204 79 13MB
German Pages 170 [172] Year 1992
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
13
Bernhard Heinser
Marcel Prousts Selbstfmdung oder Die Überwindung der Médiocrité Versuch einer Deutung des Sainte-Beuve-Essai
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung de wissenschaftlichen Forschung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heinser, Bernhard: Marcel Prousts Selbstfindung oder Die Überwindung der Médiocrité : Versuch einer Deutung des Sainte-Beuve-Essai / Bernhard Heinser. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Mimesis ; 13) NE: GT ISBN 3-484-55013-9
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertu außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verl; unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzunger Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systen Printed in Germany. Satz, Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten
Vorwort
«[...] dès que l'intelligence raisonneuse veut se mettre à juger des œuvres d'art, il n'y a plus rien de fixe, de certain: on peut démontrer tout ce qu'on veut.» (III 893) Wer, wie ich, zuweilen geneigt ist, sich in diesem Punkt auf die Seite Prousts zu schlagen, wird, ohne viel fragen zu müssen, verstehen, daß die vorliegende Arbeit dem Zweifel abgerungen ist.
Das Leben und Schaffen von Marcel Proust (1871-1922) zerfallt in zwei Teile: einen ersten, der bis in das Jahr 1909 hinein dauert, während dem er, bewegt vom Glauben an sein schöpferisches Vermögen und zugleich daran zweifelnd, nicht zu verwirklichen imstande ist, wozu er sich berufen fühlt ein großes Werk, sein Werk zu schreiben; einen zweiten, von 1909 bis zu seinem Tod, da er mit nie erlahmender Energie der Vollendung entgegentreibt, was wir als eine der herausragenden literarischen Schöpfungen unseres Jahrhunderts bewundern: A la recherche du temps perdu. Das Ziel, welches sich Proust - von allem Anfang an, möchte man sagen - setzt, ist herauszulesen aus dem Entwurf einer Einleitung zu Jean Santeuil, seinem ersten Versuch, einen Roman zu schreiben. Das Werk soll «l'essence même de [sa] vie» (IV 181) enthalten - doch der Roman bleibt Fragment, Proust erachtet ihn als gescheitert. Erst 1909, nach einem knappen Jahrzehnt, da ihm, was er schreibend unternimmt, lediglich ein Pis-aller ist, erreicht er den Ort, von dem aus er jenen Wunsch ins Werk zu setzen vermag, den er den Erzähler am Ende der Recherche hegen läßt: einen Roman zu schöpfen, von dem zu sagen wäre, daß er «[une] vie [...] en somme réalisée dans un livre» (III 1032) sei. An der Schwelle zur Recherche, in die Zeit des Übergangs vom ersten zum zweiten Teil seines Schaffens, fallt eine wenige Wochen, höchstens ein paar Monate dauernde Phase, in der sich Proust mit der Methode und dem Werk des bedeutendsten französischen Literaturkritikers des 19. Jahrhunderts, Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869), auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung hat sich in einigen literaturkritischen Texten niedergeschlagen - sie wurden erst lange nach Prousts Tod unter dem Titel Contre SainteBeuve herausgegeben - , die, in polemischer Tonart vorgetragen, Sainte-Beuves Methode und kritische Leistung aburteilen. Über das Stadium des mehr oder minder ausgearbeiteten Entwurfs sind diese Texte nie hinausgelangt. Nicht ohne Grund. Aus Prousts kritischer Beschäftigung heraus entwickelte V
sich der Roman, welcher in den folgenden dreizehn Jahren zur Recherche wurde. Der geschilderte Sachverhalt zeigt die besondere Stellung, welche die Sainte-Beuve-Phase in Prousts Schaffen einnimmt, aus ihm leitet sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ab. Wir fragen, ob die Lektüre der zu dem Sainte-Beuve-Essai zu zählenden Texte - es handelt sich dabei um die Préface zu Contre Sainte-Beuve und um La méthode de Sainte-Beuve Elemente zutage fördert, welche im Kontext von Prousts Gesamtwerk zu erklären vermögen, was ihn gerade da, in der Kritik und durch die Kritik an Sainte-Beuve seinen Ort hat finden lassen. Unsere Arbeit vollzieht sich in drei großen Schritten. Zuerst klären wir in einem Überblick ab, was Proust in den entscheidenden Jahren schrieb oder schreiben wollte und was sich davon erhalten hat. Daraus wird sich der Ansatzpunkt ergeben, der das weitere Vorgehen bestimmt: Da die Préface zu Contre Sainte-Beuve, unter einem systematischen Gesichtspunkt gelesen, in die Nähe dessen gerückt werden muß, was der Recherche-Erzähler in Le Temps retrouvé als seine Aesthetik entwickelt, werden wir im zweiten Teil die Grundlagen dieser Aesthetik herausarbeiten. Der dritte Teil schließlich ist im Kontext des Vorangehenden den Konflikten gewidmet, denen Proust von den Anfängen seines Schaffens an ausgesetzt ist, die in seiner Sainte-BeuvePhase heftig hervortreten und zu einer Lösung drängen. Er hat sie, wie der Erzähler in der Recherche, zu überwinden, bevor er sie, befreit, im Werk aufheben kann. Die Methode, die uns leitet, ist die folgende: Wir denken uns, eng an den Texten Prousts argumentierend, sie auslesend und auslegend, voran zur Antwort auf die im Erkenntnisinteresse begründete Frage. Eine solche Vorgehensweise ist dem Gedanken verpflichtet, nicht nur Einsichten zu gewinnen oder zu vermitteln, sondern dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Auslegung - Schritt für Schritt - mitzudenken, sie zu verwerfen oder sie anzunehmen. Nicht nur eine Antwort soll gefunden werden, wir wollen den Weg, der zu ihr führt, vorzeigen und im Vorzeigen überprüfbar machen. Das ist die Absicht. Ob sie in dem, was vorliegt, eingelöst ist, das zu entscheiden, muß dem Urteil des Lesers überlassen bleiben, der den anstrengenden Weg mitgegangen sein wird.
VI
Inhalt
Zur Darstellung
IX
ERSTER TEIL
Abklärungen und Ansatzpunkt I.
Die Schwellenjahre: Roman parisien, Sainte-Beuve-Essai und Sainte-Beuve-Roman 1. Et se réaliser enfin! - Le roman auquel je me suis enfin mis . 2. Die nachgelassenen Manuskripte Prousts und die beiden Editionen des Contre Sainte-Beuve Die Manuskripte Die Contre Sainte-Beuve-Editionen
II. Abhandlung oder Erzählung? 1. Suis-je romancier? 2. Die Préface zu Contre Sainte-Beuve
1 1 12 12 16 '26 26 28
ZWEITER TEIL
Die Grundlagen der vom Recherche-Erzähler entwickelten Ästhetik I.
Der Seelen-Text 1. Einstieg 2. Sinnlich erlebte Zeit: Der synchrone Raum 3. Sinnlich erlebte Zeit: Der diachrone Raum Einheit und Veränderung Unwillkürliche Erinnerung und Observation humaine . . . . 4. Réalité: Wahrheit als Seelen-Text 5. Die Offenbarung der Wahrheit
35 35 36 40 40 41 44 46
II. Vom Seelen-Text zum literarischen Text 1. Einleitung 2. Der Realist kopiert äußere Wirklichkeit 3. Der wahre Schriftsteller übersetzt den Seelen-Text Eindruck und Ausdruck Übersetzen Stil und Schönheit Stil und Technik: Autor, Werk und Leser 4. Prousts Spiritualismus
48 48 48 49 49 51 54 56 59
III. Les vérités de l'intelligence 1. Zwei Konflikte
60 60 VII
2. Subjektgebundener Idealismus: la généralité de notre amour . 3. Die Folgen für das Kunstwerk 4. Die unauflösbare Einheit von Subjekt und Objekt Notre amour und Amour Der Reflex 5. Die Leugnung des Reflexes: l'intelligence raisonneuse . . . . 6. Die gelösten Konflikte IV. Zusammenschau 1. Seelen-Text als vérité nécessaire 2. Vom Seelen-Text zum literarischen Text 3. Zwei Erleuchtungen
62 63 65 65 67 70 72 73 73 75 78
DRITTER TEIL
Cette médiocrité du moi empêche d'écrire I.
Einleitung
81
II. Un écrivain n'est pas qu'un poète 1. Philosophie oder Literatur? 2. Manier oder Stil? Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil Contre l'obscurité Der klassizistische Grundzug Prousts Manier im höchsten Sinne 3. Récolter une œuvre d'art oder Faire une œuvre darf! . . . . Jean Santeuil: l'état de grâce Die Préface zu Contre Sainte-Beuve zwischen Jean Santeuil und der Recherche 4. Zusammenfassung
82 82 95 95 96 100 102 104 104
III. La méthode de Sainte-Beuve 1. Voraussetzung: les désirs mauvais 2. Sainte-Beuves Médiocrité: Methode - Werk - Mensch . . . 3. Sainte-Beuve als Alter ego Prousts 4. Der Zeitungsartikel: Médiocrité 5. Die Kritik: Médiocrité Der ideale Leser und die Kritik Apparence, les «Lundis». Réalité, ce peu de vers
118 118 126 132 134 140 140 143
IV. Rückblick: Die Überwindung der Médiocrité
148
110 115
ANHANG
Weiterführende Hinweise zu den Cahiers Bibliographische Hinweise
VIII
155 158
Zur Darstellung
Wir verwenden folgende Sigeln, Abkürzungen und Zeichen:* I, II, III
A la recherche du temps perdu; dreibändige Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade (1954).
I (1987)
A la recherche du temps perdu; Bd. I der neuen in der Bibliothèque de la Pléiade erschienenen Ausgabe (1987).
Recherche
A la recherche du temps perdu.
IV
«Jean Santeuil» précédé de «Les Plaisirs et les jours» in der Bibliothèque de la Pléiade (1971).
V
«Contre Sainte-Beuve» précédé de «Pastiches et mélanges» et suivi de «Essais et articles» in der Bibliothèque delà Pléiade (1971).
CK
Verweist, unter Hinzufügung der Bandnummer, auf die von Philip Kolb herausgegebene Correspondance de Marcel Proust (1970 sqq.).
BIP
Bulletin d'informationsproustiennes (1975 sqq.).
[...] bzw. []
Kennzeichnet die von uns vorgenommenen Texteingriffe (Auslassungen oder erklärende Zusätze).
//
Zwischen schrägen Strichen erscheinen die Texteingriffe der Herausgeber von Werken Prousts oder die von Philip Kolb erschlossenen Datierungen für die Briefe Prousts.
* Für die genauen bibliographischen Angaben zu den hier genannten Werken vgl. unten die Bibliographischen Hinweise, pp. 158-161.
