie Ennius erscheinen Polemo und Matteo Aquilano bei Beyerlinck 1656, S. 369 als Podagristen mit Steinplage; Beyerlincks erste Auflage erschien in 1631 in Köln: Sie kann also Schoock Anregungen gegeben haben. Zu ihrem möglichen Einfluß ► S. 89).
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[405] Unter den Sophisten war Polemon308 sehr berühmt. Von der Gelenkkrankheit wurde er aber so sehr entwaffnet, daß er, als die Ärzte bei den wie Stein verhärteten Gelenken in Bestürzung gerieten, sie selbst ermahnte, Polemons Steinbrüche aufzugraben und in sie einzuhauen. Matthaeus Aquilanus,309 der scholastische Theologe und zugleich sehr gründliche Philosoph in der Neapolitanischen Schule, wurde, auf einem Tragsessel sitzend, durch 12 Jahre hindurch zum Katheder getragen, während dieser Tyrann über die Hände nicht weniger als über die Füße herrschte.310 Wie sahen die Paduaner den Alexander Fortecia311 im Sessel zum Tribunal getragen werden und dem Richter, obgleich sich das Podagra dumpf vernehmen ließ, viele Angeklagte durch den Schutz seiner berühmten Stimme entreißen! Ihr wißt alle, ein wie großer Rechtsgelehrter Matthaeus Wesenbeck312 war; doch er selbst nannte sich im Scherz Matthaeus von den Geschlagenen, da er durch die Schmerzen der Gelenkkrankheit gezwungen war, zu Hause zu sitzen und den Ratsuchenden, die täglich zahllos zu ihm kamen, rechtliche Bescheide zu geben. Ich halte hier inne, damit ich nicht, wenn ich so viele andere gelehrte Männer der neueren Zeit zitiere, (auch) den Geduldigsten unter den Zuhörern jenes widerwillige HALT! auspresse!313 Seid aber guten Mutes, soviel ihr in die Zunft der Podagriker aufgenommen seid! Was den Händen und Füßen abgeht, kommt Pallas’ Burg314 hinzu (zugute), und der Verstand ist dann am abgeklärtesten, wenn sich in jedem Gelenk Steine etablieren. Im Zeitalter der Väter (des Humanismus)315 war Erasmus Podagriker,316 doch von dem Lager, in dem sich zugleich das Podagra verbarg, schleuderte er jene Werke hervor, die kein Alter zerstören wird. Ich bekenne meinesteils, daß die Schmerzen zuweilen sehr schlimm sind, [406] durch die jedes Glied ausgedehnt wird; doch werden sie gelindert durch Platonische Gespräche und angenehme Unterhaltungen Gelehrter über wissenschaftliche Themen – wie Joseph Scaliger an einer Stelle schrieb, daß der Vater Julius behauptete, er habe
309 Matthaeus Aquilanus: Matteo Aquilano aus Aquila, in Neapel wirkender Gelehrter, der trotz starkem Podagra sehr aktiv war. Balde singt im Solatium Podagricorum 2, 62 eindrücklich sein Lob (► Lefèvre 2020, S. 463–466, zur Person: S. 464 Anm. 533). ► auch die vorhergehende Anm. 310 Übergang assoziativ: Aquilanus und Fortecia wurden beide (in einem Sessel) getragen. 311 Alexander Fortecia: Italienischer Jurist aus Padua († 1613). Über seine eingeschränkte Fortbewegung im Alter wird berichtet: qui florentis ætatis annos in delitijs absumpserat, eò deuenit Senex, vt dissolutis artuum viribus, sella tantùm vectus, loco moueri posset, in quâ etiam sedens ad Magistratus oraturus accedere consuerat (Tomasini 1630, S. 253). 312 Matthæus Wesenbecius: Matthaeus Wesenbeck aus Antwerpen, flämischer Jurist (1531–1586), lehrte an den Universitäten Jena und Wittenberg. 313 ohe: ► p. 435. Die Form einer Rede wird durchgehalten. 314 ἀκρόπολις: Pallas’ hoher Sitz = Geist, Verstand oben im Kopf; Spiel mit dem Namen des athenischen Burgbergs Akropolis. 315 ► p. 426 antiqui Patres. 316 ► S. 44.
140 B. Original und Übersetzung rentem negasse, quod res sibi sit cum podagra, quotiescunque Buchananum, Muretum, Tevium, similisque farinæ homines convivas haberet, quibuscum de communibus studijs loqui posset. Nam quemadmodum venereis claudi, dolis gibbosi, fraude strabi, consilij promptitudine calvi delectantur; sic podagrici salibus argutijsque literarijs. Venio ad calculum, alterum vitæ sedentariæ germen. Ejus 5 sævities æstimanda supra omnia tormenta, quæ Perillus quis excogitare posset, vel Stoico judice. Dionysius Heracleotes quippe cum à Zenone fortis esse didicisset, à dolore superatus atque derisus fuit. Nam cum ex renibus laboraret, ipso in ejulatu clamitabat, falsa esse omnia, quæ de dolore sensisset ipse. Idem affirmat alterum illud orbis jubar, maximumque rei literariæ decus Erasmus, qui toties in 10 aureis suis epistolis tyranni hujus equuleum, fidiculas & ignes deplorat. In hanc quoque sententiam non pedibus, sed ipso animo it Antonius Panormita, vir summus idemque calculosus. Nec aliud judicaturos existimo Claudium Puteanum, Ioannem Heurnium, Isaacum Casaubonum, aliosque, quos enumerare longum foret. Animum tamen masculate, quotquot Musis operamini, seduloque cogitate, 15 mor[407]bum hunc, quem eruditorum morbum cum ratione vocare licet, per com-
8 1649 / 1650 loboraret. Lef. laboraret. | 12 it] 1649 keine Interpunktion. 1650 Punkt. | 14 1649 / 1650 Huernium. Lef. Heurnium.
317 Über das Podagra des älteren Scaliger ► Kämmel 1869, S. 564: „In Bezug auf geistigen Verkehr freilich fühlte sich der alternde Gelehrte zu Agen ziemlich vereinsamt. Auch die Verbindung mit dem jungen Muret war keine stetige, und ebenfalls nur eine seltene Erquickung brachte es ihm, wenn die Humanisten der Schule von Bordeaux, die damals durch Andreas von Govea zu erfreulicher Blüte gelangt war, während der Ferien ihn besuchten. Aber Erquickung brachten dem oft Kränklichen diese Besuche doch, und er versicherte wohl, daß er dann sogar mit dem Podagra nichts zu schaffen habe.“ Die von Schoock genannten Humanisten (► die folgenden Anmerkungen) lehrten zeitweise in Bordeaux. 318 Buchananus: George Buchanan, schottischer Humanist (1506–1582), lehrte in Schottland und Frankreich, Gegner Maria Stuarts, Verfasser der Tragödien Jephtes und Baptistes sowie der Rerum Scoticarum historia (20 B.). 319 Muretus: Marc Antoine Muret, französischer neulateinischer Dichter, Priester (1526–1585), Editor klassischer Texte, Verfasser der Tragödie Julius Caesar (1550). 320 Tevius: Diogo de Teive, portugiesischer Humanist und Dichter (ca. 1514–ca. 1565). Buchanan schrieb eine Elegie an de Teive. 321 farinæ: ► p. 402. 322 prom(p)titudo: ‚Fertigkeit‘ (Kirschius 1774, Sp. 2294). 323 Es ist gemeint, daß Menschen mit bestimmten körperlichen Beeinträchtigungen an Unterhaltungen über bestimmte Bereiche, in denen sie jeweils in naheliegender Weise benachteiligt sind, besondere Freude haben; was die calvi betrifft, so mochten Martials Epigramm 10, 83 (in dem ein calvus geschildert wird, der mit den wenigen Resthaaren seine Kahlköpfigkeit zu verbergen sucht) und Erasmus’ Aufnahme desselben in den Adagia 2, 5, 60 (Ed. 1559 Sp. 581) anregend gewirkt haben. ► auch p. 457 tanquam claudus pilam retinet.
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nichts mit dem Podagra zu tun,317 sooft er Buchanan,318 Muret,319 Tevius320 und Männer gleichen Schlags321 als Gäste habe, mit denen er über gemeinsame Studien reden könne. Denn wie von Liebesdingen Lahme, von Listen Bucklige, von Betrug Schielende, von Fertigkeit322 Glatzköpfige erfreut werden,323 so Podagriker von wissenschaftlichen Feinheiten und Scharfsinnigkeiten. Ich komme zum Stein, dem anderen Sproß der sitzenden Lebensweise. Seine Grausamkeit ist über alle Martern, die ein Perillos324 ausdenken könnte, einzuschätzen, selbst wenn ein Stoiker Richter ist. Obwohl ja Dionys aus Herakleia325 von Zenon326 gelernt hatte, tapfer zu sein, wurde er vom Schmerz überwältigt und verlacht. Denn als er an den Nieren litt, rief er mitten im Geheul aus, alles sei falsch, was er selbst über den Schmerz geurteilt hätte. Dasselbe bekräftigt jene andere Leuchte des Erdkreises und größte Zierde der wissenschaftlichen Welt, Erasmus, der so oft in seinen goldenen Briefen327 dieses Tyrannen Folter, Stricke328 und Feuer beklagt. Dieser Ansicht tritt nicht mit den Füßen,329 aber unmittelbar mit seiner Gesinnung Antonio Panormita bei, der sehr große Mann und ebenfalls voller Steine. Nichts anderes würden, glaube ich, Claude Dupuy,330 Jan van Heurne,331 Isaak Casaubon332 und andere, die aufzuzählen zu lang wäre, urteilen. Ermannt333 bei alledem euren Geist, soviel ihr euch den Musen hingebt, und sinnt angelegentlich darauf, [407] diese Krankheit,
324 Perillus: Der kunstfertige Perillos fertigte für Phalaris (570–554 Tyrann von Agrigent) den ehernen Stier, in dem zum Tod Verurteilte in Flammen geröstet wurden. 325 Dionysius Heracleotes: Dionysios von Herakleia (4. Jahrhundert), Schüler des Stoikers Zenon, fiel zu den Kyrenaikern oder Epikureern ab. Die Geschichte ist nach Cic. Tusc. 2, 60 erzählt: Heracleotes Dionysius, cum a Zenone fortis esse didicisset, a dolore dedoctus est. nam cum ex renibus laboraret, ipso in eiulatu clamitabat falsa esse illa quae antea de dolore ipse sensisset. 326 ► p. 428. 327 aureis epistolis: ► p. 377 zu aureus sol. 328 „Fidiculae sind nervi oder Stricke, durch welche der Delinquent auf einem Gerüste so ausgespannt wird, dass seine Glieder aus den Gelenken gerissen werden. […] Der equuleus, ein Bock [sc. in Gestalt eines hölzernen Pferdes], auf dem der Verbrecher sitzen muss, ist ebenfalls darauf eingerichtet, die Glieder desselben durch Gewichte oder Winden auszurecken“ (Marquardt 1886, S. 183 Anm. 7). 329 non pedibus […] it: pointierte Aufnahme einer römischen Redensart. pedibus ire in alicuius sententiam heißt wörtlich und übertragen ‚jemandes Meinung beitreten‘ (von Senatoren). Schoock sagt, Panormita (► p. 398) habe das in übertragenem Sinn getan. 330 Claudius Puteanus: Claude Dupuy, französischer Jurist und Humanist (1545–1594). 331 Die Ausgaben von 1649 und 1650 drucken fälschlich Huernium. Gemeint ist Jan van Heurne / Johannes Heurnius (1543–1601), niederländischer Arzt aus Utrecht, Professor in Leiden, der an einem schweren Blasenleiden starb (August Hirsch. In: ADB 12 (1889), S. 333–334). 332 Isaacus Casaubonus: Isaac Casaubon, französischer Klassischer Philologe (1559–1614), Professor in Genf, Montpellier, Paris, später in London tätig, Herausgeber und Kommentator griechischer Autoren. 333 masculare: ‚ermannen‘ (Kirschius 1774, Sp. 1736).
142 B. Original und Übersetzung pendium eo ducere, quo vix per multa præcepta Philosophia pervenit, ad voluptatum scilicet internecionem: quæ expeditius procurabitur, si podagra calculo comes accesserit: quemadmodum post Erasmum expertus est Ludovicus Vives, corpore quidem quam invalidus Hispanus, cæterum mente vegetus judicijque præclarissimus. Valedicerem corpori, & ad animum me converterem, nisi inter familiares hos 5 morbos, notari quoque vellet ventriculi imbecillitas, non uni solum Aristoteli molesta, sed omnibus fere, qui nocturnis chartis impallescendo non minus sunt olei prodigi, quam vini parci. Inclementissimi quidem dolores hi principi Claudio visi sunt, adeo ut de arripiendo ferro, & vita finienda cogitaverit: concoquendi 10 tamen ab eo, qui ad omnem indurandus est patientiam.
[patria] Venio dein ad eruditorum patriam: quæ quoniam eos aut contemnit aut odit, temperatissimam quoque animi harmoniam turbat. Enimvero gentis Scythicæ princeps Anacharsis, idemque Philosophus subactissimus, per invidiam in patria perijt, postquam sermonis ac disciplinæ gratia in Græcia conservatus esset. Sic & 15 Socratem, humanæ sapientiæ compendium, ad bibendam cicutam adegerunt Athenienses ejus populares. Stilpo Mægarensis in Ægypto apud Ptolomæum consecutus est honores, quibus domi inter suos indignus censeba[408]tur. Hermodo-
5 1649 converterem. 1650 convertetem. | 13 1649 Schyticæ. Corr. Scythicæ. 1650 Korrektur nicht ausgeführt.
334 Schoock trifft sich in dieser Einschätzung mit Jakob Balde, der der Quaestio 1, 37 des Solatium podagricorum den Titel gibt: Cur Podagrici, vt plurimùm, cæteris ingeniosiores. Diese Wertung durchzieht das ganze Buch. 335 compendium: klass. ‚Abkürzung‘ (wie hier p. 418 u. 419), nachklass, ‚Handbuch‘ (Kirschius 1774, Sp. 621); so von Sokrates (p. 417), Plutarch (p. 418), Vergil (p. 449), Rom (p. 459) gesagt. Sokrates ist eine ‚Abkürzung‘ und gewissermaßen ein ‚Handbuch‘ / ‚Lehrbuch‘ / ‚Kompendium‘ der humana sapientia. Im Deutschen vergleichbar: Jemand ist ein ‚wandelndes Lexikon‘. 336 ► p. 405. 337 Ludovicus Vives: Juan Luis Vives, spanischer Humanist (1492–1540), Lehrer in Brügge, Erzieher am Hof Heinrichs VIII. von England, später verbannt, Gegner der Scholastik. Er bekannte selbst in einem Brief: Me podagra mea gravissimè divexat, serpsit ad genua, ad manus, ad brachia, usque ad humeros: aliquando erit finis carceris huisce adeò miserabilis. Vtinam quandocunque erit, cum bona sit Christi gratia (Freigius 1589, S. 53). Vives erwähnt sein Podagra ferner in der Sapiens informatio S. 247 (► Literaturverzeichnis).
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die man mit Grund Gelehrtenkrankheit334 nennen darf, auf abgekürztem Weg335 dahin zu führen, wohin die Philosophie kaum durch viele Vorschriften gelangt, nämlich zur völligen Überwindung der Genüsse: Das wird leichter besorgt werden, wenn das Podagra als Gefährte zum Stein hinzutritt – wie es nach Erasmus336 (auch) Luis Vives337 erfahren hat, der zwar am Körper sehr gebrechliche, aber im Denkvermögen lebhafte und im Urteil hochberühmte Spanier. Ich nähme vom Körper Abschied und wendete mich dem Geist zu, wenn nicht unter diesen geläufigen Krankheiten auch eine Schwäche des Magens angemerkt werden wollte, die nicht allein Aristoteles lästig war,338 sondern fast allen, die beim Bleichwerden über den nächtlichen Papieren ebensowenig Öl sparen wie sich beim Wein mäßigen.339 Ganz unerbittlich erschienen diese Schmerzen dem Kaiser Claudius340 – so sehr, daß er zwar an den Griff nach dem Schwert und die Beendigung des Lebens dachte: Doch sind sie von demjenigen zu ertragen, der zu jeder Art Geduld abgehärtet werden kann.341
[Geringschätzung im eigenen Land] Ich komme alsdann zur Heimat der Gelehrten: Da diese sie entweder verachtet oder nicht mag,342 stört das auch die beherrschteste Harmonie des Geistes. In der Tat ging Anacharsis,343 der Fürst des Skythischen Volkes und zugleich ein sehr feinsinniger Philosoph, aus Mißgunst im Vaterland zugrunde, nachdem er in Griechenland wegen seiner Rede und Bildung gut aufgenommen worden war. So veranlaßten auch Sokrates, das Kompendium der menschlichen Weisheit, die Athener, seine Volksgenossen, den Schierling zu trinken. Stilpon aus Megara344 erlangte in Ägypten bei Ptolemaios Ehren, derer er zu Hause unter seinen Landsleuten für un-
338 Aristoteles soll an einem Magenleiden gestorben sein. Diese Nachricht geht auf Diog. Laert. 5, 16 zurück (Hinweis von Jochen Althoff). 339 Da sie nachts sehr lange arbeiten, verbrauchen sie reichlich Öl für die Lampe und trinken viel Wein (der dann Wirkung auf den Magen hat). 340 Über die Magenschmerzen und Selbstmordgedanken des Claudius (römischer Kaiser 41–54) berichtet Suet. Claud. 31. 341 ad omnem indurandus est patientiam: ► Sen. De ira 1, 11, 3 quid induratius ad omnem patientiam […]? 342 odisse hier in wörtlicher Bedeutung ‚nicht riechen mögen‘, ‚ablehnen‘ (wie Hor. Carm. 3, 1, 1 odi profanum volgus). 343 Anacharsis: Skythischer Herrscher, der hellenischen Kultur gegenüber aufgeschlossen (wohl 6. Jahrhundert v. Chr.). Quelle könnte Diog. Laert. 1, 102–103 sein. Dikaiarch zählt ihn zu den Sieben Weisen (Diog. Laert. 1, 41). 344 Stilpo Maegarensis: Stilpon aus Megara, Philosoph der Megarischen Schule, zeitweise deren Vorstand (ca. 380–300). Über Stilpon und Ptolemaios Soter berichtet Diog. Laert. 1, 115.
144 B. Original und Übersetzung rum urbe sua ejecerunt Ephesij, quod nefas esse crederent, eum cives suos virtute præcellere. Ne vero circa vetusta solum secula hæream: Paulus Iovius repulsam in patria sua tulit, viditque Comensi Episcopatui hominem sine tribu & literis præfici. Iacobum Cujacium Tolosa ingrata patria in exilium misit, & quasi sub Marsyæ sidere nata fuisset, in petitione cathedræ, Midæ aures Apollini prætulit. Idem quotidie adhuc accidit: ferendum tamen viro docto, qui novit patriam suam hunc orbem esse, virtutemque, quam incolumen omnes execrantur, aliquando, cum ex oculis sublata fuerit, præmij vice, caduca desiderantium vota relaturam esse. Sequitur dein domestica crux, quocunque equuleo immanior, & vipera quavis nocentior, morosa scilicet & difficilis uxor. Habuit autem eam non solum Socrates, sed unusquisque prope inter eruditos, quos Tanaquilem ut plurimum domi alere, vulgi quoque sermone tritum est. Exempla non congero: quisque Vestam & Lares suos adeat, atque domi uberem patientiæ suæ exercendæ materiam inveniet. Quid faciet vero in hoc rerum articulo vir doctus? cum eximio medico Andrea Vesalio non fugiet Hierosolymam, ut in insula Zacyntho in gratiam uxoris moriatur; sed feret, quod emendare non potest. Socrates hic mihi non vir solum, sed Philosophus, cum sciret in sapientem nullam injuriam cadere, pertulit suam Xantip[409]pem, atque cum risu immundæ aquæ sordes excepit, quibus ab importuna muliere perfundebatur. Caussam quidem ejus agere voluit Alcibiades, modumque ostendere, quo mulier, fera quavis immanior, in ordinem redigi posset; sed non audivit eum sapientiæ alumnus, cujus hæc vox cedro dignissima tam diu in admiratione erit, quam Philosophia in pretio: Quoniam inquiebat, imperiosam meam dominam domi talem perpetior, insuesco, & exerceor, ut cæterorum quoque foris injuriam, & petulantiam 21 dignissima] 1649 / 1650 Komma.
345 Hermodorus: Hermodoros von Ephesos, griechischer Philosoph, Freund Heraklits (um 500). Schoocks Quelle für Hermodoros’ Vertreibung durch seine Mitbürger ist Cic. Tusc. 5, 105; die Begründung: nemo de nobis unus excellat; sin quis extiterit, alio in loco et apud alios sit. 346 tribus: Zugehörigkeit zu einer (wissenschaftlichen) Zunft, ► p. 381. 347 Cujacius: ► p. 399. 348 Anspielung auf den Mythos, nach dem Apollon und Pan in einen Wettstreit mit der Flöte traten und Midas Pan den Preis zuerkannte (► auch Surd. p. 604 und dazu Lefèvre 2021, S. 88). 349 equuleus: ► p. 406. 350 Tanaquil: Gemahlin des frührömischen Königs Tarquinius Priscus; bekanntes Appellativum für eine herrschsüchtige Ehefrau. 351 Andreas Vesalius: André Vesal(e), einflußreicher französischer Anatom (1514 / 1515–1564), trat 1664 eine Pilgerreise nach Jerusalem an und starb bei der Rückreise auf Zakynthos. Robert Jütte wird folgender Hinweis verdankt: In der Rezension des Buches von Adolphe Burggrave, Études sur André Vésale, Gand 1841 (in: The North American Medico-chirurgical Review 5 (1861), S. 1–33, hier S. 32) wird auf einen Bericht von Eustachius Swartius / Schwarz (im 17. Jahrhundert Professor in Amsterdam) über die beträchtlichen Schwierigkeiten in Vesals Ehe verwiesen: “the
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würdig erachtet wurde. [408] Hermodoros345 warfen die Ephesier aus ihrer Stadt, weil sie es für ein Verbrechen hielten, daß er ihre Bürger an Tugend übertreffe. Damit ich aber nicht nur innerhalb der alten Zeiten festhänge: Paulo Giovio erlitt eine Niederlage in seinem Vaterland und erlebte, daß dem Episkopat von Como ein Mensch ohne Zugehörigkeit zu einer Zunft346 und ohne wissenschaftliche Bildung an die Spitze gestellt wurde. Jacques de Cujas347 schickte die undankbare Vaterstadt Toulouse ins Exil und zog, gleichsam als ob sie unter dem Stern des Marsyas geboren wäre, bei der Bewerbung um den Lehrstuhl Midas’ Ohren Apollo vor.348 Dasselbe geschieht bis heute täglich: Doch muß das der gelehrte Mann ertragen, der weiß, daß sein Vaterland dieser Erdkreis ist und daß die Tugend, die, obwohl unschuldig, alle verwünschen, einst, wenn sie den Augen entrückt sein wird, als Belohnung die hinfälligen Wünsche derer, die sie begehrt haben, vergelten wird. Es folgt alsdann das Hauskreuz, das schlimmer als jedes mögliche Folterpferd349 und schädlicher als jede beliebige Viper ist, nämlich die mürrische und schwierige Ehefrau. Es hatte sie nicht allein Sokrates, sondern fast jeder einzelne unter den Gelehrten, die, wie durch das Gerede des Volkes geläufig ist, meistens eine Tanaquil350 zu Hause ernähren. Beispiele stelle ich nicht zusammen. Jeder wende sich an seinen Herd und sein Haus, und er wird daheim reichen Stoff finden, seine Geduld zu üben. Was wird aber gerade in diesem entscheidenden Punkt der Dinge (des Geschehens) der gelehrte Mann tun? Mit dem herausragenden Arzt Andreas Vesal351 wird er nicht nach Jerusalem fliehen, damit er auf der Insel Zakynthos zur Freude seiner Frau stirbt, sondern er wird tragen, was er nicht bessern kann. Sokrates – hierin für mich nicht nur ein Mann, sondern ein Philosoph, weil er wußte, daß den weisen Mann kein Unrecht trifft – ertrug seine Xanthip- [409] pe und nahm mit Lachen den Unflat unreinen Wassers hin, mit dem er von der unverschämten Frau übergossen wurde.352 Zwar wollte Alkibiades dessen Sache verteidigen und einen Weg zeigen, auf dem die Frau, die schrecklicher als jedes beliebige wilde Tier war, zur Ordnung gebracht werden könne; aber der Nährer (Lehrer) seiner Weisheit erhörte ihn nicht, dessen der Unsterblichkeit so würdiges Wort solange in Bewunderung sein wird wie die Philosophie in Ansehen: „Weil ich“, sagte er, „meine herrschsüchtige Frau zu Hause als solche erdulde, gewöhne ich mich daran und übe mich darin, daß ich auch außerhalb des
blame must rest upon the lady; for that author attributes the departure of Vesalius from Spain to a desire of escaping from the vexations continually experienced from her ill temper. They left that country together, but parted shortly after; and while he pursued his journey to the Holy Land she proceeded to Brussels, where, shortly after his death, she remarried.” Das wird hier nicht weiter verfolgt; es genügt die Feststellung, daß es augenscheinlich Gerede über Vesals Ehe und seinen Tod auf Zakynthos gab (worauf sich Schoock bezieht). 352 Sokrates und Xanthippe sowie der beratende Alkibiades begegnen auch im Surditatis encomium p. 610 (► Lefèvre 2021, S. 104 mit Anm. 345, dort auch das Wassermotiv).
146 B. Original und Übersetzung facilius feram. Scilicet, gymnasium & palæstram Philosophiæ, Xantippen suam existimabat esse Socrates, ad quam haut aliter suam exercebat patientiam, atque ad palum tirones exerceri solent. Aliud statuisset quidem Euthydemus, Socratis conviva, cum inhumanissima mulier cum multis convitijs mensam subvertisset; tanti tamen non putavit Socrates, ut propterea irasceretur. An non aliquando domi tuæ accidit, ad Euthydemum dixit, ut gallina subvolans idem hoc faceret? Debile vas est mulier; maritus ei tanquam princeps datur. quis vero ex purpuratis unquam Philosophatus, qui non maluerit subditorum infirmitatem perferre & dissimulare, quam per eorum supplicium suæ tranquillitati consulere? Cogitate, quotquot in eruditorum subsellijs agnosci atque honorari cupitis. Vxoris ingenium quotusquisque perfert, non belluam, ut Mahometus in legum suarum Codice existimat, sed hominem [410] sibi æqualem, pudore atque reverentia (optimi hi magistri) ad obsequium invitat, imo tacite impellit. Præter uxorem, liberos ut plurimum degeneres, famæque suæ (difficulter plerumque partæ) decoctores experitur, qui in eruditorum ordine nomen decusque fert. Apud socci principem, nasique & leporis Attici exemplar Aristophanem, Æsculapio titulus ille defertur, quod felix in liberis suis fuerit, habueritque in utroque sexu varios, qui non infelices in exercenda Apollinis arte extiterint: cæterum hæc illius prærogativa negata fuit Hippocrati, cujus liberi parenti suo per omnia dissimiles proverbio locum fecerunt. Quantus fuerit Pericles nemo ignorat, nisi qui in historijs omnibus peregrinus est: eloquentia sua tonare & fulgurare vulgo credebatur, duos tamen stupido per om-
8–9 1649 dissimulare. 1650 dissmulare. | 13 1649 Corr.: nach invitat: imo tacite impellit. 1650 Korrektur nicht ausgeführt. | 18 1649 fuerunt. Corr. extiterint. 1650 Korrektur nicht ausgeführt.
353 Euthydemus: Euthydemos, Sophist aus Chios, in Platons Euthydemos Mitunterredner des Sokrates. Die Anekdote ist bei Plut. De cohibenda ira 13 (461d) überliefert (Hinweis von Klaus Döring). 354 subsellijs: ► p. 378. 355 Inwieweit der Koran eine solche Auffassung nahelegt, ist bekanntermaßen – noch heute – eine Frage der Auslegung. 356 soccus: ► S. 64 Anm. 175. 357 Apollinis ars: Medizin. 358 felix in liberis suis: Das dürfte sich darauf beziehen, daß der Chor im Plutos 639 Asklepios εὔπαιδα nennt, also rühmt: Er „hat Kinder, die gut, tüchtig, ihrem Vater ehrenvoll sind“ (Peter Rau). Die weiteren Spezifizierungen sind aus Aristophanes nicht zu belegen; im Plutos werden 701–702 nur die beiden Töchter Iaso (‚Heilende‘) und Panakeia (‚Allheilende‘) genannt, nicht aber die beiden bekannten der ärztlichen Kunst mächtigen Söhne Machaon und Podaleirios. 359 Gemeint ist Perikles’ Neffe Hippokrates, dessen Söhne (auch) von Aristophanes verspottet
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Hauses der anderen Unrecht und freches Gebaren leichter ertrage.“ Sokrates – versteht sich – glaubte, daß seine Xanthippe eine Schule und Übungsstätte der Philosophie sei, bei der er seine Geduld nicht anders übte, als sich die Rekruten am Pfahl zu üben pflegen. Etwas anderes hätte sicher Euthydemos,353 Sokrates’ Tischgenosse, beschlossen, als die unmenschliche Frau unter vielen Scheltworten den Tisch umgeworfen hatte – doch für so bedeutend hielt Sokrates das nicht, daß er deshalb in Zorn geraten wäre. „Ist es etwa nicht in deinem Haus zuweilen vorgekommen“, sagte er zu Euthydemos, „daß eine auffliegende Henne das ebenfalls getan hat?“ Ein schwaches Gefäß ist die Frau. Der Gatte wird ihr als Regent gegeben. Wen von den Würdenträgern, der Philosophie betrieben hatte, gab es wahrlich jemals, der die Unzulänglichkeit der Untergebenen nicht lieber hinnehmen und ignorieren als durch deren Bestrafung für seine Ruhe sorgen wollte? Bedenkt das, soviel ihr im Kreis der Gelehrten354 anerkannt und geehrt zu werden wünscht. Wie viele nehmen den Charakter der Frau nicht als tiergleich hin, wie Mahomet in der heiligen Schrift seiner Gesetze urteilt,355 sondern laden sie als Menschen, [410] der ihnen gleich ist, mit Achtung und Rücksicht (diese sind die besten Lehrmeister) zur Hingabe ein, ja bewegen sie stillschweigend dazu. Außer der Frau erfährt die Kinder als sehr oft entartete und Bankrotteure seines (gewöhnlich unter Schwierigkeiten erworbenen) Ruhms, wer im Stand der Gelehrten Namen und Würde besitzt. Bei dem Ersten der Komödie,356 dem Muster des attischen Spottes und Witzes, Aristophanes, wird dem Asklepios jene ehrenvolle Benennung verliehen, daß er hinsichtlich seiner Kinder glücklich war und verschiedene beiderlei Geschlechts hatte, die sich nicht ohne Erfolg in der Ausübung der Kunst des Apollon357 zeigten.358 Dagegen war dieser Vorzug dem Hippokrates359 verwehrt, dessen Kinder, die ihrem Vater in allem unähnlich waren, dem Sprichwort Platz gaben.360 Wie groß Perikles361 gewesen ist, weiß jeder, wenn er nicht in jeglichen Geschichtsdarstellungen fremd ist: Es wurde allgemein geglaubt, daß er in seiner Beredsamkeit donnere und blitze; dennoch hinterließ er zwei Söhne in allem von beschränkter Begabung und einen dritten, Kleinias, der sogar von Sin-
werden (Neph. 1001). Schoock (bzw. seine Quelle) denkt – nach Asklepios – fälschlich an den berühmten Hippokrates aus Kos. 360 Zu diesem Sprichwort bemerkt Hübertz 1842, S. 259: „Es ist […] ausgemacht, daß einzelne Individuen eine solche Masse moralischer Tüchtigkeit verbrauchen, daß für ihre Nachkommen in mehreren Generationen nichts übrig bleibt. Dies hat man so oft wiederholt gesehen, daß es zum S p r i c h w o r t geworden ist. ‚Große Männer haben kleine Söhne‘; weiter scheint man sich aber nicht darum bekümmert zu haben“ (Sperrung ad hoc). 361 Pericles: Perikles, allgemein hochgeschätzter athenischer Staatsmann (ca. 490–429), hatte aus der ersten Ehe zwei Söhne, Paralos und Xanthippos, die nicht in seinem Sinn reussierten (besonders der letzte nicht: Plut. Perikles-Vita 36), sowie einen Ziehsohn (Kleinias), der in Platons Alkibiades I 118e 4 von Alkibiades μαινόμενος genannt wird.
148 B. Original und Übersetzung nia ingenio filios reliquit, & tertium Cliniam, furiosum etiam. Aristides, cui invida civitas, invita licet, Iusti cognomentum detulit, nullius rei filium nactus fuit. Thucydides, qui, si Tullio fidem adhibere volumus, omnes dicendi artificio superavit, sidusque Rhetorices, à Græcis Magistris, maximo suo merito, salutatur, filios habuit, qui nequaquam paternæ virtuti responderunt, ut ipse Socrates apud Platonem disserit. Demosthenes Græcorum oratorum alpha, talibus exemplis commotus (testis est Aristides Rhetor) exclamare non dubitavit: Fatum magnorum virorum est, pessimos generare filios. Experti hoc non solum, qui sub Græco aëre vive[411]bant, sed illi ipsi, quibus Romana civitas contigerat. Disertissimus Romuli Nepotum M. Tullius Cicero, filium quidem habuit unicum, sed, qui nihil ex paterno ingenio præter urbanitatem retinuerat. Fatale scilicer fuit eruditissimis quibusque in Romana repub. viris, gloriam sua virtute partam in sobole degenere perdere. Qui mihi non credit, Ælium Spartianum, celebrem Historiæ Augustæ scriptorem, audiat. Is Diocletianum Principem hunc in modum alicubi alloquitur: Reputanti, Diocletiane Auguste, neminem prope magnorum virorum optimum & utilem filium reliquisse satis claret. Denique 〈aut sine liberis viri interierunt〉 aut tales habuerunt plerique, ut melius fuerit de rebus humanis sine posteritate discedere. Et ut ordiamur à Romulo, hic nihil liberorum reliquit, nihil Numa Pompilius quod utile posset esse reipub. Quid Camillus? num sui similes liberos habuit? Quid Scipio? Quid Catones, qui magni fuerunt? Iam vero quid de Virgilio, Crispo, & Terentio, Plauto, cæterisque alijs loquar? Quid de Cæsare? Quid de Augusto, qui nec adoptivum bonum
2–3 1649 Thucydides. 1650 Thucidides. | 16 aut sine liberis viri interierunt: Ergänzung Lef. (1649 / 1650 Springfehler gegenüber dem Original).
362 Aristides: Aristeides, athenischer Politiker und Stratege († um 467), hatte seit dem 4. Jahrhundert den Beinamen ‚der Gerechte‘. Sein Sohn Lysimachos ist einer der Gesprächsteilnehmer in Platons Laches, in dem er selbst feststellt, daß er nichts Bedeutendes vollbracht habe (179c–d). 363 Thycydides: Thukydides, athenischer Geschichtsschreiber (2. Hälfte 5. Jahrhundert), Verfasser der herausragenden Darstellung des Peloponnesischen Kriegs (431–404). Sein Sohn Melesias ist wie der vorgenannte Sohn des Aristides Gesprächspartner in Platons Laches. Lysimachos’ Feststellung ist auch mit Bezug auf ihn getroffen. (Es ist dort nur von e i n e m Thukydides-Sohn die Rede.) 364 ‚Sprachliche(r) Meisterschaft‘ (Harald Merklin). 365 Soweit direktes Zitat von De orat. 2, 56 Thucidides omnes dicendo artificio mea sententia facile vicit. 366 Aristides: Aelius Aristeides, griechischer Redner der Zweiten Sophistik (2. Jahrhundert n. Chr.). 367 Es handelt sich um die 13. Rede des Demosthenes, Fr. 4 Baiter / Sauppe (Oratores Attici, II, Turici 1850, S. 254): τῶν ἀγαθῶν ἀνδρῶν, ὥσπερ εἱμαρμένη εἴη, φαύλους ἀποβαίνειν τοὺς υἱεῖς (Hinweis von Vera Sauer).
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nen war. Aristides,362 dem die mißgünstige Bürgerschaft, wenn auch ungern, den Beinamen ‚der Gerechte‘ übertrug, bekam einen Sohn, der nichts taugte. Thukydides,363 der, wenn wir Tullius Glauben schenken wollen, alle durch die Kunst der Darstellung364 übertroffen hat365 und als Stern der Rhetorik von den griechischen Lehrmeistern, gemäß seinem so großen Verdienst, begrüßt wird, hatte Söhne, die in keiner Weise der väterlichen Leistung entsprachen, wie Sokrates selbst bei Platon erörtert. Demosthenes, das Alpha der griechischen Redner, zögerte nicht, von solchen Beispielen bewogen (Zeuge ist Aristeides,366 der Redner), auszurufen: „Es ist das Schicksal großer Männer, untauglichste Söhne zu zeugen.“367 Erfahren haben das nicht nur diejenigen, die unter griechischer Luft (griechischem Himmel) [411] lebten, sondern sogar die, denen der römische Staat zuteil geworden war. Der beredteste der Enkel des Romulus, Marcus Tullius Cicero,368 hatte zwar (nur) einen einzigen Sohn,369 aber einen, der von dem väterlichen Genie nichts außer der urbanen Art behalten hatte. Es war natürlich gerade für die gebildetsten Männer im römischen Staat fatal, den durch ihre Leistung erworbenen Ruhm in einer degenerierten Nachkommenschaft zu verlieren. Wer mir nicht glaubt, höre den berühmten Autor der Historia Augusta370 Aelius Spartianus. Der spricht den Kaiser Diokletian an einer Stelle auf folgende Weise an:371 „Mir, der ich darüber nachdenke, Diocletianus Augustus, ist hinlänglich klar, daß nahezu niemand der großen Männer einen sehr guten und tüchtigen Sohn hinterlassen hat. Überhaupt 〈starben die Männer entweder ohne Kinder〉, oder hatten die meisten solche, daß es besser wäre, ohne Nachkommenschaft aus dem Irdischen zu scheiden. Und damit wir mit Romulus beginnen: Dieser hinterließ keine Kinder, keine Numa Pompilius, die dem Staat hätten nützlich sein können. Was ist mit Camillus? Hatte er etwa Kinder, die ihm ähnlich waren? Was mit Scipio? Was mit den Catones, die bedeutend waren? Ja wahrhaftig, was soll ich über Vergil, Crispus (Sallust) und Terenz, Plautus und die anderen sagen? Was über Caesar? Was über Augustus, der nicht einmal einen tüchtigen Adoptivsohn hatte, obwohl er die Möglichkeit besessen hatte, aus allen auszuwählen? Irrig ist sogar selbst Trajan bei der Auswahl
368 Mit den Versen disertissime Romuli nepotum, | quot sunt quotque fuere, Marce Tulli (49, 1–2) apostrophiert Catull ironisch Cicero. 369 M. Tullius Cicero: Marcus Tullius Cicero, römischer Politiker (geb. ca. 65), Sohn Ciceros und Terentias, 30 cos. suff., „der Nachwelt galt er als ‚Null‘“ (Jörg Fündling. In: DNP 12, 1 (2002), Sp. 903). 370 Historia Augusta: Sammlung von 30 Biographien vor allem römischer Kaiser von Hadrian bis Numerian, um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert entstanden, verschiedene Autoren, einer ist der hier zitierte Aelius Spartianus. 371 Darstellung des Kaisers Septimius Severus von Aelius Spartianus 20, 4–21, 8. Folgende Abweichungen gegenüber der Edition von Hohl sind wichtig: 1. Der Satzteil aut sine liberis viri interierunt ist ausgelassen (unbeabsichtigter Springfehler); 2. vor Vergil sind Homer und Demosthenes (vielleicht absichtlich) ausgelassen; 3. nach Caesar ist Tullius (kaum absichtlich) ausgelassen.
150 B. Original und Übersetzung filium habuit, quum illi eligendi potestas fuisset ex omnibus? Falsus est etiam ipse Trajanus in suo municipe ac nepote deligendo. Sed ut omittamus adoptivos, ne nobis Antonini Pius & Marcus numina Reipublicæ occurrant, veniamus ad genitos. Quid Marco felicius fuisset, si Commodum non reliquisset heredem? Quid Severo Septimio, si Bassianum non genuisset? qui statim insimulatum fratrem insidiarum contra se cogitatarum, parricidali etiam figmento interemit. qui novercam, matrem quinimo, in cujus sinu [412] Getam filium ejus occiderat, uxorem duxit: qui Papinianum juris asylum & doctrinæ legalis thesaurum, quod parricidium excusare noluisset, occidit: & præfectum quidem suum, ne homini per se & per scientiam suam magno deesset & dignitas. Hactenus Spartianus: cujus verbis præter meum in dicendo morem uti volui, ne quis mea dicta ut ampullas, sophistarum filijs proprias, suspectaret. Ipsos autem principes, viris literatis æquat Spartianus: quo dolorem hi fortius ferant, nec irascantur cœnaculis suis, cum viderint ipsum Palatium, & purpuratorum basilicas ab eodem sidere regi. Ad recentiora secula si descendam, exemplorum copia obruar. Continere autem me malo, ne forte ad ætatem proximam perveniendo, viventibus adhuc, ingratam malorum suorum memoriam refricem. Filia vini acetum est, si Hebræis magistris credimus: utque naturæ consulti docent, ex generosissimis equis multoties crabrones, valde noxij, pronascuntur. Virtus & eruditio, si hereditaria essent, negligeretur qui utrumque de cœlo immerenti ex sola gratia concedit. Oculos ad agricolas convertito; vota eorum illæ plerumque arbores fallunt, in quibus excolendis curæ plurimum posuerunt. Scilicet, nisi benevolo superioris causæ subsidio cultura adjuvetur, sperantem destituit. Quem hominem genuisti, hominem nunquam exuet, vinculisque vitiorum præpeditus, ac tenebris ignorantiæ plusquam Cimmerijs circumfusus, hominem [413] non tam exercebit, quam infra belluas dimittet; si sibi & corruptæ naturæ relictus fuerit: Gaudere
372 Beide Kaiser stammen aus Spanien. 373 Hadrians Vater war nach Spartianus Hadrianus 1, 2 ein Vetter Trajans. 374 Marcus: Mark Aurel. 375 Bassianus: Caracalla. 376 fratrem: Geta. 377 Julia Domna. 378 Papinianus: Papinian, römischer Jurist (um 150–212). Zu seiner Bedeutung und den Umständen seiner Hinrichtung ► Liebs. In: HLL 4 (1997), S. 117–123. ► auch p. 474. 379 Gemeint: Caracalla habe Papinian zum Prätorianerpräfekten gemacht, damit er Ansehen erlange – und selbst diesen Hochrangigen habe er töten lassen. 380 sophistarum filij: ► p. 384. 381 Berühmte Metapher: Horaz Ars. 97 gebraucht (leere) ampullae (Flaschen) als Metapher für den hohlen Bombast einer Rede. 382 cœnacula: Räume in den oberen Stockwerken der Häuser, wo die Armen wohnen. 383 Essig ist der Sohn des Weins (d. h. Essig entsteht aus Wein), altes jüdisches Sprichwort aus dem Talmud.
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seines Landsmannes372 und Neffen.373 Aber damit wir die Adoptierten lassen, auf daß uns nicht die Antoninen Pius und Marcus, die Staatsgötter, begegnen, laß uns zu den Leiblichen kommen. Wer wäre glücklicher als Marcus374 gewesen, wenn er nicht Commodus als Erben hinterlassen hätte? Wer glücklicher als Septimius Severus, wenn er nicht Bassianus375 gezeugt hätte? Der sofort den Bruder,376 der eines gegen ihn beabsichtigten Hinterhalts bezichtigt wurde, gar durch die Erdichtung eines (geplanten) Brudermords umbrachte. Der seine Stiefmutter, ja vielmehr Mutter,377 in deren Schoß [412] er ihren Sohn Geta getötet hatte, heiratete; der Papinian,378 den Hort des Rechts und die Fundgrube der Rechtswissenschaft, töten ließ, weil er den Brudermord nicht hatte entschuldigen wollen – und zwar seinen Präfekten, damit dem aufgrund seiner Person und seiner Wissenschaft bedeutenden Mann nicht auch Ansehen fehle.“379 Soweit Spartianus – dessen Worte ich entgegen meiner Gepflogenheit in der Darstellung benutzen wollte, damit nicht jemand das von mir Gesagte als hohlen, der Sippe380 der Sophisten eigenen Bombast381 verdächtige. Aber selbst die Kaiser vergleicht Spartianus den gelehrten Männern – damit diese den Schmerz standhafter ertragen und nicht ihren Mansarden382 zürnen, wenn sie gesehen haben, daß selbst der Palast und die Basiliken der Würdenträger von demselben Gestirn (wie sie) regiert werden. Wenn ich zu den neueren Epochen hinabsteige, werde ich von der Fülle der Beispiele überschüttet. Ich will mich aber lieber beschränken, damit ich nicht zufällig, wenn ich zu sehr naher Zeit komme, noch Lebenden eine unerfreuliche Erinnerung an ihre Mißratenen wieder aufreiße. Eine Tochter des Weins ist der Essig, wenn wir den jüdischen Lehrmeistern glauben;383 und wie die Naturkundigen lehren, entstehen aus edelsten Pferden oftmals sehr schädliche Hornissen.384 Wenn Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit erblich wären, würde der nicht beachtet, der beides vom Himmel her dem, der es nicht (selbst) verdient, allein aus Gnade gewährt. Wende die Augen zu den Bauern; deren Wünsche enttäuschen meistens jene Bäume, in deren Aufzucht sie die meiste Mühe verwendet haben. Wenn nämlich der Landbau nicht durch die gütige Hilfe der höheren Ursache unterstützt wird, enttäuscht er den Hoffenden. Der Mensch, den du gezeugt hast, wird niemals den Menschen ablegen und – von den Fesseln der Fehler gebunden und von der mehr als Kimmerischen Finsternis385 der Ignoranz umgeben – den Menschen [413] nicht so sehr ausbilden als vielmer unterhalb der wilden Tiere (ent)lassen, wenn er sich und seiner kor-
384 Die Theorie, daß aus Kadavern von (edlen) Pferden schlimme Hornissen entstehen können, war den Humanisten z. B. aus den Etymologiae von Isidor von Sevilla bekannt: scrabrones nascuntur de equorum carnibus putridis (12, 8, 4). 385 Die kimmerische Finsternis war sprichwörtlich (Otto 1890, S. 83). Über das mythische Volk der Kimmerier im äußersten Westen am Ozean (wo ein Eingang zur Unterwelt gedacht wurde) berichtet schon die Odyssee 11, 14–19.
152 B. Original und Übersetzung cum Magni Alexandri parente potes, si nuncius de nato filio adferatur, quis qualisque tamen futurus sit, in incerto est, educationisque & institutionis curam prostituere supremus judex potest: cui non insolens est ijs ipsis, quos commendat pietas, filios in pœnam concedere. Cogitate, quotquot literas colitis, Deoque, instar Gigantum, nunquam vos opponite. Dixi de liberis; quos doctus tamen aliquando bonos 5 suique similes nanciscitur.
[libri] Durius vero fatum circa ingenij industriæque suæ fœtus, libros innuo, experitur. Nunquam scripto ultra nonum quoque annum suppresso & limato, sic quisquam omnes ingenij nervos intendit, aut in stylo vertendo digitos rodit, quin Aristarchus 10 cum sua virgula sit paratus, Theonque in antecessum dentes suos exacuerit. Natura ad reprehendenda aliena facta & dicta fertur homo; audetque judicare, quando abnuit scire. Volupe autem maxime putat genuinum in libros, sæpe neque visos, neque lectos, nedum intellectos, frangere, eorumque patres atque authores ante deportatos vult in Ignorantiæ & Audaciæ insulas, quam quid deliquerint, 15 exploratum habeat. Fatum hoc non hujus illiusve solum libri, aut Scriptoris, sed omnium, quotquot in librarijs & bibliothecis noti sunt. Plato cui ipsa Invidia testimonium hoc perhibere cogitur, quod fuerit omnium, [414] quicunque scripserunt, aut locuti sunt, & copia dicendi & gravitate princeps, per scomma aureus ab Epicuro est vocatus, quod sublestæ notæ dogmata, eloquentiæ pellucentis bractea 20 contexerit: in ejus quoque Dialogis plerique confusionem jam olim notarunt; Theopompus vero Chius, qui librum scripsit contra Platonis consuetudinem, si Athenæo credimus, complures ex ijsdem mendaces atque inutiles esse cum convitio quoque
386 Quelle: Plut. Alexander-Vita 4. 387 liberis / libros: Wortspiel. 388 Horaz empfiehlt, eine Schrift vor der Veröffentlichung bis in das neunte Jahr zurückzuhalten (und an ihr zu feilen): nonum prematur in annum (Ars 388). Schoock steigert: ultra nonum annum. 389 stylo vertendo: Wieder ist Horaz Gewährsmann: Man wendete den Stift, um auf dem Wachstäfelchen Geschriebenes auszustreichen und die neue Version einzusetzen: saepe stilum vertas, iterum quae digna legi sint | scripturus (Sat. 1, 10, 72–73). 390 Zu Aristarch und Theon ► p. 400. 391 Sonst obelus, ► p. 400. 392 D. h., so lange auf den Büchern herumzubeißen, bis ein (eigener) Backenzahn bricht! Das Bild nach Pers. 1, 115 (gelehrt erklärt von Kißel 1990, S. 263). 393 Das ironische Urteil bei Diog. Laert. 10, 8. Zu aureus ► p. 377. 394 Solin setzt in der Vorrede zu seinem Werk De mirabilibus mundi den Sauerteig der Erkenntnis gegen den Flitter der Redekunst: si animum propius intenderis, uelut fermentum cognitionis magis ei inesse quam b ra t t e a s eloquentiae deprehendes.
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rupten Natur überlassen bleibt. Du kannst dich mit dem Vater Alexanders des Großen freuen, wenn die Nachricht über die Geburt eines Sohnes gebracht wird386 – wer und wie er jedoch in Zukunft sein wird, ist im Ungewissen; und die Sorge um die Erziehung und Ausbildung kann der höchste Richter vereiteln: Dem ist es nicht ungewohnt, selbst denen, die die Pietas empfiehlt, Söhne zur Strafe zuzuweisen. Bedenkt das, soviele ihr Wissenschaft pflegt, und stellt euch niemals wie die Giganten Gott entgegen. Ich habe über die Kinder gesprochen, die der Gelehrte dennoch zuweilen als Gute und ihm Ähnliche erhält.
[Polemik gegen die Schriften] Doch ein härteres Schicksal erfährt er bezüglich der Sprößlinge seines Geistes und Fleißes, ich meine die Bücher.387 Niemals hat einer eine Schrift auch über das neunte Jahr zurückgehalten388 und ausgefeilt und so alle Nerven des Geistes angestrengt oder beim Umwenden des Stiftes389 die Finger benagt, daß nicht Aristarch390 mit seiner kritischen Virgula391 bereitstand und Theon im voraus seine Zähne schärfte. Von Natur wird der Mensch getrieben, fremde Taten und Äußerungen zu tadeln; und er erkühnt sich zu urteilen, da er nun einmal ablehnt zu verstehen. Für höchst lustvoll hält er es, einen Backenzahn gegen Bücher zu brechen,392 die er oft weder gesehen noch gelesen, geschweige verstanden hat, und wünscht eher deren Väter und Autoren auf die Inseln der Ignoranz und Vermessenheit verbannt, als er herausgefunden hat, was sie gefehlt haben. Das ist das Schicksal nicht nur dieses oder jenes Buches oder Autors, sondern aller, soviele bei Buchhändlern und in Bibliotheken bekannt sind. Platon, dem selbst die Mißgunst dieses Zeugnis zu geben gezwungen wird, daß er von allen, [414] die auch immer geschrieben oder gesprochen haben, sowohl hinsichtlich der Fülle und Erhabenheit des Vortrags (des Stils) Erster gewesen ist, wurde von Epikur mit Sticheln ‚golden‘ genannt,393 weil er Lehrsätze von schwacher Qualität und Flitter394 durchscheinender395 Redekunst zusammengewoben habe. Auch in seinen Dialogen haben sehr viele schon früher ein Durcheinander getadelt.396 Theopomp von Chios397 vollends, der ein Buch gegen Platons gewohntes Verfahren geschrieben hat, behauptete auch in der Tat mit Polemik, wenn wir Athenaios vertrauen, daß
395 eloquentia pellucens: wie perlucens oratio (Cic. Brut. 274). 396 ► zu Grégoire S. 82. 397 Theopompus Chius: Theopomp von Chios, griechischer Historiker († 320); Hauptwerk Hellenika (12 B.), Fortsetzung des Thukydides (nur Fragmente erhalten). Der Vorwurf wird von Athenaios, Deipnosoph. 508c unter Hinweis auf Theopomps Buch Κατὰ τῆς Πλάτωνος Διατριβῆς genannt. ► auch p. 423.
154 B. Original und Übersetzung contendit. Aristoteles, quo nihil politius, aut acutius se nosse testatur Marcus Cicero, scriptorum & morum suorum censores florentibus adhuc Athenis expertus est Aristoxenum, Timæum, & Epicurum: nec tantum à Ramo & Patricio utroque, sed ante secula, ab ipso quoque Valerio Maximo arrogantiæ in scribendo affectatæ insimulatus fuit. Recentiores ejus æmulos, qui ex librorum tanti viri insectatione 5 gloriam captarunt, commemorare supersedeo. Illud maxime deplorandum, quod Philosophus ad unguem factus, tum sibi, tum ingenij sui monumentis infestissimos habeat antiquos Christianæ Ecclesiæ Doctores. Ne ad suffragium vero vocem Iustinum Martyrem, Tertullianum, aliosque vetustiores; Lactantius plurimis in locis eum carpit, tanquam secum dissidentem, & repugnantia dicentem atque sentientem. 10 Alibi non dubitat, quasi ex ordine Ceritorum aut Bacchantium esset, proclamare: Aristoteles Deum nec coluit, nec curavit. Aliud non [415] censuerunt Augustinus, Hieronymus, Ambrosius, Theodoretus, alijque ejusdem ævi, quorum sententiam, suum illi suffragium copulando, prodit Nazianzenus, quando cum stomacho hæc alicubi pronunciat: Abiice Aristotelis minute loquacem sagacitatem, abiice mortife- 15 ros illos super Anima sermones, & universa humana illa dogmata. Quis, & quantus
398 Luc. 143 ipsum Aristotelem, quo profecto nihil est acutius nihil politius. 399 Aristoxenus: Aristoxenos von Tarent, griechischer Musiktheoretiker (4. Jahrhundert), Schüler und Mitarbeiter des Aristoteles. Nach der Schoock bekannten Suda beschimpfte er (ὕβρισε) Aristoteles, daß nicht er, sondern Theophrast sein Nachfolger in der Schule wurde. 400 Timaeus: Timaios von Tauromenion, westgriechischer Historiker (ca. 350–ca. 260), Hauptwerk Sikelikai Historiai (Titel unsicher), eine Geschichte Siziliens in 38 B. Schoock (oder seine Quelle) bezieht sich kaum auf eine bestimmte Stelle, denn Timaios unterzog „als erster griech. Historiker fast alle seine Vorläufer und andere lit. Persönlichkeiten scharfer Kritik“ (Klaus Meister. In: DNP 12, 1 (2002), Sp. 576). Von ‚übermäßiger Kritik‘ u. a. an Aristoteles spricht Carlo Scardino. In: HGL 2 (2014), S. 652 (mit Verweisen). 401 ► Diog. Laert. 10, 8. 402 Petrus Ramus: Pierre de la Ramée, französischer Humanist und Philosoph (1515–1572), lehnte die aristotelische Logik ab, mußte wegen seiner antiaristotelischen Position und kalvinistischen Überzeugung mehrfach Paris und Frankreich verlassen, in der Bartholomäusnacht ermordet. ► auch p. 483. 403 Patricius uterque: Der eine ist Francesco Patrizi (► p. 399), der andere Franciscus Patricius Senensis (Francesco Patrizi aus Siena), italienischer Humanist und Bischof (1413–1494); wichtig: De regno et regis institutione libri IX (Parisiis 1531); Aristoteles begegnet z. B. in folgendem Titel: Il sacro regno del vero reggimento e della vera felicità del principe: composto dal reuerendo Patritio vescovo di Gaeta, dove si disputa del principato secondo Platone, Aristotele, Zenone, Pittagora, e Socrate (In Venetia 1569). 404 Valerius Maximus: Römischer Historiker (1. Jahrhundert n. Chr.), schrieb Facta et dicta memorabilia in 9 B., Tiberius gewidmet. Kritik an Aristoteles: 8, 14 ext. 3. 405 ad unguem factus: ► p. 378. 406 Iustinus Martyr: Wanderprediger, Philosoph und christlicher Märtyrer aus Palaestina, 165 in Rom hingerichtet, einer der frühesten Apologeten.
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mehrere von denselben (Dialogen) nachgemacht und nutzlos seien. Aristoteles – daß er nichts Gebildeteres oder Scharfsinnigeres kenne, bezeugt Marcus Cicero398 – erfuhr, während Athen noch in Blüte stand, als Zensoren seiner Schriften und Gewohnheiten (Methoden) Aristoxenos,399 Timaios400 und Epikur.401 Nicht nur von Ramus402 und den beiden Patricius,403 sondern vor Jahrhunderten auch selbst von Valerius Maximus404 wurde er affektierter Arroganz beim Schreiben geziehen. Seine neueren Konkurrenten, die aus der Verunglimpfung der Bücher des so großen Mannes Ruhm zu gewinnen suchten, zu erwähnen erspare ich mir. Das ist am meisten beklagenswert, daß der vollkommene405 Philosoph einerseits für seine Person, andererseits für die Werke seines Genies die alten Gelehrten der christlichen Kirche als große Feinde hat. Damit ich aber nicht Justin den Märtyrer,406 Tertullian407 und andere Ältere zum Urteil rufe: Laktanz408 rupft ihn an sehr vielen Stellen gleichsam als einen, „der mit sich selbst in Widerspruch steht und Sichwidersprechendes sagt und denkt“.409 Andernorts trägt er, als wäre er aus der Klasse der Hirnwütigen oder der im Bacchus-Kult Rasenden, keine Bedenken auszurufen: „Aristoteles hat Gott weder verehrt noch sich um ihn gekümmert.“410 Anderes [415] urteilten nicht Augustinus, Hieronymus, Ambrosius, Theodoretus411 und andere derselben Zeit, deren Ansicht der Nazianzener,412 seine Zustimmung mit ihr verbindend, berichtet, wenn er an einer Stelle mit Unwillen ausruft: „Wirf Aristoteles’ bis ins einzelne geschwätzigen Scharfsinn, wirf jene tödlichen Disputationen über die Seele und alle jene Lehrsätze über den Menschen fort!“413 Wer und wie
407 Tertullianus: Quintus Septimius Florens Tertullianus, lateinischer Kirchenschriftsteller in Karthago (2. / 3. Jahrhundert), umfangreiches Werk erhalten, bedeutend: Apologeticum, eine Verteidigung des Christentums (197 / 198). 408 Lactantius: Lucius Caelius Firmianus Lactantius, christlicher lateinischer Schriftsteller aus Nordafrika (ca. 250–ca. 325), umfangreiches Werk erhalten, bedeutend die apologetische Schrift Divinae institutiones (Erstfassung 304 / 311). 409 Aristoteles, quamvis secum ipse dissideat, ac repugnantia sibi et dicat et sentiat, in summum tamen unam mentem mundo praeesse testatur (Div. Inst. 1, 5). 410 quod si aliquis juste innocenterque vivat, et idem Deum nec colat, nec curet omnino, ut Aristoteles, et Timon […] (De ira Dei 19). 411 Theodoretus: Theodoretos aus Antiochia (Syrien), Bischof von Kyrrhos (393–ca. 460), Verfasser einflußreicher exegetischer und apologetischer Schriften, warf Aristoteles vor, daß er sich von Platon abgewandt habe (► Stahr 1830, S. 50–51; dort auch zu Augustinus, zu Gregor von Nazianz S. 155 Anm. 5). 412 Nazianzenus: Gregor von Nazianz in Kappadokien, griechischer Theologe (329 / 330–389 / 390), Verfasser von Reden, Briefen und Gedichten. 413 βάλλε μοι […] Ἀριστοτέλους τὴν μικρολόγον πρόνοιαν, καὶ τὸ ἔντεχνον, καὶ τοὺς θνητοὺς περὶ ψυχῆς λόγους, καὶ τὸ ἀνθρωπικὸν τῶν δογμάτων (Orationes Theologicae 1, 10). Blaunt (1694) 1710, S. 33 zitiert den Satz in lateinischer Übersetzung: Abjice mihi Aristotelis minutiloquam sagacitatem & artificium, abjice mortuales illos super Animâ Sermones, & universè humana illa dogmata. Schoock (bzw. seine Quelle) könnten der lateinischen Übersetzung folgen.
156 B. Original und Übersetzung sit Seneca, nulli, nisi qui Musas & Gratias ignorat, ignotum esse potest. Bonæ mentis advocatus magnus inter magnos vir, & sapientiæ fons apud nuperum aliquem Doctorem ex Criticorum gente singulis fere paginis audit, nec sine caussa. Vitæ quippe Philosophari docet, strictaque & culta oratione pauca tradidisse contentus, semper plus in recessu habet, quam prima fronte promittit; lectoremque & auditores non tam verborum inani sono perfundit, quam sententiarum elegantissime contextarum pondere oppugnat, & superat. Is ipse tamen Seneca, si Fabium Quintilianum audimus, in Philosophia parum diligens fuit, ususque corrupta in eloquendo oratione, rerum pondera minutissimis sententiis fregit. Vtque testis est, sive Agellius, sive Aulus Gellius, multorum sententia fuit, nullum operæ pretium esse libros illius attingere, quod oratio tam vulgaris atque protrita sit, quam res & sententiæ inepto inanique sono jactantur. ne quid de Caligula principe dicam, qui maximi hujus Stoici orationem, arenam sine calce vocare solet; & tot ejus æmulis, qui illo vivente & [416] florente adhuc, jactare non dubitarunt; Neronem discipulum, Senecam à veterum oratorum cognitione avertisse, quo eum diutius in admiratione sui detineret. Maximus Latini eloquij author, qui cum divina poësi universam Philosophiam conjunxit, Virgilius Maro scil. cujus gloriam neque ullius laudibus crescere, neque minui posse, cum ratione existimavit Macrobius; quemque Vellejus Paterculus Latini carminis principem vocat; non penulatorum solum Grammaticorum, sed, ipsorum virorum principum sinistra judicia incurrit. Ennij stercora gemmis illius prætulit Hadrianus Princeps, Augustique pronepos Caligula
6 1649: perfundit. 1650 perfnndit (umgekehrtes u).
414 Seneca: Lucius Annaeus Seneca, römischer Staatsmann, Philosoph, Dichter (*um die Zeitenwende, † 65), Erzieher Neros, von diesem später zum Selbstmord gezwungen (► p. 393). sapientiae fons wird Seneca öfter in Schriften der Humanisten genannt. 415 Der criticus ist Johann Michael Dilherr (1604–1669), ev. Theologe und Pädagoge (Rector Academiae Ienensis). Angespielt wird auf sein Buch Magnus ille inter magnos Vir & sapientiae fons Seneca […] (Jena 1635). Die Wendung bonæ mentis advocatus ist eine senecaische Prägung (Epist. 94, 59 necessarium itaque admoneri est habere aliquem advocatum bonae mentis), die öfter zitiert wurde. 416 Wohl ein Beispiel dafür, daß Schoock einen klassischen Text aus dem Kopf zitiert. Quint. Inst. 10, 1, 129–130: in philosophia parum diligens […] / in eloquendo corrupta pleraque […] / si rerum pondera minutissimis sententiis non fregisset. Vielleicht wurde er durch Grégoire angeregt (► S. 83). 417 Da ein Urteil über Seneca eines Agellius nicht nachweisbar ist, das folgende Urteil aber von Aulus Gellius stammt, ist anzunehmen, daß Schoock in seinen Notizen oder seiner Quelle als Verfasser des Urteils ‚A. Gellius‘ (= Aulus Gellius) fand, bei der Ausarbeitung aber flüchtig war. Bei Gell. Noct. Att. 12, 2, 1 heißt es: de Annaeo Seneca partim existimant ut de scriptore minime utili, cuius libros adtingere nullum pretium operae sit, quod oratio eius vulgaria videatur et protrita, res atque sententiae aut inepto inanique impetu sint […]. 418 […] harenam esse sine calce (Suet. Cal. 53, 2). ► zu Grégoire S. 82.