IX
E R S T E R TEIL
Abklärungen und Ansatzpunkt
I. Die Schwellenjahre: Roman parisien, Sainte-Beuve - Essai und Sainte-Beuve - Roman 1. Et se réaliser enfin! - Le roman auquelje me suis enfin mis Den für die Entstehung der Recherche entscheidenden Monaten der Schwellenjahre 1908 und 1909 geht eine Periode voraus, in der sich Proust nach einer längeren Zeit der Inaktivität, welche durch «le plus grand bouleversement de sa vie»,1 den Tod seiner Mutter am 26. September 1905, ausgelöst wurde, auffängt und seine Stimme in der literarischen Öffentlichkeit wieder zu vernehmen ist. Zwischen dem 1. Februar und dem 26. Dezember 1907 erscheinen vornehmlich in Le Figaro sieben von Proust verfaßte Artikel. 2 Die Wiederaufnahme seiner publizistischen Tätigkeit ist indessen nicht von langer Dauer. Mit Ausnahme der Pastiches3 und einer kurzen Notiz zu Lucien Daudets Le Chemin mort4 veröffentlicht Proust in den Jahren 1908 und 1909 nichts. Aber das Schweigen ist nicht Zeichen seiner Untätigkeit, im Gegenteil. Die nachgelassenen Manuskripte und die erhaltene Korrespondenz 5 belegen eindrücklich, daß Proust in intensiver Suche nach der ihm angemessenen Redeweise im Begriff ist, die Schwelle zu überwinden, die ihn bis dahin gehindert hat, seinen von früher Jugend an zwischen dem Zweifel an seinem literarischen Vermögen und der ihn nie völlig verlassenden Gewißheit seines Talentes und inneren Reichtums gehegten Wunsch zu verwirklichen: sein Buch zu schreiben.
' Philip Kolb: Avant-Propos in CK V, p. V. Vgl. die Bibliographie der Veröffentlichungen von Prousts Werken (1892-1971) in Textes retrouvés (= Cahiers Marcel Proust/Nouvelle série 3). Receuillis et présentés par Philip Kolb, Paris, Gallimard, 1971 (Edition revue et augmentée), p. 386. - Die Artikel sind in V enthalten (pp. 6 3 - 6 9 , 150-159, 524-550). 3 Sie erschienen zwischen dem 22. Februar und dem 21. März 1908 sowie am 6. März 1909 in Le Figaro. - Für die Pastiches vgl. V, pp. 5 - 5 9 und 195-207 sowie insbesondere die von Jean Milly besorgte kritische Ausgabe: Les pastiches de Proust. Paris, A. Colin, 1970. 4 Prousts Notiz erschien am 8. September 1908 in L'Intransigeant; enthalten in V, pp. 550-552. 5 Die von Philip Kolb herausgegebene Correspondance de Marcel Proust, Paris, Plön, 1970 sqq. umfaßt bisher (1991) 19 Bände, welche die Jahre 1880-1920 abdecken. Für die Korrespondenz der zwei letzten Lebensjahre Prousts muß man sich vorläufig noch mit der Correspondance générale de Marcel Proust, 6 Bde., Paris, Plön, 1930-1936, zahlreichen Einzelausgaben und den verstreut publizierten Briefen begnügen. 2
1
A u s d e m zeitlichen A b s t a n d v o n b e i n a h e h u n d e r t J a h r e n k a n n m a n w o h l sehen u n d in A r g u m e n t a t i o n s g ä n g e n entwickeln, d a ß alle A r b e i t e n P r o u s t s v o n den Schüler- u n d J u g e n d j a h r e n a n bis in die Schwellenzeit hinein - seien es Les plaisirs et les jours6 o d e r der F r a g m e n t gebliebene R o m a n Jean Santeuil,1 seien es die R u s k i n - Ü b e r s e t z u n g e n , 8 die Pastiches o d e r die i m L a u f d e r J a h r e d a u n d d o r t e r s c h i e n e n e n A r t i k e l 9 - d e n g r o ß e n R o m a n in d e r einen o d e r a n d e r e n Weise vorbereiten u n d P r o u s t die R e i f e g e w i n n e n lassen, welche die Recherche erst m ö g l i c h m a c h t , d o c h er selber m i ß t , w a s er tut, a n d e m , w a s er t u n m ö c h t e , u n d in seinem B e w u ß t s e i n bleibt sein T u n d e m v o n i h m vorgestellten Ziel i m m e r f e r n . Wer die K o r r e s p o n d e n z in zeitlicher Folge liest, s t ö ß t regelmäßig a u f Stellen, in d e n e n P r o u s t den W u n s c h , auf dessen Verwirklichung h i n er lebt, zugleich m i t d e m B e d a u e r n , i h n nicht in die Tat u m z u s e t z e n o d e r u m s e t z e n zu k ö n n e n , ausspricht. Stellvertretend f ü r viele a n d e r e Belege, die hier a n z u f ü h r e n w ä r e n , b e g n ü g e n wir u n s mit d e m Z i t a t eines einzigen Briefes: Je ne vous ai pas envoyé l'article du Figaro10 parce que je le trouvais très mauvais. [...] Des gens très intelligents m'écrivent qu'ils en ont été profondément touchés[^ je me demande comment ce qui n'a pas touché l'auteur peut toucher le lecteur. Tout cet article est ingénieux et n'est pas vrai. Et il est surchargé de fausse poésie. [...] Je ne suis pas comme vous, je ne trouve pas la vie trop difficile à remplir et quelle folie, quelle ivresse si la vie immortelle m'était assurée! Comment pouvez-vous vraiment, je ne dis pas, ne pas croire car de ce qu'une chose soit souhaitable cela ne fait pas qu'on y croie - au contraire hélas - mais en être satisfait (non la satisfaction intellectuelle de préférer la vérité triste au doux mensonge)[;] tous ceux qu'on a quittés, qu'on quittera ne serait-il pas doux de les retrouver sous un autre ciel dans les vallées vainement promises et inutilement attendues! Et se réaliser enfin! (CK IV 261 sq.; /September 1904/ an Georges de Lauris)11 « E t se réaliser enfin!» I n wenigen M o n a t e n d e r J a h r e 1908 u n d 1909 erlangt P r o u s t d e n O r t , v o n d e m a u s i h m die b e f r e i e n d e E i n l ö s u n g jenes bis d a h i n in 6
Paris, Calmann-Lévy, 1896. In IV, pp. 1-178. IV, pp. 179-898. Proust arbeitete ab 1895 bis etwa 1901 an diesem Roman, der 1952, herausgegeben von Bernard de Fallois, erstmals erschien (Paris, Gallimard). 8 John Ruskin: La Bible d'Amiens. Traduction, notes et préface par Marcel Proust, Paris, Mercure de France, 1904. Proust hat den größten Teil seines wichtigen Vorwortes in Pastiches et mélanges (Paris, Gallimard, 1919) aufgenommen; vgl. V, pp. 69-141. - John Ruskin: Sésame et les lys. Des trésors des rois. Des jardins des reines. Traduction, préface et notes de Marcel Proust, Paris, Mercure de France, 1906. Unter dem Titel Journées de lecture ist Prousts Vorwort Teil von Pastiches et mélanges; in V, pp. 160-194. Prousts Ubersetzung, seine bedeutenden Anmerkungen und das Vorwort liegen in einer neuen, von Antoine Compagnon herausgegebenen Edition vor (Bruxelles, Editions Complexe, 1987). 9 Gesammelt in V. 10 La mort des cathédrales: Une conséquence du projet Briand sur la Séparation in Le Figaro (16. August 1904); V, pp. 141-149. 11 Für andere mögliche Belege vgl. unter anderem: CK I (1880-1895), p. 255 sq. CK II (1896-1901), p. 76, 124, 219, 261, 265 sq., 344, 377, 392. - CK III (19021903), p. 196. - CK IV (1904), p. 93, 272. 286. - CK V (1905), p. 253. - CK VI (1906), p. 115, 308,317. - CK VII (1907), pp. 58-61, p. 155,323. 7
2
die Z u k u n f t projizierten «enfin!» gelingt. Er wendet sich in dieser Zeit verschiedenen Projekten zu, arbeitet bald in dieser, bald in jener Richtung, beginnt das eine, läßt das andere fallen, nimmt es in einem neuen Zusammenhang wieder auf. U n d schließlich fließen alle diese Bemühungen zusammen in dem, was die Recherche werden wird. Das Nebeneinander und das Ineinander der vielfaltigen, tastenden Schreibversuche Prousts, seine scheinbar chaotische Arbeitsweise, die dem Leser der Manuskripte als unentwirrbares Durcheinander entgegentritt, sowie die vorsichtigen, von Taktik mitbestimmten und daher mit der gebotenen Zurückhaltung zu beurteilenden Informationen, die Proust seinen Briefpartnern mit Bezug auf seine Arbeit anvertraut, führen dazu, daß jede Absicht, die einzelnen Projekte und die Manuskript-Fragmente mit positivistischer Genauigkeit datieren zu wollen, scheitern muß. Zu vieles liegt im dunkeln, zu vieles kann nur unter der Voraussetzung einer bereits auslegenden Vorentscheidung erschlossen und dargelegt werden. Wenn wir im folgenden den Versuch unternehmen, mittels eines Ganges durch die Korrespondenz der Jahre 1908 und 1909 einen Überblick über das zu gewinnen, was Proust wann in der k n a p p zwei Jahre dauernden Zeit schrieb oder zu schreiben gedachte, kann es also lediglich darum gehen, einen sachlich abgestützten Ansatz zur Beantwortung der Frage zu finden, wie in Marcel Prousts Werk dessen polemische Abrechnung mit SainteBeuve zu situieren ist. Die zumeist ziemlich vagen Äußerungen Prousts zu seiner Arbeit in der ersten Hälfte des Jahres 1908 lassen erkennen, daß er die Absicht hat, etwas Umfangreiches zu schreiben: Je suis moins bien, c'est pour cela que je ne viens pas. Et je voudrais me mettre à un travail assez long, ce qui me rendrait encore plus difficile de venir. Mais enfin j'ai si envie de vous voir, je viendrai. (CK VIII 39; /2. Februar/ an Mme Straus) Je te dis adieu, je vais commencer un travail très important. Avais-tu lu mes pastiches dans les Suppléments du Figaro? (CK VIII 99; /21. April/ an Louis d'Albufera) Adieu Georges je me fatigue à vous écrire. Je n'ai rien fait en votre absence. Je compte me mettre à travailler ... dans une heure. Mais c'est une expression pratique qui signifie sans doute jamais. Le Mercure de France et Fasquelle ont refusé de publier mes pastiches. (CK VIII107; /etwa Ende April/ an Georges de Lauris) J'ai des idées de travail pour des mois, que mon déménagement va interrompre et j'aurais aimé aller dans un endroit où je puisse rester indéfiniment pour ne pas être tout le temps à changer. (CK VIII 148; ¡22. Juni/ an Louis d'Albufera) Prousts Wille, sich einer wichtigen und umfangreichen Arbeit zuzuwenden, wird zur selben Zeit begleitet von Schritten, die er bei Louis d'Albufera und anderen offenbar im Hinblick auf sein Projekt unternimmt. Er möchte einen Telegraphisten kennenlernen: «[...] tu pourrais m'être utile car pour quelque chose que j'écris j'aurais besoin de connaître un télégraphiste. [...] c'est sur3
tout de voir un télégraphiste dans l'exercice de ses fonctions, d'avoir (l'impression) de sa vie» (CK VIII 76; /26. März/ an Louis d'Albufera), und er interessiert sich wieder vermehrt für das mondäne Leben und die es unterhaltenden Aristokraten. So bemüht er sich beispielsweise, die Bekanntschaft von Mlle de Goyon zu machen, deren Photographie er von d'Albufera zu erhalten hofft: As-tu par hasard, chose toujours si intéressante des albums de photographies de famille. Si tu pouvais pour quelques heures m'en prêter un (surtout s'il y avait dedans Mlle de Goyon) cela m'amuserait beaucoup. [...] D'autre part possèdes-tu ta généalogie dans les deux lignes. (CK VIII 112; /5. od. 6. Mai/) 12
Man hat sogar guten Grund anzunehmen, daß Proust die in den oben zitierten Briefen vorgebrachten Absichtserklärungen zu dieser Zeit bereits in die Tat umzusetzen begonnen hat. Ungefähr im Juli erstellt er in einem seiner Notizbüchlein unter dem Titel Pages écrites folgende Liste: Robert et le chevreau, Maman part en voyage. Le côté de Villebon et le côté de Méséglise. Le vice sceau et ouverture du visage. La déception qu'est une possession, embrasser le visage. Ma gd mère au jardin, le dîner de M. de Bretteville, je monte, le visage de Maman alors et depuis dans mes rêves, je ne peux m'endormir, concessions etc. Les Castellane, les hortensias normands, les chatelains anglais, allemand; la petite fille de Louis-Philippe, Fantaisie, le visage maternel dans un petit fils débauché. Ce que m'ont appris le côté de Villebon et le côté de Méséglise.' 3
Diese Liste und die in ihr angeführten Motive lassen die Nähe zur späteren Recherche unschwer erkennen. Sie gehen alle in der einen oder anderen Form in den Roman ein.14 Proust, so scheint es, arbeitet in den ersten Monaten des Jahres 1908,15 unterbrochen von dem Pastiches-Zwischenspiel, an einem fiktiven Text, einem Roman, den er d'Albufera gegenüber als «roman parisien» bezeichnet, von dem er im übrigen nicht wisse, ob er ihn nicht aufgeben werde: «Du reste je ne sais si je ne vais pas abandonner mon roman parisien» (CK VIII 112; /5. od. 6. Mai). Neben dem Roman hat Proust, so jedenfalls behauptet er im selben Brief, andere Sachen in Arbeit, und man begreift, daß ihm alle diese Projekte «des idées de travail pour des mois» geben: [. ..Jj'aien train: une étude sur la noblesse 12
Zu Mlle de Goyon vgl. Philip Kolb: Avant-Propos in CK VIII, pp. I X - X I I I . Le Carnet de 1908 (= Cahiers Marcel Proust/Nouvelle série 8). Etabli et présenté par Philip Kolb, Paris, Gallimard, 1976, p. 56. 14 Vgl. die Anmerkungen von Philip Kolb in Le Carnet de 1908, p. 141 sq. sowie seine Introduction,p. 12-15. 15 Philip Kolb hat 1956 erstmals nachgewiesen, daß Proust sich schon im Januar 1908 mit «Robert et le chevreau, Maman part en voyage» befaßt hat; vgl. Philip Kolb: Le «mystère» des gravures anglaises recherchées par Proust. In Le Mercure de France, t. CCCXXVII (1. August 1956), pp. 750-755. Vgl. vom selben Autor den AvantPropos in CK VIII, p. V sq. 13
4
un un un un
roman parisien essai sur Sainte-Beuve et Flaubert essai sur les Femmes essai sur la Pédérastie (pas facile à publier) une étude sur les vitraux une étude sur les pierres tombales une étude sur le roman (CK VIII 112 sq.) D e n Sommer des Jahres 1908 und den Frühherbst verbringt Proust zuerst in Cabourg, danach in Versailles. 16 Es scheint nicht, daß er während seiner Abwesenheit von Paris an seinen Projekten wirklich gearbeitet hat. Erst gegen Ende seines Aufenthaltes in Versailles erwähnt er seine Arbeit wieder. In einem Brief vom ¡21. Oktober/ an M m e Straus lesen wir: Dans mes moins mauvaises heures j'ai commencé (deux fois vingt minutes) à travailler. C'est si ennuyeux de penser tant de choses et de sentir que l'esprit où elles s'agitent périra bientôt sans que personne les connaisse. Il est vrai qu'elles n'ont rien de précieux et que d'autres les diront mieux. (CK VIII 259) Ähnliches erfahren wir aus folgenden Briefen: Je crois que je vais aller mieux, je crois que je vais aller vous voir. Georges, quand vous le pourrez,: travaillez. Ruskin a dit quelque part une chose sublime et qui doit être devant votre esprit chaque jour, quand il a dit que les deux grands commandements de Dieu (le deuxième est presque entièrement de lui mais cela ne fait rien) étaient:
et < Soyez miséricordieux pendant que vous avez encore la miséricorde.> [...] Après le premier commandement tiré de Saint-Jean vient cette phrase: Car bientôt vient la nuit où l'on ne peut plus rien faire (je cite mal). Je suis déjà, Georges, à demi dans cette nuit malgré de passagères apparences qui ne signifient rien. (CK VIII 285 sq; /8. November/ an Georges de Lauris) Depuis que je suis revenu de Cabourg je me suis levé trois fois. Je dîne à minuit, une heure. Et voilà que je veux me mettre à écrire quelque chose. [...] Vous ai-je parlé d'une pensée de Saint-Jean: Travaillez pendant que vous avez encore la lumière. Comme je ne l'ai plus je me mets au travail. (CK VIII 316; /Anfang Dezember/ an Georges de Lauris) Je me suis levé une seule fois depuis la soirée que j'ai passé/e/ chez toi. Je reste maintenant habituellement ou du moins souvent quarante-huit heures au lieu de mes habituelles vingt-quatre, sans rien manger. Malgré cela je travaille. (CK VIII 317; ¡6. od. 7.? Dezember/ an Louis d'Albufera) Ton und Inhalt dieser Briefe aus den Herbstmonaten des Jahres 1908 lassen vermuten, Proust habe nach der in Cabourg und Versailles verbrachten Zeit einen neuen Anlauf unternommen, doch scheint der Gegenstand seiner Arbeit nun nicht mehr der R o m a n zu sein, sondern der Kritiker Sainte-Beuve, den er einige Monate zuvor gegenüber d'Albufera schon als Thema eines 16
Vgl. die Chronologie von Philip Kolb in CK VIII, pp. 13-16. 5
Essai erwähnt hat. Verschiedene Indizien stützen diese A n n a h m e eines Wechsels der Perspektive, in der Proust arbeitet. A m /23. Oktober/ bedankt sich Proust bei M m e de Pierrebourg für die Übersendung ihres Romans Ciel rouge, und in das Lob, das er ihr ausspricht, mischt sich der Ton des resignierten Bedauerns über seine eigene SchöpferUnfähigkeit: [...] surtout où vous vivez, où vous criez tout entière, c'est dans la tendresse pour Odette. Et ce sentiment-là ou tout au moins celui d'Odette pour sa mère, des pages déjà un peu anciennes que j'écrivis sur la mienne, vous montreront peut'être si je les publie un jour que je ne suis pas absolument indigne de le comprendre et que si je l'ai moins bien, et d'ailleurs très différemment, rendu, j'étais bien fait pour en admirer chez un autre la plus émouvante expression. Cette scène du «bonsoir» près du lit, vous la verriez, tout autre et combien inférieure. Vous êtes romancier, vous! Si je pouvais créer comme vous des êtres et des situations, que je serais heureux! (CK VIII 249 sq.) Etwa zur selben Zeit beginnt Proust, in seinem Notizbuch stichwortartig Zitate aus dem Werk Sainte-Beuves einzutragen und sie zu kommentieren. 1 7 Zudem ist die bis in Einzelheiten übereinstimmende erste Seite von La méthode de Sainte-Beuve1* mit dem, was Proust M m e Straus und Georges de Lauris in den oben zitierten Briefen mitteilt, auffallig. Diese in dieselbe Richtung weisenden Zeichen sind auszulegen als Prousts Abwendung von der Gattung des Romans. Er wendet sich einem kritischen Text über SainteBeuve zu. Die Bestätigung dafür liefern zwei Briefe von /etwa Mitte Dezember/, die beinahe denselben Wortlaut haben. Wir zitieren hier den einen der beiden: Est-ce que je peux vous demander un conseil? Je vais écrire quelque chose sur Sainte-Beuve. J'ai en quelque sorte deux articles bâtis dans ma pensée (articles de revue). L'un est un article de forme classique, l'essai de Taine en moins bien. L'autre débuterait par le récit d'une matinée, Maman viendrait près de mon lit et je lui raconterais un article que je veux faire sur Sainte-Beuve. Et je le lui développerais. Qu'est-ce que vous trouvez le mieux? (CK VIII 320; an Georges de Lauris)' 9 Einige Tage danach, de Lauris hat seinen Ratschlag mitgeteilt, antwortet ihm Proust: Merci pour votre conseil. C'est le bon. Mais le suivrai-je? [...] Ce qui est ennuyeux c'est que de nouveau je commence à oublier ce Sainte-Beuve qui est écrit dans ma tête et que je ne peux écrire sur le papier ne pouvant me lever. Et s'il faut le recommencer de tête une quatrième fois (car déjà l'année dernière) ce sera trop. [...] Merci pour les Sainte-Beuve, j'ai acheté depuis quelque temps beaucoup de livres, notamment tous les Sainte-Beuve, j'en ai déjà perdu quelques-uns mais ce qui reste est plus que suffisant! Je crois que mon étude vous plaira si elle est jamais écrite. Mais avant de l'écrire comme Musset de la vérité j'en serai déjà dégoûté. (CK VIII 323 sq.; /wenig nach Mitte Dezember/) 17
In Le Carnet de 1908, pp. 66-92; vgl. am selben Ort die Chronologie von Philip Kolb, p. 40. V, pp. 219-232; vgl. unten p. 126 sqq. 19 Dieselbe Anfrage richtet Proust an Mme de Noailles (vgl. CK VIII, p. 320 sq.). 18
6