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groß Seneca414 ist, kann keinem, wenn ihm nicht die Musen und Grazien unbekannt sind, unbekannt sein. Als Anwalt des gesunden Denkens gilt der große Mann unter den großen Männern und als Quelle der Weisheit bei einem neueren Lehrmeister aus dem Stamm der Kritiker415 aufgrund fast jeder einzelnen Seite, und nicht ohne Grund. Er lehrt ja Lebensphilosophie und – sich bescheidend, in bündiger und gepflegter Rede weniges weitergegeben zu haben – hat immer mehr in der Hinterhand, als er mit dem ersten Anschein verspricht; den Leser und die Hörer überschüttet er nicht sowohl mit leerem Wortgetöse als er sie vielmehr mit dem Gewicht von Sätzen, die auf die eleganteste Weise gefügt sind, bestürmt und überwältigt. Doch gerade dieser Seneca war, wenn wir Quintilian hören, „in der Philosophie zu wenig sorgfältig, gebrauchte im Ausdruck eine verderbte Rede, brach das Gewicht der Gegenstände durch kleinste Sätze.“416 Und wie, sei es Agellius, sei es Aulus Gellius417 Zeuge ist, war es die Ansicht vieler, es sei nicht der Mühe wert, seine Bücher anzurühren, weil die Rede in gleichem Grad gewöhnlich und abgegriffen sei, wie die Gegenstände und Sätze in einem unpassenden und hohlen Klang dahingeworfen werden. Damit ich nicht etwas über den Kaiser Caligula sage, der die Rede dieses sehr großen Stoikers Sand ohne Kalk zu nennen pflegte,418 und über so viele seiner Konkurrenten, die, während er lebte und [416] noch in Ansehen stand, verlauten zu lassen keine Bedenken trugen, den Schüler Nero habe Seneca von der Kenntnis der alten Redner abgebracht, damit er ihn länger in der Bewunderung der eigenen Person halte.419 Der größte Autor der lateinischen Sprache, der mit der Dichtung die gesamte Philosophie verbunden hat, nämlich Vergilius Maro, dessen Ruhm, wie mit Recht Macrobius420 geurteilt hat, durch niemandes Lob wachsen noch geschmälert werden kann und den Velleius Paterculus421 den Ersten der lateinischen Dichtung nennt, begegnet ungünstigen Urteilen nicht allein einfacherer422 Grammatiker, sondern selbst Erster Männer. Ennius’ Mist423 zog dessen (Vergils) Perlen Kaiser Hadrian vor,424 und Augustus’ Urenkel Caligula unternahm es, gegen die göttliche Aeneis mit Tadeln vorzugehen
419 ► zu Grégoire S. 83. 420 Macrobius: Ambrosius Macrobius Theodosius, römischer Philologe (um 400), Hauptwerke: Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis und Saturnalia in 7 B. Schoock bezieht sich auf folgendes Urteil über Vergil: […] Maronis gloria ut nullius laudibus crescat, nullius vituperatione minuatur (Sat. 1, 24, 8). 421 Vellejus Paterculus: Gaius Velleius Paterculus, römischer Historiker augusteischer Zeit (15 n. Chr. Praetor), verfaßte eine Historia Romana in 2 B., ein Kompendium der römischen Geschichte. Das Urteil: 2, 36, 3: princeps carminum Vergilius. ► p. 418. 422 paenula = ‚Kittel‘, ‚Kleidung geringer Leute‘, somit einfache, durchschnittliche Grammatiker. ► p. 434, 442, 461, 484. 423 Ennius: ► p. 404. 424 Vergilio Ennium […] praetulit (Spart. Hist. Aug. 16, 6).
158 B. Original und Übersetzung divinam Æneidem convitijs incessere, & parum quin proscribere, instituit. Ne quis miretur hodie adhuc inveniri posse, qui illoto ore, apertoque capite dicere audent, præclarissimum & optimum poëtarum humi serpere. In Trogo Pompejo, viro priscæ eloquentiæ, ut vocatur à Iustino breviatore suo, fictas imaginariasque orationes reprehendit Livius. In ipso autem Livio, cui lacteam ubertatem Fabius Quinti- 5 lianus tribuit, Asinius Pollio Patavinitatem notavit: Cæsarque Antoninus in Itinerario prolixe probare laborat, eum fidei non usquequaque bonæ esse, vocatque invidum, verbosum, & negligentem historicum. ne quid dicam de viro alias incomparabili Iusto Lipsio, cujus hæc vox alicubi observata fuit: A Livij lectione semper commotior surrexi, non semper melior, [417] aut ad vitæ casus instructior. Ignosce- 10 re an irasci Lipsio conveniat, ambigo. Taciti amorem, quo excæcatus erat, vocem hanc, viro alias judiciosissimo, expressisse credo. Is ipse tamen Tacitus, in quo laudando modum invenire non potuit Lipsius, quemque parentem suum vocare solet Tacitus Augustus, (si fides Æmilio Ferreto habenda) non satis Latine scribit; ejusque dictio, judice Alciato viro summo, præ illa Pauli Iovij, aspera & senticeto 15 alicui similis. Valerius Maximus, quem omnes scriptorem utilissimum esse cre-
16 similis.] 1649 Punkt. 1650 Komma.
425 ►Suet. Cal. 34, 2. 426 illoto ore / apertoque capite dicere: Kombination zweier redensartlicher Wendungen, die erste wie illotis manibus / illotis pedibus (Otto 1890, S. 209), die zweite wörtlich (Otto 1890, S. 75) im Sinn von ‚offen heraus‘. 427 humi serpere: eine horazische Wendung: serpit humi tutus nimium timidusque procellae (Ars 28, vom ‚übertriebenen Vermeiden jeden Schwulstes‘: Kießling, Heinze 1914, S. 293). 428 Pompeius Trogus, Geschichtsschreiber der augusteischen Zeit, verfaßte eine Universalgeschichte Historiae Philippicae (44 B.), in der das von Philipp gegründete Makedonische Reich im Mittelpunkt steht; nur in einem Auszug von Marcus Iunianus Iustinus (2. Jahrhundert n. Chr.) erhalten. Justin nennt Trogus in der Praefatio 1 einen vir priscae eloquentiae. 38, 3, 11 sagt er, Trogus habe bei Sallust und Livius direkte Reden getadelt (in Livio et in Sallustio reprehendit, quod contiones directas pro sua oratione operi suo inserendo historiae modum excesserint). ► zu Grégoire S. 82. 429 Inst. 10, 1, 32 lactea ubertas: ‚der mit nahrhafter Milch überströmende Erzählstrom‘ (Rahn 1988). Zur lactea ubertas ► Quadlbauer 1983, S. 347–366. 430 Asinius Pollio: Römischer Staatsmann, Schriftsteller und Dichter (76 v. Chr.–5 n. Chr.); nach Quint. Inst. 1, 5, 56 und 8, 1, 3 tadelte er Livius’ patavinitas (Paduaner Dialekt). 1, 5, 56 heißt es: reprendit in Livio Patavinitatem. ► zu Gregoire S. 82. 431 Itineraria waren Verzeichnisse des Straßennetzes des römischen Reiches. Hier ist das überlieferte Itinerarium provinciarum Antonini Augusti gemeint. Die erhaltene Fassung ist zu Anfang der diokletianischen Zeit entstanden (Jan Burian. In: DNP 5 (1998), Sp. 1180–1181). Caesar Antoninus: Caracalla. Die Angabe ist unzutreffend. Schoock dürfte – wie in dem ganzen Katalog? – einer Quelle folgen, der er in der Eile zu Unrecht vertraute bzw. die er mißverstand. 432 Der zweite Teil des Urteils über Livius geht auf Suet. Cal. 34, 2 zurück: et Vergili et Titi Livi
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und sie beinahe zu ächten.425 Keiner wundere sich, daß bis zur gegenwärtigen Zeit (Leute) gefunden werden können, die mit unreinem Mund und unverhülltem Kopf426 zu sagen wagen, der hochberühmte und beste der Dichter krieche auf dem Boden.427 Bei Pompeius Trogus,428 einem Mann alter Beredsamkeit, wie er von Justin, seinem Epitomator, genannt wird, tadelt Livius erdichtete und imaginäre Reden. Bei Livius selbst aber, dem eine milchreine Fülle Fabius Quintilianus zugesprochen hat,429 rügte Asinius Pollio die Patavinitas;430 und Caesar Antoninus bemüht sich im Itinerarium431 ausgiebig zu beweisen, daß er nicht überall von guter Zuverlässigkeit sei, und nennt ihn einen mißgünstigen, wortreichen und unachtsamen Historiker.432 Damit ich nichts über Justus Lipsius,433 den ansonsten unvergleichlichen Mann, sage, dessen folgendes Wort anderswo beachtet worden ist: „Von der Lektüre des Livius erhebe ich mich immer bewegter, nicht immer besser [417] oder unterrichteter hinsichtlich der Ereignisse des Lebens.“ Ob es passend(er) ist, Lipsius zu verzeihen oder zu zürnen, darüber bin ich im Zweifel. Ich glaube, daß die Liebe zu Tacitus, von der er blind war, dieses Wort dem Mann, der sonst von bestem Urteil war, abgenötigt hat. Gerade dieser Tacitus, bei dessen Loben Lipsius kein Maß finden konnte und den Tacitus Augustus434 seinen Verwandten zu nennen pflegte, schreibt (wenn Emilio Ferretti Glauben zu schenken ist)435 nicht hinreichend Latein; und sein Stil ist, wie Alciato, der hochbedeutende Mann, urteilt, im Vergleich zu dem des Paulo Giovio, rauh und einem Dorngestrüpp ähnlich. Valerius Maximus,436 der, wie alle glauben, ein sehr nützlicher Autor ist,
scripta et imagines paulum afuit quin ex omnibus bibliothecis amoveret, quorum alterum ut nullius ingenii minimaeque doctrinae, alterum ut verbosum in historia neglegentemque carpebat. Diese Stelle ist auch anderen Orts (direkt oder indirekt) Schoocks Quelle, bezüglich Vergils weiter oben, bezüglich der von Sueton sogleich genannten Juristen p. 384. 433 Iustus Lipsius: Joest Lips, niederländischer Altertumswissenschaftler und Politologe (1547– 1606), Professor in Jena, Löwen und Leiden. Das vielzitierte Urteil über Livius findet sich in der Praefatio zu Lipsius’ erster (epochemachender) Tacitus-Ausgabe: Historiarum et Annalium Libri qui exstant (Antwerpen 1574). 434 Tacitus Augustus: Marcus Claudius Tacitus Augustus (ca. 200–276, römischer Kaiser 275–276). 435 Aemilius Ferretus: Emilio Ferretti, italienischer Jurist (1489–1552), Autor des Buches In Cornelii Taciti Annalium libros Aemylii Ferretti iurisconsulti annotatiunculæ (Lugdunum 1541). Zu seinem Urteil über Tacitus’ Stil und die im folgenden genannten Gelehrten Alciato und Giovio ► Neumann 2013, S. 64: „Den Vorwurf des schlechten Lateins, der von Andrea Alciato und Emilio Ferretti, zwei Juristen und Tacitusherausgebern, erhoben worden war, tut Muretus […] damit ab, dass die beiden zwar gute Rechtsgelehrte seien, von Latein aber nicht so viel verstünden, dass ihnen ein begründetes Urteil über den Stil des Tacitus zugetraut werden könne. Gewiss, fügt er ironisch hinzu, habe Paolo Giovio, ein Freund des Alciato, nichts von der acerbitas, die Tacitus vorgeworfen werde. Giovio schreibe ja so honigsüß, dass sein Stil nicht nur fließe, sondern zerfließe“ (dazu Anm. 224: „Ferretti meinte im Vorwort zu seiner Ausgabe der Werke des Tacitus von 1542, dass es Tacitus an ‚Nitor et puritas linguae‘ […] fehle“). 436 ► p. 414.
160 B. Original und Übersetzung dunt, ob exemplorum copiam, Iosepho Scaligero Criticorum principi si credimus, ineptus sententiarum affectator est. Quisquis Musas novit, cognoscit quoque novem Herodoti Musas, lubensque fatetur, falsum non fuisse Ciceronem, cum vocaret eum historiæ patrem, qui sine ullis salebris, quasi sedatus amnis fluit. Contra eruditum tamen illud Musarum opus, jam olim librum scripsit Harpocration cog- 5 nomine Ælius; ipseque Strabo vir maximus atque Geographorum princeps scribere non dubitavit, eum ipsum Herodotum in historia sua nugari, atque condimenti loco prodigiosas fabulas orationi adhibere. Quod Herodoto, contigit quoque Thucydidi, quem quamquam Cicero agnoscit esse rerum gestarum pronunciatorem sincerum atque grandem; plurimi tamen Flavio Iosepho teste, variorum mendacio- 10 rum eum accusarunt. Iulij Cæsaris commentarij, quos de rebus à se gestis scripsit, [418] nudi sunt, recti, & venusti, omni ornatu orationis, tanquam veste, detracto: de ijs tamen existimavit Asinius Pollio, parum diligenter, parumque integra veritate compositos esse: cum Cæsar pleraque, & quæ per alios erant gesta, temere crediderit, & quæ per se vel consulto, vel memoria lapsus, perperam ediderit. Vellejus Pater- 15 culus styli elegantis historicus, quanquam multa habet quæ haut alibi invenias, plurimis tamen displicet, quod in sui ævi rebus pudendum in modum domui Augustæ, & Sejano aduletur. In Dionysio Halicarnassæo, quo nemo ex antiquis Historicis curatius tempora observavit, plerique dictionis asperitatem, & scrupulo-
437 ► p. 399. 438 Scaligers Urteil über Valerius Maximus (historicus, ineptus affectator sententiarum, quamquam non inutilis propter exempla) findet sich in seiner Ausgabe: Publii Virgilii Maronis Appendix […] (Leiden 1573, S. 514). ► auch Blount (1690) 1710, S. 100. Müller 1749, S. 392 betont, daß Scaliger „dem Valer nichts schenkte“. 439 Die Einteilung von Herodots Historiai (5. Jahrhundert) in neun Bücher und ihre Zuordnung zu den neun Musen wurde erst später vorgenommen. 440 De leg. 5: apud Herodotum patrem historiae. 441 Orator 39: Herodotus […] sine ullis salebris quasi sedatus amnis fluit. 442 Aelius Harpokration (wohl 2. Jahrhundert n. Chr.) schrieb nach der Suda ein Buch Περὶ τοῦ κατεψεῦσθαι τὴν Ἡροδότου ἱστορίαν. 443 Strabo: Strabon von Amaseia, griechischer Philosoph und Geograph, Zeitgenosse von Augustus und Tiberius, erhalten Geographika (sc. Hypomnemata). Zur Kritik an Herodot: ► 17, 1, 52 C 818 (über den Nil): πολλὰ δ’ Ἡρόδοτός καὶ ἄλλοι φλυαροῦσιν, ὥσπερ μέλος ἢ ῥυθμὸν ἢ ἥδυσμά τι τῷ λόγῳ τὴν τερατείαν προσφέροντες. Die Übersetzung von Guilielmus Xylander lautet (Basel 1571, S. 543): „Enimuerò multa cùm cæteri nugantur, tum Herodotus: ueluti cantus loco, ut rhythmi, aut condimenti, prodigiosas fabulas orationi adhibentes“ (Hinweis von Eckart Olshausen). Xylanders einflußreiche Version liegt (direkt oder indirekt) Schoocks Satz zugrunde sowie später Blount (1690), 1710, S. 17: „Strabo […] Herodotum nimis nugacitatis, arguere videtur, & quòd prodigiosas fabulas historiæ suæ immiscuerit.“ 444 ► p. 410.
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ist wegen der Menge seiner Beispiele, wenn wir Joseph Scaliger,437 dem Ersten der Kritiker, glauben, ein törichter Streber nach Sentenzen.438 Wer die Musen kennt, kennt auch die neun Musen Herodots439 und räumt gern ein, daß Cicero nicht im Irrtum war, als er ihn den Vater der Geschichtsschreibung nannte,440 der ohne jegliche holperige Stellen gleichwie ein ruhiger Strom fließt.441 Gegen dieses gelehrte Werk der Musen jedoch schrieb schon vor langer Zeit Harpokration, mit Familiennamen Aelius,442 ein Buch; und selbst Strabon,443 der hochbedeutende Mann und Erste der Geographen, trug nicht Bedenken zu schreiben, daß gerade dieser Herodot in seiner Geschichte „schwätze und als Würze abenteuerliche Erzählungen der Darstellung beifüge“. Was Herodot (widerfuhr), widerfuhr auch Thukydides;444 obwohl ihn Cicero anerkannte, er sei „ein aufrichtiger und großer Verkünder der Geschichte“,445 haben ihn dennoch sehr viele, wie Flavius Josephus446 bezeugt, mannigfacher Erdichtungen angeklagt. Iulius Caesars Commentarii, die er über die von ihm vollbrachten Taten schrieb, [418] sind schmucklos, sachgemäß und annehmlich, jeder Redeschmuck ist, wie ein (äußerliches) Kleid, abgestreift. Über sie urteilte jedoch Asinius Pollio, „sie seien zu wenig sorgfältig und zu wenig in unberührter Wahrheit verfaßt, weil Caesar das meiste, sowohl was von anderen getan war, ohne weiteres geglaubt als auch was von ihm getan war, sei es absichtlich, sei es, sich in der Erinnerung täuschend, falsch angegeben habe.“447 Velleius Paterculus,448 der Historiker mit einem eleganten Stil, mißfällt – obwohl er vieles hat, was man nicht woanders findet – doch den meisten, weil er bei den Ereignissen seiner Zeit in beschämender Weise dem Kaiserhaus und Tiberius schmeichelt. Bei Dionys von Halikarnaß449 – niemand von den antiken Historikern hat die Zeiten sorgfältiger beobachtet – rügen sehr viele Herbheit des Stils und skrupulöse Behandlung bei den Kleinigkeiten. Nichts sei unnützer als die
445 Brut. 287: Thucydides enim rerum gestarum pronuntiator sincerus et grandis etiam fuit. 446 Flavius Iosephus: Flavios Iosephos / Flavius Josephus, jüdischer Historiker, großenteils in Rom lebend (37 / 38–ca. 100), Hauptwerke Bellum Iudaicum und Antiquitates Iudaicae. Hier ist die in den neunziger Jahren enstandene Schrift Contra Apionem, eine Verteidigung des Judentums, gemeint, in der Flavius ohne weitere Begründung Thukydides gegen seine Kritiker verteidigt (1, 3). 447 Asinius Pollio: ► p. 416. Das Urteil wörtlich nach Suet. Div. Iul. 56, 4 zitiert: Pollio Asinius [sc. commentarios] parum diligenter parumque integra veritate compositos putat, cum Caesar pleraque et quae per alios erant gesta temere crediderit et quae per se, vel consulto vel etiam memoria lapsus perperam ediderit. 448 Zu Velleius Paterculus ► p. 416. Zur Gesinnung gegenüber dem Kaiserhaus ► Schanz, Hosius. Bd. 2 (1935), S. 583–584: „Am unerfreulichsten ist die Stickluft des Hofes, die uns entgegenweht.“ 449 Dionysius Halicarnassaeus: Dionys von Halikarnaß, griechischer lange Zeit in Rom lebender Historiker (2. Hälfte 1. Jahrhundert v. Chr.), Hauptwerk Ῥωμαικὴ ἀρχαιολογία (Antiquitates Romanae) in 20 B. (vollständig überliefert nur 1–10). „Sein Stil stellt den Versuch dar, in einer archaisierenden Tendenz attisch zu schreiben, und zeichnet sich durch eine Fülle von Adjektiven und aus Substantiven und Adjektiven gebildeten Komposita aus“ (Carlo Scardino. In: HGL 2 (2014), S. 674).
162 B. Original und Übersetzung sam circa minuta curam arguunt. Diodori Siculi Bibliothecâ, quam maximi fecit Plinius, nihil nugacius esse pronunciat Ludovicus Vives, ejusque stylum arrodit Bodinus. Flavius Iosephus multis ex recentioribus adeo vilis est, ut plane susque deque habeant, quid dicat, dummodo vel alterius qualicunque authoritate, vel minuta aliqua ratiuncula, sibi videantur contrarium posse defendere. In Plutarcho, omnium antiquorum Scriptorum compendio, & antiquitatis qua Græcæ, qua Romanæ Apolline Delio, ij ipsi, qui velut compendiosa Bibliotheca eo utuntur, atque pro indice fidelissimo sexcentorum authorum, aurea illius monumenta agnoscunt, duriusculam, minusque cultam dictionem notant. Dion Cassius quanquam operam maximam in ijs ipsis, quæ per [419] compendium solum exhibet Xiphilinus, navavit historiæ Augustæ, tanquam infelix tamen simia ab alijs culpatur; quia Thucydidis majestatem, quam in concionibus æmulari studuit, haut quaquam assequi potuit. Quos in scriptis infelices laudavi hactenus, censoriam virgulam promeriti forte videantur; quod ad perfectionem anhelarint verius, quam pertingere potuerint. Quid vero in oratoriæ dignitatis exemplari M. Tullio Cicerone, invidiam & malevolentiam si submovere fas sit, desiderari possit, videre me non fateor. Ingenium ejus nisi Romanus populus sibi vindicasset, nihil par imperio suo habuisset. Eum ipsum tamen Ciceronem M. Cato ridiculum consulem, Papirius vero Pætus aut velitem, aut consularem scurram vocavit. Alij, quasi ex muscarum sobole forent, quæ vulneribus jumentorum magis, quam sanis partibus insidere atque inhærere amat, nævos, vibices, & quæ mortalia portenta, in disertissimo Romuli nepotum notare præsumpserunt; nec solum quos nævos, & verborum
450 Diodorus Siculus: Diodoros aus Agyrion (Sizilien), griechischer Historiker (1. Jahrhundert v. Chr.). Seine Universalgeschichte (Bibliotheke) reicht von der Entstehung der Welt bis zur Eroberung Britanniens durch Caesar (54 v. Chr.). 451 Nat. Praef. 25. 452 Ludovicus Vives: ► p. 407. 453 Bodinus: Jean Bodin, französischer Staatstheoretiker und Philosoph (1529 / 1530–1596). Die Kritk an Diodorus Siculus von Vives (in: De causis corruptarum artium, Antwerpen 1531) und Bodin (in: Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Paris 1566) referiert Blount 1690 (1710), S. 62 u. 63. Es ist anzunehmen, daß Schoock Handbüchern dieser Art folgt. 454 Flavius Iosephus: ► p. 417. 455 Plutarchus: ► p. 381. 456 Apollo Delius: gemeint, Plutarch gebe so sicher Auskunft wie der Apollon von Delphi. 457 aureus: ► p. 377. 458 Dion Cassius: Cassius Dio Cocceianus, griechischer lange Zeit in Rom lebender Politiker und Historiker aus Nikaia (* um 164, † nach 229); von seiner in Griechisch geschriebenen Römischen Geschichte sind vor allem die Bücher 36–60 (Ereignisse von 68 v. Chr. bis 47 n. Chr.) erhalten. Aus den teilweise verlorenen Büchern 37–80 (deren Ereignisse bis ins 3. Jahrhundert reichen) verfaßte
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Bibliothek des Diodorus Siculus,450 die Plinius sehr hoch geschätzt hat,451 verkündet Luis Vives,452 und seinen Stil benagt Bodin.453 Flavius Josephus454 ist vielen von den Neueren so wohlfeil, daß ihnen geradezu gleichgültig ist, was er sagt, wenn sie nur entweder mit der Autorität eines anderen, mag sie beschaffen sein, wie sie wolle, oder irgendeinem schwachen Grund von kleinem Kaliber das Gegenteil verteidigen zu können glauben. Bei Plutarch,455 dem Kompendium aller antiken Schriftsteller und Delischen Apollo456 sei es des griechischen, sei es des römischen Altertums, tadeln sogar diejenigen, die ihn wie eine abgekürzte Bibliothek benutzen und seine goldenen457 Werke als ein sehr zuverlässiges Résumé unzähliger Autoren anerkennen, den etwas harten und weniger gepflegten Stil. Obwohl Dio Cassius458 gerade in den Teilen, die [419] allein Xiphilinos abgekürzt bietet, der Kaisergeschichte den größten Dienst erweist, wird er dennoch von anderen wie ein unglückseliger eifriger Nachahmer459 beschuldigt – weil er die Größe des Thukydides, mit der er in den Reden zu wetteifern bestrebt war, auf keine Weise erreichen konnte. Diejenigen, die ich bisher als in ihren Schriften Unglückselige zitiert habe, könnten vielleicht die zensorische Virgula460 verdient zu haben scheinen, weil sie zur Perfektion wahrhaftiger hechelten als sie erreichen konnten. Was aber bei dem Muster der rednerischen Tüchtigkeit M. Tullius Cicero, wenn es geboten ist, Mißgunst und üble Gesinnung fernzuhalten, vermißt werden könnte, sehe ich, wie ich bekenne, nicht. Wenn sein Ingenium nicht das römische Volk für sich in Anspruch genommen hätte, hätte es nichts seiner Vormachtstellung Ebenbürtiges gehabt. Doch gerade diesen Cicero nannte M. Cato461 einen ‚lachhaften Konsul‘, Papirius Paetus sogar einen ‚Plänkler‘ oder ‚Spaßkonsular‘.462 Andere haben – als wären sie aus der Sippe463 der Fliegen, die mehr an den Wunden als an den gesunden Teilen der Zugtiere zu kleben pflegt – sich herausgenommen, bei dem beredtesten der Enkel des Romulus464 Flecken, Schwielen und, welche anderen Phantastereien es gibt, zu tadeln, nicht nur irgendwelche Flecken und Wortfehler, sondern, worüber man in Erstaunen geraten kann, sogar Fehler in der
der Mönch Ioannes Xiphilinos im 11. Jahrhundert Auszüge. Negative Urteile der Neuzeit (auch hinsichtlich der angestrebten Thukydides-Nachfolge) bei Blount (1690) 1710, S. 194–196. 459 Eigentlich: ‚Affe‘. 460 censoria virgula: ► p. 400 u. 413. 461 Marcus Porcius Cato Uticensus: ► p. 437. 462 Cicero bezeugt selbst, daß sein Freund Papirius Paetus ihn im Spaß scurram velitem (Ad fam. 9, 20, 1) genannt habe (veles = leichtbewaffneter Soldat, Plänkler). Der consularis scurra (wörtlich etwa: ‚Witzbold im Konsularrang‘) wird hingegen als weniger freundlich von Macr. Sat. 2, 1, 12 bezeugt: quis […] nescit consularem eum scurram ab i n i m i c i s appellari solitum? 463 soboles: ‚rectius suboles‘, ‚Stamm‘, ‚Geschlecht‘, ‚Kinder‘, ‚Nachkommen‘ (Kirschius 1774, Sp. 2633), ► Lefèvre 2021, S. 94 Anm. 293. 464 Catull spricht 49, 1 Cicero an: disertissime Romuli nepotum.
164 B. Original und Übersetzung stribligines, sed quod obstupescat quis, etiam solœcismos. Ne ad partes jam vocem Iuvenalem, qui ridenda ei poëmata tribuit; & tot alios, qui philosophiam illius, eo adhuc vivente, atræ loliginis succo inficere laborarunt. Ciceroni jungo Demosthenem, illam orandi legem per omnia rotundam, usurparemque de lectissimo oratorum pari, pulcherrimum hoc Hieronymi elogium; o Cicero, Demosthenes [420] tibi præripuit, ne esses primus Orator, tu illi, ne solus: nisi vetaret ipse M. Tullius, cui, si Quintiliano credimus, Demosthenes interdum visus est dormitare. Enimvero apud ipsum Ciceronem in Oratore hæc legere memini: Nobis non satisfacit ipse Demosthenes, qui quanquam unus eminet inter omnes in omni genere dicendi, tamen non semper implet aures meas. Ne quis irascatur æmulo Demosthenis Æschini, qui applaudente ex parte Dionysio Halicarnassæo, dictionem summi viri ut morosam & elaboratam nimis traduxit; quod judicium ut approbaret sannionum alpha Lucianus, Atticum quendam oratorem librorum multitudine tumentem finxit. Nec aliud fatum Xenophontis; quanquam enim præconem nactus fuit M. Ciceronem, qui Atticæ Musæ elogio eum cohonestavit, ac Dion Chrysostomus peculiari oratione styli ipsius elegantiam commendavit; haut pauci tamen, qui nulla ex parte videri volunt Saturnias lemas lippire, ejus characteri, tanquam tenui nimis, irascuntur. Iustinianus princeps religiosissimus, Herculea audacia immensa veteris prudentiæ volumina coadunavit in uno, vastamque legum copiam arctis cancellis circumscripsit, usus adjutore Triboniano viro summo: plurimis tamen heroicum
465 ridenda poemata ist wörtliches Zitat: Iuv. 10, 124. Juvenal führt als Beispiel den auch sonst (Quint. Inst. 11, 1, 24) verspotteten Vers aus Ciceros Epos De consulatu suo an: o fortunatam natam me consule Romam! 466 atræ loliginis succo: nach Hor. Sat. 1, 4, 100 nigrae sucus lolliginis. Die „Schwärze der Sepien […] ist Symbol der Heimtücke“ (Kießling, Heinze 1921, S. 83). 467 rotundam: ► p. 389 ore rotundo. 468 Epist. 52, 8. 469 […] cum Ciceroni dormitare interim Demosthenes […] videatur (Inst. 10, 1, 24). ► zu Grégoire S. 82. 470 Orat. 104. Schoock hat das Zitat am Anfang syntaktisch (nicht inhaltlich) angeglichen. implere aures nach Plaut. Rud. 1226. 471 Aischines: ► p. 396. Gegen Demosthenes: „inimicus eius Æschines dicebat, eum dicere οὐ ῥήματα, ἀλλὰ θαύματα, non verba sed portenta“ (Blount (1690) 1710, S. 29, der Vossius referiert). Zu Aischines’ Vorwürfen ► Theodor Thalheim, RE. Bd. 5, 1 (1903), Sp. 169–188, hier Sp. 181 (mit Stellenangaben). 472 Dionysius Halicarnasaeus: ► p. 418. Zu dessen Auseinandersetzung mit Demosthenes und Aischines ► Dionysios’ Schrift Περὶ τῆς Δημοσθένους λέξεως und dazu Becker 1829. 473 Lukian: ► p. 384. Peter von Möllendorff verweist auf den Rhetorum praeceptor 9–10: „Die Reden des Demosthenes und des Aischines werden dort von dem (de facto eben auch eigentlich ungebildeten und pseudoattizistischen) Rednerlehrer als ‚abgedroschen‘ (ἕωλα) bezeichnet. Wer sie empfehle, sei ein νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθείς.“
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Syntax. Daß ich nicht ferner Juvenal (als Zeugen) teilnehmen lasse, der ihm lächerliche Gedichte zugeschrieben hat,465 und so viele andere, die sich bemüht haben, seine Philosophie, noch zu Lebzeiten, mit dem Saft des schwarzen Tintenfisches466 zu tränken. Neben Cicero stelle ich Demosthenes, jenes in jeder Hinsicht abgerundete467 Gesetz des Redens, und ich nähme bezüglich des vortrefflichsten Rednerpaars dieses schönste Lob des Hieronymus in Anspruch: „O Cicero, Demosthenes [420] entriß dir, daß du nicht der erste Redner wärest, du ihm, daß er es nicht allein wäre“468 – wenn es nicht M. Tullius selbst verböte, dem, wenn wir Quintilian glauben, Demosthenes zuweilen zu schlafen schien.469 In der Tat erinnere ich mich, bei Cicero selbst im Orator folgendes zu lesen: „Mir gefällt nicht einmal Demosthenes, der, obwohl er als einziger unter allen in jeder Art der Beredsamkeit hervorragt, dennoch meine Ohren nicht immer befriedigt.“470 Keiner zürne Demosthenes’ Konkurrenten Aischines,471 der – unter teilweiser Zustimmung von Dionys von Halikarnaß472 – den Stil des so vorzüglichen Mannes als grämlich und herausgeputzt allzu sehr dem Spott preisgegeben hat. Damit über dieses Urteil das Alpha der Spötter Lukian473 sich beifällig äußere, fingierte er einen schwülstigen attischen Redner, der von einer Menge Bücher strotzte. Nicht anders ist das Schicksal Xenophons;474 obwohl er nämlich als Herold M. Cicero erhalten hatte, der ihn mit dem Lob der Attischen Muse verherrlichte,475 und Dion Chrysostomos in einer außerordentlichen Rede die Eleganz gerade seines Stils pries,476 zürnen dennoch nicht wenige – die ganz und gar nicht gewillt sind, offensichtlich an unglücklichem Augenschleim477 zu leiden – dem Charakter seines Stils478 als zu weich. Der mit gewissenhaftester Sorgfalt verfahrende Kaiser Justinian479 hat mit herkulischer Kühnheit die unermeßlichen Bände der alten (juristischen) Wissenschaft an einem Ort vereinigt und die unendliche Fülle der Gesetze in engen Schranken zusammengezogen,480 wobei er sich des so bedeutenden Mannes Tribonian481 als Helfer erfreute. Sehr vielen mißfällt jedoch dieses heroische Unternehmen, die
474 ► p. 396. 475 Cic. Orat. 62 Xenophontis voce Musas quasi locutas ferunt („man sagt, daß die Musen gewissermaßen mit Xenophons Stimme gespochen haben“). 476 Dion Chrysostomus: Dion Cocceianus, später Chrysostomos genannt, griechischer Redner und Philosoph aus Prusa (*ca. 40, † nach 112). Das Lob findet sich in der 18. Rede Περὶ ἀσκήσεως. 477 Es handelt sich um Leute, die scharf hinzuschauen behaupten. Saturnius: ‚unglücklich‘ (Kirschius 1774, Sp. 2535). 478 character (Prägung) vom Stil wie Cic. Orat. 134. 479 ► p. 384. 480 Gemeint ist das Gesetzgebungswerk. 481 Tribonianus: ► p. 385. Zu den genannten Einfügungen ► Tomasz Giaro. In: DNP 12, 1 (2002), Sp. 795: „Schon von der humanistischen Jurisprudenz wurde er der Verunstaltung der Juristentexte durch Interpolationen (emblemata Triboniani) beschuldigt“.
166 B. Original und Übersetzung hoc institutum displicet, qui non solum incolumes optant authores quorum medullam in Pandectis apponit Imperator, sed amplius Triboniano, modo ut negligenti, ob admissas Antinomias, modo ve[421]ro ut audaci, ob infarta glossemata & sua verba, irascuntur. In Galeno Medicæ eruditionis promtuario, alij Philosophiæ ignorantiam, alij Asiatici styli vagam luxuriam reprehendunt; ineptias, imperitiam, & quæ non, qui in Paracelso omnia inveniri existimant. Cujus Paracelsi scripta, tanquam scopas dissolutas execrari solent, qui cum Methodica medicina conciliari non posse credunt empirica medicamenta apud jugem fornacis flammam, à ciniflonibus elaborari solita. Idem sidus scripta Patrum, virorumque in primitiva Ecclesia principum afflaverat. Magnus ille Hieronymus (quem si eruditissimum & supra omnes Ecclesiæ Doctores eloquentissimum vocavero, Augustini judicio accedam, qui non dubitat hoc testimonium alicubi ei perhibere: Quod nemo hominum scire potuerit, quæ Hieronymus ignoravit) passim in suis Epistolis conqueritur de obtrectationibus, calumnijs, & detractionibus, quibuscum sine ulla missione luctabatur. Ad recentiora secula si veniam, integra exemplorum agmina me cingent. Nicolai Perotti Sipontini præsulis, hominis acuto ingenio præditi, infinitaque lectione exercitati scripta infesto veru iugulare instituit Domitius Calderinus vir sua tempestate imprimis doctus; laboriosamque Cornucopiam apud auditores suos cum cantico & psalterio traduxit. Ad ferulam omnes, qui sua ætate clari habebantur, in Elegantiarum libris Laurentius Valla vocat. [422] Azo, at quantus Iuriscon-
10 1649 Hieronymus. 1650 Hieronymis. | Doppelpunkt. | 17 1649 iugulare. 1650 ingulare.
12 perhibere:] 1649 / 1650 Semikolon. Lef.
482 Antinomie (ἀντινομία) bezeichnet hier die Unvereinbarkeit von Gesetzen. 483 Paracelsus: Philippus Aureolus Theophrastus, eigentl. Theophrastus Bombastus von (ab) Hohenheim (Paracelsus umschreibt griechisch / lateinisch ‚von Hohenheim‘), schweizerisch-österreichisch-deutscher Arzt und Naturforscher (1493–1541), Gegner der Schulmedizin, in vieler Hinsicht sehr anerkannt und sehr kritisiert – bis zur Scharlatanerie hin. Diesen Zwiespalt beschreibt Schoock in Bildern (die bildliche Sprache wird p. 456 / 457 fortgesetzt). 484 scopas dissolutas: sprichwörtlich. Georges erklärt scopas dissolvere: „die Reiser des Besens auseinandernehmen, d. i. eine Sache ihrer Ordnung u. Zusammenfügung berauben, Cic. or. 235; dah. scopae solutae, auseinandergenommener Besen = ein alberner u. unnützer Mensch, Cic. ad Att.“ (7, 13a, 2). ► Otto 1890, S. 313. 485 ciniflones: = cinerarii (Sklaven, welche die zur Kräuselung der Haare nötigen Eisen in glühender Asche heiß machen, Porph. zu Hor. Sat. 1, 2, 98). Hier also Helfer am Herd (fornax) bei der Herstellung von Medikamenten (Schoock kommt es auf die Horaz-Anspielung an). Es ist bewußt auf die Alchemie gezielt. Die Polemik gegen Paracelsus wird p. 456 / 457 ironisch fortgesetzt. 486 sidus hat hier die Bedeutung ‘a constellation, planet, etc., considered as having a direct influence of human affairs’ (OLD). afflaverat könnte eine gelehrte Aufnahme von Hor. Sat. 2, 8, 94–95 velut | Canidia adflasset sein, wo afflare die Bedeutung ‘to breathe poison on’ (OLD) hat. 487 Hieronymus: ► p. 415.
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nicht nur die Autoren unberührt wünschen, deren Mark (Kern) der Kaiser in den Pandekten aufführt, sondern mehr noch dem Tribonian zürnen – bald als nachlässig wegen der (von ihm) zugelassenen Antinomien,482 bald vollends [421] als vermessen wegen der hineingestopften Glossen und eigenen Äußerungen. Bei Galen, dem Speicher der medizinischen Gelehrsamkeit, tadeln die einen Ignoranz in der Philosophie, die anderen schweifende Üppigkeit des asianischen Stils – Torheiten, Unerfahrenheit und was nicht diejenigen, die glauben, alles sei bei Paracelsus483 zu finden. Dieses Paracelsus Schriften pflegen diejenigen als aufgelöste Besen484 zu verwünschen, die glauben, daß mit der Methodischen Medizin nicht auf Empirie beruhende Heilmittel in Übereinstimmung gebracht werden können, die von Leuten485 an einer zusammenfügenden (verschmelzenden) Herdflamme bereitet zu werden pflegen. Dasselbe Gestirn hatte die Schriften der Väter und der Ersten Männer in der Alten Kirche (giftig) angeweht.486 Jener große Hieronymus487 (wenn ich diesen den Gelehrtesten und über alle Lehrmeister der Kirche hinaus Beredtesten nenne, werde ich Augustinus’ Urteil beitreten, der nicht Bedenken trägt, ihm an einer Stelle dieses Zeugnis zu geben: daß niemand der Menschen wissen konnte, was Hieronymus nicht wußte)488 klagt verschiedentlich in seinen Briefen über Anfeindungen, Verleumdungen und Herabsetzungen, mit denen er ohne jeden Unterlaß kämpfte. Wenn ich zu den neueren Zeiten kommen werde, werden mich ganze Heerzüge von Beispielen umringen. Die Schriften des Bischofs Niccolò Perotto Sipontino,489 eines mit scharfem Geist begabten und in unaufhörlicher Vorlesungstätigkeit geübten Mannes, unternahm Domizio Calderino,490 ein in seiner Zeit besonders gelehrter Mann, mit feindlichem Spieß491 zu vernichten, und machte die mit viel Arbeit verbundene Cornucopia bei seinen Zuhörern mit Pasquill und Spottgedicht lächerlich. Zur Strafrute rief alle, die in seiner Zeit für berühmt gehalten wurden, Lorenzo Valla492 in den Elegantiarum libri. [422] Azo493 – allein 488 Schoock zitiert direkt oder indirekt nach Grégoire (► S. 84). Das Zitat: Ps.Augustinus, Ad Cyrillum Jerosolymitanum episcopum De Magnificentiis Beati Hieronymi (PL XXII, S. 281–289). Dort heißt es: Quae Hieronymus ignoravit in natura humana, nullus hominum unquam scivit. 489 Niccolò Perotti: Italienischer Humanist (1429–1480), 1452 von Kaiser Friedrich III. zum Dichter gekrönt, Inhaber verschiedener kirchlicher Ämter (darunter: Erzbischof von Siponto), Professor in Bologna. Postum erschien 1489 die Cornu Copiae, ein weitausgreifender Kommentar zu Martial. ► zu Grégoire S. 83 (auch zum folgenden). 490 Domitius Calderinus: Domizio Calderino / -i: Italienischer Humanist (ca. 1446–1478), Apostolischer Sekretär, Herausgeber römischer Autoren, polemisierte gegen Giorgio Merula und Niccolò Perotti. 491 veru: ► p. 400. 492 Laurentius Valla: ► p. 397. 493 Azo: Portius Azolinus, ital. Azo / Azzo / Az[z]one (um 1150–1230), lehrte in Bologna, einer der bedeutendsten Glossatoren, schrieb Summa codicis und Summa institutionum zum Justinianischen Recht.
168 B. Original und Übersetzung sultus! per convitium Agazo vocatur. Baldus inter albi atque rubricæ interpretes nulli secundus, hoc præmium pro laboriosis lucubrationibus, & Elephantinis libris ab æqualibus impetravit, ut vulgo Bardius, id est, asini Cumani fraterculus salutetur. De portentosi ingenij, Herculeæque diligentiæ Iurisconsulto Bartolo, jam olim rythmus hic circumferebarur: Bartolus in silvis tendebat retia grillis. Sed quare 5 arenam numero, privisque exemplis colligendis immoror? Nunquam ulli adhuc scripto, ad unguem licet facto, omnibusque statuis emendatiori hoc contigit, quod Phidiæ Minervæ, quæ digna habita fuit, ut extra invidiæ atque obtrectationis regnum in arce collocaretur. Si Momus ipse in ruborem detur, nihilque quod reprehendat, inveniat, sexcenti mox parati sunt, qui perfectioni scriptoris & libri detrac- 10 tum cupiunt, quod omnia plana atque perspicua sint, nihilque commendationis à novitate impetrare possint. Plautino coquo similes dicere soleo hos homines, qui, ut se lenoni, cui coctum ibat, commendaret, omnia condimenta culpabat, quibus alij coqui cœnas, Saliares quoque, condire solent; ac nova atque portentosa condimentorum genera adferebat, cicilendrum, polindrum, macidem, cicimandrum, 15 happalopsidem, cataractiam, & id genus alia, quæ omnia non rerum certarum, sed inanissimarum nugarum vocabula sunt. Sed con[423]tineo me, ne forte, si debacchari in hoc genus hominum incipiam, obliviscar alterius calamitatis, qua cum scripta, & literaria virorum eruditorum monumenta, omni ævo luctari debuerunt.
3 1649 / 1650 Bardius. Richtig Bardus (► Anm. z. St.).
494 Agazo: von Grégoire übernommen, ► S. 82. agazo: antik agaso = Pferdeknecht, Stallknecht, Eseltreiber, täppischer Bursche (Georges mit Belegen). 495 Baldus: Baldo degli Ubaldi / Baldus de Ubaldis (um 1320–1400), Schüler von Bartolo (zu diesem ► im folgenden) und nach diesem bedeutendster Vertreter der Kommentatoren; lehrte an verschiedenen italienischen Universitäten. 496 rubrica: die (rote) Überschrift eines Gesetzes, bedeutet daher auch das Gesetz selbst. Rahn 1988 übersetzt rubricas (Quint. Inst. 12, 3, 11) wörtlich: ‚Gesetzesparagraphen‘. 497 Bardius ist nicht nachweisbar (von Grégoire übernommen, ► S. 82), offenbar Verschlimmbesserung von bardus (‚einfältig‘, ‚schwer von Begriff‘). So sagt Faber 1704, S. 85: „[…] Alij […] Baldum Bardum dicere non erubuerint“. Schon vom Klang her kann das Pasquill nur lauten: Baldus / Bardus, zumal wenn Zungen-r gesprochen wurde. 498 asinus Cumanus: Anspielung auf den von Lukian Piscator 32 genannten, in der Neuzeit oft – auch von Erasmus (► S. 67) – zitierten einfältigen Esel von Kyme, der eine Löwenhaut überzog und die Einwohner von Kyme durch sein Gebrüll erschreckte. 499 Bartolus: Bartolo da Sassoferrato (1313 / 1314–1357), bedeutendster Vertreter der juristischen Kommentatoren; lehrte in Pisa und Perugia. Zur Polemik ► Peter Weimar in Stolleis 1995, S. 68: Humanismus und Aufklärung hätten „bei ihrer Kritik an der mittelalterlichen Rechtswissenschaft und dem späteren Mos Italicus besonders B. als deren Protagonisten zum Ziel ihrer Angriffe“ gemacht.
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ein wie großer Rechtsgelehrter! – wurde im Schimpf Agazo494 genannt. Baldo,495 unter den Interpreten des Bürgerlichen Gesetzes496 keinem nachstehend, erreichte für seine mühevollen Nachtarbeiten und Elephantenbücher von den Zeitgenossen diesen Lohn, daß er allgemein als Bardus,497 d. h. Brüderchen des kumanischen Esels,498 begrüßt wurde. Über den Rechtsgelehrten von übernatürlichem Geist und herkulischem Fleiß Bartolo499 ging schon früh dieser Vers500 um: ‚Bartolo stellte in den Wäldern Netze den Grillen.‘ Aber warum zähle ich Sand(körner) und verweile bei der Sammlung von einzelnen Beispielen? Niemals ist irgendeiner Schrift bisher, mag sie auch ausgefeilt501 sein und fehlerfreier als alle Statuen, das zuteil geworden wie der Athene des Phidias, die für würdig gehalten wurde, außerhalb der Herrschaft von Mißgunst und Herabsetzung auf der Burg (Akropolis) aufgestellt zu werden. Wenn selbst Momus502 errötet und nichts finden kann, was er tadelt, sind alsbald Unzählige bereit, die der Vollkommenheit des Autors und des Buches Beeinträchtigung wünschen, weil alles ohne Anstoß und klar ist und keine Empfehlung von (einer ungewöhnlichen) Neuheit503 her erlangen kann. Diese Menschen pflege ich dem plautinischen Koch ähnlich zu nennen, der, damit er sich dem Kuppler, zu dem er kochen ging, empfahl, alle Gewürze tadelte, mit denen andere Köche Speisen, auch üppige,504 zu würzen pflegen, und neue und abenteuerliche Arten von Gewürzen ankündigte,505 cocilendrum, cepolendrum, maccis, cicimandrum, hapalopsides, cataractria und andere dieser Art, welche alle Bezeichnungen nicht bestimmter Dinge sind, sondern nichtigster Flausen.506 Aber ich beschränke [423] mich, damit ich nicht etwa, wenn ich gegen diese Art Menschen zu rasen anfange, ein anderes Unglück vergesse, mit dem die Schriften und wissenschaftlichen Werke der Gelehrten zu jeder Zeit kämpfen mußten. Damit diese nicht Beifall erlangen und, sobald sie erblickt worden sind, Anerkennung finden,
500 Da es ein Hexameter ist, bedeutet rhythmus ‚Vers‘. Er wurde öfter zitiert. So führt Samuel Faber an der weiter oben genannten Stelle den ‚alten Salbader‘ Bartolus in Silvis tendebat retia Grillis an. Bartolo und Baldo werden auch von Balde, Sol. pod. 2, 62, 22 zusammen genannt (dazu Lefèvre 2020, S. 465 u. 466). 501 ad unguem facto: ► p. 378 (statuis läßt das Bildhauerambiente durchscheinen, auf das sich die Redensart bezieht). 502 Momus: Momos, die personifizierte Tadelsucht, bei Hes. Theog. 214 ein Sohn der dunklen Nacht (Νὺξ ἐρεβεννή), in der Neuzeit beliebt, ► etwa Balde, Expeditio 2, wo die Kritiker der Neulateiner als Leute wie Momos bezeichnet werden (► Lefèvre 2017, S. 19). 503 novitas hat hier einen negativen Beiklang wie z. B. der Terminus homo novus. 504 Die Gastmähler der dem Kult des Mars zugehörigen Salier galten als üppig; ► Hor. Carm. 1, 37, 2 / 4 Saliaribus […] dapibus. 505 Alles sind Phantasienamen aus Plautus’ Pseudolus 831–836. Hier werden die Formen einiger Namen wiedergegeben, die die Ausgabe (bzw. deren Apparat) von Friedrich Leo (Berlin 1896) bietet. 506 Zu diesem Passus ► S. 74.
170 B. Original und Übersetzung quæ ne applausum impetrent, & simulac aspecta fuerint; probentur, mox rigidi quidam juris & æqui antistites adsunt, qui clamant contra authores ex lege Talaria agendum esse, summa injuria aliena multa in armarium congesta, ac nihil ornamentorum superbientibus superfuturum, si plumas suas impudenti corniculæ avium grex ereptum veniat. Platoni, viventi adhuc, objectum fuit, quod Antisthenis 5 atque Brysonis dialogos pro suis supposuerit. Aristoteles insimulatur interversorum variorum antiquioris Philosophiæ monumentorum, quodque speraverit suppressis ijs, oblivionisque velo obductis, furta & sycophantias suas clam posteritate futura. L. Lanuvinus Terentium Afrum, cui Africanus Magnus similem invenire non potuit, haud aliter criminatur, ac si sanctius ærarium expilasset. Idem ab 10 æmulis suis passus est Virgilius Maro, qui ob quosdam Homeri versus dexterrime translatos, compilator veterum audire debuit. Et, si Hieronymo fidem adhibere volumus, M. Tullium Ciceronem Latinæ linguæ illustratorem optimum maximum, repetundarum multi ex Græcis accusarunt. Nec solum susurris, sed apertis tibijs, imo editis libris, jam olim hæc furta à maximis viris traducta atque notata 15 [424] fuerunt. Theopompo Chio, Isocratis discipulo, quem Historiarum patrem Cicero vocat, adeo infestus fuit Asinius Pollio, acer ille Livij censor, ut sex libros de ejus furtis inter reip. curas scripserit: ne quis irascatur Iosepho, & Luciano, qui
9 1649 / 1650 Lavinius. Lef. Lanuvinus.
507 Lex Talaria: Ein solches Gesetz hat es nicht gegeben. Früher wurde aus Plaut. Mil. glor. 164, wo von einer lex alearia in Zusammenhang mit tali (Würfel) die Rede ist, eine Lex Talaria (re)konstruiert (► die kommentierte Plautus-Ausgabe von Friedrich Taubmann, Wittenberg 1612, S. 652). Schon Hederich 1743, Sp. 1624 berichtet: „Lex talaria wird, dem Anschein nach, nur zum Schertz also genannt, a), oder allenfalls auf ein altes Gesetz gesehen, darinne verboten gewesen, bey Gastgeboten mit Talis zu spielen b). a) Plaut. Mil. glor. Act. II Sc. 2 v. 9. b) Taubmann. ad Plaut. l. c.“ An der vorliegenden Stelle ist die Vorstellung gemeint, die Autoren hätten ihre Darlegungen ‚zusammengewürfelt‘. 508 Antisthenes: Griechischer Philosoph (2. Hälfte 5. bis 1. Hälfte 4. Jahrhundert), Schüler des Sokrates. 509 Bryso: Bryson, griech. Philosoph (4. Jahrhundert), Megariker. Der Vorwurf wird von Athenaios, Deipnosoph. 11, 508d berichtet (► p. 414). 510 ► zu Grégoire S. 83. 511 Luscius Lanuvinus: Luscius aus Lanuvium, römischer Komödiendichter, wohl etwas älter als Terenz, nur zwei Komödientitel bekannt. 512 Terentius Afer: Publius Terentius Afer / Terenz (195 / 194 oder 185 / 184–159), in Karthago geborener neben Plautus bedeutendster römischer Komödiendichter, alle sechs Stücke erhalten. Schoock bezieht sich auf die Nachricht der Sueton-Vita: cum multis nobilibus familiariter vixit, sed maxime cum Scipione Africano et C. Laelio. Der Passus über Terenz, Vergil und Cicero könnte durch Grégoire angeregt worden sein (► S. 83).
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sind alsbald rigide Aufseher des Rechts und der Billigkeit da, die laut schreien, gegen die Autoren müsse nach der Lex Talaria507 verfahren werden, mit größtem Unrecht sei in ihre Bibliothek viel Fremdes zusammengetragen worden, und keine Schmuckstücke blieben ihnen, die sich damit brüsten, übrig, wenn die Schar der Vögel käme, um ihre Federn der unverschämten Krähe zu entreißen. Platon wurde noch zu Lebzeiten vorgeworfen, daß er Dialoge von Antisthenes508 und Bryson509 als eigene untergeschoben habe.510 Aristoteles wurde der Umarbeitung verschiedener Werke der älteren Philosophie bezichtigt und daß er gehofft habe, daß nach ihrem Verschweigen und Bedecken durch den Vorhang des Vergessens seine Diebstähle und Betrügereien vor der Nachwelt verborgen wären. L. Lanuvinus511 beschuldigte Terentius Afer512 – einen ihm Gleich(wertig)en konnte Africanus Magnus nicht finden – nicht anders, als wenn er die so heilige Staatskasse ausgeraubt hätte.513 Dasselbe hat von seinen Nebenbuhlern Vergilius Maro erlitten, der wegen einiger sehr passend übertragener homerischer Verse sich einen Plünderer der Alten514 nennen hören mußte. Und wenn wir Hieronymus Glauben schenken wollen, haben viele von den Griechen M. Tullius Cicero, den besten größten515 Erleuchter der lateinischen Sprache, auf Schadensersatz verklagt.516 Nicht nur mit Flüstern, sondern mit lauter Stimme,517 ja durch die Veröffentlichung von Büchern wurden schon seit langer Zeit diese Diebstähle auf seiten der größten Männer verspottet und getadelt. [424] Theopomp von Chios,518 dem Schüler des Isokrates,519 den Cicero den Vater der Geschichtsschreibung nennt, war Asinius Pollio,520 jener scharfe Zensor des Livius, so feindlich gesinnt, daß er während seiner Staatsobliegenheiten sechs Bücher über dessen Diebstähle geschrieben hat. Niemand zürne
513 Einen entsprechenden Vorwurf des Luscius referiert Terenz im Prolog zum Eunuchus (20–26). 514 ► Hieronymus, Hebraicae quaestiones in Genesim, Praef. 7–9 (CCL 72, p. 1): passus est ab aemulis et Mantuanus vates, ut, cum quosdam versus Homeri transtulisset ad verbum, compilator veterum diceretur. 515 Junktur Gebildet nach Iuppiter optimus maximus. 516 ► zu Grégoire S. 83. 517 apertis tibijs: sprichwörtlich, ► Quint. Inst. 11, 3, 50 apertis, ut, aiunt, tibiis (Rahn. Bd. 2 (1988), S. 627: ‚ganz ohne Dämpfer‘, Anm.: ‚mit ungedeckten Grifflöchern‘). Otto 1890, S. 348: ‚mit lauter Stimme, mit aller Anstrengung‘. 518 Theopompus: ► p. 414. 519 Isocrates: ► p. 381. Theopomp als Schüler des Isokrates (von Cicero De orat. 2, 57 so genannt): umstrittene Annahme, ► Carlo Scardino. In: HGL 2 (2014), S. 633. Isokrates als Historiarum pater: Schoock oder seine Quelle könnte in einer zeitgenössischen Ausgabe in De Orat. 2, 94 die umstrittene Lesart Isocrates, magister historiarum (bzw. historicorum) omnium gelesen haben. 520 Asinius Pollio: ► p. 416. Zu den angeblichen sechs Büchern über Theopomp ► zu Grégoire S. 84.
172 B. Original und Übersetzung dissimulato hoc flagitio, eum solum ut blasphemum atque convitiatorem notarunt. Lysimachus non incelebris nominis scriptor, duobus item libellis Ephori, clari historici, ac Theopompo æqualis, furtivas exuvias excutere instituit; infestior ei præ Seneca Patre, qui contentus est eum vocasse historicum fidei non religiosissimæ, itemque præ Dione Chrisostomo oratore celebri, à quo, orationis genus, quo 5 usus fuit, tanquam supinum atque remissum reprehenditur; fremente licet Diodoro Siculo, qui præ verborum elegantia, in scriptore accurato, æstimandam & laudandam credit accuratam ordinis observationem. Apollodorus Atheniensis, ex Epicuri familia Philosophus, cum docere vellet, præceptorem suum suspiciendum esse præ Chrysippo, suoque Marte ingenijque auspicijs longe plura scripsisse, non 10 dubitavit in pleno Philosophorum senatu exclamare, vacuam ceram fore tot Chrysippi volumina, si surgerent ij, qui dogmata sua, sub alieno titulo & nomine, credulæ juventuti propinata fuisse cum stomacho contendere possent. Quantus inter Græcos Menander fuerit, nemo qui Terentium, qui ab illo formatus fuit, æstimare scit ignorare potest: [425] humanarum opinionum peritissimus ab eo 15 vocatur, cui inter Grammaticos Latinos palmam deferre non dubitavit Illustris Scaliger. Is ipse tamen Menander tantus alienorum scriptorum fur fuit, si Cæcilio credimus, ut vix sex voluminibus per judicem quoque enumerari potuerint. Ejusdem criminis suspectum Sophoclem facere voluit Philostratus Alexandrinus, Com-
10 scripsisse,] 1649 / 1650 Semikolon. Lef. Komma. | 17 1649 tantus. 1650 tantos.
521 ► p. 417. Josephus über Theopomp: Antiquitates Iud. 12, 2 (Theopomp habe versucht, über das jüdische Gesetz zu schreiben, er sei dabei aber 30 Tage lang verwirrt gewesen und habe den Versuch abgebrochen). 522 Lukian: ► p. 384. Das Urteil über Theopomp: Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν 59. 523 Lysimachus: Lysimachos, griechischer Grammatiker und Mythograph (um 200 v. Chr.), schrieb unter anderem Περὶ τῆς Ἐφόρου κλοπῆς (‚Über den Diebstahl des Ephoros‘). 524 Ephorus: Ephoros von Kyme, griechischer Universalhistoriker (ca. 405–330), Hauptwerk Ἱστορίαι, eine griechische Universalgeschichte (30 B.), nur Fragmente erhalten. 525 Seneca Pater: Irrtum Schoocks bzw. seiner Quelle. Die Kritik stammt von Seneca Philosophus (► p. 415): Nat. Quaest. 7, 16, 2 Ephorus vero non est religiosissimae fidei. 526 Dio Chrysostomus: ► p. 420; das Urteil findet sich in der 18. Rede (τὸ δὲ ὕπτιον καὶ ἀνειμένον τῆς ἀπαγγελίας σοι οὐκ ἐπιτήδειον). 527 Diodorus Siculus: ► p. 418. Zu seiner Art der Darstellung ► Carlo Scardino. In: HGL 2 (2014), S. 670–672. 528 Apollodorus Atheniensis: Apollodor von Athen, griechischer Epikureer (ca. 190–110), zeitweise Haupt der Schule, schrieb nach Diog. Laert. 10, 25 mehr als 400 Bücher. Derselbe berichtet 7, 181 folgendes Zitat: Entferne man aus Chrysipps Büchern alles, was er an fremdem Gut mit beigegeben habe, verblieben schließlich nur die leeren Blätter! ► auch zu Grégoire S. 84. 529 suo Marte: sprichwörtlich: ► Cic. De off. 3, 34 (ut dicitur); Otto 1890, S. 214: ‚aus eigener Kraft‘.
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Josephus521 und Lukian,522 die dieses Vergehen nicht im Auge hatten und ihn nur als Schmäher und Lästerer schalten. Lysimachos,523 ein Autor mit einem nicht unberühmten Namen, unternahm es, ebenfalls zwei Büchern des Ephoros,524 des berühmten Historikers und Zeitgenossen Theopomps, entwendete Beutestücke herauszureißen; er war ihm feindlicher im Vergleich zu Seneca Pater gesinnt,525 der sich begnügt, ihn einen Historiker ‚von nicht gewissenhafter Zuverlässigkeit‘ genannt zu haben, und ebenso im Vergleich zu dem berühmten Redner Dion Chrysostomos,526 von dem die Art der Rede, die er (Ephoros) angewendet hat, als ‚gleichsam lässig und schlaff‘ getadelt wird – mag auch Diodorus Siculus527 murren, der glaubt, daß bei einem sorgfältigen Autor vor der Eleganz der Wörter die genaue Beachtung der Ordnung zu schätzen und zu loben sei. Als Apollodor von Athen,528 ein Philosoph aus der Schule Epikurs, nachweisen wollte, sein Meister sei vor Chrysipp zu verehren und habe aus eigener Kraft529 und unter der Verantwortung530 s e i n e s Ingeniums bei weitem mehr geschrieben, zögerte er nicht, im vollen Senat (Kreis) der Philosophen531 auszurufen, wertloses Wachs532 wären so viele Bände Chrysipps, wenn die aufstünden, die mit Unwillen behaupten könnten, ihre Lehrsätze seien unter fremdem Titel und Namen der gläubigen Jugend übergeben worden. Wie groß unter den Griechen Menander gewesen ist, darüber kann niemand, der Terenz, der von ihm geformt worden ist, zu schätzen weiß, in Unwissenheit sein: [425] ‚Der in den menschlichen Ansichten Erfahrenste‘533 wird er von dem genannt, dem unter den römischen Grammatikern die Palme zu verleihen der berühmte Scaliger nicht Bedenken trug.534 Doch selbst dieser Menander war ein so großer Dieb fremder Schriften, wenn wir Caecilius535 glauben, daß sie auch durch einen Richter kaum in sechs Bänden hätten aufgezählt werden können. Desselben Vergehens wollte der Alexandriner Philostrat536 Sophokles verdäch-
530 auspicium: ‚Oberkommando, da man für sich nach Belieben handeln kann, ohne einem andern Rechenschaft zu geben‘ (Kirschius 1774, Sp. 320). 531 Philosophorum senatus: übertragen wie Cic. De nat. deor. 1, 94 senatus philosophorum; Hieron. Epist. 125, 18 senatus doctorum; ► auch p. 451, 470. 532 cera: ‚Wachs‘, metonym. ‚mit Wachs überzogene Schreibtafel‘. In dem mutmaßlichen Vorbildtext (Grégoire) steht vacua charta (► S. 84). 533 Gell. Noct. Att. 3, 16, 3. 534 Zu dieser Aussage mochte Schoock durch das wenige Jahre zuvor erschienene verbreitete Werk Aristotelis aliorumque Problemata: cui de novo accessêre Iul. Caesaris Scaligeri Problemata Gelliana (Amsterdam 1643, neu gedruckt 1650) angeregt worden sein. 535 Die Nachricht ist verdächtig, wenn der Komödiendichter Caecilius Statius († 168 oder 167) gemeint sein sollte. Auch wäre nicht zu sehen, wie der Vorwurf hätte bewiesen werden können; zudem sind die sex volumina verdächtig. ► zu Grégoire, S. 84. 536 Mehrfach wird ein (nicht faßbarer) Alexandriner Philostratos genannt, der über die Plagiate des Sophokles geschrieben habe. ► zu Grégoire S. 84 sowie Stemplinger 1912, S. 35.
174 B. Original und Übersetzung mentarium de ejus furtis scribendo. Nec aliud fatum fuit Patrum, virorumque in primitiva Ecclesia principum & sanctorum. Ad proxima secula si descendam, similem sortem maximorum alias virorum librorumque utilissimorum video. Cui non nota certamina Gaillij & Minsingeri Icc. alias summorum, itemque Chassanæi & Tyraquelli: ac ne de alijs jam loquar, ipsi Lipsio Musarum corculo plagium objecit Petrus Faber. Non probo, AA. institutum eorum, qui fide non bona aliena scripta, haut secus ac furtivos fœtus, quo incautis rerumque imperitis imponant, sibi suppositum eunt: nec in Macrobij gratiam pollicem premam, quia integras ex Seneca & Plinio sententias exscripsit, &, quasi in Oblivionis barathro compositus fuisset Noctium Atticarum scriptor, manifestarius sustinet esse plagiarius. Interim non video, cur non liceat magnum quem Scriptorem in oculis habere: eumque probe concoctum ante, (prodito tamen illius nomine) in similis argumenti scripto, redivivum quasi, novisque ornamentis ex[426]cultum eruditorum caveis exhibere. Exemplum dedere antiqui Patres. quos tamen vel ob religionis professionem à plagij crimine quam alienissimos esse oportuit. Quid? nunquid hunc in modum priorem adversus Gentes Apologeticum ex Iustino Martyre Tertullianus; ex isto Octavium suum Minutius; & ex eo denique Cyprianus suam Idolorum refutationem, alicubi totas etiam periodos mutuatus, expressere? Et tamen verecunde, atque liberaliter: nam multa tum omisere, tum de suo contulere. Arnobium à culpa illa (si modo culpa) operis amplitudo tuetur; quemadmodum Lactantium Firmianum, illibatum illum Tulliani nectaris fontem, qui tanta hunc ubertate rerum, sententiarumque, quanta ille superiores anteivit. Non possum, quin ijs, quos nomi-
537 IC = Iurisconsultus. 538 Gaillius: Andreas Gail, deutscher Jurist (1526–1587), seit 1558 am Reichskammergericht, „gilt neben Mynsinger als Begründer der Kameralistik, der Literatur zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts“ (Jochen Otto in Stolleis 1995, S. 221). 539 Minsingerus: Joachim Mynsinger von Frundeck, deutscher Jurist (1514–1588), Professor in Freiburg, mehrfach Dekan und Rektor der Universität, seit 1548 am Reichskammergericht. 540 Chassanaeus: Barthélemy de Chasseneuz, französischer Jurist (1480–1541), tätig an den Parlements von Dijon, Paris und Aix. 541 Tyraquellus: André Tiraqueau, französischer Jurist (1488–1558), 1541 an das Parlement von Paris berufen. 542 ►p. 416. 543 Petrus Faber: Pierre Du Faur de Saint-Jorry, Französischer Jurist (1550–1612). In diesem Zusammenhang wichtig: Faber 1570. Zu Lipsius’ Plagiaten ► Steenbeek 2011, S. 3–4: „Plagiat in den Saturnaliengesprächen?“ (Nachweis, daß Lipsius Zitate aus Fabers Semestria von 1570 verwendet hat, ohne sie als solche zu kennzeichnen). 544 pollicem premere: ► p. 383. 545 Macrobius: ► p. 416. Zu den Zitaten aus Seneca, Plinius und Gellius ► Schanz, Hosius. Bd. 4/2
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tig machen, indem er einen Kommentar über dessen Diebstähle schrieb. Nicht anders war das Schicksal der Väter und der angesehensten und heiligen Männer in der ersten Kirche. Wenn ich zu den nächsten Jahrhunderten herabsteige, sehe ich ein ähnliches Los sonst größter Männer und nützlichster Bücher. Wem sind nicht die Kämpfe der Rechtsgelehrten537 Gail538 und Mynsinger,539 sonst vorzüglichster Männer, bekannt und ebenso von Chasseneuz540 und Tiraqueau!541 Und damit ich nicht ferner über andere spreche: Selbst Lipsius,542 dem Liebling der Musen, warf Petrus Faber543 Plagiat vor. Nicht billige ich, ihr Zuhörer, das Verfahren derer, die in Untreue darauf ausgehen, sich fremde Schriften nicht anders wie heimliche Früchte unterzuschieben, damit sie Sorglose und in den Dingen Unerfahrene täuschen. Auch nicht zu Macrobius’ Gunsten werde ich den Daumen544 drücken, weil er ganze Sätze aus Seneca und Plinius ausgeschrieben hat und – als ob der Autor der Noctes Atticae im Abgrund des Vergessens bestattet wäre545 – es auf sich nimmt, ein offensichtlicher Plagiator zu sein. Indes sehe ich nicht, warum es nicht erlaubt ist, einen großen Autor vor Augen zu haben und ihn, den man vorher in tüchtiger Weise geistig verdaut hat (doch unter Angabe seines Namens), in einer Schrift ähnlichen Inhalts, gewissermaßen wiederauferstanden und mit neuen Argumenten sorgfältig bearbeitet, [426] den Rängen der Gelehrten darzubieten. Das Muster haben die antiken Väter gegeben. Freilich hätte es sich gehört, daß sie wegen des religiösen Berufs dem Vergehen des Plagiats möglichst fernstehend wären. Wie? Haben nicht auf diese frühere Verfahrensweise aus Iustinus Martyr546 Tertullian547 das Adversus gentes Apologeticum, aus diesem Minucius548 seinen Octavius und aus diesem schließlich Cyprian549 seine Widerlegung der Götzenbilder – gelegentlich sogar ganze Perioden entlehnend – nachgebildet? Und doch zurückhaltend und mit Anstand: Denn vieles ließen sie bald aus, bald trugen sie es aus eigenem bei. Den Arnobius550 bewahrt vor dieser Schuld (wenn anders es eine Schuld ist) der Umfang seines Werkes – wie den Lactantius Firmianus,551 jene ungeschmälerte Quelle Tullianischen Nektars, der diesen durch eine so große Fülle an Sachverhalten und Meinungen übertraf wie jener die Vorherigen. Ich kann nicht umhin, denen, die ich genannt habe, wiederum Cyprian anzuschließen:
(1920), S. 193–196. Gellius, den Macrobius stark benutzt, wird tatsächlich niemals erwähnt (► Schanz, Hosius. Bd. 4 / 2 (1920), S. 193). 546 Iustinus Martyr: ► p. 414. 547 Tertullianus: ► p. 414. 548 Minucius: ► S. 20–21. 549 Cyprianus: Caecilius Cyprianus, seit 246 Christ, seit 248 Bischof in Karthago, 258 Märtyrertod. Daß er sich an Tertullian anschloß, berichtet Hieronymus: Niemals sei ein Tag ohne Lektüre Tertullians vorübergegangen, und er habe häufig ausgerufen: Da magistrum! (De viris illustribus 53). 550 Arnobius: ► p. 390. 551 ► p. 414.
176 B. Original und Übersetzung navi, Cyprianum iterum adjungam: pleraque is volumina Tertulliani, solo styli jure, in nomen ingeniumque suum adoptavit: salvo tamen candore, nec furtive aut clanculum, cum palam eum magistrum suum testetur & vocet: & hoc quidem secundum ipsius Tertulliani monitum, qui laudat alicubi poëtas, quod Phrygiones imitati centones scriberent, materia secundum versus, versibus secundum materias concinnatis. Sed ad lineas: neque enim Apologeticum scribere decrevimus. Convitiando vero non solum, in ingenij sui monumenta, figulorum instar, singuli ex certa qua eruditorum familia debacchantur; sed integræ [427] quoque familiæ in mutuum exitium conspirarunt, innocuasque artes contemptu & cantico, si non obliterare, obterere saltem laborant. Quot non invenire est Philologos, qui se solos cum paucis putent possidere Musas, reliquosque, & inter eos Iurisconsultos quoque, velut profanos proscribant? Amore tum ingenij sui, tum studij, quod profitebatur, excæcatus jam olim Remmius Palæmon Vicentinus, à Tranquillo inter Grammaticos relatus, ne reliquis semunciam doctrinæ relinqueret, jactavit, secum & natas & morituras literas. Idem sensus plurimis alijs ex hoc grege. Et tamen plerique, paucos modo si excipias, hærent in appendiculis quibusdam eruditionis, delicianturque in solis illius floribus, frugum inopes & jejuni. Quin imo quanto hi inaniores plerumque, tanto facilius hac male blanda aura inflantur. Ex adverso ubique occurrunt; qui uni alicui ex severioribus disciplinis tam pertinaciter adhærent, ut tamen inculti maneant, dum Humanitatis cultum despiciunt; quem rei faciendæ haut quaquam servire identidem clamant, ipsi uno lucro in solidum mancipati, frustraque liberalis scientiæ titulo elati. Quasi vero Genium suum pro-
3 1649 magistrum. 1650 magistratum.
552 Die Phryger galten als Erfinder kostbar gestickter Gewänder; Plin. Nat. 8, 196 spricht deshalb von Phrygioniae vestes. 553 Tertullian handelt in De praescriptione haereticorum 39, 3–4 von Cento-Dichtung und nennt als Beispiel Hosidius Getas Medea: vides hodie ex Vergilio fabulam in totum aliam componi, materia secundum versus, versibus secundum materiam concinnatis. denique Hosidius Geta Medeam tragoediam ex Vergilio plenissime exsuxit. 554 Diese sind durch die Abschweifung überschritten worden. 555 Gemeint: wie die vorgeannten Theologen der Antike. 556 Sprichwörtlich: sic figulus figulo, faber fabro invidet (Tertull. Adv. nat. 1, 19; ► Otto 1890, S. 136 mit weiteren Beispielen). 557 Alliterierte Emphase: contemptu / cantico; obliterare / obterere. 558 Philologi: wohl wörtlich zu verstehen: Liebhaber / Freunde des Worts wie Dichter oder der im folgenden genannte Grammatiklehrer Remmius Palaemon, Georges u. a.: ‚Literat‘.
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Sehr viele Werke Tertullians übernahm er – allein mit dem Recht des Stils – auf seinen Namen und Geist, doch ohne Verletzung der Aufrichtigkeit, weder unvermerkt noch heimlich, da er ihn offen als seinen Lehrer bezeugt und nennt – und das ja doch nach der Mahnung von Tertullian selbst, der an einer Stelle Dichter gutheißt, weil sie, Phrygionische (Flick)gewänder552 nachahmend, schrieben, „indem der Stoff nach den Versen, die Verse nach den Stoffen gefügt sind“.553 Aber zu den Grenzlinien554 (zur Sache): Denn nicht haben wir ein Apologeticum555 zu schreiben beschlossen. Streitend rasen in der Tat nicht nur einzelne aus einer bestimmten Gruppe der Gelehrten – nach Art der Töpfer556 – gegen Werke ihrer Neigung, sondern auch ganze [427] Gruppen haben sich zum gegenseitigen Verderben verschworen und mühen sich, die unschuldigen Artes liberales durch Geringschätzung und Pasquill, wenn nicht in Vergessenheit zu bringen, so doch herabzuwürdigen.557 Wie viele Freunde des Worts558 sind nicht zu finden, die glauben, daß sie allein mit wenigen über die Musen verfügen und die anderen – und unter ihnen auch die Rechtsgelehrten559 – wie Uneingeweihte ächten? Aus Liebe bald zur eigenen Begabung, bald zu seinem Fach, das er öffentlich lehrte, geblendet, hat schon früher Remmius Palaemon aus Vicenza,560 der von Sueton unter den Grammatikern dargestellt ist, geprahlt, daß er den anderen nicht eine halbe Unze561 an Gelehrsamkeit übriglasse‚ „die Wissenschaften seien mit ihm geboren und stürben mit ihm“.562 Denselben Sinn haben sehr viele aus dieser Sippschaft. Und doch hängen die meisten, wenn du nur wenige ausnimmst, gewissermaßen in Anhängseln563 der Gelehrsamkeit fest und freuen sich allein über ihre Blüten, der Früchte ermangelnd und hungernd. Ja sogar, je leerer (substanzloser) diese gewöhnlich sind, um so leichter blasen sie sich mit dieser übel verführerischen Luft auf. Frontal rennen sie überall gegeneinander an, die sie irgendeiner einzigen der ernsteren Disziplinen so hartnäckig anhängen, daß sie dennoch ungebildet bleiben, während sie die Pflege der Humanitas verachten; daß diese auf keine Weise dazu diene, Hab und Gut zu verschaffen, verkünden sie immer wieder laut, selbst auch einzig im Gewinnstreben gänzlich gefangen und umsonst von dem ehrenvollen Namen der Artes liberales aufgeblasen. Als ob sie wirklich ihrem Genius alles verdankten564 (dessen rühmen sich diese Poseidipper und
559 Die Juristen pflegen eine besonders nüchterne (unmusische) Sprache. 560 Palaemon Vicentinus: Quintus Remmius Palaemon, römischer Grammatiklehrer aus Vicetia / Vicenza (1. Jahrhundert n. Chr.), zu seinen Schülern gehören Persius und Quintilian. 561 uncia = ein zwölftel As, übertrag. ‚eine Kleinigkeit‘. 562 Suet. De gramm. 23: arrogantia fuit tanta ut […] secum et natas et morituras litteras iactaret. 563 appendicula = ‚kleines Anhängsel‘, wie Cic. Pro Rab. Post. 8: appendicula causae iudicatae atque damnatae. 564 Genium suum propitient: exquisite Anspielung auf Tac. Dial. 9, 5 suum genium propitiare (Georges: ‚sich selbst […] alles verdanken‘, wörtl. ‚dem eigenen Genius huldigen‘).
178 B. Original und Übersetzung pitient, (jactant illud hi Posidippi & Posidonij) qui nihil Genio, hoc est animo suo, sed omnia patrimonio tribuunt; humaniorumque disciplinarum cultura ideo negligenda sit, quod loculos non repleat. paupertas eruditionis soror est, ut ante [428] meminimus nos ostendisse. Alij Philosophiæ opinione supini, Philologiæ non medium solum digitum ostendunt, sed ejus cultores quoque in solas terras depor- 5 tatos cupiunt. In quam sententiam non descenderunt solum Epicuri sectatores cum Cynicis, sed ipsi Stoici: cum tamen morosum illud Zenonis supercilium eo se demittere potuerit, ut artem amandi conscriberet, alterumque Commentarium de trullarum usu in fundendo vino. Mirum vero quam infesti sibi invicem Iurisconsulti ac Medici jam olim esse consueverint. Quoniam Bononiæ ultra centum annos 10 de primo loco contenderunt, utrimque ea excogitarunt, libellorumque famosorum fidei commiserunt, quæ non Cornelium quem Agrippam solum, à Luciano in sannionum tribu secundum, ad utramque disciplinam vituperandam excitarunt; sed multos quoque ex ijs, quibus prima semper cura fuit Bonam Fidem colere. Enimvero, nisi inter eos rixantes Iovianus Pontanus arbiter lectus, ac spe, quam de 15 reconciliandis dissidentibus conceperat, frustratus fuisset, erubuisset post Polemonem Iuniorem dicere, soli Medico & Advocato licere impune occidere; quod credendum esse lepide in quodam Dialogo vir ingeniosissimus contendit, quia alteri
565 Schoock bezieht sich nicht auf bestimmte Aussagen der beiden Autoritäten; vielmehr spielt er, wie der jeweils gebrauchte Plural zeigt, auf die Richtung ihres Denkens allgemein an. Die Alliteration könnte darauf hinweisen, daß die beiden Namen redensartlich verbunden sind. Daß bei der Analyse der Ursache des menschlichen Handelns an den stoischen Philosophen Poseidonios von Apameia (135–151) gedacht ist, liegt nahe. Bei dem Epigrammatiker Poseidippos von Pella († 240), von dem zu Schoocks Zeiten nur etwa 25 Epigramme vorwiegend erotischsympotischen Inhalts und eine Alterselegie bekannt waren, könnte auf eine Aussage wie in Fr. 123, 3–4 Austin / Bastianini angespielt sein: σιγάσθω Ζήνων ὁ σοφὸς κύκνος, ἅ τε Κλεάνθους μοῦσα („es schweige Zenon, der weise Schwan, und die Muse des Kleanthes“). Zenon und Kleanthes waren herausragende stoische Philosophen. 566 loculus: ‚Beutel‘ (Kirschius 1774, Sp. 1675). 567 ► p. 387. 568 supinus: ‚arrogant‘, ► Quint. Inst. 11, 3, 69 sowie Kißel 1990, S. 282. 569 Philologia: ► weiter oben zu Philologi (p. 427).
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Poseidonier),565 sie, welche nichts auf den Genius, das heißt auf den Geist, sondern alles auf das Vermögen beziehen, und (als ob) die Pflege der Disziplinen der Humaniora deswegen geringzuschätzen sei, weil sie nicht die Geldbeutel566 fülle. Die Armut ist die Schwester der Gelehrsamkeit, wie wir [428] nach unserer Erinnerung vorher567 gezeigt haben. Andere durch das Vorurteil der Philosophie Arrogante568 zeigen der Liebe zum Wort (Philologie)569 nicht allein den Mittelfinger,570 sondern wünschen auch die, die sie pflegen, in einsame Länder deportiert. Auf diese Ansicht ließen sich nicht allein die Anhänger Epikurs mit den Kynikern ein, sondern selbst die Stoiker – während doch jener morose Ernst571 Zenons572 sich dahin herablassen konnte, daß er eine Liebeskunst schrieb und als zweites einen Kommentar über den Gebrauch von Schöpfkellen beim Gießen des Weins. Es ist wirklich verwunderlich, wie die Rechtsgelehrten und Ärzte schon längst gewohnt sind, sich gegenseitig feindlich gesonnen zu sein. Da sie ja in Bologna mehr als hundert Jahre um den ersten Platz stritten, haben sie auf beiden Seiten das ersonnen und der Obhut berüchtigter Bücher anvertraut, was nicht allein einen Cornelius Agrippa,573 den nach Lukian Zweiten in der Zunft der Spötter, zum Tadeln beider Disziplinen angestachelt hat, sondern auch viele von denen, welchen es immer die erste Sorge war, die Bona Fides (Treu und Glauben) zu ehren. In der Tat, wenn unter diesen Streithähnen nicht Giovanni Pontano574 als Schiedsmann gewählt und in der Hoffnung, die er bezüglich der Wiederversöhnung der Widerstreitenden gefaßt hatte, getäuscht worden wäre, hätte er sich geschämt, nach Polemon dem Jüngeren575 auszurufen, „daß es allein dem Arzt und dem Advokaten erlaubt sei, ungestraft zu töten“; daß das zu glauben sei, hat der
570 medius digitus: ► p. 383. 571 Wörtlich: ‚Augenbraue‘. 572 Zeno: Zenon von Kition, griechischer Philosoph, Gründer der Stoa (333 / 332–262). Diog. Laert. 7, 34 erwähnt eine ἐρωτικὴ τέχνη. Unklar ist, worauf sich die zweite Nachricht bezüglich eines Werkes über Schöpfkellen stützt. Schoock konnte sie aber bei Johann van der Wowern finden (► S. 9–10). Beide Werke sind Beispiele der Philologia (die nicht so streng wie die Philosophia ist)! 573 Cornelius Agrippa: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, streitbarer deutscher Jurist, Arzt und Okkultist (1486–1535), lebte 1511–1518 in Italien. Schoock könnte sich auf den kritischen mehrfach (z. B. in Antwerpen 1530) gedruckten De incertitudine et vanitate omnium scientiarum et artium liber beziehen. 574 Pontanus: ► p. 398. 575 Polemo Iunior: Irrtum Schoocks oder seiner Quelle. Es ist der Komödiendichter Philemon der Jüngere gemeint, den Schoock z. B. bei Grégoire 1596, Bd. 2, S. 133 finden konnte, der zwei Trimeter zitiert: Μόνῳ δ᾿ ἰατρῷ τοῦτο καὶ συνηγόρῳ | ἔξεστιν ἀποκτείνειν μέν, ἀποθνῄσκειν δὲ μή (Fr. 3 K. / A.), die er so paraphrasiert: Soli medico & aduocato occidere licet impunè, sine aliquo suo periculo (‚Allein dem Arzt und dem Anwalt ist es erlaubt, straflos zu töten, ohne irgendeine Gefahr für ihn‘). Grégoire war Schoock bekannt (► S. 80–85). Die Ärzte wurden in diesem Sinn schon von Plin. Nat. 29, 18 kritisiert: medico […] tantum hominem occidisse inpunitas est.
180 B. Original und Übersetzung alteris tantum privilegium invidere non minus, quam objicere solent. Utris cum ratione autem conveniat, non definio. Ingemisco solum, quod odium, à quo subacti fue[429]runt viri cætera incomparabiles, ipsas illas artes, quibus genus humanum carere haut potest, prostituerit, apud eos qui sacra ignorantia nihil aut securius aut felicius esse deputant. Animi hunc morbum, æque sibi vernaculum ac capris febris esse solet, si venis nunquam concepissent, regnum jam diu obtinuissent, divisum quidem potestate ac civibus, cæterum tranquillum, omnisque invidiæ securum. Velint modo ipsi; Iuris ac æqui consulti, Sacerdotes justitiæ, Principum consiliarij, reique communis culmina atque columina erunt: quando medici imperium quodammodo vitæ necisque obtinebunt, atque ipsis Imperatoribus, promittendo quasi in officinis suis cuique homini venalem vitam, imperabunt. Nolo alias factiones committere, cum constet supra eos, qui sellularias artes exercent non surgere eruditos, cum eorum exemplo studio & arti suæ decus ac præmium quærant, à convitijs & calumnijs, quibus alia vitæ genera differre solent. Nescio an notum vobis sit Bionis Borysthenitæ nomen; vanitatis, si non amentiæ multi eum arguunt, quod aliquando in Scholam, quam in Constantini urbe regendam susceperat, nauticum vulgus Scholasticorum pallijs amictum, introduxerit. veniam tamen eum mereri existimo. Voluit quippe vir cætera eximius, profundeque eruditus, contundere fastum eorum, quos socios in Philosophia docenda acceperat: quodque de[430]speraret locum fore admonitionibus, quas tot ante eum viri illustrissimi instituerant, hominum quisquilijs Gymnasium concessit, quod discipulos suos æquales his redderent, qui noctes atque dies inter eos classicum canebant, bellumque ab illis pro quibusdam opinionum suarum somnijs suscipi optabant. De Iuliano prin-
3 1649 humanum. 1650 humanam.
576 Pontano läßt in dem Dialog Charon Mercurius die negative Sicht auf die Ärzte und auf die Juristen vertreten und zu Charon sagen, die Ärzte lebten freier, weil es ihnen erlaubt sei, einen Menschen ungestraft zu töten (liberius medici ut quibus permissum sit hominem impune occidere), und fortfahren, daß das Gesetz sie nicht nur freispreche, sondern ihnen sogar Lohn festsetze (medicos […] lex non modo absolvit, verum mercedem quoque […] statuit). Unmittelbar darauf zieht Mercurius über die Juristen her, die, wie er sagt, Bedachtsamkeit in Bösartigkeit wenden, Rechte verkaufen, Gesetze schänden, Recht und Unrecht nur nach dem Lohn unterscheiden (prudentiam in malitiam vertentes iura venditant, leges contaminant, fas nefasque solo discernunt precio, ut nulla homini in vita maior sit pestis). Das ist deutlich genug. 577 febris: übertr. wie Plaut. Pseud. 643. Zugrunde liegt das Bild des streitsüchtigen Ziegenbocks. 578 sellulariae artes: Künste, die im Sitzen ausgeübt werden, etwa von Handwerkern (z. B. Schuster, Schneider), ► auch p. 438. 579 Bion Borysthenita: Bion von Borysthenes, griechischer Philosoph, Kyniker (*um 335, † Mitte
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geniale Mann in einem bestimmten Dialog576 witzig behauptet, weil die einen den anderen das so große Privileg nicht weniger zu neiden als vorzuwerfen pflegen. Welchen von beiden es aber mit Recht zukommt, bestimme ich nicht. Ich beseufze nur, daß der Haß, von dem [429] die im übrigen unvergleichlichen Männer übermannt worden waren, gerade jene Tugenden, die das Menschengeschlecht nicht entbehren kann, bei denen öffentlich bloßgestellt hat, die entschieden glauben, daß nichts sicherer oder fruchtbarer sei als die heilige Ignoranz. Wenn sie (die Ärzte und Juristen) diese Geisteskrankheit, die ihnen in gleicher Weise angeboren zu sein pflegt wie den Ziegenböcken das Fieber,577 in ihren Adern niemals aufgenommen hätten, hätten sie die unumschränkte Herrschaft schon längst innegehabt, zwar nach Herrschaft und Bürgern geteilt, aber doch ruhig und sicher vor jedem Haß. Wenn sie es nur selbst wollen, werden die des strengen und billigen Rechts Kundigen Priester der Gerechtigkeit, Ratgeber der Fürsten und Gipfel und Säulen des Staates sein, während die Ärzte gewissermaßen die Herrschaft über Leben und Tod innehaben und selbst den Kaisern befehlen werden, indem sie in ihren Arbeitsstätten jedem Menschen gleichsam ein erwerbbares Leben versprechen. Ich will andere Gruppen nicht ins Feld führen, da feststeht, daß sich über die, welche die sitzenden Künste ausüben,578 die Gelehrten nicht erheben, da sie nach deren Beispiel für ihr Streben und ihre Wissenschaft Ehre und Lohn suchen, fern von Streitereien und Schmähungen, durch die sich andere Lebensweisen zu unterscheiden pflegen. Vielleicht ist euch der Name Bion von Borysthenes579 bekannt; der Windbeutelei, wenn nicht der Verrücktheit beschuldigen ihn viele, weil er einmal in die Schule, deren Leitung er in Konstantinopel580 übernommen hatte, Seefahrervolk, mit Mänteln von Studenten bekleidet, hineinführte. Doch glaube ich, daß er Nachsicht verdient. Denn der im übrigen hervorragende und profund gebildete Mann wollte den Hochmut derer dämpfen, die er als Teilnehmer im Philosophieunterricht erhalten hatte; und weil er [430] bezweifelte, es werde Platz für Ermahnungen sein, die so viele hochberühmte Männer vor ihm erteilt hatten, gestattete er dem Gelichter der Menschheit581 die Schule, welche ihm seine eigenen Schüler gleichstellen sollte, die Nacht und Tag in seiner Mitte zum Kampf bliesen und wünschten, daß von ihm Krieg zugunsten gewisser Träume ihrer Einbildungen unternommen werde.582 Über den Kaiser Julian,583 den ich mit Recht
3. Jahrhundert); die im folgenden erzählte Anekdote findet sich andeutungsweise (und auf Rhodos spielend) bei Diog. Laert. 4, 53. 580 D. h., Byzantion. 581 quisquiliis: ‚Auswurf‘, ‚Gelichter‘, wie Cic. Ad Att. 1, 16, 6. Gemeint sind die Matrosen. 582 Es handelt sich um eine pädagogische Maßnahme, die die hochnäsigen Philosophiestudenten von ihrem hohen Roß herunterholen sollte. Bei dem verschrobenen Satz wird Jürgen Blänsdorf und Thorsten Burkard maieutische Hilfe verdankt. 583 Iulianus princeps: ► p. 380.
182 B. Original und Übersetzung cipe, quem ad unguem factum cum ratione dicerem, nisi Christiano nomini Furijs suadentibus maledixisset, memoriæ traditum est, quod Alexandrinis & Cæsariensibus professioni juris civilis interdixerit, quoniam indoctos quosdam, unique lucro servientes juventuti præfecerant: exemplum ejus si sequerentur supremi Scholarum moderatores, & non tantum imperitos, qui per ambitum plerumque promove- 5 ri solent, sed etiam rixosos, submoverent, quibus summa gloria videtur maledicere posse omnibus, atque de lana caprina triumvirale concitare judicium; næ præclarius cum eruditione, imo ipsa rep. quam hæc flabella concitare quoque solent, ageretur. Sed comprimo me, atque ad alia progredior. tantum malorum vero adhuc prospicio, ut nesciam quod primo attingere debeam. Qui publice sunt 10 exosi, qui in mutuum conspirant interitum, ipsasque innocuas artes tollere laborant, non possunt non in ipso miseriarum Barathro componi.
[purpura] Omissis autem alijs, hoc deplorandum quam maxime, quod eruditio cum purpura conjungi non posse vulgo creditur: doctique Or[431]chestra atque Quatuordecim 15 arcentur, quod in alios imperium non mereantur, qui sibi imperare nesciunt. Non solum autem quis Valerius Licinius princeps, sive altissimus ignorantiæ gurges, proclamat reip. pestem literas esse, quod inter eos, apud quos cum aratro & sarculis in Dacia consenuerat, neque Philosophum, neque vatem vidisset: sed diu ante à viris maximis Neroni vitio datum fuerat, quod Philosophiæ, ejusque Doctori 20 Senecæ assiduam nimis operam dedisset. Ex circulis & semicirculis suffragia si collectum quis eat, omnes in universum literatos à republ. submoveri deprehen-
584 ad unguem factum: ► p. 378. 585 „In epistula 111 Bidez / Cumont spricht sich Julian dezidiert gegen die christlichen Alexandriner und ihren Bischof Athanasios aus, den er nicht nur aus Alexandria, sondern aus ganz Ägypten verbannt. Schoockius kann diesen Brief in der Julian-Ausgabe von Petavius (Paris 1630) gelesen haben. Mit Caesarea (gemeint muss das in Kappadokien sein) ist die Sache etwas komplizierter: Hier berichtet der Kirchenhistoriker Sozomenus (von dem es gedruckte Ausgaben Paris 1544 und Köln 1612 gab) in Buch 5, Kapitel 4, 1–5 von feindlichen Maßnahmen Julians gegen diese sehr stark christliche Stadt. Spätere Texte wie die Vita Basilii (angeblich von Amphilochios von Ikonion) machen daraus sogar eine Konfrontation zwischen Julian und Bischof Basileios (was aber zeitlich nicht geht, da Basileios erst nach Julians Tod Bischof von Caesarea wurde). Die Vita wurde von Combefis 1644 ediert; bereits im 9. Jahrhundert wurde sie mehrmals ins Lateinische übersetzt, und ihre Inhalte gingen in Vicenz von Beauvais’ Speculum historiale (Buch 14, Kap. 25ff.) und in die Legenda Aurea ein“ (Hinweis von Heinz-Günther Nesselrath). 586 In Rom unterstützten die triumviri capitales den Praetor, u. a. in der Ziviljustiz. 587 Cicero gebraucht Pro Flacco 54 das Bild flabellum seditionis. 588 ► p. 399.
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ideal584 hieße, wenn er nicht dem christlichen Namen, was ihm die Furien geraten hatten, gelästert hätte, ist der Nachwelt überliefert, daß er den Einwohnern von Alexandria und Caesarea die Ausübung des bürgerlichen Rechts untersagte, weil sie einige Ungelehrte, die einzig auf Gewinn aus waren, der Jugend als Vorsteher gegeben hatten.585 Wenn dessen Beispiel die höchsten Schulleiter folgten und nicht nur Unerfahrene, die meistens aus Ehrgeiz angetrieben zu werden pflegen, sondern auch Streitsüchtige entfernten, denen es höchster Ruhm zu sein scheint, allen lästern zu können und um Ziegenwolle ein triumvirales Gerichtsverfahren586 in Gang zu setzen, würde fürwahr vortrefflicher mit der Gelehrsamkeit, ja mit dem Staat, den diese Fächer587 auch zu entflammen pflegen, verfahren. Aber ich beschränke mich und schreite zu anderem fort. So viele Übel sehe ich allerdings bis jetzt vorher, daß ich nicht weiß, was ich zuerst berühren soll. Diejenigen, welche öffentlich verhaßt sind, welche sich zu gegenseitigem Untergang verschwören und selbst die unschuldigen Artes liberales zu beseitigen streben, sind direkt im Abgrund der Elendigkeiten zu entsorgen.
[Gelehrsamkeit und Macht] Anderes aber ausgelassen, ist das am meisten beklagenswert, daß allgemein geglaubt wird, die Gelehrsamkeit könne nicht mit Purpur verbunden werden. Die wissenschaftlich Gebildeten werden von der [431] Orchestra und den Plätzen der Vierzehn588 ferngehalten, weil diejenigen das Gebieten über andere nicht verdienten, die sich (selbst) zu gebieten nicht verstehen. Aber nicht allein rief ein gewisser Kaiser Valerius Licinius589 bzw. ein tiefster Abgrund der Ignoranz aus, daß „die Wissenschaft des Staates Pest sei“, weil er unter denen, bei denen er mit Pflug und Hacken in Dakien gealtert war,590 weder einen Philosophen noch einen Dichter gesehen hatte. Aber auch lange vorher wurde Nero von hochrangigen Männern als Fehler angerechnet, daß er sich allzu ausdauernd um die Philosophie und seinen Lehrmeister Seneca bemüht hätte. Wenn einer aus Kreisen und Halbkreisen591 Urteile sammeln geht, wird er erkennen, daß alle Wissenschaftler, im ganzen genommen, aus dem Staat ferngehalten werden, und zwar nicht nur durch
589 Valerius Licinius: Valerius Licinianus Licinius (* etwa 250, hingerichtet 325), römischer (Mit)kaiser 308–324, von Bauern in Dakien abstammend. Über ihn berichtet die Epit. de Caesaribus (Aurelius Victor) 32, 1: parentibus ortus splendidissimis, stolidus tamen et multum iners, neque ad usum aliquem publici officii consilio seu gestis accomodatus. Den Ausspruch überliefert die Epit. de Caesaribus 10, 8 / 9: infestus litteris, quas per inscitiam immodicam virus ac pestem publicam nominabat […], agraribus plane ac rusticantibus, quod ab eo genere ortus altusque erat […]. 590 Er wurde erst mit 58 Jahren (Mit)kaiser. 591 ex circulis & semicirculis: ► p. 385.
184 B. Original und Übersetzung det: nec tunicati popelli temerario solum plebiscito; sed decreto eorum, qui imperandi momenta subacto judicio expendisse videntur. Rationes scilicet Censores addunt, ne videantur plusculum affectibus tribuisse. Inde Grammaticos ut homines viles & incapaces fascium ad ferulam suam ablegant; Rhetores, ut turbulentos stolidæ adolescentiæ committunt; Iurisconsultis, ut litium satoribus, præter saccum agrariam turbam & matutinum consulentium gregem relinquunt; Theologis, ut inimicis libertatis, contentionibusque deditis oratoribus, perpetuam in templis stationem precantur; insumma poëtas, ut furibundos, Philosophos ut Scepticos; Mathematicos, ut nescios artium, spatijque secundum quod à summo jure recedere licet, proscribunt. Leve vero hoc foret, tuto[432]que populare judicium negligi posset, nisi nervos & robur ei adderent, qui inter eruditos videri voluerunt nomen tulisse. Viva quædam Bibliotheca est Cœlius Rhodiginus, cujus antiquas Lectiones tanti fecit Didacus Couvarruvias I. C. excellentissimus, ut octies evolverit, & ne tum quidem è manibus deposuerit, cum Senatus cogeretur. is ipse tamen judicio huic accedit, serioque, exemplis etiam laudatis, quibus magnum ad persuadendum pondus inesse solet, probare laborat, remp. committendam non esse ijs, qui in literas sese abdiderunt. Præter morem verba ejus adduco, quo illi, qui solum ad cortinam eruditionis accedere gestiunt, ut tribunal & Curules occupent, cognoscant, quid de imperio doctorum, viri ad miraculum doctisimi existiment. Verba scriptoris sunt: Nam quotquot ex Philosophorum progressi Scholis, tyrannides arripuere, crudelius, immaniusque eas exercuisse comperiuntur, quam ignari prorsus literarum. Patriam libertatem, obsecro vos, quanta feritate Atheniensis Ariston, Epicureorum innutritus scholis, oppressit? an non ante illum etiam Critias, quique cum Critia Philosophiæ mysterijs sunt initiati? Quid vero de Pythago-
592 tunicatus popellus: Nach Horaz Epist. 1, 7, 65 (► p. 377). 593 D. h., nur zum Unterrichten. ferula: ► p. 397. 594 ire ad saccum (Plaut. Capt. 90) = ‚betteln gehen‘ (nach Georges Sprichwort, von Otto 1890, S. 304 bestritten); OLD: ‘to work as a porter’. Schoock hat die erste Deutung im Sinn: Die Rechtsgelehrten geraten an den Bettelstab. 595 Caelius Rhodiginus: Lodovico Celio Ricchieri Rodigino, italienischer Humanist (1469–1525). Die Antiquae Lectiones erschienen 1516 in 16 B., postum 1542 in 30 B. und öfter. Das Zitat: 1516, S. 631. Schoock bezieht sich auf Celio (indirekt) auch im Surd. enc. (► Lefèvre 2021, S. 136 Anm. 476). 596 Couvarruvias: Diego de Covarrubias y Leyva, spanischer Jurist (Kanonist) (1512–1577), Mitbegründer der Schule von Salamanca. 597 Gemeint: Celio vertritt selbst das vorgetragene allgemeine Urteil, daß die Gelehrten nicht zu hohen Staatsämtern taugen. 598 cortina: ‚Kessel‘, ‚rundes Gefäß‘; übertr. ‚Kreis‘; Tac. Dial. 19, 4 vom Kreis der Zuhörer, ► auch p. 433.
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Beschluß des einfachen Volkes,592 sondern (auch) durch Entscheidung derer, die die Beweggründe des Befehlens nach abgewogenem Urteil geprüft zu haben scheinen. Begründungen fügen die Zensoren natürlich bei, damit sie ihren Leidenschaften nicht etwas viel Tribut gezollt zu haben scheinen. Daher lassen sie die Grammatiker als geringwertig und für höhere Ämter unfähig zu ihrer Rute593 beiseite treten; die Rhetoren vertrauen sie als Unruhestifter der törichten Jugend an; den Rechtsgelehrten als Urhebern von Prozessen überlassen sie außer einem Bettelsack594 einen ländlichen Haufen und eine am (frühen) Morgen Rat suchende Schar; den Theologen als Feinden der Freiheit und Streitereien hingegebenen Rednern wünschen sie einen dauernden Standort in den Kirchen; kurz, sie ächten Dichter als Wahnsinnige, Philosophen als Skeptiker (Zweifler), Mathematiker als der Artes liberales und des (kleinen) Zwischenraums Unkundige, den man vom höchsten Recht abweichen darf. Das wäre tatsächlich unerheblich, und ohne Gefahr [432] könnte das allgemeine Urteil mißachtet werden, wenn ihm nicht diejenigen Nerven und Kraft gäben, die offensichtlich einen (guten) Namen unter den Gelehrten davongetragen zu haben wünschten. Eine lebendige Bibliothek ist Celio Rodigino,595 dessen Antiquae Lectiones der so exzellente Rechtsgelehrte Didacus Couvarruvias596 derart hoch geschätzt hat, daß er sie achtmal wälzte und ja nicht einmal dann aus den Händen niederlegte, als der Senat einberufen wurde. Doch tritt er (Celio) selbst diesem Urteil bei597 und bemüht sich ernsthaft, sogar unter Anführung von Beispielen, denen ein großes Gewicht zum Überzeugen innezuwohnen pflegt, zu beweisen, daß der Staat nicht denen überlassen werden dürfe, die sich in die Wissenschaft zurückgezogen haben. Gegen meine Gewohnheit führe ich seine Worte an, damit diejenigen, die nur zum Kreis598 der Gelehrsamkeit Zutritt zu haben streben, damit sie das Tribunal und die Amtssitze besetzen, erkennen, was über die Herrschaft der Gelehrten die wunderbar klügsten Männer urteilen. Die Worte des Autors sind:599 „Denn von wie vielen, die aus den Schulen der Philosophen hervorgegangen sind und Tyrannenherrschaften an sich gerissen haben, ist bekannt, daß sie sie grausamer und furchtbarer ausgeübt haben als die, die der Wissenschaften gänzlich unkundig waren. Mit welcher Wildheit hat die Freiheit des Vaterlandes – ich beschwöre euch – der in den Schulen der Epikureer erzogene Athener Aristion600 unterdrückt? Etwa nicht vor ihm auch Kritias601 und diejenigen, die mit Kritias in die Mysterien der Philosophie ein599 Zu dem Katalog ► o. S. 75–76. 600 Ariston: richtig Aristion, in der epikureischen Lehre erzogen, übte 88–86 mit der Hilfe von Mithridates VI. eine Schreckensherrschaft in Athen aus; auf Sullas Befehl getötet. Zu ihm ► auch p. 445–446. 601 Critias: Kritias, athenischer Politiker (ca. 460–403), ehemals Sokrates-Schüler, zählte zu den antidemokratischen Kräften, gehörte nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs (404) dem Regime der Dreißig (Tyrannen) an. Zu ihm ► auch p. 446.
186 B. Original und Übersetzung ra dicam? Quid de illis ipsis septem sapientibus, alijsque, qui maximarum rerum pondera subire adorti sunt, nonne imperio usi crudelissimo deprehenduntur? Athenionis, ex Athenæo nimio plus apud Athenienses crudelitas Mithridatico innotuit bello. Nec Lysiæ Tarsensis ex Philosophorum scholis latet: quem cum Stephanophorum allegisset pa[433]tria, id est, Herculis sacerdotem, arreptum semel imperium non abjecit, tyrannum agens ex professo. Qua hominum sævitia sanguinaria commotus Demochares, sive is fuerit Crates, lepide fertur dixisse: Sicuti ex Thymbra lanceam nemo concinnarit, ita nec ex Socrate inculpatum militem. Hæc Cælius. Cui quamvis respondere in proclivi sit, errataque hominum non debeant imputari studio, quod profitentur, haut magis ac ipsi vino, quod vitium trahit à dolio: Antequam tamen examinare instituo, quæ pro purpuratorum quorundam opinione vir doctus attulit, eos ipsos, qui literarum subsellia occupant, solique judices in controversijs sedere volunt, lustrare lubet. Enimvero si ipsi utilia ab inutilibus erudito examine semper divisissent, nec passi fuissent prope augustum eruditionis palatium omnigenarum quisquiliarum foricas statui, in pretio forent literæ, Philosophique ex Platonis voto aut imperarent, aut imperantes philosopharentur. De Helleboro naturæ consulti referunt, quod grandiusculis partibus sumptum purget, in minutissima vero fragmenta contritum suffocet; sic & eruditio ad pulvisculos atque ramentas subtilitatis redacta, nocet, nec tam oculis quam menti densam caliginem offundit. Lubens fateor in cortina solum eruditionis me consistere, nec docti nomen alia ratione promereri posse, quam si pro doctrinæ candidato me geram, applaudamque illis, quibus coronatis hactenus eruditorum resp. assurrexit: nun-
4 1649 cum. 1650 non.
602 Pythagoras: Pythagoras von Samos, griechischer Philosoph (ca. 570–ca. 480), begründete in Kroton / Unteritalien eine religiös fundierte Lebensgemeinschaft, aus der ihn politische Gegner vertrieben haben sollen, so daß er nach Metapont übersiedelte. 603 Athenion: Athenion von Athen, peripatetischer Rhetor und Philosoph, verhandelte im 1. Mithridatischen Krieg (89–84) mit Mithridates, soll sich nach seiner Rückkehr als Tyrann gebärdet haben (umstritten). Schoock beruft sich auf Athenaios, Deipnosoph. 5, 211d: τῆς Ἀθηναίων πόλεως τυραννήσας. 604 Lysias Tarsensis: Lysias von Tarsos, epikureischer Philosoph, wurde zum Herakles-Priester gewählt, weigerte sich später, das Priesteramt niederzulegen, und wurde, wie Athenaios, Deipnosoph. 5, 215b–c berichtet, Tyrann (τύραννος). 605 Demochares: Athenischer Redner und Staatsmann (ca. 355–275). Crates: Wohl Krates aus
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geweiht wurden? Was aber soll ich über Pythagoras602 sagen? Was selbst über jene Sieben Weisen und andere, die in Angriff nahmen, sich den Lasten der größten Dinge zu unterziehen – werden sie nicht ertappt, eine sehr grausame Herrschaft ausgeübt zu haben? Athenions603 Grausamkeit bei den Athenern im Mithridatischen Krieg ist aus Athenaios gar zu sehr bekannt geworden. Auch die des Lysias von Tarsos604 aus den Schulen der Philosophen ist nicht unbekannt: Als den das Vaterland zum Kranzträger gewählt hatte, [433] das heißt zum Priester des Herakles, gab er die einmal ergriffene Herrschaft nicht (mehr) auf und stellte erklärtermaßen den Tyrannen vor. Von dieser blutigen Wildheit der Menschen bewegt, soll Demochares – oder sei Krates605 derjenige gewesen – witzig gesagt haben: ‚Wie aus Saturei606 niemand eine Lanze gemacht hat, so nicht aus Sokrates einen untadeligen Soldaten.‘“ Soweit Celio. Obwohl diesem zu antworten leicht ist und Irrtümer dem Eifer der Menschen, den sie frei bekennen, nicht mehr angerechnet werden dürfen als dem Wein selbst der Fehler, den er vom Faß an sich zieht, möchte ich doch, bevor ich zu prüfen beginne, was zugunsten der Meinung gewisser Hofleute der gelehrte Mann beigetragen hat, direkt die mustern, die zum Kreis der Wissenschaften gehören607 und bei Streitigkeiten allein als Richter zu Gericht sitzen wollen. Wenn sie allerdings selbst in gelehrter Untersuchung immer das Nützliche vom Unnützen getrennt und nicht zugelassen hätten, daß neben einem erhabenen Palast der Gelehrsamkeit Latrinen608 von allerlei Kehricht plaziert werden, stünde die Wissenschaft im Wert und würden nach Platons Wunsch die Philosophen entweder herrschen oder die Herrschenden philosophieren.609 Die der Natur der Nieswurz Kundigen berichten, daß diese, in ziemlich großen Portionen genommen, purgiert, aber in kleinste Stücke zerrieben die Kehle zuschnürt; so schadet auch die Gelehrsamkeit, zu Stäubchen und Splittern der Feinheit reduziert, und breitet nicht so sehr den Augen als vielmehr dem Verstand dichten Nebel entgegen. Gern gestehe ich, daß ich mich nur im Kreis610 der Gelehrsamkeit aufhalte und den Namen eines Gelehrten nicht auf andere Weise verdienen kann, als wenn ich mich als Kandidat der Gelehrsamkeit benehme und jenen applaudiere, vor denen als bisher Gekrönten die Respublica der Gelehrten sich erhoben hat. Niemals werde ich es jedoch über mich bringen, daß ich den Daumen zugunsten
Theben gemeint, ► p. 388. Der Ausspruch (einschließlich des Schwankens zwischen den genannten Autoren) bei Erasmus, Adagia 2, 5, 47 (Ed. 1559, Sp. 578), nach Athenaios: Ἐκ θύμβρας οὐδεὶς ἂν δύναιτο κατασκευάσαι λόγχην, οὔτε ἐκ τοιούτων λόγων ἀνὴρ ἀγαθὸς γίνεται. 606 thymbra: ‚Saturei‘, ein langstieliges (schlappes) Küchenkraut, natürlich ungeeignet für die Verfertigung von Lanzen. 607 literarum subsellia: ► zu p. 378. 608 foricas: nach Iuv. 3, 38 (satirisch, in derbem Zusammenhang). 609 ► Politeia 473 c / d. 610 cortina: ► p. 432.
188 B. Original und Übersetzung quam tamen à me impetrabo, ut in Didymi Grammatici gratiam pollicem premam. Scripsit is quidem [434] quatuor librorum millia, cæterum miser habendus quod tam multa supervacanea legerit. quis enim non gratuletur Libitinæ, quod omnem hanc supellectilem submoverit, cujus nucleum si in animi horreum congessissemus, Herculis operam in tanto Augiæ stabulo expurgando conducere deberemus. Quem juvet inter eruditos censeri, & demorsos ungues rodere, ut cognoscat veram Æneæ matrem? aut insomnes noctes ducere, quo dicere possit libidinosior Anacreon, an ebriosior vixerit? In talibus tamen occupata fuit Didymi diligentia, cujus vitam quisquis longam fuisse negat, vivendi ignarum se esse probat. Nec Didymi solum hic morbus fuit, multi alij ex penulatis magistris eo laborarunt, ex quibus jam olim quis regem se esse credidit, quod observasset primos & ultimos Iliadis atque Odysseæ versus pari syllabarum numero constare. Ne quid de Appione Grammatico dicam, qui ausus fuit Homeri manes inquietare, excelsamque illius imaginem è communi loco evocare, tantum ut cognosceret secundum quam ex septem illis Græciæ civitatibus judicare deberet, quæ de patria illius certare solent. Ferendum vero foret, si soli Grammatici sic ineptirent, consortesque Orbiliani sceptri in inquirendis Vlyssis erroribus perpetuo occuparentur, ne suos unquam cognoscerent: illi ipsi, qui Philosophi haberi volunt, plerumque ad risum sunt inepti, nullumque æstimant, nisi qui interrogationes vaferrimas strue[435]re conclusioneque falsa à vero nascens mendacium astringere potest. Pudet dicere, in re seria multi senes ludunt: qui supercilia subduxisse, barbamque in hoc dimisisse
611 Didymus: Didymos, alexandrinischer Philologe von unglaublicher Fruchtbarkeit, der den Beinamen Χαλκέντερος (‚mit ehernen Eingeweiden‘) erhielt (1. Jahrhundert v. Chr.). 612 pollicem premere: ► p. 383. 613 Hier und im folgenden Anspielung auf Sen. Epist. 88, 37 quattuor milia librorum Didymus grammaticus scripsit: misererer si tam multa supervacua legisset. in his libris de patria Homeri quaeritur, in his de Aenea vera matre, in his libidinosior Anacreon an ebriosior vixerit. Da in § 40 ebenfalls Apion (► im folgenden) mit einer Homer-Anekdote aufscheint, könnte Schoock insgesamt einer neuzeitlichen (Zwischen)quelle folgen. 614 Libitina: Göttin des Leichenbegängnisses. 615 demorsos ungues rodere: nach Hor. Sat. 1, 10, 71 roderet unguis (vom Dichter gesagt). 616 Aeneas’ Mutter: die Göttin Venus. 617 Anakreon von Teos: griechischer lyrischer Dichter (6. Jahrhundert), galt als Sänger des Weins und der Liebe. 618 penulatis: ► p. 416. 619 Die Spielerei stammt von Apion (► folg. Anm.), die (der Schoock wohlbekannte) Plutarch berichtet (Quaestiones convivales 739a): τῆς Ἰλιάδος τὸν πρῶτον στίχον τῷ τῆς Ὀδυσσείας ἰσοσύλλαβον εἶναι καὶ πάλιν τῷ τελευταίῳ τὸν τελευταῖον, wozu Plutarch (zu Recht) bemerkt, das könne Zufall sein.
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des Grammatikers Didymos611 drücke.612 Der schrieb ja [434] 4000 Bücher,613 ist aber für armselig zu halten, weil er so viel Überflüssiges gesammelt hat. Denn wer gratulierte nicht der Libitina,614 daß sie dieses ganze Gerümpel weggeschafft hat! Wenn wir dessen Kern in die Scheuer des Geistes geführt hätten, müßten wir Hercules’ Mühewaltung bei der Reinigung des so großen Augias-Stalles mieten. Wen könnte es erfreuen, unter die Gelehrten gerechnet zu werden und die abgekauten Nägel zu benagen,615 damit er die wahre Mutter des Aeneas616 erkennt? Oder schlaflose Nächte zuzubringen, damit er sagen kann, ob Anakreon617 mehr lustvoll oder mehr trunken gelebt hat? In solchen Dingen jedoch war Didymos’ Fleiß beschäftigt; wer immer leugnet, daß dessen Leben langweilig gewesen ist, beweist, daß er nicht zu leben weiß. Aber nicht nur Didymos hatte diese Krankheit; viele andere von den einfachen Lehrmeistern618 haben an ihr laboriert, von denen schon einst einer glaubte, ein König zu sein, weil er beobachtet hatte, daß die ersten und letzten Verse der Ilias und der Odyssee aus der gleichen Silbenzahl bestehen.619 Damit ich nicht etwas über den Grammatiker Apion620 sage, der es gewagt hat, Homers Manen zu beunruhigen und seinen erhabenen Schatten621 aus dem gemeinsamen622 Ort hervorzurufen, nur damit er erfahre, zugunsten welcher von jenen sieben Städten, die über seine Heimat zu streiten pflegen,623 er urteilen müsse. Es wäre aber zu ertragen, wenn allein die Grammatiker so unsinnig handelten und als Teilhaber des Orbilianischen Stocks624 mit der Untersuchung der Irrfahrten des Ulixes beschäftigt wären, damit sie niemals ihre eigenen Irrungen erkennen. Selbst die, welche als Philosophen gelten wollen, sind meistens zum Lachen töricht und schätzen niemanden außer dem, der sehr pfiffige Fragen stellen [435] und eine in falscher Schlußfolgerung aus Wahrem entstehende Lüge festschnüren kann. Es beschämt zu sagen, daß in einer ernsten Sache viele Alte Possen treiben, die die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen und den Bart zu dem Zweck herunterfallen zu lassen scheinen, daß sie der Jugend gewisse todlangwei-
620 Apion: Alexandrinischer Grammatiker, Schüler des Didymos (Blütezeit 1. Hälfte 1. Jahrhundet n. Chr.), bekannt durch abenteuerliche Vorträge über Homer (Beiname: Ὁμηρικός), lehrte unter Tiberius und Claudius in Rom. Schoock bezieht sich hier auf die von Plin. Nat. 30, 18 mitgeteilte Anekdote. ► auch p. 459. 621 imago: = εἴδωλον. 622 communis locus, der allen gemeinsame Ort: = Hades. 623 In der Antike stritten sich sieben Städte um die Ehre, Homers Geburtsort zu sein. 624 Zu Orbilius ► p. 389, zu seinem sceptrum ► Hor. Epist. 2, 1, 70–71 plagosum […] Orbilium (Martial 10, 62, 10 nennt die Rute / den Stock der Lehrer ihr Zepter: ferulaeque tristes, sceptra paedagogorum). Suet. De poet. 9, 4 sagt, Orbilius sei naturae acerbae gewesen und verweist auf seine von Horaz genannte Rute. Schoock hat die sture Beschränktheit der Grammatiker / Lehrer im Auge (► o. S. 66–68).
190 B. Original und Übersetzung videntur, ut juventuti mortuaria quædam glossaria, tanquam quod maximi Pontificis carmen ad ohe usque occinant. Non possum AA. quin vobis Patavinum illum Archiepiscopum, quem familiarem habuit Lælius Bisciola ex horis succissivis, quas orbi literato dedicavit, notissimus, ob oculos ponam, ut ex eo reliquos, qui cum illo paria facere solent, æstimare incipiatis. Cum homine hoc canitie jam 5 venerando, nec in literis sacris per omnia peregrino, si quis de divina sapientia sermones conferre vellet, ipsemet frontem obducere, supercilium attollere, indicijsque manifestis tam importuni interpellatoris orationem adversari: at si quispiam cum eodem de modalibus, de conversionibus, de mistionibus, de minimo, de proportionibus & gradibus actionis, passionis, reactionis, repassionis, communicare in 10 animum induceret, animi nebulas expellere, frontem explicare, exultare, triumphare gaudio. Noctes atque dies senecio hic, idemque Archiepiscopus, assiduus erat in explicanda ratione modalium: (credo ut ambrosia hac præ omnibus asinis, qui ad eam non admittuntur, saginaretur) scribebat de eo argumento, mox iterum stylum vertebat, atque cum omnibus, quos noverat in Aristotelis doctrina peregri- 15 nos non esse, conferebat: nec unquam tamen induci poterat, ut sibi [436] satisfaceret: instituit adhoc de caussa atque origine risus tractationem, in qua quod præ alijs, qui idem argumentum tractarant, se quid invenisse crederet, non superbire 7–8 1649 jndiciisque. 1650 judiciisque. Corr. indiciisque. | 15 1649 Austotelis. 1650 Aristoteles.
625 Gell. Noct. Att. 18, 7, 3. 626 ad ohe usque: umgangssprachlich (Plaut. As. 384; Aul. 55; Hor. Sat. 1, 5, 12), ► auch p. 405. 627 Laelius Bisciola: Lelio Bisciola, italienischer Jesuit aus Modena (ca. 1545–1629), veröffentlichte vielgelesene Horae subsecivae, Band I: Ingolstadt 1611, Band II: Köln 1618. 628 Das Folgende nach einer Partie im dritten Buch, Kap. 1 (zitiert nach der Ausgabe Læli Bisciolæ […] Horarvm svbsecivarum Tomus Primus, Ingolstadii 1611, Sp. 158): Noui ego Patavij, cum Theologiæ operam darem, florentissimæ in Italia vrbis Archiepiscopum, ætate iam provecta, doctum hominem, ingeniosum, acutum, grauem, qui cum si de Theologia, deque diuina sapientia, sermonem velles conferre, frontem obducere, supercilium attollere, manifestis indiciis auersari huiusmodi orationem vidisses; at si cum eo quidpiam de modalibus, de conuersionibus, de mistionibus, de maximo, de minimo, de proportionibus, & gradibus actionis, passionis, reactionis, repassionis, communicare in animum induceres, exhilarare vultum, exultare, triumphare gaudio. Noctes, & dies Senex hic, & grauis Archiepiscopus totus erat in explicanda ratione modalium, scribebat de eo argumento, rescribebat, cum hoc atque illo conferebat, huius explicationem reprehendebat, illius commendabat, nec sibi vnquam satisfaciebat, & in eo tamen conquiescebat, si quid aliis videretur sibi inuenisse probabilius, quod mox etiam mutabat: instituit item de caussa, atque origine risus tractationem, in qua quoniam aliorum omnium veterum, ac recentium Philosophorum confutans opiniones sibi visus erat rem ipsam, quasi acu, tetigisse, ita sibi placebat, vt magnum Turcarum Imperatorem dicere posses eum ad Christi fidem, religionemque adiunxisse. Bei Bisciola geht es in dem Kapitel um die Frage, ob man wenig oder viel philosophieren solle (Paucisne philosophandum an multis), und er kommt zu dem Ergebnis: multis Philosophandum libentius assentirer, & quidem toto vitæ spatio, si Philosophia ad benè, beatèque vivendum vteremur. Die Beschäftigung mit der Philo-
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lige Glossare625 gleichsam wie einen Gesang des Papstes bis zum ‚halt!‘626 vorkrächzen. Ich kann nicht umhin, ihr Hörer, daß ich euch nicht jenen Erzbischof aus Padua – den als Vertrauten Lelio Bisciola627 hatte, der von den Horae subsecivae her, die er der wissenschaftlichen Welt gewidmet hat, sehr bekannt ist – vor Augen führe, damit ihr von ihm her die anderen, die Gleiches wie er zu tun pflegen, zu würdigen beginnt.628 Wenn jemand mit diesem Menschen, der schon verehrungswürdige weiße Haare hatte und in den Heiligen Schriften in jeder Hinsicht bewandert war, Gespräche über die göttliche Weisheit führen wollte, verdunkelte er von selbst die Stirn, zog die Augenbraue in die Höhe und bedrängte mit klaren Handzeichen die Rede des so unverschämten Störenfrieds: Wenn aber jemand mit demselben über Modalitäten, über Verwandlungen, über Vermischungen, über das Kleinste, über Proportionen und die Stufen der Handlung, des Erleidens, der Reaktion, des Wiedererleidens629 sich gemeinschaftlich zu beraten beabsichtigte,630 vertrieb er die Nebel seines Geistes,631 glättete die Stirn, jauchzte und triumphierte vor Freude. Nächte und Tage zeigte sich dieser Greis und zugleich Erzbischof fleißig in der Erklärung der Beschaffenheit der Modalitäten632 (ich glaube, daß er sich durch diese Ambrosia633 vor allen Eseln, die zu ihr keinen Zugang haben, nährte). Er schrieb über diesen (bestimmten) Stoff; bald wiederum wendete er die Darstellung und konferierte mit allen, von denen er wußte, daß sie in der Lehre des Aristoteles bewandert waren. Doch niemals konnte er die Überzeugung gewinnen, daß er sich [436] Genüge täte. Außerdem stellte er eine Untersuchung über den Grund und den Urspung des Lachens an, bei der er, weil er vor anderen, die denselben Inhalt untersucht hatten, etwas gefunden zu haben glaubte, nicht nur
sophie habe hinter der Beschäftigung mit dem Christentum zurückzustehen. Hi Christiani, & Sacerdotes vituperandi, horum damnanda Philosophia, quibus Aphrodiseus est Petrus: Auerrois est Paulus: Aristoteles Christus: Plato non diuinus, sed Deus. Für diese ist der Erzbischof aus Padua ein Beispiel. Schoock geht es im Gegensatz dazu um das Problem, daß Philosophen sich nicht in Quisquilien verlieren sollen. Die Geschichte wird großenteils eng nach Bisciola erzählt, weicht am Schluß jedoch in Einzelheiten ab, so daß eine Zwischenquelle nicht auszuschließen ist. 629 actio, passio, reactio, repassio: Begriffe aus der philosophischen Diskussion der Zeit, ► Micraelius 1653, Sp. 28: „Actio mutua est, qua agens repatitur propter contactum corporeum, & dicitur reactio & repassio.“ 630 „Es geht bei fast allen diesen Begriffen um logische bzw. naturphilosophische Veränderungen von Zuständen, bei deren Nennung der alte Herr angeregt wurde, ins Nachdenken kam und so wieder auflebte“ (Bernhard Knorn). Es sind jedenfalls keine speziell theologischen Begriffe. Zu modalis ► im folgenden. 631 D. h., er gab seine Reserviertheit, seinen Unwillen auf. 632 modalis: Begriff aus der spätantiken philosophischen Literatur; gemeint ist das Verhältnis zwischen zwei Dingen. Kirschius 1774, Sp. 1796 gibt eine spezielle Erklärung: ‚zum Modo oder der Art und Weise, wie das Subiectum mit dem Praedicato übereinkommt, gehörig.‘ 633 Bildlich: Ambrosia war in der griechischen Mythologie die Speise der Götter.
192 B. Original und Übersetzung tantum super Flavium, qui Fastos primus vulgavit; sed, haud aliter sibi gratulari, ac si Ottomannicum Imperatorem, aut Magnum Tartarorum Chamum, Ecclesiæ, à qua Præsulatum consequutus erat, lucratus fuisset. Quis homini huic, Anticyrarum dictatura dignissimo, concesserit Philosophiæ ansas, quas jure merito sectatoribus suis tam diligenter commendabat Xenocrates! Excusari tamen ex parte infulatus hic dominus potest, quod in ijs solum, quæ literas spectabant, ineptum sese exhibuerit. Quos pallium atque barba supra tunicatorum sortem tantum sublevare videntur, quantum ipsi eminere cupiunt, sæpe non solum ineptiunt, sed adeo sunt ridiculi, ut illi, qui ex uno atque altero de tota eruditorum natione judicare solent, serio existiment, omnes qui literis incubuerunt, ex Menenia gente originem ducere. Vellem alius quid, quod cum ratione prætexi possit, excogitet; nam quomodo Polystratum Atheniensem Philosophum, ac magni Theophrasti discipulum excusem, lubens ignorare me fateor. Is neque a vino, neque à Mania superatus, cum Philosophicis meditationibus profundissime immersus videretur, cultum tibicinarum induit, dicturusque ad populum in concionem descendit, Æqualis ei Cynulcus Persæus è por[437]ticu sapiens, sobrius pugilatu de tibicina dimicavit, quam inter scyphos Baccho sc. Stoica dictata in memoriam revocante, in eodem secum subsellio sedentem rejecerat. Ne Diogenem, & tot alios, non minus ex annalium memoria, quam præsenti quoque seculo per agrestes atque Manduco alicui aptos mores notiores in vulgus, quam per eruditionem, ad partes advocem. Sed submoveamus popellum, an non fatendum cum ratione eruditis multis fasces negari, quod ut plu-
634 Flavius: Gnaeus Flavius, Schreiber des berühmten Appius Claudius Caecus, wurde 304 als erster Freigelassener der römischen Geschichte kurulischer Ädil, veröffentlichte einen Kalender (Fasti), der die Gerichtstage und der anderen Tage enthielt. Die besondere Leistung rühmt Cicero hoch: Pro Mur. 25. 635 Chamus: Khan, d. h. Befehlshaber, Anführer, Herrscher. 636 Antikyra war bekannt wegen der Produktion der Nieswurz (elleborus), eines Heilmittels besonders gegen Wahnsinn. Es gab zwei Städte dieses Namens, in Malis und am Golf von Korinth, die mit Nieswurz in Verbindung gebracht wurden. Schoock gebraucht den Plural Anticyrae hier und p. 465. Er könnte sich auf diese Städte beziehen. Horaz spricht sogar von tribus Anticyris (Ars 300), was aber auf drei Portionen Nieswurz gedeutet wird (► Brink 1971, S. 332–333). 637 Gemeint: Grundbegriffe. 638 Xenocrates: Xenokrates von Chalkedon, griechischer Philosoph, Schüler Platons (396 / 395– 314 / 313), 28 Jahre Schulhaupt der Akademie, legte Platon aus und kommentierte ihn, die Philosophie gliederte er systematisch in die Teilbereiche Logik, Physik und Ethik (► Michael Erler. In: HGL. Bd. 2 (2014), S. 350), ► Diog. Laert. 4, 6–15. 639 Das pallium galt in Rom als für griechische Philosophen typisch, ► p. 437. 640 Der lange Bart galt als für Philosophen typisch, ► p. 380. 641 Anspielung auf Hor. Sat. 2, 3, 287 fecunda in gente Meneni; wie „Horaz dazu kommt, die Verrückten als die Nachkommen eines Menenius zu bezeichnen, haben schon die alten Erklärer ebensowenig gewußt wie wir“ (Kießling, Heinze 1921, S. 259).
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stolzer war als Flavius,634 der die Fasti als erster bekannt gemacht hat, sondern sich nicht anders beglückwünschte, als wenn er den türkischen Kaiser oder den großen Khan635 der Tartaren für die Kirche, von der er das Vorsteheramt erhalten hatte, gewonnen hätte. Wer würde diesem der Diktatur über Städte wie Antikyra636 besonders würdigen Menschen die Anhaltspunkte637 zur Philosophie zugestehen, welche mit Fug und Recht Xenokrates638 so sorgfältig seinen Schülern zu empfehlen pflegte! Dennoch kann dieser geweihte Herr teilweise entschuldigt werden, weil er sich allein in dem, was die Wissenschaft betraf, töricht gezeigt hat. Diejenigen, die der griechische Mantel639 und der Bart640 über das Los der Träger der (gewöhnlichen) römischen Tunica soviel zu erhöhen scheinen, wie sie selbst herauszuragen wünschen, sind oft nicht nur töricht, sondern so lächerlich, daß diejenigen, die von dem einen oder anderen her über das ganze Geschlecht der Gelehrten zu urteilen pflegen, ernsthaft glauben, alle, die sich auf die Wissenschaft geworfen haben, stammten von der Gens Menenia ab.641 Ich wollte, ein anderer ersönne etwas, das mit Grund zur Entschuldigung (schützend) vorgewendet werden könnte;642 denn wie ich Polystrat,643 den athenischen Philosophen und Schüler des großen Theophrast, entschuldigen kann, weiß ich nicht, wie ich gern bekenne. Als dieser, weder von Wein noch von Raserei übermannt, ganz tief in philosophischen Überlegungen versunken schien, zog er die Kleidung von Flötenspielerinnen an und stieg in die Versammlung hinab, um zum Volk zu sprechen. Sein Altersgenosse, der kluge Cynulcus Persaeus aus der Stoa, [437] rang nüchtern im Faustkampf um eine mit ihm auf derselben Bank sitzende Flötenspielerin, die er, als ihm Bacchus unter Bechern die natürlich stoischen Vorschriften widerrief, hatte zurücksinken lassen. Nicht will ich Diogenes und so viele andere zu Zeugen rufen – nicht weniger aus der Überlieferung der Geschichtsbücher als auch aus dem gegenwärtigen Zeitalter –, die beim Volk aufgrund von bäurischen und zu einem Manducus644 passenden Sitten bekannter sind als aufgrund von Gelehrsamkeit. Aber laßt uns das einfache Volk645 beiseitelassen. Ist nicht zuzugeben, daß mit Recht vielen Gelehrten hohe Ämter verwehrt werden, weil sie meistens mit den
642 praetexere: ‚etwas zur Entschuldigung vorwenden‘ (Kirsch 1774, Sp. 2252). 643 Die beiden folgenden Anekdoten wurden öfter erzählt, in umgekehrter Reihenfolge und variierter Form etwa bei Athenaios Deipnosoph. 13, 607d–f. Dort wird berichtet, daß der Athener Polystratos, ein Schüler Theophrasts mit dem Beinamen ‚der Etrusker‘, oft die Gewänder von Flötenspielerinnen anlegte, ferner daß ein Philosoph, wahrscheinlich, wie es heißt, der Stoiker Persaios von Kition, bei einem Symposion in einen Streit um eine Flötenspielerin geriet. Daß Persaios bei Schoock den Beinamen Cynulcus hat, beruht auf einer Verwechslung, da Kynulkos einer der Teilnehmer / Erzähler in Athenaios’ Deipnosophistai ist. Es könnte eine Zwischenquelle vorliegen. 644 Manducus: Figur der römischen Atellanenkomödie, etwa ‚Freßsack‘. 645 popellus: Hor. Epist. 1, 7, 65. ► p. 377.