A m Ende des Jahres hat Proust, wie er schreibt, seine Arbeit noch nicht begonnen: Je n'ai pas encore commencé à travailler et voilà que j'ai oublié tout ce que j'ai lu de Sainte-Beuve [...] J'ai cessé de lire Chateaubriand (dont j'ai fait un pastiche20) et suis en plein SaintSimon qui est mon grand divertissement. [...] Mais je m'occupe surtout de niaiseries, de généalogie, etc. Je vous jure que ce n'est pas par snobisme cela m'amuse énormément. (CK VIII 331; /etwa Ende Dezember/ an Georges de Lauris) Auch das neu anbrechende Jahr bringt vorerst keine oder kaum eine Wende. Der Text über Sainte-Beuve wartet noch immer darauf, niedergeschrieben zu werden: [...] non, je n'ai pas encore commencé Sainte-Beuve et doute de pouvoir, mais si j'ai seulement quelques heures, je vous assure que ce ne sera pas mal et j'aimerais que vous le lisiez. D'un jour à l'autre je puis aller mieux et si je suis raisonnable je m'y mettrai. Mais j'ai oublié tout ce que j'avais lu. Cela ne fait rien du reste. Vous pensez bien que si je désire le faire ce n'est pas pour faire de la «critique». (CK IX 20 sq.; /etwa 15. Januar/ an Georges de Lauris) Im März ist Prousts Arbeit noch nicht weiter fortgeschritten, doch scheint die im oben zitierten Brief angedeutete H o f f n u n g deutlicher durch. Proust denkt, daß die «étude» im Herbst vielleicht erscheinen könne: Ce qui a le plus de chance de paraître un jour est Sainte-Beuve (pas le second pastiche,21 mais l'étude) parce que cette malle pleine au milieu de mon esprit me gêne et qu'il faudrait se décider à partir ou à la défaire. Mais j'ai déjà beaucoup oublié et quoique je ne devrais pas lire du tout, je lis beaucoup et dans un tout autre ordre. Néanmoins si je suis encore vivant cet automne, il y a des chances pour que SainteBeuve ait paru et je crois que cela vous plaira. (CK IX 61 sq.; /wenig nach dem 6. März/ an Georges de Lauris) Etwas mehr als zwei Monate später erkundigt sich Proust bei de Lauris nach dem N a m e n «Guermantes»\ Savez-vous si Guermantes qui a dû être un nom de gens, était déjà alors dans la famille Pâris, ou plutôt pour parler un langage plus décent, si le nom de Comte ou Marquis de Guermantes était un titre de parents des Pâris, et s'il est entièrement éteint et à prendre pour un littérateur [...]. (CK IX 102; /23. Mai/) 22 Diese Fragen wecken bei de Lauris verständlicherweise die Vermutung, Proust arbeite an einem Roman, doch dieser antwortet: Non Georges je ne fais pas un roman c'est trop long à expliquer/./ Mais si Guermantes est un nom de la famille Puységur cela revient au même que si c'était de la famille Pâris. Je ne veux fâcher que des inconnus, qui ne soient pas apparentés à des gens que je connais et n'ai pas le toupet de Balzac. 20 21 22
In Le Carnet de 1908, p. 127 sq.; in V, p. 196 sq.; in Jean Milly: Les pastiches de Proust, pp. 349-353. In Le Carnet de 1908, pp. 128-131; in V, p. 195 sq.; in Jean Milly: Les pastiches de Proust, pp. 355-363. Etwa zur selben Zeit erscheint der Name «Guermantes» in Le Carnet de 1908, p. 94. 7
Ceci a l'air de signifier que je fais un roman. D'abord je ne fais rien. Mais aimerais faire. (CK IX 107; /wenig nach dem 23. Mai/)
Knapp vier Wochen vergehen, dann, im nächsten erhaltenen Brief an de Lauris, ist aus dem vorgegebenen Machen- Wollen ein eingestandenes Machen geworden. Der Durchbruch Prousts zum Autor der späteren Recherche ist vollzogen. Das Ergebnis wird faßbar im Ton der Befriedigung, mit welcher Proust verkündet, er sei «en plein travail»: Georges je suis si épuisé d'avoir commencé Sainte-Beuve (je suis en plein travail, détestable du reste) queje ne sais ce q u e j e vous écris. (CK IX 116; /wenig vor dem 23. Juni/)
Derselbe Ton kennzeichnet den kurzen Brief Prousts vom 12. Juli an seine Haushälterin Céline Cottin: Je vous envoie vifs compliments et remerciements pour le merveilleux bœuf mode. Je voudrais bien réussir aussi bien que vous ce que je vais faire cette nuit, que mon style soit aussi brillant, aussi clair, aussi solide que votre gelée - que mes idées soient aussi savoureuses que vos carottes et aussi nourrissantes et fraîches que votre viande. En attendant d'avoir terminé mon œuvre, je vous félicite de la vôtre. (CK IX 139)23
Kaum eine Woche danach folgt die in Verse gekleidete Nachricht an Reynaldo Hahn, in der Proust sein Werk erstmals als Roman bezeichnet: Je crains que mon roman sur le vielch Sainte-Veuve Ne soit pas, entre nous, très goûté chez la Beuve. (CK IX 146;/17. od. 18. Juli/) 24
Im August ist Prousts Roman so weit gediehen, daß er an eine Veröffentlichung denken kann, aber der unsittliche Charakter des Buches läßt ihn die Schwierigkeiten erahnen, die sich einer Publikation entgegenstellen: Vous me demandez si Sainte-Beuve est fini comme vous y allez! Je m'y remettrai quand je pourrai. [...] L'ennui est de ne savoir où le publier. Le Mercure m'a tout refusé depuis quelque temps. Je suis découragé d'écrire une lettre qui sera pour solliciter un nouveau refus. Vous Georges, où irez-vous? Les Lévy? C'est si bien et Gaston Calmann a l'air de vous aimer. C'est cela que j'essaierais pour moi si mon livre n'était obscène. Mais il l'est et c'est impossible. (CK IX 151 sq.; /wenig vor Mitte August/ an Georges de Lauris)
Trotz Prousts Skepsis, was Le Mercure de France betrifft, wendet er sich an dessen Direktor Alfred Vallette; er schreibt ihm einen Brief, der für die Chronologie der Entstehung der Recherche von großer Bedeutung ist und dank dem besser erfaßt werden kann, wie sich Prousts Arbeit seit dem Spätherbst 1908 entwickelt hat. Wir erfahren aus ihm, welche Gestalt der Roman im August 1909 hatte oder welche er gemäß dem Plan Prousts haben würde: 23
24
8
Der «bœuf mode» Céline Cottins und der Vergleich mit dem Werk gehen in die Recherche ein; vgl. I, p. 458 und III, p. 1034 sq. «Sainte-Veuve» steht für Sainte-Beuve, «la Beuve» meint Mme Lemaire (= «La Veuve»), Vorbild für Mme Verdurin in der Recherche.
Cette lettre a [...] ceci de particulier, qu'étant hélas fort insignifiante, elle est aussi extrêmement confidentielle. Que mes propositions vous agréent ou non, je vous prie de les tenir secrètes au moins sur un point. Vous allez voir pourquoi. Je termine un livre qui malgré son titre provisoire: Contre Sainte-Beuve, Souvenir d'une Matinée est un véritable roman et un roman extrêmement impudique en certaines parties. Un des principaux personnages est un homosexuel. [...] Le nom de Sainte-Beuve ne vient pas par hasard. Le livre finit bien par une longue conversation sur SainteBeuve et sur l'estéthique (si vous voulez comme Sylvie finit par une étude sur les Chansons populaires) et quand on aura fini le livre, on verra (je le voudrais) que tout le roman n'est que la mise en œuvre des principes d'art émis dans cette dernière partie, sorte de préface si vous voulez mise à la fin. [...] c'est un livre d'événements, de reflets d'événements les uns sur les autres à des années d'intervalle et cela ne peut paraître que par grandes tranches. (CK IX 155 sq.; /etwa Mitte August/) 25 Die Art der Veröffentlichung, an die Proust denkt, beschreibt er so: Donc pour me résumer consentiriez-vous à me donner à partir du 1er ou 15 octobre, trente (ou plus, ce qui serait bien mieux) pages d'un Mercure dans tous les numéros jusqu'à Janvier ce qui ferait à peu près 250 ou 300 pages de volume. La partie roman aurait ainsi paru. Resterait la longue causerie sur Sainte-Beuve, la critique etc. qui ne paraîtrait que dans le volume, lequel aurait à peu près la longeur de [...] 425 pages [...] et paraîtrait chez vous si vous le vouliez. (CK IX 156) D o c h Vallette gibt Proust einen abschlägigen Bescheid: Vallette qui m'avait déjà refusé Pastiches, Recueil d'articles, etc., me refuse SainteBeuve qui restera sans doute inédit! Mais je vous le lirai. (CK IX 161; /wenig nach dem 14. August/ an Georges de Lauris) Etwa zur selben Zeit berichtet Proust M m e Straus aus Cabourg das folgende: [...] je crois que vous me verrez assez souvent cette année à Paris. Et avant vous me lirez - et plus que vous ne voudrez - car je viens de commencer - et de finir - tout un long livre. Malheureusement le départ pour Cabourg a interrompu mon travail, et je vais seulement m'y remettre. Peut'être une partie paraîtra-t-elle dans le Figaro, mais une partie seulement. Car c'est trop inconvenant et trop long pour être donné en entier. Mais je voudrais bien finir, aboutir. Si tout est écrit, beaucoup de choses sont à remanier. (CK IX 163; /etwa 16. August/) Die beiden Pfeiler, welche das riesige, helle und zugleich verwinkelte Gebäude - in Le Temps retrouvé fällt dafür das Wort Kathedrale 26 - der Recherche tragen, Anfang und Ende, die sich von Ferne antworten, die formgebende Idee, daß der R o m a n ästhetischen Kriterien folgt, die am Schluß des Werkes entwickelt werden, sind gefunden. Contre Sainte-Beuve, Souvenir d'une Matinée ist ohne Zweifel als die erste Fassung der Recherche anzunehmen. Trotz der Absage Vallettes - später, 1910, muß Proust auch Gaston Calmettes Rückzieher zur Kenntnis nehmen, 2 7 der in Proust seit ihrer Begeg25
26 27
Der wichtige Brief erschien erstmals vollständig im März 1980 in Bulletin de la Bibliothèque Nationale. Vgl. III, p. 1032 sq. Vgl. die Avant-Propos von Philip Kolb in CK IX, p. XVIII sq. bzw. in CK X, p. V, sowie p. 163 und 179 sq. in CK IX und pp. 81-85 in CK X. 9
nung in Cabourg im Sommer 1909 die H o f f n u n g genährt hatte, der R o m a n werde im Figaro erscheinen 28 - ist Proust nun nicht mehr v o m eingeschlagenen Weg abzubringen. Vor dem Ende des Monats November liest er die ersten «200 pages» des Werkes Reynaldo Hahn vor, 29 und ein paar Tage später bekommt Georges de Lauris die ersten «cahiers» zu lesen. 30 Durch alle Entmutigungen, Rückschläge und Schwierigkeiten hindurch, die er in den folgenden dreizehn Jahren zu überwinden hat, wird Prousts Energie, die immer umfangreicher werdende Recherche der Vollendung entgegenzuführen, nicht mehr erlahmen: L'air tout heureux et rajeuni, il [Proust] jubilait comme un enfant qui a joué un bon tour. «Eh bien, ma chère Céleste [...] C'est une grande nouvelle. Cette nuit, j'ai mis le mot .»31 N a c h den langen, von der zweifelnden Suche geprägten Monaten, in denen er einigen wenigen Briefpartnern vage von seinen Projekten berichtete, gewinnt Proust in der zweiten Hälfte des Jahres 1909 eine selbstsichere Bestimmtheit. Ein äußerliches, aber sprechendes Zeichen dafür ist, daß sich der Kreis der Briefpartner, denen er mitteilt, er schreibe an einem umfangreichen Werk, auffallend erweitert. Stellvertretend für andere Briefe kann hier als Beispiel jener vom Jahresende an Max Daireaux gelten: Je finis si mal l'année à tous égards et de plus le roman auquel je me suis enfin mis me fatigue à ce point le poignet que je n'écris plus de lettres ... (CK IX 235; /etwa am 31. Dezember/) 32 Die Klage über das schlecht endende Jahr übertönt die Genugtuung nicht: «le roman auquel je me suis enfin mis» ist die triumphierende Antwort auf jenes «Et se réaliser enfin!», 33 auf das hin Proust seit seiner Jugend lebt.