194 B. Original und Übersetzung rimum ea cum ignarissimis ignorent, quæ in hac vita tamen quotidie occurrunt, & per solam assuefactionem expeditissime ab ipsis calonum filijs expediuntur? Enimvero, quam pauci ex ijs, qui in literas penitissime se abdiderunt, commodi convivæ sunt; plerique illorum, quando dapsiliter quoque excipiuntur, aut tristi silentio, aut molestis quæstiunculis, Lubentiæ, magistroque convivij, qui ad leges eorum supercilium exigere non sustinet, ruborem incutiunt. Eosdem ad chorum vocato, omnes qui eum ducunt, ad novum miraculum attoniti obstupescent, tacitique ex semet quærent, an non portentorum promptuarium Plinius camelos duobus insistentes pedibus saltasse alicubi annotaverit? Ad publicos ludos trahe, ipso vultu populi voluptatibus obnunciabunt, Catoque tertius in theatrum venisse videbitur, ut exeat. In colloquium si inciderint, de publicis negotijs, non minus omnibus risum debebunt, atque improvidus ille Palliatus, cum [438] coram Annibale Duce ad unguem facto, disserere auderet de officio exercitus ductoris. In summa, si quid emendum, si quid contrahendum, aut si quid agendum eorum, sine quibus vita hæc quotidiana transigi non potest, eruditos non homines, sed stipites dicas. Quid? an patiemur ergo fulminibus his prosterni literas? Absit. ut tum eruditio existimationem suam tueatur, tum à sibilis immunes sint, qui eidem operantur, ante omnia summovere eos ab eruditorum subsellijs convenit, qui ad ingenuas disciplinas errorem mentis afferunt, minusque provide circa spinas solum, securi rosarum, quæ in summitate hærent, occupantur. Insania hæc quorundam est, quam literis imputare fas non est. In ipsis sellularijs artibus laboriosa & inepta quædam occurrit subtilitas. An non paratam homini vestem Deus atque
646 calonum filij: ► p. 387. 647 Lubentia: Plaut. As. 278. 648 supercilium (‚Augenbraue‘), metonym. ‚finsterer Ernst‘. 649 Plinius berichtet nicht von tanzenden Kamelen, wohl aber Nat. 8, 4 von tanzenden Elephanten. Jedoch erzählt Äsop in der Fabel Πίθηκος καὶ κάμηλος ὀρχούμενοι (‚Der Affe und das Kamel beim Tanz‘), wie ein Kamel einen tanzenden Affen imitieren will, sich auf die Hinterbeine stellt und sich lächerlich macht. Schoocks Scherzfrage ist der Gipfel des Verspottens der schon vorher stark ironisch charakterisierten Kollegen (Kamele!). 650 Cato tertius: eine Prägung Juvenals (2, 40) für jemanden, der so streng urteilt wie einst Cato Censorius (234–149) und später dessen Urenkel Cato Uticensis (95–46), die gewissermaßen ein geistiges Gespann der Strenge sind. Ein ‚dritter‘ = ‚neuer‘ Cato ist gebildet, wie wir sagen ‚ein zweiter Luther‘ / ‚ein zweiter Bismarck‘. Cato Uticensus fungiert als Beispiel für überhebliche Strenge auch p. 419. 651 palliatus: ‚mit dem pallium, dem (weiten) Mantel der Griechen bedeckt‘ = ‚Grieche‘ (öfter von Philosophen gebraucht, etwa Erasmus Stult. cap. 52 (1979, S. 461). ► auch p. 436. 652 ad unguem factum: ► p. 378. 653 Schoock bezieht sich auf eine von Catulus in Ciceros Schrift De oratore 2, 75–76 erzählte Geschichte: Als der punische Feldherr Hannibal nach der Vertreibung aus Karthago nach Ephesos
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Unwissendsten das nicht wissen, was in diesem Leben doch täglich begegnet und allein durch die Gewöhnung sogar von der Sippe646 der Knechte ohne jede Schwierigkeit ausgeführt wird? In der Tat, wie wenige von denen, die sich ganz tief in die Wissenschaft zurückgezogen haben, sind angenehme Zechgenossen; die meisten von ihnen jagen, auch dann wenn sie üppig aufgenommen werden, entweder durch trübes Schweigen oder durch lästige Fragen der Göttin der Festesfreude647 und dem Symposiarchen, der es nicht über sich bringt, bei ihren Gewohnheiten den finsteren Ernst648 zu vertreiben, Röte ins Gesicht. Ruf ebendiese zu einem Reigen: Alle die ihn (auf)führen, werden über das neue Wunder verblüfft staunen und sich schweigend fragen, ob nicht Plinius, der Speicher der Wundererscheinungen, an einer Stelle angemerkt hat, daß Kamele, mit zwei Füßen auftretend, getanzt hätten?649 Zu öffentlichen Spielen schleppe sie: Sie werden allein durch ihre Miene den Vergnügungen des Volkes Ungünstiges verkünden, und der dritte650 Cato wird in das Theater gekommen zu sein scheinen, um (wieder) hinauszugehen. Wenn sie in ein Gespräch über öffentliche Angelegenheiten geraten sind, werden sie allen nicht weniger Lachen verursachen denn jener unvorsichtige Grieche,651 als [438] (d)er vor Hannibal, dem idealen652 Führer, über die Pflicht des Heerführers zu diskutieren wagte.653 Kurz und gut, wenn etwas zu kaufen, wenn etwas vertraglich abzuschließen oder von den Dingen, ohne die dieses tägliche Leben nicht geführt werden kann, zu tun ist, magst du Gelehrte nicht Menschen, sondern Klötze654 nennen. Was bedeutet das? Werden wir also etwa dulden, daß durch diese Blitze655 die Wissenschaften niedergeworfen werden? Das sei fern! Damit einerseits die Gelehrsamkeit ihren Ruf schützt, andererseits diejenigen vom Ausgezischtwerden frei sind, die ihr obliegen, ist es vor allem angebracht, diejenigen vom Kreis der Gelehrten656 fernzuhalten, welche zu den edlen Disziplinen Irren des Verstandes mit sich bringen und sich, weniger weise, nur mit den Dornen beschäftigen, unbekümmert um die Rosen, die in der Höhe hängen. Das ist das unsinnige Betragen einiger, welches der Wissenschaft anzurechnen nicht Recht ist. Selbst bei den sitzenden Gewerben657 begegnet eine gewissermaßen mühevolle und törichte Spitzfindigkeit. Oder haben Gott und Natur nicht gewollt, daß vom
kam, hörte er einen Vortrag des peripatetischen Philosophen Phormion über die Feldherrnpflicht und das ganze Kriegswesen (de imperatoris officio et de omni re militari). Als man Hannibal nach seinem Urteil fragte, habe er geantwortet, er habe noch niemanden gehört, der mehr irres Zeug geredet habe (deliraret) (Hinweis von Dennis Pausch). 654 stipes: Sprichwörtlich bei Terenz, Cicero, Petron und in der Spätantike, „von einem unbeweglichen oder stumpfsinnigen Menschen“ (Otto 1890, S. 332). 655 fulmina: bildl., etwa ‚verheerende Einschläge‘ / ‚durchdringende Einwirkungen‘ (Cicero, Livius, Ovid). 656 eruditorum subsellia: ► p. 378. 657 sellulariae artes: ► p. 429.
196 B. Original und Übersetzung natura voluerunt de pellibus, aut lana animalium? quam multa tamen vestiendi genera invenit otium & luxuries? Multi infelices se existimant, & haut utiles seculo, si per menses non multos easdem in veste rugas & fimbrias circumferre debeant. Vno anno vix elaboratur toga, cujus materiam opus longissime superat. Ne quid de Gallico acumine in vestiaria arte dicam? legum illud sic est impatiens, ut malit in omnium nationum formam transformari corpus, quod moderatur, quam uno amictu perpetuo circumscriptum illud esse. Vt ulterius progrediar, ipsi purpurati, quique aulas sectantur, quantum non [439] temporis cæremonijs addiscendis, titulisque impendunt? Rident quidem Socratem nubibus immorantem, & ad pulicum saltus sublime ingenium dimittentem; cum ipsi tamen honoris titulique ineptias, cum imperiorum sæpe excidio multorumque millium strage, ad modulum pedis pediculi exigant; & magnum crimen, morteque piandum existiment, si quis circa tam exiguæ mensuræ minutias liberalis in concedendo esse præsumat. Omni in re nimium, omni in vita supervacuum est. Ephippia, freni, trullæ, matulæ curioso sumptu gravantur: atque eo jam malum increvit, ut necessaria illa videantur, & egere se, miserosque esse putent, quibus desunt in istas ineptias impensæ. Quemadmodum igitur in omnes omnium rerum, actionumque artes, ab hominum sive stultitia sive imprudentia supervacua inducuntur, ita quoque ex eadem causa artes liberales vexantur. Quanquam, si recte calculum collocemus, non inutile per omnia esse deprehendetur, si pauci quidam in quolibet studij genere modum excesserint. Etenim qui milium per foramen acus trajicit, certo ictu destinatum hostem feriet: qui totam Iliada nuci includere potuit, facile occultis literarum notis per
658 Diese Thematik erinnert an die negative Einstellung der Jesuiten gegenüber jedem Luxus, besonders auch gegenüber dem (ausländischen) Kleiderluxus – ein Thema, das bei Jakob Balde aufklingt (► Lefèvre 2017, S. 29–30). 659 ‚Mode‘ leitet sich von modus / moderari her. 660 Es ist gemeint, daß die Franzosen eher akzeptieren, daß die Körper der Menschen aller Nationen gleich seien als deren Kleider! 661 Anspielung auf die berühmte Sokrates-Parodie des führenden Dichters der Alten Komödie Aristophanes in den 423 aufgeführten Nephelai (‚Wolken‘) 143–153. 662 pes: römisches Längenmaß; Wortspiel pes / pediculus, wobei eine Pointe darin liegt, daß pediculus sowohl ‚Laus‘ (mit langem e) als auch ‚Füßchen‘ (mit kurzem e) bedeutet. Das SokratesBild wird weitergeführt. Der Sinn: Die purpurati halten Völkermord für eine Kleinigkeit. 663 D. h., wie ein Freier bei dem Handeln der Herrscher moralische Kriterien einzufordern (liberalis: ‚einem freigeborenen Menschen geziemend‘ = ‚edel, von edler Art oder Gesinnung‘) . 664 artes: ‚Art und Weisen‘, korrespondiert mit den im folgenden genannten artes liberales. 665 Das Bild milium per foramen acus trajicere ist wie das biblische camelum per foramen transire gebildet. Es geht auf Galen zurück, woran in der Neuzeit Erasmus, Adagia 4, 7, 38 erinnert: Κέγχρον τρυπᾶν. id est Milium perforare dicuntur, qui in re difficili, sed prorsus inutili laborant. Galenus libro De præscientia, taxans sophistas, qui putant philosophiæ studium vehementer inutile,
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Menschen die Kleidung aus Fellen oder Tierwolle gemacht sei? Wie viele Arten des Kleidens hat jedoch die Muße und das Luxusstreben erfunden?658 Viele halten sich für unglücklich und nicht für dieses Jahrhundert tauglich, wenn sie wenige Monate hindurch dieselben Falten und Fransen bei der Kleidung herumtragen müssen. In einem (ganzen) Jahr wird mit Mühe ein Obergewand hergestellt, bei dem der Arbeitsaufwand den (Wert des) Stoff(es) weitestgehend übertrifft. Ja in der Tat, was soll ich über die französische Pikanterie in der Kleiderkunst sagen? Sie vermag dermaßen Vorschriften nicht zu ertragen, daß sie lieber will, daß der Körper, der modisch ausgestattet wird,659 in die Norm aller Nationen umgeformt wird, als daß er von einem allgemeingültigen Obergewand eingeschränkt ist.660 Damit ich weiter fortschreite: Die Purpurträger selbst und die, die am Hof zum Gefolge gehören – wieviel [439] Zeit wenden die nicht auf, um die Zeremonien und die Titel zu lernen? Zwar verlachen sie den sich auf Wolken aufhaltenden und den Geist zu den Sprüngen der Flöhe in der Höhe hinsendenden Sokrates,661 während sie doch selbst Torheiten, die Ehre und Titel betreffen, oft mit der Zerstörung von Reichen und dem Hinsinken vieler Tausender nach dem Maß des Fußes einer kleinen Laus662 begehen und glauben, es sei mit dem Tod zu sühnen, wenn einer sich herausnimmt, bei Kleinigkeiten so geringen Ausmaßes in dem, was er (den purpurati) zugesteht, von edler Gesinnung zu sein.663 In jeder Angelegenheit gibt es ein Zuviel, in jedem Leben Unnötiges. Sättel, Zügel, Kellen, Töpfe werden durch einen mit großer Sorgfalt betriebenen Aufwand belastet: Und schon dadurch ist das Übel angewachsen, daß diese Dinge notwendig erscheinen und diejenigen, denen die Kosten zu eben diesen Spielereien fehlen, glauben, daß sie Mangel leiden und im Elend sind. Wie also in alle Arten664 aller Sachen und Handlungen sei es von der Torheit, sei es vom Unverstand der Menschen Überflüssiges hineingebracht wird, so werden aus demselben Grund auch die Freien Künste geschädigt. Gleichwohl, wenn wir richtig kalkulieren, wird sich ergeben, daß es im ganzen nicht ohne Nutzen ist, wenn einige wenige in jeder beliebigen Art des wissenschaftlichen Strebens das Maß überschritten haben. Und in der Tat, wer ein Hirsekorn durch die Öse einer Nadel bringt,665 wird mit sicherem Stoß den zum Ziel genommenen Feind treffen; wer die ganze Ilias in eine Nuß einzuschließen vermocht hat,666 wird leicht mit verborgenen Erkennungszeichen der Wissen-
sic loquitur, Ἀλλ᾿ ἁπάντων μαθημάτων ἀχρήστατον τοῦτο νενομήκασιν, ὁμοίως τῷ κέγχρον τρυπᾶν […] (zitiert nach der Ausgabe 1559, Sp. 1120–1121). 666 nuci includere: die ganze Ilias in einer Nußschale zusammenbringen, sie also beherrschen, als wenn sie etwas Kleines wäre. Die Redensart geht auf Plin. Nat. 7, 85 zurück, wo ein auf Pergament geschriebenes Exemplar der Ilias Homers genannt wird, das in einer Nuß eingeschlossen ist (in nuce inclusam Iliadem Homeri carmen in membrana scriptum). Zu diesem Bild in der Neuzeit ► Röhrich 1991, S. 1105: „Lessing: ‚Der Leser erwartet etwas ganz anderes, als die Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß‘.“
198 B. Original und Übersetzung infestas hostium stationes obsessis succurret: in fune quisquis ambulare scit, per mœnia & pinnas hostium securus incedet. Qui nimius historicorum arcanorum est scrutator, ut plurimum multis, quæ in tenebris lati[440]tant, lucem fœneratur. Qui morosus est Grammaticus, grassantem barbariem sistere potest: laqueosque insidiantium detegere, qui minutijs Philosophicis impalluit. Nec tamen omnes, qui literis sese immerserunt, crepundia hæc tractabunt: in paucis duntaxat, ijs scil. qui cum Didimo altius surgere non possunt, toleranda lallans hæc eruditio. Quicunque serio, nec dicis solum gratia studia tractant, non ea sectantur, quæ ad curiositatem atque subtilitatem, sed, illa solum, quæ ad vitam & mores pertinent. Fida antiquitas nobilissimi Phidiæ artificiosum ingenium numquam dissertationibus de arte statuaria, sed stupenda illa Minerva, reliquisque operibus ad unguem factis censuit: similiter qui doctus esse magis quam haberi desiderat, prudentia, modestia, vitaque composita solummodo se approbare laborat; disputationumque & subtilitatum inania ijs relinquit, quibus volupe est paria facere cum avicula Homerica, quæ suum defraudando ventrem, implumibus pullis escam ori ingerebat. Coqui, quos sero admodum Romana resp. intra mœnia admisit, tum etiam quando non ederunt, nidore dapium & condimentorum, quæ concinnant, satiantur. idem contingit omnibus literarum sublestis institoribus; styli, dentati atque aculeati plerumque, negotium diligentius, quam conscientiæ officium curant. Aliud vero sidus temperat omnes eos, qui eruditionis atque sapientiæ pretium norunt. hi di[441]ctata sapientiæ sæpe retractant, atque ad semetipsos referunt, omniaque sua consilia atque affectus tam diu ad hanc normam exigunt, quam ad eandem aut componantur, aut refingantur. Oves, quas Epictetus probat, non gramen aut fœnum opilionibus afferunt, ostendentes quantum comederint; sed ijs concoctis, lac atque
667 Gemeint: Er wird damit weitere Erkenntnisse gewinnen / ermöglichen (► Ter. Phorm. 493 faeneratum beneficium und die von Dziatzko, Hauler 1913, S. 146 genannten Parallelen). 668 impalluit: exquisite Anspielung auf Pers. 5, 62 at te nocturnis iuvat impallescere chartis. 669 ► p. 433. 670 Gemeint ist die nicht erhaltene Statue der Athena Parthenos im Parthenon auf der Akropolis in Athen, die der berühmteste griechische Bildhauer, Phidias, in den dreißiger Jahren des 5. Jahrhunderts schuf. 671 ad unguem factis: ► p. 378. 672 Anspielung auf das Gleichnis Homer Il. 9, 323–324, das mißverstanden bzw. umgedeutet ist. Während die Vogelmutter bei Homer sich in anerkennenswerter Weise vernachlässigt und um die Speise der Jungen kümmert, haben die hier Kritisierten vor allem die Wirkung nach außen im Auge. Das anschließende Gleichnis hat dieselbe Struktur: Die Köche zielen vor allem auf die Demonstration ihrer Kunst, durch die sie Ansehen gewinnen. 673 literarum institor: wie Quint. Inst. 8, 3, 12; 11, 1, 50 institor eloquentiae (Rahn 1988: ‚ein Händler mit Beredsamkeit‘).
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schaften durch die bedrohlichen Wachen der Feinde den Belagerten zu Hilfe eilen; wer immer auf dem Seil zu gehen weiß, wird sicher über Mauern und Zinnen der Feinde hinschreiten. Wer ein sehr großer Erforscher historischer Geheimnisse ist, verleiht meistens vielen Dingen, die im Dunkeln [440] verborgen sind, auf Zinsen667 Licht. Wer ein strenger Grammatiker ist, kann grassierende Barbarei aufhalten; und es kann Schlingen der im Hinterhalt Liegenden aufdecken, wer über philosophischen Kleinigkeiten bleich geworden ist.668 Doch nicht alle, die sich in die Wissenschaft versenkt haben, werden diese Spielereien betreiben; bei wenigen nur, natürlich denen, die sich mit Didymos669 nicht höher erheben können, ist diese lallende (schwatzende) Gelehrsamkeit erträglich. Alle diejenigen, die ernsthaft – und nicht sagst du: nur um Einfluß zu gewinnen – Studien betreiben, gehen nicht solchen nach, welche sich auf Neugierde und Spitzfindigkeit, sondern allein solchen, welche sich auf das Leben und die Sitten beziehen. Die Vertrauen verdienende Antike schätzte die künstlerische Begabung des so vorzüglichen Phidias sicherlich nicht aufgrund von Untersuchungen über Statuenkunst, sondern (direkt) aufgrund jener bewundernswerten Athene670 und anderer sehr ausgefeilter671 Werke: In gleicher Weise müht sich, wer mehr gelehrt zu sein als gelehrt zu gelten wünscht, daß er sich ganz allein durch Klugheit, Bescheidenheit und ein wohlgeordnetes Leben erweist; und er überläßt das Hohle der Disputationen und Spitzfindigkeiten denjenigen, denen es Vergnügen bereitet, dasselbe wie das homerische Vögelchen672 zu tun, das seinen Bauch zu beeinträchtigen und den ungefiederten Jungen Speise in den Schnabel einzuführen pflegte. Die Köche, die der römische Staat sehr spät in seine Mauern eingelassen hat, werden auch dann, wenn sie nicht gegessen haben, durch den Duft der Speisen und Gewürze, die sie anrichten, gesättigt. Dasselbe trifft auf alle schwachen Wissenschaftskrämer673 zu: Das Geschäft des Schreibens, meistens des stechenden und beißenden, lassen sie sich emsiger angelegen sein als die Pflicht des Gewissens. Ein anderes Gestirn aber leitet alle diejenigen, welche den Wert der Gelehrsamkeit und der Weisheit kennen. Diese [441] arbeiten die Lehrsätze der Weisheit oft erneut durch und beziehen sie auf sich selbst und wägen alle ihre Pläne und Bestrebungen so lange nach dieser Richtschnur, wie sie sich nach derselben ordnen oder umbilden. Die Schafe, die Epiktet674 empfiehlt, bringen den Schafhirten nicht Gras oder Heu, um zu zeigen, wieviel sie gefressen haben, sondern, wenn das verdaut ist, Milch und 674 Epictetus: Epiktet aus Hierapolis in Phrygien, ehem. Sklave, stoischer Philosoph (2. Hälfte 1. Jahrhundert n. Chr.), Verfasser des im Abendland berühmt gewordenen Handbüchleins (Ἐγχειρίδιον), das knapp formulierte Diatriben bietet. Die 46. enthält das von Schoock zitierte Gleichnis, daß man nicht sofort über (philosophische) Dinge reden soll, die man noch nicht hinreichend durchdacht hat. „Denn auch die Schafe zeigen den Hirten nicht dadurch, daß sie ihnen das Futter zurückbringen, wieviel sie gefressen haben, sondern sie verdauen inwendig ihre Nahrung und liefern dann nach außen Wolle und Milch“ (Übers. Steinmann 1992, S. 69).
200 B. Original und Übersetzung lanam: similes ijs eruditi, pro quibus solis hic loquimur: nunquam illi cruda præceptorum scientia superbiunt, sed, existimantes sese in theatro quo ostentari, omnes ad nomen citare audent, ut existiment quam bene decreta disciplinæ, cui litant, digesserint, quoque successu mores atque actiones suas ad ea reformarint. Quid refert vero si hi parum scite convivium exornent, aut rustici in circulis & semicirculis habeantur: ut omnia animo pararunt; sic eum ad omnia in numerato habent, ijsque expediundis sufficiunt, quæ ne aggredi quidem sustinent, qui omnes præ se contemnunt, quod vitijs suis animum atque corpus in solidum consecrarint. Quicquid alijs quoque videatur, aut illi, qui sic se suosque mores ad Philosophiam composuerunt, cum laude quæcunque reip. onera, Æthna licet monte graviora, sustinere possunt, aut præter eos mortales nulli. Ex hoc ordine erat Xenophon, cujus decem illa militum millia, nunquam laudatissimus Princeps Trajanus admiratus fuisset, nisi ipse multos per annos à Socratis ore pependisset, atque in illius schola didicisset, [442] quomodo venter, qui alias verbis satiari renuit, concinna oratione expugnari queat. Pericles Græciæ fulmen ac Anaxagoræ discipulus, per annos quadraginta eloquentia populum, fortitudine militem, utrumque singulari prudentia gubernavit. Dione vix meliorem virum, vix sapientiorem principem terra Græcia agnoscit; at omnia illa ornamenta Platoni se debere ipse ingenue sæpius professus est. Major eruditione & nomine suo Timotheus dux, ab Isocratis disciplina exiens Græcorum collapsas res restauravit. Architas Tarentinus Philolaum, Xenophon Agesilaum erudiit. Quid quod Athenienses, de maximis rebus
15 1649 Anaxagoræ. 1650 Anaxagore.
675 Schoock führt im Anschuß an Epiktets Gleichnis aus, daß die Gelehrten nicht nur andere belehren, sondern auch sich selbst nach den eigenen Lehren ausrichten und ‚verbessern‘. 676 in circulis & semicirculis: ► p. 385. 677 Vergleiche, die von der Last des Ätna sprechen, gehen auf ein berühmtes Chorlied in Euripides’ Herakles zurück: ἁ νεότας μοι φίλον· ἄχθος δὲ τὸ γῆρας αἰεὶ βαρύτερον Αἴτνας σκοπέλων ἐπὶ κρατὶ κεῖται (‚Die Jugend ist mir lieb; denn das Alter liegt mir immer schwerer als die Felsen des Ätna auf dem Haupt‘, 637–640). 678 Xenophon: ► p. 396. 679 Pointierte Umdrehung des Sprichworts plenus venter non studet libenter. 680 Perikles: ► p. 410. 681 Anaxagoras: ► p. 388. 682 Dion von Syrakus (409–354), griechischer Politiker in einflußreicher Stellung unter Dionysios I. sowie Dionysios II, den er stürzte, seit Platons erstem Besuch in Sizilien [388] dessen Bewunderer. Die enge Bindung an den athenischen Philosophen konnte Schoock Plutarchs Dion-Vita entnehmen. 683 Platon: ► p. 381. 684 Timotheus: Timotheos, erfolgreicher athenischer Feldherr (στρατηγός) und Politiker († 354), Schüler des Isokrates. eruditione & nomine: eruditio bezieht sich auf die von Isokrates empfangene
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Wolle. Diesen ähnlich sind die Gelehrten, für die allein wir hier sprechen: Niemals überheben sie sich aufgrund unverdauten Verstehens ihrer Lehren, sondern wagen – in der Annahme, sie würden auf einem Schauplatz präsentiert – alle namentlich aufzurufen, daß sie beurteilen, wie gut sie (die Gelehrten) die Gebote der Lehre, der sie Opfer bringen, ausgeführt und mit welchem Erfolg sie ihre Sitten und Taten nach ihnen verbessert haben.675 Was liegt aber daran, wenn diese ein Gastmahl nicht geschickt genug anordnen oder in Kreisen und Halbkreisen676 für Bauern gehalten werden. Wie sie alles im Geist eingerichtet haben, so haben sie ihn zu allem in Bereitschaft und sind in der Lage, das auszuführen, was nicht einmal anzupacken diejenigen auf sich nehmen, die alle im Vergleich zu sich verachten, weil sie Geist und Körper vollständig ihren Lastern geweiht haben. Was immer auch andere meinen mögen: Es können entweder die, welche sich und ihre Sitten auf diese Weise nach der Philosophie ausgerichtet haben, mit Lob beliebige Lasten des Staates – mögen sie schwerer als der Berg Ätna sein677 – auf sich nehmen oder außer ihnen keine Sterblichen. Von dieser Art war Xenophon,678 dessen zehntausend Soldaten der hochgerühmte Kaiser Trajan niemals bewundert hätte, wenn er (Xenophon) nicht selbst durch viele Jahre hindurch an Sokrates’ Mund gehangen und in dessen Schule gelernt hätte, [442] auf welche Weise der Bauch, der es sonst ablehnt, von Worten gesättigt zu werden,679 von einer wohlgefügten Rede gewonnen werden kann. Perikles,680 der Blitz Griechenlands und Anaxagoras’681 Schüler, regierte durch vierzig Jahre hindurch mit seiner Rednergabe das Volk, mit seiner Tapferkeit den Soldaten, mit seiner einzigartigen Klugheit beide. Griechenland kennt kaum einen besseren Mann, kaum einen weiseren Ersten als Dion:682 Aber daß er alle jene Vorzüge Platon683 verdanke, hat er selbst öfter aufrichtig bekannt. Bedeutender aufgrund seiner Bildung und seines Namens, hat der Feldherr Timotheos,684 von Isokrates’685 Unterweisung ausgehend, den zusammengebrochenen Staat der Griechen wiederhergestellt. Archytas von Tarent686 hat Philolaos,687 Xenophon688 Agesilaos689 unterrichtet. Was soll man
Bildung, nomen auf die Abstammung von dem bedeutenden Vater, dem Feldherrn und Politiker Konon (Stratege im Peloponnesischen Krieg). Nepos beginnt seine Timotheus-Vita mit folgendem Satz: Timotheus, Cononis filius, Atheniensis. hic a patre acceptam gloriam multis auxit virtutibus. Dieser Passus dürfte (über Zwischenstationen) bis zu Schoock nachwirken. 685 Isocrates: ► p. 381. 686 Architas Tarentinus: Archytas von Tarent, griechischer Philosoph (Pythagoreer), Musiktheoretiker, siebenmal Stratege Tarents (4. Jahrhundert). 687 Philolaus: Philolaos aus Kroton, griechischer Pythagoreer (5. Jahrhundert). Das Verhältnis von Archytas und Philolaos ist umgekehrt, als von Schoock dargestellt: Philolaos war der Gebende, Archytas der Nehmende. 688 Xenophon: ► p. 396. 689 Agesilaus: Agesilaos II., spartanischer König (444 / 443–360 / 359).
202 B. Original und Übersetzung consulturos, tres Philosophos in Areopago alias invisos Romam miserunt, Carneadem, Critolaum, & Diogenem. Literæ expectorare fortitudinem vulgo creduntur, Martijsque studiis & consiliis obesse plurimum: Mavortia tamen fuit Zenonis schola; & Lucullus legendo factus est Imperator, tantumque Mithridatis vires attrivit, ut vincendum aliis tradiderit. Ipse Tullius triumphum ambivit, prudentius- 5 que de bello Civili, quam Magnus Pompejus judicavit. Quicquid aliqui ex penulatis magistris censeant, ego nec Virgilium, nec Horatium imbelles fuisse arbitror. Ennium etiam fortem virum. Stesichorus, & Archilochus bello etiam nobiles fuere, quamvis posterior clypeum potius relinquere, quam vitam decreverit. Non abducunt à rebus gerendis literæ, si cum prudentia copu[443]lentur. In ijs & acta & 10 agenda discuntur. Quis inter Romanos rigido illo Stoico (de Catone majori loquor) doctior? Nemo tamen apud popolum fortior, nemo melior senator, idem facile optimus Imperator extitit. Scipionem Africanum Polybij summi tum Philosophi, tum Historici consuetudine summopere delectatum fuisse, nec solum consiliorum suorum participem, sed etiam in rebus gerendis socium habuisse, memoriæ proditum 15 est. Quid Magno Alexandro majus, si bellica gloria spectetur, fingi aut cogitari potest? Hic tamen eo ipso tempore, quo armis exercituque, omnem prope Asiam tenebat, regemque ipsum Darium prælijs & victorijs urgebat; in illis inquam tantis
690 Der sog. Philosophengesandtschaft, die die Athener 155 v. Chr. nach Rom schickten, gehörten der Skeptische Akademiker Karneades von Kyrene, der Peripatetiker Kritolaos von Phaselis und der Stoiker Diogenes von Babylon an. 691 Zeno: ► p. 428. 692 Lucullus: ► p. 392. 693 legendo: Schoock, dem es auf philosophische Bildung ankommt, könnte Ciceros Charakteristik des Lucullus im Gedächtnis haben, nach der er in wunderbarer / erstaunlicher Weise durch die Lektüre von Büchern über die Dinge erfreut wurde, über die er den Philosophen Antiochos von Askalon hatte sprechen hören (delectabatur autem m i r i fi c e l e c t i o n e librorum de quibus audierat, Luc. 4). Schoock hat aber sicher Luc. 2 vor Augen (Hinweis von Eckart Olshausen), wo es (allerdings mit Bezug auf Kriegsberichte) heißt: cum totum iter et navigationem consumpsisset partim in percontando a peritis partim i n r e b u s g e s t i s l e g e n d i s , i n A s i a m f a c t u s i m p e r a t o r v e n i t , cum esset Roma profectus rei militaris rudis. 694 Nach dem Ende seiner Statthalterschaft in Kilikien (50) strebte Cicero (► p. 382) einen Triumph in Rom an, erhielt jedoch nur ein Dankfest (supplicatio). 695 Gnaeus Pompeius Magnus, konservativer römischer Politiker und Feldherr (106–48), unterlag 48 gegen Caesar bei Pharsalos in Thessalien. 696 penulatis: ► p. 416. 697 Wie bei den folgenden Dichtern ist die Argumentation (sicher bewußt) locker. Bei Horaz könnte man an die Schlacht von Philippi 42 v. Chr. denken, bei der er als tribunus militum dabei
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dazu sagen, daß die Athener drei Philosophen, die auf dem Areopag sonst verhaßt waren, nach Rom schickten, um über die bedeutendsten Dinge Rat zu erteilen, Karneades, Kritolaos und Diogenes?690 Man glaubt allgemein, daß die Wissenschaft die Tapferkeit aus der Brust reißt und kriegerischen Bestrebungen und Beratungen sehr viel schadet: Zenons Schule691 war jedoch kriegerisch; und Lucullus692 wurde lesend693 zum Feldherrn und rieb so sehr Mithridates’ Kräfte auf, daß er ihn anderen überließ, besiegt zu werden. Selbst Tullius begehrte einen Triumph694 und urteilte überlegter über den Bürgerkrieg als Pompeius Magnus.695 Was immer einige einfache696 Lehrmeister meinen, ich glaube, daß weder Vergil noch Horaz unkriegerisch waren.697 Daß Ennius sogar ein tapferer Mann gewesen ist.698 Stesichoros699 und Archilochos700 waren auch im Krieg vortrefflich, obwohl der letzte sich entschloß, lieber den Schild als das Leben zurückzulassen. Die Wissenschaft führt nicht vom Vollbringen von Taten ab, wenn sie mit Klugheit verbunden [443] wird. In ihr werden Taten und Planung von Taten gelernt. Wer unter den Römern war gelehrter als jener rigide Stoiker (über den älteren Cato spreche ich)?701 Dennoch trat niemand beim Volk energischer auf, niemand als besserer Senator, zugleich ohne weiteres als trefflichster Feldherr. Daß Scipio Africanus vom Umgang mit Polybios,702 der damals einerseits als Philosoph, andererseits als Historiker hochbedeutend war, im höchsten Maß erfreut gewesen sei und ihn nicht nur als Teilhaber seiner Pläne, sondern auch als Teilnehmer bei der Ausführung seiner Taten gehabt habe, ist überliefert. Was kann, wenn auf den Kriegsruhm geblickt wird, Größeres als Alexander der Große vorgestellt oder gedacht werden? Der sandte doch gerade in der Zeit, in der er mit Waffen und Heer fast ganz Asien besetzt hielt und selbst König Dareios mit Schlachten und Siegen in Bedrängnis
war. Bei Vergil wird wohl aus den Kampfszenen der Aeneis auf eine ‚kämpferische‘ Natur geschlossen. Denn bei den Landenteignungen, die im Jahr 42 auch seine Familie trafen, hat er sich kaum kämpferisch hervorgetan. 698 Ennius: ► p. 404. Er begleitete 189 v. Chr. den Konsul Fulvius Nobilior auf dem Feldzug gegen Ambrakia in Epirus. 699 Stesichorus: Stesichoros, frühgriechischer Chorlyriker aus Sizilien (7. / 6. Jahrhundert), behandelte vorwiegend epische Stoffe in chorischen Liedern; Quintilian charakterisierte ihn als epici carminis onera lyra sustinentem (Inst. 10, 1, 62). Bei ihm konnte somit wie bei Vergil auf eine ‚kämpferische‘ Natur geschlossen werden. 700 Archilochus: Archilochos, frügriechischer Lyriker (7. Jahrhundert). Schoock bezieht sich auf zwei berühmte Fragmente, in denen er bezeugt, er sei Diener des Kriegsgottes Ares (1 D.), und er habe in einem Kampf seinen Schild zurückgelassen (6 D.) – das letzte ein Motiv, das Horaz aufgenommen hat (Carm. 2, 7). 701 Cato: ► p. 383. 702 Polybius: Polybios von Megalopolis (ca. 200–120), griechischer Historiker, Politiker und Militär, Hauptwerk Historiai (Geschichte Roms von 264–146), 149–146 im Stab des Scipio Aemilianus Africanus (185–129), des Siegers über Karthago im Dritten Punischen Krieg.
204 B. Original und Übersetzung negotijs, literas ad Aristotelem misit, non eum recte fecisse, quod disciplinas Acroamaticas, quibus ab eo ipse eruditus foret, libris foras editis invulgaset. nam qua, inquit, alia re præstare cæteris poterimus, si ea quæ ex te accepimus, omnium prorsus fient communia? Quippe ego doctrina anteire malim, quam copijs atque opulentijs. Hæc sunt ejus ad Aristotelem verba, quæ quanto Philosophiæ amore teneretur, quamque ambitiose illi operam daret, satis superque declarant. Eundem regem adeo poëmatis Homericis delectatum fuisse legimus, ut illis invigilare non contentus, ijsdem indormire etiam vellet, ideoque illa pulvinari suo supponi juberet. Et quoniam iterum in Poëtarum mentionem incidimus, quam multi ex illis uno eodemque [444] tempore Musarum Martisque cultores fuerint reputemus. Alcæus, quod modulandi carminis studiosissimus, atque adeo peritissimus fuit, eone rei militaris minus studiosus atque peritus fuit? Imo quosdam civitatis suæ perturbatores, quos armis vix alius potuisset, sola carminum suorum vehementia fugavisse fertur: ita in eos bellicosa sua ac Martia plane Musa tonabat, ut fulmen proximum esse putantes, fugam arriperent. Tyrtæum porro & elegorum & carminum heroicorum Scriptorem, quis non merito heroëm fortitudinis ergo nominet? Imo vero, quis non magis etiam augusto nomine, si ullum similem reperire possit, donandum censeat? Nonne enim veteres illos heroas, qui præconem nacti fuerunt Homerum; Achillem, Ajacem, Hectorem longe superat, quicunque non ipse fortissime solum dimicat, sed ad eandem fortitudinem sociorum animos carmine suo incendit & inflammat? At Tyrtæum varij uno consensu historici prodiderunt, utraque harum virtutum adeo excelluisse, ut quum Lacedæmoniorum exercitui contra Messenios præesset, milites, jam alioqui ter fusos, cum suo exemplo, tum etiam oratione inflammans, victores reddiderit. Vnde etiam mos hic apud Lacedæmonios postea invaluisse legitur, ut antequam cum hoste congrederentur, ejus carminibus aures omnium personarent. A Poëtis ad Principes viros ut redeamus, an non Se-
8 1649 / 1650 illos. Lef. illa.
703 Dieses Faktum ist samt dem Briefzitat nach Plutarch erzählt (Alexander-Vita 7). Dort findet sich ferner die (im folgenden erwähnte) Nachricht, daß Alexander Homer unter sein Kopfkissen zu legen pflegte (8) (► auch p. 386). 704 Zitat von Archilochos 1 D. (► weiter oben), in dem der Dichter bekennt, er sei Gefolgsmann des Ares, und das liebliche Geschenk der Musen sei ihm vertraut. 705 Alcaeus: Alkaios aus Mytilene auf Lesbos, frühgriechischer Lyriker (7. / 6. Jahrhundert), kämpfte mit seinen Liedern gegen die Tyrannenherrschaft in Mytilene. 706 Tyrtaeus: Tyrtaios, frühgriechischer Lyriker (7. Jahrhundert), dichtete Elegien und Kampflieder, soll die Spartaner im Krieg gegen die Messenier angeführt haben. ► im einzelnen Andreas Bagordo. In: HGL. Bd. 1 (2011), S. 160–163.
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brachte, bei diesen, sage ich, so großen Unternehmungen Briefe an Aristoteles,703 (d)er habe nicht recht getan, daß er die mündlich vorgetragenen Unterweisungen, in denen er selbst von ihm unterrichtet worden sei, durch Bücher, die für die Öffentlichkeit herausgegeben wurden, bekannt gemacht habe. „Denn“, sagte er, „durch welche andere Sache werden wir uns vor den anderen auszeichnen können, wenn das, was wir von dir empfangen haben, ganz und gar Allgemeingut wird? Ich möchte mich ja lieber durch wissenschaftliche Bildung hervortun als durch Vermögen und Macht.“ Das sind seine Worte an Aristoteles, die genug und übergenug zeigen, von welcher Liebe zur Philosophie er bestimmt wurde und wie anspruchsvoll er sich um sie bemühte. Wir lesen, daß derselbe König von den Homerischen Gedichten so sehr erfreut wurde, daß er, nicht zufrieden, über ihnen zu wachen, auf denselben sogar einschlafen wollte und daher anordnete, daß sie unter sein (Kopf)polster gelegt würden. Und da wir wiederum zur Erwähnung der Dichter gelangen, wollen wir überdenken, wie viele von ihnen zu ein und derselben [444] Zeit Verehrer der Musen und des Mars704 gewesen sind. War Alkaios,705 weil er dem Dichten sehr ergeben und in ihm sehr erfahren war, deshalb weniger dem Kriegswesen ergeben und in ihm erfahren? Im Gegenteil, er soll etliche Aufrührer seiner Stadt allein durch die Leidenschaftlichkeit seiner Gesänge in die Flucht geschlagen haben, wie es kaum ein anderer mit Waffen vermocht hätte: So pflegte gegen diese seine kriegerische und geradezu marserfüllte Muse zu ertönen, daß sie, im Glauben, ein Blitz sei ganz nahe, die Flucht ergriffen. Wer hieße ferner Tyrtaios,706 den Autor heroischer Elegien und Gedichte, wegen seiner Tapferkeit nicht mit Recht einen Helden? Nein vielmehr: Wer urteilte nicht, daß er nicht eher mit einem noch erhabeneren Namen, wenn er irgendeinen ähnlichen finden könnte, zu beschenken sei? Denn übertrifft nicht derjenige bei weitem jene alten Heroen – die Homer als Herold erlangt hatten, Achilles, Ajax, Hektor –, wer immer nicht nur selbst sehr tapfer kämpft, sondern auch die Herzen der Kampfgenossen mit seinem Lied zu derselben Tapferkeit entzündet und entflammt? Verschiedene Historiker haben doch mit einhelligem Urteil überliefert, daß Tyrtaios in diesen beiden Tugenden so sehr hervorgeragt habe, daß er, als er das Heer der Spartaner gegen die Messenier anführte, die Soldaten, die im übrigen schon dreimal geflohen waren, einerseits mit seinem Beispiel, andererseits mit seinem Vortrag entflammt und zu Siegern gemacht hat. Daher soll bei den Spartanern später sogar diese Sitte in Gebrauch gekommen sein, daß sie, ehe sie mit den Feinden in einem Kampf zusammentrafen, die Ohren aller von seinen Liedern widerhallen ließen. Damit wir von den Dichtern zu den Kaisern zurückkehren, sind nicht Severus,707
707 Severus: Septimius Severus (146–211), römischer Kaiser 193–211, über sein Verhältnis zur Literatur ► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 15–16 (mit Quellen).
206 B. Original und Übersetzung verus, Pertinax, & Antoninus literati [445] fuere? An non Tacito acclamatum est: Quis melius quam literatus imperat? & optime sane imperasset, nisi usitata militum perfidia eum submovisset, plurimorumque spem jugulasset. Gordianus orator & poëta fuit, idemque Misitheum virum doctissimum non tantum præfectum fecit, sed ejus item consilijs felicissime imperium administravit. At quo tandem abeo? volumina scribenda essent, si omnes illi, qui ex doctis aut recte reip. navim gubernarunt, aut utilem ei operam navarunt, ad nomen citari deberent. Quisquis literarum pretium novit, ijs non minus privatim, quam publice pro re nata omni loco atque tempore uti potest, exemploque suo confirmat illud, quod princeps ingenij & doctrinæ Plato dixit: Conjunctionem potestatis & sapientiæ saluti semper civitatibus fuisse. Nec quicquam ad rem facit, quod aureus hic sol in omnibus haud æque splendeat, & quidam eruditionis usum prostituerint, quia ad alia, quam ad quæ definita est, eam derivare instituerunt. Illud tamen non suadent exempla, quæ Rhodiginus, ut ad eum postliminio revertamur, in medium adduxit. quod pace enim Scriptoris omnibus alias numeris perfecti dictum sit, infirma per omnia sunt, quæ ipse attulit. Lustremus enim eos, quos tanti vir magnus putavit, ut ad submovendam Philosophiam, ostentare voluerit. Primos ordines ducit Ariston ex Epicuri familia. Sed quis dederit, omnes eos, qui Epicurum sectati fue[446]runt, pariter Philosophos fuisse? Primipilus hic definiendi, dividendi, ac disserendi ignarus, in Physicis puer, atque in moralibus improbus, omnia sui unius, caussa facere instituit. At quis hunc pro Philosopho, barbam & pallium si seponas, agnoscat? aut quis dignum qui imperet, eum existimet, qui privatum commodum bono
16 enim: ► S. 85.
708 Pertinax: Publius Helvius Pertinax (126–193), römischer Kaiser 193, über sein Verhältnis zur Literatur ► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 15 (mit Quellen). 709 Antoninus: Marcus Aurelius Antoninus (121–180), römischer Kaiser 161–180; von bedeutender Wirkung seine Selbstbetrachtungen (Τὰ εἰς ἑαυτόν), über sein Verhältnis zur Literatur ► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 12–13. 710 Tacitus: Caesar Marcus Claudius Tacitus, römischer Kaiser 275–276 (* ca. 200), wurde nach griechischen Quellen ermordet. Das Zitat: Flavius Vopiscus in der Historia Augusta, Tacitus-Vita 4, 4 (► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 20). 711 Gordianus: Marcus Antonius Gordianus III. (225–244, römischer Kaiser seit 238), über sein Verhältnis zur Literatur ► Schanz, Hosius. Bd. 3 (1922), S. 19 (dort auch zu Mesitheus). Schoocks Quelle ist die Vita der drei Gordiani in der Historia Augusta (Gordiani tres Iuli Capitolini 23–32). 712 Misitheus: Gaius Furius Sabinus Aquila Timesitheus (190–243), Prätorianerpräfekt unter Gordian III. Schoocks Quelle ist auch hier die Historia Augusta, die die Namensform Misitheus bietet. 713 Sinngemäße Anspielung auf die berühmten Ausführungen Politeia 473 c / d. 714 aureus sol: ► p. 377.
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Pertinax708 und Antoninus709 wissenschaftlich gebildet [445] gewesen? Ist etwa Tacitus710 nicht beifällig zugerufen worden: „Wer herrscht besser als ein wissenschaftlich Gebildeter?“ Und er hätte sicher sehr gut geherrscht, wenn ihn nicht die gewöhnliche Treulosigkeit der Soldaten aus dem Weg geräumt und die Hoffnung der meisten abgewürgt hätte. Gordian711 war Redner und Dichter und machte auch Misitheus,712 den hochgelehrten Mann, nicht nur zum Präfekten, sondern verwaltete ebenfalls nach seinen Ratschlägen sehr glücklich das Reich. Aber wohin schweife ich endlich ab? Bände wären zu schreiben, wenn alle diejenigen, die von den Gelehrten das Staatsschiff richtig gesteuert oder ihm nutzvolle Mühewaltung erwiesen haben, mit Namen zitiert werden müßten. Wer immer den Wert der Wissenschaften kennt, kann diese nicht weniger privat als öffentlich nach der Beschaffenheit der Umstände an jedem Ort und zu jeder Zeit nutzen; und durch sein Beispiel bekräftigt er das, was der Erste an Geist und Gelehrsamkeit, Platon, gesagt hat, „daß die Verbindung von Macht und Weisheit den Staaten immer zum Heil gewesen ist.“713 Nichts tut es zur Sache, daß diese goldene Sonne714 nicht in allen (Staaten) gleich leuchtet und einige die Anwendung der Unterweisung bloßgestellt haben, weil sie es unternahmen, sie zu anderen Dingen, als für die sie bestimmt wurde, abzuleiten. Das legen jedoch nicht die Beispiele nahe, die Rhodiginus – damit wir zu ihm nach langer Zeit715 zurückkehren716 – vorgebracht hat. Was nämlich mit Verlaub des sonst in jeder Hinsicht vollkommenen Autors gesagt sei: Die Beispiele, die er selbst angeführt hat, sind in jeder Beziehung schwach. Mustern wir denn die, welche der große Mann von solchem Gewicht glaubte, daß er wollte, sie wiesen darauf hin, daß die Philosophie (vom Staat) fernzuhalten sei. Die ersten Reihen717 führt Arist(i)on aus der Familie Epikurs an. Aber wer könnte zugeben, daß alle diejenigen, die Epikur gefolgt sind, [446] zugleich Philosophen waren? Dieser militärische Befehlshaber,718 des Definierens, Klassifizierens und Erörterns unkundig, in den Naturwissenschaften ein Knabe und in der Morallehre unbillig, machte es sich zur Aufgabe, alles nur seiner einen Person wegen zu unternehmen. Aber wer erkennte den als einen Philosophen, wenn du den Bart und den Mantel719 beiseiteläßt? Oder wer hielte ihn, der den persönlichen Vorteil dem öffentlichen Guten vorzieht, für würdig zu herrschen? Der zweite ist Kritias,
715 postliminio: ► p. 396. 716 ► p. 432–433. Aus dem Celio-Passus werden im folgenden nacheinander Ariston, Kritias, Pythagoras und – nach einem Exkurs über die Sieben Weisen – Athenion aufgenommen. Zu den genannten Personen sind die Erläuterungen zu dem Celio-Passus zu vergleichen. 717 primi ordines und im folgenden primipilus sowie p. 448 principia und triarius sind militärische Termini der Römer. Die Metaphorik wird durchgehalten. Der Triarier (Athenion) steht folgerichtig am Ende. 718 primipilus: höchster Centurio einer Legion, hier wohl leicht ironisch gebraucht. 719 Zu diesen Attributen ► p. 436.
208 B. Original und Übersetzung publico anteponit. Alter est Critias, Socratis quidem discipulus; sed propter quem, non minus atque Alcibiadem, barbatus magister, nullo tamen suo merito, male audivit. Quis ita verò cum ratione unquam insaniit, ut solem æstimare instituerit ex cadavere, quod male olere incipit, simulac tanti sideris illapsum excipit? quis Philosophiam quoque & illibatos Socratis mores æstimet ex quo Critia, & Alcibiade, qui ludum ejus frequentarunt, non ut rationi se regendos traderent, sed ut vim in dicendo ad decipiendum populum comparare sibi possent. Pythagoram dein quid magnopere accuset, nescire me fateor: nam auctoritate & suasione Crotoniatas à luxuria subactos, ad frugalitatem, justitiæque cultum revocavit. Deinde Metapontum migravit. Tyrannidem nullam, nisi contra vitia exercuit. Infamat postea septem Græciæ sapientes. At injuria? Quod Ciceroni ipsi accidit, Cælio contigisse credo, quo tanquam bonum virum eum absolvere possim. Memoria minus fidi custodis partes apud eum explevit; eoque septemviris illud imputavit, quod in unum cecidisse [447] probari nunquam poterit. Ad nomen enim si singulos citemus, quid in singulis notari debeat, non occurret. Sed quia illos, qui imperij habenas administrarunt, in animo habuisse videtur, eos, qui imperium exercuerunt, præ alijs lustratum ibimus. Solon sane, ut alijs eum in hoc examine præmittamus, crudelis non fuit; siquidem Draconis leges, sanguine scriptas mitigavit. Postea fugiens Pisistrati tyrannidem, quam frustra in herba opprimere studuerat, Ægyptum, & deinde Cyprum adiit; donec tandem in Cilicia novus Atheniensium pater novam remp. conderet. Periander, qui præ alijs forte videri posset deliquisse, Corinthi tyrannum exercuit, sed suadente metu; neque enim integrum illi fuit, regiam potestatem, à patre Cypselo sibi jure hæreditario relictam, destituere. Missus
14 1649 nunquam. 1650 nunqum.
720 ► Xen. Mem. 1, 2. 721 Alcibiades: Alkibiades, hochbegabter athenischer Politiker ambivalenten Charakters (ca. 450–404). Mit Kritias (► p. 432) wurde er 415 der Teilnahme am (religiösen) Hermokopidenfrevel beschuldigt. 722 barbatus magister als Charakteristik für die bärtigen philosophischen Lehrmeister bei Pers. 4, 1 (► Kißel 1990, S. 502–503) und Iuv. 14, 12. Hier von Sokrates gesagt. ► auch p. 380 und 436 und weiter oben. 723 Pythagoras wurde zeitweise zu den Sieben Weisen gezählt. 724 Zu Cicero und Pythagoras ► Riedweg 2002, bes. S. 162. 725 custos: ‚Aufseher‘, ‚Wächter‘, sc. der von ihm gegründeten Stadt Kroton (► p. 432). 726 septemviri: römisches Collegium von sieben Personen für verschiedenartige Aufgaben, hier und p. 448 von den Sieben Weisen gesagt. 727 Es folgen entsprechend mehrere ‚Sieben Weise‘: Solon, Periander, Pittakos von Mytilene, Bias, die Schoock von dem Vorwurf einer Tyrannenherrschaft freispricht. Mit Athenion kehrt er zu Celio zurück.
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zwar Sokrates’ Schüler, aber seinetwegen720 und nicht weniger wegen Alkibiades721 stand der bärtige Lehrmeister722 (Sokrates) – doch ohne sein Verschulden – in einem schlechten Ruf. Wer wäre wirklich jemals mit Verstand so wahnsinnig, daß er die Sonne aufgrund einer Leiche einzuschätzen unternommen hat, die schlimm zu stinken anfängt, sobald sie das Einfallen des so großen Gestirns empfängt? Wer könnte auch die Philosophie und die untadeligen Sitten des Sokrates nach einem Kritias und Alkibiades beurteilen, die seine Schule besuchten – nicht damit sie sich der Vernunft übergaben, um von ihr gelenkt zu werden, sondern damit sie sich im Reden die Fähigkeit zur Täuschung des Volkes erwerben konnten? Was sodann Pythagoras nachdrücklich anklagt, das weiß ich, wie ich bekenne, nicht: Denn mit seiner Autorität und seinem Rat rief er die vom Luxus unterjochten Einwohner Krotons zur Mäßigkeit und zur Pflege der Gerechtigkeit zurück. Sodann wanderte er nach Metapont. Keine Tyrannis, wenn nicht gegen die Laster, übte er aus. In der Folge verdächtigt er (Celio) Griechenlands Sieben Weise.723 Aber doch zu Unrecht? Was selbst Cicero passierte,724 ist, glaube ich, Celio passiert, wovon ich ihn (Pythagoras) als einen anständigen Mann freizusprechen vermöchte. In seiner Erinnerung hat er den Part eines weniger guten Aufsehers725 bei ihm (Celio) ausgefüllt; und deshalb hat er den Siebenmännern726 das angerechnet, was (auch) nur auf einen zugetroffen zu sein [447] niemals wahrscheinlich gemacht werden kann. Denn wenn wir die einzelnen mit Namen nennen wollen, wird nicht(s) begegnen, was bei den einzelnen getadelt werden muß. Aber weil er jene, die die Zügel des Reiches verwalteten, im Sinn gehabt zu haben scheint, werden wir diejenigen, die Herrschaft ausgeübt haben, vor anderen mustern.727 Solon728 war gewiß – damit wir ihn den anderen in dieser Prüfung voranstellen – nicht grausam; denn er milderte die mit Blut geschriebenen Gesetze Drakons729 ab. Später entfloh er Peisistratos’ Tyrannis, die er, als sie reifte,730 vergebens zu unterdrücken sich bemüht hatte, und ging nach Ägypten und sodann nach Zypern – bis er schließlich in Kilikien als neuer Vater der Athener einen neuen Staat gründete. Periander,731 der vor anderen vielleicht gefehlt zu haben scheinen könnte, übte in Korinth eine Tyrannenherrschaft aus, aber mit der Furcht als Ratgeber; denn nicht stand es in seiner Macht, die ihm vom Vater Kypselos durch Erbrecht hinterlassene Königs-
728 Solon: Athenischer Staatsmann und Dichter (ca. 640 geb.), nach dem älteren Drakon zweiter bedeutender Gesetzgeber Athens. Das folgende ist nach Diog. Laert. 1, 49–51 erzählt, auch die Gründung von Soloi in Kilikien (historisch unzutreffend). 729 Draco: Drakon, athenischer Gesetzgeber, der 621 / 620 die ersten schriftlichen Gesetze erlassen haben soll; viele galten als sprichwörtlich hart (‚drakonisch‘). 730 Etwa ab 561; in herba wörtlich: ‚als sie auf dem Halm stand‘. 731 Periander: Periandros, Sohn des Tyrannen Kypselos, war seit etwa 628 Tyrann von Korinth, Gesetzgeber, einer der Sieben Weisen.
210 B. Original und Übersetzung quidem erat in tyrannidis possessionem, ejusque exercitio ut gnaviter incumberet, sine missione amici instabant: ipse tamen urbem, collapsam totam adornavit, bella assiduo gessit, quadraginta annos regnum tenuit, & quemadmodum Octavius Augustus, multis seculis post observavit, delassata crudelitate clementiæ locum dedit. Videri posset peccasse circa consilium, quod Thrasybulo dedit, eminentiores 5 aristas excutiendo; nisi salutare illud fuisse Aristoteles ipse testaretur. Reliqui ex hoc imperantium grege si lustrandi sint, occurrit Pittacus Mitylenæus, qui remp. patriam vitæ modestia, & doctrina administra[448]vit, nulla tyrannidis suspicione relicta. Nec Bias quoque contra Prienem patriam suam aliud deliquit, quam quod, ea capta fugiens dixerit, (modo hoc peccatum censeri possit!) Omnia mea mecum 10 porto. Sed Athenio forte, qui unus post septemviros, frustra sollicitatos, Cælio superest, oberit sapientiae, atque doctrinæ? At quis quantum deliquerit dicat? quia in obscuro caussa est, ob quam bellum suscepit, vitio quoque ei verti non debet, quod ergastulis armatis, servisque ad pileum vocatis, Drepanum occupaverit. Vltimus verò hic triarius est, post principia à viro docto collocatus. Redimus ergo 15 ad scamma, à quo propter Cælium recessimus; atque per injuriam, levesque suspiciones eruditis fasces, à malè feriatis quibusdam adimi, claret ex ijs, quae hactenus disseruimus.
7 occurrit] 1649 keine Interpunktion. 1650 Punkt. | 18 1649 / 1650 disservimus. Lef. disseruimus.
732 Aristoteles berichtet im dritten Buch der Politik (1284a 26–36), Periander habe dem Boten des Tyrannen von Milet, Thrasybulos, der bezüglich der Tyrannis um Rat gefragt habe, nichts geantwortet, sondern ein Getreidefeld durch Abhauen der hervorstehenden Ähren ausgeglichen. Thrasybulos habe begriffen, daß er die hervor ragenden Männer beseitigen solle (das Bild auch p. 452, ► dort). Aristoteles fährt fort, dies nütze nicht nur den Tyrannen, das täten auch Oligarchien und Demokratien. (Schoock stützt sich auf Aristoteles; Herodot 5, 92 berichtet umgekehrt, Thrasybulos habe Periander diesen Rat gegeben.)
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herrschaft niederzulegen. Er war ja unstreitig in den Besitz der Tyrannis gestoßen worden; und daß er deren Ausübung geflissentlich obliege, drängten die Freunde ohne Aufhören: Er selbst richtete jedoch die ganz zusammengebrochene Stadt (wieder) her, führte laufend Krieg, hatte vierzig Jahre die Herrschaft inne und gab, worauf viele Jahrhunderte später Octavius Augustus, nachdem seine Grausamkeit nachgelassen hatte, geachtet hat, der Milde Raum. Er könnte bezüglich des Rates, den er Thrasybulos gab,732 gefehlt zu haben scheinen, indem er die allzusehr vorstehenden Grannen ausriß, wenn nicht Aristoteles selbst bezeugte, daß das heilsam gewesen sei. Wenn die anderen aus dieser Schar der Herrschenden zu mustern sind, begegnet Pittakos von Mytilene,733 der den Staat, sein Vaterland, mit Bescheidenheit der Lebensführung und mit Gelehrsamkeit verwaltet hat – [448] wobei kein Verdacht auf eine Tyrannis zurückblieb. Auch Bias734 hat in nichts anderem gegen seine Vaterstadt Priene gefehlt, als daß er, nach deren Eroberung fliehend, sagte (wenn das nur als Verfehlung eingeschätzt werden könnte!): „Alles Meinige trage ich mit mir.“ Aber wird vielleicht Athenion,735 der als einziger nach den vergebens angegriffenen Siebenmännern für Celio übrig ist, gegen die Weisheit und Gelehrsamkeit sprechen? Aber wer könnte sagen, wieviel er gefehlt hat? Weil der Grund, weswegen er den Krieg unternahm, im Dunkeln liegt, darf ihm auch nicht als Fehler angerechnet werden, daß er die Sträflinge bewaffnete, die Sklaven zur Filzkappe rief736 und Drepanum737 belagerte. Der ist aber der letzte Triarier, der nach den vorderen Reihen738 von dem gelehrten Mann (Celio) aufgestellt worden ist. Wir kehren also zum Kampfplatz zurück, von dem wir wegen Celio abgewichen sind; und daß den Gelehrten zu Unrecht und durch unhaltbare Verdächtigungen von gewissen sich mit unnützen Dingen abgebenden Leuten739 hohe Ehrenstellen genommen (vorenthalten) werden, erhellt aus dem, was wir bis hierher erörtert haben.
733 Pittacus: Pittakos, Staatsmann in Mytilene auf Lesbos (7. / 6. Jahrhundert v. Chr.), von Alkaios als Tyrann dargestellt, entsagte nach zehn Jahren freiwillig der Herrschaft (Diog. Laert. 4, 75). 734 Bias: ► p. 387. 735 Athenio: Athenion aus Kilikien, selbst Sklave, organisierte den zweiten sizilischen Sklavenaufstand (104–100). 736 Filzkappe: Zeichen der Freilassung. 737 Drepanum: Stadt an der Westspitze Siziliens. 738 Die Triarier, die ältesten und erfahrensten Soldaten, bildeten bei den Römern das dritte = letzte Glied und griffen ein, wenn die vorderen Reihen (principia) schwankten. Zu den militärischen Termini ► p. 446. 739 à male feriatis: Eine seltene horazische Wendung: male feriatos | Troas, von den Troern, die zur Unzeit müßig gehen = feiern, gesagt (Carm. 4, 6, 14–15), ► auch p. 491. Kirschius 1774, Sp. 1184 zu feriatus: ‚wer sich durch allzu grosse Musse selbst schadet, und wer sich mit lauter unnützen Dingen abgiebt‘ (unter Berufung auf Horaz). Die Herrschenden entscheiden über die Karrieren der Gelehrten in Feiertagslaune, d. h. unsachgerecht.
212 B. Original und Übersetzung [mors] Vtinam pariter digiti complicari possent, nihilque superesset, ex eruditorum miseria! Integer verò malorum Acheruns trajiciendus adhuc, ut omnia incommoda colligantur. Omissis reliquis, ad ipsam mortem propero: quam licet sapiens miseriæ terminum, libertatisque, ad quam tota vita contendit, initium esse norit, nec unquam præproperam, quia semper eam exspectavit, immaturam tamen posteritati, ingeniique fœtibus, quos ei consecravit, sæpe sub ipsam decretoriam horam suspirat: siquidem ante esse desinit, quam discere incipiat; cum multos adhuc annos docendi partes sibi promiserit, plurimique exspectarint. Licet autem [449] non invitus moriatur, mortem tamen differri vellet, ob ea, in quibus post morteın se victurum certò arbitratur. Si enim decrepiti senes paucorum annorum accessionem votis mendicant, sibique mendacio blandiuntur, minores natu seipsos fingentes; cur non paucos annos eruditus, idemque sapiens, sibi adjici postulet, ut talem fuisse, illis qui post eum victuri sunt, constet; ejusque labore viam ad eruditionem ac sapientiam expeditam inveniant, qui duce indigent, ut ad eam perveniant? At quam caduca plerumque pia hæc vota! Eruditorum soboles, quasi ab eodem sidere cum solstitiali herba regeretur, venisse in magnum hoc orbis theatrum videtur, ut abeat. Græcos vates ne hoc tempore sollicitem, compendium perfectæ poësios Maro, ante vitæ quam Æneidos suæ fabulam explevit, eamque, oblitus reliquorum Numinum, quæ in divino carmine passim invocare solet, uni Vulcano, cum jam tibicines vocati essent, consecrasset: nisi Varius ac Tucca intercessissent, quibus duumviris quanquam tantum Musarum depositum debemus; desiderio tamen Poëtæ non satisfecerunt, supplendo versus, quos ipse usque ad ulteriorem limam imperfectos reliquerat. Cultissimus ille in Elegia Tibullus, ad plures oppido adoles-
740 decretoria hora: die Sterbestunde. 741 soboles: ► p. 419. 742 solstitialis herba: eine Pflanze, die während des Sommersolstitium kurz blüht (Plin. Nat. 26, 26). Das Bild geht wohl auf Plaut. Pseud. 38–39 zurück, wo der Liebhaber Calidorus, der kurz Hoffnung geschöpft hat, sagt: quasi solstitialis herba paulisper fui. | repente exortus sum, repentino occidi. Genauso kurz, sagt Schoock, steht das Geschlecht der eruditi in Blüte. 743 Vulcanus: Hephaistos, Gott des Feuers. 744 Die pompa beim Begräbnis wurde in Rom von Flötenspielern begleitet (► p. 462), hier bildlich. 745 Entgegen Vergils Wunsch, daß die unvollendete Aeneis vernichtet werde, gaben, wie die
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[Tod] Daß doch zugleich die Finger gefaltet werden könnten und nichts übrig wäre vom Elend der Gelehrten! Ein ganzer Acheron von Übeln ist aber noch zu durchqueren, damit alle Nachteile zusammengestellt werden. Unter Auslasssung der übrigen Dinge eile ich direkt zum Tod: Obwohl der Weise weiß, daß der das Ende des Elends und der Anfang der Freiheit, zu der er im ganzen Leben strebt, und niemals zu frühzeitig ist, weil er ihn immer erwartet hat, beseufzt er ihn doch oft gerade in der entscheidenden Stunde740 als zu früh für die Nachwelt und die Früchte seines Geistes, die er ihr geweiht hat; denn er hört eher auf zu sein, als er es zu lernen beginnt, da er sich noch viele Jahre das Amt des Lehrens versprach und die meisten das erwartet haben. Mag er aber auch [449] nicht wider Willen sterben, wollte er doch, daß der Tod wegen der Dinge aufgeschoben werde, in denen er, wie er sicher glaubte, nach dem Tod (weiter)leben werde. Wenn nämlich abgelebte Greise in Gebeten um Zuwachs weniger Jahre betteln und sich mit einer Lüge schmeicheln, indem sie sich selbst jünger vorstellen, warum sollte nicht der Gelehrte und zugleich Weise begehren, daß ihm wenige Jahre zugelegt werden, damit für die, die nach ihm leben werden, feststeht, er sei ein solcher (Gelehrter und Weiser) gewesen, und damit diejenigen den Weg zur Gelehrsamkeit und Weisheit durch seine Arbeit bereitet vorfinden, welche eines Führers bedürfen, damit sie auf ihn gelangen? Aber wie hinfällig sind meistens diese frommen Wünsche! Das Geschlecht741 der Gelehrten scheint, als ob es von demselben Gestirn wie die zum Sommersolstitium gehörenden Pflanze742 gelenkt würde, in dieses große Welttheater gekommen zu sein, auf daß es (wieder) fortgeht. Damit ich die griechischen Dichter jetzt nicht bemühe – das Kompendium der vollkommenen Poesie, Maro, vollendete das Schauspiel seines Lebens vor dem der Aeneis und hätte diese – der anderen Gottheiten, die er in dem göttlichen Gedicht allenthalben anzurufen pflegt, vergessend – einzig dem Vulcanus,743 als schon die Flötenspieler gerufen worden waren,744 geweiht, wenn nicht Varius und Tucca745 eingeschritten wären, das Zweigespann,746 dem wir das freilich so große Gut747 der Musen verdanken; bei alledem leisteten sie dem Wunsch des Dichters nicht Genüge und ergänzten Verse, die er selbst bis auf die allerletzte Feile unvollendet zurückgelassen hatte. Jener Gepflegteste in der Elegie, Tibull,748 ging noch ganz als Sueton-Vita berichtet, die Freunde Lucius Varius Rufus und Plotius Tucca (deren Werke bis auf Fragmente verloren sind) das Epos auf Augustus’ Befehl heraus. 746 duumviri: ► S. 30. 747 depositum: ‚hinterlegtes und vertrautes Gut‘ (Kirschius 1774, Sp. 853). 748 Tibullus: Albius Tibullus, römischer Elegiendichter (etwa 50–19), gelobt wegen der Eleganz seiner Dichtung. cultissimus ist Zitat: Für Scaliger ist Tibull in der Poetik omnium verò cultissimus (1561, S. 332).
214 B. Original und Übersetzung cens abjit. Persius gravissimus morum censor, virtutumque præceptor fidissimus, undetrigesimo anno stomachi vitio excessit. Poëta multo elegantissimus Lucretius, incomparabilis [450] sine dubio futurus fuisset, si ad ætatem maturiorem, cum mentis integritate pervenire potuisset: nunc & vernante ætate perijt, & juvenili in mentis errorem incidit. Quid Annæum vero Lucanum commemorem, poëtam grandiloquum, magnique spiritus, qui septem posteriores Pharsalicon libros, in quibus à Grammaticorum gente, haut pauca desiderari solent, emendaturus fuisset, nisi ante duodetrigesimum annum Medico, eidemque feralis sententiæ ministro, coactus esset venas præcidendas offerre? Monstro verò hoc simile! vatum genus, quod solum motus, quos ratio perscrutari non potest, admittit, brevis pariter ac vehementis ævi est; occupatque & deserit ante famæ Capitolium, quam ad illud eniti conspiciatur. Antiquis annalibus valedico, ut recentioris ætatis fatum à vetusto illo haut quaquam degenerasse liqueat. Princeps renascentium literarum Angelus Politianus, cujus solus Rusticus Græciam atque Latium simul provocare potest; nondum evoluto anno ætatis quadragesimo Florentiam, imo Italiam, orbam reliquit. Hercules de Strozis, Poëta quantivis pretij, venæque uberis atque gravis, sexto supra trigesimum anno in communem locum concessit. Noster Iohannes Secundus, posita nondum prima barba, nulli inter vates secundus, verusque Belgarum flos, in ipso juventæ flore, completis tamen ante Hispania atque Italia odoris sui fragrantia, extinctus est, suisque non tantum Nico[451]laiis, sed univer-
4 1649 invenili. 1650 juvenili.
749 ad plures: plures = ‚mehrere‘, ‚der große Haufen‘, umgangssprachlich für die Toten wie Plaut. Trin. 294 (Zählung Leo); Petr. Sat. 42, 4 (Konrad Müller: ‚zur großen Armee‘); ► auch p. 454. 750 Persius: Aules Persius Flaccus, römischer Satiriker (34–62), scharf urteilender Moralist, starb nach Suet. De poetis 5 an einem Magenleiden (stomachi vitium). 751 Lucretius: Titus Lucretius Carus, römischer Dichter epikureischer Prägung (ca. 95–ca. 55). Hieronymus berichtet in der Chronik zum Jahr 94: […] amatorio poculo in furorem versus […] propria se manu interfecit. Die Bezeichnung multo elegantissimus ist überraschend angesichts des vorklassischen Stils von herbem Reiz. 752 Gemeint: Er starb nicht nur jung, sondern litt auch an mentis error. 753 Annaeus Lucanus: Marcus Annaeus Lucanus, römischer Dichter (39–65). Hauptwerk Bellum civile (früher oft Pharsalia genannt), 10 B. Die ersten drei Bücher wurden noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. 754 Hieronymus berichtet in der Chronik zum Jahr 63 (die Jahreszahl beruht auf einem Irrtum): M. Annaeus Lucanus Cordubensis poeta in Pisoniana coniuratione deprehensus bracchium ad secandas venas medico praebuit. 755 Capitolium: der bedeutendste Hügel Roms mit dem Jupiter-Tempel, hier bildlich für einen Gipfel, den man erobert.
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Jüngling zum großen Haufen.749 Persius,750 der gewichtigste Zensor der Sitten und zuverlässigste Lehrer der Tugenden, starb mit 28 Jahren an einem Magenleiden. Lukrez,751 der bei weitem eleganteste Dichter, [450] wäre ohne Zweifel unvergleichlich gewesen, wenn er mit Unversehrtheit des Geistes zu einem reiferen Alter hätte gelangen können: Nun ging er in blühendem Alter zugrunde und fiel in jugendlichem (Alter) in Irren seines Geistes.752 Was soll ich vollends Annaeus Lucanus753 nennen, den Dichter, der großartig spricht und von großer Begeisterung ist, der die sieben letzten Bücher der Pharsalica (Pharsalia), in denen vom Volk der Grammatiker nicht Weniges gewünscht / vermißt zu werden pflegt, verbessert hätte, wenn er nicht vor dem achtundzwanzigsten Lebensjahr gezwungen worden wäre, dem Arzt und zugleich Überbringer des tödlichen Urteils, die Adern zum Aufschneiden darzureichen?754 Das gleicht wahrlich einem naturwidrigen Ereignis! Das Geschlecht der Dichter, das allein Leidenschaften, die der Verstand nicht erforschen kann, Zutritt gestattet, hat ein kurzes und hitziges Leben; es nimmt das Kapitol (den Gipfel)755 des Ruhmes ein und verläßt es (wieder), bevor man sieht, daß es sich zu ihm emporarbeitet. Von der Darstellung der Antike nehme ich Abschied, damit deutlich wird, daß das Lebensschicksal der neueren Zeit von jenem alten keineswegs abgeartet ist. Der Erste der Renaissanceliteratur, Angelo Poliziano,756 dessen Rusticus allein Griechenland und Latium zugleich herausfordern kann, ließ, nachdem er sein vierzigstes Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, Florenz, ja Italien verwaist zurück. Ercole Strozzi,757 der Dichter von größtem Wert und einer fruchtbaren und bedeutenden Ader, ist im sechsunddreißigsten Jahr in den (allen) gemeinsamen Ort abgetreten. Unser Johannes Secundus,758 unter den Dichtern nach niemandem der zweite759 und eine wahre Blüte der Belgier, starb just in der Blüte der Jugend, nachdem jedoch vorher Spanien und Italien von dem Wehen seines Rufes760 erfüllt worden waren, und ließ nicht nur seinen (beiden) Nicolai,761 [451] sondern der ganzen Res publica literaria 756 Angelus Politianus: ► p. 397, beschrieb im lateinisch abgefaßten Rusticus unter Bezug auf Hesiod und Vergil Landleben und Ackerbau (► Hardt 1996, S. 240). 757 Hercules de Strozis: Ercole Strozzi, italienischer Humanist und Dichter (1471–1508), am Hof von Ferrara tätig, aus ungeklärten Gründen ermordet (► p. 485). Zum Datum: vor dem 37. Geburtstag. 758 Iohannes Secundus: Johann Nico Everaerts, niederländischer neulateinischer Dichter (1511– 1536), bekannt vor allem durch die Basia, Kußgedichte in der Tradition Catulls, von Goethe als ‚heiliger, großer Küsser‘ geschätzt. 759 Wortspiel wie bei Petrus Lotichius Secundus (► p. 451). 760 odoris fragrantia: Beide Substantive sind übertragen gebraucht, wie schon in der Antike. Zu odor ► Cic. Ad Att. 4, 18, 3 odor dictaturae (zu vergleichen frz. odeur = ‚Ruf‘); zu fragrantia ► Ambros. Expositio evangeli secundum Lucam 6 bonorum fragrantia morum (CPL 143). 761 Johannes Secundus hatte zwei Brüder: Nicolaus Grudius (1504–1570) und Hadrianus Marius Nicolaus (1509–1568).
216 B. Original und Übersetzung sæ reip. literariæ dolere atque plangere reliquit. Vixdum à carceribus currere inceperat Ianus Guilielmius, quandò è literario stadio evocatus est: juvenisque immortali ævo dignissimus, Ciceroni, cui sanando totum se consecraverat, subtractus ante est, quam pharmaca commiscuisset, quæ ulceribus illius destinaverat. Quid de Iano quoque Palmerio edecumati ingenij vate, criticoque judicij subacti, 5 dicam? Ostensus solum orbi erudito est, ut cognosceret quantus esse potuisset, si magno illi Sospitatori visum fuisset. Non possum quin ei jungam Lucam Fruterium Brugarum suarum ocellum; qui ante annum vigesimum quintum hausta à pilæ lusu frigida obiit, agnosciturque solum ex paucis, quæ affecta reliquit. Dubito gratulari debeam nobilium corculo Iano Douzæ, quod Ianum suum & Georgium 10 genuerit, an deplorare tum ejus, tum omnium, qui literis pretium aliquod statuunt, fatum, quod juvenes in omnium virtutum exempla nati, ante esse desierint, quam sui experimentum capere potuerint? Non possum non his addere Petrum Lotichium Germanorum poëtarum principem, nullique in Elegia secundum: cui æmula Italia, juveni admodum, ne de tanto sidere Germania gloriaretur, boletum, qualem 15 Claudius comedisse dicitur, apposuit, viamque morti fecit, quæ ante alterum & trigesimum annum universi senatus literarij spem in hoc brevis ævi vate jugulavit. [452] Quæ poëtarum, eorum quoque qui album & rubricas tractant, sors esse solet.
762 carceres: die Schranken der Rennbahn, also: der Start. 763 Ianus Guilielmius: Johannes Wilhelms, deutscher Klassischer Philologe und Dichter (1555– 1584); in den letzten beiden Lebensjahren Beschäftigung mit Cicero (Frage der Echtheit der Consolatio), ohne daß es noch zu einer Veröffentlichung kam. 764 Janus Mellerus Palmerius: Janus Meller Palmier, niederländischer Dichter und Philologe (1575–1599). 765 D. h. Christus. 766 Lucas Fruterius: Lucas Fruytiers, niederländischer (belgischer) Klassischer Philologe und Dichter (1541–1566). Zu der Todesart und seinen Werken ► Karl v. Halm. In: ADB 8 (1878), S. 159. 767 ocellus: übertragen, wie Pl. As. 664 meus ocellus, mea rosa, mi anime, mea voluptas, u. ö.; ► auch p. 476 und zu oculus p. 380. 768 affectus: ‚der Vollendung nahe‘ (Gell. 3, 16, 17). 769 Ianus Douza: Jan van der Does, niederländischer Gelehrter, Dichter und Staatsmann (1545– 1604), erster Kurator der neugegründeten Universität Leiden (1575). Von seinen zahlreichen Söhnen taten sich besonders Janus filius (1571–1596) und Georgius / Joris (1574–1619) hervor. nobilium corculo: Corculus / Corculum (‚der Verständige‘) war ein Beiname bei den Römern. Schoock könnte sich darauf beziehen, daß Douza von niederem Adel war und „als M i t g l i e d d e r
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Schmerzen und Trauern zurück. Kaum von den Schranken762 hatte Johannes Wilhelms763 zu laufen begonnen, als er aus dem literarischen Kampfplatz abberufen wurde und der eines unsterblichen Alters so würdige Jüngling Cicero, dessen Heilung er sich ganz geweiht hatte, eher entrissen ward, als er die Medizinen gemischt hatte, die er für dessen Geschwüre bestimmt hatte. Was soll ich auch über Janus Palmier, den Dichter von einer auserlesenen Begabung und Kritiker von einem gründlichen Urteil, sagen?764 Er wurde der literarischen Welt nur gezeigt, damit sie erkenne, wie groß er hätte sein können, wenn es jenem großen Heilsbringer765 beliebt hätte. Nicht kann ich umhin, ihm Lucas Fruytiers,766 das Auge(nlicht)767 seines Brügge, anzuschließen, der vor dem fünfundzwanzigsten Jahr, nachdem er kaltes Wasser unmittelbar nach einem Ballspiel getrunken hatte, starb und nur von wenigem her, was er als fast fertig768 zurückließ, gekannt wird. Ich schwanke, ob ich dem Verständigen der (unter den) Adligen, Janus Dousa,769 gratulieren soll, daß er seinen Janus und Georgius gezeugt hat, oder einerseits sein, andererseits aller Schicksal, die der Literatur einigen Wert zumessen, beklagen (soll), daß die zu Mustern aller Tugenden geborenen Jünglinge eher zu sein aufhörten als die Erprobung ihrer selbst vornehmen konnten? Nicht kann ich umhin, diesen nicht auch Petrus Lotichius770 anzufügen, der ein Erster der deutschen Dichter war und keinem in der Elegie nachstand:771 Dem setzte das konkurrierende Italien, als er noch ganz ein Jüngling war, damit sich Deutschland des so großen Gestirns nicht rühme, ein Pilzgericht vor, wie es Claudius gegessen haben soll,772 und bereitete ihm den Weg zum Tod, welcher vor dem zweiunddreißigten Jahr die Hoffnung des ganzen literarischen Kreises773 auf diesen kurzlebigen Dichter abgewürgt hat. [452] Das Los, das die Dichter haben, pflegt auch das derer zu sein, die sich mit dem Gesetzbuch und den Gesetzesparagraphen beschäftigen.774 Denen,
R i t t e r s c h a f t fast immerfort Antheil an allen Geschäften des Staats“ nahm (Pieter Lodewijk Muller. In: ADB 5 (1877), S. 293–294, Sperrung ad hoc). Jan Bloemendal teilt eine Alternative mit: „Mein erster Gedanke bei corculum ist ‚Liebling‘, meine Übersetzung wäre dann ‚Liebling der (unter den) Adligen‘ oder ‚geliebter Edelmann‘. Für corculum vide Plaut. Cas. 361 und 837. Auf jeden Fall ist nobilium corculo eine Anspielung auf Dousas (niederen) Adel.“ 770 Petrus Lotichius Secundus: Peter Lotich / Lotz der Jüngere, deutscher neulateinischer Dichter (1528–1560), 1558 Professor der Medizin in Heidelberg. Über seinen Tod berichtet Friedrich Wilhelm Cuno. In: ADB 19 (1884), S. 270–271: „In Bologna wurde ihm aus Versehen ein vergifteter Trank beigebracht, welcher den Grund zu seinem frühzeitigen Ableben legte.“ 771 Wortspiel wie bei Johannes Secundus (► p. 450). 772 Nach Sueton, Claud. 44, 2 wurde u. a. überliefert, daß dem Kaiser durch Agrippina selbst ein vergiftetes Pilzgericht (boletum medicatum) vorgesetzt worden sei. 773 senatus: ► p. 424. 774 Nach Quint. Inst. 12, 3, 11 formuliert: alii se ad album ac rubricas transtulerunt (Rahn 1988: „[…] gingen die einen über zum Formularbuch des Prätors und den Gesetzesparagraphen“). album: ‚Gesetzbuch‘ (Kirschius 1774, Sp. 115).
218 B. Original und Übersetzung Quibus triplex forum suffecturum non videtur, rogus vixdum sumpta virili toga paratur. Exemplorum gustulum solum apponam, ne si omnia condire instituam, structore opus sit. Magnus ille Practicæ pater, Guilielmus Duranti, cujus juris speculum tam diu contra Libitinam se tuebitur, quam formularum in foro usus erit, mortuus est juvenis, annum trigesimum non ita multum egressus. Clara quoque 5 illa juris tuba, Bartholus de Saxeferrato, qui seculo inculto, vigesimo primo ætatis anno doctoralem lauream promeruit, quique à Carolo IV. Imperatore pro insignijs, leonem rubrum cum duplici cauda in campo aureo consecutus, æmulorum ronchos & calumnias tam procul fugavit, quam ipsi à bona mente distabant; florente ætate excessit, cum paulo ante Hebræam linguam, & Mathematicas disciplinas 10 edoctus esset, atque Iuri civili ab iis literis, quas alii levi brachio non attingunt, splendorem fœnerari meditaretur. Et tamen, quod quis miretur, Socraticus jurisconsultus semper ad pondus atque mensuram bibit & comedit. Quis tu ergo, qui in posterum à medentium legibus subsidium contra fatum exspectas? Volupe huic est, cum Tarquinio, qui eminentiores aristas carpebat, in excelsa quæque ingenia 15
775 ► auch tribus foris (p. 476). Zu diesem Terminus teilt Konstantin Liebrand auf Vermittlung von Peter Oestmann zwei Belegstellen mit: „Vinzenz von Beauvais OP, Speculum maius; Douai: Baltazar Bellerus, 1624 (Neue Edition des Werks aus der Mitte des 13. Jahrhunderts), p. 286 = lib. VIII, cap. XL: ‚Est autem triplex forum: Dei, Ecclesiae et hominis. Forum Dei est divina sententia, forum ecclesiae sacerdotis arbitrium, forum hominis propria conscientia.‘ Francisco Suárez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore; Antwerpen: Iohannis Keerberg, 1630, p. 588 / 90 = lib. VIII, cap. VI, num. 13 / 15, handelt, wenn ich das recht sehe, genau darüber; dort unter anderem der Satz: ‚triplex forum: contentiosum, poenitentiale et medium, scilicet conscientiae.‘ Im Kontext genauere Informationen dazu, was darunter jeweils zu verstehen.“ 776 virilis toga: ► p. 462. 777 condire: ‚würzen‘; hier übertragen, condire orationem = ‚seine Rede lieblich machen‘ (Kirschius 1774, Sp. 649). 778 gustulum (‚kleines Vorgericht‘), condire (‚würzen‘), structore (‚Tafelanordner‘): Übertragung dreier Termini von der Speisenanordnung auf das Vorsetzen von veranschaulichenden Beispielen. 779 Practica: ‚agendi ratio‘ (Du Cange). 780 Guilielmus Duranti: Guilelmus Durantis / Durandus / Wilhelm Durand, französischer Dominikaner, Kirchenrechtler, Bischof von Mende (ca. 1230–1296), schrieb ein Speculum iudiciale (1289–1291), das das kanonische und römische Recht behandelt. „Es liefert unter ausführlicher Behandlung der P r a x i s (viele Fo r m u l a r e ) das gesamte geistliche Gerichtswesen in allen Einzelheiten“ (Jörg Müller in Stolleis 1995, S. 184, Sperrungen ad hoc). Die Lebensdauer ist bei Schoock ungenau angegeben. 781 Libitina: ► p. 434. 782 forum: übertr. als Ort für Geschäfts- und Gerichtsverhandlungen. 783 tuba: übertr. wie Cic. Ad Fam. 6, 12, 3 tuba belli civilis (‚Anhetzer‘, ‚Anreizer‘, Kirschius 1774, Sp. 2892); Iuv. 15, 52 (tuba rixae). 784 Bartholus de Saxeferrato: Bartolo da Sassoferrato, italienischer Jurist (1313–1357), erwarb
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die glauben, daß ihnen das triplex forum775 nicht genügen werde, wird, kaum, daß sie die Toga virilis angelegt haben,776 der Scheiterhaufen bereitet. Ich will nur eine Kostprobe von Beispielen vorlegen, damit nicht, wenn ich alles anschaulich zu machen777 mir vornehme, ein Ordner (Erklärer) notwendig ist.778 Jener große Vater der Praxis,779 Guilielmo Duranti,780 dessen Rechtsspiegel sich so lange gegen die Libitina781 behaupten wird, wie Formulare bei Verhandlungen782 in Gebrauch sein werden, starb als Jüngling, nachdem er das dreißigte Jahr nicht sonderlich überschritten hatte. Auch jene berühmte Tuba iuris,783 Bartolo da Sassoferrato784 – der in einer ungebildeten Zeit im einundzwanzigsten Lebensjahr den DoktorLorbeer erwarb und der von Kaiser Karl IV.785 als Insignien den Roten Löwen mit doppeltem Schwanz auf goldener Fläche erhielt und die Nörgeleien786 und Spötteleien der Konkurrenten so weit in die Flucht schlug, wie diese selbst von einer guten Gesinnung entfernt waren – starb in blühendem Alter, als er kurz zuvor (noch) in der hebräischen Sprache und den mathematischen Disziplinen gründlich unterwiesen worden war und darauf sann, dem Bürgerlichen Recht von denjenigen Wissenschaften, die andere nicht auf die leichte Schulter nehmen,787 Glanz zu leihen.788 Und doch trank und aß, was man bewundern mag, der Sokratische Rechtsgelehrte immer nach Gewicht und Maß. Wer bist du also, der du künftig von den Verordnungen der Ärzte Hilfe gegen das Fatum erwartest?789 Diesem ist es ein Vergnügen, mit Tarquinius, der die höher herausragenden Ähren abriß,790 gerade
1334 den Doktorgrad in Bologna, Angehöriger der Schule der Kommentatoren, hochgebildet, von Kaiser Karl IV. 1355 zu seinem Rat ernannt. 785 Kaiser Karl IV. (1355–1378) war Böhme; der zweischwänzige Löwe war das böhmische Wappentier. 786 rhonchi: nach Mart. 1, 3, 5; 4, 86, 7. 787 levi bracchio agere: ‚auf die leichte Achsel nehmen‘ (Otto 1890, S. 58 und Georges unter Verweis auf Cic. Ad Att. 4, 17, 3 (Ed. Watt). ► auch Balde, Sol. Pod. Occ. (Lefèvre 2020, S. 128 Anm. 91). 788 fœnerari: ‚gegen Wucher leihen‘, übertragen ‘to supply, lend’ (OLD). 789 Übertragen zu verstehen: Bartolo war zielstrebig, lebte und verhielt sich aber stets nach Maß (Socraticus: ‚philosophisch gebildet‘ wie Hor. Ars 310 Socraticae chartae), trotzdem starb er früh, weil das Fatum gerade die Großen zu Fall bringt, ohne deren Maß zu berücksichtigen. Wer maßvoll lebt, darf nicht glauben, daß er künftig (das Bild der gesunden Lebensweise wird weitergeführt: von den Ärzten) Hilfe gegen das Fatum erhält. bibere et comedere nach Maß: Alte philosophische (epikureische) Weisheit, die oft propagiert wurde, auch mehrfach von Hieronymus, so in der Regula monachorum, caput 11 De abstinentia: bibere et comedere non deliciarum ardorem, sed sitim famemque restinguere. Die Junktur ad pondus atque mensuram z. B. bei Sen. De brev. vitae 19, 1 ut ad mensuram pondusque respondeat. ► auch p. 455 ad mensuram neque edere neque bibere. 790 Tarquinius Superbus war der letzte König in Roms Frühzeit (534–509). Schoock bezieht sich darauf, daß er, wie Livius 1, 49, 2 / 6 berichtet, gleich am Anfang die Vornehmsten unter den Senatoren töten ließ (primores patrum […] interfecit) und auf diese Weise und durch Verbannungen die Zahl der Senatoren verringerte (patrum numero imminuto). Dasselbe Bild schon p. 447 (► dort).
220 B. Original und Übersetzung grassari, & prostiuere sollicitas hominum curas. Bartholo Ludovicum Pontanum, cognomento Romanum, [453] atque post Panormitanum inter Concilij Basileensis patres doctissimum, jungo. Cujus tam portentosa fuit memoria, ut nulli veterum cedere putaretur, sive Simonidem, sive Theodectem, sive illum qui à Pyrrho missus ad S. P. Q. Romanum venit, Cyneam, sive Carneadem Seriphium, Metrodorum, 5 Hortensium, sive, qui horum ultimus fuit, L. Senecam cum eo committas. Erat enim memor omnium, quæ ipse unquam aut legisset, aut audivisset: nec oblitus erat eorum aliquid, quæ ipse vidisset. Non ille exemplo cæterorum Iurisconsultorum, principia legum in disputando allegare; sed quasi codicem in pluteo propositum haberet, textum, atque integras Novellas constitutiones memoriter referre. 10 Vir non tam Roma, quam cælo dignus, quique non admirationi, sed stupori omnibus populis futurus fuisset, si, ut æquum videbatur, ætatis tempora duplicasset. Sed more suo, non Italiæ solum, sed orbi mors invidit; nec passa est tantum scientiæ lumen, vixdum supra horizontem exortum, ad meridianum gloriæ properare. Immisit ergo pestiferum morbum, virumque vix trigesimum ætatis annum 15 egressum, non abstulit, sed rapuit, vix concessis ad decubitum horis sex & triginta. Sub eodem sidere & natus & mortuus fuisse videtur Gregorius Haloander; cui si
791 Ludovicus Pontanus (Romanus): Lodovico Pontano, italienischer Jurist (ca. 1409–1439), lehrte an mehreren italienischen Universitäten, stand zeitweise im Dienst der Kurie und des neapolitanischen Hofes von Alfons V. von Aragón. 792 Panormitanus: Antonius Panormita (► p. 398, 406). 793 Konzil von Basel: 1431–1439. Pontano starb in Basel an der Pest. 794 Simonides: ► p. 382. Er soll die Gedächtniskunst erfunden haben. Zu seiner memoria: Cic. De orat. 2, 299; 357, De fin. 2, 104. 795 Theodectes: Theodektes aus Phaselis in Lykien, griechischer Tragiker und Rhetor (ca. 400– 340), Schüler des Isokrates. Bei der Leichenfeier des persischen Satrapen Maussolos trat er 353 mit der zeithistorischen Tragödie Maussolos als Epitaphios in Konkurrenz zu den berühmtesten Rednern der Zeit auf (► Suda). 796 Cyneas: Kineas aus Thessalien, Diplomat des Königs Pyrrhos (ca. 350–277), über den Pyrrhos gesagt haben soll, er habe mehr Städte mit Worten als er selbst mit Waffen erobert (Plut. PyrrhosVita 14, 3). 797 Carneades: Karneades aus Kyrene, griechischer Akademischer Philosoph (2. Jahrhundert v. Chr.), bereits p. 442 genannt. Cicero rühmt De orat. 2, 161 seine ‚unglaubliche Kraft und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks‘ (vis incredibilis illa dicendi et varietas), ib. 3, 68 seine ‚geniale Beweglichkeit des Geistes und Ausdrucksfähigkeit‘ (divina quaedam celeritas ingeni dicendique copia). Seriphius: Seriphos ist eine Kykladeninsel, Karneades kommt jedoch aus Kyrene (daß dieser trotzdem
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gegen die höchsten Ingenien einzuschreiten und die besorgten Bemühungen der Menschen zuschanden zu machen. Bartolo füge ich Lodovico Pontano an, mit Beinamen ‚Romano‘791 [453] und nach dem Panormitaner792 unter den Vätern des Basler Konzils793 der klügste. Dessen Gedächtnis war so abenteuerlich, daß man glaubte, er stehe keinem der Alten nach, sei es, daß man mit ihm Simonides794 vergleicht, sei es Theodektes,795 sei es jenen, der von Pyrrhos als Gesandter zum Senatus Populusque Romanus kam, Kineas,796 sei es Karneades aus Seriphos,797 Metrodoros,798 Hortensius,799 sei es den, der deren letzter war, Lucius Seneca.800 Er behielt alles im Gedächtnis, was er bloß jemals gelesen oder gehört hatte, und vergaß nichts, was er bloß gesehen hatte. Nicht berief der sich in der Diskussion nach dem Beispiel anderer Rechtsgelehrter auf die Anfänge der Gesetze, sondern referierte, als ob er das Buch auf dem Pult801 vor sich liegen hätte, auswendig den Text und die ganzen Neuen Konstitutionen.802 Der Mann wäre nicht sowohl Roms als vielmehr des Himmels würdig gewesen und hätte nicht zur Bewunderung, sondern zum (Er)staunen803 künftig allen Völkern gereicht, wenn er, wie es gerecht schien, die Lebenszeit unmittelbar nacheinander wiederholt hätte. Aber nach seiner Art neidete ihn der Tod nicht nur Italien, sondern der Welt und duldete nicht, daß ein solches Licht der Wissenschaft, kaum über dem Horizont aufgegangen, zum Meridian804 des Ruhms eile. Er schickte daher eine verderbenbringende Krankheit und nahm den Mann, der kaum das dreißigste Jahr überschritten hatte, nicht (sanft) hinweg, sondern riß ihn fort, nachdem ihm zum Krankenlager kaum sechsunddreißig Stunden zugestanden waren. Unter demselben Gestirn scheint Gregor Haloander805 geboren und gestorben zu sein; wenn die Fäden der drei Schwestern806 für ihn glücklich gewesen wären, schwiege Italien von Männern wie
gemeint ist, dürfte daraus hervorgehen, daß unmittelbar nach ihm sein Schüler Metrodoros genannt wird). Schoock dürfte dem Katalog einer Quelle folgen, die fälschlich Scepsium zu Seriphium verschrieb und auf Carneadem bezog (► dazu die folgende Anm.). 798 Metrodorus: Metrodoros aus Skepsis, griechischer Rhetor (2. Jahrhundert v. Chr.), Schüler des vorgenannten Karneades. Cicero preist De orat. 2, 360 seine ‚beinahe göttliche Gedächtniskraft‘ (divina prope memoria). Cicero formuliert: Scepsium Metrodorum […], was Schoock oder seine Quelle mißverstand. 799 Hortensius: ► p. 380. 800 Lucius Seneca: ► p. 415. 801 pluteus: ‚Pult‘ (► Kißel 1990, S. 251–252 zu Pers. 1, 106). 802 Novellae constitutiones: Die ‚Neuen‘ Verfügungen des Justinianischen Rechts, so genannt, weil sie erst später herausgegeben wurden (► Lefèvre 2021, S. 144 Anm. 509). 803 stupor: Vergleichbar der Beiname des Stauferkaisers Friedrich II ‚Stupor Mundi‘. 804 meridianus: ‚Mittag‘ (mittags steht die Sonne am höchsten). 805 Gregorius Haloander: Gregor Meltzer, deutscher Jurist (1501–1531), arbeitete vor allem über das Corpus Iuris Justinians (deshalb wird er weiter unten redivivus Papinianus genannt). 806 Gemeint sind die Parzen, die die Lebensfäden der Menschen spinnen.
222 B. Original und Übersetzung trium sororum pensa candida favissent, Italia Bartolos, Baldos, Salycetos, & Alciatos taceret; Galliaque lubens fateretur Budæos, Cujacios, Donellos, [454] viro Germano fasces submittere debere. O fugaces vero hominum spes, & vanas cogitationes! dum redivivus hic Papinianus in Italia subsistit, ut legum tabulas injuria temporum sordidatas ad Manuscriptos Codices exigat, Venetijs levi febricula corri- 5 pitur, cui cum accederet medicus imperitus, ipso morbo immanior, mors occasionum apprimè semper gnara, citra pulverem ad plures eum abripuit, antequam carcinoma medicorum submoveretur; & vixdum viris asscriptum in ipso consiliorum, rerumque præclararum portu oppressit. Suppar duumviris his Antonius Goveanus fuit, excelso ingenio Hispanus; quem nisi Vacunæ subinde operari 10 animadvertisset Cujacius Gallicorum Iurisconsultorum alpha, ex more seculi illius tonsuram admisisset, atque in abdito antro, fortunæ, raro talibus blandiri solitæ, benivolum afflatum exspectasset. Ipse vero Goveanus dum excelsa quæque animo agitat, ac parcius stylo indulget, promulsidem solum eruditionis apparare potuit, atque ante à morte subactus fuit, quam quantus esse posset, orbi exploratum foret. 15 Goveano jungendus Franciscus Duarenus, qui præterquam quod eloquentia, suavique & facili dicendi genere omnes suæ ætatis Iurisconsultos superavit, docendi ratione maxime antecessit. Dubiam idem Gallico Vlpiano palmam fecisset, si 12 1649 solitæ. 1650 solitiæ.
807 Bartolus: ► p. 452. 808 Baldus: ► p. 452. 809 Salycetus: Bartolomeo Saliceto, italienischer Jurist aus Bologna (1330–1412). 810 Alciatus: Andrea Alciato, italienischer Jurist (1492–1550), lehrte an verschiedenen französischen und italienischen Universiäten, gilt als Begründer der humanistischen Jurisprudenz; erfolgreich wurden in weiteren Kreisen die 1531 zuerst erschienenen Emblemata (Bilderrätsel mit unterlegten Versen). 811 Budaeus: Guillaume Budé, französischer Humanist, Jurist, Gräzist (1468–1540), forschte u. a. über das Römische Recht. 812 Cujacius: ► p. 399. 813 Donellus: Hugo Doneau, französischer Jurist (1527–1591), bevorzugter Schüler von Duaren in Bourges (► p. 454). 814 Die fasces, das Rutenbündel mit Richtbeil, waren das Hoheitszeichen der römischen Magistrate, die ihnen bei offiziellen Auftritten von Liktoren vorangetragen wurden; ► auch p. 455. 815 Papinianus: ► p. 412. 816 citra pulverem: ‚ohne Mühewaltung‘ (d. h. ohne auf dem Kampfplatz Staub aufzuwirbeln wie Hor. Epist. 1, 1, 51 sine pulvere), redensartlich (► Otto 1890, S. 290). 817 ad plures: ► p. 449. 818 carcinoma: ► p. 384. 819 portus: übertr. für das Ziel, das man erreicht. 820 viris asscriptum: Nach Vollendung des 17. Lebensjahres wurde der junge Mann in die Bürgerlisten eingetragen (Marquardt 1886, S. 125–126). ► auch p. 464.
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Bartolo,807 Baldo,808 Saliceto809 und Alciato810 und bekennte Frankreich gern, daß Männer wie Budé,811 Cujas,812 Doneau813 [454] vor dem deutschen Mann die Fasces814 senken müßten. O wahrhaft flüchtige Hoffnungen und nichtige Berechnungen der Menschen! Während sich dieser Papinianus815 redivivus in Italien aufhielt, um die von der Unbill der Zeiten beschmutzten Verzeichnisse der Gesetze nach den Handschriften zu untersuchen, wurde er in Venedig von einem leichten Fieberanfall ergriffen; als sich mit ihm ein unerfahrener Arzt befaßte, riß der Tod – gewaltiger als die Krankheit selbst, immer der Gelegenheiten ganz vorzüglich kundig – ihn mühelos (kampflos)816 zum großen Haufen,817 (noch) bevor das Krebsgeschwür818 der Ärzte sich entfernte, und bereitete ihm, der kaum den Männern direkt im Hafen819 der klugen Einsichten und berühmten Taten beigeschrieben war,820 den Untergang.821 Fast gleich war diesem Zweigespann822 Antonio Goveano,823 der Spanier von herausragender Begabung; wenn nicht Cujas,824 das Alpha825 der französischen Rechtsgelehrten, bemerkt hätte, wie er wiederholt der Göttin der Ruhe826 oblag, hätte er nach der Sitte jenes Jahrhunderts die Tonsur genommen und in einem abgelegenen Loch827 den gütigen Anhauch Fortunas, die selten solchen (Menschen) zu schmeicheln pflegt, erwartet. Seinerseits aber konnte Goveano, während er das Erhabenste im Geist bewegte und sich zu wenig dem Schreiben hingab, nur ein Vorgericht (eine Vorstufe) der Gelehrsamkeit erwerben und wurde vom Tod eher überwunden, als der Welt ausgemacht war, wie groß er hätte sein können. Goveano ist François Duaren828 an die Seite zu stellen, der, außer daß er durch seine Beredsamkeit und seine angenehme und leichte Art des Redens alle Rechtsgelehrten seiner Zeit übertraf, aufgrund der Art und Weise seines Lehrens im höchsten Grad Vorrang hatte. Zugleich hätte er dem französi-
821 Haloander starb aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers am 7. September 1531 in Venedig. 822 duumviri: Pontano und Haloander, ► S. 30. 823 Antonius Goveanus: António de Gouveia, portugiesischer Jurist, Philosoph, Humanist (1505– 1561), lebte ab 1530 in Frankreich (► CERL Thesaurus, dort auch juristische Werke aufgeführt), oft mit gleichnamigen Personen verwechselt; auch Schoock hat Unstimmigkeiten: de Gouveia starb nicht jung und war kein Spanier. 824 Cujacius: ► p. 399. Es ist wohl gemeint, daß Cujas de Gouveia von einer geistlichen Laufbahn, über die er nachgedacht hatte, abgehalten hat. Gundling 1734, S. 3001 berichtet: „Cujacius multum huic Antonio Goveano tribuit.“ 825 ► p. 389. 826 Vacuna: Wohltätige Göttin der Flur; ausgehend von Ausonius Epist. 4, 101 totam trado tibi simul Vacunam, hat man sie übertragen als Göttin der Muße / Freizeit gedeutet. Kirschius 1774, Sp. 2907: ‚Göttin der Ruhe oder des Müßigganges‘. 827 So Kirschius 1774, Sp. 200 für antrum. 828 Franciscus Duarenus: François Duaren, französischer Rechtsgelehrter (1509–1559), Professor an der Universität Bourges.
224 B. Original und Übersetzung ipse ingenij sui monumenta incudi reddere, bonoque publico depromere potuisset. Quantum vero mors præci[455]pitatæ famæ ejus obfuit, tantum accessit Cujacio, qui sublato tanto æmulo, latius sese explicuit, paulatimque ingenij & eruditionis fascibus, quotquot in orbe vivunt, legulejos submovit; cum tamen noster hic, tanto viro teste, viæ, quæ ducit ad dictaturam submoveri nesciam, jam insisterit, eosque radios emisisset, qui oculis eorum, qui primi esse avebant, maximum dolorem creare solent. Idem contigit inter Belgas Iacobo Rævardo, viro Musarum, Gratiarumque manibus formato, & apprime gnaro illius hami (Græcas literas, & Historiam signo) quo incomparabilis Budæus in vasto juris Oceano sese piscatum exercere dicebat. Quid non promittunt limati ejus & ad unguem exacti libelli? audiat Invidia, aperto capite dico, à Theone commodato eam accipere posse dentem, quo illos arrodat, citra cedrum tamen laturos ævum, ac seram posteritatem procuraturam applausum, qui hodie (ô tempora!) ijs solis fere paratur, qui cum ad mensuram neque edere neque bibere velint; ad mensuram nihilominus scribunt, seque reges existimant, si in tricubitali libro præter titulos suos pexa quoque, & toto libro elegantior conspiciatur imago. Sed quorsum stomacho indulgeo? Hic Belgarum Semo, jurisque oraculum tabi, quam nocturnæ lucubrationes procuraverant, succubuit, & antequam quartum supra trigesimum annum explevisset, ad plaudite pervenit, ingenti desiderio [456] Academiæ Duacenæ relicto, quæ hodie adhuc suum Rævardum luget, & votis inanibus requirit. Ad medicos transeo; quos, quia mortales sunt, juvenes mori debere, imberbis Apollo monere videtur. Sed Syrii jam
20 1649 Rævardum. 1650 Ræverdum. | 21 1649 Syri. 1650 Corr. Syrii.
829 Ulpianus: ► p. 474, hier bildlich von Cujas gesagt. 830 incudi reddere: Ein bekanntes horazisches Bild: ‚schlecht gedrechselte Verse wieder auf den Amboß legen‘ = ‚bearbeiten‘ (et male tornatos incudi reddere versus, Ars 441); ebenso p. 459. 831 ‚accedo tibi‘: ‚ich halte es mit dir‘ (Kirschius 1774, Sp. 26). 832 fasces: ► p. 454. 833 Rückbezug auf Haloander (p. 453–454). Im Gegensatz zu Goveano und Duaren wird der vir Germanus (p. 454) als noster hic bezeichnet. Ihm wird sogleich der Belgier Rævardus an die Seite gestellt (► auch zu Germania p. 396). 834 Jacobus Rævardus: Jacob Raewaerd / Reyvaert, Jurist, aus Lissewege bei Brügge (1534 / 1535– 1568), 1565 Professor in Douai, mußte „das Amt gesundheitshalber schon 1566 aufgeben“ (Margreet Ahsmann in Stolleis 1995, S. 518). 835 Budæus: ► p. 453. Budé trat für das Studium der griechischen Sprache und Philosophie ein; er gründete 1530 das Collège des trois langues (Latein, Griechisch, Hebräisch) / Collège de France. 836 ad unguem exacti: ► p. 378.
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schen Ulpian829 die Palme streitig gemacht, wenn er selbst seines Geistes Werke hätte bearbeiten (ausfeilen)830 und einem geneigten Publikum vorlegen können. Wieviel aber der Tod [455] seinem jählings abgestürzten Ruhm schadete, soviel hielt er es831 mit Cujas, der, nachdem der so große Konkurrent ausgeschaltet war, sich weiter entfaltete und allmählich durch die Autorität832 seiner Begabung und die Gelehrsamkeit die Gesetzeskrämer, soviel auf der Erde leben, beiseite treten ließ; während doch dieser Unsrige,833 wofür ein so großer Mann Zeuge ist, schon den Weg, der zur Alleinherrschaft, die nicht verdrängt zu werden kennt, betrat und jene Strahlen ausgesendet hatte, die den Augen derer, die heftig strebten, die ersten zu sein, größten Schmerz zu bereiten pflegen. Dasselbe wurde unter den Belgiern Jacob Raewaerd834 zuteil, einem Mann, der von den Händen der Musen und Grazien geformt und besonders kundig jenes Angelhakens war (ich bezeichne damit die griechische Wissenschaft und Geschichte), mit dem der unvergleichliche Budé,835 wie er zu sagen pflegte, in dem unermeßlichen Ozean des Rechts gefischt hat. Was bieten nicht seine (Raewaerds) ausgefeilten und ausgezeichneten836 Bücher? Es höre die Mißgunst, ich spreche ganz offen aus,837 daß sie sich dazu versteht, sich von Theon838 den (Gift)zahn leihweise reichen zu lassen, mit dem sie jene (Bücher) benagt, die, wenn auch nicht Unsterblichkeit, so doch Unvergänglichkeit brächten und spätes Nachleben, das für Beifall sorgte – der heute (o Zeiten!) fast allein denen bereitet wird, die, während sie nach Maß weder essen noch trinken wollen,839 nichtsdestoweniger nach Maß schreiben und sich als Könige fühlen, wenn in einem dreiellenlangen840 Buch außer ihren Titeln auch ein Bild zu erblicken ist, das brandneu841 und eleganter als das ganze Buch ist. Aber wozu gebe ich dem Ärger nach? Dieser Halbgott und Rechtsorakel der Belgier erlag der Auszehrung, die die nächtlichen Arbeiten verursacht hatten, und gelangte, bevor er das vierunddreißigte Jahr vollendet hatte, zum ‚Klatscht Beifall!‘842 und ließ sehr starke Sehnsucht [456] der Universität von Duai843 zurück, die bis heute ihren Raewaerd betrauert und in nutzlosen Gebeten zurückersehnt. Zu den Ärzten gehe ich über; daß diese, da sie sterblich sind, jung sterben müssen, daran scheint der bartlose Apollo zu erinnern. Aber die Syrer haben schon früher, vielleicht den la-
837 aperto capite: ► p. 416. 838 Theon: Anspielung auf Horaz, ► p. 400. 839 ad mensuram neque edere neque bibere: ► zu p. 452 ad pondus atque mensuram bibit & comedit. 840 tricubitalis = ‚drei Ellen lang‘, nachantik, in der Neuzeit verbreitet, Parallelbildung zu bicubitalis. 841 pexa: eigentl. von Stoffen wie bei der Tunica (Hor. Epist. 1, 96) ‚(noch) langwollig‘, übertragen ‚neu‘ / ‘brand-new’ (OLD), ‚nagelneu‘, auf das Porträt übertr.: ‚ganz aktuell‘. 842 Formel am Ende eines Theaterstücks. 843 Duai (Nordfrankreich) gehörte ursprünglich zu Flandern.
226 B. Original und Übersetzung olim, præsagi forte sacrilegi Dionysi, barbatum Apollinem finxerunt, ne minor videretur filio suo Æsculapio, cui intonsa & gravis barba est. Quicquid alij enim existiment, Medicus non æstimatur, nisi senectutis prolixæ beneficio multis experimentis fuerit instructus. Quam hoc vero deplorandum: multi quibus vernante ætate præter canos, nihil defuit, ante eos à morte sublati sunt, ne forte, capitis 5 nives eruditioni sociatæ, libitinariorum vota eluderent. Nolo jam commemorare Theophrastum illum Aurelium ab Hohenheim; quem ut cœlo delapsum, ut quod medicinæ oraculum prædicant illi, quibus magna illa Hippocratis, Aristotelis, & Galeni nomina sordent, & ad antiquæ Philosophiæ mentionem nares corrugant. Ingenue fateor, me non videre, quam prudenter quis ex fornacis asseclis, parte 10 annorum suorum in gratiam Theophrasti Paracelsi sui mulctari velit: cum exacto nondum quadragesimo septimo ætatis anno plures rhapsodias, non quidem versuum, sed somniorum, & Sicularum gerrarum corraserit, quam is qui apud Græcos solus Poëtæ nomen promeruit. Enimvero, cum novæ hujus Philosophiæ sectatores, Oedipum perpetuo sibi voveant, publiceque procla[457]ment, se decimam partem 15 non intelligere eorum, quæ à novo suo Apolline, inter scyphos maximè, sunt eructata; lepide ineptiunt, quotiescunque plura ex vinario illo tripode prodiisse vellent. Majori jure (quisquis es, qui votis non profuturis nuncupandis vacas) in 1 1649 Dionysy. 1650 Dionysij. Lef. Dionysi.
844 Es liegt die Vorstellung zugrunde, daß Apollons Kult aus dem Vorderen Orient nach Griechenland gekommen ist und der Gott dort bärtig dargestellt wurde (Syri steht für die vorderasiatischen Völker). ► Lukian De Dea Syria 35 (Hinweis von Volker Michael Strocka): „Alle anderen bilden den Apollo als einen Jüngling in der ersten Blüte der Jugend ab; die zu Hierapolis [Phrygien] sind die einzigen, die ihm einen Bart geben“ (nach Wielands Übersetzung). Die weitere Mitteilung, daß die Syrer mit dieser Darstellung den lasterhaften Dionysos vorausgeahnt hätten, mag auf die Mitteilung in derselben Schrift 16 zurückgehen, daß Dionysos auf seinem Zug, aus dem Osten kommend, auch in Syrien gewesen sei. Dionysos ist für die Griechen ein jüngerer Gott als Apollon. Auf die Ausgelassenheit seines Kultes, dem Menschenopfer nachgesagt wurden, weist das Adjektiv sacrilegus hin. Die zwischen Gelehrsamkeit und Verschrobenheit schwankende Argumentation dieses Passus ist für Schoock, dem es auf die Bart-Pointe ankommt, bezeichnend. 845 Jakob Balde nennt Apollo patrem imberbem barbatæ prolis, den bartlosen Vater des bärtigen Sohnes Aesculapius (Med. Sat. 5, 4). Das Bild dürfte verbreitet sein. 846 capitis nives: ‚des Hauptes Schnee‘, übertragen von den Haaren wie Horaz Carm. 4, 11, 12. 847 Die Bestatter sind begierig, möglichst viele Leichen, also auch solche junger Leute, zu versorgen. 848 Zum folgenden ► p. 421 und die dort gegebenen Erläuterungen. 849 ► Surd. enc. p. 614 (dazu Lefèvre 2021, S. 119). 850 corrugare nares: ► Hor. Epist. 1, 5, 23. 851 ► p. 421 (Alchemie bei Paracelsus). 852 Gemeint: Paracelsus hat, wie sogleich mitgeteilt wird, so viel geschrieben, daß der Adept Jahre seines Lebens einbüßt, um ihn zu studieren.
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sterhaften Dionysos vorausahnend, Apollo mit Bart gebildet,844 damit er nicht jünger als sein Sohn Äskulap erscheine,845 der einen ungeschorenen und würdevollen Bart hat. Denn was auch immer andere denken, der Arzt wird nicht geschätzt, wenn er nicht durch die Wohltat eines hohen Alters mit vielen Erfahrungen ausgestattet ist. Wie ist aber das zu bedauern: Viele, denen im blühenden Alter nichts außer den weißen Haaren fehlte, sind vor diesen vom Tod hinweggerafft worden, damit nicht etwa des Hauptes weiße mit der Gelehrsamkeit verbundene Haare846 die Wünsche der Leichenbestatter enttäuschen.847 Ich will nicht gerade jenen Theophrastus Aurelius von Hohenheim848 in Erinnerung rufen, den wie einen vom Himmel Herabgeglittenen,849 wie ein medizinisches Orakel diejenigen preisen, denen jene großen Namen Hippokrates, Aristoteles und Galen zu gering sind und die bei der Erwähnung der antiken Philosophie die Nasen rümpfen.850 Aufrichtig bekenne ich, daß ich nicht sehe, wie einer von den Anhängern des Schmelzofens851 bei Verstand mit einem Teil seiner Jahre zugunsten seines Theophrastus Paracelsus bestraft werden will,852 weil (dies)er, noch nicht siebenundvierzig Jahre alt,853 mehr Rhapsodien854 zwar nicht von Versen, sondern von Phantasien855 und sizilischen Possen856 zusammengekratzt hat als der, der bei den Griechen allein den Namen Dichter verdient hat. In der Tat, da die Anhänger dieser neuen Philosophie sich beständig einen Oedipus857 wünschen und laut ausrufen, [457] daß sie nicht den zehnten Teil von dem verstehen, was von ihrem neuen Apollo858 – ganz und gar unter Bechern859 – von sich gegeben wurde, schwatzen sie in naiver Weise Unsinn, sooft sie wollten, daß noch mehr aus diesem weinseligen Orakel hervorgegangen wäre.860 Mit größerem Recht (wer immer du bist, der du dem Verkünden
853 Paracelsus lebte 1493 / 1494–1541. 854 rhapsodia: ‚Rhapsodie‘ (Nep. Dion 6, 4 über den zweiten Gesang der Ilias). Dazu passend ist im folgenden von Homer die Rede, der 48 Bücher dichtete: Ihn hat also Paracelsus mit seinen (Er)dichtungen (sic!) umfangmäßig übertroffen! Schoock charakterisiert Paracelsus bildreich als Vielschreiber. 855 somnium: übertragen ‘fantasy’ (OLD) wie Ter. Phorm. 494, 874 u. ö. 856 Gemeint sind die Mimen (eine ‚niedere‘ Gattung) sizilischer Dichter wie Sophron oder Herodas. Der Gebrauch von gerrae = ‚Rutengeflecht‘, übertragen ‚Possen‘ / ‚Firlefanz‘ wie Plaut. Asin. 600, Epid. 233 ist bemerkenswert, da hier das literarische Genus ‚Possen‘ in Rede steht. 857 D. h., einen Rätsellöser. 858 novus Apollo: Apollon war Gott der Heilkunst und Verkünder von Orakeln, die nicht immer eindeutig formuliert waren. Hier ironisch von Paracelsus. Der im folgenden genannte Dreifuß (tripus) gehört zu Apollons Kult in Delphi. 859 Paracelsus wird hier und im folgenden – vielleicht in wörtlichem und übertragenem Sinn – Trunkenheit beim Verfassen seiner (maßlosen uneindeutigen) Schriften unterstellt (ex vinario illo tripode). 860 Auch Balde macht sich wenig später über Paracelsus lustig: Sol. pod. 2, 80 (► Lefèvre 2020, S. 523–526).
228 B. Original und Übersetzung tabella, quam figere velles, notaveris Valerij Cordi nomen, celeberrimi illius Euricij Cordi filij; nisi enim à polypo molestias patiaris, è paucis, quibus immortali ævo dignissimus juvenis, se æternitati consecravit, discere potes, quæ non medicorum familia sibi ab eo promittere potuerit, si per mortem, & quæ ei ad feralia hæc officia promptissimam operam exhibere solet, febrim, licuisset. Aut, si tanti apud te non valeat Cordus, Paracelso saltem præferatur viva & spirans illa Bibliotheca, omnisque eruditionis consummatissimum breviarium Conradus Gesnerus, qui ante quinquagesimum ætatis annum, plura scripsit, quam multi ex Paracelsi admiratoribus legerunt, omnesque medicinæ non solum, sed reliquarum disciplinarum partes scriptis, 〈ad〉 ungues demorsos sapientibus, illustrasset; modo magna illa amicorum cohors, quam ex omnibus Christiani orbis partibus conscripserat, fatum, exorari nescium, parte annorum suorum satiare potuisset. Sed, ut à cineris fumoso assessore tandem recedam; (neque enim dimoveris genus hoc hominum à sententia, quam tanquam claudus pilam retinet) ipsa Medentium sors, à communi reliquorum ho[458]minum sorte nihil distat, & quæcunque etiam artis arcana crepent, non solum cum mors venerit, jugulum ei offerre debent; sed quotiescunque fere ad Tybur abeunt, ut ibi complures annos otio literario perfruantur, Sardum, quem fugisse videntur, aëra, in propinquo offendunt, abeuntque è magno hoc theatro, vixdum reclusis vitæ carceribus. Exempla plura non addo, quod ad Philosophos sit divertendum. Quibus nullam prærogativam quoque, sapientia, quam sectantur, conciliat: exemplo aliorum enim moriuntur, vixdum sapientiæ
2 filij;] 1649 Spuren einer Interpunktion (Semikolon?). 1650 keine Interpunktion. Lef. Semikolon. 10 Ergänzung Lef. | 1649 illustrasset. 1650 illustasset.
861 Gemeint: So, wie laut und öffentlich für Paracelsus eingetreten wird, sollte lieber laut und öffentlich für Valerius Cordus eingetreten werden. Das Bild wie p. 459 in pariete depicta (► dort). 862 Valerius Cordus: Deutscher Mediziner und Naturwissenschaftler (1515–1544), schrieb die erste offizielle Pharmakopöe (Arzneibuch). 863 Euricius Cordus: Deutscher Humanist, Arzt, Dichter, eigtl. Heinrich Solde (1485–1535), einer der Begründer der Botanik als Wissenschaft. 864 polypus ist medzinischer Terminus für Geschwulste, z. B. in der Nasenschleimhaut (was ein Druckgefühl auf die Augen auslöst) oder im Gehörgang. Wenn diese Bedeutung hier gemeint ist, hieße es: ‚wenn deine Wahrnehmungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist‘. 865 Conradus Gesnerus: Konrad Gesner, schweizerischer Polyhistor, Natur- und Sprachforscher (1516–1565), Arzt, vielseitiger Gelehrter. Schoock bezieht sich mit illa Bibliotheca (auf den Autor übertragen!) auf die 1544 in Zürich veröffentlichte Bibliotheca Universalis, sive Catalogus omnium Scriptorum locupletissimus, in tribus linguis, Latina, Græca, & Hebraica; extantium & non extantium, veterum et recentiorum in hunc usque diem […] publicatorum et in Bibliothecis latentium […]. 866 demorsos: ► p. 434. 867 ad ungues: ► p. 378. ad ist in den Drucken von 1649 / 1650 zu ergänzen.
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von Wünschen obliegst, die nicht nützen werden) könntest du auf einem Täfelchen, das du anzuschlagen willens wärest,861 den Namen des Valerius Cordus862 kenntlich machen, des Sohnes jenes hochberühmten Euricius Cordus;863 denn wenn du nicht von einem Polypen864 Beschwerden erduldest, kannst du aus dem wenigen, mit dem sich der eines unsterblichen Lebens so würdige Jüngling der Ewigkeit geweiht hat, lernen, was sich nicht von ihm die Familie der Ärzte hätte versprechen können, wenn es von seiten des Todes und des Fiebers, das ihm bei diesem tödlichen Amt den bereitwilligsten Dienst zu leisten pflegt, erlaubt gewesen wäre. Oder, wenn Cordus bei dir nicht so viel gilt, werde Paracelsus wenigstens jene lebende und atmende Bibliothek und vollkommenste Zusammenfassung der ganzen Gelehrsamkeit, Conrad Gessner,865 vorgezogen, der vor dem fünfzigsten Jahr mehr geschrieben hat, als viele von Paracelsus’ Bewunderern gelesen haben, und mit Schriften, die bis auf die Probe der abgenagten866 Nägel867 klug waren, alle Teile nicht nur der Medizin, sondern auch anderer Disziplinen erleuchtet hätte, wenn nur jene große Schar von Freunden, die er aus allen Teilen der christlichen Welt erworben hatte, das unerbittliche Fatum mit einem Teil der eigenen Jahre hätte zufriedenstellen können. Aber damit ich mich endlich von dem rauchigen Beisitzer der Asche868 zurückziehe (denn nicht wirst du dieses Geschlecht der Menschen von seiner Meinung abbringen, die es wie ein Lahmer den Ball behält):869 Selbst das Los der Ärzte unterscheidet sich in nichts vom allgemeinen Los der anderen Menschen [458], und welche Geheimnisse ihrer Kunst auch immer sie im Munde führen, sie müssen nicht allein, wenn der Tod gekommen ist, ihm die Kehle darbieten, sondern treffen, sooft sie etwa nach Tibur870 fortgehen, damit sie dort mehrere Jahre wissenschaftliche Muße genießen, die sardische Luft,871 vor der sie offensichtlich geflohen sind, in ihrer Nähe und gehen aus diesem großen Theater fort, kaum daß die Schranken des Lebens872 geöffnet sind. Mehr Beispiele füge ich nicht hinzu, weil zu den Philosophen zu gehen ist.873 Ihnen verschafft die Weisheit, die sie erstreben, auch keinen Vorteil: Denn nach dem Muster der anderen sterben sie, kaum den Bewerbern um die Weisheit
868 Bei dem Bild kommt es auf den Rauch an, der aus der glimmenden Asche aufsteigt: fumus bedeutet übertragen ‚Betrug‘, wie in Schoocks Laus fumi (Lefèvre 2021, S. 18): Paracelsus als Betrüger! Zudem weist cineris auf die übelbeleumdete Alchemie (► Anm. 485). 869 tanquam claudus pilam retinet: „Das Sprichwort ward […] angewendet auf diejenigen, welche sich mit einer Sache beschäftigen, für die sie keine Befähigung und kein Verständnis haben“ (Otto 1890, S. 85). 870 Anspielung auf einen Lieblingsort des Horaz (Carm. 3, 4, 23; Epist. 1, 7, 45). 871 Im Gegensatz zu dem idyllischen Tibur steht das üppige Sardes (Hauptstadt von Lydien), in dem der sprichwörtlich reiche König Kroisos lebte. aer = ‚Luft‘, übertr. ‚Atmosphäre‘. 872 reclusis carceribus: Bild vom Pferderennen. 873 Zum Konjunktiv ► Kühner, Stegmann 1962. § 211 Abs. 3 Anm. 3.
230 B. Original und Übersetzung candidatis asscripti. Nolo vero plenam exemplorum messem colligere, aut ex annalium memoria juvenes, eosque Philosophos accersere; unum aut alterum si exhibuero, ad alia me convertere potero. Quam non sui famam, posita vixdum prima barba, concitaverat immortale illud terræ Frisiæ decus Rudolphus Agricola? æmula alias Germanicorum ingeniorum Italia, volens nolens, à veritate expugnata, Invidiam cedere compulit, excitato Hermolao Barbaro, qui ejus præconem ageret. Quantum non autem orbis eruditus, & humaniorum disciplinarum circulus, quem jam spinis expurgare aggressus erat, ab eo exspectare potuissent, si hora illa feralis, quæ incidit in annum ætatis alterum supra quadragesimum, per lustra aliquot differri potuisset! Magnus ille Erasmus, cui ipse primus industriæ testimonium apud Alexandrum Hegium perhibuit, silentio obrutus, & parum [459] quin compositus fuisset; si huic nostro licuisset, aut conficere scripta quæ jam affecta habebat, aut incudi reddere illa, ex quibus à delicatis literionibus hodie vix agnoscitur. Rudolpho addo Ioannem Picum Mirandulæ Comitem, illum seculi sui Phœnicem, & Italiæ grande portentum: qui anno ætatis altero supra vigesimum, Romam, orbis illud compendium adijt, omnesque, qui in orbe vivebant, eruditos invitavit, ad oppugnandas nongentas suas quæstiones, quas non ex Theologicis solum, Dialecticis, Mathematicis, atque Naturalibus narthecijs deprompserat; sed etiam ex Ebræorum, Chaldæorum, & Arabum arcanis, imo interioribus Cabalæ recessibus eruerat. Quo minus vero consilio probe cocto speratus eventus responderit, imputandum quibusdam vitilitigatoribus, & blateronibus, qui, frustra obnitente
874 Rudolphus Agricola: Roelof Huysman, niederländischer Humanist (1444–1485). Der Groninger Professor Schoock mag ihn herausheben, weil er in Baflo bei Groningen geboren wurde und 1481 im Auftrag der Stadt Groningen (in der er 1480–1484 secretarius war) am Hof Maximilians I. in Brüssel tätig gewesen ist. Die letzten Jahre war er Kanzler der Universität Heidelberg. 875 barbam ponere: Hor. Ars 297 / 298. 876 Der Begriff Germania umfaßt auch Friesland: ► p. 396. 877 Hermolaus Barbarus: Ermolao Barbaro (Almorò), italienischer Humanist (1453–1493), kommentierte Aristoteles sowie den älteren Plinius (Castigationes Plinianae et in Pomponium Melam, Roma 1492 / 1493). Anläßlich des Todes von Agricola verfaßte er ein Epitaphium für diesen. 878 Alexander Hegius: Deutscher Humanist und Pädagoge (1433 / 1440–1498), leitete nacheinander die Gymnasien in Wesel, Emmerich und Deventer; zu seinen Schülern in Deventer gehörte Erasmus von Rotterdam. Hierüber berichtet Huizinga 1958, S. 12: „Gegen das Ende des Aufenthalts von Erasmus kam Alexander Hegius an die Spitze der Schule, ein Freund Rudolf Agricolas, der bei seiner Rückkehr aus Italien von seinen Landsleuten als ein Wunder der Gelehrsamkeit angestaunt wurde. An Festtagen, wenn der Rektor vor der ganzen Schule eine Rede hielt, hörte Erasmus Hegius; einmal sah und hörte er den berühmten Agricola selbst, was einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ.“ Zu Hegius’ Bedeutung ► Robert Black bei Knight, Tilg 2015, S. 228. 879 incudi reddere: ► p. 454. 880 literiones: ► p. 394. 881 Picus Mirandola Comes: Graf Giovanni Pico della Mirandola, italienischer Humanist und
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beigeschrieben. Ich will aber nicht eine volle Ernte von Beispielen sammeln oder aus der Überlieferung der Annalen Jünglinge, und zwar Philosophen, herbeiholen; wenn ich den einen oder anderen angeführt habe, werde ich mich zu anderem wenden können. Welchen Ruf seiner Person hatte nicht Rudolf Agricola hervorgerufen, jene unsterbliche Zierde des friesischen Landes,874 kaum daß der erste Bart geschoren war?875 Das sonst mit den germanischen876 Ingenien wetteifernde Italien drängte – ob es wollte oder nicht, von der Wahrheit bezwungen – den Neid nachzugeben und beauftragte Ermolao Barbaro,877 daß er als dessen Herold fungierte. Wieviel hätten aber nicht die gelehrte Welt und der Kreis der humanistischen Disziplinen, den er schon von dornigen Problemen zu säubern in Angriff genommen hatte, von ihm erwarten können, wenn jene Todesstunde, die in das zweiundvierzigste Lebensjahr fiel, über einige Lustren hin hätte aufgeschoben werden können! Jener große Erasmus, dem er selbst als erster ein Zeugnis seines Fleißes bei Alexander Hegius878 gegeben hat, wäre von Schweigen verdunkelt und beinahe [459] begraben worden, wenn es diesem Unseren erlaubt gewesen wäre, entweder die Schriften zu vollenden, die er schon in Angriff genommen hatte, oder diejenigen zu bearbeiten,879 aus denen er heute von schwachen Halbgelehrten880 kaum erkannt wird. Rudolf füge ich Giovanni Pico Graf von Mirandola881 hinzu, jenen Phönix882 seines Zeitalters und großes Wunder(zeichen) Italiens: Der ging im zweiundzwanzigsten Lebensjahr nach Rom, jene Quintessenz des Erdkreises,883 und lud alle Gelehrten, die auf der Erde lebten, ein, seine neunhundert Thesen anzufechten, die er nicht nur aus theologischen, dialektischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Arzneikäst(ch)en,884 sondern auch aus Geheimschriften der Hebräer, Chaldäer und Araber, ja aus inneren Winkeln der Kabala hervorgeholt hatte. Daß aber dem tüchtig ausgesonnenen885 Plan nicht der erhoffte Ausgang entsprach, ist einigen Splitterrichtern und Schwaflern anzurechnen, die, obwohl sich Bonfrancesco, der Bischof von Reggio,886 vergeblich widerPhilosoph (1463–1494), versuchte nach seinem Pariser Aufenthalt (1485–1486) „mit seinen 900 aus allen damals bekannten Kulturen zusammengetragenen Conclusiones philosophicae, cabalisticae et theologicae unter Anwendung kabalistischer und allegorischer Methoden den Nachweis zu führen, daß alle philosophischen Schlüsse und Lehren nach Auflösung der vorhandenen Widersprüche in einer einzigen universal gültigen Wahrheit zusammenfielen“ (Hardt 1996, S. 228). Zu der Diskussion dieser Thesen lud er 1486 die Gelehrten Europas nach Rom ein. Eine Beanstandung gegen die Verurteilung von 13 Thesen durch Innozenz VIII. führte zur Verurteilung aller. 882 Phœnix: Jener sagenhafte Vogel, der über 500 Jahre lebt, wiederaufersteht und von dem es jeweils nur ein Exemplar gibt. 883 compendium: ► p. 401. 884 narthecia: Martial 14, 78, 1 erwähnt artis […] medicae narthecia. Übertragen: Cic. De Fin. 2, 22 doloris medicamenta illa Epicurea tamquam de narthecio promere. 885 coquere: ‚zur Reife bringen‘, wie Liv. 3, 36, 2 […] consiliis, quae secreto ab aliis coquebant. 886 Bonfranciscus: Bonfrancesco Arlotti (1422–1508), seit 1477 Bischof von Reggio / Emilia.