28
Vgl. oben p. 9 (Brief an Mme Straus). CK IX, p. 218; /wenig vor dem 27. November/ an Georges de Lauris: «Georges je vais me remettre à travailler car j'ai lu mon début (200 pages!) à Reynaldo et son attitude m'a vivement encouragé.» 30 CK IX, p. 225; /erste Dezembertage/ an Georges de Lauris: «Dans les indications que je laisse on vous remettra avec les deux cahiers (deuxième et troisième) deux pages du premier qui remplacent celles de même pagination pour un passage qui paraîtra mondain à un lecteur mondain [...].» - Proust schreibt zwar «cahiers», doch in Wahrheit liest de Lauris insgesamt 160 Seiten eines Typoskripts. Vgl. unten p. 157 die weiterführenden Hinweise zu den Cahiers (E). 31 Céleste Albaret: Monsieur Proust. Souvenirs receuillis par Georges Belmont, Paris, R. Laffont, 1973, p. 403. Céleste Albaret war von 1914 bis zum Tod Prousts dessen Haushälterin und Vertraute. 32 Für andere Belege vgl. CK IX, p. 200 (an Lucien Daudet), p. 201 (an den Comte de Chevigné), p. 203 (an Antoine Bibesco), p. 205 (an Paul Soufflot), p. 206 (an Albert Nahmias), p. 208 (an Lionel Hauser), p. 214 (an Robert de Montesquiou), p. 222 (an Louisa de Mornand). 33 Vgl. oben p. 2. 29
10
Die vornehmlich aus der Korrespondenz zusammengetragenen Belege setzen uns in den Stand, ungefähr zu überschauen, mit welchen Projekten sich Proust ab Januar 1908 bis in den Sommer 1909 hinein nacheinander und nebeneinander befaßte. Drei Phasen, so scheint es, müssen unterschieden werden. Zuerst, bis in die Sommermonate des Jahres 1908, steht ein Roman im Vordergrund, den Proust selber als «roman parisien» bezeichnet. Daneben allerdings beschäftigen ihn literaturkritische, literarästhetische, soziologische, sittengeschichtliche und kunstkritische Themen, die er in der Form des Essai oder der Etude abzuhandeln gedenkt. Darunter befindet sich ein «essai sur Sainte-Beuve et Flaubert». Einem Artikel über Sainte-Beuve wendet sich Proust denn auch in der zweiten Phase zu - sie dauert etwa von Herbst 1908 bis Frühjahr 1909 - , wobei er sich nicht schlüssig ist, ob er ihn als «essai» abfassen oder ihn in einen £>zäWzusammenhang stellen soll. Gleichzeitig jedoch zieht ihn sein Interesse in eine andere Richtung: Die Sainte-Beuve-Arbeit bereitet ihm Mühe, und sie scheint ihn zu langweilen. Er habe, erfährt man, bereits alles vergessen, was er von Sainte-Beuve gelesen habe. Er beschäftigt sich mit Chateaubriand, und die Lektüre von Saint-Simon ist sein «grand divertissement»; überhaupt lese er viel, aber «dans un tout autre ordre», als die Sainte-BeuveArbeit forderte, und er gibt sich vor allem mit «niaiseries, généalogie, etc.» ab. Die dritte Phase schließlich - Frühjahr bis Sommer 1909 - ist gekennzeichnet durch die Verwandlung des Sainte-Beuve-^rn'fce/i in einen SainteBeuve-Roman. Man muß sich diesen Übergang zweifelsohne fließend vorstellen, doch wird einerseits aufgrund des Briefes vom August 1909 an Vallette deutlich, daß sich der Roman aus dem Sainte-Beuve-Artikel im Erzählzusammenhang entwickelt haben muß, andererseits lassen sich in der Korrespondenz der fraglichen Zeit Anhaltspunkte finden, welche die Akzentverschiebung vom Artikel zum Roman erkennen lassen. Am 15. Januar meldet Proust, er habe seinen Sainte-Beuve-Artikel noch nicht begonnen, doch «quelques heures», denkt er, genügten ihm, ihn zu schreiben. Man darf daraus schließen, daß der Artikel zu dieser Zeit in der Vorstellung Prousts eine gewisse Länge nicht überschritten hätte. Aufschlußreich ist in diesem Brief vom 15. Januar die Bemerkung Prousts - ihre Wichtigkeit wird sich noch erweisen müssen - , er habe nicht die Absicht, Literaturkritik zu machen, und er setzt dabei das Wort Kritik in Anführungszeichen: «si je désire le faire ce n'est pas pour faire de la . Das bedeutet: Was er zu schreiben gedenkt, ist zwar nicht der Kritik in einem üblichen Sinn zuzuordnen, aber offenbar auch keine Arbeit, die von einer solchen Kritik völlig verschieden wäre. Kurz nach dem 6. März ist die «étude» noch immer nicht begonnen, doch wenige Stunden reichten nun zur Abfassung des Artikels nicht mehr aus, denn Proust hofft, die Arbeit vielleicht im Herbst veröffentlicht zu sehen. 11
Aus dem kurzen Sainte-Beuve ist in Prousts Vorstellung etwas Längeres geworden. Setzt man dies in einen Zusammenhang damit, daß Proust vom August an meint, der Roman könne in naher Zukunft erscheinen, ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß sich seine Arbeit schon Anfang März in jene Richtung entwickelt, die zur Anfrage an Vallette führen wird. Die relativierende Äußerung Prousts mit Bezug auf das Verhältnis zwischen dem, was er zu tun beabsichtigt, und der Kritik nimmt er Ende Mai unter umgekehrten Vorzeichen wieder auf. Nachdem er sich bei de Lauris nach dem Namen Guermantes erkundigt hat und dieser wissen will, ob er an einem Roman arbeite, antwortet Proust: zu erklären, was er schreibe, würde zu weit führen, doch ein Roman sei es nicht. Der Akzent hat sich verschoben. Proust setzt sich nicht von der Kritik, sondern von der Gattung des Romans ab. Das sind versteckte Hinweise auf die Spannung, in der er, hin und her gerissen, arbeitet. Er bewegt sich in einem Bereich zwischen der Kritik und der Fiktion - und dahinter verbirgt sich die Frage nach der ihm angemessenen Redeweise. Wenig vor dem 23. Juni - «je suis en plein travail» - wird der Elan spürbar, von dem Proust erfaßt wird und der anzeigt, daß er die ihm entsprechende Form gefunden hat. Und so kann er Alfred Vallette im August «Contre Sainte-Beuve, Souvenir d'une Matinée anbieten, «un véritable roman», der aus einer «partie roman» und einer «longue causerie sur Sainte-Beuve, la critique etc.» besteht.