232 B. Original und Übersetzung Bonfrancisco Regiensi Episcopo, hanc disputationem Pontificis authoritate supprimi curarunt. Augurabantur sc. existimationem & doctrinam suam dubiam aleam adituram esse, si juvenis, excelsior longe fumosis familiæ suæ imaginibus, multaque doctrina, quasi fertilis ager luxurians, in prima orbis urbe publice de ijs disseruisset, quæ ipsi antea in pariere depicta non viderant. Cæterum mundi hoc cymbalum, cum nondum secundum & trigesimum ætatis annum implevisset, Florentiæ dum sedet, febri cessit, placidaque morte occubuit. Pico suppar Ludovicus Gratus, cum vixdum sui experimentum ce[460]pisset, anno ætatis vigesimo tertio Romæ extinctus, destituit spem amicorum suorum, qui à portentoso illius ingenio, raraque Astronomiæ peritia, augusta quæque exspectabant; miserior in hoc Pico, quod nullum ingenij sui monumentum in Æternitatis sacello suspendere potuerit, solumque agnoscatur ex amicorum commendationibus. Ad alia orationis vela convertam, ubi ante, duos à pulvere & radio excitavero; quibus si mors ad paucos modo annos parcere voluisset, non desideraremus magnopere ea ex Archimedis & Eudoxi scriptis, quæ aut blattæ, Musicis monumentis infestissimum animal, aut edax flamma ante multa jam secula obliteravit. De Iohanne Regiomontano Atlante illo Europæo, & Erasmo Reinoldo, cujus tabulæ Prutenicæ tam diu in pretio erunt, quam ipsæ Mathematicæ disciplinæ, me loqui exstimate. Vterque illorum brevis ævi fuit, & quod quis miretur, eodem tum ætatis anno, (secundo nempe supra quadragesimum) tum eo qui à partu virgineo numerari solet, extinctus fuit. Quasi mors speraverit silentio & tenebris se obruituram esse Mathesin, effosso hoc gemino illius oculo. Sed quorsum breve ævum eruditorum, soli posteritati grave, deploro? Posteros si seponas, ijs ipsis nihil melius tempestiva morte voveri publicè posse videtur: quandoquidem plerique eorum ad senium reservari videntur, ut non
887 imagines: ► Lefèvre 2021, S. 22. 888 Gemeint: ‚was vorher nicht öffentlich bekannt war‘. Das Bild wie p. 457 in tabella, quam figere velles (► dort). 889 mundi cymbalum: Tiberius nannte den Grammatiker Apion (► p. 434) cymbalum mundi (Plin. Nat. Praef. 25). 890 Pico verbrachte seine letzten Lebensjahre 1488–1494 unter dem Schutz von Lorenzo Magnifico in Florenz. 891 Ludovicus Gratus: Ludovico (Lodovico) Grato Margani, italienischer Mathematiker und Astronom (gest. 1531), begraben in der Basilica Santa Maria degli Aracoeli. 892 Mit dem Stäbchen zeichneten Mathematiker ihre Figuren in den Staub / Sand (► Surd. enc. p. 620, dazu Lefèvre 2021, S. 133 Anm. 466). 893 Eudoxos von Knidos und Archimedes von Syrakus waren zwei bekannte griechische Mathematiker des 4. bzw. 3. Jahrhunderts. 894 Iohannes Regiomontanus: Johannes Müller (Regiomontanus nach dem Geburtsort Königsberg in Bayern), Mathematiker und Astronom (1436–1476), folgte 1461 Kardinal Bessarion (► p. 462) nach Italien. 895 Atlas: Der Name des Riesen Atlas war bei den Römern Appellativum für einen (körperlich)
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setzte, dafür sorgten, daß diese Disputation durch die Autorität des Papstes unterdrückt wurde. Sie ahnten natürlich, daß ihre Ansicht und Lehre einem unsicheren Risiko begegnen würde, wenn der Jüngling, der über die rauchigen Ahnenbilder887 seiner Familie bei weitem herausragte und von bedeutender Gelehrsamkeit gleichsam wie ein fruchtbarer Acker strotzte, in der ersten Stadt des Erdkreises öffentlich darüber diskutiert hätte, was sie selbst vorher nicht an der Wand angeschlagen gesehen hatten.888 Dieses Schallbecken889 der Welt erlag aber, als es noch nicht das zweiunddreißigste Lebensjahr vollendet hatte, während es in Florenz weilte,890 einem Fieber und starb eines sanften Todes. Pico fast gleich verschied Ludovico Grato,891 als er kaum seiner bewußt [460] geworden war, im dreiundzwanzigsten Lebensjahr in Rom und enttäuschte die Hoffnungen seiner Freunde, die von dessen übernatürlicher Begabung und seltenen Erfahrung in der Astronomie alles Großartige erwarteten; beklagenswerter als Pico war er darin, daß er kein Denkmal seines Genies im Heiligtum der Ewigkeit aufhängen konnte und nur aus den Empfehlungen der Freunde wahrgenommen wird. Zu anderem werde ich die Segel der Rede wenden, sobald ich vorher zwei vom Staub und Stab892 erweckt habe; wenn die der Tod hätte nur für wenige Jahre verschonen wollen, vermißten wir nicht nachdrücklich das aus den Schriften des Archimedes und Eudoxos,893 was entweder die Motten – ein den (schriftlichen) Denkmälern äußerst feindliches Tier – oder die gefräßige Flamme schon vor vielen Jahrhunderten in Vergessenheit gebracht haben. Daß ich über Johannes Regiomontanus894 spreche, jenen europäischen Atlas,895 und Erasmus Reinhold,896 dessen Prutenische Tafeln so lange in Ansehen stehen werden wie die astronomischen Disziplinen selbst, nehmt zur Kenntnis! Jeder von ihnen hatte ein kurzes Leben und, worüber man sich wundern könnte, starb einerseits in demselben Lebensjahr (dem zweiundvierzigsten nämlich), andererseits in dem, was von der Geburt der Jungfrau an gezählt zu werden pflegt.897 Als ob der Tod gehofft habe, er werde die Astronomie in Schweigen und Dunkel durch das Ausreißen ihrer Zwillingsaugen898 vernichten. Aber wozu beklage ich das kurze Leben der Gelehrten, das nur für die Nachwelt schlimm ist? Wenn man die Nachkommen beiseite läßt, ihnen selbst kann offenbar nichts Besseres als allgemein ein zeitiger Tod gewünscht werden – da ja die meisten von ihnen für ein Alter aufgehoben zu werden scheinen, daß sie nicht nur
großen Menschen (Mart. 7, 777; Iuv. 8, 32), hier für einen ‚großen‘ Forscher von europäischer Bedeutung. 896 Erasmus Reinoldus: Erasmus Reinhold, Astronom, Professor in Wittenberg (1511–1553), veröffentlichte 1551 aufgrund der kopernikanischen Lehre Tabulae Prutenicae coelestium motuum (‚Prutenische / Preußische Tafeln der himmlischen Bewegungen‘). 897 Ungenau: Schoock (oder seine Quelle) nahm für beide Astronomen dieselben Lebensdaten und somit dasselbe Alter an. 898 oculo: ► oculus p. 380.
234 B. Original und Übersetzung tantum tanquam agni curiones, perpetuis æstuent sollicitudinibus, verum [461] etiam velut quæ fortunæ pilæ, omnis generis calamitatibus exerceantur. Vt inde incipiam, quam non hoc deplorandum, eos, quos vernante ætate omnes tanquam oraculum adierunt, quique per memoriæ scrinia cunctas artes, historias, atque elegantias distributas habuerunt; decursu annorum, qui rari beneficij loco prorogari videntur, omnium, quæ summa cum molestia didicerunt, jacturam facere, atque ludibrio ipsi capillatæ turbæ esse? Non uni autem Messalæ Corvino, oratori summo hoc accidit, sed plurimis alijs, & fere sine numero. Quantus fuerit Orbilius, norunt ij, qui antiquorum Grammaticorum vitas apud Tranquillum perlustrarunt. Is ipse tamen, qui juvenis penulatorum alpha audiebat, cum jam dextra annos suos numerare inciperet, omnium literarum oblitus erat, adeo ut pueri vulgo ei occinerent: Orbilius ubinam est literarum oblivio? Hermogenes (cujus nomen si spectes, patrem merito ipsum voces eloquentiæ, Præsidem, Mercurium) anno duodevicesimo ætatis Rhetoricam scripsit, quæ hodie adhuc in pretio apud eos, qui dicendi arti pretium statuunt; idem tam celebrem, posita nondum prætexta, habuit scholam, ut ipse Musonius Philosophus & Marcus Imperator, ab ore ejus, de quo melle dulcior profluebat oratio, pependerint. Is ipse tamen, cum vixdum vigesimum quartum ætatis annum attigisset, de sano mentis statu deturbatus, & à facundia ac [462] sapientia sua desertus est. Vt non præter
899 agni curiones: Aus der verdrehten Bildersprache von Pl. Aul. 561–566 (zu der ‘famous crux of interpretation’ ► Maclennan, Stockert 2016, S. 169–170) mochten die Humanisten herauslesen, daß Schafhirten große Sorgen hatten. 900 fortunæ pila: ‚Spielball der Fortuna‘. Aurelius Victor Epit. de Caes. 18, 3 berichtet über den römischen Kaiser Helvius Pertinax [193]: […] ad summos provectus honores, usque eo, ut fortunae vocaretur pila; sprichwörtlich. 1632 erschien z. B. in Salzburg ein ‚Jedermann‘-Spiel von dem Benediktinerpater Thomas Weiss (mit dem Titel Anastasius Fortunæ Pila: Terræ Piaculum: Orci monstrum). 901 scrinia sind Kapseln / Ablagekästen für Papiere, Briefe, Bücher, übertr. Archive; in den memoriae scrinia wird also das Erinnernswerte abgelegt. Zum übertragenen Gebrauch von scrinia ► p. 488 (Simonides’ scrinia). 902 capillata turba: Schar Junger / Jüngerer, die im Gegensatz zu den Alten noch volle Haare haben (► Mart. 3, 58, 31). 903 Messalla Corvinus: Marcus Valerius Messalla Corvinus, römischer Feldherr, Politiker, Redner (64 v. Chr. – 13 n. Chr.), Förderer des Elegikers Tibull. Plin. Nat. 7, 90 berichtet, daß er im Alter sogar seinen Namen vergaß (cepit oblivionem […] etiam sui vero nominis Messalla Corvinus). 904 Tranquillus: Suetonius Tranquillus, ► p. 389.
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wie gleichsam die Schafhirten899 durch dauernde Sorgen nicht zur Ruhe kommen, sondern auch [461] wie Spielbälle Fortunas900 von Unglücksfällen jeglicher Art heimgesucht werden. Damit ich von da beginne: Wie ist das nicht zu bedauern, daß diejenigen, die im frühlingshaft blühenden Alter alle wie ein Orakel aufsuchten und die in den Kästen der Erinnerung901 alle Theorien, historischen Kenntnisse und Feinheiten geordnet hatten, im Lauf der Jahre – die wie eine seltene Wohltat verlängert zu werden scheinen – aller Dinge, die sie mit höchster Beschwernis gelernt haben, verlustig gehen und gerade der jungen902 Menge zum Spott gereichen? Nicht als einzigem aber widerfuhr das Messalla Corvinus,903 dem hochbedeutenden Redner, sondern sehr vielen anderen und fast ohne Zahl. Wie bedeutend Orbilius gewesen ist, wissen die, welche die Lebensbeschreibungen der antiken Grammatiker bei Tranquillus904 durchgegangen sind. Jedoch selbst der, welcher als junger Mann das Alpha der einfach(er)en Grammatiker905 genannt wurde, hatte, als er gerade mit der Rechten seine Jahre zu zählen begann,906 die ganzen wissenschaftlichen Kenntnisse vergessen – so sehr, daß die Knaben ihm öffentlich entgegensangen:907 ‚Orbilius, wo ist denn er, die Vergessenheit der Wissenschaften?‘ Hermogenes908 (wenn du dessen Namen erblickst, kannst du wohl gerade ihn mit Recht einen Vater der Redekunst nennen, einen Vorsteher, einen Merkur909) schrieb im achtzehnten Lebensjahr die Rhetorik, die noch heute bei denen in Ansehen steht, die der Redekunst Ansehen verschaffen; zugleich hatte er – die Toga praetexta war noch nicht abgelegt910 – eine so berühmte Schule, daß selbst der Philosoph Musonius911 und der Kaiser Marcus912 an seinem Mund hingen, von dem die Rede süßer als Honig hervorströmte. Doch er selbst wurde, als er kaum das vierundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, des gesunden Zustands seines Geistes beraubt und von der Redekunst und [462] der Weisheit verlassen – so daß nicht 905 paenulatorum: ► p. 416, hier gesagt im Gegensatz zu Größen wie etwa Varro. 906 D. h., als er sich seine verbleibenden Jahre an einer Hand abzählen konnte, also nur noch wenige zu leben hatte. 907 ► Suet. De gramm. 9, 6. Der jambische Senar stammt von dem Neoteriker Furius Bibaculus (1. Jahrhundert v. Chr.): ► FPL S. 203. 908 Hermogenes: Hermogenes von Tarsos, griechischer Rhetor und Rhetoriklehrer (2. Jahrhundert n. Chr.). Alles folgende mit Ausnahme der etymologischen Spielerei (► die nächste Anm.) nach der Suda s. v. Ἑρμογένης. 909 Es dürfte eine Spitzfindigkeit vorliegen: Hermogenes als von Hermes (= Merkur), dem Gott der Redekunst, Gezeugter (Hermo-genes). 910 D. h., er hatte das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet (► p. 462). 911 Musonius: Nicht: Gaius Musonius Rufus, der bekannte stoische Philosoph (ca. 30–100, ► p. 379) – eine Behauptung / Verwechslung der Suda: Μουσώνιος ὁ φιλόσοφος. 912 Marcus Imperator: Marcus Aurelius Antoninus / Mark Aurel (121–180, römischer Kaiser seit 161).
236 B. Original und Übersetzung rationem Antiochus Sophista de eo, per risum dixerit: Hermogenes inter pueros senex, inter senes puer. Quam non jucundius ei fuisset, ipso tyrocinij die, non quidem ab amicis ad forum; sed à tibicinibus & præficis ad rogum deduci. Enimvero, ex propinquis aliquis rostra ascendisset, & lacrymas excussisset omnibus, qui ab ejus indole non nisi summa exspectabant: cum senex jam, sine suorum lacrymis compositus fuerit, & nullus doluerit eum ereptum esse, qui neque sibi, neque alijs sufficiebat. Quantum quondam præsidium Græcæ literæ in Georgio Trapezuntio habuerint, nullus, nisi qui ab humanitate & bona pariter mente est remotus, ignorare potest. Supergressus hic mortalium sortem videri potuisset, & inter omnes ex Græcia exules beatissimus, si modum servare scivisset in amando Aristotele; cui cum crederet se satisfacere non posse, nisi præceptori ipsius Platoni malediceret, excussis Archilochi, atque Zoili arculis, sacrum & uno Vulcano dignum librum exaravit. At non impune: non tantum enim Bessarioni Cardinali, subactissimi judicij viro pœnas dedit, qui hanc petulantiam in Trapezuntio, scripto exasciato serio castigavit; verum omnibus documento fuit, ingenij dotes, divinitus concessas non in perniciem aliorum, sed commodum atque emolumentum depromendas esse. Quod Orbilio enim contigit, ei quoque accidit; mulctatus quippe à Deo sapientia atque [463] eruditione, quasi ex Menenia gente originem duceret, urbem perreptavit, lassum trahens vestigium, & ægre fatiscentia latera, baculo, qui dextram subibat, sustentans. Trapezuntio jungendus Franciscus Barbarus, consanguineus Hermolai illius, qui jure maximo, cognomento licet Barbarus, Barbariei Hercules,
3 1649 præficis. 1650 preficis. | 19 1649 / 1650 fatissentia. Lef. fatiscentia. | 20 sustentans.] 1649 Punkt. 1650 Komma.
913 Antiochus Sophista: Publius Anteius Antiochus, Sophist und Kyniker in Rom zur Zeit der Kaiser Septimius Severus (193–211) und Caracalla (211-–217). Auch dieser Ausspruch ist nach der Suda berichtet. 914 tirocinium: Gemeint ist die deductio in forum mit der toga virilis nach Vollendung des 17. Lebensjahres (► Marquardt 1886, S. 123 mit Anm. 3), was die Fähigkeit zum ersten Soldatendienst, dem tirocinium, bedeutet. 915 Georgius Trapezuntius: Georgios Trapezuntios / Georg von Trapezunt, griechischer Humanist und Philosoph (geb 1395, Todesdatum umstritten), kam 1428 nach Italien, zeitweise päpstlicher Beamter, vertrat den Aristotelismus gegen den Platonismus, worauf Bessarion (► im folgenden) die Streitschrift In calumniatorem Platonis gegen ihn verfaßte (1454 griechisch, 1469 lateinisch erschienen), hatte Auseinandersetzungen mit verschiedenen Humanisten (► p. 397 zu Poggio). 916 arcula: ‚Kästchen‘, übertragen vom Redeschmuck. Archilochos (7. Jahrhundert) ist einer der frühesten Vertreter der Jambik, zu Zoilos ► p. 395. 917 D. h. einzig würdig, verbrannt zu werden. 918 Basileios Bessarion (ca. 1403–1472), byzantinischer Theologe, Humanist, 1439 Kardinal, 1463 lateinischer Patriarch von Konstantinopel.
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gegen die Vernunft der Sophist Antiochos913 unter Lachen über ihn gesagt hat: „Hermogenes, unter den Knaben ein Greis, unter den Greisen ein Knabe.“ Wie wäre es für ihn nicht erfreulicher gewesen, direkt am Tag des Tirociniums914 freilich nicht von Freunden zum Forum, sondern von Flötenspielern und Klageweibern zum Scheiterhaufen geführt zu werden! In der Tat hätte einer von den Verwandten die Rednerbühne bestiegen und allen, die von seiner Begabung nur das Höchste erwarteten, Tränen hervorstürzen lassen – während er, schon ein Greis, ohne die Tränen der Seinen begraben wurde und niemand Schmerz empfand, daß er, der weder sich noch anderen hinlänglich zur Verfügung stand, entrissen worden ist. Welch große Hilfe einst die griechische Wissenschaft bei Georg von Trapezunt915 gehabt hat, darüber kann niemand, wenn er nicht der Humanität und dem guten Verstand gleichermaßen fernsteht, in Unwissenheit sein. Dieser hätte das Los der Sterblichen übertroffen zu haben scheinen können und unter allen aus Griechenland Verbannten der Glücklichste zu sein, wenn er in der Liebe zu Aristoteles Maß zu halten gewußt hätte. Da er glaubte, diesem nicht genugtun zu können, wenn er nicht dessen eigenem Lehrer Platon fluche, schrieb er – unter Ausleerung der Farbenkästen des Archilochos und Zoilos916 – ein abscheuliches und einzig des Vulkans würdiges917 Buch. Aber nicht ungestraft: Denn nicht nur Kardinal Bessarion,918 einem Mann von einem sehr gründlichen Urteil, zahlte er Buße, der diesen Übermut bei Trapezuntius mit einer ausgeklügelten919 Schrift ernsthaft strafte, sondern galt allen als Beweis dafür, daß die von Gott zugestandenen Gaben nicht zu anderer Verderben, sondern Vorteil und Nutzen anzuwenden sind. Denn was Orbilius geschah, widerfuhr auch ihm; ja, von Gott mit dem Verlust der Weisheit und [463] Gelehrsamkeit gestraft, durchkroch er, als ob er von der Gens Menenia920 abstamme, die Stadt, müde auftretend und nur mühevoll die erschöpften Hüften mit dem Stock, der die Rechte unterstützte, aufrechterhaltend. Mit Trapezuntius ist Francesco Barbaro921 zu verbinden, ein Blutsverwandter jenes Ermolao,922 der mit größtem Recht, obwohl mit Namen Barbarus, seit langem der
919 exasciatus: ‚mit der Axt behauen‘, eine Konjektur von Acidalius zu Plaut. As. 360, die Schoock in seiner Plautus-Ausgabe (oder Quelle) fand; die Stelle ist verderbt überliefert. 920 ex Menenia gente: ► p. 436. 921 Franciscus Barbarus: Francesco Barbaro, venezianischer Humanist und Staatsmann (ca. 1395–1454), 1452 Prokurator von San Marco. Die Schrift De re uxoria (1536) überwindet die mittelalterliche Eheauffassung und betont die staatspolitische Bedeutung von Ehe und Familie. Über die Einschränkung im Alter teilt Jöcher Bd. 1 (1750), Sp. 769 mit: „Er war ein ungemeiner Redner, blieb aber in einer Rede an Herzog Philipp von Mayland, nach öffterer Wiederholung der Worte: magnum est nomen tuum princeps maxime in universa terra, stecken, und konnte nichts weiter sagen.“ 922 Hermolaus Barbarus / Ermolao Barbaro: ► p. 458.
238 B. Original und Übersetzung jam olim audivit; hic Græcas literas, quas prius ut digitos callebat, in extrema senecta plane oblitus fuit; sic ut nesciret illius linguæ elementa, ob cujus perfectam cognitionem, integra adhuc ætate, per totam Italiam colebatur. Quam bene actum fuisset cum Andrea Siculo, cognomento Barbatia, si florente ætate vivere desijsset? tum enim ad ejus domum, haut secus atque quondam ad Scævolæ do- 5 mum, aut verius, velut ad Delphici vatis cortinam, consilij ergo, omnis ordinis homines convolabant, ejusque responsa, haut aliter, atque si e tripode prodijssent, æstimabantur. At cum Bononiæ docendi gratia cathedram conscendisset, sub ipsa professionis auspicia, deliri senis cognomentum ab auditoribus suis accepit; quod vellicando & traducendo quoscunque Triboniani apices, nihil distare videretur ab 10 ijs, qui aut floccos evellunt, aut Anticyras cum tribus porcellis ablegari solent. Quid de Baldo quoque existimabimus, de quo Iason, & ipse summus Iurisconsultus, dicere solet, eum nihil ignorasse? Fides numinum! quam non distant ea quæ senex scripsit, ab ijs, quæ stata ætate elucubravit! Quod [464] senibus ut plurimum accidere solet, ei contigit. Destitutus fuit à memoria, atque à judicio, quod in eo, 15 florente ætate, erectum, atque alacre ab omnibus, quibus emunctior nasus erat,
13 numinum!] 1649 Ausrufezeichen. 1650 kein Satzzeichen.
923 Hercules war nach dem Mythos überragender Besieger der Untiere und Untäter. 924 ut digitos callebat: redensartl., wie Iuv. 7, 231–232 ut […] auctores noverit omnes | tamquam ungues digitosque suos. Otto 1890, S. 115: „so gut, wie sich selbst“. 925 Andreas Siculus: Andrea Barbatia / Barbazza, italienischer Jurist aus Messina (ca. 1399–ca. 1480), lehrte in Siena, in Ferrara und ab 1444 in Bologna, wo er neben dem Unterricht an der Universität eine reiche Anwaltstätigkeit (‹avvocatura›) entfaltete (► Filippo Liotta in: Dizionario Biografico degli Italiani 6, 1964, der auch erwähnt, daß er sowohl in Siena als auch in Ferrara wegen Unregelmäßigkeiten öffentlich = in effigie verspottet wurde). Genaueres bei von Schulte 1877, S. 308–309: „Als Hauptfehler des Andreas werden uns geschildert einmal seine Art, auf seinen Ruf sich stützend, die gewöhnlichsten und ausgemachten Sätze zu bestreiten, weshalb man von ihm zu sagen pflegte, er delirire.“ Dazu ein Zitat in der Anmerkung: „Saepe […] deliravit, credens se ea via immortalem fore ad instar Neronis, qui secundum historias desiderio immortalitatis insaniens Romam crudeli incendio subjicere non erubuit, ut aliqua nefanda facinora nominis sui ad posteros transcenderent“. Zurückgewiesen wird die erwähnte Strafe in effigie, „der Herzog Borso von Ferrara habe ihn wegen Treulosigkeit abmalen lassen mit einem Fusse am Galgen hängend, dies Bild habe dann 15 Jahre in Ferrara gehangen, bis Andreas auf des Herzogs Bitten ein günstiges Gutachten gemacht habe“ (Literaturangaben daselbst). 926 Scaevola: Wohl der p. 473 (► dort) genannte Quintus Mucius Scaevola gemeint. Zum Vorgang ► Cic. Brut. 98, wo es über Publius Licinius Crassus Dives Mucianus (Konsul 131, † 130) heißt: d o m i ius civile cognoverat.
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Hercules923 der Barbarei hieß. Der vergaß die griechischen Schriften, die er früher wie seine Finger kannte,924 im äußersten Alter völlig – so, daß er die Anfangsgründe dieser Sprache nicht mehr verstand, wegen deren perfekter Kenntnis er, im noch ungeschwächten Alter, in ganz Italien verehrt wurde. Wie gut wäre es mit Andrea Siculo, mit Familiennamen Barbatia,925 geschehen, wenn er im blühenden Alter aufgehört hätte zu leben? Damals nämlich strömten zu seinem Haus – nicht anders als einst zu Scaevolas Haus926 oder wahrer: wie zum Dreifuß des Delphischen Sehers – wegen (s)eines Rates Menschen jeden Standes; und seine Antworten wurden nicht anders geschätzt, als wenn sie aus dem Dreifuß hervorgekommen wären. Aber als er in Bologna den Lehrstuhl bestiegen hatte, um Vorlesungen zu halten, erhielt er gleich bei den Anfängen der öffentlichen Lehre von seinen Hörern den Beinamen ‚der irre Greis‘, weil er, alle möglichen Subtilitäten927 des Tribonian928 anfechtend und verspottend, in nichts von jenen verschieden zu sein schien, die entweder Fasern sammeln oder sich Nieswurz mit drei Ferkeln auf die Seite zu schaffen pflegen.929 Was werden wir auch über Baldo930 denken, über den Jason,931 auch selbst ein sehr hoher Rechtsgelehrter, zu sagen pflegte, daß er alles wisse? Gute Götter!932 Wie unterscheidet sich nicht das, was er als Greis schrieb, von dem, was er im beständigen Alter ausgearbeitet hat! Was [464] den Alten meistens zuteil zu werden pflegt, geschah ihm. Verlassen wurde er vom Gedächtnis und vom Urteil, das bei ihm, im blühenden Alter munter und lebendig, von allen, die aufgeweckter933 waren, wahrgenommen worden war. Mit
927 apices: ‚Spitzen‘, übertr. ‚Subtilitäten‘ (Kirschius 1774, Sp. 205: de apicibus iuris disputare: ‚von den Subtilitäten des Rechts‘). 928 Tribonianus: ► p. 384 und 420–421. 929 Kombination mehrerer Redewendungen. 1. floccos legere: ‚Fasern sammeln‘ (Aufnahme von Celsus De medicina 2, 6, 6, der es zu den indicia mortis rechnet, si manibus quis in febre et acuto morbo vel insania pulmonisve dolore vel capitis in veste fl o c c o s l e g i t fimbriasve deducit: „gefährlich krank seyn: weil diejenigen, die in Todesnöthen liegen, mit den Fingern auf dem Deckbette herum greiffen, und zupffen, als wenn sie die Fäschen sammlen wollten“, wie Kirschius 1774, Sp. 1213 die Stelle paraphrasiert). 2. Anticyra(e): bildlich für die heilende Nieswurz (► p. 422). 3. cum tribus porcellis: Man opferte Ferkel, um Heilung gegen Verrücktheit zu erlangen (► Otto 1890, S. 284), ► auch p. 465 die Verbindung von Nieswurz und Ferkeln. Zu ablegare ► Kirschius 1774, Sp. 11: ‚wegschicken, auf die Seite schaffen.‘ 930 Baldus: ► p. 422. 931 Iason: Jason de Mayno, italienischer Jurist (1435–1519), lehrte in Pavia, Padua und Pisa. 932 Fides numinum: klass. im Akkusativ: di vostram fidem: Pl. Capt. 418; Ter. Andr. 716 (John Barsby: ‘Heaven help us!’); vollständig: Cist. 663 di, obsecro vostram fidem. Kirschius 1774, Sp. 1196: ‚Fidem Numinum, i. q. Bone Deus‘. 933 emunctior nasus: Das Bild wurde von Horaz vermittelt (Sat. 1, 4, 8 emunctae naris, von Lucilius gesagt); eine geschneuzte Nase kann besonders gut ‚wittern‘, z. B. Schwächen anderer Personen.
240 B. Original und Übersetzung notatum fuit. Baldo jungo Philippum Decium I. C. consummatissimum, dignissimum præceptore Iasone discipulum. Quantus ille non fuit, vixdum viris asscriptus? A primis annis tanta ingenij vis in eo effulsit, ut disputando, sæpissime dubios ipsos præceptores redderet: laureamque doctoralem anno altero supra vigesimum indeptus; mox jura profiteri cœpit, concurrente undiquaque albo & rubricæ 5 devota juventute. Is ipse tamen, postquam varijs jactatus esset casibus, atque ad sexaginta annos, rarissimo exemplo, leges è cathedra explicuisset, mente atque memoria minus constare cœpit, naufragiumque prius fecit vastæ illius eruditionis, tot per annos ad lucernam comparatæ, quam ad plures concederet. Cui non notum est Guilelmi Postelli, Philosophi atque Mathematici è prima cavea nomen? quam 10 non præclare cum eo actum fuisset, si aut in Oriente, quem peragravit, sedes fixisset, aut, editis primis ingenij ad omnia summa facti periculis, ex hoc vitæ theatro se subduxisset? In quo, dum moram trahit, existimationem pariter atque eruditionem contrivit: captus siquidem Venetijs amore vetulæ virginis, somniare cœpit, sequiori sexui deberi proprium redemptorem, eumque salutem exspecta- 15 [465]re jussit ab hac, quam passus canusque jam senex, & bulla quam nuptialibus facibus dignior, inauspicatò amare cœperat. Simul, quod quis rideat, sese, veluti
934 Philippus Decius: Filippo Decio, italienischer Jurist (1454–1535), 1475 Doktor des Kanonischen Rechts in Pisa, 1476 dort Professor. Obwohl er ein umfangreiches Werk veröffentlichte, erschien vor 1521, also etwa 15 Jahre vor dem Tod, sein letztes Opus (► Ernst Holthöfer in Stolleis 1995, S. 167). 935 viris asscriptus: ► p. 454. 936 albo & rubricæ devota juventute: Formelhaft wie Quint. Inst. 12, 3, 11 alii se ad album ac rubricas transtulerunt (Rahn 1988: „gingen die einen über zum Formularbuch des Prätors und den Gesetzesparagraphen“). 937 ad plures: ► p. 449. 938 Guilelmus Postellus: Guillaume Postel, französischer Universalgelehrter, Humanist, Philosoph, Astronom, Arabist (1510–1581), nach Lehrtätigkeit in Paris und ausgedehnten Reisen im Orient gegen Ende des Lebens dement. Hier fungiert er offenbar als Theologe; dafür dürften die Kenntnis der semitischen Sprachen, die zeitweilige Zugehörigkeit zu den Jesuiten und das Werk De orbis terrae concordia (Basel 1544), in dem die Gemeinsamkeiten der Weltreligionen eine Rolle spielen, Anlaß gegeben haben. Das verdrehte Geschehen wird von Bouwsma 1957, S. 17 zusammengefaßt (mit Nachweisen): "Shortly after Christmas of 1551, there occurred to him an extraordinary experience, which Postel interpreted as supernatural and which left its mark on all the rest of his career. He believed that the holy woman whom he had known in Venice, his ‘Mere Jehanne’ [Mater Johanna, Zus. Lef.], who had died during his expedition to the Near East, came back to him and took possession of him. In his own words, ‘Her spiritual body and substance sensibly descended into me and sensibly extended throughout my body, so that it is [now] she and not I who lives in me.’ He had been reborn, as the Shekinah, the Holy Spirit, had taken possession of him at a particular moment in time. He was now regenerated in both body and soul and finally prepared to fulfill the great mission towards which all his experiences, his vast knowledge, and his religious insights had been leading him.” 1555 publizierte Postel sogar sein Erlebnis mit der Virgo: Le prime
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Baldo verbinde ich den so vollendeten Rechtsgelehrten Filippo Decio,934 den seines Lehrers Jason würdigsten Schüler. Wie bedeutend war er nicht, kaum den Männern beigeschrieben?935 Von den ersten Jahren an leuchtete eine so große Geisteskraft in ihm, daß er die Lehrer im Disputieren sehr oft unsicher machte; und nachdem er den Doktorgrad im zweiundzwanzigsten Lebensjahr erlangt hatte, begann er bald darauf, Jura zu lehren, während von allen Seiten die Recht und Gesetz936 ergebene Jugend zusammenströmte. Doch gerade der fing an, nachdem er durch verschiedene Unfälle geplagt worden war und an die sechzig Jahre in sehr seltener beispielhafter Weise die Gesetze vom Katheder aus erklärt hatte, in Geist und Gedächtnis weniger standfest zu sein, und erlitt eher Schiffbruch jener ungeheuren durch so viele Jahre hin bei der (nächtlichen) Lampe erarbeiteten Gelehrsamkeit, als er starb.937 Wem ist nicht der Name Guillaume Postel,938 des Philosophen und Astronomen von erstem Rang, bekannt?939 Wie wäre es nicht in vortrefflicher Weise mit ihm vorbei gewesen, wenn er sich entweder im Orient, den er durchreiste, niedergelassen hätte oder sich nach Ablegen der ersten Proben seines zu allen großen Dingen geschaffenen Geistes aus diesem Theater des Lebens still entfernt hätte? Während er dabei zögerte, machte er zugleich sein Ansehen und seine Gelehrsamkeit zuschanden; denn in Venedig, durch die Liebe zu einer ältlichen940 Jungfrau gefangen, begann er sich einzubilden, dem schwächeren Geschlecht941 werde ein eigener Erlöser verdankt, und der ließ ihn Heil [465] von derjenigen erwarten, die er – schon ein ausgetrockneter und weißhaariger Greis942 und der Bulla943 würdiger als der Hochzeitsfackeln – nicht unter guten Vorzeichen944 zu lieben begann. Zugleich bildete er sich ein, worüber man lachen
nove del altro mondo, cioè, l’admirabile historia & non meno necessaria & utile da esser letta & intesa da ogni uno, che stupenda intitulata L a Ve r g i n e Ve n e t i a n a (Sperrung ad hoc). Es war konsequent, daß er in Venedig wegen Häresie angeklagt wurde. “The judges, recognizing his sincerity, and influenced no doubt by his scholarly eminence and his old Jesuit connections, pronounced him not heretical, but mad” (Bowsma 1957, S. 22). 939 Die folgende groteske Geschichte ist brillant erzählt und ausgefeilt durch Anspielungen auf seltene Wendungen der römischen Literatur sowie auf den Medea / Pelias-Mythos (Wiedergeburt!). 940 vetula: ► ‚Vettel‘. 941 sequior sexus: das schwächere = weibliche Geschlecht (Apul. Met. 7, 8, 1; 10, 23, 3), hier die vetula. 942 passus […] senex: Nach Lucilius Fr. 557 Marx / 560 Krenkel passique senes (Krenkel: ‚vertrocknete Greise‘). 943 bulla […] dignior: Nach Iuv. 13, 33 bulla dignissime‚ ‚d. h. höchst kindisch‘ (Friedlaender 1895, S. 527). Die bulla, eine goldnene Kapsel, in welcher ein Amulett eingeschlossen war, trugen die Knaben bis zur Annahme der toga virilis (mit Vollendung des 17. Lebensjahres) um den Hals (Marquardt 1886, S. 84). 944 inauspicatò: ‚ohne die richtigen Auspizien‘, wie Cic. De div. 1, 33.
242 B. Original und Übersetzung quem Peliam, ab hac Medea recoctum finxit, tinctisque canis, & fuco obductis rugarum sulcis, juvenem mentiri instituit, ut impetrato tunicati popelli applausu, fidem astrueret inanissimis nugis, quas in sinu suæ Sibyllæ collectas, ipsi eruditorum reip. serio propinare laborabat. Adeo vero pertinaciter his somnijs hominum ineptissimus adhæsit, ut nullis neque admonitionibus, neque increpationibus ea expugnari passus fuerit; debueritque frustra in subsidium vocatis medicis, in Sammartinianum monasterium ablegari, quo orbi ante diem subduceretur, infamiaque, quam homo stultissimus omnibus doctis inurebat, fuco sanctimoniæ palliaretur. Durum quidem est, cum magno in beatis jam reip. literariæ dictatore, vice solaminis, inter familiaria amicorum alloquia jactare illud, Fuimus Troes; eosque, qui longo tempore in primis eruditorum subsellijs sederunt, non solum ad popularia ablegari, sed ad ipsas Oblivionis insulas, Lethæo amni conterminas: longe tamen durius viris, qui ab eruditione commendationem impetrare meruerunt, vitam eo usque (Dei tremenda judicia quis non suspiciat!) prorogari, ut in turba alij, voveant Medicos, qui mediam venam pertundant; alij, expertum nauclerum, qui vada circa Anticyras norit; alij, denique suibus fœcunditatem, quo porcelli sufficiant, qui placi[466]dis & æquis Laribus offerantur. Non uni autem Democrito, ad quem sanandum Hippocrates Medicinæ parens accersitus ab Abderitanis fuit, hoc contigit, sed, plurimis alijs. Quantus non fuit Empedocles? dictus est Physicus, quod omnium mysteriorum naturæ consultissimus esset; is ipse tamen furore
11 1649 sederunt. 1650 federunt.
945 Pelias, König von Thessalien, der Jason zum Raub des Goldenen Vlieses geschickt hatte, wurde auf den Rat Medeas (Jasons Frau) zwecks angeblicher Verjüngung von den eigenen Töchtern zerstückelt und gekocht. Schoock pointiert den gräßlichen Mythos in witziger Weise. 946 tunicatus popellus: Hor. Epist. 1, 7, 65, ► p. 377. 947 Treffende Übersetzung von colligere bei Kirschius 1774, Sp. 590. 948 Die Gespräche haben tröstenden Charakter wie Hor. Epod. 13, 18 deformis aegrimoniae dulcibus alloquiis (Kießling, Heinze 1930‚ S. 540: „adloquium begegnet uns wohl zufällig hier zuerst; auch Livius (IX 6, 8) braucht es bereits für ‚Zuspruch, Trost‘.“ 949 Der Ausruf des Priesters Panthus beim Anblick des brennenden Troja bei Vergil, Aen. 2, 325 fuimus Troes („Trojaner sind wir g e w e s e n !“) wurde sprichwörtlich im Sinn von ‚Es ist aus‘, ‚es ist vorbei!‘ 950 subsellia: ► p. 378. 951 ad popularia: d. h., zu Dingen / Beschäftigungen, die für gewöhnliche Leute, nicht für Gelehrte charakteristisch sind. 952 Nach der antiken Mythologie vergessen die Seelen der Abgeschiedenen beim Durchqueren des Lethaeus amnis, des Stroms des Vergessens in der Unterwelt, das Irdische und gelangen, wenn sie sich bewährt haben, zu der Insel / den Inseln der Seligen. Hier wird darauf angespielt, daß die Bewohner dieser Inseln ihr früheres Leben vergessen haben.
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mag, er sei wie ein Pelias945 von dieser Medea wieder junggekocht worden, und beschloß, nach Überdeckung der Furchen seiner Falten mit Schminke einen Jüngling vorzustellen, damit er nach Erzielen des Applauses des einfachen Volkes946 Vertrauen für seine so nutzlosen Lappalien schaffe, die er im Schoß seiner Sibylle zuwege brachte947 und direkt der Gelehrtenrepublik vorzusetzen sich ernsthaft bemühte. Derart hartnäckig hing aber der Läppischste der Menschen diesen Hirngespinsten an, daß er weder auf Ermahnungen noch auf Scheltreden hin litt, daß sie ihm ausgetrieben werden, und, nachdem vergebens Ärzte zu Hilfe gerufen worden waren, in ein Samariterkloster abgeschoben werden mußte, wodurch er der Welt vorzeitig entzogen und die Schande, die der so törichte Mensch allen Gelehrten zufügte, durch den Schein eines gottgefälligen Wandels verborgen wurde. Hart ist es unstreitig, im Verlauf vertrauter Gespräche948 der Freunde mit einem schon großen Herrscher unter den Glückseligen der Respublica litteraria jenes ‚Wir sind Troer gewesen‘949 hinzuwerfen – und daß die, die lange Zeit in den ersten Kreisen der Gelehrten950 gewesen sind, nicht nur zu gewöhnlichen Dingen,951 sondern direkt zu den Inseln des Vergessens, die an den Lethestrom grenzen,952 abgeordnet werden. Doch bei weitem härter ist es, daß Männern, die aufgrund ihrer Gelehrsamkeit verdient haben, Anerkennung953 zu erlangen, das Leben so weit (wer sähe nicht, daß Gottes Urteile furchtbar sind!) verlängert wird, daß bei ihrer Verwirrung die einen Ärzte wünschen, welche eine Ader mittendurch trennen, die anderen einen erfahrenen Schiffspatron, der die Gewässer um Antikyra kennt,954 andere schließlich Fruchtbarkeit für die Säue, damit Ferkel zur Verfügung stehen,955 die den milden [466] und gerechten Laren956 dargebracht werden. Nicht aber Demokrit957 allein wurde das zuteil, zu dessen Heilung Hippokrates, der Vater der Medizin, von den Abderiten herbeigeholt wurde, sondern sehr vielen anderen. Wie groß war nicht Empedokles?958 Er wurde Physicus (Naturphilosoph) genannt, weil er der größte Kenner aller Geheimnisse der Natur 953 commendatio: ‘esteem’, ‘approval’ (OLD). 954 Gemeint, der Schiffer kenne sich in den Gewässern von Antikyra aus und bringe von dort Nieswurz (zur Heilung des Wahnsinns) herbei. ► p. 436. 955 ► p. 463 zur Verbindung von Nieswurz und Ferkeln. 956 Den Laren (Hausgöttern) wurden Ferkel dargebracht, damit sie, wie hier gesagt wird, milde und gerecht sind. 957 Democritus: ► p. 383. Das Corpus Hippocraticum enthält einen Briefroman von Hippokrates’ Begegnung mit Demokrit. In ihm bitten die Abderiten Hippokrates um Hilfe, weil Demokrit den Verstand verloren habe; er lache unablässig über alle menschlichen Beschäftigungen, behaupte, die Luft sei voller Abbilder und es gebe unzählige Demokrite außer ihm, usw. (► Jochen Althoff. In: HGL. Bd. 1 (2011), S. 298). 958 Empedocles: Empedokles von Agrigent, griechischer Philosoph, Vorsokratiker (ca. 490–ca. 430), soll sein Leben beendet haben, indem er sich in den Ätna stürzte (► Hölderlin, Der Tod des Empedokles).
244 B. Original und Übersetzung percitus, non quidem Ajacis exemplo in gladium incubuit, sed sese in Æthnam ardentem præcipitem dedit, eorumque spem, qui augustissima quæque ab ingenio illius ad philosophandum à natura facto exspectabant, jugulavit. Cleomenes Mathematicus quantivis pretij, quum præter rationem æmulus, idemque calumniator, ei violatam jurisjurandi fidem objecisset; aut, ut alij referunt cum apud Scythas largius, & vere Scythicum in modum, vino se irrigasset, in dementiam versus, sibi corpus gladiolo fodit, ac incidit à talis ad vitalia usque loca, ridensque vitam finivit. Cothurno hæc digna sunt. Quæ deinceps referam, quod ab atrabiliarijs, quorum insania solet esse lepida, designata fuerint, non tantum misericordiam provocare possunt, sed amplius quoque splenem titillare. Senecæ ævo orator non incelebris vixit nomine Senetio, cujus ingenium postquam melancholia confundere atque turbare cœpit, non nisi grandia dicere voluit, adeo ut rei illius morbo non solum teneretur, sed amplius rideretur. Nam & servos nolebat habere nisi grandes, & argentea vasa non nisi grandia. Imo, [467] (nisi forte cum eo & posteritate jocari voluerit Seneca) eo pervenit insania ejus, ut calceos quoque majores sumeret, & ficus non esset nisi mariscas. Concubinam ingentis staturæ habebat, omnia probabat grandia. Inde impositum est ei cognomentum, & vocari cœpit Senetio grandis. Non possum quin Senetioni huic jungam Thrasillum, domo Atheniensem; nam & Philosophis diu operam dedit, atque a familiari hoc morbo subactus, non minus ridiculum se præbuit, atque alter ille. Quod abaco & pulveri solitus fuisset asside-
959 Ajax: Der Telamonier Aias stürzte sich vor Troja in das eigene Schwert, weil die Waffen des gefallenen Achilleus nicht ihm, sondern Odysseus zugesprochen wurden (► Sophokles’ Aias). 960 Hier liegt offenbar eine Verwechslung bzw. Kontamination vor. 1. Cleomenes Mathematicus: Es ist wohl der Schulschriftsteller Kleomedes gemeint, der ein astronomisches Lehrbuch in 2 B. verfaßte (etwa 1. Jahrhundert v. / 1. Jahrhundert n. Chr.), ► Wolfgang Hübner. In: DNP. Bd. 6 (1999), Sp. 578–579. Als Mathematicus (Astronom) wird er wie vorher der Physicus Empedokles zu den Philosophen gerechnet. 2. Kleomenes I., König der Spartaner etwa 525–488 (► Gerhard Dobesch. In: DKP 3 (1975), Sp. 241). Die Trunkenheitsgeschichte bei den Skythen erzählt Herodot 6, 84 (durch das Trinken ungemischten Weins sei er wahnsinnig geworden, ἐκ τούτου μανῆναι), den Selbstmord im Wahnsinn 6, 75 (μανίη νοῦσος), beides in leicht abweichender Weise. 961 irrigasset: wörtl. ‚gewässert‘, ‚befeuchtet‘. 962 Wohl redensartl., wörtl. ‚von den Würfeln auf den Friedhof‘ (vitalia loca gebildet wie vitalis lectus = ‚Totenbett‘, Petr. 42, 6), d. h., er starb beim Würfelspiel. 963 cothurnus: Stiefel der Tragödienschauspieler, steht metonym. für ‚Tragödie‘ (Hor. Ars 80), ► auch p. 476, 484 und S. 64 Anm. 175. 964 atrabiliarij: ‚Schwarzgallige‘ (Melancholiker), Begriff aus der antiken in der Neuzeit wiederaufgenommenen Säftelehre. Zu seiner Geschichte von der Antike bis Jakob Balde ► Burkard 2004, S. XLIII–LII. 965 D. h., Lachen hervorrufen. Nach Ansicht der antiken Medizin rührt das Lachen von der Milz her (Kißel 1990, S. 128). ► Balde, Sol. Pod. 2, 51, 6 (dazu: Lefèvre 2020, S. 424 Anm. 399). 966 Quelle der folgenden Geschichte ist Seneca Rhetor (► p. 424), Suas. 2, 17, wo der Name
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war; doch gerade er wurde vom Wahnsinn ergriffen und stürzte sich zwar nicht nach dem Beispiel des Ajax959 in das Schwert, sondern sprang kopfüber in den brennenden Ätna und würgte die Hoffnung derer ab, die die erhabensten Dinge von seinem von der Natur für das Philosophieren geschaffenen Geist erwarteten. Der Mathematiker Kleomenes960 von noch so großem Ansehen verlor, als ein Konkurrent und zugleich Verleumder ihm wider die Ordnung eine Eidverletzung vorgeworfen hatte oder, wie andere berichten, als er sich bei den Skythen ausgiebiger und auf wahrhaft skythische Weise mit Wein angefüllt961 hatte, den Verstand und durchbohrte sich den Körper mit dem Schwert und stürzte vom Würfelspiel direkt ins Grab962 und beendete lachend sein Leben. Diese Dinge sind einer Tragödie963 würdig. Was ich danach referieren werde, kann, weil es von Schwarzgalligen,964 deren unsinniges Betragen zur Heiterkeit stimmend zu sein pflegt, angestellt worden ist, nicht nur Mitleid hervorrufen, sondern mehr noch auch die Milz kitzeln.965 Zur Zeit Senecas lebte ein nicht unberühmter Redner mit Namen Senetio;966 nachdem dessen Verstand Melancholie zu stören und zu verwirren begann, wollte er nur Großgeartetes vorbringen – so sehr, daß er nicht allein von der Krankheit dieses Umstandes in Besitz genommen, sondern mehr noch verlacht wurde. Denn er wollte nur große Diener haben und nur große silberne Gefäße. Ja [467] (wenn nicht vielleicht Seneca mit ihm und der Nachwelt sein Spiel treiben wollte), dessen Tollheit ging so weit, daß er auch größere Schuhe anzog und nur größere Feigen aß. Er hatte eine Konkubine von einer gewaltigen Figur, alles Große hieß er gut. Daher wurde ihm ein Beiname gegeben, und er begann, Senetio der Große zu heißen. Ich kann nicht umhin, mit diesem Senetio Thrasyllos,967 von Haus Athener, zu verbinden; denn er beschäftigte sich lange sogar mit den Philosophen und führte sich, von folgender zu derselben Familie gehörigen Leidenschaft mitgenommen, nicht weniger lächerlich auf als jener andere: Weil er gewohnt gewesen war, bei Tischplatte und Staub zu sitzen,968 unternahm er es, die GeschäfSeneca lautet (► die Edition von Adolf Kießling 1872, die die Konjektur Seneca Grandio bietet). Schoock folgt mit Senetio einer verbreiteten Lesart der Zeit. Der Deklamator ist nur aus diesem Text bekannt (zu ihm ► Christiane Walde. In: DNP. Bd. 11 (2001), Sp. 419). Er paradiert hier unter den antiken Philosophen / Astronomen Demokrit, Empedokles, Kleomedes und Thrasyllos. 967 Thrasillus: Thrasyllos, mittelplatonischer Philosoph und Astrologe unter Tiberius († 36). Die Anekdote ist bei Aelian überliefert: Ποικίλη ἱστορία 4, 25. Sie wurde immer wieder nacherzählt, so von Wieland in seinen Erläuterungen zu Hor. Epist. 2, 2, 140 mentis gratissimus error. Thrasyllus ist ein ‚Exempel närrischer Einbildung‘ bei Scriver 1867, S. 200: „In Athen ist einer gewesen, Thrasyllus Aeroneus benamt, der sich eingebildet, alle Schiffe, die im Hafen der Stadt anlandeten und ausfuhren, wären sein, darum er auch sein Register darüber gehalten und bei ihrer Abreise ihrethalben sich bekümmert, bei ihrer glücklichen Wiederkunft aber sich übermaßen gefreut.“ 968 Typische Tätigkeit eines Mathematikers und Astronomen (die zu den Philosophen gerechnet werden, ► zu Cleomenes p. 466). pulvis in diesem Zusammenhang bei Archimedes: Surd. enc. p. 620 (► Lefèvre 2021, 133 Anm. 466).
246 B. Original und Übersetzung re, rationes mercatorum subducere instituit, omnesque naves, quæ aut in portum appellebantur, aut ex eo solvebant, observare, earumque exercitores consulere de itineris atque mercaturæ ratione: si quis lucrum loqueretur, ipse gaudere atque Herculi decimas vovere; contra ad Mercurium pronas manus tendere, & cum irato Neptuno expostulare, si quis aut damnum sensisset, aut naufragium fecisset. Duumviris his jungo Tulenum, qui superiori seculo jurisprudentiæ cognitione celebris, in Gallia vixit; is vergente ætate mente adeo moveri cœpit, ut risum omnibus deberet. Volebat enim videri Episcopus Cameracensis, serioque stomachabatur, si quis tanto præsuli debitum honorem denegaret: fingebat quoque magni Principis nobilissimam uxorem, multis annis ante compositam, suos amplexus desiderare, eaque, quæ secreto inter amantes fieri solent, quotidie inter [468] illam atque se observari. Insania hæc non minus leguleio huic jucunda fuit, quam alijs, quibuscum vivebat. Furori vero proxima extitit, atque ad mortem viam expeditam reddidit illa, quæ Baldum de Vbaldis Iurisconsultum consummatissimum, & de quo Iason dicere solet, quod nihil ignoraverit, corripuit. Cum versatus enim in professione fuisset annos quinquaginta sex, catellus, quo cum ludere solebat, leviter superius ejus labrum morsu perfricuit, unde subitaneo, correptus furore; similisque ijs, quos hydrophobia invasit, ab amicis submoveri debuit, ne ipse miser plures in profundum miseriarum pertraheret. Bonum factum autem, quod furor hic tum brevis, tum læthalis fuerit juris doctori incomparabili. Mors scil. furoris æmula, triumphum, quem de viro tanto jam meditabatur, impedijt, eripiendoque eum viventibus, non est passa existimationem Iurisprudentiæ delibari. Cui non notum est Torquati Tassi, poëtæ Etrusci, sine exemplo maximi nomen? Summum ejus ingenium non tantum admisit per intervalla quam dementiæ mixturam, sed,
969 decimas: sc. partes. 970 D. h., zu bitten. Merkur ist (auch) Gott des Handels. 971 duumviri: ► S. 30. 972 Tulenus: Joannes Tulenus, französischer Jurist (16. Jahrhundert). Jöcher Bd. 4 (1751), Sp. 1353 zeichnet folgendes passende Porträt: „ein Frantzos im 16 Seculo, war des Cardinals und Admirals von Chatillon Präzeptor gewest, gerieth aber nachgehends in eine Verrückung der Sinne, und hatte offt wunderliche Grillen. Denn manchmal bildete er sich ein, er wäre Bischoff von Cambray, und zu anderer Zeit war er über alle massen verliebt in eine Printzeßin, welche schon vorlängst gestorben. Wenn er aber bey sich selber war, wurde er wegen seiner feinen Gedancken und klugen Reden von iedermann bewundert.“ Zu der Schwierigkeit, Tulenus zu identifizieren, ► De Smet 2006, S. 150 Anm. 10. 973 leguleius: Nach Cic. De orat. 1, 236 und Quint. Inst. 12, 3, 11 (Rahn 1988: ‚Gesetzes-Paragraphenreiter‘) leicht negativ. Kirschius 1774, Sp. 1638: ‚Zungendrescher‘; hier ‚Rechtsverdreher‘ / ‚Tatsachenverfälscher‘. 974 Baldus: ► p. 422. 975 Iason: Giasone del Maino, italienischer Jurist (1435–1519), lehrte an den Universitäten Pavia und Padua, zur Schule der Kommentatoren gehörig.
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te der Händler zu berechnen und alle Schiffe, die entweder im Hafen landeten oder aus ihm ablegten, zu beobachten und deren Kapitäne über die Art der Reise und des Handels zu befragen – wenn einer von Gewinn sprach, sich selbst zu freuen und Hercules den Zehnten969 zu geloben, dagegen zu Merkur die Hände nach vorne auszustrecken970 und den erzürnten Neptun zur Rede zu stellen, wenn einer entweder Verlust gemacht oder Schiffbruch erlitten hatte. Mit diesem Zweigespann971 verbinde ich Tulenus,972 der, im vorigen Jahrhundert durch die Kenntnis der Rechtswissenschaft berühmt, in Frankreich gelebt hat; der begann, als sich das Alter neigte, so sehr mit dem Verstand zu schwanken, daß er bei allen Lachen verschuldete. Er wollte nämlich als der Bischof von Cambray erscheinen und ärgerte sich ernstlich, wenn einer dem so großen Vorgesetzten die geschuldete Ehre verweigerte; er bildete sich auch ein, daß die sehr vornehme Gattin des Fürsten, die vor vielen Jahren begraben worden war, seine Umarmungen verlange und daß auf das, was zwischen Liebenden unter vier Augen zu geschehen pflegt, täglich zwischen [468] ihr und ihm geachtet werde. Diese Tollheit war diesem Rechtsverdreher973 nicht weniger angenehm als den anderen, mit denen er lebte. Das aber stand dem Wahnsinn am nächsten und bewirkte einen ungehinderten Weg zum Tod, was Baldo degli Ubaldi974 ergriffen hat, den Rechtsgelehrten von höchster Vollendung, über den Giasone975 zu erzählen pflegte, daß er alles wisse. Als er 56 Jahre im Beruf verbracht hatte,976 kratzte das Hündchen, mit dem er zu spielen pflegte, seine Oberlippe leicht mit den Zähnen,977 wodurch er, von plötzlicher Raserei befallen und denen gleich, die Wasserangst978 ergriffen hat,979 von den Freunden fortgeschafft werden mußte, damit er, der selbst elend war, nicht mehrere in den Abgrund des Elends ziehe. Doch war es ein gutes Geschehen, daß dieses Rasen einerseits kurz, andererseits tödlich für den unvergleichlichen Rechtsgelehrten war. Der Tod, der ja mit dem Wahnsinn wetteifert, hinderte den Triumph, auf welchen über den so großen Mann der Wahnsinn schon sann; und dadurch, daß er ihn den Lebenden entriß, duldete er nicht, daß das Ansehen der Rechtswissenschaft beeinträchtigt werde. Wem ist nicht Torquato Tassos,980 des toskanischen Dichters, beispiellos hochbedeutender Name bekannt? Dessen höchste Begabung ließ nicht nur in Intervallen eine Beimischung von Wahnsinn zu,
976 Baldo lehrte an den Universitäten Pisa, Perugia und Padua. 977 morsus: wörtl. ‚Biß‘, übertr. ‘teeth’ (OLD), wie Stat. Theb. 5, 169. Die Geschichte von der Übertragung der Tollwut wurde immer wieder erzählt, auch in moderner Zeit, z. B. in: Burckhardt 2014 (ohne Seitenzahl im Internet): „Vom eigenen Schoßhündchen gebissen, sollte er (wie sein Schoßhündchen selbst) an der Tollwut verenden.“ 978 Hydrophobie: Synonym für Tollwut. 979 D. h., die zu ertrinken drohen. 980 Zu Tassos Wahnsinn, der ihn sogar in Gefängnishaft brachte, ► Hardt 1996, S. 300.
248 B. Original und Übersetzung aliquando quoque à furore, non poëtico quidem, sed, eo, qui præter medici fomenta & scalpellum, commentariensis quoque catellas, efflagitat, per omnia subactum, & parum quin expugnatum fuit. Restitutus quidem fuit ex parte mentis sanitati medentium diligentia, nunquam tamen post tantas ingenio objectas offucias, Tassus in ipso Tasso, ab ami[469]cissimis quoque inveniri potuit: nec Apollinaris laurus, quam in urbium principe Roma accepit, carceris Ferrariensis pædorem fugavit. Sexcenta similia adferri possent: quod vero dolendum maxime, eruditi suo quasi jumento sæpe furorem, aut amentiam accersunt. Mascula illa Sappho, cujus poëmata non solum jam olim in veneratione fuerunt; sed, quam ipse quoque Plato non dubitat inter sapientes referre, tantum suo Phaoni tribuit, ejusque amorem tam profunde admisit, ut contra furorem, quo jam lymphari cœperat, præsidium à saxo Leucadio quæsiverit; à quo cum desilijsset, furori pariter atque vitæ finis impositus fuit. Cornelius Gallus, vir prætorius, idemque poëta cultissimus, cum amori modum statuere non posset, in partes veniente hippomane, furore non solum est correptus; sed, quod non distat ab infamia, amplius in venere obijt. Ignosci ex parte posset his duumviris, per amorem modi nescium ruentibus ad furoris lineas; alium vero surgere velim, qui adsit Augustino Nipho Philosophiæ Peripateticæ consultissimo viro: lubens fateor, nullum me colorem invenire, quo tum turpitudini, tum insaniæ ejusdem succurram. Quis adeo rerum imperitus, qui ignorat, quæ convitia seni amatori dici consueverint? Fugit Saturni amplexus Venus;
18 1650 nach viro: ac obiter jam antea notato (► Anm. z. St.).
981 Im Gegensatz zu dem Duft des Lorbeers. 982 D. h., auf ihrer Lebensfahrt. 983 mascula Sappho: Horazische Prägung: Epist. 1, 19, 28. Zur Bedeutung ► Fraenkel 1957, S. 346; Lefèvre 1993, S. 248 (mascula = ‚mannhaften Geistes‘). Später bildete sich die Sage von Sapphos Liebe zu dem Fährmann Phaon heraus (Menander, Leukadia; Ovid, Her. 15. Brief: Sappho an Phaon, in dem sie selbst den Sturz vom Leukadischen Felsen ankündigt). 984 „Phaidros 235c 3–4 Σαπφοῦς τῆς καλῆς ἢ Ἀνακρέοντος τοῦ σοφοῦ. In früheren Ausgaben, also im 17. Jahrhundert, las man Σαπφοῦς τῆς σοφῆς, weil sie in anderen biographischen Quellen als vom Äusseren hässlich beschrieben wird. Offenbar übernimmt man σοφῆς von Anakreon“ (Hinweis von Anton Bierl). 985 Cornelius Gallus (ca. 69–26) wurde im Jahr 30 Statthalter (Präfekt, nicht: Prätor) von Ägypten. Seine vier Bücher Elegien sind fast vollständig verloren. 986 hippomanes: wörtl. Brunstschleim der Stuten, übertr. Liebesrasen.
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sondern wurde zuweilen auch von Raserei, freilich nicht von der dichterischen, sondern von der, die außer den Besänftigungsmitteln und dem Messer eines Arztes auch die leichten Ketten eines Aufsehers erfordert, in allem gebeugt und beinahe besiegt. Zwar wurde seine geistige Gesundheit durch die Sorgfalt der Ärzte teilweise wiederhergestellt, niemals jedoch konnte Tasso, nachdem so große Verblendungen seinem Verstand widerfahren waren, in Tassos Person [469] auch von denen, die mit ihm am engsten befreundet waren, entdeckt werden: Und nicht hat der apollinische Lorbeer, den er in Rom, der Ersten der Städte, empfing, den Modergeruch981 des Kerkers in Ferrara vertrieben. Unendlich viele ähnliche Beispiele könnten beigebracht werden: Was aber am meisten schmerzlich zu bedauern ist: Die Gelehrten ziehen oft gleichsam auf ihrem Gespann982 Raserei oder Kopflosigkeit an. Jene männliche Sappho,983 deren Gedichte nicht allein schon ehedem verehrt wurden, sondern die unter die Weisen zu rechnen selbst auch Platon984 nicht zweifelt, hielt soviel auf ihren Phaon und ließ die Liebe zu ihm so tief (in sich) ein, daß sie gegen das Rasen, durch das sie schon den Verstand zu verlieren begann, Hilfe vom Leukadischen Felsen suchte; als sie von ihm hinuntergesprungen war, wurde ihrem Wahnsinn und ihrem Leben zugleich ein Ende gesetzt. Weil Cornelius Gallus,985 ein Mann von prätorischem Rang und zugleich ein sehr kultivierter Dichter, der Liebe kein Maß zu setzen vermochte, wurde er, als das Liebestoben986 seinen Anteil forderte, nicht allein von Raserei ergriffen, sondern ging mehr noch – was nicht von der Schande entfernt ist – in der Liebe zugrunde. Zum Teil könnte diesem aus maßloser Liebe bis an die Grenzen des Wahnsinns stürmenden Zweigespann987 verziehen werden; aber ich wünschte, daß ein anderer sich erhebe, der Agostino Nifo988 beisteht, dem in der peripatetischen Philosophie so kundigen Mann:989 Gern gestehe ich, daß ich keinen geeigneten Ton990 finde, mit dem ich einerseits der Schande, andererseits dem Wahnsinn desselben zu Hilfe kommen kann. Wer kennt so wenig das Leben, daß er nicht wüßte, welche Lästerworte einem verliebten Greis991 gesagt zu werden pflegen? Saturns Umarmungen flieht
987 duumviri: ► S. 30. 988 Augustinus Niphus: Agostino Nifo, italienischer Philosoph des Aristotelismus (ca. 1473–ca. 1538), lehrte an verschiedenen italienischen Universitäten, veröffentlichte 1531 das Werk De amore liber. Über seine Eskapaden weiß Jöcher Bd. 3 (1751), Sp. 956 zu berichten: „Es wird an ihm getadelt, daß er sich allzu sehr an das Frauenzimmer gehangen, gantze Nächte mit demselben gesungen, und noch im hohen Alter einem Frauenzimmer zu Gefallen getanzet habe, ohngeachtet er mit dem Podagra behafftet und lahm gewest“ (die weitere Lektüre daselbst wird empfohlen!). 989 Die Phrase ac obiter jam antea notato fehlt mit Recht in dem Druck von 1649, da Niphus noch nicht erwähnt wurde. p. 470 wird in beiden Drucken – im Grunde überflüssigerweise – zu Niphus gesagt: de quo jam dicere cœperam. 990 color: von der Rede: Farbe / Kolorit / Ton / Zuschnitt. 991 senex amator ist in der römischen Literatur eine bekannte Junktur für den Alten als Liebhaber.
250 B. Original und Übersetzung omnisque ætas in sinum suum despuit, si in senis gremio videat juvenculam, cum qua ut Parcarum præcipitantia fila solli[470]citat, ita silicernio voveret Hippocratis fortunam & artem, nisi destinato consilio furere voluisset. Illustre hujus rei documentum Niphus est, de quo jam dicere cœperam. Quam hoc enim ridiculum & pariter detestandum: Septuagenarium Philosophum, bulbisque saturum, neutiquam vero alacriorem, rixari quotidie cum uxore vetula, & adhærere puellæ: nec solum adhærere, sed impotenti quoque ejusdem amore ad insaniam, imo furorem usque, æstuare. Quo non deveniunt eruditi? Egregius ille Niphus, cujus adhuc hodie varia scripta lectu dignissima extant, podagræ, quæ pedibus quietem jam diu imperaverat, vim facere instituit, atque ad misericordiam amicorum, in trivijs, corollis cincto capite, ad tibiæ modulos choreas duxit. Qui estis jam ex eruditorum Senatu, qui annos dextra computare velletis! Mali quid semper serus vesper vehit: vos ipsos si non tangat, tanget propinquos, imo ut vos quoque tangat, propinqui, nec illi solum, sed uxor, atque liberi, operam dabunt. Quotiescunque in manus sumo summi viri Hieronymi Cardani vitam, ringor quod per mortem præcipitem conficere non potuerit ea scripta, quæ jam affecta habebat. Si vero calamitates sexcentas cogitem, quibuscum assiduo luctatus est, doleo equidem, quod non multis lustris ante invisæ luci subtractus fuerit. Quid æque enim durum accidere potest patri, quam si aut filium suum carnifici tradi videat, aut ipse vo[471]lens nolens ad decretorium stylum accedere compellatur? Vtrumque autem expertus fuit Cardanus: nam, major ejus filius, quod uxori propinasset quid, quod transire non poterat, captus, atque in carcere securi percussus fuit: minorem natu ob mores in-
3 1649 fomenta. 1650 fortunam & artem.