2. Die nachgelassenen Manuskripte Prousts und die beiden Editionen des Contre Sainte-Beuve DIE MANUSKRIPTE Nachdem wir die Korrespondenz zu Rate gezogen haben und ihr das chronologische Gerüst zu Prousts Arbeiten in den Schwellenjahren entnommen haben, stellt sich drängend die Frage, was Proust in den Schwellenjahren tatsächlich geschrieben und was sich davon erhalten hat, wie die Zuordnung zu den drei Phasen, von denen wir gesprochen haben, vorzunehmen wäre. Der Grundstock des Nachlasses von Proust wurde 1962 von der Bibliothèque Nationale erworben. 34 Seither bemüht sich die Forschung in unermüdli-
34
12
Département des Manuscrits. Nouvelles acquisitions françaises ( = N.a.fr.). - 1977 und 1984 konnte die Bibliothèque Nationale weitere Dokumente und Manuskripte hinzuerwerben, so daß sie nun mit geringen Ausnahmen (ein sich in Privatbesitz befindendes Notizbuch und einige Autographen, welche von der Bibliothèque de l'Université d ' U r b a n a [USA] verwahrt werden) über die «quasi-totalité des manuscrits» Prousts verfügt (Florence Callu: Historique des manuscrits in 1(1987), p. CXLVI). Im gleichen Band, pp. CXLVII-CLXIX, findet sich der von Florence Callu erstellte Inventaire du fonds Proust, welcher einem chronologischen Ord-
cher Kleinarbeit, die vorhandenen Manuskripte zu entziffern, zu transkribieren, zu ordnen und zu datieren, u m das D u n k e l , welches die Entstehung der Recherche umgibt, zu erhellen und den Prozeß schöpferischer Arbeit bei Proust besser zu verstehen. D i e A u f g a b e ist wegen der nicht-linearen, fragmentarischen und scheinbar chaotischen Vorgehensweise Prousts schwierig, und obschon die in den letzten zwanzig Jahren zutage geförderten Erkenntnisse bemerkenswert sind, 3 5 bleibt das Erarbeitete in vielem Annäherung. Wir gehen im folgenden nicht auf äußerst komplexe Detailfragen ein, sondern begnügen uns damit, dem uneingeweihten Leser die Sachlage zu unterbreiten und den Stand der sich nicht in allen Punkten einigen Forschung zusammenzufassen. Für die Arbeiten Prousts in den Schwellenjahren sind drei Nachlaß-Teile wichtig: Ein Corpus von 75 Entwurfsheften, den Cahiers,36 deren Numerierung für den größten Teil unter ihnen nicht von Proust selber stammt, sondern von der Bibliothèque Nationale vorgenommen wurde und mit der tatsächlichen Chronologie ihrer Verwendung - sie wird noch erheblich kompliziert durch den Umstand, daß Proust oft mehrere Cahiers gleichzeitig in Arbeit hatte und einzelne unter ihnen über mehrere Jahre hinweg benutzte - nicht übereinstimmt. Das Carnet I?1 Es handelt sich dabei um eines der fünf schmalen hochformatigen
nungsprinzip folgt. - Ein anderes für den Forscher sehr hilfreiches Inventar des Nachlaßbestandes findet sich in Henri Bonnet: Marcel Proust de 1907 à 1914. Bibliographie complémentaire (II), Index général des bibliographies (I et II). Paris, A. G. Nizet, 1976, pp. 107-116. 35 Früchte dieser Forschung sind unter anderem: IV (1971) und V (1971); Maurice Bardèche: Marcel Proust romancier. 2 Bde., Paris, Les sept Couleurs, 1971; Henri Bonnet: Marcel Proust de 1907 à 1914. Avec une Bibliographie Générale. Paris, A. G. Nizet, 1971 (Edition nouvelle, augmentée et corrigée). - Die seit dem Beginn der siebziger Jahre intensivierte Auseinandersetzung der Forschung mit den Manuskripten Prousts schlägt sich vor allem im BIP (1975 sqq.) und in den innerhalb der Cahiers Marcel Proust¡Nouvelle série (Paris, Gallimard) veröffentlichten Etudes proustiennes (bisher 6 Bände) nieder. - Die neuen Ausgaben der Recherche - in der Bibliothèque de la Pléiade (Paris, Gallimard, 1987-1989) und, unter der Leitung von Jean Milly, bei Flammarion (Paris, 1984 sqq.) - , ausgelöst durch den Umstand, daß die Urheberrechts-Schutzfrist für Prousts Werk abgelaufen ist, berücksichtigen die von der Forschung gewonnenen Erkenntnisse. 36
37
N.a.fr. 16641-16702 für die Cahiers 1 - 6 2 und N.a.fr. 18313-18325 für die Cahiers 63-75; die letzteren wurden 1984 von der Bibliothèque Nationale erworben. - Die 75 Entwurfshefte sind zu unterscheiden von 20 weiteren Cahiers (N.a.fr. 1670816727), welche das Manuskript der Recherche von Sodome et Gomorrhe an bis zu Le Temps retrouvé enthalten. N.a.fr. 16637. Das Carnet I ist identisch mit dem von uns bereits zitierten, von Philip Kolb herausgegebenen Le Carnet de 1908, dessen Titel irreführend ist, weil Proust es zwischen 1908 und 1910 benutzte und ein Eintrag sogar von 1912 stammt (vgl. in Le Carnet de 1908 die Chronologie, pp. 38-42). Vgl. auch Christian Robin: Une édition du «Carnet de 1908» in BIP 6 (Herbst 1977), pp. 7 - 1 6 und am selben Ort, pp. 17-28, den Beitrag von Bernard Brun: Relecture du «Carnet de 1908». 13
Notizbüchlein, 38 welche Proust Anfang 1908 von Mme Straus geschenkt bekam und für die er sich am 2. Februar bei ihr bedankte. 39 Großfomatige, lose Blätter,40 welche von der Bibliothèque Nationale zusammen mit verschiedenen kritischen Artikeln 41 Prousts zu einem Band gebunden wurden.
Geht man der Frage nach, wie sich diese einzelnen Nachlaßteile auf die drei erwähnten Phasen in Prousts Schaffen der Jahre 1908 und 1909 verteilen, so ergibt sich folgendes Bild: Roman parisien Keines der 75 Cahiers wurde von Proust vor Dezember 1908 benutzt. 42 Auch unter den in N.a.fr. 16636 vereinigten losen Blättern findet sich kein Text, der in einem direkten Zusammenhang mit dem Roman stünde. Hingegen verwendete Proust, wie wir gesehen haben, Le Carnet de 1908 zur Zeit, als er an seinem Roman arbeitete. Einzelne Einträge lassen Datierungsrückschlüsse zu; so ist gesichert, daß der erste Hauptteil des Carnet (f°s 1 v ° - 14r°) zwischen Februar und November 1908 verfaßt worden sein muß. 43 Viele dieser Einträge lassen sich denn auch als Notizen im Hinblick auf einen Roman erkennen. Bernard de Fallois berichtet im Vorwort zu seiner Ausgabe des Contre Sainte-Beuve von 75 großformatigen Blättern, deren Inhalt er mit der Liste der oben zitierten «Pages écrites» in Le Carnet de 1908 identifiziert 44 und denen er die zwei Episoden «Robert et le chevreau» beziehungsweise «les hortensias normands» entnimmt, um sie - ohne Titel - in seinen Contre SainteBeuve zu integrieren. 45 Dieses aus 75 Blättern bestehende Manuskript - es gilt zur Zeit als verschollen - ist dem Roman parisien zuzurechnen. Sainte-Beuve-Artikel als Essai Auch für den Artikel über Sainte-Beuve in der Form des Essai finden sich in den Cahiers keine Fragmente. Die losen Blätter 46 jedoch enthalten (fDS 1 - 6 ) den mehr oder minder ausgearbeiteten, in sich geschlossenen Entwurf eines 38
Vier davon befinden sich auf der Bibliothèque Nationale, eines, von Proust nicht benutzt, besaß Céleste Albaret (1891-1984). 39 «Vos petits almanachs m'enchantent et la pensée qu'ils viennent de vous leur ajoute tant de poésie! Enfin je suis ravi et je vous remercie de tout mon cœur.» (CK VIII p. 39) 40 N.a.fr. 16636(f o s 1-31). 41 fos 3 2 - 1 3 7 . Es handelt sich um die von Bernard de Fallois unter dem Titel Nouveaux Mélanges in «Contre Sainte-Beuve» suivi de «Nouveaux Mélanges» (Paris, Gallimard, 1954) veröffentlichten Texte (pp. 315-441). 42 Vgl. Jean-Yves Tadié: Chronologie in 1(1987), p. CXXIX. 43 Vgl. Philip Kolb: Chronologie in Le Carnet de 1908, pp. 3 8 - 4 2 . 44 Vgl. oben p. 4 und Contre Sainte-Beuve (Ed. Fallois) p. 14. 45 Vgl. Jean-Yves Tadié: Introduction générale in 1(1987), p. XXXVI. 46 Sie haben dasselbe Format und zeigen dasselbe Schriftbild wie die 75 verschollenen Blätter (vgl. Bernard de Fallois' Vorwort zu Contre Sainte-Beuve, p. 14).
14
Vorwortes 47 zu «quelques pages qui vont suivre» 48 über Sainte-Beuve sowie La méthode de Sainte-Beuve.49 Es sind die einzigen erhaltenen Entwürfe, die als Skizzen zu dem Artikel als Essai zu gelten haben. Ungeklärt ist die Frage, ob Proust, abgesehen von diesen Texten, je einen Sainte-Beuve-Essai ausgeführt hat, wie zwei Briefe es suggerieren. Im einen der beiden Briefe spricht Proust von einer «étude critique que j'avais faite», 50 aus dem anderen erfahren wir, daß er M m e Straus einen Artikel Sainte-Beuves schickte und ihr mitteilte, er habe gleichzeitig «une petite étude de [lui]» beilegen wollen: Je joins à cette lettre un Sainte-Beuve que je voulais faire relier avec des extraits des autres volumes où le nom d'Halévy est cité et faire précéder d'une petite étude de moi, mais devant cet ajournement perpétuel qu'est malgré moi ma vie, je veux que du moins vous puissiez lire l'étude de Sainte-Beuve et je vous l'envoie. (CK XI 222; /8. od. 9.? Oktober 1912/)51 D a s Carnet de 1908 enthält in seinem zweiten Hauptteil (P s 14v°-33r°) viele rudimentär notierte Zitate aus dem Werk Sainte-Beuves sowie kurze, stichwortartige Kommentare Prousts dazu; diese Einträge beginnen nicht vor dem 17. November 1908, 52 und sie setzen sich wahrscheinlich nicht über den Februar 1909 hinaus fort, denn auf f° 34v°findet sich eine Bemerkung zu dem am 20. Februar ausgelieferten R o m a n Le Meilleur Amivon René Boylesve. 53 Sainte-Beuve-Artikel im Erzählzusammenhang und Sainte-Beuve-Roman Die Notizen in Le Carnet de 1908, die Proust etwa zwischen dem Ende des Monats Februar 1909 und jedenfalls vor dem 5. August desselben Jahres eingetragen haben muß, 5 4 finden sich auf den P s 34v°-38r°. Sainte-Beuve erscheint nur noch spärlich. 47
Das Manuskript trägt keinen Titel. In V, pp 211-216, zusammen mit einigen anderen Fragmenten unter der Überschrift Projets de préface; der Einfachheit halber bezeichnen wir dieses Vorwort als Préface zu Contre Sainte-Beuve. 48 V, p. 215. 49 Der Titel ist nicht von Proust (vgl. Jean-Yves Tadié: Introduction générale in 1(1987), p. XLV). In V, PP- 219-232. Wir behalten den Titel La méthode de Sainte-Beuve bei. 50 CK IX, p. 180; /etwa Ende August 1909/ an Robert Dreyfus. 51 CK XI, p. 222. - Proust schickte Mme Straus, der Tochter des Komponisten und ständigen Sekretärs der Académie des Beaux-Arts, Fromental Halévy (1799-1862), den von Sainte-Beuve am 14. April 1862 veröffentlichten Aufsatz Halévy, secrétaire perpétuel (Nouveaux lundis, Bd. 2, pp. 227-246). 52 Ein Eintrag von Proust auf f°14r° läßt den Schluß zu, daß er Le Figaro vom 17. November 1908 gelesen haben muß (vgl. die Anmerkung 115 von Philip Kolb in Le Carnet de 1908, p. 149 sq.). 53 Vgl. die Anmerkungen 387 und 388 von Philip Kolb in Le Carnet de ¡908, p. 184 sq. 54 Proust notiert auf f 3 8 r ° : «Enterrement de Mlle d'Aimery à l'église d'Illiers.» Die in Le Figaro vom 5. August 1909 vermerkte Beerdigung von Yvonne Aimery fand gleichentags in Illiers statt (vgl. die Anmerkung 418 von Philip Kolb in Le Carnet de 1908, p. 189). 15
Unter den in N.a.fr. 16636 vereinten losen Blättern ist keines dem Roman zuzurechnen; zwei Fragmente gehören in den Kontext des Artikels im Erzählzusammenhang. 55 Die Manuskripte, welche zu diesem Artikel und zu dem Sainte-BeuveRoman gehören, finden sich in den Cahiers. In den letzten Jahren ist es mittels materieller und inhaltlicher Kriterien 56 gelungen, eine einigermaßen gesicherte chronologische Reihenfolge ihrer Verwendung durch Proust zu erstellen. Die schematische Übersicht (p. 17) faßt das Gesagte und die Erkenntnisse der Forschung mit Bezug auf die Chronologie der Cahiers zusammen.