992 Es ist wohl an eine Konstellation der beiden Planeten gedacht, bei der es scheint, als fliehe Venus vor Saturn. In moderner Zeit deuten Winkelastrologen die Venus-Saturn-Konstellation (‚Venus-Saturn-Quadrat‘) als Zeichen für Schwierigkeiten in der Liebe. Wolfgang Hübner verweist darauf, daß verschiedene diesbezügliche Stellen in der Mathesis des römischen astrologischen Schriftstellers des vierten Jahrhunderts Firmicus Maternus (z. B. 6, 9, 11) im 17. Jahrhundert bekannt waren; ebenso weise Ps.Ptolemaeus Centiloquium (Karpos) 80 auf diese Konstellation hin (das damals in lateinischer Übersetzung sehr verbreitet war). 993 „Bei übermütigen und vermessenen Gedanken oder Worten pflegten sich die Alten, um den Zorn und Neid der Götter abzuwehren, in den Busen zu speien“, griech. εἰς κόλπον πτύειν, übertr. Petr. 74, 13; Iuv. 7, 112 (Otto 1890, S. 324). 994 D. h., wie er durch die körperliche Erregung die Gefahr eingeht, daß die Parzen seinen Lebensfaden abreißen. 995 D. h., jede Altersstufe (= Angehörige jeder Altersstufe). 996 silicernium: ‚Leichenschmaus‘, exquisite Anspielung auf Ter. Ad. 587, wo ein Alter so apostrophiert wird, dem man einen Leichenschmaus halten sollte – der kein Recht mehr hat zu leben (Georges); John Barsby: ‘skeleton’.
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Venus;992 und jede Altersstufe spuckt in ihren Gewandbausch aus,993 wenn sie im Schoß eines alten Mannes ein junges Mädchen sieht; sobald er mit diesem seine dem Ende zueilenden Fäden der Parzen beschleunigt,994 [470] wünschte sie995 unter solchen Umständen für den leichenhaften Alten996 Hippokrates’ Rang und Kunst997 (herbei), wenn er nicht mit fester Absicht hätte rasen wollen. Ein illustres warnendes Beispiel dieser Sachlage ist Niphus, über den ich (gerade) schon zu erzählen begann. Denn wie lachhaft und zugleich verabscheuenswert ist das, daß der siebzigjährige Philosoph, von Knoblauch gesättigt, keineswegs aber allzu munter, täglich mit der ältlichen Ehefrau streitet und einem Mädchen anhängt – nicht allein anhängt, sondern auch in zügelloser Liebe zu demselben bis zum Wahnsinn, ja bis zur Raserei glüht. Wohin geraten nicht die Gelehrten? Dieser hervorragende Nifo, von dem noch heute verschiedene Schriften existieren, die sehr würdig sind, gelesen zu werden, beschloß, dem Podagra, das schon lange den Füßen Ruhe auferlegt hatte, Gewalt anzutun, und führte zum Mitleid der Freunde an Straßenkreuzungen, das Haupt mit Kränzen umwunden, zu Flötenweisen Tänze auf. Wer seid ihr gerade aus dem Kreis998 der Gelehrten, die ihr die Jahre an der Rechten zu berechnen wünschtet!999 Irgendein Übel bringt immer der späte Abend: Wenn es euch nicht treffen sollte, wird es die Verwandten treffen, ja daß es auch euch treffe, darauf werden die Verwandten und nicht allein sie, sondern (auch) Frau und Kinder hinarbeiten. Sooft ich die Autobiographie des so großen Mannes Geronimo Cardano1000 in die Hände nehme, bin ich unwillig, daß er wegen seines plötzlichen Todes nicht die Schriften vollenden konnte, welche er schon in Angriff genommen hatte. Wenn ich vollends die unendlichen Unglücksfälle bedenken will, mit denen er beständig gekämpft hat, empfinde ich fürwahr Schmerz, daß er nicht schon viele Lustren früher dem neidischen Licht entzogen worden ist. Denn was ebenso Hartes kann einem Vater widerfahren, als wenn er entweder sieht, daß sein Sohn dem Henker übergeben wird, oder er selbst, ob er will [471] oder nicht, gezwungen wird, eine unwiderrufliche Entscheidung zu treffen?1001 Beides aber erlebte Cardano: Denn weil sein älterer Sohn der Ehefrau etwas zu trinken gab, was sie nicht überstehen konnte, wurde er ergriffen und im Kerker mit dem Beil getötet. Er selbst wurde gezwungen, den jüngeren Sohn wegen unordentlicher Sitten und
997 Die Lesart fortunam & artem (1650) gegenüber fomenta (1649) dürfte eine Variante des Autors, nicht ein Einfall des Druckers sein. 998 senatus: ► p. 424. 999 D. h., rechnet nicht damit, daß ihr noch viele Jahre (in Gesundheit usw.) habt! 1000 Cardanus: ► p. 399. Über das schlimme Schicksal seiner Familie berichtet Cardano in der Autobiographie De propria vita. 1001 ad decretorium stylum accedere: wörtlich ‚zum Griffel, der die Entscheidung bringt, schreiten‘, pointiertes Zitat aus Sen. De clem. 1, 14, 1 (wo es um äußerste Maßnahmen gegen den eigenen Sohn geht).
252 B. Original und Übersetzung compositos, atque quotidiana flagitia, ipse primo custodiæ mancipare, dein in exilium agere, ac postremo paterna hereditate privare coactus est. Liberorum personam alias uxor induit, maturumque viri docti senium artibus femineis obtundendo, rei literariæ inutile reddit. Expertus præ alijs est Antonius Niger, Medicus non incelebris: ultimam ille manum doctissimis lucubrationibus imposuisset, nisi passus canusque jam senex, uxorem supra ipsam Xantippem difficilem & incommodam, domum suam duxisset: de qua deferenda postquam serio jam cum amicis consilia agitaret, mors manum injecit, non sine suspicione conductæ alicujus Locustæ ab hac Tanaquile. Vixisset diutius, suamque Germaniam illustrasset plurimum, Ioannes Aventinus; nisi sub primam senectam, ab anicula (fraude plenum hoc genus hominum esse solet) se decipi passus fuisset, atque in thori sociam, pauperculam, deformem, & (quod malorum maximum) rixosam atque difficilem virginem adoptasset: cum qua ex quo vivere cœpit, Aventinus in Aventino desideratus est; ipse autem contractis studijs & curis suis, quæ ulterius meditari instituerat, spongijs obtulit, conclamatisque vasis, paulo post mortuus est. Adeste jam vos, qui [472] Macrobii esse vultis? Anni, quos posteritatis usibus destinatis, quanto aliis erunt utiliores, tanto vobis futuri sunt molestiores. Ferendum tamen est, quod Deus dederit. Tantum Imperatorem per Syrtes, & avia quæque, quisquis sapit, sine gemitu sequitur. Secus qui fecerit, dignus est qui privetur cingulo; siquidem non est memor sacramenti, quod illi dixit, qui in ipsis interioribus cordis nostri recessibus præsens est. Ad ultimas miseriarum lineas devenimus, ipsam
10 nisi: ► S. 85.
1002 Antonius Niger: Italienischer Arzt aus Padua (1560–1626). Über ihn teilt Jöcher Bd. 3 (1751), Sp. 944 mit: Er wurde von Clemens VIII in den Ritterstand erhoben und von der Republik Venedig zum Professor der Medizin in Padua ernannt, „wollte sich von seiner dritten Frau scheiden lassen, starb aber 1626, ehe die Sache zu Stande kam, und hinterließ einen Sohn Nahmens Hieronymus, der gleichfalls ein Medicus gewest.“ 1003 senes passi: ► p. 465. 1004 Tanaquil: Gattin des Königs Tarquinius Priscus, galt als Muster der Herzlosigkeit. ► auch p. 408. 1005 Berüchtigte Giftmischerin der neronischen Zeit: Suet. Nero 33, 2; Tac. Ann. 12, 66. 1006 Ioannes Aventinus: Johann Georg Turmair, nannte sich nach seinem Heimatort Abensberg (Aventinum) Aventinus (1477–1534), deutscher Historiker und Klassischer Philologe, seit 1517 bayerischer Hofhistoriograph. Er plante ein Werk Germania illustrata (deutsch: Zeitbuch über ganz Deutschland), kam aber über das erste Buch nicht hinaus (Georg Leidinger, NDB 1 (1953), S. 469–470). Schoock spielt mit dem Titel: Germania illustrata / Germaniam illustrasset. 1007 Über seine Heirat weiß Zedler II, 1732, Sp. 2135–2136 zu berichten: „An. 1529 wurde er mit Gewalt aus seiner Schwester Hause zu Abensperg genommen, und in ein Gefängniß geführet, ohne daß man die Ursache erfahren können. Weil sich aber der Hertzog von Bayern seiner
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täglich begangener Schandtaten erst unter Aufsicht zu stellen, sodann ins Exil zu schicken und schließlich des väterlichen Erbes zu berauben. Die Rolle der Kinder übernahm bei anderer Gelegenheit die Frau und machte das reife Alter des gelehrten Mannes – es mit weiblichen Künsten behelligend – für die Wissenschaft untauglich. Erfahren hat das vor anderen Antonius Niger,1002 ein nicht unberühmter Arzt: Der hätte die letzte Hand an seine hochgelehrten Untersuchungen gelegt, wenn er, schon ein ausgetrockneter und grauhaariger Greis,1003 nicht eine selbst mehr als Xanthippe schwierige und unleidliche Ehefrau in sein Haus geführt hätte: Nachdem er über ihre Verstoßung schon mit Freunden ernsthaft beraten hatte, legte der Tod (bei ihm) die Hand an – nicht ohne den Verdacht auf eine von dieser Tanaquil1004 gemietete Locusta.1005 Johannes Aventinus1006 hätte länger gelebt und seine Germania größtenteils ans Licht gebracht, wenn er nicht an der Schwelle zum Greisenalter erduldet hätte, von einer alten Frau (voller Trug pflegt diese Art Menschen zu sein) betört zu werden, und er die ärmliche, häßliche und (was das größte der Übel ist) streitsüchtige und schwierige Jungfrau als Genossin des Ehebetts ausersehen hätte;1007 seit er mit dieser zu leben begann, wurde Aventinus in Aventinum (Abensberg) vermißt;1008 er selbst aber übergab – nachdem seine Studien und Bemühungen eingeschränkt waren – das, über was er weiter nachzudenken beschlossen hatte, den Schwämmen,1009 packte seine Sachen zusammen1010 und starb wenig später. Merkt ihr wirklich gehörig auf, die [472] ihr Makrobier1011 sein wollt? Um wieviel nützlicher die Jahre, die ihr dem vielfachen Nutzen der Nachwelt bestimmt, anderen sein werden, um soviel lästiger werden sie euch sein. Es ist jedoch zu tragen, was Gott gegeben hat. Dem so großen Herrscher folgt ohne Seufzen durch die Syrten1012 und alles Unwegsame, wer immer Verstand hat. Wer anders handeln wird, verdient, des Soldatenstandes1013 entkleidet zu werden; denn er ist seines Eides nicht eingedenk, den er dem geschworen hat, der direkt in den inneren Winkeln unseres Herzens anwesend ist. Wir kommen zu den äußersten annahm, wurde er wieder auf freyen Fuß gestellet, doch ist er nach der Zeit stets melancholisch gewesen, und hat sich daher noch im 64 Jahre seines Alters verheyrathet.“ Leidinger (► vorhergehende Anm.) nennt seine Frau eine ‚schwäbische Magd‘. 1008 D. h., seine Frau okkupierte ihn total. 1009 D. h., er löschte / vernichtete sie (zum übertragenen Gebrauch von ‚Schwamm‘ ► Röhrich 1991, S. 1429). 1010 vasa conclamare: militärischer Terminus, ‚den Befehl zum Aufbruch geben‘, z. B. Caes. Bell. civ. 3, 37, 4 (wörtlich: ‚die Sachen zusammenpacken‘), ► OLD. 1011 Die Macrobier (μακρόβιοι), die ‚Langlebigen‘, waren ein sagenhafter Stamm am oberen Nil (Herodot 3, 17; Plin. Nat. 6, 189). Von ihnen berichtete man, sie würden 140 Jahre alt (Plin. Nat. 7, 27). 1012 Die Sandbänke (Untiefen) an der nordafrikanischen Küste galten schon bei Horaz als schwer passierbar (Carm. 1, 22, 5). 1013 Bild: der Christ als Gotteskrieger. Deswegen wird Gott Imperator (Feldherr) genannt. Dasselbe Bild p. 488 und 491.
254 B. Original und Übersetzung mortem scilicet; quæ calamitates eruditorum terminaret, nisi genus illius publica ut plurimum infamia laboraret. Nam, quæ regum & purpuratorum, eadem fere literatorum sors est: ac mors eorum raro sicca existit. Nolo vero sollicitare eos, quos constans cælestis veritatis professio dum perdidisse videtur, coronavit. Tales, quoniam uni Deo omnes homines & humana quæque prætulerunt, in medijs tormentis felicissimi fuerunt; rogusque, quem conscendere debuerunt, superbo Crœsi, aut Cyri solio longe fuit augustior. Gnarum hoc iis ipsis jam olim fuit, qui alias Deum ductorem vitæ suæ ex animo agnoscere recusabant. Inde supplicium magis, quam caussam æstimantes, ad bestias, ignem, atque gladium ultro se obtulerunt, quo instar Erostrati saltem agnosci possent, si forte inter Martyres & Confessores locus negaretur. Missis ergo Theosophis, (quos tamen sæpe emasculavit persecutio, prostituitque muliercula, è fæce [473] Romuli; scientia tanto inferior Doctoribus, quanto eos amore erga Crucifixum vincebat;) ad juris & æqui consultos primo me converto. Antecessores inter illos, quique prope Podium, in Orchestra, aut Quatuordecim sedere solent, tale sæpe mortis genus subierunt, quale irrogari solet ijs, quorum memoria pariter damnatur. Vt inde incipiam, Q. Mutius Scævola, cujus memoriam Iustiniani Pandectes sacravit, cum esset vir sapientissimus & optimus, ante Vestæ simulacrum, jussu Marij, quem ante servaverat, trucidacus est, caputque ejus in Tyberim projectum. Coccejus Nerva inter antiquos legulejos vir quantivis pretii & priscæ probitatis postquam Tiberius Cæsar omnia cædibus atque libidine implevisset, integro statu, illæsoque corpore, moriendi consilium cepit, ac vitam cibi abstinentia finivit; non sine tacito Tiberij ipsius convitio, qui funesto hoc viri summi excessu commotus, usuras mox mitigavit. Cassius Longinus Senecæ ævo, non minus avitis imaginibus, quam rara juris
1014 siccus = ‚ohne Tränen‘ wie Hor. Carm. 1, 3, 18 siccis oculis. 1015 D. h., dem römischen Kaiser. 1016 D. h., dem eigenen Leben. 1017 Der Lyder Kroisos und der Perser Kyros II. (beide 6. Jahrhundert v. Chr), durch Alliteration verbunden, fungieren als reiche und mächtige Könige der Antike (Kroisos schon p. 392). 1018 Erostratus: Herostratos setzte den Artemis-Tempel in Ephesos, eines der sieben Weltwunder, in Brand, damit sich sein Name über den ganzen Erdkreis verbreite (Val. Max. 8, 14, 5 in Verbindung mit Strab. 14, 1, 22). 1019 faex (Hefe), übertr. für die niedrigste Klasse, z. B. Cic. In Pis. 9 ex omni faece urbis. Romuli: übertr. für Rom. 1020 Antecessores: ► p. 385. 1021 Podium: der erhöhte geschützte Sitz für Ehrengäste (Kaiser, Festgeber, Gesandte). 1022 Orchestra / Quattuordecim: ► p. 399. 1023 Es ist an die damnatio memoriae gedacht. 1024 Quintus Mucius Scaevola: Römischer Rechtsgelehrter (ca. 140–82), 95 Konsul, auf Marius’
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Grenzen der elenden Zustände, nämlich zum Tod selbst; der würde das Unglück der Gelehrten beenden, wenn seine Art nicht meistens an öffentlicher Schmach litte. Denn was das Los der Könige und Purpurträger ist, ist fast dasselbe der Wissenschaftler: Und deren Tod geschieht selten ohne Tränen.1014 Ich will aber nicht diejenigen heruntersetzen, die das feste Bekenntnis der göttlichen Wahrheit, während es sie in das Verderben geführt zu haben scheint, gekrönt hat. Da solche dem einen ‚Gott‘1015 alle Menschen und alles Menschliche vorgezogen haben,1016 sind sie mitten in den Martern sehr glücklich gewesen; und der Scheiterhaufen, den sie besteigen mußten, war bei weitem erhabener als der Thron des stolzen Kroisos oder Kyros.1017 Bekannt war ihnen selbst das schon längst, die sich sonst geweigert hätten, Gott als Führer ihres Lebens freiwillig anzuerkennen. Daher schätzten sie die Todesstrafe mehr als die Ursache und gingen wilden Tieren, Feuer und Schwert freiwillig entgegen, damit sie wie Herostrat1018 wenigstens wahrgenommen werden könnten, falls ihnen vielleicht ein Platz unter den Märtyrern und Bekennern verweigert werden sollte. Nachdem also die Gotteskundigen beiseite bleiben (die jedoch oft die Verfolgung entmannt und ein Weibsbild aus der Hefe [473] des Romulus1019 geschändet hat; die Wissenschaft stand bei den Lehrmeistern um soviel niedriger, um wieviel sie sie mit der Liebe zum Gekreuzigten überwältigte), wende ich mich zunächst den Kundigen des Rechts und der Billigkeit zu. Die Vorrangigen1020 unter ihnen und die, welche beim Podium,1021 in der Orchestra oder unter den Vierzehn1022 zu sitzen pflegen, erduldeten oft solche Art des Todes, wie er denen zuerkannt zu werden pflegt, deren Andenken zugleich verdammt wird.1023 Damit ich von da beginne: Obwohl Quintus Mucius Scaevola,1024 dessen Andenken die Gesetzessammlung Justinians1025 unsterblich gemacht hat, ein sehr weiser und wohlgesinnter Mann war, wurde er vor dem Bild der Vesta auf Befehl des Marius, den er vorher gerettet hatte, ermordet und sein Haupt in den Tiber geworfen. Coccejus Nerva,1026 unter den antiken Gesetzeskennern1027 ein Mann wer weiß wie großen Wertes und alter Rechtschaffenheit, faßte, nachdem Kaiser Tiberius alles mit Mordlust erfüllt hatte, obwohl von unangefochtener Stellung und unverletztem Körper,1028 den Plan zu sterben und beendete sein Leben durch Entzug der Nahrung – nicht ohne stillschweigenden Tadel an Tiberius selbst, der, von diesem traurigen Tod des höchsten Mannes veranlaßt, bald die Zinsen abmil-
Befehl im Vestaheiligtum ermordet. Sein Hauptwerk war eine Gesamtdarstellung des Ius civile (nur fragmentarisch erhalten). 1025 ► p. 384. 1026 Cocceius Nerva: Römischer Rechtsgelehrter, mit Tiberius befreundet, beging 33 Selbstmord. Das folgende (stellenweise wörtlich) nach Tac. Ann. 6, 26, 1–2. 1027 leguleius: ► p. 468, hier positiv. 1028 illæso corpore (Tacitus: corpore inlaeso): ‚er erfreute sich einer gefestigten Gesundheit‘ (Koestermann 1963, S. 300).
256 B. Original und Übersetzung cognitione celeberrimus vir, nullam ob caussam à Nerone luminibus orbatus, ac postea jussu Vespasiani, in exilio, quod ob levem suspicionem irrogatum fuerat, interfectus est. Magnus ille Salvius Iulianus, qui Edictum perpetuum composuit, cujusque hæc memorabilis vox fertur: Etsi unum pedem in sepulcro haberem, adhuc tamen addiscere vellem; sub Commodo Imperatore, cum aliis viris Clarissimis cæsus fuit. Quan[474]tus Æmilius Paulus Papinianus fuerit, omnes norunt, qui leges sciunt. Iuris asylum, doctrinæque legalis thesaurus, etiam cum viveret, salutari solet. Is ipse tamen Papinianus, ab Antonino Bassiano Severi filio, Imperatore crudelissimo, incestuoso, & parricida, militum gladiis objectus, & securi percussus est, quod parricidium ob interfectum fratrem Getam defendere noluisset. Hoc autem vere est pro justitia mori, & æqui atque honesti antistitem exercere! Papiniano suppar Vlpianus, eundem tum excessum, tum gloriam consecutus fuit. Postquam enim tantum Iuris oraculum aliquandiu Alexandri Severi Senatum ornasset, atque atrociora Edicta avertisset, displicere cœpit Prætorianis cohortibus, nullam aliam ob caussam, quam quod avara earum mandata perferre nollet. Vt vero auri argentique avarus solet esse miles, qui se Principis fatum in manibus habere existimat; iram ante in innocuum Vlpianum convertit, quam constaret, quid deliquisset. Defendere quidem se voluit vir maximus; neutiquam tamen Imperatricis sinus tuta illi ara fuit; siquidem ab ea abstractus, atque infestis militum gladiis objectus, & dein occisus, argumentum iis reliquit, qui in Scholis summorum virorum miseriam, materiam ostentandæ eloquentiæ, eligere solent. Antiqua hæc sunt; si omnia recentioris memoriæ superaddi deberent, circa delectum fluctuaturum me faterer. Speciminis loco, uti hactenus feci, paucula si attulero, exspectationi [475] forte
1029 ► Suet. Tib. 48, 1. 1030 Cassius Longinus: Gaius Cassius Longinus, römischer Politiker († ca. 69), galt als der bedeutendste Rechtsgelehrte seiner Zeit, wurde wegen angeblicher Teilnahme an der Pisonischen Verschwörung 65 von Nero in die Verbannung nach Sardinien geschickt. Daß Nero Cassius seiner Augen beraubt habe, beruht auf einem (wohl verbreiteten) Übersetzungsfehler. Suet. Nero 37, 1 berichtet über Personen, die Nero verbannt habe, darunter Cassius, von dem es heißt, er sei luminibus orbatus verbannt worden (‚der Augen beraubt‘ = bereits erblindet), was Schoock (oder seine Quelle) als ‚von Nero der Augen beraubt‘ verstand. 1031 Salvius Iulianus: römischer Jurist aus Hadrumetum, ca. 107 geb., die „160er Jahre hat er kaum überlebt“ (Liebs, ► im folgenden), Schriften nur in den Digesten Justinians erhalten. „S. ist wohl der bedeutendste röm. Jurist (noch vor Celsus und Papinianus); er ist auch einer der bedeutendsten Juristen aller Zeiten“ (Dieter Medicus. In: DKP 4 (1975), Sp. 1528). Würdigung: Liebs. In: HLL. Bd. 4 (1997), S. 101–105. Edictum perpetuum composuit: wörtliches Zitat aus Eutrop. 8, 17. Der Ausspruch wurde durch Erasmus’ Adagia (2, 1, 52) sehr bekannt. 1032 Commodus: Römischer Kaiser (161–192, seit 180 Kaiser). Julian starb wohl früher (► vorhergehende Anm.).
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derte.1029 Cassius Longinus,1030 ein in Senecas Zeit nicht weniger wegen der alten Ahnenbilder als wegen der seltenen Kenntnis des Rechts hochberühmter Mann, wurde ohne Grund von Nero der Augen beraubt und später auf Befehl Vespasians im Exil, das aufgrund eines leichten Verdachts verhängt worden war, getötet. Jener große Salvius Iulianus,1031 der das prätorische Edikt ein für alle Mal festgelegt hat und von dem folgendes denkwürdige Wort überliefert ist: „Auch wenn ich einen Fuß im Grab hätte, wollte ich doch noch dazulernen“, wurde unter Kaiser Commodus1032 mit anderen berühmten Männern umgebracht. Wie [474] groß Aemilius Paulus Papinianus1033 gewesen ist, wissen alle, welche die Gesetze kennen. ‚Hort des Rechts und Fundgrube der Rechtswissenschaft‘ pflegte er – bereits zu Lebzeiten – begrüßt zu werden. Doch sogar dieser Papinian wurde von Antoninus Bassianus, dem Sohn des Severus, dem so grausamen, blutschänderischen Kaiser und Brudermörder, den Schwertern der Soldaten vorgeworfen und mit dem Beil getötet, weil er den Verwandtenmord betreffs der Tötung des Bruders Geta nicht rechtfertigen wollte. Das aber heißt wahrhaft für die Gerechtigkeit sterben und das Amt eines Vorstehers des Rechts und der Moral ausüben! Der Papinian fast gleiche Ulpian1034 erlangte sowohl denselben Tod als auch denselben Ruhm. Denn nachdem das so große Rechtsorakel eine Zeitlang den Senat des Alexander Severus1035 geziert und allzu schreckliche Edikte abgewendet hatte, begann er den Prätorianerkohorten zu mißfallen – aus keinem anderen Grund, als daß er ihre habsüchtigen Aufträge nicht durchführen wollte. Da1036 aber der Soldat nach Gold und Silber gierig zu sein pflegt, der glaubt, daß er das Schicksal des Kaisers in den Händen habe, richtete er seinen Zorn eher auf den unschuldigen Ulpian, als feststand, was er begangen hatte. Zwar wollte sich der so hohe Mann verteidigen, doch war ihm der Schoß der Kaiserin1037 in keiner Weise eine sichere Zuflucht; denn, von ihm weggerissen und den feindlichen Schwertern der Soldaten vorgeworfen und sodann getötet, ließ er denjenigen Stoff zurück, die in den Schulen das Elend der höchsten Männer als Materie für die Darlegung ihrer Eloquenz auszuwählen pflegen. Das sind antike Geschehnisse; wenn alle der neueren Überlieferung hinzugefügt werden müßten, gäbe ich zu, daß ich bezüglich der Auswahl schwankte. Wenn ich weniges als Probe, wie ich es bisher getan habe, anfüge, werde ich der Erwartung [475] vielleicht Genüge tun. Wie ist wahrhaft zu bekla-
1033 Zu Papinian und den Umständen seines Todes sowie zu dem Zitat Iuris asylum, doctrinæque legalis thesaurus ► p. 412. 1034 Ulpianus: Domitius Ulpianus, römischer Jurist aus Tyros in Syrien (ca. 170–223), von den Prätorianern ermordet. Würdigung: Liebs. In: HLL. Bd. 4 (1997), S. 175–187. 1035 Alexander Severus: Römischer Kaiser (208–235, seit 222 Kaiser). 1036 ut in kausaler Bedeutung: ► Kühner, Stegmann 1962. § 208 Anm. 1. 1037 Imperatrix: Alexander Severus’ Mutter Iulia Avita Mamaea (ca. 180–235), zusammen mit dem Sohn von meuternden Soldaten ermordet.
258 B. Original und Übersetzung satisfecero. Quam vero deplorandum, (ad novam exemplorum segetem, novam animorum attentionem exoptare fas est:) illi ipsi ex Iurisconsultorum ordine, qui viris principibus æquati esse videbantur, cruentæ mortis sortem subierunt. Adolphus Trasiger, ut inde incipiam, Adolphi Holsatiæ Ducis Cancellarius, admirandæque memoriæ ac excellentis ingenij Iurisconsultus, qui ad exemplum Ravennatis leges omnes in digitis recitare, & numero referre expeditissime sciebat, sua morte defunctus non fuit: nam, inter medias delicias, Fortunæque blandientis illecebras, velut Hippolytus ille in fabulis, curru dejectus, & à proprijs raptus atque dilaceratus equis, miserandum in modum occidit. Non possum quin tragico huic casui, proxime subjungam notissimi illius Seldij casum, Procancellarij imperij celeberrimi; qui cum in legationis Cæsareæ itinere, ex Prato domum contenderet, de rheda, qua cum Zazio Iurisconsulto sine exemplo maximo vehebatur, excussus cerebrum saxo illi sit, atque mirabiliter periit. Occultum Dei judicium, magis quam arbitrium judicis in duumviris his quis notet: utrumque vero jure maximo circa Petrum de Vineis, Iurisconsultum summum & Frederici Imperatoris Cancellarium; (ut paulo vetustiora intermisceam) qui cum totum terrarum orbem nominis sui fama complevisset; Frederico in Victoriæ obsidione à Parmensibus victo, prodi[476]tionis in dominum agitatæ insimulatus, vitæ exitum tristissimum ac cothurno dignissimum sortitus est. Comprehenso siquidem Imperator Miniati oculos erui jussit; unde ipse conscientiæ stimulis agitatus, nec sine luminibus vivere sustinens, sibimet ipsi mortem in publico omnium conspectu conscivit. O humanam imbecillitatem, à te
7 1649 blandientis. 1650 bladientis. | 11 1649 / 1650 ex prædio suo. Lef. ex Prato. | 19 1649 / 1650 Miriati. Lef. Miniati.
1038 Adolphus Trasiger: Gemeint: Adam (Vorname verwechselt mit dem im folgenden genannten Adolphus Dux) Trasiger (ca. 1523–1584), 1558 Minister und Kanzler des Herzogs von Holstein Adolph, stürzte am 17. Oktober 1584 auf einer Reise von Hamburg nach Gottorf vom Wagen und war „schnell des Todes geblieben“ (Will 1758, S. 42). 1039 Adolphus Holsatiæ Dux: Adolf I., geb. 1526, 1544–1586 Herzog von Schleswig-HolsteinGottorp. 1040 Ravennas: Petrus Ravennas (Petrus von Ravenna), italienischer Rechtsgelehrter aus Ravenna (ca. 1448–ca. 1509), lehrte an den Universitäten Padua, Pisa, Greifswald (wo er Rektor wurde), Wittenberg und Köln, bekannt wegen seines überragenden Gedächtnisses; dazu und zu seinen Schriften über das Gedächtnis ► Johann August von Eisenhart. In: ADB 25 (1887), S. 529–539. 1041 Hippolytos war der Sohn des Königs Theseus von Athen. Wie die Tragödien Hippolytos von Euripides und Phaedra von Seneca darstellen, stürzte er vom Wagen, als die Pferde scheu wurden. 1042 Seldius: Georg Sigismund Seld, Reichsvizekanzler (1516–1565). „Am 26. Mai 1565 fuhr S. in seinem eigenen Wagen mit Dr. Zasius aus dem Prater in Wien, wo Max II. mit ihnen Rath gehalten, nach Hause, die Pferde scheuten. Zasius sprang zuerst aus dem Wagen, blieb lange bewußtlos, dann sprang S., fiel auf einen Stein und starb in einer halben Stunde“ (August von Druffel. In: ADB 33 (1891), S. 678–679). Aus dieser Nachricht ergibt sich, daß die Formulierung ex prædio suo eine
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gen (bei einer neuen Menge von Beispielen ist es erlaubt, eine neue Aufmerksamkeit der Gemüter herbeizuwünschen): Gerade die aus dem Stand der Rechtsgelehrten, die den Fürsten gleichgestellt zu sein schienen, erlitten das Los eines grausamen Todes. Adolf Trasiger1038 – damit ich von da beginne –, der Kanzler des Herzogs Adolf von Holstein,1039 ein Rechtsgelehrter von einem bewunderungswürdigen Gedächtnis und einer herausragenden Begabung, der nach Ravennas’1040 Beispiel alle Gesetze an den Fingern herzusagen und mit der Nummer ganz schnell zu bezeichnen wußte, starb nicht s e i n e n Tod: Denn mitten unter Genüssen und Verlockungen der schmeichelnden Fortuna kam er, wie jener Hippolytos1041 in den Schauspielen vom Wagen geschleudert und von den eigenen Pferden fortgeschleift und zerrissen, auf bejammernswerte Weise um. Ich kann nicht umhin, diesem tragischen Fall zunächst den Fall des so bekannten Seld1042 anzufügen, des hochberühmten Vizekanzlers des Reiches, der, als er auf einer kaiserlichen Auftragsreise vom Prater nach Hause strebte, von dem Wagen, in dem er mit Zasius,1043 dem so großen Rechtsgelehrten ohne Beispiel, fuhr, mit dem Gehirn auf jenen1044 Felsstein herabgeschleudert wurde und auf wundersame Weise starb. Bei diesem Zweigespann1045 mag man eher das verborgene Urteil Gottes als die (offene) Entscheidung eines Richters wahrnehmen, beides aber mit größtem Recht bei Petrus de Vineis,1046 dem hochbedeutenden Rechtsgelehrten und Kanzler des Kaisers Friedrich1047 (damit ich ein wenig Älteres einmische); als der den ganzen Erdkreis mit dem Ruhm seines Namens erfüllt hatte, wurde er, nachdem Friedrich bei der Belagerung von Victoria von den Parmensern besiegt worden war, [476] des gegen seinen Herrn begangenen Verrats beschuldigt und erloste ein Ende, das tieftraurig und einer Tragödie1048 würdig war. Denn1049 der Kaiser befahl, daß dem Ergriffenen in San Miniato1050 die Augen ausgerissen wurden; daher gab er selbst, von den Stacheln des Gewissens getrieben und nicht ertragend, ohne Augen zu leben, sich selbst im öffentlichen Angesicht aller den Tod. O menschliche Schwachheit, von Verschlimmbesserung von ex Prato ist, die entweder Schoock in seiner Quelle vorfand oder der Drucker verschuldete, weil er Prato mit ‚Wiese‘ übersetzte. 1043 Zazius: Ulrich Zazius, deutscher Jurist (1461–1535), seit 1494 in verschiedenen Ämtern der Stadt Freiburg tätig, seit 1505 als Professor der Rechte. 1044 Wohl gemeint: auf jenen bekannten / berüchtigten Stein (von dem man erzählt). 1045 ► S. 30. 1046 Petrus de Vineis: Petrus de Vinea / Pier delle Vigne (ca. 1190–1249), Kanzler des Kaisers Friedrich II. 1047 Fridericus Imperator: Friedrich II. (1194–1250, seit 1220 Kaiser des römisch-deutschen Reiches), erlitt 1248 eine schwere Niederlage gegen die Stadt Parma, die er trotz der Errichtung der Lagerstadt Victoria vor ihren Mauern vergeblich belagert hatte. 1048 cothurnus: ► p. 466. 1049 siquidem: ► Kirschius 1774, Sp. 2627. 1050 Petrus de Vineis war in San Miniato eingekerkert.
260 B. Original und Übersetzung virtus, qua alias nihil stabilius censetur, non solum exarmatur, sed & vincitur! Prævaluit hæc etiam imbecillitas, sed cum majori excusatione, & citra infamiam in Angelo Cæsio Iurisconsulto Romano summo, & per eloquentiam in tribus foris notissimo. Post direptam enim sub Iulio Pontifice Romam, fortunasque ejusdem penitus accisas, sexcentis laboribus & difficultatibus non tam exhaustus, quam enectus in febrim atrocissimam incidit; ex qua dum cubat, lectulum ejus quidam Sybaritici canes, Hispani scil. milites cinxerunt, non solum cum convitio efflagitantes aurum quod pro captivis quibusdam se soluturum promiserat, sed etiam infestas sicas jugulo intentantes; quæ hominem, lingua potius, quam manu præliari solitum, adeo reddiderunt attonitum, ut inter minas, horribili præ metu consternatus, expiraverit. Quis literas novit & Ioannem Corrasium, magnum illud Iuris oraculum, atque eruditorum ocellum, ignorat? Is ipse tamen miseranda morte occubuit. Impleverat jam non solum Tolosanam Academiam nominis sui fama, sed propter vir[477]tutem quoque in amplissimum ordinem allectus erat; quum à furibunda plebe, quæ post Thyestæas nuptias, signo à Parisiensibus dato, omnia sibi Tolosæ arrogare cœperat, cum multis alijs viris summis interficeretur. Tristior adhuc excessus Barnabæ Brissonij Iurisconsulti incomparabilis, atque antiquarij summi. Vixdum amplissimæ fortunæ gustum cœperat, & in celeberrimo universi orbis Senatu Præsidem agere instituerat; cum occupata, ab ijs qui Ligistæ audiebant, Lutetia, ab Henrico IV. cognomento Magno cum multis alijs obsideretur: quod vero hominibus peregrinis, qui in urbe primas sibi arrogabant, ipse patriæ studiosissimus, ad nutum placere recusasset, instigantibus præ alijs Cromæo &
1051 Angelus Caesius: Angelo di Pietro Cesi (1450–1528), iuris utriusque doctor und Konsistorialadvokat, 1503–1511 Päpstlicher Sekretär von Julius II. (Papst 1503–1513). Die geschilderten Umstände des Todes beziehen sich auf den Sacco di Roma (1527–1528) und die spanischen Soldaten Karls V. 1052 triplex forum: ► p. 452. 1053 Sybariticus = ‚in Üppigkeit lebend‘‚ ‚wollüstig‘, ‚stolz‘, nach der 510 v. Chr. zerstörten Stadt Sybaris in Lukanien, deren Bewohnern die entsprechenden Eigenschaften zugeschrieben wurden. 1054 Ioannes Corrasius: Jean de Coras, französischer Rechtsgelehrter (1515–1572), im Zug der Protestantenverfolgungen im Anschluß an die Bartholomäusnacht 1572 im Toulouser Gefängnis ermordet (► Ernst Holthöfer in Stolleis 1995, S. 156). 1055 ocellum: ► p. 451. 1056 Gemeint ist die Bartholomäusnacht, die Nacht zum Bartholomäustag, dem 24. August 1572, in der die Führer des hugenottischen Adels anläßlich der Hochzeit Heinrichs von Navarra mit Margarete von Valois, der Schwester des französischen Königs, in Paris versammelt waren. Das Abschlachten der Opfer wird mit der Abschlachtung der unschuldigen Kinder des Thyestes durch seinen Bruder Atreus verglichen, das Seneca in der Tragödie Thyestes eindrucksvoll ausmalt.
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dir wird die Tugend – nichts wird sonst standhafter als sie eingeschätzt – nicht allein entwaffnet, sondern auch besiegt! Diese Schwäche herrschte wieder sehr stark, aber mit größerer Entschuldigung und diesseits von Schimpf bei Angelo Cesio vor,1051 dem sehr hohen und durch seine Beredsamkeit auf den drei Foren1052 sehr bekannten römischen Rechtsgelehrten. Denn nachdem ihm unter Papst Julius Rom entrissen und sein Vermögen ganz und gar schwere Verluste erlitten hatte, fiel er, von unzähligen Mühen und Schwierigkeiten nicht so sehr ermüdet als vielmehr zu Tode erschöpft, in schrecklichstes Fieber; während er in dessen Folge daniederlag, umgaben sein Lager einige Sybaritische1053 Hunde, nämlich spanische Soldaten, die nicht nur mit Geschrei das Gold forderten, das er für einige Gefangene zu zahlen versprochen hatte, sondern auch feindlich Dolche auf seine Kehle richteten; das machte den Menschen, der eher mit der Zunge als mit der Hand zu kämpfen gewohnt war, derart bestürzt, daß er, vor schrecklicher Furcht der Besinnung beraubt, unter den Drohungen verschied. Wer kennt die Wissenschaft und kennt nicht Jean de Coras,1054 jenes große Rechtsorakel und Augenlicht1055 der Gelehrten? Selbst der sank doch durch einen kläglichen Tod dahin. Er hatte nicht nur schon die Universität von Toulouse mit dem Ruhm seines Namens erfüllt, sondern war auch wegen seiner Tüchtigkeit [477] in die hochangesehene Fakultät gewählt worden, als er von einer rasenden Volksmenge, die nach der thyesteischen Hochzeit1056 auf ein von den Parisern gegebenes Zeichen alles in Toulouse für sich zu beanspruchen begann, mit vielen anderen höchsten Männern ermordet wurde. Trauriger noch war der Hingang Barnabé Brissons,1057 des unvergleichlichen Rechtsgelehrten und höchsten Kenners des Altertums.1058 Kaum hatte er die so hohe Stellung angetreten und im hochberühmten Senat des allumfassenden Gremiums das Amt des Präsidenten auszuüben begonnen, als Paris, das von den sogenannten Ligisten besetzt war, von Henri IV. mit dem Beinamen der Große mit vielen anderen belagert wurde.1059 Weil Brisson aber, selbst auf das Vaterland sehr bedacht, abgelehnt hatte, den fremden Menschen, die in der Stadt die erste Rolle1060 in Anspruch nahmen, auf den Wink gefällig zu sein, wurde er, während Cro-
1057 Barnabas Brissonius: Barnabé Brisson, französischer Jurist (1531–1591), Präsident des Parlement in Paris. Über sein Ende berichtet Jöcher Bd. 2 (1750), Sp. 1385: „Als sich die Stadt Paris 1589 wider den König empörte, blieb er allda, und wurde von der Ligne zum obersten Präsidenten des Parlaments gemacht; aber auch von einer Partey derselben 1591, 15 Nov. an einen Balken gehänget.“ 1058 D. h., des römischen Rechts. 1059 Henri IV. (1572–1610, französischer König seit 1589) kämpfte nach dem Tod von Henri III. um den Thron, während Paris von der Heiligen Liga von Péronne (einem katholischen Bündnis 1576–1595) besetzt war. 1060 primas: sc. partes.
262 B. Original und Übersetzung Crucio sine tribu viris, nulla observata procedendi formula, ad tignum suspenditur, compressisque laqueo faucibus crudelissime necatur. Iurisconsultos missos faciam, si Angelum Saxum jurisconsultum Patavinum summum, ac singulare Academiæ Antenoreæ sidus, in scenam hanc produxero. Non furibunda quidem plebs, aut quis acrior dominationis vindex, sed aliquis familiarium, fatum ei acceleravit; & quidem illo ipso die, quo memoria Passionis Christi religiose quotannis recoli solet. Sacerrimus siquidem hic homo, qui levem offensam multos per annos vindictæ illius invigilans, circumtulerat, summo mane viri innocui domum ingressus, eum nihil mali opinantem interfecit, ac fœdum [478] in modum dilaniavit. Venio ad medicos. Beatuli illi atque in cælo esse videntur, si quis cogitet Lucullis atque Crassis eos cognatos esse, pecuniamque, quæ vita ipsa charior esse solet, quam maximam levi momento cogere. Attamen, ea ipsa sæpe ijsdem exitio fuit. Archontium medicum sua ætate celeberrimum, proscripsit Claudius princeps, quo tuto ei adimeret centies sestertium, quod artis opera lucratus erat: Cumque in exilio intra paucos annos tantundem coëgisset, revocavit eum Nero Claudij successor, interfecitque; ut publice constaret, avaro Imperatori non tantum provinciarum rectores, sed ipsos Medicos quoque, spongiarum vicem exhibere posse. Acerbius longe fatum Gabrielis Zerbi, Veronensis Medici: acceperat is gazas ingentes à Scandero Ottomannici Imperatoris primipilari, cui, deposito prope, valetudinem restituerat, eratque jam in via, ut ad suos reverteretur: interea accidit, ut Barbarus, cui medice
4 1649 Antenoreæ. 1650 Antenoræ.
1061 Die schändliche Rolle dieser beiden Männer wird im Zusammenhang mit Brissons Ermordung von de Thou 1626 (Bd. 5), S. 195–196 hervorgehoben (Hinweis von Daniel Jacob). Zu de Thou ► p. 398 und 400. 1062 tribus: ► p. 381. 1063 Angelus Saxus: Jurist in Padua, Doctor und Professor, wurde 1618 in seinem 50. Lebensjahr von einem ehemaligen Famulus ermordet (Jöcher Bd. 4 (1751), Sp. 182; so schon Bernhard 1718, S. 440–441). 1064 Antenor, einer der Gefährten des Aeneas, soll Padua gegründet haben. Die Gründung der Universität geht auf das Jahr 1222 zurück. 1065 beatulus: Hapax legomenon (Pers. 3, 103); Kißel 1990, S. 480: „komisch abwertende Umgestaltung der üblichen Bezeichnung für die Toten“. 1066 Lucullus: ► p. 392. 1067 Crassus: ► p. 392. 1068 Archontius ist eine neuzeitliche Lesung für den auch sonst bekannten Arzt Alcon, über den Plin. Nat. 29, 22 berichtet: notum est […] Alconti vulnerum medico HS. centiens cent. mil. damnato ademisse Claudium principem eidemque in Gallia exsulanti et deinde restituto acquisitum non minus intra paucos annos. Die Lesung Archontius findet sich z. B. in: Fabricius 1726, S. 50: „Alcon, aut ut alii, Alcontius, aut etiam Accontius, aut Arcontius, sive Archontius vulnerum medicus â
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maeus und Crucius,1061 Männer ohne Partei,1062 vor anderen hetzten, ohne Beachtung eines Gesetzes, nach dem vorzugehen war, an einem Balken aufgehängt und durch Zusammenpressen der Kehle mit einem Strick auf grausamste Weise ermordet. Die Rechtsgelehrten werde ich verlassen, wenn ich Angelus Saxus,1063 den höchsten paduanischen Rechtsgelehrten und vorzüglichen Stern der Antenor-Universität,1064 auf diese Bühne geführt habe. Ihm beschleunigte freilich kein wütendes Volk oder ein hitzigerer Rächer der Herrschaft den Tod, sondern irgendeiner vom Gesinde – und zwar gerade an dem Tag, an dem die Erinnerung an die Passion Christi jährlich fromm erneuert zu werden pflegt. Denn dieser verfluchteste Mensch, der eine leichte Beleidigung durch viele Jahre hindurch – auf Rache an jenem bedacht – mit sich herumgetragen hatte, machte, am frühesten Morgen in das Haus des unschuldigen Mannes eindringend, den nichts Schlimmes Ahnenden nieder und zerfetzte ihn auf schändliche [478] Weise. Ich komme zu den Ärzten. Sie scheinen so recht selig1065 und im Himmel zu sein, wenn man bedenkt, daß sie den Luculli1066 und Crassi1067 verwandt sind und das Geld, das ihnen teurer als selbst das Leben zu sein pflegt, in möglichst großer Menge in einem flüchtigen Augenblick beitreiben. Dennoch, gerade das brachte diesen auch oft den Tod. Den in seiner Zeit hochberühmten Arzt Archontius1068 ächtete Kaiser Claudius, damit er ihm auf sichere Weise zehn Millionen Sesterzen, die er durch die Ausübung seiner Kunst gewonnen hatte, abnehmen konnte: Und als er im Exil innerhalb weniger Jahre ebensoviel beigetrieben hatte, rief ihn Nero, Claudius’ Nachfolger, zurück und ließ ihn töten – so daß öffentlich feststand, daß für den habgierigen Kaiser nicht nur die Lenker der Provinzen, sondern auch selbst die Ärzte die Rolle von Schwämmen ausüben konnten. Bei weitem herber war das Schicksal Gabriele Zerbis,1069 des Veroneser Arztes: Der hatte gewaltige Schätze von Skander empfangen, dem Ersten Minister1070 des ottomanischen Kaisers, dem er, obwohl er fast aufgegeben war, die Gesundheit wiederhergestellt hatte; und er war bereits auf dem Weg, zu den Seinen zurückzukehren. Unterdessen geschah es, daß der Barbar,
Claudio Cæsare centum millibus sestertium condemnatus, eidemque in Gallia exulanti, & deinde restituto acquisitum non minus intra paucos annos, ut tradit Plinius lib. XXIX. cap. 1.“ 1069 Gabriel Zerbus: Gabriele de Zerbis / Zerbi aus Verona, italienischer Arzt (1445–1505), Professor in Bologna und Padua. Über sein elendes Ende berichtet Jöcher Bd. 4 (1751), Sp. 1191: „Er ließ sich zuletzt durch eine nahmhaffte Summe Geldes verleiten, daß er sich zu dem Bassa Scander in die Bulgarey begab, und denselben an der Dysenterie glücklich curirte, auch deshalb von ihm mit recht königlichen Geschencken dimittiret wurde. Da aber der Bassa nach des Medici Abreise, wider dessen Rath, durch allerhand Debauchen, in eine Recidiv verfiel, und daran sterben muste; liessen ihn des Bassa Söhne auf der Rückreise in Dalmatien anhalten, und nebst seinem einigen Sohne mit einer hölzernen Säge zerschneiden.“ Zu dieser Erzählung ► oben S. 13–14, zu Zerbi Gaisser 1999, S. 330. 1070 primipilaris: In Rom hoher militärischer Rang, ► p. 445 zu primipilus.
264 B. Original und Übersetzung vivere idem quod misere vivere videbatur, ad ingenium suum rediret, & in graviorem morbum per intempestivam libidinem non solum incideret, sed ex eo brevissimo quoque temporis spatio interiret. Filij, (quibus ante quoque oculi doluerant, quod pater homini Italo tam pretiosa donaria dedisset;) in vulgus spargere, parentem à medico veneni poculo potionatum fuisse, mox Zerbum quanto ocyus è fuga retrahere, captumque una cum filio adolescente, indicta caussa eo supplicij genere [479] afficere instituerunt, ut animus quoque meminisse exhorrescat. Quam hoc enim horrendum! filium doli nondum capacem, tyrannorum immanissimi admoto propius patre, quo omnia videret, inter duas ex ligno tabulas inclusum, serra medium dissecuerunt, ac mox ipsum Zerbum eodum tormento trucidarunt. Quis Phalaris, Nero, Maximinus, aut Diocletianus acerbiora tormenta doctore diabolo unquam adhibuit! Dubito tamen an faciliorem præ Zerbo exitum sortitus fuerit Iosiphon, Samuelis medici summi filius, Medicus & ipse insignis? Postquam enim ad quatriduum à quatuor militibus, qui cum alijs, duce Borbonio Romam occupaverant, in proprijs ædibus obsessus, ac toties mortuus fuisset, quoties ad mortis memoriam trepidaverat; forte fortuna unam solum interiorem lini tunicam indutus, nudis pedibus custodibus suis, vino somnoque sepultis, se subduxit, ac versus Tybur arrepto itinere in Varronis vicum venit. Sed ô mirabiles hominum casus! Qui Scyllam se vitasse credebat, in Charybdim incidit. Statim siquidem pestilentia correptus oppido ejicitur, aut verius in agrum proximum projicitur. Ibi casa, cujus tectum crebrius quam cribrum pellucebat, ad hoc sordida & angusta contectus, simulque omni humana ope destitutus, ne frigidæ quidem haustum impetrare potuit, miserrimaque fame, ac site intolerabili, magis quam morbi vi, superatus interijt. Cogitate, quotquot [480] homines estis, quæ & quanta is exantlare debue-
8 1649 admoto. 1650 ad moto. | 11 Nero,] 1649 Komma. 1650 keine Interpunktion. | 15 1649 proprijs. 1650 propriis. | 16 1649 lini tunicam. 1650 linitunicam. | 18 1649 itinere. 1650 intinere.
1071 Anklang an eine berühmte Stelle in Vergils Aeneis: 2, 12: Aeneas sagt an Didos Hof, er wolle nunmehr von Trojas Untergang berichten, quamquam animus meminisse horret luctuque refugit. 1072 ► p. 404. 1073 Die römischen Kaiser Nero (54–68), Maximinus (310–313) und Diokletian (284–305) waren Christenverfolger. 1074 Wörtlich: „wobei der Teufel Lehrmeister war“. 1075 Josiphon (Joseph ben Samuel / Josef Sarfati / Josiphon Samuelis filius / Giuseppe Gallo) war der Sohn von Samuel Zarpathi / Sarfati, einem florentiner Juden und Leibarzt von Julius II, selbst Arzt, Philosoph und Mathematiker. Zu dieser Erzählung ► oben S. 14–16, zu Josiphon Gaisser 1999, S. 329. 1076 ► p. 386. 1077 Gelehrtes Zitat nach Verg. Aen. 2, 265 urbem somno vinoque sepultam (Vorbild Enn. Ann. Fr. 288 Sk. hostes vino domiti somnoque sepulti).
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dem nach medizinischer Vorschrift leben dasselbe wie elend leben zu sein schien, zu seiner angeborenen Art zurückkehrte und wegen seiner unzeitigen Begierde nicht nur in eine schwerere Krankheit fiel, sondern an ihr auch nach einer sehr kurzen Zeitspanne starb. Die Söhne (denen auch vorher die Augen geschmerzt hatten, daß der Vater dem italienischen Menschen so kostbare Geschenke gegeben hatte) verbreiteten unter das Volk, daß der Vater von dem Arzt mit einem Gifttrank vergiftet worden sei, holten bald darauf Zerbi so schnell wie möglich von der Flucht zurück und unternahmen es, den Gefangenen gemeinsam mit seinem heranwachsenden Sohn anzuklagen und derartig [479] zu bestrafen, daß wirklich der Sinn davor zurückschreckt, sich daran zu erinnern.1071 Denn wie schrecklich ist das! Den zwischen zwei Brettern aus Holz eingeschlossenen Sohn, der noch nicht fähig war, die Hinterlist zu erfassen, trennten die unmenschlichsten der Despoten – nachdem der Vater näher herangebracht worden war, damit er alles sehe – mit einer Säge mitten durch und metzelten bald darauf Zerbi selbst mit derselben Folter nieder. Welcher Phalaris,1072 Nero, Maximinus oder Diokletian1073 hat jemals, vom Teufel belehrt,1074 herbere Foltern angewendet! Doch zweifle ich, ob im Vergleich zu Zerbi einen leichteren Tod Josiphon erloste, der Sohn des sehr bedeutenden Arztes Samuel und selbst ein ausgezeichneter Arzt?1075 Denn nachdem er für vier Tage von vier Soldaten, die mit anderen unter dem bourbonischen Führer Rom besetzt hatten,1076 im eigenen Haus gefangengehalten und so oft gestorben war, wie er bei dem Gedanken an den Tod gezittert hatte, entzog er sich durch einen glücklichen Zufall, nur mit einem einzigen leinenen Untergewand bekleidet, mit nackten Füßen seinen in Wein und Schlaf versunkenen1077 Wächtern und kam, nachdem er den Weg in Richtung Tiber eingeschlagen hatte, in den vicus Varronis.1078 Aber o wunderbare Schicksale der Menschen! Der glaubte, er habe Skylla vermieden, traf auf Charybdis. Denn, von der Pest ergriffen, wird er sofort aus der Stadt herausgeworfen oder wahrer: auf den nächsten Acker hingeworfen. Dort konnte er, von einer Hütte, deren Dach häufiger (mehr) als ein Sieb1079 durchlässig und zudem schmutzig und eng war, – verdeckt und zugleich von jeder menschlichen Hilfe im Stich gelassen – nicht einmal einen Schluck kalten Wassers bekommen und starb, von elendigstem Hunger und unerträglichem Durst mehr als durch die Gewalt der Krankheit überwältigt. Bedenkt, soviel(e) [480] ihr
1078 Ein vicus Varronis innerhalb Roms ist aus der Antike nicht nachweisbar (Wolfgang Ehrhardt). Der kleine Ort gleichen Namens (Vicus Varronis / Vicovaro) 46 km nordöstlich von Rom kann nicht gemeint sein, da der gemarterte spärlich bekleidete Flüchtling kaum so weit hätte laufen können. Da Schoock diese Geschichte sehr wahrscheinlich von Giovanni Pierio Valeriano übernommen hat (► S. 13–14), trägt dieser (oder dessen Quelle) die Verantwortung für die Geographie (Valeriano spricht – wie entsprechend Schoock – von oppidum, was eher auf Rom als auf Vicovaro paßt). 1079 crebrius quam cribrum: Wortspiel.
266 B. Original und Übersetzung rit, contra quem uno eodemque tempore pestilentia, fames, atque sitis conspirarant. Quam durum telum fames sit, exploratum medentibus est, eoque fere operam dant, ut contra eam se muniant. Certe Cassij, Carpitani, Arunti, Albutij, & Rubrij, quorum vasti calendarij libri Romæ ipsos principes lacessere visi sunt, in tempore de ea propulsanda cogitasse videntur: nec alio fine Asclepiades dux antea ipsi Magno Pompejo ad eloquentiam, medicinam exercere aggressus est. Ne quid dicam de Iacobo Cocterio, cui Ludovicus XI. Galliarum Rex, decem aureorum millia in mensem dedit; aut de Thaddæo Florentino, qui non minus quam quinquagenis aureis in diem operam suam locare solet, atque ab Honorio Pontifice, cui dextro Apolline medicinam fecerat, decem aureorum millia retulit; itemque de Francisco Valesio, cui Philippus II. Hispaniarum Rex, ob propulsatam febriculam, præter annuum dimensum sex coronatorum millia dono dedit. Medicina nunquam destituit suos cultores, si ipsi eam non destituant: inter tot medicos, non nisi unus quis è terra Gallia occurrit, qui desperavit se ex arte quæstum facere posse. Hic cum esset ingenio acutissimo, nec minus pecuniæ avidus, cum parvum ex medicina quæstum videret se facere, Neapoli ad agendas caussas animum convertit, susque deque forum sophismatibus & cavillationibus convertens: [481] cæterum eventu dispari; quoniam Alphonsi, Sapientis illius Regis decreto statutum est, ut lis, quæ patronum haberet Gallum, eo ipso iniqua putaretur. Sed ad rem. (nam, ludios hos, quo tœdium abstergeretur, interponere visum fuit.) Quæ Medicorum eadem & Philosophorum sub ultimum vitæ actum conditio. Socrates, qui ex
1080 Diese Ärzte nennt Plin. Nat. 29, 7 in derselben Reihenfolge (und im verallgemeinernden Plural) mit Ausnahme von Albutius, jedenfalls nach Ausweis der modernen Ausgaben. Wahrscheinlich hatte Schoock einen Text vor sich, der auch Albutius aufführte (Arbuntios schreibt eine Nebenüberlieferung) – wie etwa Erasmus, Encomium artis medicae 1518, S. 45, der auch Albutios auflistet (er könnte somit Schoocks direkte Quelle sein). Cassius wird von Celsus genannt, die anderen sind unbekannt. Über ihren Reichtum teilt Plinius mit, daß sie bei den Kaisern 250 000 Sesterzen jährlich einnahmen: ducena quinquagena HS annuales mercedes fuere apud principes. 1081 calendarii: ‚Schuldbücher‘ / ‚Schuldregister‘, in die die Ärzte die von den Patienten zu zahlenden Honorare eintrugen; spätantik übertr.: ‚Vermögen‘. 1082 Asklepiades aus Prusa in Bithynien lebte in der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. in Rom, zunächst als Redelehrer, sodann als Arzt. Plin. Nat. 26, 12 nennt ihn aetate Magni Pompei orandi magister (daß er Pompejus selbst in der Eloquenz unterrichtet habe, ist ein Mißverständnis Schoocks oder seiner Quelle). ea (sc. fame) propulsanda: Asklepiades wandte diätetische Heilmethoden an. Plin. 26, 13 hebt das Fasten (abstinentia) hervor. Über Asklepiades’ abenteuerliche Methoden ► außer Plinius Max Wellmann, RE II, 2 (1896), Sp. 1632–1633. 1083 „Jacobus Cocterius, Ludovici des zweyten Königs in Franckreich Leib-Medicus solle monatlich von solchem 4000. Cronen Sold empfangen haben“ (Maier 1708, S. 143). 1084 Thaddaeus Florentinus: Taddeo Alderotti aus Florenz, italienischer Arzt (13. Jahrhundert). Der Patient war Honorius IV. (Papst 1285–1287).
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Menschen seid, was und wieviel der ausschöpfen mußte, gegen den sich zu ein und derselben Zeit Pest, Hunger und Durst verschworen hatten. Welch hartes Geschoß Hunger ist, ist den Ärzten ausgemacht, und daher geben sie sich im allgemeinen Mühe, daß sie sich gegen ihn wappnen. Gewiß scheinen Ärzte wie Cassius, Carpitanus, Aruns, Albutius und Rubrius,1080 deren unermeßliche Vermögen1081 in Rom sogar die Kaiser herauszufordern schienen, zur rechten Zeit an seine Bekämpfung gedacht zu haben. Mit keinem anderen Ziel ging Asklepiades,1082 vorher selbst dem Pompejus Magnus Führer zur Beredsamkeit, daran, die Heilkunst auszuüben. Daß ich nichts über Iacobus Cocterius1083 sage, dem Ludwig XI., der König der Franzosen, zehntausend Goldmünzen im Monat gab, oder über Taddeo aus Florenz,1084 der für nicht weniger als fünfzig Goldmünzen pro Tag seine Mühewaltung zu verdingen pflegte und von Papst Honorius, dem er mit Apollos Beistand1085 Medizin gegeben hatte, zehntausend Goldmünzen davontrug; ebenso über Franciscus Valesius,1086 dem Philipp II., der König beider Spanien,1087 wegen der Vertreibung eines kleinen Fiebers außer der jährlichen Zuwendung1088 sechstausend Kronmünzen schenkte. Die Medizin hat niemals ihre Verehrer im Stich gelassen, wenn sie sie nicht selbst im Stich lassen: Unter so vielen Ärzten begegnet nur einer, aus Frankreich, der daran verzweifelte, aus seiner Kunst Gewinn machen zu können. Da der von sehr scharfem Geist war, aber nicht weniger geldgierig, änderte er, da er sah, daß er aus der Medizin geringen Gewinn mache, seinen Sinn, um in Neapel Rechtsgeschäfte zu betreiben, indem er den Marktplatz mit Sophismen und leerem Gerede drunter und drüber umkehrte – [481] im übrigen mit nicht entsprechendem Erfolg, da ja durch den Erlaß des Alfons, jenes weisen Königs,1089 festgelegt war, daß eine gerichtliche Streitigkeit, die als Verteidiger einen Franzosen hatte, eo ipso als rechtswidrig angesehen wurde. Aber zur Sache. (Es beliebte mir nämlich, diese Gaukler1090 dazwischenzusetzen, damit Überdruß vertrieben würde.) Dasselbe Los wie die Ärzte haben auch die Philoso1085 Apollo Medicus: Apollo als Gott der Heilkunst. 1086 Franciscus Valesius: Gemeint ist Francisco Hernández de Toledo, spanischer Arzt und Naturforscher (1514 oder 1517–1587), seit 1567 Leibarzt Philipps II. Hinsichtlich des Namens liegt eine Verwechslung Schoocks oder seiner Quelle mit dem Arzt und Philosophen Franciscus Valesius / Francisco Valles (1524–1592), Professor in Alcalá, vor. 1087 Die Bezeichnung Hispaniae (wörtl. = ‚beide Spanien‘) geht auf die beiden römischen Provinzen Hispania citerior und Hispania ulterior zurück. 1088 dimensum = das ‚Zugemessene‘, ► p. 390. 1089 Alfons von Aragón (1396–1458), seit 1416 als Alfons V. König von Aragón, seit 1442 als Alfons I. König von Neapel, Gründer der Ac(c)ademia Pontaniana in Neapel, nahm nach dem Fall Konstantinopels (1453) byzantinische Gelehrte auf, setzte sich besonders für Reformen der Rechtsprechung ein (► Ryder 1976). 1090 Mit dem harten Terminus ludii deutet Schoock noch einmal an, daß er das Streben der Ärzte nach Wucherhonoraren kritisch sieht.
268 B. Original und Übersetzung Delphici Apollinis oraculo, jure merito mortalium sapientissimus cluebat, impar fuit calumnijs Aniti ac Meliti, nasoque falsissimi Aristophanis; ac, quod quis deploret, ipso Atheniensi populo urnam approbante, cicuta in carcere hausta de medio sublatus est. Anaxarchus à Nicocreonte Cyprio Rege in pilam concavam conjectus, ferreisque malleis ad mortem usque cœsus fuit. Non diffiteor: hilaris in ipsa morte Philosophus fuit, existimans utrem, non Anaxarchi corpus tundi; condemnatus tamen & ductus fuit tanquam qui Regis capiti insidias struxisset. Callisthenes ter maximi Aristotelis propinquus, & post eum ductor juventutis Magni Alexandri; ab eo ipso, cui ad virtutem & prudentiam præiverat, cæterum à calumnia antea circumvento, in caveam ferream est conjectus, cumque ad ludibrium totam per Asiam circumductus esset; pædore atque squalore totus obsitus, leoni est objectus, misereque hunc vitæ mimum finivit. Nero Senecam familiarem, præceptoremque suum, ad eligendæ mortis arbitrium coëgit, & tamen rigidus fuit virtutis [482] magister, qui parem ingenio non habuit, atque admirandus potius videtur, quam laudandus. Thraseas Philosophus sine exemplo maximus, compositusque non minus ex aulæ, quam porticus artibus, venas suas secandas ad arbitrium Neronis medico offerre debuit. Manlius Severinus Boethius, ingenio subtilis & sensu promptus, ad hoc Consul Romanus, postquam non minus præclare de republ. promeritus erat, atque de Aristotele, cui primus togam induit; jussu Theodorici Regis post diuturnum exilium, ad Ravennam in carcere, ex quo prodijt aureo-
18 1649 sensu. 1650 seusu (umgedrehtes n).
1091 Socrates: Sokrates, der bekannteste griechische Philosoph (469–399). Das Apollon-Orakel und die Namen der Ankläger Anytos und Meletos sind aus Platons Apologia bekannt. Aristophanes verspottete Sokrates in den Nephelai (‚Wolken‘), ► p. 439. 1092 nasus: ‚Nase‘, übertragen ‚Spott‘, ‚Satire‘. 1093 urna: Der Topf, in den die Richter ihre Stimme gaben, übertr. ‚Los‘, ‚Urteil‘, wie Hor. Sat. 2, 1, 47 Cervius iratus leges minitatur et urnam. 1094 Anaxarchus: Anaxarchos, Demokriteer, begleitete Alexander den Großen auf seinem Zug in den Osten, nach dessen Tod von dem Tyrannen Nikokreon von Salamis auf Zypern getötet (zur folgenden Geschichte ► Diog. Laert. 9, 59). 1095 pila: ‚Ball‘, übertr. ‚Strohmann‘ (bei Stierkämpfen wurde eine ausgestopfte Menschenfigur den Stieren vorgeworfen, die sie zerfetzten, Mart. 2, 43, 6). 1096 caput: ‚Haupt‘, übertr. ‚Person‘. 1097 Callisthenes: Kallisthenes von Olynthos, Verwandter des Aristoteles, Alexanderhistoriker (4. Jahrhundert). Der gräßliche Tod nach Diog. Laert. 5, 5 erzählt. 1098 ► p. 393. 1099 Thraseas: Publius Clodius Thrasea Paetus aus Patavium, römischer Politiker († 66 n. Chr.), 56 Suffektkonsul, Angehöriger der sog. Stoischen Opposition, von Nero in den Tod getrieben, eine der eindrucksvollsten Gestalten in Tacitus’ Annales. 1100 Boethius: Anicius Manlius Severinus Boethius, weströmischer Politiker und Philosoph (ca.
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phen während des letzten Aktes ihres Lebens. Sokrates,1091 der nach dem Orakel des delphischen Apollo mit (vollem) Recht im Ruf des weisesten der Sterblichen stand, war den trügerischen Anklagen des Anytos und Meletos und des in seinem Spott1092 grundfalschen Aristophanes nicht gewachsen und wurde – was man beweinen kann, da sogar das athenische Volk das Urteil1093 billigte – durch einen im Kerker getrunkenen Schierlingssaft aus dem Weg geräumt. Anaxarchos1094 wurde von dem zyprischen König Nikokreon in einen hohlen Strohmann1095 gesteckt und mit eisernen Hämmern zu Tode geschlagen. Ich stelle nicht in Abrede: Er war selbst im Tod ein heiterer Philosoph, indem er sich vorstellte, ein Schlauch, nicht Anaxarchos’ Körper werde geschlagen; doch wurde er verurteilt und abgeführt wie einer, der der Person1096 des Königs einen Hinterhalt bereitet hätte. Kallisthenes,1097 ein Verwandter des dreimal größten Aristoteles und nach ihm der Führer der Jugend Alexanders des Großen, wurde von diesem selbst, dem er Anleitung zur Tugend und Klugheit gegeben hatte, der aber zuvor von Verleumdung umgarnt worden war, in einen eisernen Käfig geworfen und, als er zum Spott durch ganz Asien herumgeführt worden war, von Unflat und Schmutz bedeckt, einem Löwen vorgeworfen und beendete elend dieses Possenspiel des Lebens. Nero zwang Seneca, seinen Vertrauten und Lehrer, zur Entscheidung, den Tod zu wählen.1098 Und doch war er ein strenger Lehrer der Tugend, [482] der an Genie einen Gleichen nicht hatte und eher als bewundernswert denn als lobenswert erschien. Thrasea,1099 der so große Philosoph ohne Beispiel und nicht weniger von den Regeln des Hofes als denen der Stoa geformt, mußte seine Adern gemäß Neros Entscheidung einem Arzt darbieten. Manlius Severinus Boethius,1100 im Denken gründlich und im Sinn entschlossen, dazu römischer Konsul, wurde, nachdem er sich nicht weniger vortrefflich um den Staat verdient gemacht hatte als um Aristoteles, dem er als erster ein römisches Gewand anzog, auf Befehl des Königs Theoderich1101 nach einem langdauernden Exil in einem Kerker bei Ravenna, aus dem das goldene Buch über die Tröstung der Philosophie hervorgegangen ist, getötet.
480–524), 510 Konsul, Hauptarbeitsgebiet Aristoteles; einflußreichstes Werk ist die Consolatio philosophiae. Gegen Ende des Lebens wurde Boethius beschuldigt, an einer von Ostrom angezettelten Verschwörung teilgenommen zu haben, und nach einem sich länger hinziehenden Verfahren hingerichtet. In der Consolatio spricht Boethius von einem Exil, in dem er sich befinde, wenn er gleich zu Anfang has exsilii nostri solitudines erwähnt. Da hierüber sonst nichts bekannt ist, dürfte es sich um eine bildliche Ausdrucksweise für das Gefühl des Verlassenseins (Ausgestoßenseins) handeln. Olof Gigon etwa sieht Boethius’ Situation so: Er wurde „angesichts seines Standes […] nicht wie ein gewöhnlicher Übeltäter ins Gefängnis geworfen, sondern aus der Szenerie der ‚Tröstung der Philosophie‘ ergibt sich deutlich, daß ihm zunächst ein Zwangsaufenthalt zugewiesen wurde, der zwar nicht bequem, aber doch erträglich war“ (1969, S. XI). 1101 Theodericus Rex: Theoderich der Große (ca. 453–526), 474 König der Ostgoten, 493 König in Italien, 497 von Ostrom anerkannt.
270 B. Original und Übersetzung lus libellus de Consolatione Philosophiæ, jugulatus est. Iohannes Scotus, quem quis cum ratione ingenij cotem, mentisque nobilioris limam vocaverit, Ludovici Pij seculo, non quidem imperante aliquo tiranno, sed à discipulis, ante à malo quo Genio obsessis, graphijs confossus misere interiit. Non possum, quin in hoc Philosophorum album duos ex Astrologorum tribu referam; Lucam scil. Gauricum & Bartholomæum Coclitem, utrique enim ars, nimium quam diligenter exculta, exitio fuit. Quod ad illum quidem, cum Ioanni Bentivolo futuras calamitates prædixisset, abreptus ab eo, atque ex præalta trochlea suspenso fune quinquies miserandum in modum concussus, nimiæ in prædicendo libertatis pœnas dedit: hic vero, ut ut omnia ageret incidit in insidias à Copono quodam structas, artemque quam profitebatur, sua non destitui certitudine [483] ostendit; namque ex lineamentis, quæ in manibus suis observarat, diu ante cruentam mortem sibi auguratus fuerat. Philosophos missos facerem, si silentio præterire possem Petrum Ramum. Diris quidem eum devovent, qui Aristotelem humana sorte superiorem, atque ab omni errore liberum fuisse opinantur. Ad me quod, haud equidem patrocinium paravero petulanti illius ingenio, jam antea quoque castigato: interim cum Thessalo illo agricola, (femur licet non nemo feriat) vidit quædam resecanda esse, quorum luxuriem rite atque ordine castigasset, si scivisset, quousque progrediendum foret. Ringor autem maxime quod Philosophus, ingenio non minus quam eloquentia excellens, in dira illa Parisina laniena, jam ante trucidatus, tam inique à discipulis suis in ipsum cadaver sævientibus, exceptus fuerit. Oratoribus nullum præ Philosophis privilegium concessum fuisse, duo illa sidera, Demosthenes atque Cicero docent: quamvis hujus excessus, tanto habendus sit gloriosior, quod infamia
4 1649 obsessis. 1650 obsessus.
1102 Iohannes Scotus: Johannes Scot(t)us Eriugena, irischer Gelehrter, im Westfrankenreich lebend (9. Jahrhundert). Die Berichte über seinen Tod sind legendenhaft. 1103 Ludovicus Pius: Ludwig der Fromme (778–840, seit 814 Kaiser des Fränkischen Reiches). 1104 Lucas Gauricus: Luca Gaurico, italienischer Bischof und Astrologe (1476–1558), prophezeite dem Herrscher von Bologna Giovanni II. Bentivoglio das Ende seiner Herrschaft in demselben Jahr, wofür dieser ihn foltern ließ. 1105 Bartholomæus Cocles: Bartolomeo della Rocca, genannt Cocles, italienischer Astrologe (1467–1504), wurde auf Veranlassung des italienischen Söldnerführers Ermes Bentivoglio (1475–1513) wegen der Prophezeiung, Ermes werde im Kampf sterben, ermordet. 1106 Wohl gemeint: wie sehr er sich auch vorsah.
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Iohannes Scotus,1102 den man mit Grund einen Schleifstein des Geistes und eine Feile der vortrefflicheren Gesinnung genannt hat, ging im Zeitalter Ludwigs des Frommen1103 elendiglich zugrunde – zwar nicht auf Befehl eines Tyrannen, sondern von Schülern mit Griffeln durchbohrt, nachdem sie zuvor von einem bösen Genius besessen waren. Ich kann nicht umhin, daß ich in dieses Verzeichnis der Philosophen nicht zwei aus der Zunft der Astrologen aufnehme, nämlich Luca Gaurico1104 und Bartolomeo Cocles;1105 denn beiden gereichte die viel mehr als sorgfältig ausgeübte Profession zum Verderben. Was nämlich jenen (Gaurico) betrifft: Als er Giovanni Bentivoglio zukünftige Unglücksfälle vorausgesagt hatte, zahlte er, von diesem entführt und mit einem an einer sehr hohen Winde aufgehängten Seil fünfmal auf bemitleidenswerte Weise zusammengeschlagen, Strafe für die allzu große Freiheit beim Prophezeien. Dieser (Cocles) aber fiel, wie auch immer er alles machte,1106 in einen von einem gewissen Coponus gelegten Hinterhalt und zeigte, daß seine Profession, die er ausübte, nicht von ihrer Treffsicherheit verlassen wurde; [483] denn aus den Linien, die er in seinen Händen beobachtet hatte, hatte er sich lange vorher den blutigen Tod geweissagt. Die Philosophen würde ich verabschieden, wenn ich schweigend an Petrus Ramus1107 vorbeigehen könnte. Den Furien weihen ihn unstreitig diejenigen, die glauben, daß Aristoteles dem menschlichen Los überlegen und von jedem Irrtum frei gewesen ist. Was mich betrifft, werde ich seinem auch vorher schon gerügten mutwilligen Verstand bestimmt keine Verteidigung zuteil werden lassen. Indessen sah er mit jenem thessalischen Landmann1108 (mancher mag auf seinen Schenkel schlagen),1109 daß einiges zu beschneiden sei, dessen Üppigkeit er nach Recht und Ordnung verbessert hätte, wenn er gewußt hätte, bis wohin vorzugehen wäre. Ich ärgere mich aber im höchsten Grade, daß der an Geist nicht weniger als an Beredsamkeit hervorragende Philosoph bei jener schrecklichen Pariser Metzelei,1110 nachdem er schon längst niedergesäbelt worden war, so ungerecht von seinen sogar gegen die Leiche wütetenden Schülern angegriffen wurde. Daß den Rednern kein Privileg vor den Philosophen zugestanden wurde, lehren jene beiden Gestirne Demosthenes und Cicero – obschon der Tod von diesem als um soviel
1107 Petrus Ramus: ► p. 414. 1108 Der Thessalus agricola ist der alte Segensgott Aristaios, der aus dem in Thessalien liegenden Tempe-Tal kommt (Verg. Georg. 4, 317). Auch bei Columella heißt es 9, 2, 4: in Thessalia sub Aristaeo. Aristaios ist göttlichen Ursprungs (Sohn Apollons). Deswegen stellt Columella im Prooemium des ersten Buches Triptolemi aut Aristaei prudentiam nebeneinander (32). Solche prudentia läßt Ramus walten. resecanda / luxuriem / castigasset: sowohl wörtlich für Aristaeus’ als auch übertragen für Ramus’ Tätigkeit zu verstehen. castigare übertr. ‚verbessern‘, wohl nach Hor. Ars 294 carmen castigare formuliert. 1109 Geste des Unwillens, ► p. 392 1110 Parisina laniena: Bartholomäusnacht (23. / 24. August 1572).
272 B. Original und Übersetzung ejus in unum Antonium, ac sceleratissimos ejusdem ministros redundet. Quod vero quis cum ratione deploret, caput totius Græciæ Demosthenes, ad quem, audiendi caussa, ex tota Græcia fieri solent concursus, in semet ipsum sævijt, haustoque veneno subduxit inclementiæ fortunæ, quæ tantum virum extrema ætate exercere decreverat, ut in majori veneratione apud posteritatem foret. Mollior [484] quidem fuit M. Cicero, ac parum quin impatiens adversorum omnium, nullo tamen incitante Philisto, à quo ante edoctus erat quomodo ferendum esset exilium, percussores Popillium & Herennium composita mente exspectavit, ijsque sine ullo gemitu cervicem obtulit. Quis Minervæ litare velit, eique non solum Quinquatria impendere, sed ter quoque singulis mensibus perviligium celebrare? Ciceronis caput, una cum manibus, ante illa rostra, quæ toties vocis fulminibus fregerat, propositum fuit, lacrymasque excussit ijs, quorum aures & animos toties ante, divina viri lingua impleverat! Plures ex hoc ordine non adduco, ne videar penulatos doctores, ac Professoriam linguam componere voluisse cum tantis dicendi magistris. Poëtarum fatum haut dissimile oratorum sorti. Vnus Orpheus docere potest, non solum poëta excellens, sed amplius vir præstans sapientia, multorumque arcanorum peritus: quem à Ciconum mulieribus discerptum, levem ob caussam commemorat serius scriptor Plutarchus. Nescio an clementius actum fuerit cum Euripide, grandi illo cothurni ornamento: cum enim aliquando ab Archelao cœnatus noctu domum rediret, à canibus laceratus est, immissis vel ab
6 M.] 1649 / 1650 keine Interpunktion. Lef. Punkt. | 17 1649 multorumque. 1650 moltorumque.
1111 Antonius: Marcus Antonius, römischer Feldherr und Politiker († 30), stand in der Auseinandersetzung von Caesar und Cicero auf Caesars Seite, beging nach der Schlacht von Actium (31), deren Ausgang Oktavian die Alleinherrschaft brachte, Selbstmord. Die Umstände von Ciceros Tod konnte Schoock Plutarchs Cicero-Vita entnehmen. 1112 Nicht kursiv gedrucktes Zitat aus Cic. Brut. 289 […] cum Demosthenes dicturus esset, ut concursus audiendi causa ex tota Graecia fierent […]. 1113 Philistus: Philistos von Syrakus, griechischer Politiker und Historiker, Berater des Tyrannen Dionysios II. (ca. 432–356). Cicero bezieht sich mehrfach auf ihn, so Ad Quint. fratr. 2, 12, 4, wo er ihn einen kleinen Thukydides (pusillus Thucydides) nennt. 386 wurde Philistos von Dionysios in die Verbannung geschickt; erst nach dessen Tod kehrte er 367 zurück. Während der Verbannung aus Syrakus schrieb er eine Geschichte Siziliens in 11 Büchern (Σικελικά). So hatte Cicero von ihm gelernt, im Exil nicht gebrochen zu sein. Bei seiner Ermordung bedurfte er einer solchen Belehrung nicht mehr (weil er innerlich gefestigt war). 1114 Plut. Cicero-Vita 48. 1115 Ein Gleichnis: Wer würde wohl, wenn er Minerva ein Opfer darbringen will, nicht allein die fünf ganze Tage dauernden Quinquatrien (19.–23. März) aufwenden, sondern darüber hinaus
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ruhmreicher anzusehen ist, als seine Schande allein auf Antonius1111 und dessen verbrecherische Helfer zurückfällt. Was man aber mit Recht beweinen mag: Der Kopf ganz Griechenlands, Demosthenes, zu dem, um ihn zu hören, aus dem gesamten Griechenland Aufläufe zu geschehen pflegten,1112 wütete gegen sich selbst und entzog sich durch Einnahme von Gift der unerbittlichen Strenge Fortunas, die beschlossen hatte, den so großen Mann am Ende seines Lebens heimzusuchen, damit er in (um so) größerer Verehrung bei der Nachwelt stehe. Gelassener [484] war unstreitig M. Cicero, und beinahe empfindungslos gegenüber allen Mißgeschicken erwartete er – während ihn doch kein Philistos1113 anregte, von dem er früher belehrt worden war, auf welche Weise ein Exil zu ertragen sei – die Mörder Popillius und Herennius gefaßten Sinnes und bot ihnen ohne jeden Seufzer den Nacken dar.1114 Wer wollte Minerva ein Opfer darbringen und für sie nicht allein die Quinquatrien aufwenden, sondern auch dreimal von Monat zu Monat eine Wache feiern?1115 Ciceros Haupt wurde zusammen mit den Händen vor jener Rednerbühne, die er so oft mit den Blitzen seiner Stimme zerschmettert hatte, zur Schau gestellt und preßte denjenigen Tränen aus, deren Ohren und Herzen es vorher so oft mit der göttlichen Rede des Mannes erfüllt hatte! Mehr aus diesem Stand führe ich nicht an, damit es nicht den Anschein hat, daß ich einfache1116 Lehrmeister und schulmeisterliche Sprache1117 mit so großen Meistern im Reden vergleichen wollte. Das Schicksal der Dichter ist dem Los der Redner nicht unähnlich. Allein Orpheus kann es lehren, nicht nur ein hervorragender Dichter, sondern mehr noch ein Mann, ausgezeichnet durch Weisheit und erfahren in vielen Geheimnissen: Daß der von den Frauen der Kikonen1118 aus einem geringfügigen Grund zerrissen wurde, legt der seriöse Schriftsteller Plutarch1119 dar. Ich weiß nicht, ob mit Euripides milder verfahren worden ist, jener großen Zierde der Tragödie:1120 Als er nämlich einst von Archelaos1121 nach einem Mahl nachts nach Hause zurückkehrte, wurde er von Hunden zerrissen, die entweder von Aribaios, noch dreimal von Monat zu Monat Nachtwachen feiern? Doch wohl niemand. Aber Cicero handelte außergewöhnlich: Er war den Mördern gegenüber nicht nur gefaßt, sondern bot ihnen darüber hinaus seinen Nacken dar. 1116 penulatos: ► p. 416. 1117 Professoria lingua: wohl (indirektes) Zitat von Tac. Ann. 13, 14, 3 (über Seneca). 1118 Die Kikonen waren eine thrakische – also barbarische – Völkerschaft. 1119 Schoock könnte sich auf Plutarchs Alexander-Vita 2, 7 beziehen (Hinweis von Heinz Gerd Ingenkamp). Auf diese Vita stützt er sich p. 443 zweimal (► dort). 1120 cothurnus: ► p. 466. 1121 Euripides lebte zuletzt am Hof des Königs der Makedonen Archelaos in Pella, wo er 406 starb (► p. 382). Dort hätten, wie die Suda s. v. Εὐριπίδης berichtet, die beiden von Schoock genannten Dichter einen Angestellten des Königs überredet, Hunde gegen Euripides loszulassen. Das habe der S k l a v e Promeros getan. Es ist also nicht sicher, ob Schoock oder seine Quelle direkt in der Suda nachgeschlagen haben.
274 B. Original und Übersetzung Aribæo Macedone, & Crateva Thessalo poëtis ejus æmulis; vel à ministris Promeri Regis, qui odio implacabili propterea prosecutus fuit poëtam, quod in fabulis ab eo se tactum crederet. A latronibus jugulatus fuit Ibycus, eo [485] nomine beatus, quod vindices necis suæ grues expertus fuerit. Plato non quidem Philosophus, sed Tragicus, cujus duodetriginta fabulas antiqui Critici recensent, postquam summa 5 potestate, quam post Cleonem Athenis occupaverat, dejectus esset; ab inimicis, qui profugum in insula Samo arripuerant, culeo insutus in mare dejectus est. Sotades ævo suo non minus cultus, quam facetus poëta; quod de rege Lysimacho multa, & de Rege Ptolemæo plura impudentius scripsisset, à Patroclo Ptolemæi milite captus, & plumbeo vase conclusus in mare est demersus. Magnus ille Bucolicus 10 poëta Theocritus, cuius Gratias & Veneres nemo satis capit, jussu Hieronis tyranni, nullo suo merito laqueo strangulatus interijt. Reconditi sensus poëta Lycophron, ipso Nasone teste, sagitta ab æmulo immissa occubuit. Mævius poëta non incelebris, nec ullo alio nomine detestandus, quam quod incomparabili Maroni maledixit, ab Atheniensibus in vincula conjectus, & inedia mori coactus est. Nec recentio- 15 ribus seculis clementius cum poëtis actum fuit. Magnus ille Thomas Morus, qui se ipso præceptore usus, ex omnibus Anglis Græce pariter atque Latine probæ notæ carmen scripsit; cervicem carnifici offerre debuit, ut ex irati regis arbitrio præcideretur. Hercules Stroza, qui ex paucis, quæ tempus servavit, ingenij monumentis,
5 1649 duodetriginta. 1650 duodetringinta.
1122 Ibycus: Ibykos, griechischer Dichter aus Rhegion in Unteritalien (6. Jahrhundert), wurde der Legende nach in Samos von Räubern erschlagen, was durch Kraniche an den Tag kam – bekannt durch Schillers Ballade. 1123 Plato: Platon, Dichter der Alten K o m ö d i e (um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert tätig), nur Fragmente erhalten, Zeitgenosse des Aristophanes. Die Suda nennt 28 Titel (daher könnte sie direkt oder indirekt Schoocks Quelle gewesen sein) und beruft sich auf Athenaios’ Deipnosophistai. „Bei Schoock wird offenbar der Komödiendichter Platon (der eine Komödie über Hyperbolos schrieb, die auch den Titel Hyperbolos trug) und der Politiker Hyperbolos, der in Athen tatsächlich in der Zeit nach Kleons Tod eine führende Rolle einnahm, miteinander vermengt (der Tod von letzterem wird genau so geschildert von Theopomp. FGrHist 115 F 96a–b, überliefert in den Scholien zu Lukian und zu Aristophanes’ Wespen)“ (Hinweis von Christian Orth). 1124 Sotades: Hellenistischer Dichter (3. Jahrhundert), griff u. a. Ptolemaios II. wegen dessen Ehe mit seiner Schwester Arsinoe an und wurde zur Strafe ertränkt. Schoock folgt Athenaios Deipnosoph. 14, 620f–621a. 1125 Theocritus: Theokrit, griechischer vorwiegend bukolischer Dichter aus Syrakus (3. Jahrhundert); erhalten Eidyllia, ein Figurengedicht Syrinx und Epigramme. In der Frühen Neuzeit war die Ansicht verbreitet, er sei auf Hierons Befehl getötet worden (so Blount (1690) 1710, S. 38). Tatsächlich überliefert ein Scholion zu Ovid Ibis 549, Theokrit habe Hierons Sohn gelästert und sei daher
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einem makedonischen, und Krateva, einem thessalischen Dichter, seinen Konkurrenten, geschickt worden waren, oder von Helfern des Königs Promeros, der den Dichter deshalb mit unversöhnlichem Haß verfolgte, weil er glaubte, er sei von ihm in seinen Stücken aufs Korn genommen worden. Von Räubern erschlagen wurde Ibykos1122 – [485] deswegen glücklich, weil er Kraniche als Rächer seiner Ermordung erfahren hat. Nachdem Platon,1123 zwar nicht der Philosoph, sondern der Tragiker, dessen achtundzwanzig Bühnenstücke die antiken Kritiker kritisch durchmustern, aus der sehr hohen Machtstellung, die er nach Kleon in Athen eingenommen hatte, gestürzt worden war, wurde er von Feinden, die den Flüchtling auf der Insel Samos aufgegriffen hatten, in einen Sack eingenäht und in das Meer hinabgestürzt. Weil Sotades,1124 in seiner Zeit ein nicht weniger gepflegter als eleganter Dichter, über König Lysimachos vieles und über König Ptolemaios noch mehr allzu unverschämt geschrieben hatte, wurde er von Patroklos, einem Soldaten des Ptolemaios, gefangengenommen und, in einem Gefäß aus Blei eingeschlossen, in das Meer versenkt. Jener große bukolische Dichter Theokrit,1125 dessen Lieblichkeiten und Schönheiten niemand hinreichend erfaßt, wurde auf Befehl des Tyrannen Hieron ohne seine Schuld mit einer Schlinge erdrosselt und starb. Der Dichter tiefreichender Empfindung Lykophron1126 sank – Ovid selbst ist Zeuge – durch einen von einem Konkurrenten abgeschossenen Pfeil nieder. Der Dichter Maevius,1127 nicht unberühmt und aus keinem anderen Grund verabscheuenswert, als daß er den unvergleichlichen Maro geschmäht hat, wurde von den Athenern in Fesseln geworfen und gezwungen, Hungers zu sterben. Auch in neueren Zeitaltern wurde mit den Dichtern nicht milder verfahren. Jener große Thomas Morus,1128 der sein eigener Lehrer war und von allen Engländern ebenso in Latein wie in Griechisch Dichtung von gutem Niveau verfaßt hat, mußte den Nacken dem Henker darreichen, damit er nach dem Spruch des erzürnten Königs abgeschlagen wurde. Als Ercole Strozzi,1129 der an den wenigen Werken seines Geistes, welche die Zeit erhalten hat, wie der Löwe an der Kralle1130 zu erkennen ist, in blühendem
auf den Befehl des Tyrannen im Kerker aufgehängt, nach anderen: enthauptet worden (Hinweis von Ulrich Schmitzer). 1126 Lycophron: Lykophron von Chalkis, alexandrinischer Philologe und Tragiker (3. Jahrhundert), starb nach Ovid Ibis 529–530 an einem Pfeilschuß. 1127 Maevius (Mevius): ► p. 396. Die Scholien zu Ovid Ibis 523 berichten, die Athener hätten den Dichter, weil er sie in einem Gedicht heruntergemacht habe, eingekerkert und Hungers sterben lassen (Hinweis von Ulrich Schmitzer). Der Name ist dort zum Teil verschrieben, aber Schoocks Quelle las auf jeden Fall Maevius. 1128 Thomas Morus: Thomas More (► p. 398) wurde unter Heinrich VIII. enthauptet, weil er dem König als dem Oberhaupt der Anglikanischen Kirche den Suprematseid verweigert hatte. 1129 Hercules Stroza: ► p. 450. 1130 Sprichwort: ► Büchmann 1972, S. 486.
276 B. Original und Übersetzung veluti leo ex ungue agnosci debet, vernante ætate, (ut & ante mo[486]nitum) in globum latronum cum incidisset, spolij loco animam ijs relinquere debuit, ne in posterum Æternitatis sacello subacti ingenij carmina offerret. Commemorari hic quoque debet Fabius Latinus, ex versibus, quos Etrusca lingua scripsit, notissimus, non ut omnia probentur, quæ ab eo, etiam ut poëta, improvide facta fuerunt; sed 5 ut male sit rustico ac nauci homini, qui eundem, cum cogitationes serio ultra hoc seculum extendere meditaretur, Mantuæ mactavit verius, quam trucidavit. Exemplorum nihil, etiamsi sexcenta amplius ad manum sint, ultra addo, nec calamitates plures percenseo, quod perventum ad mortem sit, quæ non terminat eruditorum miserias, nisi pariter victuro eorum nomini apud ignaros, & peregri- 10 nos in literis, tacitam aliquam infamiæ opinionem procuraverit.
[monita] Interim adeste, quotquot hactenus in miseriarum profundo reliqui, & monita quædam audite, quo lenire queatis quicquid malorum ingruit. Tu vero præ alijs adesto, qui non solum eruditus, & sapiens, sed etiam Christianus censeri vis. 15 Primo, & ante omnia, quæcunque recte facta, non ad ostentationem & gloriam, sed conscientiam, ejusque testem Deum, referto. Quantæ vanitatis est, magis aliorum testimonijs, quam domestico velle credere? imo quantæ vecordiæ, ut alijs placeas, conscientiæ, id est tibi atque virtuti displicere? Qui puellam interiori mentis affectu deperit, non testes & arbitros complexuum desi[487]derat, sed suavissimo 20 amoris fructu contentus in sinu suo tacitus gaudet. Omnia Deo, & post Deum, tamen ipso conscio, facito; nec præsumes unquam te metiri vel pro laudantium affectu, vel adulantium impostura: auraque favoris, si forte placide aspiraverit, excitaberis ad industriam, non inflaberis ad superbiam. Magnus ille Cleobolus, quem Græcia inter Sapientes, quos paucos admodum habebat, censere voluit, 25
4 notissimus,] 1649 Semikolon. 1650 keine Interpunktion. Lef. Komma.
1131 Münzen der römischer Kaiser Augustus und Tiberius stellen einen Tempel mit der Legende Aeternitati Augustae dar (► Fritz Graf. In: DNP. Bd. 1 (1996), Sp. 207). 1132 Gemeint: Er kaufte sich weder frei noch flehte er um Gnade, sondern widersetzte sich und wurde überwältigt. 1133 Fabius Latinus: Fabio Latino, Freund des Dichters Torquato Tasso (1544–1595), «anch’ ei delle Muse chiaro cultore […]. Fabio […] rovinato in ogni suo avere, venne da un vil mascalzone in Mantova ucciso» (Tollio 1829, S. 232). 1134 adesse animo / animis bzw. nur adesse (z. B. Plaut. Men. 643 audi atque ades): ‚mit dem Geist zugegen sein‘ / ‚aufmerken‘.
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Alter (wie vorher [486] erwähnt) in eine Schar von Räubern gefallen war, mußte er ihnen sein Leben als Beute überlassen, damit er nicht für die Zukunft dem Heiligtum des ewigen Gedächtnisses1131 Spottlieder auf seinen besiegten Charakter darbiete.1132 Erwähnt werden muß hier auch Fabio Latino,1133 aufgrund von Versen, die er in toskanischer Sprache geschrieben hat, sehr bekannt, nicht damit alles gebilligt werde, was von ihm, auch als Dichter, unbekümmert geschaffen wurde, sondern damit den plumpen und nichtswürdigen Menschen der Fluch treffe, der denselben, als er darauf sann, seine Vorhaben ernsthaft über dieses Jahrhundert hinaus auszudehnen, in Mantua wahrhaftiger schlachtete als totschlug. An Beispielen füge ich, obwohl mehr als unzählige weiterhin zur Hand sind, darüberhinaus nichts an noch mustere ich mehr Unglücksfälle, weil beim Tod angelangt ist, der die elenden Situationen der Gelehrten nicht beendet, wenn er nicht zugleich ihrem weiterlebenden Namen bei den Unwissenden und in der Wissenschaft Fremden manches stillschweigende Vorurteil eines üblen Rufes verschafft hat.
[Epilog: Ermahnungen (Gelehrtenspiegel)] Für jetzt merkt auf,1134 soviele ich bisher im Abgrund der elenden Situationen zurückgelassen habe, und hört einige Ermahnungen, damit ihr lindern könnt, was auch immer an Übeln einbricht. Du aber sollst vor anderen aufmerken, der du nicht nur als gelehrt und weise, sondern auch als christlich eingeschätzt werden willst. Zuerst und vor allem sollst du alle nur möglichen rechten Taten nicht auf das Zurschaustellen und den Ruhm, sondern auf das Gewissen und Gott als dessen Zeugen beziehen. Von wie großer Nichtigkeit zeugt es, mehr den Urteilen anderer als dem eigenen vertrauen zu wollen? Ja, von wie großem Wahnsinn, damit du anderen gefällst, dem Gewissen, das heißt dir und der Tugend, zu mißfallen? Wer in ein Mädchen mit dem inneren Fühlen seines Gemütes heftig verliebt ist, vermißt nicht Zeugen und Schiedsrichter der Umarmungen, [487] sondern freut sich, mit der süßesten Frucht der Liebe zufrieden, schweigend im Stillen.1135 Alles sollst du mit Gott und nach Gott doch wenigstens mit dir selbst als Zeugen tun; und nicht wirst du dir jemals herausnehmen, dich nach dem Willen Lobender oder der Betrügerei Schmeichelnder zu messen; und durch den lockenden Hauch des Beifalls, wenn er einmal in sanfter Weise günstig wehen wird, wirst du zur Energie, nicht zur Aufgeblasenheit entflammt werden. Jener große Kleobulos,1136 den Griechenland unter die Weisen, von denen es sehr wenige hatte, zu rechnen
1135 in sinu gaudere: ‚sich im Stillen freuen‘ ([Tib.] 3, 19, 8 in tacito gaudeat ipse suo). 1136 Cleobulus: Kleobulos, Tyrann von Lindos auf Rhodos (7. / 6. Jahrhundert), galt als einer der Sieben Weisen.
278 B. Original und Übersetzung sublime aliquid & illustre sapiendum esse ajebat. Applica tibi ipsi: nulla sapientia sublimior hac cogitari potest. Corpus cum belluis commune, animam ex ipso cælo Deus dedit; atque mundo hospitem solum esse voluit, proposito cælo, tibi non ut portu solum, sed, maxime ut patria. Vah! si tu qui ad majora es genitus, mancipium corporis fias. Vinculum solum est libertati tuæ circumdatum, rumpere omnibus modis illud oportet. Invitat eo is, qui in ipsos reges imperium exercet. Da quæso blandienti, quod citra piaculum jubenti recusare non potes. Quid præsumis tam blandum, sollicitum, atque misericordem patrem ad tristitiam provocare, & negligere tot ac tanta gaudia, quæ plena manu proponit? Vocat te quotidie, imo invitat, & manum fatiscenti porrigit: quid ergo aut aures occludis, aut dextram tam officiosam apprehendere detrectas? Vt cælum tibi pateret, ad quod per peccatum aditum tibi ipsi obstruxeras, misit non solum Filium suum unigenitum; sed amplius piacularem [488] victimam tuæ vecordiæ constituit: ejusque morte demersum est, Tartaro, grave istud peccatorum pondus, quod in Tartarum te deprimebat. Quid cunctaris confligere cum peccato, ut in tui victoris cadat triumphum, doleatque aliquando secure calcari, ab eo, cui quondam imperabat ut servo? Strenuus animi miles non vult pugnæ præmium, sine pugna. Tu quoque Christi miles es: ei sacramentum dixisti, quod quantum sit, defæcata mente expende. O infelicem te, si aut transfuga fueris factus, aut dicto tanti Imperatoris obsequi renueris! Proponit is non solum semetipsum exemplum, sed amplius imbecillitati tuæ succurrendo, ostendit quomodo illud imitari debeas; cumque posset pro imperio dictata dare, blanda tamen hac voce te alloquitur: Discito à me, quod lenis sim, & summissus corde. O utinam nosse posses, quid sit hæc submissio! Obtestor te, loculos memoriæ excutere digneris, & quantum profeceris, diligentius examinare. Quod
1137 Diog. Laert. 1, 91 überliefert von Kleobulos den Ausspruch: φρόνει τι κεδνόν. μὴ μάταιος γινέσθω. 1138 vecordia: ‚Unbesonnenheit‘ (Kirschius 1774, Sp. 2921). 1139 Mt 11, 29. 1140 Simonides: ► p. 382. Schoock bezieht sich auf die jenem zugeschriebene Geldgier, aber die „weitverbreitete anekdotische Trad. über die Käuflichkeit und den Geiz des S. ist stereotyp und ohne biographischen Wert“ (Emmet Robbins. In: DNP. Bd. 11 (2001), Sp. 575). Das von Schoock zitierte Bild wurde den Humanisten von Erasmus vermittelt: Adagia 2, 9, 12: Simonidis cantilenæ [Überschrift]. Σιμωνίδου μέλη. id est, Simonidis cantilenæ. De uafris ac subdolis dictum est. Hunc tradunt primum astutiam, & quæstum in artem induxisse. Erant illi duo scrinia, alterum gratiarum, alterum præmiorum, quæ cum post tempus aliquantum aperuisset, gratiarum arculam semper offendebat inanem, præmiorum semper plenam. Hoc commento significans se nolle gratis donare carmina. (Es folgen Belege bei Plutarch, Aristophanes und Theokrit; zitiert nach der Ausgabe Lugduni 1559, Sp. 781). Den Ausspruch hat Stobaios überliefert (Περὶ ἀδικίας 39): Σιμωνίδης παρακαλοῦντος τινὸς ἐγκώμιον ποιῆσαι, καὶ χάριν ἕξειν λέγοντος, ἀργύριον δὲ μὴ διδόντος, δύο εἶπεν οὗτος ἔχω κιβωτούς, τὴν μὲν χαρίτων, τὴν δ᾿ ἀργυρίου· καὶ πρὸς τὰς χρείας, τὴν μὲν τῶν
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bestimmte, sagte, daß man etwas Hohes und Bedeutendes denken müsse.1137 Beziehe es auf dich selbst; keine Weisheit kann höher als diese gedacht werden: Der Körper ist mit den wilden Tieren gemein, die Seele hat Gott direkt aus dem Himmel gegeben; und er wollte, daß sie in der Welt nur Gast ist und der Himmel in Aussicht gestellt ist – dir nicht allein als Hafen, sondern ganz und gar als Vaterland. Weh, wenn du, der du zu Größerem geboren bist, ein Sklave des Körpers wirst! Nur eine Fessel ist um deine Freiheit herumgegeben; es ist nötig, diese auf alle Weise zu zerreißen. Der lädt dich dazu ein, der seine Herrschaft sogar Königen gegenüber ausübt. Gib also dem, wenn er lockend spricht, was du dem, wenn er befiehlt, nicht ohne Strafe verweigern kannst. Was wagst du, den so freundlichen, besorgten und mitleidigen Vater zur Traurigkeit herauszufordern und so viele und große Freuden zu mißachten, die er mit voller Hand darbietet? Er ruft dich täglich, ja lädt dich ein und reicht die Hand dem Ermattenden: Was schließt du also entweder die Ohren oder lehnst es ab, die so gefällige Hand zu ergreifen? Damit dir der Himmel, zu dem du dir selbst durch die Sünde den Zugang verbaut hattest, offenstehe, hat er nicht nur seinen eingeborenen Sohn geschickt, sondern ihn darüber hinaus als entsündigendes [488] Opfer für deine Unbesonnenheit1138 bestimmt: Und durch seinen Tod ist jene schwere Last der Sünden im Tartarus versenkt, die dich zum Tartarus niederzudrücken pflegte. Was zögerst du, den Kampf mit der Sünde aufzunehmen, damit sie zu deinem, des Siegers, Triumph falle und Schmerz empfinde, daß sie endlich von dem mit dem Beil niedergestreckt wird, dem sie einst wie einem Sklaven zu befehlen pflegte? Der im Geist entschlossene Soldat will nicht den Lohn des Kampfes ohne Kampf. Auch du bist Christus’ Soldat: Ihm hast du einen Eid geschworen – welche Bedeutung der hat, ermiß mit geläutertem Sinn. O Unglücklicher, wenn du ein Überläufer geworden bist oder verweigert hast, dem Wort des so großen Feldherrn zu gehorchen! Er bietet sich selbst nicht nur als Vorbild an, sondern zeigt – deiner Schwachheit noch mehr zu Hilfe kommend –, wie du dieses nachahmen mußt; und obwohl er vermöge seiner Befehlsgewalt Anweisungen geben könnte, spricht er dich doch mit diesem gewinnenden Wort an: „Lerne von mir, daß ich milde bin und sanft im Herzen.“1139 O daß du doch erkennen könntest, was diese Sanftheit ist! Ich beschwöre dich, wolle die Kästchen deiner Erinnerung prüfen und sorgfältiger abwägen, wieviel du fortgeschritten bist. Was Simonides1140 über seine beiχαρίτων κενὴν εὑρίσκω ὅταν ἀνοίξω, τὴν δὲ χρησίμην μόνην. „Als jemand Simonides aufforderte, ein Siegeslied zu dichten, und sagte, er werde dankbar sein, jedoch kein Geld gab, da sagte dieser (Simonides): Ich habe zwei Kästchen, eines für Dankbezeigungen, das andere für Geld. Und bei Bedarf finde ich das für Dankbezeigungen leer, wenn ich es öffnen werde, das andere aber allein nützlich.“ Mit diesem Kommentar, sagt Erasmus, bedeutete er, er wolle nicht umsonst (ohne Honorar) Gedichte verschenken. Simonides’ Ausspruch bzw. das Adagium ist von Schoock frei aufgenommen. So wie Simonides nur auf das Materielle geachtet habe, so ziele der Angesprochene nur
280 B. Original und Übersetzung Simonides de duobus scrinijs suis, uno gratiarum, altero mercedum dictitabat; illud se vacuum semper, hoc vero plenum invenire; in te examussim quadrare deprehendes. Mentis interius sacrarium replevisti multis rebus inutilibus & inamœnis, inane autem habes rerum bonarum. Quæ cornua tibi addunt, casca nuce vaniora sunt. Socrates ipse ingenue se nihil scire professus est. Si ea, quæ hactenus omnes sapientes ignorare coguntur, composueris cum ijs, quæ [489] ab ijs omnibus simul sumtis diligentius explorata fuisse existimas, ultro dare debebis, haut quaquam te dignum esse, qui admittaris ad vestibulum eruditionis. Quid cessas ergo te excutere? Absit, ut existimes rationes probe subductas esse, atque amussim ingenij nequicquam errare. Modica ebrietas, cognosci se patitur: at quos totos occupavit, tanquam sobrij agunt; & quoniam sapere se credunt, familiarium monitis pervicaci superbia resistunt. Vitia tua si intellexeris & fassus fueris, facile ad sanitatem accedes. Quisquis eruditus non tam haberi, quam esse desiderat, hominem se esse novit, ac proinde neque immunem ab errore. Cogita, quoties offenderis magnum illum Deum, & quidem eo ipso tempore, cum optime cibi constare videretur ratio. In te ipso si descenderis, plura dictabit conscientia; ac nisi obdurueris, offensas in Deum sine numero agnosces. Livius Drusus, meliore per omnem vitam animo ingenioque usus, quam fortuna; in atrio domus suæ percussus, cum extremum redderet spiritum, intuens circumstantium mœrentiumque frequentiam: Ecquando, inquit, propinqui, amicique, similem mei civem habebit Respublica? Deus avertat, ut tam arrogans verbum tibi excidat! Gentilis fuit Drusus, & remotus ab ea luce, quæ te tibi ipsi primum ostendit. Quis hominum qui non peccet? Lancibus justitiæ suæ si unumquemque appenderet Deus, ad Inferni profunda à peccatis demer[490]geretur. Amplius divinum audi oraculum: Servus qui nescit voluntatem domini sui, & non facit eam, vapulat paucis, qui autem scit eam, & non facit, vapulabit multis. Excutite ad hanc vocem quam diligenter vos omnes, qui
3 1649 narthecium. 1650 sacrarium. | 11 1649 tanquam. 1650 tanquan. | 24 1649 / 1650 noscit. Lef. nescit.
auf res inutiles & inamoenae, nicht aber auf res bonæ. Zwischen Erasmus und Schoock wird es weitere Variationen gegeben haben. 1141 Der Druck von 1649 bietet narthecium (► dazu p. 459). Die Lesart sacrarium dürfte Autorkorrektur sein. 1142 Zitat: Hor. Carm. 3, 21, 18 addis cornua / ‚du gibst Kraft‘ (Horaz an den Weinkrug); sprichwörtl.: ► Otto 1890, S. 94. 1143 examussis: ‚Richtschnur‘ (Kirschius 1774, Sp. 155). 1144 Livius Drusus: Marcus Livius Drusus, römischer Politiker (ca. 124–91), Volkstribun 91, in demselben Jahr ermordet. Der Ausspruch: Vell. Pat. 2, 14, 2. 1145 Das Zitat geht auf Lukas 12, 47–48 zurück. Die Vulgata bietet nach der offiziellen Version von 1592–1593 (in der Ausgabe von Valentin Loch, Regensburg 1872) folgenden Text: ille autem
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den Kapseln zu sagen pflegte – die eine für Dankbezeigungen, die andere für Honorare –, daß er jene immer leer, diese aber voll antreffe, daß das genau auf dich paßt, wirst du erkennen. Das innere Heiligtum deines Geistes1141 hast du mit vielen unnützen und unerfreulichen Dingen angefüllt, leer aber hast du es an guten Dingen. Was dich antreibt,1142 ist leerer als eine uralte Nuß. Sokrates bekannte selbst aufrichtig, daß er nichts wisse. Wenn du das, worin bisher alle Weisen zusammengehen, daß sie es nicht wissen, mit dem vergleichst, was, [489] wie du glaubst, von ihnen allen zusammengenommen sorgfältiger erforscht worden ist, wirst du aus freien Stücken zugeben, daß du keineswegs verdient hast, zum Vorhof der Gelehrsamkeit zugelassen zu werden. Was zögerst du also, dich zu prüfen? Es sei fern, daß du glaubst, die Rechnungen seien ordentlich durchgeführt und die Richtschnur1143 des Gehirns irre auf keine Weise. Eine mäßige Trunkenheit erlaubt, daß sie erkannt wird: Aber diejenigen, die sie ganz in Beschlag genommen hat, handeln wie Nüchterne; und da sie glauben, sie seien bei Verstand, widerstehen sie mit hartnäckigem Hochmut den Ermahnungen der Freunde. Wenn du deine Fehler einsiehst und bekennst, wirst du leicht zur Gesundheit gelangen. Wer auch immer nicht so sehr als gelehrt zu gelten als (vielmehr gelehrt) zu sein wünscht, weiß, daß er ein Mensch ist und demgemäß auch nicht frei von Irrtum. Bedenke, wie oft du diesen großen Gott gekränkt hast, und zwar gerade zu der Zeit, als dir die Rechnung sehr gut zu stimmen schien. Wenn du in dir selbst hinabsteigst, wird dir das Gewissen mehr diktieren; und wenn du dich nicht verhärtest, wirst du Kränkungen ohne Zahl gegen Gott erkennen. Livius Drusus,1144 der durch das ganze Leben hindurch besseren Sinn und Verstand als Glück hatte, sagte, als er im Atrium seines Hauses durchbohrt war und den letzten Atemzug von sich gab, indem er die Menge der um ihn Herumstehenden und Trauernden anblickte: „Verwandte und Freunde, wird der Staat jemals einen Bürger haben, der mir gleich ist?“ Gott wende ab, daß dir ein so arrogantes Wort entfahre! Heidnisch war Drusus und von dem Licht entfernt, das dich dir selbst zuerst gezeigt hat. Welchen Menschen gibt es, der nicht sündigt? Wenn Gott in den Schalen seiner Gerechtigkeit einen jeden wöge, würde der von seinen Sünden zu den Tiefen der Hölle versenkt. [490] Höre mehr noch den göttlichen Spruch: „Der Sklave, der den Willen seines Herrn nicht kennt und ihn nicht ausführt, wird mit wenigen Schlägen geprügelt, der ihn aber kennt und ihn nicht ausführt, wird mit vielen Schlägen geprügelt werden.“1145 Prüft ihr euch alle gemäß diesem Wort möglichst sorgfältig,
servus, qui cognovit voluntatem domini sui, et non præparavit, et non fecit secundum voluntatem ejus, vapulabit multis: qui autem non cognovit, et fecit digna plagis, vapulabit paucis (Luther: „Der Knecht aber, der seines Herren Willen weiß, und hat sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen getan, der wird viel Streiche leiden müssen. Der es aber nicht weiß, hat aber getan, was der Streiche wert ist, wird wenig Streiche leiden“). Das ist eine klare Antithese. Es ist zu verstehen,
282 B. Original und Übersetzung docti atque sapientes haberi vultis! Examine si rite defuncti fueritis, haut quaquam mirabimini, quod multis cædamini, quia non ignorantia, sed rebellione peccatis. Eruditi estis quænam sint divinæ legis decreta, scientesque bona, non bene agitis: legem legitis, subtilibusque disputationibus in atomos discerpitis, & præfracte interim legitima calcatis; Deum vos colere dicitis, ac diabolo obtemperatis. Cur vultis ergo, ut voluntati vestræ in omnibus Deus pareat, cum ipsi jugiter voluntati ejus adversemini? Interim ipse justus, etiamsi vos injusti sitis. Castigat aliquos ex vobis, ut emendet; multaque immittit incommoda, ut peccandi libidinem refrænet. Ad hunc calamitatis fontem si ascenderitis, neque fortuito, neque præter meritum quicquam vobis obtingere discetis. Vt vero peccati stipendium non solum mors est, sed quicquid vitæ huic molestias creat, prima vestra cura sit de illo abolendo. Pudor est, ô erudite, cum ingens hæc mundi fabrica interitum promittat, in te nunquam istud interire. Conflige igitur cum eo, Veteratorem, supra Sisyphum, & Vlyssem in struendis fallacijs versatum, offendis hic adversarium. Sed expugnabilem si ipse volueris. Opus solum est, ut ei resistas. [491] Arma si ostentaveris, tergum ejus videbis. Multarum palmarum miles vult quidem præmium, magis tamen pugnam, quod cupiat illud mereri; atque cum meruerit, multo splendidius putet. Vos qui milites estis sub Christi signo: quique solenniter diabolo & peccato abrenunciastis, non debetis cum Imperatoris vestri hostibus aut conspirare, aut ordines deserere. Animo sic composito, quid virum doctum, qui eo uno censeri debet & vult, lædere posset? Convitia, dicteria, & petulantis linguæ verbera, haut magis eum, atque incudem pugni ictus. Acutior quidem quocunque gladio est calumnia: nihil tamen potest contra illum, conscientiæ, Deique, qui hac major est, testimonio fretum. Huic uni quia scit se rationem reddere debere, quotquot sunt hominum judicia, spernit, omnique tempore hoc agit, ut calumniatorum turbam tum verbis, tum factis suis mendaci arguat. Contemnitur quidem ubique pauper, pauperiem tamen insolentibus divitijs hic noster potiorem censet, edoctus illum demum magnum esse, qui in divitijs pauper est. Injurias, publicumque
1 vultis!] 1649 / 1650 Fragezeichen. Lef. Ausrufezeichen. Punkt.
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17 pugnam,] 1649 Komma. 1650
daß der Sklave in beiden Fällen digna plagis tut, bezüglich deren der dominus eine voluntas geäußert hat, die der Sklave kennt bzw. nicht kennt. Es ist ein (auch den Hörern / Lesern) bekanntes Zitat, das Schoock verkürzt sicher aus dem Kopf zitiert und bei dem er damit rechnet, daß man sofort versteht, was gemeint ist. Daß statt noscit (sicher ein Fehler des Druckers) wegen der Antithese qui autem scit richtig nescit zu lesen ist, liegt auf der Hand. 1146 Er will sich bewähren – wie der miles sub Christi signo, der im folgenden genannt wird, oder der Christi miles (p. 488).
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die ihr als Gelehrte und Weise gelten wollt? Wenn ihr die Untersuchung in gehöriger Weise durchgemacht habt, werdet ihr euch keineswegs wundern, daß ihr mit vielen Schlägen geprügelt werdet, weil ihr nicht aus Unwissenheit, sondern aus Auflehnung sündigt. Ihr seid unterrichtet, welches die Dekrete des göttlichen Gesetzes sind, und obwohl ihr das Gute kennt, handelt ihr nicht gut: Ihr lest das Gesetz und zerpflückt es in spitzfindigen Disputationen in Atome und tretet derweil das Rechtmäßige rücksichtslos mit den Füßen; ihr sagt, daß ihr Gott verehrt und gehorcht dem Teufel. Warum wollt ihr also, daß Gott eurem Willen in allem Folge leistet, während ihr euch seinem Willen beständig widersetzt? Indes ist er selbst gerecht, auch wenn ihr ungerecht seid. Er züchtigt manche von euch, damit er sie bessert, und schickt ihnen viele Beschwernisse zu, damit er die Begierde, zu sündigen, zügelt. Wenn ihr zu dieser Quelle des Unheils emporsteigt, werdet ihr lernen, daß euch nichts zufällig noch wider Verdienst zuteil wird. Weil aber der Tribut der Sünde nicht allein der Tod ist, sondern das, was auch immer diesem Leben Plagen bereitet, gelte eure erste Sorge ihrer Vertilgung. Schande ist es, mein Gelehrter, daß sie, obwohl die ungeheuere Konstruktion dieser Welt Untergang verheißt, in dir niemals untergeht. Nimm also den Kampf mit ihr auf, einen ausgemachten Schurken, der im Stellen von Fallen über Sisyphus und Ulixes hinaus versiert ist, triffst du hier als Gegner – aber einen besiegbaren, wenn du es selbst wollen wirst. Es ist nur notwendig, daß du ihm widerstehst. [491] Wenn du ihm Waffen zeigst, wirst du seinen Rücken sehen. Der Soldat mit vielen Siegespreisen will zwar eine Belohnung, mehr jedoch den Kampf, weil er diese zu verdienen wünscht und, wenn er sie verdient hat, für viel glanzvoller hält.1146 Ihr, die ihr Soldaten seid unter Christus’ Banner und die ihr feierlich dem Teufel und der Sünde abgesagt habt, dürft nicht mit den Feinden eures Feldherrn konspirieren oder die Reihen verlassen. Wenn das Denken so geordnet ist, was könnte den gelehrten Mann verletzen, der allein nach diesem beurteilt werden muß und will? Spottreden, Sarkasmen und Hiebe einer frechen Zunge verletzen ihn nicht mehr als ein Faustschlag einen Amboß. Zwar ist Ränke schärfer als jedes mögliche Schwert: Nichts vermag sie jedoch gegen denjenigen, der auf das Zeugnis des Gewissens und Gottes baut, der größer ist als sie. Da er weiß, daß er diesem allein Rechenschaft zu geben hat, verachtet er die Urteile der Menschen, soviele sie immer sind, und sinnt zu jeder Zeit darauf, daß er die Schar der Verleumder bald mit seinen Worten, bald mit seinen Taten der Lüge zeiht. Der Arme wird zwar überall verachtet; daß Armut jedoch besser als unmäßiger Reichtum ist, urteilt dieser Unsrige, der genau darin unterwiesen ist, daß derjenige in der Tat groß ist, der im Reichtum arm ist. Ungerechtigkeiten und öffentliche Verachtung nimmt er entweder mit Lachen oder mit Schweigen auf, weil eine schwerere Strafe an jenen sich mit
284 B. Original und Übersetzung contemptum aut risu, aut silentio excipit; quod gravius supplicium sumi non possit à male feriatis illis, qui instar Erostrati tali arte emergere debent. Viris principibus placuisse haut exigua laus est: purpura, & aula tamen viro docto, qui rationes suas probe subductas habet, præ Palatio atque ornatu, quem intra se recondidit, sordent. Non [492] ille, ut Aristophanicus Cleon, pedem unum in foro, alterum in Pylo figit, sed, sua contentus sorte latere optat: & quamvis sciat se alijs quoque maxime reip. natum esse, semper tamen regiam virtutis viam insistit, plenoque solum gradu ad honores atque fasces contendit, omnia sua vota eo dirigendo, ut postquam se totum propinquis, civibus, ac omnibus denique mortalibus impenderit, posteritati in animo atque oculis sit, cum perpetua laude, admiratione, & veneratione. Inter quatuor nobilium genera, cum Platone præstantissimum statuit animum. Angusta Fortuna, cum qua perpetua ei intercedit lucta, vix quidem magnum eum patitur: ipse tamen imperiosæ illi Dominæ medium digitum ostendere audet, atque per omnem vitam contra eam enititur atque assurgit. Multa quidem lubrica occurrunt, quæ eum in lapsum non raro impellant: ipse tamen nec cedit, nec cessat; sed tanquam generosus luctator à lapsu animosior surgit, novas vires, novosque stimulos pudore sufficiente. Vulgi applausum, honores, dignitatesque omnes, veluti hujus vitæ appendices, susque deque habet: didicit quippe omne quod aptam moderationem egreditur, ad vitæ munia oneri esse, non usui; navisque cursum grandi nimis clavo turbari, nunquam dirigi. Splendida matrimonia, utpote ad majora tendenti non negligenda, ingentisque spei robur firmissimum, neque spernit, neque affectat: gnarus ut illustra[493]re nonnunquam, sic quoque, si placuerit Fortunæ in affinibus ludum exercere, evertere plerumque. Senectam appetit nunquam, posteritati licet utilissimam. Singulos dies imminuere vitam didicit, & ultimum solum eam tollere: eoque quemcunque diem pro ultimo habet, quodque semel faciendum novit, facit cito. Miser quidem videtur cruentus exitus, docto fere debitus; ipse tamen ad gloriæ suæ consummationem maximopere eum
19 esse,] 1649 / 1650 kein Satzzeichen (1649 Platzmangel am Zeilenende?). Lef. Komma. 24 1649 Singulos. 1650 Sngulos.
1147 à male feriatis: nach Horaz Carm. 4, 6, 14–15 male feriatos | Troas, ► p. 448. 1148 D. h., um überhaupt wahrgenommen zu werden wie Herostratos; zu diesem ► p. 472. 1149 D. h., der sein Leben tüchtig eingerichtet / durchdacht hat. 1150 D. h., er ist nicht so geschäftig, wie Aristophanes in den 424 aufgeführten Hippeis (‚Rittern‘) den athenischen Staatsmann Kleon zeichnet (75–76): ἐφορᾷ γὰρ οὗτος πάντ᾿. ἔχει γὰρ τὸ σκέλος | τὸ μὲν ἐν Πύλῳ, τὸ δ᾿ ἕτερον ἐν τἠκκλησίᾳ („Dieser sieht alles. Er hat nämlich den einen Fuß in Pylos, den anderen in der Volksversammlung“). 1151 Wohl entfernter Bezug auf Prot. 329c–330a, wo von den Teilen der Tugend (ἀρετή) die Rede
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unnützen Dingen Abgebenden1147 nicht vollzogen werden kann, die sich wie Herostratos in solcher Kunst hervortun müssen.1148 Fürstlichen Männern gefallen zu haben bedeutet kein geringes Lob: Purpur und Hof sind jedoch für den gelehrten Mann, der seine Rechnungen gehörig gemacht hat,1149 im Vergleich zu Palast und Ausstattung, die er in sich verborgen besitzt, ohne Reiz. Nicht [492] setzt der wie der aristophanische Kleon den einen Fuß auf dem Forum nieder, den anderen in Pylos,1150 sondern wünscht, mit seinem Los zufrieden, zurückhaltend zu leben: Und obwohl er weiß, daß er auch für andere, am meisten für die Gemeinschaft geboren ist, beschreitet er doch immer den königlichen Weg der Tugend und strebt nur im Geschwindschritt zu Ehren und hohen Ämtern und richtet alle seine Wünsche dahin, damit er, nachdem er sich ganz für Verwandte, Bürger und schließlich alle Menschen eingesetzt hat, der Nachwelt im Gedächtnis und in den Augen bleibt – mit fortdauernder Anerkennung, Bewunderung und Verehrung. Mit Platon hält er unter den vier Klassen der vorzüglichen Dinge den Geist für die trefflichste.1151 Die engherzige Fortuna, mit der ihm ein dauernder Ringkampf in die Quere kommt, duldet ihn zwar kaum als groß(en), er selbst jedoch wagt, dieser herrschsüchtigen Herrin den Mittelfinger zu zeigen;1152 und durch das ganze Leben hindurch strengt er sich gegen sie an und steht gegen sie auf. Zwar begegnet ihm viel Glattes, was ihn nicht selten ins Gleiten bringt: Er selbst weicht jedoch nicht, noch ist er säumig, sondern erhebt sich wie ein edler Kämpfer vom Gleiten (um so) mutiger, indem sein Ehrgefühl neue Kräfte und neue Stacheln darbietet. Aus dem Beifall des Volkes, aus Ehren und allen Würden, gleichsam Anhängseln dieses Lebens, macht sich nichts, da er ja gelernt hat, daß alles, was angemessenes Maßhalten überschreitet, für die Aufgaben des Lebens Last bringt, nicht Nutzen, und daß die Fahrt des Schiffes durch ein allzu großes Steuerruder gestört, niemals gelenkt wird. Glänzende Ehen, wie sie ja für jemanden, der nach Größerem strebt, nicht zu verachten und eine sehr starke Kraft außerordentlicher Hoffnung sind, verschmäht er weder noch erstrebt er sie, wissend, daß [493] Fortuna, wie sie ihnen bisweilen Glanz verleiht, so sie auch – wenn es ihr gefällt, bei Verheirateten ihr Spiel zu treiben – zuweilen1153 umstürzt. Das Alter erstrebt er niemals, mag es auch für das Nachleben sehr nützlich sein. Er hat gelernt, daß die einzelnen Tage das Leben mindern und nur der letzte es fortnimmt; deshalb hält er jeden Tag für den letzten, und was, wie er weiß, einmal getan werden muß, erledigt er schnell. Zwar erscheint ein grausamer Tod elend, dem Gelehrten fast geschuldet; dennoch ist er selbst der Meinung, daß der im höchsten Grad zur Vollendung seines Ruh-
ist – Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Besonnenheit (σωφροσύνη), Frömmigkeit (ὁσιότης), Klugheit / Weisheit (σοφία) – und der letzte als der größte Teil bezeichnet wird. 1152 ► p. 383. 1153 plerumque heißt in der Regel ‚meistens‘! Zu dem Thema ► S. 57–58.
286 B. Original und Übersetzung pertinere censet. Quin & excelsus illius animus, corporis in quo vivit, imperator, non aliam mortem sibi convenientiorem arbitratur, uti magnus est, & maximorum semper desiderio tangitur, alacriter, eandem expetit. Vt enim vitam præclaris actionibus insignem transegit, sic ultimum illum spiritum in Virtutis ac Gloriæ sinum anhelat effundere. O beatum illum, qui contra hæc & similia terriculamen- 5 ta, animum imperterritum circumfert! Agite ergo AA. (ut ad vos postliminio quasi redeam) agite inquam, quotquot aut eruditi aut eruditionis candidati haberi vultis, doctrinamque animo perficiendo impendite; eam si vitæ instrumentum habueritis, non solum famam cum honore, sed in omnibus quoque calamitatibus solatium, 10 imo per eam immortalem gloriam consequemini. D I XI .
10 eam] 1649 / 1650 eas. Lef. eam.
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mes gehört. Ja auch sein erhabener Geist, der Herrscher über den Körper, in dem er lebt, erachtet keinen anderen Tod für sich als angemessener; weil1154 er groß1155 denkt und immer von dem Wunsch nach dem Größten berührt wird, erstrebt er ihn auch mit Lust. Denn wie er das Leben als ein sich durch glänzende Handlungen auszeichnendes geführt hat, so lechzt er danach, jenen letzten Atemzug in den Schoß der Tugend und des Ruhmes auszuhauchen. O glücklich der, der gegen diese und ähnliche Schrecknisse eine unerschrockene Gesinnung mit sich führt! Also auf, ihr Hörer (damit ich zu euch nach langer Zeit1156 gewissermaßen zurückkehre), auf, sage ich, soviel ihr für Gelehrte oder Kandidaten der Gelehrsamkeit gehalten werden wollt und die Wissenschaft für die Vervollkommnung des Geistes aufwendet: Wenn ihr sie als Rüstzeug des Lebens in Besitz habt, werdet ihr nicht nur Ansehen mit Ehre, sondern auch in allen Unglücksfällen Trost, ja durch sie1157 unsterblichen Ruhm erlangen. I C H H A B E G E S PRO C H E N .1158
1154 Zu ut in kausaler Bedeutung ► p. 474. 1155 Da animus Subjekt ist, ist magnanimus (‚großdenkend‘) umschrieben. 1156 postliminio: ► p. 396. 1157 eam = eruditionem bzw. doctrinam. Der Plural eas, den beide Drucke bieten, müßte sich auf doctrina und fama beziehen (was kaum Sinn ergibt, da fama nicht die Voraussetzung für gloria sein kann). Hingegen ergibt es Sinn, daß die eruditio, die im Titel steht, bzw. das Äquivalent doctrina durch e a m si vitæ instrumentum habueritis aufgenommen wird – also eam zu lesen ist (der Drucker könnte wegen des grammatisch möglichen, aber nicht intendierten Bezugs von eam auf den unmittelbar folgenden Akkusativ immortalem gloriam den Plural eas vorgezogen haben). 1158 Mit AA. und DIXI wird noch einmal die Form der Rede unterstrichen.
C. Literaturverzeichnis Nicht nachgewiesen werden die bekannten Lexika bzw. Nachschlagewerke Du Cange, Georges, Oxford Latin Dictionary (OLD), Grimmsches Wörterbuch, Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE), Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Neue Deutsche Biographie (NDB), Der Kleine Pauly (DKP), Der Neue Pauly (DNP) und das Ökumenische Heiligenlexikon. Austin, Colin, Bastianini, Guido (Hg.): Posidippi Pellaei quae supersunt omnia. Milano 2002. Becker, Albert Gerhard: Dionysios von Halikarnassos über die Rednergewalt des Demosthenes vermittelst seiner Schreibart. Übers. und erläutert. Nebst einer Abhandlung über Dionysios als aesthetisch-kritischer Schriftsteller […]. Wolfenbüttel. Leipzig 1829. Bekker, Immanuel: Suidae Lexicon. Berolini 1854. Bernhard, Johann Adam: Kurtzgefaste [sic] Curieuse Historie derer Gelehrten […]. Franckfurt am Mayn 1718. Beyerlinck, Laurentius: Magnum Theatrum Vitæ Humanæ: Hoc est rerum divinarum, humanarumque syntagma catholicum, philosophicum, historicum, et dogmaticum. […] Tomus sextus Continens Literas P, Q, R. Lugduni 1656 [1. Aufl. Coloniæ Agrippinæ 1631]. Blount, Thomas-Pope: Censura celebriorum authorum […]. Londini 1690. [Hier zitiert nach der ebenfalls postumen Editio nova correctior. Genavæ 1710.] Bockenberg, Pieter Cornelisz: P. Cornelissonij Bockenbergij Goudani Catalogus, Genealogia, et brevis historia, regulorum Hollandiæ, Zelandiæ et Frisiæ. Lugduni Batavorum 1584. Bouwsma, William James: Concordia Mundi: The Career and Thought of Guillaume Postel (1510–1581). Cambridge, Mass. 1957. Bratuscheck, Ernst (Hg.): Encyklopädie und Methodologie der Philologischen Wissenschaften. 2. Aufl. bes. v. Rudolf Klussmann. Leipzig 1886. Brink, Charles Oscar: Horace on Poetry. The Ars Poetica. Cambridge 1971. Brix, Julius: Plautus. Trinummus. Erkl. 4. Aufl. Leipzig 1888. Brucklacher, Emma Louise: Semonides-Rezeption in der Frühen Neuzeit. Literarische Indienstnahme des Weiberiambos. In: Antike und Abendland 65 (2019), S. 244–265. Brucklacher, Emma Louise: Frauensatiren der Frühen Neuzeit. Traditionen, Topoi, Tendenzen. Berlin, Boston 2023 (Frühe Neuzeit 247). Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. 32. Aufl. Vollst. neubearb. v. Gunther Haupt, Winfried Hofmann. Berlin 1972. Burckhardt, Martin: Wie die Philosophie unsere Welt erfand. Köln 2014. Burkard, Thorsten: Jacob Balde. Dissertatio de studio poetico (1658). München 2004 (Münchner BaldeStudien 3). Burmannus, Casparus: Traiectum Eruditum, Virorum Doctrina Inlustrium qui in urbe Trajecto et regione Trajectensi nati sunt, sive ibi habitarunt, Vitas, Fata et Scripta exhibens, auctore Casparo Burmanno Trajectino. Trajecti ad Rhenum 1738. Corpus Juris civilis quo jus universum Justianeum comprehenditur. Tomus I. Aug. Taurinorum 1829. Cresollius Armoricus, Ludovicus: Theatrum veterum rhetorum, oratorum, declamatorum, quos in Græcia nominabant Σοφισταὶ, expositum libris quinque. Parisiis 1620. De Smet, Ingrid A. R.: Thuanus. The Making of Jacques-Auguste de Thou (1553–1617). Genève 2006. Dietrich, Ronald: Der Gelehrte in der Literatur. Literarische Perspektiven zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Würzburg 2003 (Epistemata 425). Dornavius, Caspar: Amphitheatrum Sapientiæ Socraticæ Ioco-Seriæ. 2 Bde. Hanoviæ 1619. https://doi.org/10.1515/9783111208763-004
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