D I E C O N T R E SAINTE-BEUVE-EDITIONEN Marcel Proust hat nie weder einen Artikel noch ein Buch mit dem Titel Contre Sainte-Beuve publiziert. Was er als Sainte-Beuve-Artikel im Erzählzusammenhang wahrscheinlich ab Dezember 1908 in Angriff nahm, veränderte sich im Verlauf des Frühjahres und Sommers 1909 zu einem Roman, den er bis Ende 1909 noch als seinen Sainte-Beuve bezeichnete und der im Fortgang der Monate und Jahre zur Recherche wurde. Das Nebeneinander und das Ineinander der verschiedenen Pläne Prousts sowie die heteroklite Zusammensetzung der Manuskripte lassen jeden Versuch einer Contre Sainte-Beuve-Ausgabe als ein schwieriges und fragwürdiges Unternehmen erscheinen. Bernard de Fallois (1954)63 und Pierre Clarac (1971)64 haben den Versuch unternommen. So wollen wir zur weiteren Klärung der Sachlage und zur Information des uneingeweihten Lesers beide Ausgaben charakterisieren und, soweit es möglich ist, ihre Zusammensetzung abklären.
Bernard de Fallois' nach wie vor lesenswertes Vorwort zu seinem Contre Sainte-Beuve skizziert zuerst die grobe chronologische Abfolge der verschiedenen Projekte, an denen Proust in den Schwellenjahren arbeitete. Danach legt der Herausgeber seine Annahme vor, wie der Contre Sainte-Beuve in der Vorstellung Prousts ausgesehen haben muß und was daraus während seiner Arbeit geworden ist. Als Ausgangspunkt des Werkes erkennt Fallois richtigerweise den Sainte-Beuve-Artikel im Erzählzusammenhang, den er dreigeteilt annimmt: 55
f l 2 : publiziert in V: p. 218 («Je voudrais faire un article sur Sainte-Beuve [...] ). - f o s 7r°, 8 r ° - 8 v ° : publiziert von Bernard Brun: « o i
St
ON
O
' 3 «5 C/5
(3 W ~
W
-g
(N
en 1
a\ (N
c cfl
O)
1
E
1
f» (N
c¿
OO
o
IC - n - i ~
1
CQ
CI
2 e
1
T.
ça
^ S ON ¿
S S ;
C w
3 ri
e
; a J
N
W _ Ë -
w
vo OH CO m
su • 00
3
0\
0?
E
3
n
VI
e-
Il 11
S?
I
S
§ -3
w
t—
U
; •
e
f=
c 5
e O
3 N U c«
3 N
3 N
3 N
3 N
J
lu S
U Í
u )
c u
c u *Ô C U
£
£
N c
§ -Si o.
C
tu 3 ^ S
JÌ f i
T3
£
c c (U (U TJ T3 C c C ID l—< i—i • J3 J3 U—I CD CD T3 T3
J
M&S'S e
â
g S 2 £ 2 2 jT >sO ctf cd cd ctf a, U U U U
a
e-
Ô
C/5 C/5
&
W
u C/5
», u S » 40v°). Vgl. die Chronologie von Philip Kolb in Le Carnet de 1908, p. 41. Le Carnet de 1908, p. 101 ( P 40v°). Le Carnet de 1908, p. 101 sq. (f* 40v°, 41r° und 41v°). Vgl. oben p. 35 sqq und 50 sqq.
[...] à tout m o m e n t l'artiste doit écouter son instinct, ce qui fait que l'art est ce qu'il y a de plus réel, la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier. Ce livre, le plus pénible de tous à déchiffrer, est aussi le seul que nous ait dicté la réalité, le seul dont «l'impression» ait été faite en nous p a r la réalité même. De quelque idée laissée en nous p a r la vie qu'il s'agisse, sa figure matérielle, trace de l'impression qu'elle nous a faite, est encore le gage de sa vérité nécessaire. Les idées formées p a r l'intelligence pure n'ont qu'une vérité logique, une vérité possible, leur élection est arbitraire. (III 880)
«[VJérité nécessaire» und «vérité possible» entsprechen der Opposition von «une théorie complète du monde» und «[l]a réalité est en soi». Die Wahrheit liegt als Seelen-Text in einem selber; sie ist die einzige dem Menschen in absoluter Notwendigkeit verfügbare Wahrheit und, weiter, sie ist allein in dem «langage universel», 23 der Bild- und Beziehungssprache verwahrbar. Dagegen steht die «théorie complète du monde», welche - in der abhandelnden Sprache der «intelligence pure», der Sprache des Philosophen - die allumfassende Wahrheit erschließen will, aber, nach Proust, der Willkür nie entkommt. Allgemein und einfach gesagt: Der nicht zu umgehenden Subjektivität steht der Irrtum des Glaubens an eine Möglichkeit objektiver Welterfassung gegenüber. Der einzige dem Menschen verbleibende erreichbare Ort ist das in der Sprache der Kunst verwahrte Ich. «[Il faut] cesser de croire à l'objectivité.» (III 896) An dieser Stelle ist nun die Auslegung des Briefes nachzuholen, den Proust im Oktober 1888 an seinen Lehrer Darlu schrieb. Wir sehen dort einen Proust, der die naive Unschuld in der Begegnung mit dem Objekt verloren hat. Die freudvolle, unreflektierte Lektüre wird von jener ersetzt, die über das Begegnen mit dem Werk selber nachdenkt. Wir können sagen: Der Brief wird von einem Menschen geschrieben, der aus dem Paradies der Einheit von Subjekt und Objekt vertrieben ist. In der schmerzlich erlittenen Erfahrung des verlorenen Paradieses sieht sich Proust an einem Punkt, von dem aus zwei Wege auseinandergehen: der eine führt zur «vie intérieure», schließt aber die «certitude» bei der Beurteilung des Objektes, der «beauté propre de l'œuvre», aus. Der andere führt zur «certitude», verhindert aber den Genuß in der Begegnung mit dem Objekt und die Konzentration auf die «vie intérieure». Die alternative Ausschließlichkeit, das Entweder-Oder, scheint dem jungen Proust «effroyable». Es drängt ihn zu einer Möglichkeit, einem Weg, der dahin führte, wo die Ausschließlichkeit überwunden wäre. Die Philosophie, so hofft er, könne ihm diesen Weg weisen. Von der in Le Temps retrouvé entwickelten Ästhetik aus gesehen, die mit «fl]a réalité est en soi» auf die kürzeste Formel gebracht ist, sucht Proust die Erlösung bei der falschen Instanz. Noch weiß er nicht, daß «certitude» und «vie intérieure» nur auf einem Weg zu erreichen sind: jenem der Literatur.
23
Vgl. oben p. 77.
89
Der Satz über den schlechten Einfluß Darius ist nun zu verstehen. Er enthält nicht etwa die Ablehnung einer „falschen" philosophischen Lehre oder eine Verurteilung des Menschen Darlu; er ist der Ausdruck von Prousts Einsicht in die mindere Wahrheitsfähigkeit der Philosophie. Proust begreift, daß ihn Darlu in die Irre des Glaubens an die Philosophie geführt, verführt hat: [...] la valeur absolue des choses qu'il [l'artiste] voit n'importe /pas/ pour lui [...] l'échelle des valeurs ne peut être trouvée qu'en lui-même. (V 215; Préface zu Contre Sainte-Beuve)
Das Bedürfnis des jungen Proust, über «certitude»-stiftende Regeln zu verfügen, welche die «beauté propre de l'œuvre» erschließen, und seine Erfahrung, daß das ihn Beglückende in der Begegnung mit dem Objekt, enger: der Literatur, «dans un certain rapport entre [lui] et l'œuvre» 24 gründet, bezeichnet eine Schwierigkeit, die, wie wir gesehen haben, auch den Erzähler der Recherche beschäftigt: den Konflikt zwischen der außerhalb des Subjekts liegenden Wahrheit im Objekt und jener des Subjekts. Es ist ein Grundkonflikt Prousts. Der Brief an Darlu ist ein besonders deutlicher, aber nicht der einzige Beleg, an dem sich das Proust irritierende Problem nachweisen läßt. Wir wollen hier zur weiteren Stützung unserer Argumentation zwei Beispiele anfügen, die denselben Grundkonflikt in anderem Zusammenhang zeigen. Wahrscheinlich in den ersten Monaten des Jahres 1889 lieferte Proust Alphonse Darlu eine Dissertation philosophique zum Thema Comment le Savant peut-il conclure du fait à La Loi25 ab. Darin bestimmt er die Metaphysik als «une spéculation qui a pour objet l'absolu» 26 und definiert die Aufgabe des Philosophen mit Bezug auf die Naturwissenschaft in folgender Weise: [...] les principes mêmes des sciences, les lois auxquelles l'esprit obéit sans le savoir dans la recherche scientifique, la nécessité interne qui dirige sa démarche dans l'expérimentation, la nature de ses raisonnements et la valeur de ses conclusions, voilà le domaine propre du philosophe [.. .]27
Sobald der Naturwissenschafter auf der Basis seiner Experimente den Grund für eine sich einstellende Wirkung gefunden habe, fahrt Proust fort, «[il] doue de nécessité, d'universalité le rapport ainsi constaté», «sans mettre un instant en doute le bien fondé de sa conclusion»: «il passe du fait à la loi»28 und hält dieses Gesetz für «une loi de la nature»: Le rapport qu'il a pris tant de peine à constater exactement, il le conçoit immédiatement [...] comme devant lier les deux phénomènes nécessairement, indissolublement, sur tous les points de l'espace, dans toutes les minutes du temps, par toutes les intelligences humaines et en dehors d'elles-mêmes. Car ce rapport universel et 24 25
26 27 28
90
Brief an Darlu; vgl. oben p. 86. Veröffentlicht in Bulletin de la Société des Amis de Marcel Proust et des Amis de Combray 32 (1982), pp. 488-492. Bulletin de la Société des Amis f...] 32, p. 488. Bulletin de la Société des Amis f...] 32, p. 488 sq. Bulletin de la Société des Amis [...] 32, p. 489.
nécessaire n'est pas pour lui une loi de son esprit. C'est une loi de la nature. [...] le savant ne rapporte pas à soi ce caractère universel et nécessaire de la loi qu'il a dégagée. C'est pour lui le caractère même des lois de la nature. [...] Il pense avoir diminué d'autant son ignorance des lois de la nature, ignorance dont l'idée lui est donnée par la certitude même qu'il a de l'existence objective de ces lois ignorées.29 Daran schließt sich Prousts Kritik an. Die experimentelle Methode der N a turwissenschaft kann nicht zur Gewißheit führen und müßte sich demnach mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Resultate bescheiden: Qu'on ajoute à l'expérience du savant l'expérience de toute la suite de ses ancêtres, totalisée par l'hérédité la différence entre la probabilité de l'expérience et la certitude de la conclusion reste irréductible. [...] Il faut donc conclure que l'induction du savant qui dépasse l'expérience, ne peut sortir d'elle [.. .]30 Die Kausalität und die aus ihr abgeleitete Gesetzmäßigkeit, folgert Proust, sind als «des Principes premiers de l'Esprit» aufzufassen: Il faut voir dans le Principe de la Causalité et dans le Principe de Lois qui en dérive et ne fait qu'affirmer la permanence et l'identité des rapports de cause des Principes premiers de l'Esprit, non en ce sens qu'ils exprimeraient l'aspect le plus profond des choses, mais en cet autre, qu'ils font partie de l'esprit[,] sont antérieure [sic] à l'expérience, et vides assurément si elle ne vient les remplir, lui donnent seuls en s'appliquant à elle sa forme, sa valeur et sa signification.31 Von da zum Schluß kommend, zitiert Proust den Verfasser eines Lehrmittels, Rabier, für den die «certitude parfaite» der Naturwissenschaft allein in einem nicht beweisbaren «idéalisme absolu» zu begründen wäre, und setzt dieser Position am Ende der Dissertation seine eigene entgegen: «Une seule théorie, objecte M. Rabier, pourrait conférer aux principes de la Raison une certitude parfaite, à savoir: l'idéalisme absolu ... or il est indémontrable [...] où trouvera-t-on la preuve de cette certitude absolue que l'on réclame pour le principe de l'induction. Sera-ce dans la théorie de Kant? elle postule l'accord de la raison et des phénomènes. Singulière exigence en vérité qui dédaigne la preuve tirée des enseignements d'une expérience bien comprise et qui, pour conférer plus de certitude aux principes de la raison allègue, quoi? un postulat! [...]» Pour nous qui avons besoin pour la Science de toute la certitude que lui attribue l'esprit du savant nous ne nous étonnerons pas qu'elle reste en dernière analyse, suspendue à un postulat. Cela revient simplement à dire que toute philosophie est une et que Kant n'a pu faire la logique de la Connaissance sans la rattacher c'est-à-dire sans la suspendre à sa Métaphysique/./ 32 Es kann hier nicht darum gehen, die philosophische Stichhaltigkeit des Gedankenganges von Proust oder dessen Originalität zu würdigen. Für uns ist wichtig, daß Proust ein methodologisches Problem behandelt oder behandeln muß, das auf anderer Stufe und in anderem Zusammenhang das Pro-
29
Bulletin Bulletin 31 Bulletin 32 Bulletin 30
de la Société de la Société de la Société de la Société
des Amis des Amis des Amis des Amis
[...] [...] [...] [...]
32, p. 489 sq. 32, p. 491. 32, p. 491. 32, p. 491 sq. 91
blem aufnimmt, welches wir im Brief an Darlu als Prousts Schwierigkeit erkannt haben. In der Dissertation philosophique wirkt das Interesse des Betroffenen Zeichen dafür ist die Redundanz und der Nachdruck, mit dem Proust das Problem betont - , der den Ort definieren und erreichen möchte, wo absolute Gewißheit («certitude», «certitude parfaite», «certitude absolue») herrschte. Daran mißt er die Naturwissenschaft und kritisiert sie, weil sie die Wahrheit des von ihr Gefundenen als vom Subjekt unabhängige Wahrheit des Objekts begreift, anstatt sie als Ausfluß der im Esprit herrschenden Gesetzmäßigkeit zu durchschauen. Dagegen setzt er seine Haltung: «la solution du problème méthodologique de la légalité scientifique ne peut être que métaphysique.» 33 Übertragen auf die Naturwissenschaft, kehren jene Grundpositionen wieder, die Proust in seinem Brief an Darlu bedenkt: Wahrheit im Objekt («une loi de la nature»; «la beauté propre de l'œuvre») und die Beziehung zwischen dem Objekt und dem Subjekt («le savant ne rapporte pas à soi [...] la loi qu'il a dégagée»; «un certain rapport entre moi et l'œuvre»). Nach wenigen Monaten des Unterrichts bei Darlu, der ihn mit ersten philosophischen Begriffen vertraut gemacht hat, lebt die von Proust in die Philosophie gelegte Zuversicht weiter. Die Metaphysik, allgemeiner: die Philosophie ist die als Postulat aufrechterhaltene Hoffnung auf den Ort der Wahrheit, den Proust sucht. Wo von Prousts späterer Position des subjektgebundenen Idealismus aus gesehen 34 der «idéalisme absolu» als nicht erweisbarer viel näher läge, bekennt er sich zur Metaphysik als übergeordneter, die Grenzen des einzelnen Menschen überschreitender «théorie complète du monde». Wir haben die Dissertation philosophique im Kontext des Gesamtwerkes von Proust zum einen als Text zu lesen, in dem der von Anfang an in ihm lebende Wille, «l'aspect le plus profond des choses» zu ergründen - die Einschränkung, die er insofern mit Bezug auf das Kausalitätsprinzip in der Dissertation macht, ist bedeutsam - und «la différence entre la probabilité [...] et la certitude» zu überwinden, gegenwärtig ist. Zum anderen lesen wir das Bekenntnis zur Metaphysik, wo die Forderungen eingelöst wären, als ein Zeugnis für die später erkannte, verführende «mauvaise influence» der Philosophie. Als Proust seine Licence de philosophie vorbereitete - Alphonse Darlu erteilte ihm, wie erwähnt, in dieser Zeit Privatunterricht - , schrieb er an Horace de Landau: O n me fait faire des dissertations pour prouver qu'il y a un bonheur. C o m m e je suis bon élève et bon fils je les fais; c o m m e je suis mauvais philosophe, je les fais mal. Mais surtout je n'y crois pas. Je crois que chacun a son b o n h e u r à soi - q u a n d il l'a. (CK 1 297; /24.? Mai 1894/)
33
34
92
Edouard Morot-Sir: Introduction Amis [...] 32, p. 484. Vgl. oben pp. 6 2 - 7 0 .
zu der Dissertation
in Bulletin de la Société des
Von dieser Position des Jahres 1894 aus gesehen, welche auf einen Spezialfall angewandt jenes «[l]a réalité est en soi» vorwegnimmt, wird erkennbar, daß die von Proust in die Philosophie gesetzte Zuversicht eine Zuversicht wider besseres Wissen, genauer: wider besseres Gefühl ist. Die Philosophie kommt Prousts Lebenserfahrung der Individualiät und Subjektivität nicht bei. Im zweiten Beispiel, das wir anfügen wollen, erscheint der Konflikt zwischen der Erfahrung der Subjektivität und der Objektivität im Zusammenhang mit dem Wesen literarischer Werke, ihrer Hervorbringung und ihrem Bezug zu den Autoren. Im Schuljahr 1887/1888 verfaßte Proust eine Dissertation française (V 329-332), deren Thema ein leicht verändertes Zitat aus einem Lundi Sainte-Beuves ist: Celui que aime passionnément Corneille peut n'être pas ennemi d'un peu de jactance. Aimer passionnément Racine, c'est risquer d'avoir trop ce q u ' o n appelle en France le goût, et qui rend parfois si dégoûté. (V 329) 35
Proust setzt allgemein an, indem er behauptet, «[l]es créations de la poésie et de la littérature» seien nicht das Produkt der «pensée pure», sie seien auch der Ausdruck «[d']un tempérament différent chez chaque poète, qui leur donne leur marque» (V 329 sq.), 36 und definiert sodann die «période de grandeur» eines Dichters als jene Phase in dessen Schaffen, da er sich den «plus hautes nécessités de l'art, appelées parfois règles» füge: Tant que ce tempérament anime l'artiste sans l'entraîner, que, soumis aux plus hautes nécessités de l'art, appelées parfois règles, il leur prête pourtant un peu de sa force et de sa nouveauté, l'artiste est dans sa période de grandeur. Il écrit le Cid, il écrit Andromaque, et l'expression la plus haute de son âme semble l'expression même de l'âme de l'humanité. Mais soit au début, soit à la fin de sa carrière, ne sachant pas encore maîtriser ses penchants, ou ne le sachant plus, il ne traduit plus qu'eux dans son œuvre. (V 330)
Darf man annehmen, daß diese etwas schematische Konzeption und ihre formelhafte sprachliche Fassung wiedergeben, was Proust in der Schule gelernt hat, verraten die anschließend vorsichtig als Fragen formulierten Gedanken, daß der Lehrmittelkanon mit Bezug auf die Klassik Proust nicht zu überzeugen vermag und er das Charakteristische und Individuelle am Werk höher veranschlagen möchte: Mais à ce m o m e n t où, moins parfait, il [l'artiste] ne fond pas harmonieusement dans une œuvre son originalité propre avec les beautés de son art, n'est-il pas encore plus lui-même? Et ceux qui l'aimaient plus passionnément encore qu'ils ne l'admiraient impartialement [...] ceux-là ne trouvent-ils pas une joie plus vive encore dans 35
36
D a s Zitat findet sich in dem Lundi vom 13. Juli 1863 über Molière (Nouveaux Lundis. Bd. 5, p. 279): «Celui qui aime passionnément Corneille peut n'être pas ennemi d'un peu de jactance. [...] Enfin, tant aimer Racine, c'est risquer d'avoir trop de ce qu'on appelle en France le goût et qui rend si dégoûtés.« Pierre Clarac gibt ( A n m e r k u n g 1. zu Seite 330, V, p. 873) f ü r den Relativsatz folgende «[p]remière version, non biffée: